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German Pages X, 332 [314] Year 2020
Psychotherapie: Praxis
Manfred Döpfner · Martin Hautzinger Michael Linden Hrsg.
Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche
Psychotherapie: Praxis
Die Reihe Psychotherapie: Praxis unterstützt Sie in Ihrer täglichen Arbeit – praxisorientiert, gut lesbar, mit klarem Konzept und auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13540
Manfred Döpfner · Martin Hautzinger · Michael Linden (Hrsg.)
Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche
Hrsg. Manfred Döpfner Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP) Köln, Deutschland
Martin Hautzinger Fachbereich Psychologie, EberhardKarls-Universität Tübingen Tübingen, Deutschland
Michael Linden Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation, Charité Universitätsmedizin Berlin, Deutschland
ISSN 2570-3285 ISSN 2570-3293 (electronic) Psychotherapie: Praxis ISBN 978-3-662-58979-3 ISBN 978-3-662-58980-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. © Sunny studio/stock.adobe.com/Symbolbild mit Fotomodell Planung/Lektorat: Monika Radecki Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Das Verhaltenstherapiemanual ist seit seiner Ersterscheinung im Jahre 1981 zu einem Standardwerk der Verhaltenstherapie geworden ist. Seine Besonderheit ist, dass es nicht nur über theoretische Konzepte zur Behandlung der wichtigsten psychischen Störungsbilder berichtet, sondern auf der Technikebene konkrete Hinweise gibt, was ein Therapeut tun muss, damit man beispielsweise von einer „Hausaufgabe oder Verhaltensprobe“ sprechen kann. Eine solche Konkretisierung ist erforderlich als Grundlage einer qualitativ hochwertigen Verhaltenstherapie. Das Verhaltenstherapiemanual enthielt immer schon auch Techniken oder Behandlungsstrategien für Probleme aus dem Kinder- und Jugendbereich, wie beispielsweise Enuresis. Aus den Rückmeldungen und klinischen Erfahrungen hat sich ergeben, dass aber auch andere Therapiestrategien und Techniken nicht ohne Weiteres auf den Kinder- und Jugendbereich übertragbar sind. Obwohl sich die verhaltenstherapeutischen Grundlagen und auch die meisten Methoden und Techniken in der Erwachsenentherapie und in der Kinder- und Jugendlichen-Therapie überschneiden, gibt es doch auch erhebliche Unterschiede in ihrer konkreten Ausgestaltung. Auch die im Kindes- und Jugendalter anzutreffenden psychischen Störungsbilder unterscheiden sich von jenen im Erwachsenenalter. Zudem stellen die enormen Entwicklungsschritte, die Kinder und Jugendlichen durchlaufen, eine Herausforderung für die Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie dar, die sich in ihrer konkreten Ausgestaltung jedem Entwicklungsalter anzupassen hat. Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie ist zudem in hohem Maße als multimodale Psychotherapie angelegt, die sowohl patientenzentrierte als auch umfeldzentrierte Interventionen in jedem einzelnen Fall integrieren muss. Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten arbeiten deshalb nicht nur mit den Patienten, sondern sehr intensiv auch mit ihren Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen. Von daher erschien es sinnvoll, ein eigenes Verhaltenstherapiemanual für Kinder und Jugendliche herauszugeben. In diesem Manual werden möglichst knapp und mit Blick auf die Praxis allgemeine Grundlagen verhaltenstherapeutischen Arbeitens mit Kindern und Jugendlichen dargestellt und verhaltenstherapeutische Techniken, Einzelverfahren und Methoden konkret beschrieben. Schließlich werden für die wichtigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter störungsspezifische Behandlungspläne ausgearbeitet. Oberstes Ziel des Manuals ist die Praxisnähe.
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Vorwort
Das Manual gibt Hinweise, was ein Verhaltenstherapeut wie macht. Es umfasst eine Sammlung der Interventionen, die jeder Verhaltenstherapeut beherrschen sollte (Verhaltensanalyse, Hausaufgaben, Expositionsübungen, Modifikation von Kognitionen, usw.) und die bei den unterschiedlichsten Problemstellungen zur Anwendung kommen. Das Buch kann daher verhaltenstherapeutisch arbeitenden Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, Kinder- und JugendPsychiatern, in der Beratung und klinisch tätigen Psychologen, Schulpsychologen, Psychologischen Psychotherapeuten, Ärztlichen Psychotherapeuten, Psychiatern sowie in Aus- und Weiterbildung befindlichen Kolleginnen und Kollegen helfen, sich praxisrelevantes Wissen anzueignen. Unser Dank gilt den vielen Autoren, die zu dem Verhaltenstherapiemanual beigetragen haben und die nicht nur über theoretische Kenntnisse, sondern über ein erhebliches Praxiswissen verfügen, ohne das sie diese Kapitel nicht hätten verfassen können. Wir danken den Mitarbeiterinnen des Springer Verlags für die professionelle Begleitung unseres Buches, insbesondere Monika Radecki und Dr. Esther Dür. Köln Tübingen Berlin im November 2019
Prof. Dr. Manfred Döpfner Prof. Dr. Martin Hautzinger Prof. Dr. Michael Linden
Inhaltsverzeichnis
Teil I Grundlagen 1 Multimodale Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie. . . 3 Manfred Döpfner
2 Diagnostik psychischer Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Manfred Döpfner und Anja Görtz-Dorten
3 Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik bei Kindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Günter Esser
4 Diagnostik des psychosozialen Lebensumfeldes. . . . . . . . . . . . . . 21 Stephanie Schürmann und Manfred Döpfner
5 Strukturierung des Therapieablaufs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Michael Borg-Laufs und Manfred Döpfner
6 Therapeutische Beziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Manfred Döpfner und Michael Borg-Laufs
7 Nebenwirkungen und Nebenwirkungserfassung in der Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . 37 Michael Linden und Manfred Döpfner
8 Kultursensitive Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. . . . 43 Renate Schepker und Nicole Corpus
Teil II Techniken 9 Aktivitätsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ulrike Abel
10 Apparative Therapie der Enuresis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Alexander von Gontard
11 Neurofeedback. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Martin Holtmann und Tanja Legenbauer
12 Urotherapie bei funktioneller Harninkontinenz tagsüber. . . . . . 63 Alexander von Gontard
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Inhaltsverzeichnis
13 Empathie und Mitgefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Hanna Meyer und Charlotte Hanisch
14 Emotionsregulationstraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Anja Görtz-Dorten
15 Entspannungsverfahren und Achtsamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Angelika A. Schlarb
16 Exposition und Konfrontation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Hendrik Büch
17 Therapieaufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Manfred Döpfner und Michael Linden
18 Imagination und kognitives Rehearsal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Angelika A. Schlarb
19 Kognitives Umstrukturieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Charlotte Hanisch und Martin Hautzinger
20 Kontingenzmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Manfred Döpfner
21 Mikro-Verhaltensanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Nina Spröber-Kolb und Martin Hautzinger
22 Makro-Verhaltensanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Manfred Döpfner
23 Modelldarbietung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Martin Hautzinger und Manfred Döpfner
24 Tokensysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Manfred Döpfner
25 Problemlösetraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Anja Görtz-Dorten
26 Selbst- und Fremdbeobachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Martin Hautzinger und Manfred Döpfner
27 Selbstinstruktion und Selbstverstärkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Manfred Döpfner
28 Gesprächsführung und sokratischer Dialog. . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Charlotte Hanisch
29 Stimuluskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Martin Hautzinger
30 Verhaltensbeobachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Wolfgang Ihle
31 Verhaltensübungen und Rollenspiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Anja Görtz-Dorten und Martin Hautzinger
32 Verhaltensverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Manfred Döpfner und Martin Hautzinger
Inhaltsverzeichnis
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Teil III Therapiemethoden und -strategien 33 Prävention psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Patrick Pössel und Christopher Hautmann
34 Soziale Kompetenztrainings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Hendrik Büch
35 Training organisatorischer Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Sonja Braun
36 Computer- und mediengestützte Interventionen. . . . . . . . . . . . . 181 Manfred Döpfner
37 Kognitiv-behaviorale Spieltherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Manfred Döpfner und Tanja Wolf Metternich-Kaizman
38 Eltern- und familienzentrierte Interventionen. . . . . . . . . . . . . . . 193 Manfred Döpfner und Stephanie Schürmann
39 Gruppentherapien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Christina Schwenck und Sabine Maur
40 Interventionen in Schulen und Kindertagesstätten. . . . . . . . . . . 205 Charlotte Hanisch und Stefanie Richard
Teil IV Störungsbezogene Therapiekonzepte 41 Adipositas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Petra Warschburger
42 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen. . . . . . . . . . 217 Manfred Döpfner
43 Affektregulationsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Tanja Legenbauer und Anja Görtz-Dorten
44 Oppositionelle und aggressiv-dissoziale Störungen. . . . . . . . . . . 225 Anja Görtz-Dorten
45 Anorexia und Bulimia nervosa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Tanja Legenbauer
46 Autismus-Spektrum-Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Nicole Bruning und Pamela Roland
47 Bindungsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Ute Ziegenhain
48 Chronisch-somatische Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Meinolf Noeker
49 Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Martin Hautzinger
50 Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. . . . . . . . . . . . . 255 Günter Esser und Elena von Wirth
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Inhaltsverzeichnis
51 Enuresis, funktionelle Harninkontinenz tags und Enkopresis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Alexander von Gontard
52 Emotionale und Verhaltensstörungen bei Intelligenzminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Klaus Sarimski und Michael Kostulski
53 Posttraumatische Belastungsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Michael Simons
54 Psychische Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter (0–3 Jahre). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Margarete Bolten
55 Selbstverletzendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Tina In-Albon und Paul L. Plener
56 Schlafstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Angelika A. Schlarb
57 Schmerzstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Tanja Hechler
58 Somatoforme Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Meinolf Noeker
59 Soziale Ängste, Leistungsängste und generalisierte Ängste . . . . 301 Hendrik Büch
60 Tic-Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Katrin Woitecki und Manfred Döpfner
61 Spezifische Phobien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Hendrik Büch
62 Trennungsängste und Schulvermeidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Tina In-Albon und Daniel Walter
63 Computerspiel- und Internetsucht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Klaus Wölfling, Kai W. Müller und Michael Dreier
64 Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Hildegard Goletz und Manfred Döpfner
Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
Teil I
Grundlagen
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Multimodale Kinderund JugendlichenVerhaltenstherapie Manfred Döpfner
1.1 Allgemeine Beschreibung Das Konzept der multimodalen Kinderund Jugendlichen-Verhaltenstherapie versucht, die Grundlinien einer allgemeinen, therapieschulenübergreifenden, evidenzbasierten Psychotherapie für Kinder und Jugendliche zu formulieren. Sie baut wesentlich auf empirisch bewährten verhaltenstherapeutischen Prinzipien auf und lässt sich als eine entwicklungs- und kontextorientierte Mehrebenentherapie, die sich an Wirkprinzipien orientiert und dabei transdiagnostisch ausgerichtet ist und eine problemspezifische, individualisierte, modulare, ergebnisorientierte und adaptive Therapie darstellt, charakterisieren.
1.2 Entwicklungs- und kontextorientierte Mehrebenentherapie Entwicklungsorientierte Therapie. Die multimodale Kinder- und JugendlichenVerhaltens therapie muss das extrem weite
M. Döpfner (*) Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]
ntwicklungsspektrum von Kindern, JugendE lichen und jungen Erwachsenen berücksichtigen, indem sie ihre Methoden dem Entwicklungsalter des Kindes oder Jugendlichen anpasst und spielerische Methoden, kognitive und verbale Techniken sowie übende Verfahren integriert. Kontextorientierte und multimodale Therapie. Psychische Probleme manifestieren sich in aller Regel in verschiedenen Lebenskontexten und auf mehreren Ebenen – beim Patienten selbst (z. B. Ängste, angsterzeugende Kognitionen), in der Familie (z. B. überbehütendes Erziehungsverhalten, Trennungsängste beim Zubettgehen), in der Kindertagesstätte oder in der Schule (z. B. Angst, sich zu melden, strenger Lehrer) oder im Freizeitbereich bzw. in der Gleichaltrigengruppe (z. B. Vermeidung von Gleichaltrigenkontakten, Mobbing). Eine multimodale Intervention, die auf den verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Lebensbereichen ansetzt, in denen die Probleme auftreten, ist daher meist notwendig, auch wenn sich die Probleme in den einzelnen Lebensbereichen gegenseitig beeinflussen und Interventionen in einem Lebensbereich gewisse Auswirkungen auf andere Lebensbereiche haben können (siehe Abb. 1.1). Die Psychotherapieforschung liefert viele Hinweise darauf, dass die Erfolgschancen einer Intervention dann am größten sind, wenn sie auf der Ebene oder in dem Kontext ansetzt, in dem
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_1
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M. Döpfner
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in der Schule
Ressourcenaktivierung
in der Familie
Hilfe zur erfolgreichen Problembewältigung Problemfokussierung
Kognitiv-affektive Klärung
bei Gleichaltrigen
Abb. 1.1 Modell der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie (aus Döpfner 2007)
die Problematik auftritt. So lassen sich durch familienzentrierte Interventionen Probleme des Kindes in der Familie, aber nicht automatisch auch in der Schule vermindern.
1.3 An Wirkprinzipien orientierte und evidenzbasierte Therapie Die multimodale Kinder- und JugendlichenVerhaltenstherapie wendet empirisch bewährte Interventionsmethoden an. Die empirische Therapieforschung hat die Wirksamkeit verschiedener Methoden in den letzten Jahrzehnten in einer Vielzahl von empirischen Studien untersucht. Obwohl die Therapieforschung noch erhebliche Lücken aufweist, haben sich doch verschiedene Interventionsmethoden für spezifische Störungsbilder als wirkungsvoll erwiesen. Nach bestimmten methodischen Kriterien als evidenzbasiert qualifizierte Therapien liegen mittlerweile für die meisten Störungsbilder
im Kindes- und Jugendalter vor. Nach den Metaanalysen von Therapiestudien, in denen mehr als 30.000 Kinder und Jugendliche in den letzten Jahrzehnten untersucht wurden, ließen sich für die Mehrzahl der psychischen Störungen zumindest kleine bis moderate Therapieeffekte belegen, die sich zudem in Nachuntersuchungen als überwiegend stabil erwiesen haben und die vergleichbar zu den in der Erwachsenenpsychotherapie gefundenen Effekten sind. Allerdings zeigen diese Studien auch, dass nicht alle Kinder und Jugendliche von den Therapien in einem ausreichenden Maße profitieren und dass daher ein beträchtlicher Anteil an Kindern und Jugendlichen auch nach Behandlungsende noch klinische bedeutsame psychische Auffälligkeiten aufweist (Weisz et al. 2017). Aus den Ergebnissen der Therapieforschung lassen sich störungsübergreifende allgemeine Wirkprinzipien ableiten, die Grawe (1995) in einem Modell einer allgemeinen Psychotherapie
1 Multimodale Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie
bei Erwachsenen zusammengefasst hat, in dem er vier generelle therapeutische Wirkprinzipien als gesicherte Bestandteile einer allgemeinen psychotherapeutischen Veränderungstheorie definierte, die Grundlage einer allgemeinen Psychotherapie sein könnten: Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, aktive Hilfe zur Problembewältigung und Klärungsperspektive. Diese Prinzipien lassen sich auch in der multimodalen Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen anwenden. Im Unterschied zur Erwachsenenpsychotherapie müssen diese Prinzipien jedoch nicht nur in der Arbeit mit dem Kind oder Jugendlichen realisiert werden, sie spielen ebenso in der Arbeit mit seinen Bezugspersonen – den Eltern, den pädagogischen Fachkräften und anderen – eine wichtige Rolle. Methoden der Ressourcenaktivierung knüpfen an den positiven Möglichkeiten, Eigenarten, Fähigkeiten und Motivationen des jungen Patienten und seiner Bezugspersonen an. Sie stehen häufig zu Beginn der Therapie im Vordergrund der Behandlung, weil sie den Patienten und seine Bezugspersonen motiviert, aktiv in der Therapie mitzuarbeiten, indem sie die Erfolgserwartungen bezüglich der Therapie und eine tragfähige therapeutische Arbeitsbeziehung aufbauen. Das Prinzip der Problemaktualisierung macht deutlich, dass das, was verändert werden soll, in der Therapie real erfahren werden muss, und stellt damit einen Gegenpol zum Prinzip der Ressourcenaktivierung dar. Eine Therapie muss daher so gestaltet werden, dass sich die Probleme des Patienten oder seiner Bezugspersonen (meist in graduierter Form) auch in der Therapiesitzung manifestieren. Die Problematik des Patienten kann sich in der therapeutischen Beziehung aktualisieren (Übertragung), sie kann aber auch gezielt im Gespräch, durch spielerische oder kreative Methoden thematisiert werden. Darüber hinaus kann der Therapeut die Therapiesituation so gestalten, dass Probleme real auftreten, oder sie können durch Techniken auf der Vorstellungsebene in der Therapie aktualisiert werden. Mitunter lassen sich
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Probleme nicht in die Therapie „importieren“. Deshalb kann die Therapie in den Lebensbereich verlagert werden, in dem diese Probleme auftreten. Dies erleichtert auch den Transfer von Veränderungen aus der Therapie in den Alltag. Daher spielen therapeutische Hausaufgaben und therapeutische Interventionen vor Ort – beispielsweise in der Familie oder in der Schule – eine herausragende Rolle. Auch das Prinzip der Problemaktualisierung konzentriert sich nicht ausschließlich auf den Patienten, sondern bezieht seine Bezugspersonen mit ein. Im Rahmen der kognitiv-affektiven Klärung hilft der Therapeut dem Patienten und seinen Bezugspersonen, sich über die Bedeutung des Erlebens und Verhaltens im Hinblick auf seine/ ihre Ziele und Werte – in altersangemessener Form – klarer zu werden und sie vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrungen zu verstehen. Grundlage ist dabei die Psychoedukation aller Beteiligten unter Berücksichtigung der individuellen Störungskonzepte und Therapieerwartungen. Außerdem werden im Rahmen der kognitiv-affektiven Klärung mögliche intrapsychische oder interpersonelle Konflikte, allgemeine Grundannahmen, spezifische Erwartungen, Kognitionen und Befürchtungen beim Patienten und seinen Bezugspersonen herausgearbeitet. Hierzu kommen neben verbalen Methoden auch spielerische und gestalterische Methoden zum Einsatz. Die Lösung von Konflikten, die Veränderung von Grundannahmen, Erwartungen, Kognitionen oder Befürchtungen kann ebenfalls über spielerische und imaginative Methoden erfolgen, aber auch verbal durch Ansprechen, sokratisches Hinterfragen, Überprüfen im Alltag, Interpretieren und die Entwicklung von Problemlösestrategien. Diese kognitiven Methoden finden vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen sowie ihren Bezugspersonen Anwendung. Das Prinzip der Hilfe zur Problembewältigung macht deutlich, dass der Therapeut den Patienten und seine Bezugspersonen aktiv bei der Bewältigung der Problematik des Patienten sowie der Bezugspersonen/
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Bezugssysteme unterstützt, die zur Aufrechterhaltung der Störungen bei dem jungen Patienten beiträgt. Diese Problembewältigung erfolgt vor dem Hintergrund der kognitivaffektiven Klärung unter Einbeziehung aller für die Problembewältigung relevanten Personen. Auch jüngere Patienten werden so weit wie möglich in diese aktive Problembewältigung einbezogen. Die Hilfe zur Problembewältigung ist das zentrale Wirkprinzip der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie, das aber auf den anderen Prinzipien aufbaut. Durch die konkrete Vermittlung von Bewältigungserfahrungen bislang nicht bewältigter Probleme beim Patienten und seinen Bezugspersonen in der realen Welt werden das Kompetenzvertrauen und die Erfolgserwartung des Patienten und seiner Bezugspersonen gestärkt und damit die Verhaltensänderung erleichtert. Abb. 1.1 zeigt zusammenfassend das Modell der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie mit den Wirkprinzipien, die auf den Patienten, aber auch seine Bezugsperson angewendet werden. Zentrales Ziel der multimodalen Kinderund J ugendlichen-Verhaltenstherapie ist die erfolgreiche Bewältigung von bislang nicht bewältigten Problemen im Alltag, d. h. in der Familie, in der Schule und bei Gleichaltrigen oder im Freizeitbereich. Diese Problembewältigung wird vom Therapeuten aktiv unterstützt. Dem Ziel der aktiven Problembewältigung dienen die weiteren Wirkprinzipien der Ressourcenaktivierung, der Problemfokussierung und der kognitiv-affektiven Klärung beim Patienten und seinen Bezugspersonen. Diese Wirkfaktoren beeinflussen sich gegenseitig. In Abhängigkeit vom Umfeld, in dem die Probleme auftreten, werden patientenzentrierte Interventionen durch familien-, kindergarten-, schul- oder auch auf Gleichaltrige zentrierte Interventionen flankiert, indem die entsprechenden Bezugspersonen in die Therapie einbezogen werden.
M. Döpfner
1.4 Transdiagnostische, problemspezifische, individualisierte, modulare, ergebnisorientierte und adaptive Therapie Die multimodale Kinder- und JugendlichenPsychotherapie ist transdiagnostisch ausgerichtet, d. h., sie orientiert sich an den konkreten Problemen des Kindes oder Jugendlichen auf kognitiver, emotionaler und motorischer Ebene und an den damit in Verbindung stehenden Schwierigkeiten seiner Familie sowie des weiteren Umfeldes. Eine derartige Therapie ist transdiagnostisch, weil sie sich nicht ausschließlich an den Symptomen orientiert, die eine Diagnose definieren, sondern weil sie die Funktionalität der psychischen Probleme berücksichtigt, indem sie prädisponierende, problemauslösende und problemaufrechterhaltende Faktoren identifiziert und daraus die notwendigen Interventionen ableitet. So kann beispielsweise der soziale Rückzug im Rahmen einer sozialen Angststörung sehr unterschiedliche Funktionen haben: Die Symptomatik kann ausschließlich durch soziale Ängste oder auch durch Kompetenzdefizite auf der Verhaltensebene oder auch durch positive Verstärkung von sozial ängstlichem Verhalten aufrechterhalten werden. Dementsprechend gilt es in der Therapie, die passenden Interventionen auszuwählen und somit die Therapie zu individualisieren. Dabei greift sie auf modular aufgebaute Behandlungsmanuale zurück, die aus einzelnen Behandlungsbausteinen zur Therapie spezifischer psychischer Probleme zusammengesetzt sind. Zu Beginn der Therapie werden daher die konkreten psychischen Probleme, die verändert werden sollen, mit allen Beteiligten (z. B. Kind, Eltern, Erzieherin) definiert, und der Verlauf der Therapie wird anhand der Problemdefinitionen und der davon abgeleiteten Zieldefinitionen kontinuierlich überprüft. Auf Grundlage dieser Verlaufskontrollen wird die Therapie gegebenenfalls adaptiert.
1 Multimodale Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie
Literatur Döpfner, M. (2007). Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. In C. Reimer, Eckert, J., Hautzinger, M. & Wilke, E. (Hrsg.), Psychotherapie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Psychologen (3. Aufl.) (S. 614 – 629). Berlin: Springer. Döpfner, M. (2013). Psychotherapie. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (7. Aufl., S. 823–841). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M. (im Druck). Kognitive Verhaltenstherapie. In J. M. Fegert, F. Resch, M. Döpfner, M. Kaess, K. Konrad, T. Legenbauer, & P. Plener (Hrsg.), Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Berlin: Springer.
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Grawe, K. (1995). Grundriß einer allgemeinen Psychotherapie. Psychotherapeut, 40, 130–145. Grawe, K., Donati, R., & Bernauer, F. (1994). Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe. Weisz, J. R., Kuppens, S., Ng, M. Y., Eckshtain, D., Ugueto, A. M., Vaughn-Coaxum, R., Jensen-Doss, A., Hawley, K. M., Krumholz Marchette, L. S., Chu, B. C., Weersing, V. R., & Fordwood, S. R. (2017). What five decades of research tells us about the effects of youth psychological therapy: A multilevel meta-analysis and implications for science and practice. American Psychologist, 72, 79–117.
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Diagnostik psychischer Störungen Manfred Döpfner und Anja Görtz-Dorten
2.1 Allgemeine Beschreibung
Prozesses sollten folgende Fragen beantwortet werden:
Die Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter umfasst im Kern eine differenzierte Erhebung der psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen auf der Ebene des Denkens, der Affekte und des Verhaltens sowie die Erfassung der körperlichen, individuellen und psychosozialen Bedingungen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der psychischen Auffälligkeiten beitragen. Hauptziel der (Eingangs-) Diagnostik ist die Indikationsstellung und differenzierte Planung von psychologischen, psychosozialen oder auch medizinischen Interventionen zur Verminderung der psychischen Auffälligkeiten. Diagnostisches Handeln kann man somit als Problemdefinitions-, Problemlöseund Entscheidungsprozess beschreiben, der im Therapieverlauf stets wiederholt werden kann. Im Verlauf des initialen diagnostischen
1. Hat das Kind oder der Jugendliche eine psychische Auffälligkeit? 2. Wie äußert sich die Auffälligkeit im Detail auf der kognitiven, der emotionalen und der Verhaltensebene, und in welchem Kontext tritt die Problematik auf? 3. Mit welchen psychosozialen Einschränkungen und mit welchem Leidensdruck geht die Problematik einher? 4. Durch welche klinische Diagnose wird die Auffälligkeit am besten beschrieben? 5. Welche prädisponierenden und auslösenden Faktoren (auf psychischer, familiärer, soziokultureller und biologischer Ebene) trugen vermutlich zur Entwicklung der Auffälligkeit bei? 6. Welche Faktoren tragen aktuell zur Aufrechterhaltung der Problematik bei? 7. Welche Stärken, Kompetenzen und Ressourcen, die für die Therapie genutzt werden können, haben der Patient und die Familie sowie das weitere psychosoziale Umfeld? 8. Wie ist vermutlich der weitere Verlauf der Auffälligkeit, wenn sie nicht behandelt wird? 9. Welche Interventionen sind vermutlich am erfolgreichsten? 10. Welche Störungskonzepte, Therapieerwartungen und Therapieziele und welche
M. Döpfner (*) · A. Görtz-Dorten Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Görtz-Dorten E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_2
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Therapiemotivation haben der Patient und seine Bezugspersonen, und was ist der therapeutische Auftrag des Patienten und seiner Bezugspersonen? Im Verlauf der Therapie werden diagnostische Verfahren zu einer kontinuierlichen Verlaufsund Erfolgskontrolle (Evaluation) eingesetzt. Der diagnostische Prozess kann als mehrstufiger Prozess beschrieben werden, der in Abb. 2.1 dargestellt ist. Grundlage und unverzichtbare Komponente der Diagnostik stellt die ausführliche klinische Exploration der Eltern, des Kindes/Jugendlichen selbst und bei Bedarf auch anderer wichtiger Bezugspersonen (z. B. Erzieher oder Lehrer) dar. Auf der Grundlage dieser klinischen Exploration werden meist weitere diagnostische Verfahren eingesetzt, die eine differenzierte Erfassung folgender Bereiche ermöglichen: • psychische Auffälligkeiten, Funktionseinschränkungen und Kompetenzen des Kindes
oder Jugendlichen (Verhaltens- und Psychodiagnostik), • kognitive (einschließlich der motorischen, verbalen und visuellen) Defizite und Fähigkeiten (Entwicklungs-, Intelligenz-, Leistungsund neuropsychologische Diagnostik, Kap. 3), • körperliche Funktionen (medizinische Diagnostik) und • psychosoziale Bedingungen (Familien- und Interaktionsdiagnostik, Verhaltensbeobachtung und Diagnostik weiterer psychosozialer Bedingungen, Kap. 4, 26). Bei dieser weitergehenden Diagnostik können verschiedene diagnostische Methoden eingesetzt werden, vor allem standardisierte Fragebogenverfahren, klinische Checklisten und Interviews, Methoden der Verhaltensbeobachtung, psychologische Testverfahren, körperliche Untersuchungen und apparative Verfahren zur psychologischen oder medizinischen Diagnostik.
Exploraon des Paenten und seiner Bezugspersonen gestützt durch detaillierte Informaonssammlung Entwicklungs-, Intelligenz- und Leistungsdiagnosk
Verhaltens- und Psychodiagnosk
Diagnosk körperlicher Funkonen
Diagnosk psychosozialer Bedingungen
Dimensionale Beschreibung
•psychischer Störungen und Kompetenzen •kogniver Defizite und Fähigkeiten •psychosozialer/familiärer Bedingungen
Diagnose nach ICD-10 / DSM-5 Bedingungsanalyse Entwicklung eines gemeinsamen Störungs- und Intervenonskonzeptes Intervenon und therapiebegleitende Diagnosk
Abb. 2.1 Der diagnostische Prozess
2 Diagnostik psychischer Störungen
Die Integration der diagnostischen Ergebnisse mündet erstens in einer dimensionalen Beschreibung der psychischen Störungen, der Funktionseinschränkung, der Kompetenzen, der kognitiven Defizite und Fähigkeiten sowie der psychosozialen Bedingungen. Zweitens kann eine kategoriale Diagnose auf der Grundlage des ICD-10/ICD-11 oder des DSM-5 erstellt werden. Im nächsten Schritt lässt sich eine Bedingungsanalyse (Mikro- und Makroanalyse, Kap. 21, 22) durchführen, in der ein hypothetisches Modell über die intrapsychischen, psychosozialen und biologischen Faktoren entwickelt wird, die zur Entstehung der psychischen Störung und zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Danach kann auf der Grundlage der subjektiven Störungskonzepte des Patienten und seiner Bezugspersonen, der Therapieerwartungen und Therapiemotivation mit dem Patienten und seinen Bezugspersonen ein gemeinsames Störungskonzept (Was sind meine Probleme und woher kommen sie?) und auch ein Interventionskonzept (Was muss wer tun, um die Probleme zu lösen?) entwickelt werden. Auf dieser Grundlage können schließlich die konkreten Therapieziele erarbeitet werden und eine detaillierte Therapieplanung erfolgen. Die Effekte der Intervention werden durch eine Verlaufskontrolle überprüft, in deren Rahmen zentrale diagnostische Schritte nochmals wiederholt werden.
2.2 Indikationen Kinderverhaltenstherapie ist ohne ausführliche zuverlässige Psychodiagnostik undenkbar, unethisch, unverantwortlich und ein professionelles Fehlverhalten. Umstritten ist, wie stark dieser diagnostische Prozess strukturiert sein muss. Erfreulicherweise setzt sich auch in der klinischen Praxis der Einsatz von standardisierten diagnostischen Verfahren immer weiter durch. Fragebogenverfahren ersetzen keine klinische Exploration, sie sind aber zeitökonomisch und sie ermöglichen eine Beschreibung psychischer Probleme aus verschiedenen Perspektiven. Durch die Normierung
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der meisten Fragebogenverfahren erhält der Untersucher wichtige zusätzliche Informationen, die allein durch eine klinische Exploration nicht zu erheben sind. Auch während der Therapie sind strukturierte oder standardisierte diagnostische Verfahren notwendig, um den Verlauf kontinuierlich zu erfassen und eine angemessene Qualitätssicherung durchzuführen.
2.3 Kontraindikationen Kontraindikationen sind nicht bekannt. Widerstand oder Ablehnung seitens der Patienten oder Bezugspersonen gegenüber bestimmten diagnostischen Maßnahmen (z. B. Befragungen von Lehrern) sollten nicht ohne weitere Auseinandersetzung mit den Gründen oder Ängsten akzeptiert werden. Allerdings ist für eine diagnostische Erhebung bei Bezugspersonen außerhalb der Familie das Einverständnis der Sorgeberechtigten und auch des einsichtsfähigen Patienten notwendig.
2.4 Vorgehen und technische Durchführung Die klinische Exploration beginnt in der Regel niedrigstrukturiert und orientiert sich an den vom Patienten bzw. seinen Bezugspersonen vorgebrachten Anliegen. Häufig bietet es sich an, zunächst das Kind/den Jugendlichen gemeinsam mit seinen Begleitpersonen (meist den Eltern) zu explorieren. Sowohl Patient als auch Eltern sollten aber auch im weiteren Verlauf getrennt exploriert werden. Die klinische Exploration dient nicht nur der Informationssammlung, sondern auch dem Aufbau einer Beziehung zum Patienten und seinen Bezugspersonen. Daher ist es bereits im Erstkontakt sehr wichtig, dem Kind oder Jugendlichen ein Beziehungsangebot zu machen, beispielsweise durch ein Gespräch über eigene Vorlieben oder Interessen oder durch ein gemeinsames Spiel. Die Exploration kann auch anhand eines strukturierten Explorationsschemas für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (EPSKI) erfolgen. Mit dem
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psychopathologischen Befundsystem lassen sich die explorierte und die während der Exploration beobachtete Symptomatik des Patienten anhand psychopathologischer Kategorien einordnen. Alternativ kann das klinische Urteil mithilfe einer Diagnose-Checkliste zum Screening psychischer Störungen (DCL-SCREEN) oder eines strukturierten Interviewleitfadens (ILF-SCREEN) aus dem Diagnostik-System für Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter (DISYPS-III) oder des in der Routine seltener eingesetzten Kinder-DIPS erhoben werden. Die multimodale Psycho- und Verhaltensdiagnostik lässt sich in zwei Phasen unterteilen (siehe Abb. 2.2). In der ersten Phase werden störungsübergreifende Basisverfahren der multimodalen Verhaltens- und Psychodiagnostik durchgeführt, anhand derer das klinische Urteil, das Urteil der Eltern, von Erzieherinnen oder Lehrkräften und das Selbsturteil des Kindes oder Jugendlichen (etwa ab 11 Jahren) erhoben werden. Diese Verfahren decken ein breites
Spektrum psychischer Auffälligkeiten ab und sollten aufgrund der hohen Komorbidität standardmäßig bei allen Störungsbildern eingesetzt werden. Neben den bereits erwähnten Explorations- und klinischen Beurteilungsverfahren werden als störungsübergreifende Basisverfahren auch standardisierte Fragebogenverfahren eingesetzt. Häufig werden der Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL/6–18R), der Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF/6-18R), der Fragebogen für Jugendliche (YSR/11-18R) und der Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder (VBV) verwendet. Im Diagnostik-System D ISYPS-III sind zudem Screeningverfahren entwickelt worden, die das Fremdurteil von Eltern und Lehrern (FBB-SCREEN) sowie ab dem Alter von 11 Jahren auch das Selbsturteil der Kinder und Jugendlichen (SBB-SCREEN) erheben. Auf der Grundlage der diagnostischen Ergebnisse in der ersten Phase kann in der
Phase 1: Störungsübergreifende Diagnostik Klinisches Urteil (KU) Verhaltensbeobachtung (VB) • Explorationsschema für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (EPSKI) • Psychopathologisches Befund-System für Kinder und Jugendliche • Diagnose-Checkliste zum Screening psychischer Störungen (DCL-SCREEN*) • Interview-Leitfaden zum Screening psychischer Störungen (ILF-SCREEN*)
Elternurteil (EU)
Erzieher/Lehrerurteil (LU)
Selbsturteil (SU)
• Elternfragebogen des Verhaltensbeurteilungsbogens für Vorschulkinder (VBV-EL) • Elternfragebogen für Kleinund Vorschulkinder (CBCL 1½ -5) • Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL/6-18R) • Fremdbeurteilungsbogen zum Screening psychischer Störungen (FBB-SCREEN*)
• Erzieherfragebogen des Verhaltensbeurteilungsbogens für Vorschulkinder (VBV-ER) • Fragebogen für ErzieherInnen von Klein- und Vorschulkindern (C-TRF 1½ -5) • Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF/6-18R) • Fremdbeurteilungsbogen zum Screening psychischer Störungen (FBB-SCREEN*)
• Fragebogen für Jugendliche (YSR/11-18R) • Selbstbeurteilungsbogen zum Screening psychischer Störungen (SBB-SCREEN*)
Phase 2: Störungsspezifische Diagnostik (Beispiele) AufmerksamkeitsdefiziHyperaktivitätsstörungent
Aggressive Störungen
Angststörungen
Depressive Störungen
Autistische Störungen
• DCL-ADHS* (KU) • ILF-EXTERNAL* (KU) • EI-PF (KU) • ES-HOV (KU) • FBB-ADHS*(EU/LU) • EF-PF (EU) • SBB-ADHS* (SU)
• DCL-SSV* (KU) • ILF-EXTERNAL* (KU) • EI-PF (KU) • FBB-SSV* (EU/LU) • FAVK-F (EU/LU) • SBB-SSV* (SU) • FAVK-S (SU)
• DCL-ANG* (KU) • ILF-INTERNAL* (KU) • FBB-ANG* (EU/LU) • SBB-ANG* (SU) • FESKA (SU/EU) • PHOKI (SU) • SPAIK (SU)
• DCL-DES* (KU) • ILF-INTERNAL* (KU) • FBB-DES* (EU/LU) • SBB-DES* (SU) • DIKJ (SU) • BDI-II (SU)
• DCL-ASKS* (KU) • ILF-KONTAKT* (KU) • ADI-R (KU) • ADOS-2 (VB) • FBB-ASKS* (EU/LU) • FSK (EU)
Abb. 2.2 Phasen und empfohlene Instrumente der multimodalen Verhaltens- und Psychodiagnostik ( * Bestandteil von DISYPS-III)
2 Diagnostik psychischer Störungen
zweiten Phase eine störungsspezifische multimodale Verhaltens- und Psychodiagnostik durchgeführt werden, die ein differenziertes Bild der einzelnen Störung liefern soll. Zur störungsspezifischen multimodalen Verhaltens- und Psychodiagnostik können viele Verfahren gerechnet werden, die einzelne Störungsbilder im klinischen Urteil, im Selbsturteil des Patienten und im Fremdurteil wichtiger Bezugspersonen (Eltern, Erzieher, Lehrer) differenzierter erfassen, z. B. mit dem DISYPS-III (siehe Abb. 2.2). Häufig stimmen die verschiedenen Beurteiler nicht gut miteinander überein. Dies lässt sich neben Messfehlern und mehr oder minder bewussten Simulations- und Dissimulationstendenzen vor allem auf unterschiedliche Urteilsanker der einzelnen Beurteiler und auf die Situationsspezifität der Verhaltensauffälligkeiten zurückführen. So kann ein Verhalten, das der Jugendliche als Selbstbehauptung einschätzt, von der Mutter oder der Klassenlehrerin als hochgradig oppositionell beurteilt werden, und die ausgeprägte Unaufmerksamkeit, die der Lehrerin im Unterricht auffällt, mag von der Mutter in der Familie nicht beobachtbar sein. Manche psychischen Auffälligkeiten sind über das Selbsturteil besser zugänglich – vor allem verdeckte Prozesse (Ängste, Selbstwertprobleme) –, andere lassen sich valider über das Fremdurteil erheben (z. B. oppositionelles Verhalten). Die Aufdeckung solcher divergierenden Urteile und ihrer vermutlichen Ursachen kann wertvolle Hinweise für die Therapieplanung liefern. Neben der Diagnostik mit standardisierten Verfahren haben sich Methoden der individualisierten Diagnostik vor allem für die Therapieplanung und Verlaufskontrolle als hilfreich erweisen. Mit diesen Methoden lassen sich die jeweils individuellen Ausprägungen psychischer Auffälligkeit erfassen. Beispiele für eine solche individualisierte Diagnostik stellen die Erfassung der Zielerreichung und die Erhebung der Zielbeschwerden dar. In beiden Ansätzen werden die Probleme, die verändert werden sollen, gemeinsam mit dem Patienten oder seinen Bezugspersonen spezifiziert.
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Mittels der Zielerreichungsskalierung werden die individuellen Probleme auf unterschiedlichen Intensitätsstufen beschrieben, während bei der Erfassung von Zielbeschwerden der mit den Problemen verbundene Leidensdruck erhoben wird. Ein Beispiel ist der Problembeurteilungsbogen (siehe Abb. 2.3), welcher zur regelmäßigen Beurteilung von umschriebenem Problemverhalten durch Bezugspersonen (Eltern, Erzieher, Lehrer) oder durch die Patienten selbst genutzt werden kann. Die einzelnen Problemverhaltensweisen müssen möglichst konkret spezifiziert werden.
2.5 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Vor allem bei den Fragebogenverfahren liegen evidenzbasierte, reliable, valide und normierte Instrumente vor, die sich in der klinischen Praxis gut einsetzen lassen und die auch zunehmend in der Routineversorgung angewendet werden. Sie geben wertvolle Informationen über die Symptomatik und das psychosoziale Funktionsniveau des Patienten aus verschiedenen Perspektiven und können in den Prozess der klinischen Exploration gut integriert werden. Dabei hat es sich bewährt, nicht nur eine normative Auswertung auf Skalenebene vorzunehmen, sondern auch die einzelnen Items kurz zu inspizieren und die gewonnenen Informationen für eine weitere Exploration des Patienten oder seiner Bezugspersonen zu nutzen. Während in der Eingangsdiagnostik evidenzbasierte Verfahren immer häufiger eingesetzt werden, hat sich eine systematische Verlaufskontrolle noch nicht etabliert. Sie ist jedoch für eine Qualitätssicherung und die Optimierung therapeutischer Interventionen von besonderer Bedeutung. Vor allem der Einsatz von Verfahren der individualisierten Diagnostik wie der Zielerreichungsskalierung oder der individuellen Problembeurteilung ist sowohl für die Therapieplanung als auch für die kontinuierliche Überprüfung des Therapieverlaufs besonders hilfreich.
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Abb. 2.3 Problembeurteilungsbogen
Literatur Döpfner, M., Berner, W., Breuer, D., Fleischmann, T., & Schmidt, M.H. (2018). VBV 3-6. Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder (2. überarb. und erw. Aufl. mit Kurzformen). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., & Görtz-Dorten, A. (2017). Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-5 für Kinder- und Jugendliche (DISYPS-III). Bern: Hogrefe. Döpfner, M., & Petermann, F. (2012). Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Bd. 2 (3. überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., Plück, J., & Kinnen, C. für die Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist. (2014). Manual deutsche Schulalter-Formen der Child Behavior Checklist von Thomas M. Achenbach. Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern
und Jugendlichen (CBCL/6-18R), Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF/6-18R), Fragebogen für Jugendliche (YSR/1118R). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., & Steinhausen, H.-C. (2012). Kinder-Diagnostik-System (KIDS), Bd. 3: Störungsübergreifende Verfahren zur Diagnostik psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe. Görtz-Dorten, A., & Döpfner, M. (2021). Interviewleitfäden zum Diagnostik-System für psychische Störungen für Kinder- und Jugendliche (DISYPS-ILF). Bern: Hogrefe. Plück, J., Scholz, K., & Döpfner, M. für die Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist. (2019). Manual deutsche Vorschulalter-Formen der Child Behavior Checklist von Thomas M. Achenbach. Elternfragebogen für Klein- und Vorschulkinder (CBCL 1½-5) und Fragebogen für ErzieherInnen von Klein- und Vorschulkindern (C-TRF 1½-5). Göttingen: Hogrefe.
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Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik bei Kindern Günter Esser
3.1 Einleitung In der Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie haben wir es grundsätzlich mit klinischen Populationen zu tun. Auch die im Rahmen der Leistungsdiagnostik verwendeten Testverfahren müssen sich neben den klassischen Testgütekriterien daran messen lassen, inwieweit sie einen Beitrag zur Diagnosestellung leisten. Die infrage stehenden Diagnosen sind Intelligenzdefizite (ICD-10: F7) und umschriebene Entwicklungsstörungen (ICD-10: F80-F82). Klinische Populationen als Zielgruppe setzen voraus, dass die Testverfahren in der Lage sind, im unteren Leistungsspektrum ausreichend zu differenzieren. Das bedeutet, dass die Testverfahren genügend leichte Aufgaben für die jeweilige Altersgruppe enthalten müssen. So bieten sich in der Regel Verfahren an, die sich am oberen Ende des jeweiligen Altersspektrums befinden. So eignet sich der WISC-V weniger gut zur Störungsdiagnostik bei 8-Jährigen, sondern sehr viel besser bei 14- bis 16-Jährigen. Die Messung von Extremwerten (1,5 oder 2 Standardabweichungen unter dem Mittelwert) setzt große Normierungsstichproben
G. Esser (*) Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung an der Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected]
von mindestens 150 Probanden pro Altersgruppe voraus. Auch die Repräsentativität der Normierungsstichprobe ist von hoher Bedeutung. Diese misst sich vor allem am Grad der Ausschöpfung der Gesamtpopulation. Verfahren, die aus ökonomischen Gründen nur die sehr leicht erreichbaren motivierten Probanden berücksichtigen, weisen zu hohe Mittelwerte und zu geringe Streuungen auf. Dies führt insbesondere zu hohen Raten von Auffälligen (z. B. Intelligenzgeminderten) mit den entsprechenden weitreichenden Folgen (Wyschkon und Esser 2015). Im Folgenden werden für das Säuglings- bis zum Grundschulalter einzelne häufig verwendete Testverfahren exemplarisch dargestellt und diskutiert. Auf eine tabellarische Auflistung aller relevanten Verfahren wird verzichtet, hierbei ist auf die Testkataloge insbesondere von Hogrefe und Pearson zu verweisen. Die Auswahl der Testverfahren erfolgte nach der Erfüllung der Testgütekriterien (Objektivität, Reliabilität und Validität) sowie nach den o. g. Kriterien zur Eignung für klinische Fragestellungen. Daneben wurde die Verbreitung der Testverfahren berücksichtigt.
3.2 Entwicklungsdiagnostik im Säuglings- und Kleinkindalter Die Leistungsdiagnostik im Säuglings- und Kleinkindalter erfordert große Erfahrungen im Umgang mit Kindern der entsprechenden
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_3
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Altersgruppe und die perfekte Beherrschung des Untersuchungsmaterials und -ablaufs. Dabei gilt es, die Reihenfolge der Items flexibel dem emotionalen Zustand und der Reaktion des Kindes anzupassen und damit auch schwierige Untersuchungssituationen zu meistern.
(rezeptiv und expressiv) sowie Selbständigkeit und Sozialverhalten geprüft. Hervorzuheben ist das besonders robuste Testmaterial. Die veraltete Normierung und überholte Aufgabenkonstruktion machen die derzeit stattfindende Überarbeitung notwendig.
3.2.1 Entwicklungstest für Kinder von 6 Monaten bis 6 Jahren – Revision
3.2.3 Leistungsdiagnostik im Kindergarten- und Vorschulalter
Beim Entwicklungstest für Kinder im Alter von 6 Monaten bis 6 Jahren – Revision (ET 6-6R) handelt es sich um eine modifizierte und neu normierte Version des ET 6-6. Der Test eignet sich mit seiner umfangreichen Aufgabenkonstruktion als Breitbandentwicklungstest insbesondere für die Eingangsdiagnostik. Dabei beruht der ET 6-6R auf dem bewährten Grenzsteinprinzip, welches den inter- wie auch intraindividuell höchst variabel gestalteten Entwicklungsverläufen Rechnung trägt. Er erfasst durch die Testung des Kindes über alltagsnahe Aufgaben in 20–50 min den Entwicklungsstand der Körper- und Handmotorik, der kognitiven Entwicklung und der Sprachentwicklung. Darüber hinaus holt er mithilfe eines Elternfragebogens zusätzliche Angaben zur sozioemotionalen Entwicklung ein. Aus den Ergebnissen lässt sich ein Entwicklungsprofil bilden, welches zeigt, ob das Kind jene altersadäquaten Fertigkeiten besitzt, die es für eine ungestörte Entwicklung braucht, oder ob bereichsspezifische Entwicklungsverzögerungen vorliegen.
3.2.2 Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik Die Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik reicht von 0–36 Monaten und erfasst im 1. Lebensjahr vier motorische Bereiche (Krabbeln, Sitzen, Laufen, Greifen) sowie Perzeption, Sprache (rezeptiv und expressiv) und Sozialverhalten. Im 2. und 3. Lebensjahr werden Motorik (Statomotorik und Handmotorik), Wahrnehmungsverarbeitung, Sprache
Die Erfahrung, dass die Früherkennung von allgemeinen und partiellen Entwicklungsrückständen eine der maßgeblichen Aufgaben der klinischen Diagnostik ist, führte in den letzten Jahren zu einem Anstieg neu entwickelter Verfahren für die Altersgruppe von 4–6 Jahren.
3.2.3.1 Intelligenz Kaufman Assessment Battery for Children II Die Kaufman Assessment Battery for Children II (K-ABC-II) stellt die lange erwartete Überarbeitung ihrer vor 30 Jahren erschienenen Erstausgabe dar. Ihre wesentlichen Neuerungen betreffen zum einen die Erweiterung des Altersgeltungsbereichs, der nun die Spanne von 3 bis 18 Jahren umfasst, zum anderen basiert die K-ABC-II, im Gegensatz zur Vorgängerversion, auf einem dualen Intelligenzkonzept. So werden über den aus der K-ABC-I bereits bekannten neuro- und kognitionspsychologischen Ansatz (Luria-Modell), fluide Intelligenzaspekte erfasst und das ergänzte Cattell-Horn-Carroll-Modell (CHC-Modell) ermöglicht darüber hinaus auch die Berücksichtigung kristalliner Intelligenzleistungen. Im Einzelfall obliegt dem Untersucher die Entscheidung, welches Intelligenzmodell er zur Durchführung und Interpretation heranzieht. Unter normalen Entwicklungsbedingungen ist das CHC-Modell dem Luria-Modell vorzuziehen. Die K-ABC-II ist damit Alternative zu gängigen Testverfahren, wie z. B. der Wechsler Intelligence Scale for Children – V (WISC-V). Das Testmaterial der K-ABC-II ist ansprechend und abwechslungsreich und für viele Kinder einladender als das der WISC.
3 Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik bei Kindern
Die Testdurchführung ist einfach und für die Testleiter rasch zu erlernen. Die Dauer des Testverfahrens ist je nach Fragestellung sehr verschieden und beläuft sich auf ca. 25–100 min.
3.2.3.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen Bereits in den 1970er Jahren wurde im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Vorschulalter – Version III (BUEVA-III) entwickelt. Ziel dieser Testbatterie ist es, den Besonderheiten der Kinder dieser Altersgruppe und der Untersuchung allgemeiner und umschriebener Entwicklungsstörungen Rechnung zu tragen bzw. entsprechende Risikokinder ausfindig zu machen. Bis heute vollzog sich eine umfassende Weiterentwicklung dieses nun in der 3. Version vorliegenden mehrdimensionalen Entwicklungstestverfahrens. Mit der BUEVA-III liegt eine Testbatterie vor, die umfassend bereits manifeste Entwicklungsstörungen im Alter von 4;0–6;5 Jahren aufdeckt, zugleich aber auch Kinder mit dem Risiko zur Ausbildung einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten frühzeitig ausfindig macht. Die Autoren ergänzten die bislang fehlenden Untertests zur rezeptiven Sprache und einen weiteren Test zur Ganzkörperkoordination. Die übrigen Untertests durchliefen eine umfangreiche Überarbeitung. Wie sich in Längsschnittprojekten zeigen ließ, ist die BUEVA-III sensitiv für spätere umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Hierfür wurden weitere Untertests zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit sowie zum Zahlenund Mengenverständnis aufgenommen. Neben der Langversion über ca. 60 min liegt auch eine Screeningversion über 40 min vor. 3.2.3.3 Vertiefte Diagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen Eine vertiefte Diagnostik der schriftsprachlichen Vorläuferfertigkeiten ist durch den P otsdamIllinois-Test of Psycholinguistic Abilities (P-ITPA)
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möglich, die mathematischen Vorläuferfertigkeiten werden durch den MARKO-D möglich, die der Motorik durch den MOVE 4–8, der im Unterschied zu anderen Verfahren eine separate Diagnostik von Feinmotorik und Grobmotorik/ Ganzkörperkoordination erlaubt.
3.3 Leistungsdiagnostik im Grundschulalter 3.3.1 Intelligenz Neben der Kaufman Assessment Battery for Children II hat sich die Wechsler Intelligence Scale for Children (WISC-V) als zweites großes Intelligenztestverfahren etabliert. Wie der WISC-IV besteht auch der WISC-V aus 15 Untertests, die sich nun zu fünf primären Indizes zusammenfassen lassen. Unverändert sind die Indizes Sprachverständnis, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Das wahrnehmungsgebundene logische Denken des WISC-V teilt sich in visuell-räumliche Verarbeitung und das fluide Schlussfolgern auf. Den primären Indizes liegen insgesamt 10 der 15 Untertests zugrunde. Von diesen 10 bilden 7 den Gesamtwert. Auch der WISC-V hat sich an das Cattell-Horn-Carroll-Modell angepasst. Die Normierung erfolgt wie bisher in Vier-Monats-Schritten, was dazu führt, dass die verhältnismäßig kleine Normierungsstichprobe pro Altersgruppe nur ein n = 33 aufweist. Damit sind Messungen im klinisch relevanten Bereich nur sehr eingeschränkt möglich. Die Stärken des WISC sind die interaktive Vorgabe, das relativ abwechslungsreiche Testmaterial und die absolut weite Verbreitung.
3.3.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen im Grundschulalter Mit der Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Grundschulalter (BUEGA) wird ein Verfahren zur Verfügung gestellt, das neben Intelligenzleistungen und
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G. Esser
Sprachentwicklung umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten sowie Aufmerksamkeitsstörungen ökonomisch erfasst. Die Leistungsbereiche verbale Intelligenz, nonverbale Intelligenz, expressive Sprache, Lesegeschwindigkeit, Genauigkeit, Rechtschreibung, Rechnen und Aufmerksamkeit lassen sich zu einem Gesamtwert aufaddieren, der als Schulleistungspotenzial aufgrund seiner sehr hohen Korrelation (.76) mit dem Lehrerurteil für die Schullaufbahnberatung herangezogen werden kann. Aufgrund der Größe der Normierungsstichprobe (n > 150 pro Altersgruppe) ist das Verfahren auch in der Lage, im unteren und oberen Leistungsbereich genau zu differenzieren. Ein großer Vorteil der BUEGA besteht darin, dass alle Teilleistungen an derselben Stichprobe normiert wurden, sodass Diskrepanzen zwischen den Teilleistungen nicht durch stichprobenbedingte Unterschiede verzerrt oder verwischt werden.
3.3.3.2 Rechenstörungen Aus der Reihe deutscher Schultests liegt mit der Serie Deutscher Mathematiktest (DEMAT 1+ – 9) ein Verfahren zur ökonomischen Erfassung von Rechenleistungen vor. Die DEMAT orientieren sich an den Mathematiklehrplänen der deutschen Bundesländer und sind auch in einer Schulstunde als Gruppentest durchführbar. Um die zugrunde liegenden Defizite mathematischen Denkens aufzuzeigen, wurde die neuropsychologische Testbatterie für Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Kindern (ZAREKI-R) konstruiert. Ziel ist eine differenzielle Diagnostik der qualitativen und quantitativen Zahlenverarbeitung und Rechenfertigkeiten für Kinder der 1.–4. Klassen. Das Verfahren eignet sich auch zur Therapieplanung.
3.3.3 Vertiefte Diagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen
Esser, G., Wyschkon, A., & Ballaschk, K. (2007). Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Grundschulalter. Göttingen: Hogrefe. Esser, G., & Wyschkon, A. (2015). Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Vorschulalter – Version III (BUEVA-III). Göttingen: Hogrefe. Esser, G., & Wyschkon, A. (2010). Potsdam-Illinois Test of Psycholinguistic Abilities (P-ITPA). Göttingen: Hogrefe. Görlitz, D., Roick, T., Hasselhorn, M., Marx, H., & Schneider, W. (2006). Deutscher Mathematiktest für 4. Klassen (DEMAT 4). Göttingen: Beltz Deutsche Schultests. Hellbrügge, T. (1994). Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED) (4. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Kendall, P. C. (2012). Child and adolescent therapy: Cognitive-behavioral procedures (4. Aufl.). New York: Guilford Press. May, P. (2002). Hamburger Schreibprobe (HSP) (6. Aufl.). Hamburg: Verlag für Pädagogische Medien. Moll, L., & Landerl, K. (2014). Lese- und Rechtschreibtest (SLRT-II) (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Petermann, F., & Matcha, T. (2013). Entwicklungstest sechs Monate bis sechs Jahre – Revision (ET6-6-R). Frankfurt a. M.: Pearson Assessment. Petermann, F. (2017). Wechsler Intelligence Scale for Children (5. Aufl.). Frankfurt a. M.: Pearson Assessment.
3.3.3.1 Lese-Rechtschreib-Störungen Der Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (SLRT-II) eignet sich für Kinder, die bereits im Screening-Test auffällig geworden sind. Der Lesetest erfasst Defizite im synthetischen, lautierenden Lesen genauso wie in der automatischen Worterkennung. Die Bewertung der Leseleistung erfolgt durch die Lesezeit, sofern kritische Fehlerwerte nicht überschritten werden. Das Leseverständnis wird für die 1.–6. Klasse durch den ELFE 1–6 valide erfasst. Neben dem SLRT-II empfiehlt sich die Hamburger Schreibprobe (HSP 1–10) für Diagnostik und Therapiekontrolle. Ihre Vorteile liegen neben der sehr großen Normierungsstichprobe in der Auswertung auf Graphemebene und in der Analyse von vier Rechtschreibstrategien.
Literatur
3 Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik bei Kindern Ricken, F., Fritz, A., & Balzer, L. (2013). Mathematikund Rechenkonzepte im Vorschulalter – Diagnose (MARKO-D). Göttingen: Hogrefe. Schmidt, S., Ennemoser, M., & Krajewski, K. (2012). Deutscher Mathematiktest für 9. Klassen (DEMAT 9). Göttingen: Hogrefe. von Aster, M. G., Weinhold, Z. M., & Horn, R. (2006). ZAREKI-R: Neuropsychologische Testbatterie für Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Kindern (revidierte Version). Frankfurt: Harcourt Test Services.
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Wyschkon, A., & Esser, G. (2015). Testleiterfehler und Beurteilung von Testnormen: Empfehlungen für Testentwickler und -anwender. In G. Esser, M. Hasselhorn, & W. Schneider (Hrsg.), Diagnostik im Vorschulalter, Tests und Trends (Bd. 13, S. 165–179). Göttingen: Hogrefe. Wyschkon, A., Jurisch, K., Bott, H., & Esser, G. (2018). Motorische Entwicklung im Vor- und Grundschulalter (MOVE 4-8). Göttingen: Hogrefe.
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Diagnostik des psychosozialen Lebensumfeldes Stephanie Schürmann und Manfred Döpfner
4.1 Allgemeine Beschreibung Die Diagnostik des psychosozialen Lebensumfeldes gehört neben der Diagnostik psychischer Störungen (Kap. 2) sowie der Entwicklungs-, Intelligenz-, Leistungs- und neuropsychologischen Diagnostik (Kap. 3) zu den grundlegenden diagnostischen Ansätzen, welche auch eine Basis für die weiterführende Verhaltensanalyse (Kap. 21 und 22) bilden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich hier immer nur um ein hypothetisches Modell handelt, und die Annahmen über den Einfluss psychosozialer Bedingungen sollten im Verlauf der Therapie auch immer wieder überprüft werden. Die Grundlage der Diagnostik psychosozialer Bedingungen ist die klinische Exploration des Patienten und seiner Bezugspersonen (vor allem Eltern, Erzieher, Lehrer) zu den aktuellen Umfeldbedingungen, die möglicherweise einen Einfluss auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung der psychischen Störung des Patienten S. Schürmann (*) Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Döpfner (*) Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]
haben. Zudem können auf diesem Weg mögliche Ressourcen des Umfeldes erfasst werden, die bei der Bewältigung der psychischen Störung von Nutzen sein können. Das wichtigste psychosoziale Umfeld ist in der Regel die Familie. Familiendiagnostische Fragebogen-, Test- und Beobachtungsverfahren können eingesetzt werden, um familiäre Bedingungen und Beziehungen aus der Perspektive der einzelnen Familienmitglieder zu erfassen.
4.2 Indikationen Die Exploration des Patienten und seiner Bezugspersonen zu den psychosozialen Bedingungen, unter denen der Patient lebt, ist für eine Kinderund Jugendlichen-Verhaltenstherapie unerlässlich. Weitergehende familiendiagnostische Verfahren können sehr hilfreich sein, um die psychosozialen Bedingungen zu erfassen.
4.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Kontraindikationen sind nicht bekannt. Widerstand oder Ablehnung seitens der Patienten oder Bezugspersonen gegenüber bestimmten diagnostischen Maßnahmen (z. B. Befragungen von Lehrern) sollte genauer hinsichtlich möglicher Gründe, Bedenken oder Ängste
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_4
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exploriert und nicht von vorneherein akzeptiert werden. Hilfreich ist es hierbei zu erläutern, warum die Erhebung dieser Information für die Behandlung relevant ist. Manche Patienten oder Bezugspersonen benötigen zunächst auch eine gute therapeutische Beziehung bzw. Vertrauen, um diesen diagnostischen Maßnahmen zuzustimmen. Zu beachten ist, dass für eine diagnostische Erhebung bei Bezugspersonen außerhalb der Familie das Einverständnis der Sorgeberechtigten und auch des einsichtsfähigen Patienten notwendig ist. Simulations- und Dissimulationstendenzen von Informanten sowie der Einfluss von Erinnerungsverzerrungen müssen bei der Interpretation berücksichtigt werden.
S. Schürmann und M. Döpfner
4.4 Vorgehen und technische Durchführung
der Familie lässt sich anhand der fünften Achse des Multiaxialen Klassifikationsschemas für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 erfassen (Remschmidt et al. 2017). Die fünfte Achse beschreibt in neun Bereichen mit insgesamt 39 Items abnorme psychosoziale Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche leben und die einen Einfluss auf die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben können. Das wichtigste psychosoziale Umfeld ist in der Regel die Familie. Eine detaillierte Familiendiagnostik zielt darauf ab, die Qualität der familiären Beziehungen und Interaktionen zu ermitteln, um auf diesem Wege familiäre Belastungen, aber auch Ressourcen zu erfassen. Weitere Fragebogen-, Test- und Beobachtungsverfahren können daher eingesetzt werden, um die familiären Bedingungen aus der Perspektive der einzelnen Familienmitglieder zu erfassen:
Die klinische Exploration des psychosozialen Lebensumfeldes beginnt in der Regel niedrigstrukturiert und ist in die Exploration der psychischen Störungen integriert (Kap. 2). Sowohl das Kind/der Jugendliche als auch die Eltern und wenn möglich auch Erzieher/Lehrer sollten zu den psychosozialen Bedingungen exploriert werden. Für eine halbstrukturierte klinische Exploration eignet sich das Explorationsschema für Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (EPSKI, Döpfner und Petermann 2012), das auch die psychosozialen Bedingungen in den folgenden Bereichen erfasst: 1) Haushalt und Familie (z. B. Familienzusammensetzung, Wohnsituation, Beziehungen), 2) Eltern (z. B. Stärken, Schwächen und Konfliktbereiche), 3) psychische Störungen und körperliche Erkrankungen bei Familienmitgliedern, 4) Bedingungen im Kindergarten/in der Schule und in der Gleichaltrigengruppe (z. B. Integration, Anzahl und Art der Freunde, belastende Bedingungen, Beziehungen zu Lehrern), 5) Bedingungen des psychosozialen und kulturellen Umfeldes, einschließlich schädigender Einflüsse und 6) ungewöhnliche oder traumatische Lebensbedingungen. Das klinische Urteil über psychosoziale Belastungen innerhalb und außerhalb
• Familienskulpturverfahren (z. B. Familienbrett) können Beziehungsaspekte in der Familie im Rahmen der Exploration der Familie verdeutlichen, eine quantitative Auswertung ist allerdings meist nicht möglich. • Familiendiagnostische Fragebogenverfahren für Eltern und für ältere Kinder und Jugendliche (z. B. die Familienbögen) können Erziehungsstile und Erziehungsverhalten der Eltern, familiäre Beziehungen und das Familiensystem als Ganzes aus den verschiedenen Perspektiven der Familienmitglieder beleuchten. • Ein häufig eingesetztes familiendiagnostisches Testverfahren, das familiäre Beziehungen aus der Perspektive des Kindes oder Jugendlichen erhebt, ist der Family Relations Test für Kinder und Jugendliche, FRT-KJ (Schürmann und Döpfner 2018; Döpfner et. al 2018). Das Verfahren erfasst in spielerischer Weise die familiären Beziehungen und ist daher vor allem für Kinder gut geeignet. Im Wesentlichen besteht die Aufgabe des Kindes oder Jugendlichen darin, Kärtchen, auf denen Aussagen zu emotionalen Beziehungen stehen, den einzelnen Familienmitgliedern oder einem „Herrn
4 Diagnostik des psychosozialen Lebensumfeldes
Niemand“ (falls die Aussage für niemanden passt) zuzuordnen. Die Items beschreiben vor allem positive vom Kind/Jugendlichen ausgehende und empfangene Gefühle sowie negative vom Kind/Jugendlichen ausgehende und empfangene Gefühle, die auch eine orientierende normbezogene Auswertung ermöglichen. • Fragebogenverfahren zur Erfassung von Paarbeziehungen können indiziert sein, wenn sich aus der Exploration Hinweise auf Probleme in den Paarbeziehungen ergeben und Zusammenhänge mit der psychischen Problematik des Kindes vermutet werden. • Verfahren zur Erfassung psychischer Störungen bei Familienmitgliedern (Eltern oder anderen Kindern in der Familie) können indiziert sein, wenn sich aus der Exploration Hinweise auf psychische Störungen bei Familienmitgliedern ergeben und Zusammenhänge mit der psychischen Problematik des Kindes vermutet werden. • Beobachtungen der Eltern-Kind- und der weiteren familiären Interaktionen in der Untersuchungssituation oder bei arrangierten Spielsituationen, Hausaufgabensituationen oder bei Familiensitzungen oder im natürlichen familiären Umfeld (Videoaufzeichnungen) geben wertvolle Aufschlüsse über das Interaktionsverhalten und die familiären Beziehungen. Das weitere psychosoziale Umfeld wird vor allem durch Exploration des Patienten und seiner Bezugspersonen untersucht. Formale Test- oder Fragebogenverfahren haben sich in diesem Bereich nicht etabliert. Soziogramme, bei denen alle Gruppenmitglieder befragt werden, haben sich in der Praxis nicht durchgesetzt. Allerdings lässt sich gemeinsam mit dem Patienten ein subjektives Soziogramm erstellen, indem der Patient allen Mitgliedern einer Gruppe (z. B. der Klasse) Sympathie- und Antipathiewerte verteilt. Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen im Kindergarten oder in der Schule (Kap. 30) geben einen guten Einblick nicht nur in das Verhalten des Patienten in dem entsprechenden Umfeld, sondern auch
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in seine Interaktionen und Beziehungen und zu den psychosozialen Bedingungen des entsprechenden Umfeldes insgesamt. Die Integration der verschiedenen Informationen über das psychosoziale Lebensumfeld durch die verschiedenen Informanten und Methoden kann eine besondere Herausforderung darstellen, wenn die Informationen diskrepant sind, was durchaus häufig vorkommt. Neben den Messfehlern müssen vor allem Simulations- und Dissimulationstendenzen sowie unterschiedliche Urteilsanker von Beurteilern oder eine begrenzte ökologische Validität einzelner Verfahren (beispielsweise von Beobachtungen in der Untersuchungssituation) bei der Interpretation von Ergebnissen berücksichtigt werden.
4.5 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Einige familiendiagnostische Fragebogenund Testverfahren liegen als evidenzbasierte, reliable, valide und normierte Instrumente vor, die sich in der klinischen Praxis gut einsetzen lassen und die auch zusammen mit den klinischen Explorationen und den Interaktionsbeobachtungen zunehmend in der Routineversorgung angewendet werden. Sie geben wertvolle Informationen über Bedingungen des psychosozialen Umfeldes, die zur Aufrechterhaltung der psychischen Symptomatik des Patienten beitragen und die damit in der Therapieplanung genutzt werden. Zudem können wertvolle Ressourcen erkannt werden, die im Therapieprozess genutzt werden können. Prinzipiell müssen immer die Bedingungen, unter denen die Informationen erhoben werden, bedacht und mögliche Simulations- oder Dissimulationstendenzen von Beurteilern berücksichtigt werden. Die Ergebnisse von Fragebogenverfahren und klinischen Interaktionsbeobachtungen können genutzt werden, um bei einer weitergehenden Exploration Diskrepanzen zwischen verschiedenen Beurteilern oder Interaktionsbeobachtungen zu klären.
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Literatur Döpfner, M., & Petermann, F. (2012). Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Bd. 2 (3. überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., Schürmann, S., Bruß, M., Müller, S., Rademacher, C., & Breuer, D. (2018). Familienbeziehungen und psychische Auffälligkeiten im Jugendalter – Eine Analyse mit der Jugendlichenfassung des Family Relations Tests für
S. Schürmann und M. Döpfner Kinder und Jugendliche. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 46, 316–324. Remschmidt, H., Schmidt, M. H., & Poustka, F. (Hrsg.). (2017). Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (7. Aufl.). Bern: Hogrefe. Schürmann, S. & Döpfner, M. (2018). Family Relations Test für Kinder und Jugendliche (FRT-KJ). Deutschsprachige Adaptation für Kinder und Jugendliche des Family Relations Test: Children’s Version (FRT-C) von Eva Bene und James Anthony. Göttingen: Hogrefe.
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Strukturierung des Therapieablaufs Michael Borg-Laufs und Manfred Döpfner
5.1 Strukturierungsebenen einer Kinder- und JugendlichenVerhaltenstherapie Die Struktur einer Kinder- und JugendlichenVerhaltenstherapie kann auf verschiedenen Ebenen dargestellt werden: Im Rahmen einer Makroperspektive wird der gesamte psychotherapeutische Prozess von der ersten bis zur letzten Therapiestunde betrachtet. Eine Mesoanalyse bezieht sich auf die Struktur einer einzelnen therapeutischen Stunde, und in einer Mikroperspektive werden einzelne therapeutische Interaktionen betrachtet. Mit dem vorliegenden Beitrag soll der therapeutische Prozess aus einer Makro- und einer Mesoperspektive betrachtet werden.
M. Borg-Laufs (*) Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Döpfner Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]
5.2 Der psychotherapeutische Prozess in der Makroperspektive: Therapieablauf 5.2.1 Ein Prozessmodell der Kinder- und JugendlichenPsychotherapie Borg-Laufs und Hungerige (2016) schlagen vor, den von Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2012) für die Erwachsenenpsychotherapie vorgelegten Strukturierungsversuch des psychotherapeutischen Prozesses auf die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie zu übertragen. Es werden insgesamt sieben Therapiephasen dargestellt, die aufeinander aufbauend zu verstehen sind: Zunächst (Phase 1) steht der Beziehungsaufbau im Mittelpunkt der therapeutischen Bemühungen, denn eine gelingende therapeutische Beziehung ist die Voraussetzung dafür, dass die Ziele der folgenden Therapiephasen erreicht werden können. Es folgt der Aufbau von Änderungsmotivation (Phase 2), d. h. der Bereitschaft, sich in und vor allem zwischen den Therapiesitzungen zu engagieren. Wenn Beziehung und Motivation hinreichend ausgebildet sind, sind die Patienten und Patientinnen bereit, auch schwierige, schmerzhafte oder tabuisierte Inhalte zu besprechen, sodass nur vor diesem Hintergrund die Diagnostik (Phase 3) erschöpfend
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_5
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erfolgen kann. Daran schließt sich die Zielklärung (Phase 4) an, bevor spezifische therapeutische Interventionen ausgewählt, geplant und durchgeführt werden (Phase 5). Schließlich liegt der Schwerpunkt auf der Evaluation der therapeutischen Fortschritte (Phase 6), bevor zum Ende des therapeutischen Prozesses eine Erfolgsoptimierung (Phase 7) durch Konzentration auf die Auflösung der therapeutischen Beziehung und die besondere Beachtung der Schaffung förderlicher Entwicklungsbedingungen im Mittelpunkt stehen. Es ist nicht sinnvoll, diese Therapiephasen als wirklich getrennte Einheiten zu verstehen. Vielmehr ist es so, dass zu jedem Zeitpunkt der Therapie die Ziele einer bestimmten Therapiephase im Vordergrund stehen, während die Ziele aus anderen Therapiephasen im Hintergrund mitlaufen. So werden im ersten Kontakt
M. Borg-Laufs und M. Döpfner
selbstverständlich Informationen erhoben (Phase 3), und auch in diesem Kontakt kann jede Therapeutenäußerung als Intervention (Phase 5) verstanden werden, Ziele (Phase 4) werden mutmaßlich angesprochen, vielleicht werden Prä-Messungen für die Evaluation (Phase 6) durchgeführt, aber das Schwerpunktziel dieses Kontaktes sollte darin bestehen, Voraussetzungen für eine gute therapeutische Beziehung zu schaffen. In der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (Kap. 1) ist der therapeutische Prozess dadurch komplexer als in der Therapie mit erwachsenen Patienten, da diese Therapiephasen meistens parallel mit verschiedenen Beteiligten durchlaufen werden, nämlich zum einen mit dem Kind oder Jugendlichen, zum anderen aber auch mit den Eltern oder Ersatzeltern, manchmal zusätzlich noch mit weiteren Beteiligten, etwa Pädagogen (vgl. Abb. 5.1).
Abb. 5.1 Der therapeutische Prozess in der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie nach Borg-Laufs und Hungerige (2016)
5 Strukturierung des Therapieablaufs
Zu beachten ist, dass es Wechselwirkungen zwischen diesen parallel ablaufenden Prozessen gibt. So ist z. B. die Beziehung der Therapeutin oder des Therapeuten zum Kind oder Jugendlichen nicht unabhängig von der Beziehung der Therapeutin oder des Therapeuten zu den Eltern. Diagnostische Informationen werden bei verschiedenen Systembeteiligten erhoben und müssen in ein stimmiges Fallkonzept integriert werden, die Symptomatik betreffende Interventionen mit dem Kind finden parallel zu Elterngesprächen statt, in denen elterliche Verhaltensweisen besprochen werden, die wiederum in Zusammenhang mit dem kindlichen Symptomverhalten stehen. Dass die therapeutische Beziehung für einen gelingenden Therapieprozess bedeutsam ist, dürfte unumstritten sein. Klarheit, Verlässlichkeit, Transparenz, Zugewandtheit sollten als wichtige Merkmale einer therapeutischen Beziehungsgestaltung gelten (Kap. 6). Insbesondere der Aufbau von Änderungsmotivation ist sowohl in der Arbeit mit Kindern als auch mit Jugendlichen als auch mit Eltern ein anspruchsvolles Unterfangen. Wichtig ist, die spezifischen Motivationsprobleme zu erfassen, die hinter einem wenig engagiert erscheinenden Verhalten der Patienten liegen (vgl. dazu Borg-Laufs 2016). Zu denken ist hier außer an mangelnden Leidensdruck z. B. auch an tiefe Resignation hinsichtlich eigener Veränderungsmöglichkeiten. In der Phase des Motivationsaufbaus muss gezielt an den ermittelten Motivationshemmnissen angesetzt werden, so muss bei mangelnder Selbstwirksamkeitserwartung etwa zunächst ressourcenorientiert und in sehr kleinen Schritten gearbeitet werden, damit die Patienten Selbstwirksamkeit in der Therapie erleben können. Auch wenn von Anfang an auf verschiedenen Wegen Daten erhoben werden (Kap. 2), wird die Diagnostik in manchen Fällen erst dann mit allen relevanten Informationen in den Mittelpunkt rücken können, wenn die therapeutische Beziehung aufgebaut und Änderungsmotivation hergestellt werden konnte. Therapeutinnen und Therapeuten müssen daher sensibel dafür bleiben, wenn zu späteren Zeitpunkten in
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der Psychotherapie relevante biografische Daten (z. B. Traumata) offenbar werden, die den Therapieplan nochmals verändern. Insgesamt sollte jedoch von Anfang an im Auge behalten werden, dass die Therapie zeitlich deutlich begrenzt ist, sodass die grundlegende Diagnostik, der Beziehungsaufbau und die Planung der Therapie bei den meisten Patienten innerhalb der probatorischen meist 5–7 Sitzungen weitgehend abgeschlossen werden kann. Nicht selten verfolgen Eltern, Kinder und ggf. weitere Beteiligte unterschiedliche Ziele. So kann z. B. für die Eltern eine expansive Problematik dominieren, etwa aggressives Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen in der Schule. Die Ziele der Kinder oder Jugendlichen beziehen sich aber vielleicht eher auf begleitende internale Probleme, etwa Depression und/oder soziale Ängstlichkeit. Ebenso kommt es vor, dass der Therapeut oder die Therapeutin aus fachlicher Sicht noch Ziele „entdeckt“, die im System nicht erkannt wurden. Hier ist etwa an Förderung bei Entwicklungsauffälligkeiten zu denken. Schwierig ist es, wenn die verschiedenen Beteiligten inkompatibel erscheinende Ziele verfolgen, etwa im Zusammenhang mit der Autonomieentwicklung Jugendlicher. Hier sollten alle Beteiligten transparent an einem Zielfindungsprozess beteiligt werden. Die Auswahl, Planung und Durchführung therapeutischer Interventionen sollte eng anhand empirischer Evidenz erfolgen, sofern diese vorliegt. Therapeutische Interventionen beginnen meist mit der Psychoedukation aller Beteiligten zur Problematik einschließlich der Entwicklung eines gemeinsamen Störungs- und Interventionskonzeptes, in dem vor allem geklärt wird, welche Faktoren aktuell zur Aufrechterhaltung der Problematik beitragen und welche Interventionen von den einzelnen am Therapieprozess Beteiligten umgesetzt werden sollen. Dies ist allerdings kein einmaliger Akt. Die Entwicklung eines Störungsmodells erstreckt sich über die gesamte Therapiedauer. Es ist immer die zur Verfügung stehende Therapiedauer im Auge zu behalten. Die zu behalten Begrenzung
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der Therapie sollte von Anfang an im Blick aller am Therapieprozess Beteiligten sein. Es existiert eine Vielzahl an Therapiemanualen für Einzel- und Gruppenbehandlungen, die unbeschadet aller Kritik an manualisierter Therapie wichtige Hinweise für die Therapieplanung und -durchführung liefern können. Allerdings ist die Alltagspraxis der Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie noch längst nicht durch Forschungsergebnisse abgedeckt, schon allein deswegen, weil es nur wenige publizierte naturalistische Studien gibt. Therapiestudien werden häufig an ausgewählten Patienten ohne komorbide Störungen durchgeführt, während Komorbidität in der Alltagspraxis eher die Regel ist. Neben einer guten Kenntnis des aktuellen Forschungsstandes sind daher auch reflektierte eigene Erfahrungen, Inter- und Supervisionsprozesse wichtig, um Methoden vor dem Hintergrund einer fachlich fundierten Fallplanung auszuwählen. Zu einer fachgerechten Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie gehört die Evaluation der Therapiefortschritte, wobei die Beurteilung durch verschiedene Beteiligte (häufig: Kind, Eltern, Lehrer) erfolgen sollte. Dabei sind die Rückmeldungen von Eltern und Lehrern hinsichtlich der Veränderung externalisierender Probleme besonders aussagekräftig, während bei internalisierenden Störungen häufig die Patienten selbst besser Auskunft geben können. In der letzten Phase des therapeutischen Prozesses steht einerseits Erfolgsoptimierung im Sinne der Installation von Rückfallprophylaxe und im Sinne der Förderung von entwicklungsunterstützenden Rahmenbedingungen im Vordergrund, häufig durch netzwerkorientierte Arbeit mit der Überleitung etwa an Beratungsstellen oder ambulante Jugendhilfe. Andererseits sollten sich Psychotherapeuten darüber im Klaren sein, dass sie möglicherweise für einen begrenzten Zeitraum eine besonders wichtige Person im Leben des Kindes oder auch der Eltern sind. Insofern ist es häufig angemessen, dies zum Ende der Therapie explizit anzusprechen und durch eine behutsame Lösung (z. B. langsames Ausschleichen der Termine durch verlängerte Abstände) einen gelingenden Abschied zu verwirklichen.
M. Borg-Laufs und M. Döpfner
5.2.2 Umsetzung des Prozessmodells unter den gegebenen Rahmenbedingungen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie findet in der Regel im Kontext limitierender Rahmenbedingungen statt. So sind die Liegezeiten in der stationären Kinder- und Jugendlichen-Psychiatrie begrenzt, und die Richtlinien für ambulante Psychotherapie geben einen begrenzenden Rahmen vor, innerhalb dessen ein stimmiges und nachvollziehbares Therapiekonzept entwickelt werden muss, bevor dann die Psychotherapie beginnen kann. Je nach Institution können die diesbezüglichen Freiheitsgrade in therapeutischen Kontexten innerhalb der Jugendhilfe höher sein. Ein Rahmen wie etwa die Psychotherapierichtlinien könnte auf den ersten Blick die Umsetzung des hier vorgestellten Prozessmodells erschweren. Immerhin gehen wir ja z. B. davon aus, dass für den Erhalt aller möglicherweise relevanten diagnostischen Informationen und vor dem Start der psychotherapeutischen Kernphase bereits sowohl eine funktionierende Beziehung etabliert sein als auch Änderungsmotivation in ausreichendem Maße vorliegen muss. Andererseits müssen bereits nach wenigen probatorischen Terminen genügend Informationen erhoben worden sein, um ein Fallkonzept mit Therapieplanung formulieren zu können. Wie bereits einleitend erwähnt, sind die Therapiephasen jedoch nicht als streng getrennte Phasen zu verstehen. Es kann Energie dafür verwendet werden, eine gute therapeutische Beziehung zu installieren, während gleichzeitig die notwendigen diagnostischen Informationen erhoben werden. In nicht wenigen Fällen ist bis zur Beantragung der Psychotherapie die Beziehung noch nicht so weit, dass wirklich alle Informationen gegeben wurden und die Durchführung von Interventionsmethoden (Phase 5) angegangen werden kann. In diesen Fällen muss nach der Probatorik der Fokus der Bemühungen erneut auf die Festigung und den Ausbau der therapeutischen Beziehung gerichtet werden, das ist problemlos innerhalb einer Richtlinienpsychotherapie möglich. Möglicherweise kann mit der Phase der
5 Strukturierung des Therapieablaufs
Durchführung verhaltenstherapeutischer Interventionen erst nach einiger Zeit mit weiterer Beziehungsarbeit begonnen werden. Insofern ist der Prozess durchaus rekursiv, er erlaubt jederzeit die Rückkehr zu einer vorhergehenden Therapiephase, wenn es für den therapeutischen Fortschritt sinnvoll ist.
5.3 Mesoebene: Ablauf einer Psychotherapiesitzung In der Regel umfassen ambulante Therapiesitzungen einen Zeitraum von 45–60 min, sie können jedoch auch deutlich kürzer ausfallen oder in besonderen Fällen über mehrere Stunden andauern. Die meisten ambulanten Kinderverhaltenstherapien werden einmal wöchentlich durchgeführt, doch können auch hier je nach Anforderung der Therapie und nach Ressourcen der Beteiligten deutlich längere oder auch kürzere Zeitabstände gewählt werden. In einer sehr intensiven ambulanten Behandlungsphase können auch 2–3 Sitzungen wöchentlich notwendig sein; gegen Ende einer Behandlung können auch Abstände von 4 Wochen oder länger eingeführt werden. Therapiesitzungen können mit dem Patienten alleine, gemeinsam mit Patienten und Bezugsperson (meist zumindest ein Elternteil) oder mit der Bezugsperson alleine durchgeführt werden. In welcher Zusammensetzung welches Thema bearbeitet wird, bedarf genauer Überlegung und Absprache mit allen Beteiligten. Generell gilt, dass die Bezugspersonen umso stärker in die Therapie einbezogen werden, je jünger der Patient ist. Im Kindesalter können durchaus gemeinsame Sitzungen mit Bezugsperson und Patient sowie Sitzungen ausschließlich mit Bezugspersonen dominieren. Je stärker die Symptomatik durch familiäre oder außerfamiliäre Bedingungen aufrechterhalten wird, umso stärker wird die Arbeit mit den Bezugspersonen sein (Kap. 38, 40). Im Jugendalter dominieren meist die patientenzentrierten Interventionen, und es gibt durchaus auch Konstellationen, bei denen eine
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ezugspersonenarbeit nicht indiziert ist. Die B Einbeziehung von Erziehern und Lehrern stellt schon aus organisatorischen Gründen eine besondere Herausforderung dar und wird häufig vernachlässigt. Wenn jedoch die Symptomatik des Patienten auch in der Kindertagesstätte oder Schule auftritt, ist eine Kooperation mit den entsprechenden Bezugspersonen meist unerlässlich. Eine Kooperation über telefonische Kontakte hat sich meist als günstig erwiesen. Typischerweise ist eine Therapiesitzung in eine Eingangsphase mit Begrüßung, kurzer Einführung und kurzer Exploration zu wichtigen Ereignissen seit der letzten Sitzung mit anschließender Besprechung von durchgeführten Therapieaufgaben (Kap. 17), die darauf folgende Bearbeitung des zentralen Themas der Sitzung und eine abschließende Zusammenfassung und Vereinbarung neuer Therapieaufgaben gegliedert. Die Besprechung der durchgeführten Therapieaufgaben kann auch einen deutlichen Anteil der Sitzung in Anspruch nehmen, vor allem dann, wenn sich Probleme bei der Durchführung der Therapieaufgaben ergeben haben (Kap. 17). Für eine effektive Psychotherapie ist es notwendig, dass die einzelnen Therapiestunden hinsichtlich der zu bearbeitenden Themen und der einzusetzenden Methoden vom Therapeuten vorgeplant werden. Zwar muss der Therapeut flexibel genug sein, um auf aktuelle Entwicklungen – etwa zwischenzeitlich eingetretene Krisen – einzugehen, jedoch sollten Therapieverläufe sich insgesamt dadurch auszeichnen, dass sich in der Mehrzahl der einzelnen Therapiestunden die schrittweise Verfolgung des Therapieplanes klar erkennen lässt.
Literatur Borg-Laufs, M. (2016). Störungsübergreifendes DiagnostikSystem für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (SDS-KJ). Tübingen: DGVT. Borg-Laufs, M., & Hungerige, H. (2016). Selbstmanagementtherapie mit Kindern. Stuttgart: Klett-Cotta. Kanfer, F. H., Reinecker, H., & Schmelzer, D. (2012). Selbstmanagement-Therapie. Heidelberg: Springer.
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Therapeutische Beziehung Manfred Döpfner und Michael Borg-Laufs
6.1 Konzepte Eine stabile und tragfähige Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten stellt die Basis der gesamten Kinder- und J ugendlichenVerhaltenstherapie dar und ist eine notwendige, wenn auch meist keine hinreichende Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung. Gleiches gilt für die Beziehung zwischen Therapeut und Eltern sowie zwischen Therapeut und anderen wichtigen Bezugspersonen (z. B. Erziehern, Lehrern). Abb. 6.1 zeigt ein Modell der therapeutischen Allianz nach Hougaards, modifiziert von Green (2006). Danach wird zwischen der persönlichen Beziehung und der Arbeitsbeziehung unterschieden. Die persönliche Beziehung wird im Wesentlichen von der gegenseitigen Sympathie, einer Übereinkunft über den Grad der Vertrautheit und über den Grad der Direktivität in der Beziehung getragen, und sie wird sowohl durch Merkmale des Therapeuten (Authentizität, Wärme, Empathie) als auch
M. Döpfner (*) Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Borg-Laufs Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Deutschland E-Mail: [email protected]
des Patienten/der Bezugsperson ( Vertrauen, Kontaktfreude, Empfänglichkeit für Empathie) bestimmt. Die Arbeitsbeziehung wird im Wesentlichen durch eine Übereinkunft hinsichtlich der Ziele und Aufgaben der Behandlung beschrieben und ebenfalls über Merkmale des Therapeuten (Expertise, Engagement, Aufbau von Erfolgserwartungen) als auch des Patienten/der Bezugsperson (Kompetenz, Motivation und positive Vorerfahrungen) beeinflusst. Dieses Modell konnte zumindest teilweise in internationalen empirischen Studien hauptsächlich mit Erwachsenen bestätigt werden, und auch im deutschen Sprachraum ließ sich das Modell sowohl bezogen auf die Patient-Therapeut-Beziehung als auch auf die Eltern-Therapeut-Beziehung teilweise bestätigen (Kinnen et al. 2011).
6.2 Methoden zum Aufbau und zur Stärkung einer therapeutischen Beziehung Die therapeutische Allianz muss in allen Phasen einer Therapie beachtet werden, wobei hinsichtlich Zielsetzungen und Methoden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden können: • Beim Erstkontakt und in der Eingangsphase werden die Grundlagen einer therapeutischen Allianz mit dem Patienten und seinen Bezugspersonen gelegt. In dieser Phase gilt es, initiale
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_6
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M. Döpfner und M. Borg-Laufs • Gegensei ge Sympathie • Übereinkun über das Maß an Vertrautheit • Übereinkun über das Maß an Direk vität
Persönliche Beziehung • Vertrauen • Kontakreude • Empfänglichkeit für Empathie
• Authen zität • Wärme • Empathie
Pa ent
Therapeut
• Exper se • Engagement • Auau von Erfolgserwartungen
• Kompetenz • Mo va on • Posi ve Vorerfahrungen
Arbeitsbeziehung • Übereinkun bzgl. der Therapieziele • Übereinkun bzgl. der Therapieaufgaben
Abb. 6.1 Hougaards Konzept der therapeutischen Allianz, modifiziert nach Green (2006)
Unsicherheiten abzubauen, eine persönliche Beziehung zum Patienten aufzubauen und die Motivation vor allem des Patienten, aber auch der Bezugspersonen zu stärken, den therapeutischen Kontakt fortzusetzen. Dies kann eine große Herausforderung für den Therapeuten darstellen, weil sowohl Kinder als auch Jugendliche häufig nicht aus eigenem Antrieb eine Therapie aufsuchen, sondern die Aufnahme einer Therapie von Bezugspersonen veranlasst wird. Dazu kann es notwendig sein, dass zunächst primär ressourcenorientiert vorgegangen wird, im Kindesalter vor allem mit Spielangeboten, und die Problemfokussierung zurückzustellen. Es ist initial wichtig, die Aufträge der verschiedenen Beteiligten ebenso zu klären wie ihre Erwartungen, Bedürfnisse und Belastungen. Auch die Rolle des Therapeuten bedarf einer ersten Klärung. Die Gestaltung der persönlichen Beziehung sollte sich stark
an den Bedürfnissen des Patienten bzw. seiner Bezugspersonen orientieren (motivierende Beziehungsgestaltung). Durch empathisches Zuhören, das Erfragen von Erwartungen und Aufträgen, das Vermitteln von Verständnis und die Validierung der initialen Haltungen der Beteiligten wird Vertrauen aufgebaut. Bei Kindern ist es wichtig, durch ressourcenorientiertes Vorgehen und das Angebot von Spielen Interesse zu wecken und nicht nur problembezogene Themen anzuschneiden. Jugendliche müssen möglicherweise in ihrer eher abwehrenden Haltung gegenüber einer Therapie validiert werden und durch ein persönliches Beziehungsangebot angesprochen werden, das sich auf ihre Stärken fokussiert, bevor sie auf ein Angebot eines partizipativen Entscheidungsprozesses für zunächst wenige Sitzungen eingehen können. Durch die Klärung der Therapeutenrolle und der Schweigepflicht
6 Therapeutische Beziehung
des Therapeuten (auch Bezugspersonen gegenüber) kann Vertrauen bei Kindern und vor allem bei Jugendlichen aufgebaut werden. Wenn bei Patienten oder Bezugspersonen starke psychische Belastungen vorliegen, ist es notwendig, diese aufzugreifen, zu validieren und realistische Erfolgserwartungen zu stärken. • In den darauffolgenden Phasen der differenzierten Diagnostik und Verhaltensanalyse, der Zieldefinition und Therapieplanung wird die therapeutische Beziehung weiter gestärkt, und vor allem wird die Arbeitsbeziehung entwickelt, indem Therapieziele und Therapieaufgaben in den Blick genommen werden. Techniken der motivierenden Gesprächsführung können dabei ebenso hilfreich sein wie das Setzen von Verstärkern für kooperatives Verhalten. Die fachliche Kompetenz des Therapeuten sollte vermittelt werden, die Probleme und Ziele sollten konkretisiert werden, und bei allen Beteiligten sollte die Änderungsmotivation unterstützt werden. Vor- und Nachteile von Verhaltensproblemen können erarbeitet, gemeinsame Ziele können festlegt und schließlich kann ein gemeinsamer Therapieplan entwickelt werden, hinter dem auch der Patient und seine Bezugspersonen stehen können. Dabei sind ein transparentes Vorgehen und die maximal mögliche Partizipation des Kindes oder Jugendlichen anzustreben. Die Vorstellungen der Beteiligten über den Therapieprozess und ihre jeweilige Rolle werden exploriert und mit den Planungen des Therapeuten abgeglichen. Realistische Erfolgserwartungen können so weiter verfestigt und die Arbeitsbeziehung kann weiter gestärkt werden • In der Phase der Durchführung von Interventionen sind frühe Therapieerfolge sehr hilfreich bei der weiteren Stärkung der persönlichen wie der Arbeitsbeziehung. Ein graduiertes Vorgehen bei der Bewältigung der jeweiligen Probleme und die positive Rückmeldung bei Therapieerfolgen helfen auch, die therapeutische Beziehung zu stärken. Entscheidend ist in dieser Phase, dass die vereinbarten Therapieaufgaben, die letztendlich
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die angestrebten Verhaltensänderungen im Alltag bewirken sollen, tatsächlich auch umgesetzt werden. Die genaue Vorbereitung von Therapieaufgaben und die positive Verstärkung für die Umsetzungen der Therapieaufgaben helfen daher, die Arbeitsbeziehung zu stärken. In der Regel stellen sich in dieser Phase Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Therapieaufgaben durch den Patienten oder seine Bezugspersonen ein. Diese gilt es sorgfältig zu analysieren (s. u.). • In der Phase der Beendigung der Therapie lautet das Ziel, die Fähigkeit des Patienten und seiner Bezugspersonen zu stärken, Probleme eigenständig zu bewältigen und sich vom Therapeuten abzulösen. Vor allem bei längeren und sehr intensiven Therapien muss dieser Ablösungsprozess gut geplant, frühzeitig angekündigt und schrittweise umgesetzt werden. Dazu dienen die verstärkte Attribution von Problembewältigungen auf die eigene Fähigkeit des Patienten bzw. seiner Bezugsperson und eine schrittweise Reduktion der Therapiekontakte.
6.3 Schwierigkeiten beim Aufbau therapeutischer Beziehungen Der Aufbau und die Stabilisierung einer hilfreichen therapeutischen Beziehung kann eine große Herausforderung darstellen. Einige Schwierigkeiten, die dabei auftreten können, wurden bereits thematisiert. Weitere häufig auftretende Probleme sollen im Folgenden diskutiert werden. Starkes Misstrauen. Vor allem Patienten können initial sehr misstrauisch sein, hauptsächlich bei ausgeprägten Konflikten zwischen Patient und Bezugsperson. Sie befürchten, dass der Therapeut primär als „verlängerter Arm“ von Eltern oder Lehrern tätig wird, und verschließen sich. In diesen Fällen ist es besonders wichtig, Vertraulichkeit zuzusichern und die Schweigepflicht – auch hinsichtlich möglicher Grenzen – zu thematisieren. Auch ist es für die therapeutische Beziehung sehr bedeutend, wenn der Patient erleben kann,
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dass er mit seiner Perspektive Gehör findet und ernst genommen wird, denn dieses Erleben hat er im Gespräch mit Eltern oder Lehrern oft nicht. Darüber hinaus sollte der Therapeut die Sicht der Patienten validieren. Patienten fühlen sich oft von den Eltern zur Therapie gedrängt und entwickeln Reaktanz, weil sie sich in ihren Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt fühlen. Therapeuten sollten sich in diesen Situationen um einen Perspektivwechsel bemühen: Zwar können die Eltern (oder auch die Lehrer) darauf drängen, dass therapeutische Termine stattfinden, sie können aber nicht bestimmen, was in diesen Sitzungen bearbeitet wird. Therapeut und Patient könnten versuchen herauszufinden, welche Ziele das Kind oder der Jugendliche gemeinsam mit dem Therapeuten ganz unabhängig von den Zielen der Eltern oder Lehrer verfolgen könnte. Ein Junge, der wegen aggressiven Verhaltens zur Therapie gedrängt wird, hat häufig wenig initiales Eigeninteresse, an der Veränderung dieses Verhaltens zu arbeiten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gibt es aber andere Themen, die für ihn relevant sein könnten, beispielsweise einen besseren Kontakt zu Mitschülern aufzubauen, häufige negative Stimmungslagen zu bewältigen oder auch Probleme bei der Gestaltung intimer Beziehungen zu bearbeiten. Divergierende Störungs- und Therapiekonzepte. Missverständnisse, die sich negativ auf die Arbeitsbeziehung sowohl zum Patienten als auch zu seinen Eltern auswirken, entstehen auch durch unterschiedliche Hypothesen über die Ursachen von Problemen und über die notwendigen Schritte zur Veränderung. Therapeuten sollten daher genügend Zeit investieren, um ein gemeinsames Störungskonzept möglichst mit allen Beteiligten zu entwickeln. Wichtig ist dabei, dass die Eltern und die Patienten erleben können, dass ihre Vorstellungen ernst genommen werden, damit sie auch bereit sind, Konzepte des Therapeuten anzunehmen. Erst nachdem gemeinsame Störungskonzepte entwickelt worden sind, können die Therapieziele und die notwendigen Interventionen spezifiziert und damit eine Arbeitsbeziehung etabliert werden.
M. Döpfner und M. Borg-Laufs
Probleme in der Umsetzung der Therapieaufgaben. Die Arbeitsbeziehung kann erheblich beeinträchtigt sein, wenn Patienten oder Bezugspersonen die in der Behandlungssitzung vereinbarten Therapieaufgaben in ihrem Alltag nicht umsetzen. Dies ist vermutlich eine der häufigsten Ursachen für begrenzte Erfolge in der Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie, da letztendlich die Umsetzung der Therapieaufgaben der entscheidende Schritt für die Symptomminderung im Alltag ist. Gründe hierfür sind häufig: • divergierende Störungs- und Interventionskonzepte: Der Jugendliche mit affektiven Dysregulationen hat die Vorstellung, dass die Eltern ihm einen größeren Freiraum geben müssten, während der Therapeut mit ihm daran arbeiten will, wie er seinen Ärger bei adäquaten Grenzsetzungen durch die Eltern besser kontrollieren kann; • divergierende Prioritäten von Therapiezielen oder Therapiezielkonflikte: Eltern erwarten beispielsweise, dass ihr Sohn sich bemüht, sein oppositionelles Verhalten zu vermindern, und können das Konzept des Therapeuten nicht nachvollziehen, dass sie zunächst selbst Interventionen umsetzen müssten, um die belastete Beziehung zu ihrem Sohn zu verbessern; • mangelnde Erfolgs- oder Kompetenzerwartungen: Ein sozial ängstlicher Patient traut sich beispielsweise noch nicht zu, eigenständig ein Kind aus der Klasse anzusprechen, obwohl dies in der Therapie im Rollenspiel eingeübt wurde; • äußere Ereignisse oder Belastungen erschweren die Durchführung: Partnerkonflikte belasten beispielsweise die Mutter so sehr, dass sie nicht die Energie aufbringt, ein Verstärkersystem mit ihrer Tochter zu Hause regelmäßig einzuführen; • Probleme in der persönlichen Beziehung: Das Kind erlebt seinen Therapeuten als wenig zugewandt und findet ihn deshalb nicht sympathisch; es fällt ihm daher schwer, die Therapieaufgabe umzusetzen.
6 Therapeutische Beziehung
Da die Umsetzung von Therapieaufgaben eine zentrale Rolle für eine erfolgreiche Therapie spielt, ist es notwendig, genügend Zeit in die Exploration der spezifischen Ursachen für die Umsetzungsprobleme zu investieren. Dabei hat es sich als hilfreich erwiesen, dass der Therapeut erstens prinzipiell solche Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Therapieaufgaben erwartet und zweitens die Haltung einnimmt, dass die Umsetzungsschwierigkeiten darauf hinweisen, dass er in der Planung der Therapieaufgaben eine mögliche Barriere nicht rechtzeitig erkannt hat und es nun darum geht, diese Barriere zu erkennen und sie gemeinsam zu beseitigen. Zudem sollte der Therapeut möglichst ressourcenorientiert vorgehen und den Schwerpunkt der Auswertungsgespräche auf die (möglicherweise wenigen) erfolgreichen Umsetzungen legen. Beziehungsstörungen aktualisieren sich in der Therapie. Beziehungsstörungen sind Teil der Problematik des Patienten und schlagen sich auch in der persönlichen therapeutischen Beziehung und in der Arbeitsbeziehung nieder. Beispiele dafür sind etwa starkes Misstrauen, Distanzminderung, ambivalente und instabile Beziehungen (z. B. bei Patienten mit Borderline-Störung). Therapeuten müssen sich darüber bewusst sein und ihrerseits angemessen und nicht etwa enttäuscht, verletzt oder aggressiv auf unangemessene Patientenäußerungen reagieren. Dies erfordert sicherlich besondere persönliche Kompetenzen (die im Rahmen der Ausbildung hoffentlich in Selbsterfahrung oder Supervision gefördert wurden). Die Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung können und sollen thematisiert werden, da sie auch für die Beziehungserfahrungen im Alltag des Patienten relevant sind. Die Patienten haben dadurch die Chance, im geschützten Rahmen der therapeutischen Beziehung ihr Beziehungsverhalten gemeinsam mit dem Therapeuten zu reflektieren und zu verändern und diese Erfahrungen auch auf ihre Alltagsbeziehungen zu übertragen. Fluktuierende Arbeitsallianz. Die Qualität der Arbeitsallianz kann – in Abhängigkeit von
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Belastungen der Patienten, von ihrem Störungsbild und vom Verlauf der therapeutischen Fortschritte – zwischen und über die Sitzungen hinweg fluktuieren. Erfolgsrelevant ist grundsätzlich eher die zentrale Tendenz als eine einzelne Einschätzung. Kritische, negative bis feindselige Reaktionen von Patienten sind während der Sitzungen möglich, und Brüche in der Arbeitsallianz sind nicht unüblich. Diese Brüche können unaufgeregt exploriert und gegebenenfalls therapeutisch genutzt werden.
6.4 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung In der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie wurde der Zusammenhang zwischen therapeutischer Beziehung und Therapieerfolg bisher nur wenig erforscht. In internationalen Studien liegen die Korrelationen von therapeutischer Beziehung und kindlicher Symptomreduktion eher im niedrigen, gelegentlich im moderaten Bereich. Auch zwischen der Therapeut-Eltern-Beziehung und dem Therapieerfolg des Kindes zeigten sich eher geringe, gelegentlich moderate Korrelationen (Karver et al. 2018; Murphy und Hutton 2018). Diese Ergebnisse lassen sich auch für den deutschen Sprachraum bestätigen (Kinnen und Döpfner 2013). Diese eher begrenzten Zusammenhänge mögen zunächst überraschen, da der therapeutischen Beziehung doch eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird. Die Ergebnisse lassen sich damit erklären, dass in den Studien meist Therapien untersucht wurden, in denen überwiegend gute bis sehr gute Therapiebeziehungen realisiert werden konnten. Mangelhafte Therapiebeziehungen erhöhen das Risiko eines frühen Therapieabbruchs und sind in diesen Studien meist unterrepräsentiert. Die Arbeit an einer guten therapeutischen Allianz kann sehr mühsam sein und muss vom Therapeuten aktiv in Angriff genommen werden, gerade bei Patienten und Bezugspersonen, bei denen sich eine gute Therapiebeziehung nicht leicht herstellen lässt. Eine gute Therapiebeziehung allein
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vermag in vielen Fällen schon eine gewisse Besserung der Symptomatik erzielen, nur mit diesen Veränderungen bliebe aber der Erfolg der Behandlung weit hinter dem zurück, was durch zusätzliche spezifische Therapiemethoden erreicht werden könnte; die Bedeutung der spezifischen Methoden der Verhaltensänderung und weiterer Faktoren für den Therapieerfolg bei einer stabilen therapeutischen Beziehung sollte daher nicht unterschätzt werden.
Literatur Green, J. (2006). Annotation: The therapeutic alliance – A significant but neglected variable in child mental health treatment studies. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 47, 425–435.
M. Döpfner und M. Borg-Laufs Karver, M. S., De Nadai, A. S., Monahan, M., & Shirk, S. R. (2018). Meta-analysis of the prospective relation between alliance and outcome in child and adolescent psychotherapy. Psychotherapy, 55, 341–355. Kinnen, C., & Döpfner, M. (2013). Zusammenhang von therapeutischer Beziehung mit Symptomminderung und Behandlungszufriedenheit in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS und/ oder Störungen des Sozialverhaltens. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 41, 133–144. Kinnen, C., Breuer, H.-D., & Döpfner, M. (2011). Konzeption und Evaluation des Beziehungsfragebogens für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (BeKi). Klinische Diagnostik und Evaluation, 4, 301– 323. Murphy, R., & Hutton, P. (2018). Practitioner review: Therapist variability, patient-reported therapeutic alliance, and clinical outcomes in adolescents undergoing mental health treatment – A systematic review and meta-analysis. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 59, 5–19.
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Nebenwirkungen und Nebenwirkungserfassung in der Kinder- und JugendlichenVerhaltenstherapie Michael Linden und Manfred Döpfner
7.1 Allgemeine Beschreibung und Problemstellung Obwohl es in der Kinder- und Jugendlichen psychotherapie kaum empirische Untersuchungen gibt, kann analog zu Untersuchungen bei Erwachsenen davon ausgegangen werden, dass es bei mindestens 3–15 % der Behandlungsfälle zu relevanten unerwünschten Wirkungen kommt, womit Psychotherapie hinsichtlich der Nebenwirkungen beispielsweise mit der Pharmakotherapie vergleichbar ist (Lilienfeld 2007; Jarrett 2007; Hoffmann et al. 2008; Haupt und Linden 2011; Dimidjian und Hollon 2010; Barlow 2010; Linden 2013; Linden und Strauß 2013, Walter et al. 2018). Die Erfassung von Nebenwirkungen in der Psychotherapie gestaltet sich schwierig, denn: • Anders als bei einem Arzneimittel sind Nebenwirkungen in der Psychotherapie nicht auf eine Substanz, sondern auf therapeutische
M. Linden (*) Medizinische Klinik m.S. Psychosomatik, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Döpfner Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]
Interventionen, d. h. auf Therapeutenhandeln bzw. auf eine Person bezogen. Es ist von daher verständlich, dass Therapeuten wenig geneigt sind, negative Folgen eigenen Verhaltens zu diskutieren. Nebenwirkungen können auch schnell in eine Kunstfehlerdiskussion münden, was es Therapeuten aus haftungsrechtlichen Gründen geradezu verbietet, Nebenwirkungen anzusprechen. • Es ist in der Psychotherapie, mehr noch als bei anderen Behandlungsformen, gelegentlich sehr schwierig, zwischen unabwendbaren Entwicklungen der Störung einerseits und therapieabhängigen Negativentwicklungen zu unterscheiden. Dies erleichtert es, im Zweifelsfall zu behaupten, eine Negativentwicklung sei störungs- und nicht therapiebedingt. • In der Psychotherapie ist es besonders schwierig, zwischen positiven und negativen Therapiewirkungen zu unterscheiden. So bedarf es zusätzlicher Annahmen, um entscheiden zu können, ob beispielsweise ein Schulwechsel auf eine Schulart mit geringerem Bildungsniveau im Kontext einer Psychotherapie als positive oder negative Behandlungsfolge einzuschätzen ist. • Psychotherapie ist nur bedingt standardisierbar, sodass es im Einzelfall schwierig ist zu entscheiden, ob ein bestimmtes Vorgehen fachgerecht war oder nicht und ob bestimmte Negativwirkungen unvermeidlich waren oder
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_7
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bei einem anderen therapeutischen Vorgehen durchaus hätten vermieden werden können. • Besonders im Kindes- und Jugendalter muss zudem bedacht werden, dass Nebenwirkungen sich nicht nur auf den Patienten, sondern auf alle Familienmitglieder beziehen können und dass erwünschte Effekte beim Patienten möglicherweise Belastungen und negative Effekte für andere Familienmitglieder haben können – so mag die erwünschte Autonomieentwicklung bei einem Jugendlichen unter Therapie bei der Mutter eine depressive Entwicklung auslösen.
7.2 Entstehung von Nebenwirkungen in der Verhaltenstherapie Nebenwirkungen sind dadurch zu definieren, dass sie in unmittelbarem Zusammenhang mit therapeutischen Interventionen stehen. So ist beispielsweise eine Verschlechterung im Rahmen des natürlichen Störungsverlaufs keine Nebenwirkung. Die Zunahme einer Angst als Folge einer therapeutischen Intervention hingegen ist eine Nebenwirkung. Nebenwirkungen müssen daher relational zu therapeutischen Prozessen beschrieben werden. Im Folgenden werden Beispiele für die Interaktion von Therapie und Negativkonsequenzen beschrieben. Nebenwirkungen als Folge theoretischer Vorannahmen Psychotherapeuten arbeiten vor dem Hintergrund von theoretischen Konzepten, die je nach Schule bzw. Verfahren unterschiedlich sein können. Wenn solche Konzepte beispielsweise der Mutter eine wesentliche Rolle bei der Entstehung einer Angststörung zuerkennen, wird die Therapie auf diesen Aspekt eingehen. Mit dem Patienten wird dann die Bindung zwischen Patient und Mutter weniger als Folge der Störung, sondern als deren Ursache diskutiert. Die Folge kann eine Verschärfung von Konflikten zwischen dem Patienten und seiner Mutter sein.
M. Linden und M. Döpfner
Ein besonderes Problem in diesem Kontext ist die Induktion von Fehlerinnerungen. Durch eine theoriegeleitete Anamneseerhebung können nicht nur unproblematische Ereignisse in der Vorgeschichte problematisiert werden, sondern sogar Probleme „erinnert“ werden, die nie bestanden haben. Ein Beispiel sind falsche „Diagnosen“ von sexuellem Missbrauch in der Kindheit bei einer Jugendlichen mit emotional instabiler Persönlichkeitsstörung – mit allen Negativfolgen, die daraus erwachsen können. Nebenwirkungen als Folge diagnostischer Probleme Psychotherapeuten müssen sich bei der Erklärung von psychischen Störungen auf psychologische Faktoren konzentrieren und ihre Konzepte auch dem Patienten vermitteln. Dies kann zu Missverständnissen und dysfunktionalem Krankheitsverhalten führen, z. B. zur Vermeidung des Schulbesuchs, wenn man bei einer Depression schulische Überlastung als Ursache diskutiert. Nebenwirkungen im Kontext einer Behand lungsstrategie Für jeden Einzelfall muss der richtige Behandlungsansatz bzw. Therapiefokus gewählt werden. Bei einem Patienten, der über Mobbing in der Schule klagt, kann es sinnvoll sein, mit ihm im Rahmen eines Trainings der sozialen Kompetenz zu üben, „Nein zu sagen“, statt ihm beizubringen, sich zurückzunehmen. In der Anwendung kann dies jedoch dazu führen, dass der Patient an der falschen Stelle oder zu häufig Nein sagt, so dass die Repressalien infolge der Therapie eher zu- als abnehmen. Nebenwirkungen im Kontext des technischen Vorgehens Psychotherapeutische Interventionen erzeugen nahezu immer Nebenwirkungen insofern, als dass sie zu einer zumindest vorübergehenden Beschwerdenintensivierung führen. Wenn über persönliche Probleme gesprochen wird, dann führt das regelhaft zu Betroffenheit und Stimmungsbeeinträchtigungen. Expositionsübungen erfordern
7 Nebenwirkungen und Nebenwirkung serfassung …
sogar eine Angstaktivierung. Gelegentlich können diese Nebenwirkungen auch überdauern, z. B. in Form von Hoffnungslosigkeit und Insuffizienzerleben oder der Verstärkung von Angst. Nebenwirkungen im Kontext von Sensitivie rungsprozessen Das Sprechen über Probleme induziert Vorstellungen, die selbst wieder psychische Wirkungen haben. Wenn ein Patient beispielsweise einen Unfall erlitten hat und dann in der Therapie dieser Unfall in allen Details immer wieder neu durchgesprochen und visualisiert wird, dann ist dies ein indiziertes Vorgehen, dennoch können durch ein solches kognitives Rehearsal die Erinnerung und damit die Angstreaktion immer lebhafter werden, statt abzuklingen, wenn es dem Patienten nicht gelingt, das traumatische Ereignis zu verarbeiten. Nebenwirkungen im Kontext von Enthemmungsphänomenen Psychotherapie arbeitet darauf hin, Probleme besser herauszuarbeiten, zu beschreiben und entsprechende Problemlösungen herbeizuführen. Wenn dieser Prozess nicht vollständig gelingt, kann es auf dem Weg dorthin zu Patientenfehlverhalten kommen. Wenn ein Junge z. B. lernt, sich durchzusetzen, kann ihn dies dazu verleiten, seine neuen Kompetenzen bei seinem Vater auszuprobieren, ohne die Situation wirklich zu beherrschen. Die Folge könnten erhebliche Konflikte mit dem Vater sein. Nebenwirkungen im Kontext der thera peutischen Beziehung Es ist eine wichtige Aufgabe jeder Psychotherapie, eine gute Therapeut-Patient-Beziehung herzustellen. Eine gute therapeutische Beziehung kann dazu führen, dass das Kind sich stärker an der Therapeutin orientiert als an der Mutter und die Mutter beginnt, in Rivalität zur Therapeutin zu treten. Eine besonders „gute“ therapeutische Beziehung kann also Ausdruck einer Nebenwirkung sein. Von beziehungsabhängigen Nebenwirkungen ist auch dann auszugehen, wenn der Therapeut sich durch den Patienten angegriffen fühlt, ihm der Patient nicht sympathisch ist oder wenn der Patient beim
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Therapeuten eigene problematische psychische Reaktionen auslöst, sodass dieser in der Folge den Patienten aggressiv angeht, mit der Psychopathologie des Patienten mitagiert oder die Therapie sogar vorzeitig abbricht. Eine konflikthafte therapeutische Beziehung kann also ebenfalls eine Nebenwirkung sein.
7.3 Unerwünschte Ereignisse und Arten von Nebenwirkung in der Psychotherapie Bei der Erfassung von Psychotherapienebenwirkungen muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen „unerwünschten Ereignissen (UE)“ und „Nebenwirkungen“ und „Kunstfehlerfolgen“. Unerwünschte Ereignisse sind alle negativen oder nicht erwünschten Vorkommnisse. So ist eine Scheidung oder ein emotionales Arousal im Kontext von Psychotherapie immer ein negatives bzw. unerwünschtes Ereignis, auch dann, wenn dies therapeutisch unvermeidlich ist oder sogar ein Behandlungsziel in der Therapie war. Gäbe es eine alternative Therapie, die es ermöglicht, das Behandlungsziel zu erreichen, ohne dass die Beziehung auseinanderbricht oder der Patient emotionalen Belastungen ausgesetzt wird, dann wäre das aktuelle Vorgehen ein Kunstfehler. Da Psychotherapeuten eine Tendenz haben, Nebenwirkungen zu übersehen oder schönzureden, sollten alle unerwünschten Ereignisse sorgfältig erfasst werden. In der Psychotherapie und vor allem in der Kinderund Jugendlichenpsychotherapie gilt, dass Nebenwirkungen nicht nur die unmittelbare Symptomatik betreffen können, sondern auch die Lebensumstände des Patienten oder des Umfelds. Wenn UE festgestellt werden, dann ist zu fragen, ob die UE therapiebedingt sind. Diese Entscheidung wird gefällt, indem ein prozeduraler Zusammenhang zwischen Therapieintervention und UE plausibel gemacht wird. Bei einer Angstverstärkung im Verlauf einer Exposition ist es plausibel, von einer
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Therapiewirkung zu sprechen, während ein Sportunfall nur dann eine Therapienebenwirkung wäre, wenn der Therapeut mutiges Verhalten verlangt hätte. Wenn ein Bezug zur Therapie besteht, ist im nächsten Schritt zu prüfen, ob diese den üblichen Fachstandards entsprochen hat. So sind die Folgen von Übergriffigkeiten im Therapierahmen zwar unerwünschte Ereignisse, aber keine Nebenwirkungen, sondern Kunstfehlerfolgen, wenn nicht sogar Folgen eines Straftatbestands. Diese sind nicht der Psychotherapie zuzuschreiben. Nebenwirkungen sind schließlich die UE, die auf eine fachlich korrekt durchgeführte Therapie zurückzuführen sind. Das Nebenwirkungsspektrum umfasst die Nebenwirkungen, mit denen typischerweise gerechnet werden muss, die einem Therapeuten bekannt sein sollten und über die der Patient ggf. aufzuklären ist. So hat jede Therapieintervention ihr je eigenes Nebenwirkungsspektrum, z. B. Anamneseerhebung = Induktion von Fehlerinnerungen, Exposition = Angstverstärkung, Patienteninformation = Missverständnisse, Therapieaufgaben = Insuffizienzgefühle etc.
7.4 Vorgehen beim Erfassen von Nebenwirkungen Die Erfassung von Nebenwirkungen beginnt zunächst mit der Registrierung von unerwünschten Ereignissen. Diese sollten auch dann erfasst und benannt werden, wenn von Beginn an klar scheint, dass es sich nicht um therapiebedingte Negativereignisse handelt. Ein solcher Primäreindruck kann sich durchaus bei näherer Überprüfung ändern. Um nichts zu übersehen, sollten systematisch die folgenden Bereiche bedacht werden: Symptomverschlechterung und unzureichendes Therapieergebnis, Therapieverlängerung, Non-Compliance des Patienten, Auftreten neuer Symptome, Spannungen in der Patient-Therapeut-Beziehung, außerordentlich gute Patient-Therapeut-Beziehung, Probleme in den familiären Beziehungen,
M. Linden und M. Döpfner
Probleme in der Schule, Probleme in sonstigen Sozialbeziehungen, sonstige Änderungen in der Lebenssituation des Patienten, Stigmatisierung, Missbrauch der Therapie durch den Patienten oder Dritte für sonstige Zwecke, z. B. für schulische Vorteile. In einem zweiten Schritt ist dann zu klären, ob ein Bezug zur Therapie besteht. Dabei können die geschilderten Entstehungsmöglichkeiten von Nebenwirkungen als Entscheidungshilfe dienen. Ein derartiges Urteil ist natürlich niemals ein Ja- oder Nein-Urteil, sondern immer ein Wahrscheinlichkeitsurteil. Neben der Qualität der Nebenwirkung muss auch die Schwere beurteilt werden. Nebenwirkungen, die keine weiteren Konsequenzen haben, kann man als leicht ansehen, solche, die zu subjektivem Leiden führen, sind schon schwerer, und solche, die möglicherweise zu wesentlichen Änderungen in der Lebenssituation des Patienten oder im Extremfall gar zum Tode führen, sind als schwer oder besonders schwer einzustufen.
7.5 Nebenwirkungen in der täglichen Praxis und Supervision Da Nebenwirkungen ein alltägliches Phänomen in der Psychotherapie sind, müssen Therapeuten eine Sensibilität für Nebenwirkungen, deren Erfassung und ggf. erforderliche therapeutische Gegenmaßnahmen haben.
Als Grundsatz kann gelten: Wenn ein Therapeut keine Nebenwirkungen seiner eigenen Behandlung sieht, dann ist das beunruhigend, weil er sie übersehen hat!
Also sollte jeder Therapeut stets bemüht sein, im konkreten Fall zu klären, welche Nebenwirkungen die laufende Behandlung zur Folge hatte. In der Therapie gilt seit jeher die verpflichtende Regel „nil nocere“, das heißt: „Nicht
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schaden“. Bevor man einen positiven Therapieeffekt anstrebt, muss zunächst sichergestellt werden, dass der Patient keinen relevanten Risiken und Nebenwirkungen und damit therapiebedingten Gesundheitsschädigungen ausgesetzt wird. Nicht zu schaden ist damit zunächst einmal wichtiger, als zu helfen. Von daher sollte es eine Selbstverständlichkeit für jede professionelle Psychotherapie sein, Behandlungspläne grundsätzlich auch unter dem Aspekt der „Nebenwirkungsorientierung“ zu verfassen, Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen und adäquate Gegenmaßnahmen einzuleiten. Der Patient und die Sorgeberechtigten sind über absehbare Nebenwirkungen vorab zu informieren (z. B. dass Expositionen mühsam sind und Angst auslösen). Dies geschieht nicht global zu Behandlungsbeginn, sondern im Therapieprozess konkret bezogen auf die anstehenden Interventionen. Die Erfassung von Nebenwirkungen und deren Management muss gelernt und gelehrt werden (Castonguay et al. 2010). Die Berücksichtigung von Nebenwirkungen in der Behandlungsplanung, die Nebenwirkungserkennung und die Einleitung von gebotenen Gegenmaßnahmen müssen daher auch in der Ausbildung der Therapeuten und in der Supervision eine angemessene Rolle spielen.
Literatur Barlow, D. H. (2010). Negative effects from psychological treatments. A perspective. American Psychologist, 65, 13–20.
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Castonguay, L. G., Boswell, J. F., Constantino, M. J., Goldfried, M. R., & Hill, C. E. (2010). Training implications of harmful effects of psychological treatments. American Psychologist, 65, 34–49. Dimidjian, S., & Hollon, S. D. (2010). How would we know if psychotherapy were harmful? American Psychologist, 65, 21–33. Haupt, M. L., & Linden, M. (2011). Nebenwirkungen und Nebenwirkungserfassung in der Psychotherapie. Das UCRS-ATR-Schema. Psychotherapie und Sozialwissenschaft, 2, 9–27. Hoffmann, S. O., Rudolf, G., & Strauß, B. (2008). Unerwünschte und schädliche Wirkungen von Psychotherapie. Der Psychotherapeut, 53, 4–16. Jarrett, C. (2007). When therapy causes harm. Psychologist, 21, 10–12. Linden, M. (2013). How to define, find, and classify side effects in psychotherapy: From unwanted events to adverse treatment reactions. Clinical Psychology & Psychotherapy, 20, 286–296. Linden, M., & Strauß, B. (Hrsg.). (2013). Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. Erfassung, Bewältigung, Risikovermeidung. Berlin: Medizinisch wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Lilienfeld, S. O. (2007). Psychological treatments that cause harm. Perspectives of Psychological Sciences, 2, 53–70. Walter, D., Dachs, L., Faber, M., Goletz, H., Goertz-Dorten, A., Hautmann, C., Kinnen, C., Rademacher, C., Schuermann, S., Wolff MetternichKaizman, T., & Doepfner, M. (2018). Effectiveness of outpatient cognitive-behavioral therapy for adolescents under routine care conditions on behavioral and emotional problems rated by parents and patients: an observational study. European Child & Adolescent Psychiatry, 27, 65–77.
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Kultursensitive Kinderund JugendlichenPsychotherapie Renate Schepker und Nicole Corpus
8.1 Allgemeine Beschreibung Ein Drittel der unter 18-Jährigen hat in Deutschland derzeit einen Migrationshintergrund. Daher ist Kultursensitivität für alle Therapeuten unabdingbar. Zu beachten sind die allgemeine Grundhaltung und Besonderheiten der Diagnosestellung und Indikation, der Begrenzungen, des Rahmens und Settings sowie des therapeutischen Vorgehens. Im therapeutischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien sind Konzepte des euro-amerikanischen verhaltenstherapeutischen Vorgehens oft nicht ohne Modifikationen übertragbar. Hilfreich dabei ist ein Bewusstsein um den eigenen Kulturbias und dessen Selbstverständlichkeiten (z. B. dass alle Eltern lesen und schreiben können, dass Kinder Taschengeld erhalten, dass eine Sauberkeitserziehung bis zum Kindergartenalter stattgefunden hat oder dass Jungen und Mädchen gleich zu behandeln sind). Hierzu enthält Heidi Kellers Werk (2013) viele Beispiele sowohl zur Orientierung hinsichtlich der
R. Schepker (*) · N. Corpus ZfP Südwüttemberg Weissenau Abt. Kinder- u. Jugendpsychiatrie, Ravensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Corpus E-Mail: [email protected]
heute vorfindlichen Diversität von Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen als auch zur Erkundung der eigenen kulturellen Verortung. Röhling (2013) beschreibt z. B. die Bedeutung von Begrüßungsritualen oder der Erkundung des eigenen Vornamens. Die Variabilität von (Erziehungs-)Praktiken, Überzeugungen und Werten kann zwischen Migranten aus demselben Herkunftsland aber größer sein als zwischen zwei Herkunftsländern. Abhängig von Sozialschicht, Bildungsgrad, Kontakt zur Herkunftskultur, Generationen- und Geschlechterhierarchie gibt es viele kreative Kompromissbildungen zum sogenannten „Kulturkonflikt“. Belz und Özkan (2017) raten explizit von zu viel „Kultur-Wissen“ ab: „Wissen über die 'Kultur' des Patienten kann zwar die empfundene Unsicherheit der Behandler reduzieren, jedoch lassen sich augenscheinlich kulturell beeinflusste Themenbereiche (z. B. Krankheitsverarbeitung, Therapiemotivation, Unterstützung durch Angehörige, Umgang mit Sterben und Tod, Spiritualität und Religion, Sexualität) ohne Stereotype individuell besser bearbeiten“ (S. 58). Kulturtypische Erklärungen für abweichendes Verhalten können mit der Sichtweise des Therapeuten durchaus koexistieren, ebenso können „traditionelle“ Wege der Problemlösung von Familien parallel zu einer psychotherapeutischen Behandlung beschritten werden. Hilfreich
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_8
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ist immer eine „forschende Neugier“ bei gleichzeitiger therapeutischer Bescheidenheit. Das hilft zugleich gegen eine falsche „Kulturalisierung“ oder „Ethnisierung“ eines Problemverhaltens.
8.2 Indikationen Die Grundfrage, ob auch die nähere Umgebung das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen als abweichend erlebt und damit ein Anlass zu einer Behandlung besteht, sollte geklärt sein. Das Verhalten könnte als „kulturspezifisches Syndrom“ einzuordnen sein und damit anderer Reaktionen bedürfen (z. B. ein „gefallener Bauchnabel“ als allgemeines Zeichen für Überforderung oder „zu viel“). Umgekehrt könnte eine Störung innerhalb der Familie als deutlich gravierender erlebt werden als im Kontext der Aufnahmegesellschaft (z. B. ist eine depressive Störung bei Kindern afrikanischer Herkunft für Europäer nicht gut erkennbar) oder auch als weniger gravierend (z. B. selektiver Mutismus in der Sprache der Aufnahmekultur oder Enuresis bei Jungen vor der Beschneidung). Gelegentlich sind Sprach- und Kulturmittler hilfreich bei diagnostischen Abwägungen. Die Beeinträchtigung mehrerer Funktionsbereiche (inner- und außerhalb der Familie) vertieft die Krankheitswertigkeit eines Symptomverhaltens. Auch wenn Diagnostikinstrumente in aller Regel nicht für spezielle Zuwanderergruppen normiert sind, ist eine orientierende Intelligenzprüfung mittels SON-R oder CFT 20-R möglich. Zur Erfassung der Symptomatik sind orientierende Symptomscreenings in vielen Sprachen verfügbar (z. B. CBCL, SDQ, Traumainventare; Kap. 2). Diagnostische Schwellen können vor allem bei Störungskonstrukten mit einer dimensionalen Komponente kulturtypisch variieren (z. B. Definition der Kriterien einer ADHS). Psychotherapie als Konzept, mit Worten und Handlungen seelische Vorgänge zu beeinflussen, oder auch dass seelische Vorgänge Grund für körperliche Beschwerden sein können, ist in den meisten Herkunftskulturen wenig verankert, wobei immer auch der Bildungshintergrund und
R. Schepker und N. Corpus
der Urbanisierungsgrad der Hilfesuchenden eine Rolle spielen. Es lohnt sich somit, das Vorgehen zeitaufwändig zu erklären, auch dahin gehend, die oft sehr geschätzte „westliche Medizin“ als evidenzbasierte Behandlungsform gleichrangig zu einer Medikation einzuordnen. Entsprechend der differenziellen Indikation ist nach einer ausführlichen Diagnostik zu prüfen, welche Therapieform indiziert ist. In manchen Fällen muss eine Verhaltenstherapie hinter psychosozialen Hilfeleistungen zurückstehen, beispielsweise wenn die Wohnbedingungen in der Familie so beengt und belastend sind (wenn z. B. eine fünfköpfige Familie ein einziges Zimmer in einem Wohnhaus bewohnt), dass die Symptomatik darunter unbeeinflussbar ist. Auch könnten spezielle verhaltenstherapeutische Interventionen wie z. B. ein Belohnungsprogramm für die Familie zu kostspielig sein. In Fällen mit einer postmigratorisch sehr hohen Familienkohäsion bei abnehmender Flexibilität ist ggf. eine systemische Familientherapie anderen Behandlungsformen vorzuziehen (Schepker und Toker 2009).
8.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Es kann zu Missverständnissen aufgrund eines mangelnden Sprachverständnisses kommen. Die Nichtverfügbarkeit eines erfahrenen Sprachund Kulturmittlers kann eine Behandlung erschweren, ist bei leidlichen Deutschkenntnissen aber entgegen früherer Meinungen keine absolute Voraussetzung (vgl. Schepker 2017) – sofern Worte der Erstsprache für bestimmte Befindlichkeiten kreativ genutzt werden können. Die Abwesenheit tragender gleich- oder gemischtethnischer Netzwerke kann das therapeutische Setting mit Erwartungen überfrachten. Manche Autoren empfehlen daher vor allem bei Flüchtlingen eine „mehrzeitige Therapie“ in Intervallen (vgl. Schepker 2017). In Einzelfällen mag eine immanente Abschiebung bei Asylbewerbern einer Symptombesserung entgegenstehen, dennoch kann eine ressour censtützende Psychotherapie Verschlechterungen verhindern.
8 Kultursensitive Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Eine schulische Überforderung, oft auf Kosten von Spannungssymptomen mit viel Fleiß noch kompensiert, findet sich nicht selten. Ihr sollte ursächlich und psychoedukativ begegnet werden.
8.4 Technische Durchführung
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der beteiligten Jugendlichen sein, geschlechtshomogene Gruppen anzubieten anstatt gemischte. Bei Gruppentherapien jüngerer Kinder hat es sich sehr bewährt, eine parallele Müttergruppe für nicht berufstätige Mütter oder andere Begleitpersonen zu installieren – neben vertiefter Psychoedukation mobilisiert dies Selbsthilfepotenziale.
8.4.1 Rahmen und Setting 8.4.2 Therapeutisches Vorgehen Zum Rahmen und Setting sind gelegentlich Abweichungen vom herkömmlichen Vorgehen erforderlich. Umfasst der Haushalt nicht nur die Kernfamilie, muss gegebenenfalls die zuständige Großmutter oder Tante eines Kindes in die Behandlung einbezogen werden (z. B. begleitendes Elterntraining bei ADHS). In der Arbeit mit Sprach- und Kulturmittlern (deren Finanzierung nur für minderjährige Asylbewerber mit regionalen Auslegungen gesichert ist) empfiehlt sich eine trianguläre Beziehung T herapeut-Patient/Familie-Kulturmittler und deren Abbildung auch in der Sitzordnung. Eine „reine Übersetzungsarbeit“ ist im therapeutischen Prozess weder möglich noch zielführend. Der Auswahl und Kontinuität der Sprach- und Kulturmittler kommt deshalb besondere Bedeutung zu (Passen Geschlechtszugehörigkeit, Ethnizität, Sprache? Keine Verwandtschafts- oder Abhängigkeitsbeziehungen?). Werden Jugendliche im Einzel- oder Gruppensetting ohne die Eltern behandelt, ist die therapeutische Schweigepflicht zu betonen. Sehr oft gehen Eltern und auch Jugendliche selbstverständlich davon aus, seitens der Therapeuten Kenntnis von allen Therapieinhalten zu bekommen. Mögliche Ängste vor einer Bedrohung der Familienkohäsion bei einem „individualisierenden“ Vorgehen können die Akzeptanz der Psychotherapie erschweren. Die Thematisierung sexueller Themen im Rahmen der geschlechtsgemischten Gesamtfamilie würde in aller Regel allseits Schamgrenzen überschreiten, die Arbeit in Subsystemen ist eine kulturell akzeptierte Lösung. Auch wird es bei Gruppentherapien in aller Regel einfacher für die Akzeptanz aller Familien
Die Problemanalyse benötigt mehr Detailliertheit und mehr Zeit aufgrund der häufig hohen Komplexität der Lebensumstände, sie erfordert mehrere Informationsquellen. Sehr oft erhalten Therapeuten dabei wichtige Einblicke in familiäre Bedingungen, Gewohnheiten, Orientierungen und die oft sehr gute Medienausstattung. Die vertikale Verhaltensanalyse oder Plananalyse (Caspar 1996) kann durch die Berücksichtigung kulturspezifischer Werte, Einstellungen und Erwartungen dann Aufschluss über die Handlungssteuerung des Patienten geben. Elterliche Erziehungskonzepte in der Familie sollten zunächst akzeptiert werden (Westphal und Grünheid 2013), sofern keine Kindeswohlgefährdung besteht. Bei der Erarbeitung eines gemeinsamen Störungskonzeptes sind Metaphern und bildhafte Darstellungen, Neu-Worte aus Erst- und Aufnahmesprache oder Symbole oft hilfreich (wie z. B. im Fall einer eritreischen Jugendlichen mit dissoziativen Anfällen, die diesen einen Namen gibt – i. S. der Herstellung einer „gemeinsamen Sprache“ und eines Bezugsrahmens mit ihrer Bezugsperson). Zu beachten ist, dass die westliche kognitive Verhaltenstherapie oft auf Autonomie und Selbstentwicklung abzielt, sodass am Beispiel Depression Selbsteffizienz, Selbstakzeptanz und Selbstmanagement in Manualen gefördert wird, während für Patienten mit einem kollektivistischen Kulturhintergrund in Störungsbild und Therapiezielen auch die Bezogenheit und Interdependenz wichtig ist, sodass interpersonelle Bezüge nicht vernachlässigt werden dürfen (Balkir Neftci und
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Barnow 2016). Vor allem bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kann der Fokus auf Letzteres ein wichtiger Schlüssel zum Problemverständnis sein (z. B. wiederholte suizidale Handlungen) und einen möglichen Ansatzpunkt für Therapieziele (z. B. Begleitung des Ankommens und der Integration im neuen Wohnumfeld, Unterstützung durch additive psychosoziale Interventionen) darstellen. Das Zurückweisen besonderer Nähebezeugungen (z. B. Ansprache als Verwandte/r) wäre verletzend und sollte unterbleiben.
8.5 Erfolgskriterien Der kultursensible Kontakt mit Kindern aus Zuwandererfamilien kann das eigene therapeutische Spektrum und die Sensibilität für die individuellen Bedürfnisse, für das Timing von Interventionen sowie die Anpassung von Methoden und Techniken bereichern – angesichts der deutlich größeren Möglichkeitsräume der Menschen mit Zuwanderungshintergrund. Erfahrungen mit Kindern aus Zuwandererfamilien sind daher auch in der Therapiebeziehung zu einheimischen Patienten hilfreich. Erfolgskriterien seitens der Patienten können neben einer Symptomreduktion eine bessere Fähigkeit zum „Code-Switching“ zwischen Schule und Herkunftsfamilie und ein flexiblerer Umgang mit den verschiedenen Identitätsformen sein, seitens der Familie eine größere Flexibilität im Regelwerk und im Zulassen von Selbständigkeit der Kinder (s. hierzu auch Schepker und Toker 2009).
8.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Wenngleich empirische Evidenz zu verhaltenstherapeutischen Interventionen aus vielen Kulturen vorliegt, ist Evidenz zu Zuwandererkindern rar. So stammt die verfügbare Literatur zur kulturspezifischen Psychotherapie mit
R. Schepker und N. Corpus
Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus ethnographischen Quellen oder aus Einzelfallstudien (für kognitive Verhaltenstherapie z. B. Mahr et al. 2015; Bohnacker und Goldbeck 2017). Randomisiert-kontrollierte Studien an Kindern mit Migrationshintergrund fehlen bis heute, und ein Zuwanderungshintergrund bzw. nicht ausreichende Sprachkenntnisse von Patienten und/oder Eltern sind in vielen empirischen Studien ein Ausschlusskriterium. Zu Erwachsenen ist die empirische Erkenntnislage kaum besser. Knapstad et al. (2018) fanden in ihrer niedrigschwelligen, großen multizentrischen norwegischen Studie zur kognitiven Verhaltenstherapie an Erwachsenen schlechtere Ergebnisse für Angst und Depression bei den Teilnehmern mit Migrationshintergrund, beschreiben aber keine kultursensitiven Modifikationen. Daher sind die individuellen Therapeuten aufgefordert, im Sinne der oben geschilderten Prinzipien vorzugehen – sie werden dies als bereichernde Erfahrung wahrnehmen.
Literatur Balkır Neftçi, N., & Barnow, S. (2016). One size does not fit all in psychotherapy: Understanding depression among patients of Turkish origin in Europe. Arch Neuropsychiatr, 53, 72–79. Belz, M., & Özkan, I. (2017). Psychotherapeutische Arbeit mit Migranten und Flüchtlingen. Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht. Bohnacker, I., & Goldbeck, L. (2017). Familienbasierte Traumafokussierte Kognitive Verhaltenstherapie mit drei Geschwistern einer Flüchtlingsfamilie. Prax Kinderpsychol Kinderpsychiatr, 66, 614–628. Caspar, F. (1996). Beziehungen und Probleme verstehen. Eine Einführung in die psychotherapeutische Plananalyse (2. überarb. Aufl.). Bern: Huber. Knapstad, M., Nordgreen, T., & Smith, O. R. F. (2018). Prompt mental health care, the Norwegian version of IAPT: clinical outcomes and predictors of change in a multicenter cohort study. BMC Psychiatry, 18, 260. Mahr, F., McLachlan, N., Friedberg, R. D., Mahr, S., & Pearl, A. M. (2015). Cognitive behavioral treatment of a second-generation child of Pakistani descent: ethnocultural and clinical considerations. Clin Child Psychol Psychiatry, 20, 134–147.
8 Kultursensitive Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie Röhling, G. (2013). „Die Welt mit anderen Augen sehen“ – Sensibilisierung und professionelle Haltung. In H. Keller (Hrsg.), Interkulturelle Praxis in der Kita (S. 79–84). Freiburg: Herder. Schepker, R. (2017). Kultursensible Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht.
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Schepker, R., & Toker, M. (2009). Transkulturelle Kinder- und Jugendpsychiatrie. Berlin: MWV. Westphal, M., & Grünheid, H. (2013). Kulturelle Werte und Erziehung in Migrantenfamilien aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. In H. Keller (Hrsg.), Interkulturelle Praxis in der Kita (S. 37–52). Freiburg: Herder.
Teil II
Techniken
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Aktivitätsaufbau Ulrike Abel
9.1 Allgemeine Beschreibung Unter Aktivitätsaufbau versteht man die Anreicherung des Alltags mit verstärkungsreichen Erfahrungen (Balance zwischen Pflichten und angenehmen Aktivitäten). Die Methode geht auf verhaltenstheoretische Modelle der Depression und das Verstärker-Verlust-Modell zurück, das auch für Jugendliche formuliert wurde (Clarke et al. 1990). Weiterentwicklungen des Ansatzes für Erwachsene (Martell et al. 2001) und für Jugendliche (McCauley et al. 2016) betonen neben den positiven Erfahrungen und der verhaltenskontingenten Verstärkung auch den Aspekt der Vermeidung aktiven funktionalen Verhaltens. Folglich geht es nicht nur um den Aufbau von Aktivitäten, sondern auch um die Reduktion von Vermeideverhalten als Ziele therapeutischen Handelns.
9.2 Indikationen Depression (Kap. 49) ist die Hauptindikation für Aktivitätsaufbau. Aber auch bei anderen Störungen, bei denen Inaktivität, motivationale
U. Abel (*) Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinik für Psychiatrie, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected]
Defizite und Antriebsprobleme eine Rolle spielen, wird Aktivierung alleine oder in Kombination mit anderen Methoden angewendet. Aktivitätsaufbau im Kindes- und Jugendalter findet bei den folgenden Störungsbildern Anwendung: Rückzugsverhalten, Komorbidität Angst und Depression (Kap. 49 und 59), Störungen, die eine Tagesstrukturierung erforderlich machen (z.B. Tag-Nacht-Rhythmus), Verhaltenssüchte, z. B. pathologischer Medienkonsum (Kap. 63), Schulmeidung (Kap. 62), spezifische Fertigkeitsdefizite (interpersonelles Verhalten, Selbststeuerung, Lern- und Leistungsprobleme), somatische Störungen, die mit dysfunktionaler Inaktivität einhergehen (Kap. 58), Essstörungen und Adipositas (Kap. 41 und 45), Prävention und Gesundheitsförderung (Kap. 33). Im Hinblick auf die Ergebnisse neurobiologischer Studien bezüglich der kognitiven Entwicklung (z. B. Casey et al. 2010) kann Aktivitätsaufbau auch angewendet werden, wenn kognitive Methoden eine Überforderung für junge Patienten darstellen.
9.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Ein verändertes Aktivitätsspektrum kann Auswirkungen auf wichtige Lebensbereiche haben. Diese sollten in der Therapie besprochen werden. Bei Patienten mit Essstörungen, insbesondere
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_9
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Anorexia nervosa, darf Aktivitätsaufbau erst ab dem Erreichen eines bestimmten BMI-Perzentils und vor allem im sozialen und interaktiven Bereich eingesetzt werden, da Bewegung und sportliche Aktivitäten von diesen Patienten häufig als dysfunktionale Maßnahme zur Gewichtsregulierung eingesetzt werden. Für Störungen, bei denen Suizidalität oder emotionale Instabilität im Vordergrund stehen, auch für bipolare Störungen, fehlt für das Kindes- und Jugendalter bislang die Evidenz.
9.4 Technische Durchführung Erstellung einer Baseline, Aktivitätenbeobachtung und Aktivitätenplanung sind unverzichtbare Methoden. Angestrebt wird eine erhöhte Anzahl an positiven Erfahrungen. Diese sind dabei die Folge eigenen Verhaltens und nicht einfach einer veränderten Situation. Es wird in mehreren Schritten vorgegangen: • Das Ausgangsniveau bezüglich Art und Häufigkeit der täglichen angenehmen Aktivitäten und Interaktionen sowie deren subjektiv erlebter Verstärkungsgrad (Baseline) werden mit Hilfe von Listen positiver Aktivitäten erfasst. • Bei der Aktivitätenbeobachung werden alltägliche Tätigkeiten von den Jugendlichen von Hand protokolliert oder mithilfe von tragbaren Geräten (z. B. Smartphones, Apps, Tablets; Kap. 36) aufgezeichnet und in den Sitzungen im Hinblick auf Funktionalität bezüglich des Problemverhaltens (z. B. Stimmung, negative Kognitionen) ausgewertet. • Bei der Planung positiver Aktivitäten werden im nächsten Schritt Ziele festgelegt. Hierbei sollen Patienten eine festzulegende, im Schwierigkeitsgrad ansteigende Anzahl von Aktivitäten bis zur nächsten Sitzung unternehmen und deren Konsequenzen auf das Problemverhalten beobachten. Funktionale Aktivitätsziele sind konkret und positiv formuliert, autonom erreichbar, vereinbar mit
U. Abel
anderen Therapie- und Lebenszielen und entsprechen den Ressourcen der Person. • Im nächsten Schritt wird der Aufbau spezifischerer Aktivitäten/Fertigkeiten mit einem subjektiv höheren Schwierigkeitsgrad angestrebt. Einige Autoren (z. B. Abel und Hautzinger 2013) unterscheiden zur besseren Auswahl Erfolgs- (z. B. etwas Neues lernen, Sport), Entspannungs- (z. B. Entspannungstechniken, Meditation) und soziale Aktivitäten (z. B. Peergroup, Verein). Bei kleineren Kindern werden konkrete Verhaltensübungen innerhalb und außerhalb der Therapie geübt und unter Einbeziehung der Bezugspersonen durchgeführt. • Die Aktivitätsziele werden Schritt für Schritt in den Alltag implementiert. Hierbei kommen operante Methoden der Selbstverstärkung, der Verhaltensformung sowie des Kontingenzmanagements zum Einsatz. Dies kann ebenfalls mit bestimmten Apps z. B. zur Stimmungsbeobachtung geschehen, oder es können moderne elektronische Geräte zum Einsatz kommen. Bei Patienten mit niedrigem Funktionsniveau oder ausgeprägten Motivationsdefiziten dient die Aktivierung zu Beginn der Therapie zunächst dem Aufbau eines allgemein erhöhten Aktivitätsniveaus (Schlaf- und Essgewohnheiten, Hygiene, Nachkommen alltäglicher Anforderungen wie z. B. Schulbesuch). Wichtig ist es, dass die Übungen nicht zu einem zu frühen Zeitpunkt abgebrochen werden, damit die neuen Verhaltensweisen eingeübt und positive Erfahrungen gemacht werden können. Auf der Grundlage neuerer therapeutischer Programme zum Aktivitätsaufbau wurde auch ein Programm für Jugendliche entwickelt (McCauley et al. 2016). Hier wird das Problemverhalten in funktionalen Bedingungsanalysen (Kap. 21) auf vorausgehende Bedingungen und nachfolgende Konsequenzen überprüft. Es werden vor allem kurzfristige negative Verstärkungsprozesse (z. B. Ausbleiben negativer Gefühle bei Schulmeidung), die das Problemverhalten (z. B.
9 Aktivitätsaufbau
Stimmung, soziale Ängste) langfristig aufrechterhalten, betont und alternative Lösungen eingeübt. Auch bei den Konsequenzen wird nicht nur auf unmittelbare, sondern auch auf mittelund langfristige Konsequenzen im Hinblick auf persönliche Werte und Lebensziele rekurriert. In Bezug auf für Jugendliche typische Verhaltensweisen, wie z. B. häufiges Surfen im Internet, wird auf eine Bewertung verzichtet, und diese werden ausschließlich im Hinblick auf Zielkongruenz und Funktionalität überprüft.
9.5 Erfolgskriterien Patienten sollen Möglichkeiten erlernen, durch eigenes Handeln mehr positive Erfahrungen zu machen, pathogene Verhaltensweisen zu reduzieren sowie besser mit für sie zielinkongruenten Hindernissen umzugehen. Im Einzelnen kann es sich dabei um Stimmungsverbesserung, eine veränderte Tagesstruktur, mehr soziale Kontakte, ein erweitertes Spektrum an gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen oder verbesserte Problemlösestrategien handeln.
9.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Aktivitätsaufbau hat sich in Metaanalysen vor allem in der Behandlung von Depressionen (Kap. 49) bei Erwachsenen als wirksam gezeigt. Darüber hinaus ist Aktivitätsaufbau ein zentrales Element in der wirksamen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung bei depressiven Kindern und Jugendlichen (z. B. TADS 2007). McCauley et al. (2016) überprüften Aktivitätsaufbau bei depressiven Jugendlichen in einer kontrollierten randomisierten Studie und fanden positive Ergebnisse im Vergleich zu einer Kontrollgruppe. Chu et al. (2016) untersuchten Verhaltensaktivierung bei Jugend-
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lichen mit Angststörungen und Depressionen. Dabei zeigten sich gegenüber einer Wartelistenkontrollgruppe höhere Remissionsraten. Auch andere Arbeitsgruppen befassen sich mit der Aktivierung als „Stand-alone-Therapie“ mit zum Teil ermutigenden Ergebnissen (Tindall et al. 2017). Aktuell wird diskutiert, ob die in der kognitiven Verhaltenstherapie angewendeten kognitiven Interventionen eine nicht für alle Jugendlichen geeignete Therapieform darstellen, da die hierzu nötigen kognitiven Funktionen (Abstraktionsfähigkeit, Handlungsplanung, soziales Problemlösen) noch nicht ausgereift sind und ob deshalb bei einigen Subgruppen verhaltensbezogene Interventionen vorzuziehen sind.
Literatur Abel, U. & Hautzinger, M. (2013). Kognitive Verhaltenstherapie mit depressiven Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Springer. Casey, B. J., Duhoux, S., & Cohen, M. M. (2010). Adolescence: What do transmission, transition, and translation have to do with it? Neuron 67(5), 749–760. Chu, B. C., Crocco, S. T., Esseling, P., Areizaga, M. J., Lindner, A. M., & Skriner, L. C. (2016). Transdiagnostic group behavioural activation and exposure therapy for youth anxiety and depression: Initial randomized controlled trial. Behavior Research and Therapy, 76(65), 65–75. Clarke, G. N., Lewinsohn, P. M., & Hops, H. (1990). Instructor’s manual for the adolescent coping with depression course. Castalia. Martell, C. R., Addis, M. E., & Jacobson, N. S. (2001). Depression in context: Strategies for guided action. New York: Norton. McCauley, E., Schloredt, K. A., Gudmundson, G. R., Martell, C. R., & Dimidjian, S. (2016) Behavioral activation with adolesence. A clinician's guide. New York: Guilford. TADS Team (2007). Treatment for Adolescents With Depression Study (TADS): Long-term effectiveness and safety outcomes. Arch Gen Psychiatry 4(10),1132–1144. Tindall, L., Mikocka-Walus, A., McMillan, D., Wright, B., Hewitt, C., & Gascoyne, S. (2017). Is behavioural activation effective in the treatment of depression in young people? A systematic review and meta-analysis. Psychology and Psychotherapy: Theory, Research and Practice, 90(4), 770–796.
Apparative Therapie der Enuresis
10
Alexander von Gontard
10.1 Symptomatik Enuresis nocturna (oder kurz nur Enuresis) bezeichnet nach der International Children's Contenance Society (ICCS) jedes intermittierende Einnässen im Schlaf bei einem chronologischen Mindestalter von 5;0 Jahren, einer Dauer von drei Monaten und einer Frequenz von einmal pro Monat – nach Ausschluss organischer Ursachen (Austin et al. 2016). Nach Dauer der längsten trockenen Periode wird zwischen primärer und sekundärer, nach dem Vorhandensein von Blasendysfunktionszeichen zwischen nicht monosymptomatischer und monosymptomatischer Enuresis unterschieden (Kap. 51). Nach einer genauen Diagnostik und gegebenenfalls Behandlung von komorbiden Ausscheidungsstörungen und komorbiden psychischen Störungen müssen bei einer nicht monosymptomatischen Enuresis zunächst die Blasendysfunktionen in Analogie zur funktionellen Harninkontinenz tags behandelt werden (Kap. 51). Bei der monosymptomatischen
A. von Gontard (*) Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitäts Saarlandes, Homburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
Enuresis kann direkt mit der Behandlung des nächtlichen Einnässens begonnen werden. Die Behandlung der primären und sekundären Formen unterscheidet sich nicht. Bei der sekundären Enuresis muss die höhere Rate von komorbiden psychischen Störungen beachtet werden. Die Standardurotherapie mit Dokumentation der nassen und trockenen Nächte stellt den ersten Behandlungsschritt dar und führt bei etwa 15 % der Kinder zur Trockenheit (Kap. 12, 51). Für die restlichen 85 % der Kinder ist die apparative Verhaltenstherapie (AVT) Mittel der ersten Wahl (von Gontard 2018).
10.2 Verhaltenstherapeutische Ansatzpunkte und Ziele Ziel der Behandlung ist die vollkommene und bleibende Trockenheit des Kindes. Alle Klingelgeräte bestehen aus einem Feuchtigkeitsfühler und einem Klingel-/Vibrationsapparat, der ausgelöst wird, wenn ein elektrischer Stromkreis durch Feuchtigkeit (d. h. durch Urin) geschlossen wird. Es gibt tragbare Geräte, die am Körper appliziert werden. Moderne Geräte können ohne Aufwand an Schlafanzug (Klingel in der Nähe des Ohres) und Unterhose (Feuchtigkeitsfühler in der Nähe des Genitals) angeschlossen werden. Ältere Geräte erfordern spezielle Hosen (deshalb der Begriff
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_10
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„Klingelhose“). Bei speziellen Situationen (z. B. schlafende Geschwister im selben Zimmer, weite Entfernung zum elterlichen Schlafzimmer) stehen Funkgeräte zur Verfügung, bei denen ein Funksensor in eine Einlage eingeführt und die Klingel per Funk aktiviert wird. Alle oben genannten Geräte können mit einer Windel eingesetzt werden. Daneben gibt es Bettgeräte mit einem Feuchtigkeitssensor unter dem Bettlaken (Stoff mit eingenähten Drähten oder Aluminiumfolie), bei denen die Klingel neben dem Bett steht. Alle Geräte sind gleich wirksam und die Auswahl sollte Kindern und Eltern überlassen werden. Bei der AVT handelt es sich vermutlich nicht um eine klassische Konditionierung, da der konditionierte Stimulus (Klingel/Vibration) zu spät (d. h. nicht vor, sondern nach dem Einnässen) ausgelöst wird, um eine konditionierte Reaktion (Trockenbleiben) zu induzieren. Neue Paradigmen einer klassischen Konditionierung werden zurzeit mit tragbaren Ultraschallgeräten erprobt, die auf den Bauch über der Blase mit Pflaster geklebt werden. Ab einer bestimmten Blasenfüllung wird das Signal (konditionierter Stimulus) vor dem Einnässen ausgelöst mit dem Ziel, dass die Blasenfüllung allein eine konditionierte Reaktion (Trockenheit) auslösen kann. Noch sind diese Geräte in Erprobung und stehen für den klinischen Einsatz nicht zur Verfügung. Stattdessen stellt die traditionelle AVT eher eine operante Konditionierung mit unangenehmen Konsequenzen (nächtliches Aufstehen, auf die Toilette gehen) und positiven Auswirkungen (zunehmendes Trockenwerden, Lob) dar. Die Wirkungsweise der AVT ist nicht geklärt. Studien konnten zeigen, dass die Blasenkapazität unter einer AVT zunimmt. Ferner werden zwei Drittel der erfolgreich behandelten Kinder mit AVT trocken, obwohl sie durchschlafen (d. h., die Blasenentleerungsreflexe werden im Schlaf inhibiert), während ein Drittel durch
A. von Gontard
die Blasenfüllung wach wird. Dieser nächtliche Harndrang (Nykturie) als Folge der Enuresisbehandlung kann bis ins Jugend- und Erwachsenenalter fortbestehen.
10.3 Behandlungsplan und Einzelschritte Bei der monosymptomatischen Enuresis beginnt man mit einfachen Maßnahmen der Standardurotherapie und einer Kalenderführung mit Registrierung von nassen und trockenen Nächten über vier Wochen, die für 15 % der Kinder ausreichen. Die AVT ist danach Mittel der ersten Wahl, wenn die Voraussetzungen gegeben sind: Motivation des Kindes und die Bereitschaft und reale Möglichkeiten der Eltern zu dieser Therapie. Kontraindikationen sind enge Wohnverhältnisse, belastende Berufstätigkeit der Eltern und die Versorgung jüngerer Geschwister. Die Geräte sollen erklärt und demonstriert werden. Wichtige Instruktionen umfassen, abends vor dem Schlafengehen Wasser zu lassen und das Gerät anzulegen. Beim Klingeln müssen jüngere Kinder zeitnah geweckt werden, während ältere selbstständig aufstehen können. Sie müssen komplett wach sein, auf die Toilette gehen und den restlichen Urin ausscheiden. Gerät, Unterhose und gegebenenfalls Windeln werden wieder angelegt. Beim erneuten Klingeln erfolgt die gleiche Prozedur. Der Verlauf wird von den Eltern in einem Plan dokumentiert. Es ist wichtig, dass die AVT konsequent jede Nacht (bis auf nicht vermeidbare Ausnahmen) und lange genug eingesetzt wird, maximal 16–20 Wochen. Die AVT wird fortgesetzt, bis 14 konsekutive trockene Nächte erreicht werden. Beim Rückfall wird die AVT wieder begonnen. Regelmäßige Wiedervorstellungen alle vier Wochen zur Verlaufskontrolle werden empfohlen. Wichtige Zwischenschritte sind Nykturie, die Abnahme der nassen Nächte,
10 Apparative Therapie der Enuresis
eine geringere Einnässmenge, spontanes Aufwachen des Kindes und Wasserlassen auf der Toilette. Die Mitarbeit des Kindes bei der AVT kann durch Verstärkerpläne wie das "Arousal Training" gesteigert werden. Dabei erhält das Kind ein Token, wenn es 3 min nach dem Klingeln auf der Toilette war und mitarbeitet. Komplexe verhaltenstherapeutische Techniken wie das „Dry Bed Training“ sind nicht wirksamer als die AVT alleine. Sie werden nur noch bei therapieresistenten Jugendlichen unter besonderer Indikation eingesetzt.
10.4 Probleme und Nebenwirkungen Die AVT kann nur bei aktiver Mitarbeit von Kind und Eltern wirksam sein. Bei fehlender Motivation des Kindes kann es zu eskalierenden Auseinandersetzungen kommen. Bei fehlender Motivation der Eltern wird das Kind nicht ausreichend unterstützt, und es kommt häufig zum vorzeitigen Abbruch. Schlafmangel und elterlicher Stress sind ebenfalls negative Belastungsfaktoren. In diesen Fällen kann es sinnvoll sein, eine Pause einzulegen und mit dem Mittel der zweiten Wahl, dem Medikament Desmopressin, zu beginnen. Auch wird das Klingelgerät oft nicht richtig eingesetzt. Deshalb können schriftliche Instruktionen und Elternratgeber sowie regelmäßige Vorstellungen sinnvoll sein. Ein weiteres Problem tritt auf, wenn die Klingel mehrfach pro Nacht ausgelöst wird, wie z. B. bei einer nicht monosymptomatischen Enuresis mit Drangsymptomen (Kap. 51). Da die Belastung für Kind und Eltern dadurch sehr groß und der Erfolg eher ungünstig ist, empfiehlt es sich, die AVT mit einem Anticholinergikum wie Propiverin oder Oxybutinin (z. B. 5 mg abends) zu kombinieren. Dagegen ist die Kombination von AVT und Desmopressin nicht wirksam und auch theoretisch nicht sinnvoll: Als operantes Verfahren erfolgt das Lernen bei der AVT durch die Einnässepisoden nachts, die durch Desmopressin unterbunden werden.
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10.5 Begleit- und Alternativbehandlungen Komorbide psychische Störungen wie ADHS (Kap. 42) müssen zusätzlich behandelt werden. Der Behandlungserfolg und die Mitarbeit bei der AVT sind geringer bei unbehandelter ADHS. Das Mittel der zweiten Wahl zur Behandlung der Enuresis nocturna ist das Medikament Desmopressin (Kap. 51). Falls eine AVT nicht durchführbar ist oder die Motivation nicht ausreicht, ist es sinnvoll, mit Desmopressin zu beginnen. Falls das Kind darauf anspricht, kann Desmopressin drei Monatsblocks lang gegeben werden. Danach sollte ein Absetzversuch erfolgen, bei Rückfall kann die Medikation fortgesetzt werden (Kuwertz-Bröking und von Gontard 2015). Falls der erste Behandlungsversuch nicht erfolgreich ist, wird empfohlen, auf die jeweils andere Behandlung zu wechseln, d. h. bei einer erfolglosen AVT auf Desmopressin bzw. bei einer erfolglosen Desmopressin-Behandlung auf AVT. Als weitere, selten eingesetzte Medikamente kommen Imipramin und Reboxetin infrage, die jedoch aufgrund ihrer Nebenwirkungen eng überwacht werden müssen. Eine Verhaltenstherapie ohne Klingelgerät ist wenig wirksam, eine psychodynamische Psychotherapie mit dem Ziel der Enuresisbehandlung unwirksam. Alle anderen Alternativbehandlungen sind ebenfalls nicht wirksam.
10.6 Wirksamkeit und Erfolgsbeurteilung Eine AVT gilt als erfolgreich, wenn 14 konsekutive trockene Nächte erreicht wurden. Eine komplette Trockenheit liegt vor, wenn kein Rückfall (ein oder mehr Einnässepisoden pro Monat) über zwei Jahre aufgetreten ist (Austin et al. 2016). AVT ist mit Abstand Mittel der ersten Wahl, basierend auf vielen randomisierten kontrollierten Studien, systematischen Übersichten und Metaanalysen (von Gontard
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2018). Etwa 70 % der Kinder werden nach Behandlung trocken, 50 % bleiben langfristig trocken. Die AVT wird deshalb in allen Leitlinien einschließlich den deutschen AWMF-Leitlinien als Mittel der ersten Wahl empfohlen (Kuwertz-Bröking und von Gontard 2015). Eine neue australische Studie mit fast 3000 Kindern liefert viele wichtige klinische Einzelheiten (Apos et al. 2018). 76 % der Kinder wurden trocken (14 konsekutive trockene Nächte), die mittlere Behandlungsdauer betrug neun Wochen, Darm- und Blasensymptome (d. h. nicht monosymptomatische Enuresis) führten zu einem schlechteren Therapieerfolg. Dagegen waren Kinder mit einer sekundären Enuresis erfolgreicher. Möglicherweise waren sie motivierter nach einem R ückfall. Es ist zu wünschen, dass eine Behandlung mit einer AVT in allen klinischen Settings breit angeboten und eingesetzt wird.
A. von Gontard
Literatur Apos, E., Schuster, S., Reece, J., Whitaker, S., Murphy, K., Golder, J., Leiper, B., Sullivan, L., & Gibb, S. (2018). Enuresis management in children: Retrospective clinical audit of 2861 cases treated with practitioner-assisted bell-and-pad alarm. Journal of Pediatrics, 193, 211–216. Austin, P. F., Bauer, S., Bower, W., Chase, J., Franco, I., Hoebeke, P., Rittig, S., Vande Walle, J., von Gontard, A., Wright, A., Yang, A., & Nevéus, T. (2016). The standardization of terminology of bladder function in children and adolescents: Update report from the standardization committee of the International Children’s Continence Society (ICCS). Neurourology and Urodynamics, 35, 471–481. Kuwertz-Bröking, E., & Gontard, A. von (2015). Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen (S2k Leitlinie). AWMF online. http://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/028-026.html. von Gontard, A. (2018). Leitfaden Enuresis (3. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
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Neurofeedback Martin Holtmann und Tanja Legenbauer
11.1 Allgemeine Beschreibung Neurofeedback, das auf dem Prinzip des operanten Konditionierens beruht, kann den verhaltensmodifizierenden Therapien zugeordnet werden. Im Rahmen des Trainings wird die Produktion von „erwünschtem Verhalten“ im Hirnstrombild (Elektroenzephalogramm, EEG) angestrebt. Der Patient kann so lernen, seine elektrische Hirnaktivität, die der Aufmerksamkeit und Steuerung im normalen Erleben nicht zugänglich ist, wahrzunehmen und sie hilfreich zu beeinflussen. Grundlage für den Einsatz von Neurofeedback sind Befunde über Veränderungen der Hirnströme bei Betroffenen. So soll bei ADHS die Rückmeldung der Aktivität in den Frequenzbändern Theta (Verringerung von 4–8 Hz) und Beta (Steigerung von 13–21 Hz) das Gehirn aktivieren und damit Defizite in der Aufmerksamkeit reduzieren (Theta/Beta-Training oder Frequenzfeedback). Ein weiterer und vermutlich besserer Ansatzpunkt für das Training bei ADHS sind die sog. langsamen Potenziale (LP; slow
M. Holtmann (*) · T. Legenbauer Psychotherapie und Psychosomatik, LWL-Universitätsklinik Hamm für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Ruhr-Universität Bochum, Hamm, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Legenbauer E-Mail: [email protected]
cortical potentials, SCP), die Verarbeitungsprozesse des Gehirns auf äußere Reize (ereigniskorrelierte Potenziale) darstellen. Der eigentliche Wirkmechanismus von Neurofeedback ist noch nicht abschließend geklärt. Wie durch das Training zunächst vorübergehende und dann über die Behandlung hinaus anhaltende Veränderungen des EEGs und der klinischen Symptomatik erreicht werden, bedarf weiterer Untersuchungen. Verschiedene Autoren haben hierzu Hypothesen vorgelegt, deren experimentelle Bestätigung aber noch aussteht. Naheliegend ist es, die Effekte des Neurofeedbacks als Ausdruck sogenannter kortikaler Plastizität zu verstehen; das Training könnte demzufolge zu einer Steigerung der synaptischen Übertragungseffizienz führen.
11.2 Indikationen Die belastbarsten Befunde für die Anwendung von Neurofeedback liegen für den Einsatz als Baustein im Rahmen einer multimodalen Behandlung der ADHS (Holtmann & Legenbauer 2020; Kap. 42) vor. Nach den deutschen S3-Leitlinien für ADHS kann Neurofeedback vor dem Hintergrund der verbesserten Datenlage im Rahmen eines Behandlungsplanes der ADHS bei Kindern und Jugendlichen ergänzend eingesetzt werden, wenn dadurch andere wirkungsvollere Therapien nicht verzögert oder verhindert werden (DGKJP et al. 2018).
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_11
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Neurofeedback wird zudem bei vielen anderen neuro-psychischen Störungsbildern eingesetzt, wie z. B. bei Autismus-SpektrumStörungen, Tics, Migräne und Schlafstörungen, allerdings mit deutlich geringerer Evidenz.
11.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Anhaltende oder schwere unerwünschte Wirkungen von Neurofeedback sind bisher nicht berichtet worden. Selten werden Kopfschmerzen oder Müdigkeit beobachtet, die aber vorübergehend sind.
11.4 Technische Durchführung Während des Neurofeedbacks sitzt der Patienten vor einem Bildschirm, auf dem ihm EEG-Signale entwicklungsgerecht rückgemeldet werden. Abhängig vom Entwicklungsstand und der Ausdauer des Kindes oder Jugendlichen dauert eine Trainingssitzung bis zu einer halben Stunde, unterteilt in mehrere Übungsblocks. Die Veränderung des Hirnstrombildes im Training ist aber nur der erste Schritt; ihm folgt die Übertragung der erlernten Änderungen auf den Alltag. Dazu sollten auch Trainingsdurchgänge ohne Feedback absolviert werden (Transfer); zudem wird die Generalisierung der erlernten Selbstregulation auf den Alltag erprobt, etwa im Schulkontext oder bei den Hausaufgaben. Jeder Therapieplan sollte alle drei Elemente (Training im Labor mit und ohne Rückmeldung und Übertragung in den Alltag) umfassen. Das Training soll Prinzipien der Lerntheorie und Transferübungen zum Übertragen des Erlernten in den Alltag umfassen. Insgesamt sind beim herkömmlichen EEG-Feedback mindestens 25 Sitzungen notwendig; sinnvoll sind Auffrischungssitzungen nach mehreren Wochen, um das Erlernte zu festigen. Neuere Verfahren, etwa mittels MRT-Feedback, benötigen deutlich weniger Trainingsdurchgänge.
M. Holtmann und T. Legenbauer
11.5 Erfolgskriterien Neurofeedback zielt auf eine Verbesserung von klinischen Symptomen über eine erlernte Veränderung des Hirnstrombildes. Der Vergleich von Neurofeedback mit Therapien, die einen ähnlichen zeitlichen Umfang und ein vergleichbares Maß an Zuwendung bieten, gibt Hinweise auf spezifische wie auch auf unspezifische Effekte des Neurofeedbacks (Strehl et al. 2017). Neben der spezifischen Regulation des EEGs sind positive Effekte folgender Einflussfaktoren denkbar: Teilnahme an einer strukturierten Lernsituation, Kontakte zu einem motivierenden Behandler, weitere verhaltenstherapeutische Aspekte des Trainings und die damit verbundenen Erfolgserlebnisse für die Patienten sowie die Erwartungen der Patienten und ihrer Eltern. Solange noch keine guten Prädiktoren zum Ansprechen auf Neurofeedback verfügbar sind, sollte etwa alle zehn Sitzungen gemeinsam mit Kind und Eltern überlegt werden, ob eine Fortführung der Behandlung sinnvoll ist. Dies soll vermeiden, dass Kinder in ein zeitaufwendiges Training eingebunden werden, das für sie nicht hilfreich ist.
11.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Zur Einschätzung des Stellenwertes von Neurofeedback als Behandlungsbaustein für ADHS liegen mehrere Metaanalysen vor. Eine Metaanalyse mit einem strengen methodischen Ansatz, die acht Studien einbezog, zeigte einen bedeutsamen Effekt des Trainings auf die ADHS-Gesamtsymptomatik im Elternurteil bzw. durch vermutlich unverblindete Beurteiler (Sonuga-Barke et al. 2013). In diese Untersuchung gingen aber auch Studien mit nicht allgemein akzeptierten Trainingsprotokollen ein. Für die praktische Anwendung wegweisend ist eine Sekundäranalyse der wenigen methodisch hochwertigen Studien, bei denen u. a.
11 Neurofeedback
tandard-Elektrodenplatzierungen und evidenzS basierte, an verhaltens- und lerntherapeutischen Grundsätzen orientierte Trainingsprotokolle zum Einsatz kamen. In dieser Analyse zeigten sich signifikante, wenngleich kleine, Effekte auch bei Beurteilern, die nicht über die Zuordnung zu den Behandlungsgruppen informiert waren (Cortese et al. 2016). Eine erste Metaanalyse zur längerfristigen Wirksamkeit von Neurofeedback gibt Hinweise auf anhaltende mittlere Effekte nach bis zu einem Jahr (Van Doren et al. 2019; vgl. Aggensteiner et al. 2019). Untersuchungen mittels funktioneller Kernspintomographie (fMRI) belegen und verdeutlichen Effekte des Neurofeedbacks auf die zugrunde liegenden Hirnfunktionen. Hirnregionen, die für die Verhaltenshemmung zuständig sind, sind bei vielen ADHS-Patienten weniger aktiv; Neurofeedback führt zu einer weitgehenden Normalisierung der Aktivierung in diesen Regionen (Baumeister et al. 2018). Ermutigend sind die berichteten Effekte von Neurofeedback auf begleitende ADHSSymptome bei Kindern mit Autismus-SpektrumStörungen (ASS; Holtmann und Bölte 2020). Angesichts der hohen Rate von begleitenden ADHS-Symptomen bei Kindern und Jugendlichen mit ASS sind diese Befunde von besonderer klinischer Relevanz. Hier fügt sich Neurofeedback gut ein in andere etablierte Behandlungsansätze für ASS, die häufig stark strukturiert und an verhaltenstherapeutischen Prinzipien orientiert sind. Für die Behandlung der Kernsymptomatik autistischer Störungen mittels Neurofeedback gibt es keine ausreichende Evidenz. Die Qualität der gegenwärtig angebotenen Behandlungen schwankt stark. Empfehlenswert für Eltern ist es, die jeweiligen Therapeuten nach ihrer Qualifikation zu fragen. Neurofeedback soll nur mittels gut untersuchter Protokolle trainiert werden; dies sind insbesondere das Theta-BetaFeedback und das Feedback der langsamen Potenziale (sog. LP- oder SCP-Training). Sog. „QEEG-basierte“ Protokolle mit z. T. anderen Frequenzbereichen und Platzierungen der Elektroden sollen nicht verwendet werden.
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Trotz der zunehmend besseren Studienlage ist eine Vielzahl von Fragen noch unbeantwortet. Praktisch von großer Relevanz ist, welche Patienten vom Neurofeedback profitieren. Es ist – wie bei anderen Therapien auch – nicht zu erwarten, dass das Training für alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen wirksam ist. Neurofeedback ist bisher in der Regel eine Behandlung, die in Praxen und Klinikambulanzen mit hohem Personaleinsatz angeboten wird. Sinnvoll wäre künftig ein Einsatz auch in der Umgebung, in der sich die Probleme konkret zeigen, etwa bei den Hausaufgaben oder in der Schule. Hierfür ist die Entwicklung von tragbaren Systemen erforderlich, die dennoch den hohen technischen Anforderungen an eine gute EEG-Ableitung entsprechen. Vor dem Hintergrund der verfügbaren Evidenz kann davon ausgegangen werden, dass Neurofeedback in der Behandlung von Patienten mit ADHS-Symptomen künftig ein weiterer Baustein im Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzepts werden wird. Inwieweit Neurofeedback auch bei anderen Störungen eingesetzt werden kann, bei denen Probleme mit der Selbstregulation bestehen, wie z. B. Störungen der Affektregulation, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, aber auch Essstörungen, sollte Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.
Literatur Aggensteiner, P.M., Brandeis, D., Millenet, S., Hohmann, S., Ruckes, C., Beuth, S., Albrecht, B., Schmitt, G., Schermuly, S., Wörz, S., Gevensleben, H., Freitag, C.M., Banaschewski, T., Rothenberger, A., Strehl, U., & Holtmann, M. (2019). Slow cortical potentials neurofeedback in children with ADHD: comorbidity, self-regulation and clinical outcomes 6 months after treatment in a multicenter randomized controlled trial. Eur Child Adolesc Psychiatry. https:// doi.org/10.1007/s00787-018-01271-8. [Epub ahead of print]. Baumeister, S., Wolf, I., Holz, N., Boecker-Schlier, R., Adamo, N., Holtmann, M., Ruf, M., Banaschewski, T., Hohmann, S., & Brandeis, D. (2018). Neurofeedback training effects on inhibitory brain
62 activation in ADHD: A matter of learning? Neuroscience, 378, 89–99. Cortese, S., Ferrin, M., Brandeis, D., Holtmann, D., Aggensteiner, P., Daley, D., Santosh, P., Simonoff, E., Stevenson, J., Stringaris, A., & Sonuga-Barke, E. J. S. (2016). Neurofeedback for attention-deficit/ hyperactivity disorder: Meta-analysis of clinical and neuropsychological outcomes from randomized controlled trials. J Am Academy Child Adolesc Psychiatry, 55(6), 444–455. DGKJP et al. (2018). ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. S3-Leitlinie. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-045.html. Holtmann, M., & Bölte, S. (2020). Neurofeedback bei Autismus-Spektrum-Störungen. In: U. Strehl (Hrsg.), Neurofeedback. Theoretische Grundlagen, praktisches Vorgehen, wissenschaftliche Evidenz. Stuttgart: Kohlhammer. Holtmann, M., & Legenbauer, T. (2020). Weitere Therapieformen (Neurofeedback und Chronotherapie). In: H. Remschmidt & K. Becker (Hrsg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie: Eine praktische Einführung. Stuttgart: Thieme. 511–517. Sonuga-Barke, E. J. S., Brandeis, D., Cortese, S., Daley, D., Ferrin, M., Holtmann, M., Stevenson,
M. Holtmann und T. Legenbauer J., Danckaerts, M., van der Oord, S., Döpfner, M., Dittmann, R.W., Simonoff, E., Zuddas, A., Banaschewski, T., Buitelaar, J., Coghill, D., Hollis, C., Sergeant, J., & European ADHD Guidelines Group (2013). Nonpharmacological interventions for ADHD: systematic review and meta-analyses of randomized controlled trials of dietary and psychological treatments. Am J Psychiatry, 170(3), 275–289. Strehl, U., Aggensteiner, P., Wachtlin, D., Brandeis, D., Albrecht, B., Arana, M., Bach, C., Banaschewski, T., Bogen, T., Flaig-Röhr, A., Freitag, C. M., Fuchsenberger, Y., Gest, S., Gevensleben, H., Herde, L., Hohmann, S., Legenbauer, T., Marx, A.-M., Millenet, S., Pniewski, B., Rothenberger, A., Ruckes, C., Wörz, S., & Holtmann, M. (2017). Neurofeedback of slow cortical potentials in children with Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A multicenter randomized trial controlling for unspecific effects. Frontiers in Human Neuroscience, 11, 135. https://doi.org/10.3389/fnhum.2017.00135. Van Doren, J., Arns, M., Heinrich, H., Vollebregt, M. A., Strehl, U., & Loo, S. K. (2019). Sustained effects of neurofeedback in ADHD: A systematic review and meta-analysis. Eur Child Adolesc Psychiatry, 28(3), 293–305.
Urotherapie bei funktioneller Harninkontinenz tagsüber
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Alexander von Gontard
12.1 Symptomatik Die funktionelle (oder nicht-organische) Harninkontinenz tagsüber wird nach der International Children's Continence Society (ICCS) als intermittierendes Einnässen im Wachzustand bei einem mindestens 5;0 Jahre alten Kind – mit einer Dauer von drei Monaten und einer Frequenz von einmal pro Monat – nach Ausschluss organischer Ursachen definiert (Austin et al. 2016). Wie in Kap. 51 dargestellt, handelt es sich dabei um eine heterogene Gruppe von Störungen, von denen die Dranginkontinenz und die Harninkontinenz bei Miktionsaufschub am häufigsten sind. Urotherapie ist Mittel der ersten Wahl für die Behandlung der Harninkontinenz tagsüber. Urotherapie ist der Sammelbegriff für alle konservativen, nicht-chirurgischen und nicht-pharmakologischen Behandlungsverfahren bei Funktionsstörungen des unteren Harntrakts (Austin et al. 2016). Die Standardurotherapie umfasst folgende Elemente: Information
A. von Gontard (*) Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitäts Saarlandes, Homburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
und Entmystifizierung, Instruktionen zum optimalen Blasen- und Darmentleerungsverhalten, Instruktionen zum Trink- und Ernährungsverhalten, Dokumentation von Symptomatik und Miktionsverhalten und regelmäßige Betreuung und Unterstützung. Die spezielle Urotherapie erfordert eine gesonderte Indikation (Kuwertz-Bröking und von Gontard 2015).
12.2 Verhaltenstherapeutische Ansatzpunkte und Ziele Das Ziel der Urotherapie ist es, eine vollkommene Trockenheit mit einem symptomorientierten Zugang zu erreichen. Eine erfolgreiche Urotherapie steigert Lebensqualität und Selbstwertgefühl und vermindert Leidensdruck wie auch begleitende Verhaltenssymptome. Die Urotherapie integriert viele Aspekte der kognitiven Verhaltenstherapie. Eine Übersicht über die Standard- und spezielle Urotherapie findet sich in Tab. 12.1. Der erste Schritt bei der Standardurotherapie besteht in der Vermittlung von Informationen, Psychoedukation und Beratung. Viele Kinder haben keine adäquaten Vorstellungen von der Anatomie und Funktion des Urogenitaltrakts und ihren Störungen. Die Aufklärung über die Inkontinenz, komorbide Störungen und Therapieoptionen kann für Kinder und Eltern sehr entlastend sein.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_12
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A. von Gontard
Tab. 12.1 Standard- und spezielle Urotherapie (Austin et al. 2016; Kuwertz-Bröking und von Gontard 2015) Elemente der Standardurotherapie (ICCS)
Elemente der speziellen Urotherapie
• Aufklärung, Information, Entmystifizierung • Physiologie der Harnblase • Beschreibung der normalen Blasenfunktion als Reifungsprozess • Charakterisierung der Blasenfunktionsstörung (Pathophysiologie) • Berücksichtigung von Komorbiditäten • Mögliche Therapiekonzepte Anleitung zu einem optimalen Miktionsverhalten, z. B. − Absprache von Regeln bei Miktion − Miktion rechtzeitig, entspannt und mit Zeit − Miktion nach der Uhr Förderung von Wahrnehmungsübungen für die Blase − Anleitung zur regelmäßigen Darmentleerung − Instruktionen zu Trink- und Ernährungsverhalten Anwendung von Protokollsystemen − „Sonne-Wolken-Kalender“ − Toiletten- und Miktionspläne − Kalendersysteme Unterstützung und Begleitung − Regelmäßige Kontakte − Förderung der Motivation − Ansprechbarkeit des therapeutischen Teams • Apparative Verhaltenstherapie (AVT, Alarmtherapie) • Beckenbodentraining • Biofeedbacktraining • Elektrostimulation (z. B. TENS) • Sauberer intermittierender Einmalkatheterismus
Wenn Kinder zu selten auf die Toilette gehen, sollte die Miktionsfrequenz gesteigert werden. Ebenso sollte eine entspannte Miktion angestrebt werden. Die Trinkmenge ist bei vielen Kindern nicht ausreichend und muss gesteigert werden. Obstipation und Einkoten erfordern eine besondere Aufmerksamkeit. Deren Behandlung kann zum Sistieren der Harninkontinenz führen. Toilettentraining und/oder Laxanzien sind dabei Mittel der Wahl (Kap. 51). Der Therapieverlauf wird in entsprechenden Plänen dokumentiert und trägt zur bewussten Wahrnehmung des Therapieerfolgs bei. Die Mitarbeit des Kindes kann mit einem Tokensystem verstärkt werden. Schließlich sind Steigerung der Motivation, Begleitung und Stützung, d. h. eine gute und verlässliche therapeutische Beziehung, entscheidend für den Erfolg. Die spezielle Urotherapie erfordert eine besondere Indikation. Die apparative Verhaltenstherapie bei der Enuresis nocturna wird in Kap. 10 besprochen. Spezielle Zugänge wie Biofeedback bei der Detrusor-SphinkterDyskoordination und transdermale elektrische
Neurostimulation (TENS) bei der Dranginkontinenz werden in Kap. 51 dargestellt.
12.3 Behandlungsplan und Einzelschritte Die Grundprinzipien der Standardurotherapie gelten für alle Kinder mit einer funktionellen Harninkontinenz. Darüber hinaus erfordert jede Subform ein gesondertes Vorgehen. Bei der Dranginkontinenz stehen die kognitive Wahrnehmung des Drangs und der sofortige Toilettengang ohne Einsatz von Haltemanövern im Vordergrund. Bei der Harninkontinenz bei Miktionsaufschub ist die Steigerung der Miktionen auf siebenmal pro Tag das wirksamste Hauptziel (Kap. 51). Die Urotherapie wird überwiegend ambulant durchgeführt, einzeln oder auch in Gruppen. Die Dauer und Frequenz richtet sich nach dem Störungsbild des Kindes. Bei Therapieresistenz stehen darüber hinaus manualisierte Schulungsprogramme zur Verfügung.
12 Urotherapie bei funktioneller Harninkontinenz tagsüber
12.4 Probleme und Nebenwirkungen Es sind keine Nebenwirkung der Standardurotherapie bekannt. Bei der speziellen Urotherapie sind die Motivation und Mitarbeit von Kind und Familie von besonderer Bedeutung.
12.5 Begleit- und Alternativbehandlungen Je nach Indikation kann die Urotherapie von einer Pharmakotherapie begleitet werden (Kap. 51). Auch komorbide somatische und psychische Störungen wie z. B. die häufigste komorbide Störung ADHS (Kap. 42) müssen zusätzlich behandelt werden. Alternativbehandlungen sind nicht wirksam.
12.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Die Standardurotherapie für die Harninkontinenz tagsüber ist nach einer Metaanalyse hoch wirksam (Schäfer et al. 2018). Im Vergleich zur spontanen Remissionsrate von 15 % pro Jahr ist die Wirksamkeit um einen
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Faktor von sieben erhöht. Auch die spezielle Urotherapie hat sich in vielen randomisiert kontrollierten Studien und Metaanalysen als wirksam erwiesen. Dies gilt insbesondere für die apparative Verhaltenstherapie (Kap. 10), TENS und Biofeedback (Kap. 51) (von Gontard 2018). Die Professionalisierung der Urotherapie ist in vielen europäischen Ländern weit vorangeschritten und ist inzwischen auch in Deutschland etabliert.
Literatur Austin, P. F., Bauer, S., Bower, W., Chase, J., Franco, I., Hoebeke, P., Rittig, S., Vande Walle, J., von Gontard, A., Wright, A., Yang, A., & Nevéus, T. (2016). The standardization of terminology of bladder function in children and adolescents: Update report from the Standardization Committee of the International Children’s Continence Society (ICCS). Neurourology and Urodynamics, 35, 471–481. Kuwertz-Bröking, E., & Gontard, A. von. (2015). Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen (S2k Leitlinie). AWMF online. http://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/028-026.html. Schäfer, S. K., Niemczyk, J., von Gontard, A., Pospeschill, M., Becker, N., & Equit, M. (2018). Standard urotherapy as first-line intervention for daytime incontinence: A meta-analysis. European Child and Adolescent Psychiatry, 27, 949–964. von Gontard, A. (2018). Leitfaden Enuresis (3. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Empathie und Mitgefühl
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Hanna Meyer und Charlotte Hanisch
13.1 Allgemeine Beschreibung Der Begriff Empathie umfasst eine kognitive und eine affektive Komponente, wobei die kognitive dazu befähigt, Absichten, Kognitionen und Motive anderer Personen intellektuell zu verstehen (Hineindenken). In diesem Zusammenhang wird häufig von Perspektivenübernahme und Theory of Mind gesprochen. Die affektive Komponente beinhaltet hingegen ein Hineinfühlen oder das tatsächliche Miterleben einer Emotion (Roth 2016). Darüber hinaus lässt sich eine mitfühlende, prosoziale Haltung und Handlungsmotivation vom Hineindenken und Hineinfühlen unterscheiden. Dieser Aspekt kann als Mitgefühl bezeichnet werden. FMRI-Studien zeigen, dass alle drei Aspekte unterschiedliche Gehirnareale aktivieren. Beachtenswert ist, dass nur beim Einnehmen einer mitfühlenden Haltung Gehirnareale aktiviert werden, die mit positiven Emotionen wie Zugehörigkeit, Liebe und Belohnung assoziiert sind (Singer u. Bolz 2013). Die Unterscheidung der Konzepte Empathie und Mitgefühl ist daher auch für den therapeutischen Kontext relevant. H. Meyer (*) · C. Hanisch Lehrstuhl für Psychologie und Psychotherapie in Heilpädagogik und Rehabilitation, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Hanisch E-Mail: [email protected]
Rogers – als Begründer der personzentrierten Psychotherapie – sieht das empathische verstehen, welches im Prinzip alle drei Aspekte beinhaltet, als Voraussetzung für die therapeutische Beziehung und für den Fortschritt des Patienten in der Therapie. Auch in der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen spielen Empathie und das darüber hinausgehende Konzept des nach innen und außen gerichteten Mitgefühls auf verschiedenen Ebenen des Therapieprozesses eine wichtige Rolle • für den Therapeuten selbst (mitfühlende Haltung sich selbst gegenüber), • bei der Entwicklung von Mitgefühl dem Patienten gegenüber, • im Prozess des empathischen Verstehens, • in der Entwicklung einer mitfühlenden Haltung des Patienten sich selbst gegenüber, • in der Entwicklung von Empathie und Mitgefühl des Patienten anderen gegenüber. Das vorliegende Kapitel wird sich besonders auf die letzten drei Aspekte beziehen.
13.2 Indikationen Empathie und Mitgefühl als Basis der therapeutischen Beziehungsgestaltung sind der Kern aller Therapieschulen. Die explizite Förderung kognitiver und affektiver Empathie
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_13
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spielt bei Patientengruppen mit Defiziten in diesen Bereichen eine besondere Rolle (z. B. Autismus-Spektrum-Störungen, Störungen des Sozialverhaltens v. a. mit mangelnder prosozialer Emotionalität). Sowohl bei Patienten mit internalisierenden als auch mit externalisierenden Störungen ist die explizite Förderung von Mitgefühl und Selbstmitgefühl von Bedeutung. Im zweiten Lebensjahr können Kinder eigene Gefühle von denen anderer unterscheiden, was als Voraussetzung für die Entwicklung von Empathie und Mitgefühl gesehen wird. Die Fähigkeit zur kognitiven Empathie entwickelt sich zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, sodass Fördermaßnahmen für diesen Aspekt auch erst dann in Betracht gezogen werden sollten. Daneben ist es im Rahmen präventiver Angebote sinnvoll, die Entwicklung von Empathie und Mitgefühl als wichtigen Bestandteil emotionaler und sozialer Kompetenzen zu fördern.
13.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Da Empathie und Mitgefühl als therapeutische Haltung Einfluss auf den gesamten Therapieverlauf nehmen, können hier die generell mit therapeutischen Veränderungsprozessen einhergehenden Nebenwirkungen angeführt werden (z. B. Veränderungen im familiären Beziehungsgefüge). Das Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte (VEE) als zentrale Intervention im Prozess des empathischen Verstehens kann dazu führen, dass sich Patienten durchschaut und bloßgestellt fühlen. Gegebenenfalls kann es bei Jugendlichen zunächst zu Widerständen führen, wenn Emotionen fokussiert werden oder Formulierungen nicht an die Alltagssprache der Jugendlichen angepasst sind.
13.4 Technische Durchführung Empathie als eine der drei Grundhaltungen der personzentrierten Psychotherapie nach Rogers bedeutet, dass der Therapeut sowohl kognitiv als
H. Meyer und C. Hanisch
auch affektiv versucht, sich in die Erlebenswelt des Patienten hineinzuversetzen, und eine mitfühlende Haltung einnimmt. Empathisches Verstehen ist also als anhaltender Prozess innerhalb der Therapie zu verstehen und wird über aktives Zuhören, nicht wertendes Paraphrasieren und VEE ermöglicht. Letzteres bedeutet, die unterschwelligen Emotionsgehalte des Patienten aufzugreifen und damit zu akzentuieren. Dies ermöglicht eine Validierung der Gefühle, durch die sich der Patient verstanden fühlt. Über das Modell des Therapeuten bei der Verbalisierung von Gefühlen erwirbt der Patient implizit Emotionswissen (z. B. Vokabular) und kann das eigene Verstehens- und Erlebensspektrum erweitern. Gleichzeitig vertieft der Therapeut durch diesen Prozess sein Verständnis für den Patienten. Beim VEE sollte beachtet werden, dass • das Verbalisierte die Wahrnehmung des Therapeuten widerspiegelt, die vom Patienten erst auf ihre Korrektheit hin abgeglichen werden muss. Dies lässt sich durch einen fragenden Tonfall erreichen. Die Äußerung sollte nah am Gesagten liegen und keine Deutung oder Interpretation enthalten; • sie kurz ist und z. B. auf das zuletzt genannte Gefühl fokussiert; • sie für den Patienten verständlich ist (ggf. eingebettet in Alltagssprache). Wahrgenommene Inkongruenzen zwischen dem Gesagten und dem affektiven Ausdruck sollten zurückgemeldet werden, um eine Integration der unterschiedlichen Erlebensinhalte zu ermöglichen. Eine Besonderheit in der Therapie mit Kindern besteht darin, dass VEE häufig während des Spiels passiert. So müssen sich Äußerungen über Emotionsinhalte im Rollenspiel beispielsweise auf die gespielte Figur beziehen („Das Einhorn steckt fest und ist wütend?“). Eine direkte Übertragung auf das Kind im Rollenspiel würde aus dem Erleben hinausführen und könnte zu Widerständen führen (vgl. Behr 2012). Eine explizite Förderung von Empathie und Mitgefühl findet z. B. in präventiven oder
13 Empathie und Mitgefühl
therapeutischen sozialen Kompetenztrainings statt und hat im Rahmen von Interventionen der dritten Welle der Verhaltenstherapie deutlich an Bedeutung gewonnen. Im Folgenden werden Strategien zur expliziten Förderung einzelner Komponenten von Empathie und Mitgefühl, wie sie sich in Trainings- oder Therapiemanualen finden, aufgeführt. Wahrnehmungsschulung und Förderung des Emotionswissens Erhöhung der nicht wertenden Aufmerksamkeit durch Achtsamkeitsübungen, Förderung des Wissens über Gefühle und die Identifikation von Gefühlen bei sich selbst und anderen (z. B. durch psychoedukative Bücher), Erarbeitung eines differenzierten Wortschatzes in Bezug auf Gefühle, Visualisierung unterschiedlicher Gefühlsintensitäten mithilfe eines Gefühlssterns, Thematisierung der Funktion von Gefühlen. Förderung der kognitiven Empathie Fokussierung auf die Wahrnehmung, Absichten, Gefühle und Motive anderer Personen, z. B. durch Gedankenexperimente und gezielte Fragen zum Erleben von unterschiedlichen Personen in comichaften Bildergeschichten (z. B. mithilfe sogenannter False-Belief-Aufgaben), durch das Erstellen von „Social Stories“ oder durch das Analysieren von Problemsituationen und sozialen Hinweisreizen mit Hilfe von „Gedanken- oder Gefühlsdetektiven“. Förderung der affektiven Empathie Fokussierung auf das emotionale Erleben anderer Personen, z. B. durch erlebnisaktivierende Interventionen wie Rollenspiele und Imaginationsübungen, emotionsfokussierte Karten- und Brettspiele, Arbeit mit Selbstanteilen und einem Transfer dieser auf andere Personen. Förderung einer mitfühlenden Haltung nach innen und außen Arbeit mit Selbstanteilen und achtsame Wahrnehmung eigener Bedürfnisse, Erarbeiten von individuellen Strategien zum mitfühlenden Umgang mit sich selbst und anderen (z. B. Liste positiver Aktivitäten).
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13.5 Erfolgskriterien Neben dem Erfolgskriterium einer Symptomreduktion lässt sich ein Erfolg daran erkennen, dass sich der Patient verstanden fühlt und der Therapeut die Erlebenswelt des Patienten nachvollziehen kann. Als weiteres Erfolgskriterium kann eine Zunahme hinsichtlich der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte gelten. Der Erfolg wird wahrscheinlicher, wenn der Therapeut in den Techniken geübt ist.
13.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Für das empathische Verstehen im Sinne personzentrierter Kinder- und JugendlichenPsychotherapie liegen insbesondere für die Behandlung von Anpassungs- und Belastungsstörungen positive Ergebnisse vor (Nuding und Behr 2014). Maßnahmen zur expliziten Förderung von kognitiver und affektiver Empathie stammen aus evaluierten Behandlungs- und Präventionsmanualen zur Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen wie TOMTASS (Paschke-Müller et al. 2013), THAV (Görtz-Dorten und Döpfner 2018) oder Lubo aus dem All! (Hillenbrand et al. 2015). Einer aktuellen Metaanalyse zufolge besteht ein signifikant negativer Zusammenhang zwischen Ängsten und Depressionen bei Jugendlichen und dem Grad ihres Selbstmitgefühls (Marsh et al. 2017). Die explizite Förderung von Mitgefühl und Selbstmitgefühl scheint daher ein vielversprechender Ansatz zur Reduktion von Ängsten und Depressionen bei Jugendlichen zu sein.
Literatur Behr, M. (2012). Interaktionelle Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogrefe. Görtz-Dorten, A., & Döpfner, M. (2018). Therapieprogramm für Kinder mit aggressivem Verhalten (THAV) (2. überarb. u. erw. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
70 Hillenbrand, C., Hennemann, T., Hens, S., & Hövel, D. (2015). „Lubo aus dem All!“ – 1. und 2. Klasse. Programm zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen (3. aktual. u. erw. Aufl.). München: Reinhard. Marsh, I. C., Chan, S. W. Y., & MacBeth, A. (2017). Selfcompassion and psychological distress in adolescents – A meta-analysis. Mindfulness, 9(4), 1–17. Nuding, D., & Behr, M. (2014). Wirksamkeit Personzentriert-Experientieller Kinderund Jugendlichenpsychotherapie. In: Behr, M., Hüsson, D., Nuding, D., & Wakolbinger, C. (Hrsg.), Psychotherapie und Beratung bei Kindern, Jugendlichen, Familien – Personzentrierte Beiträge aus 2 Jahrzehnten (S. 17–21). Wien: Facultas.
H. Meyer und C. Hanisch Paschke-Müller, M., Biscaldi, M., Rauh, R., Fleischhaker, C., & Schulz, E. (2013). TOMTASS Theory-of-MindTraining bei Autismusspektrumstörungen. Heidelberg: Springer. Rogers, C. (1951). Client-centered therapy. London: Constable. Roth, M., Schönefeld, V., & Altmann, T. (Hrsg.). (2016). Trainings- und Interventionsprogramme zur Förderung von Empathie. Ein praxisorientiertes Kompendium. Heidelberg: Springer. Singer, T., & Bolz, M. (Hrsg.) (2013). Mitgefühl in Alltag und Forschung [E-book]. München: Max-Planck-Gesellschaft. http://www.compassiontraining.org
Emotionsregulationstraining
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Anja Görtz-Dorten
14.1 Allgemeine Beschreibung Emotionsregulationstrainings sollen Kindern und Jugendlichen helfen, eigene Emotionen besser zu erkennen und zu regulieren. In der Regel fokussieren diese Trainings auf überschießende Emotionen wie Aggression, Wut und Ärger sowie Traurigkeit; sie können sich aber auch auf andere Gefühle wie Angst oder Schuldgefühle beziehen. Kindern und Jugendlichen mit affektiven Dysregulationsstörungen fällt es schwer, in emotional belastenden Situationen adaptive Strategien zur Emotionsregulation anzuwenden. Negative, unregulierte Emotionen hindern sie dann daran, angemessene Problemlöse- und Emotionsregulationsstrategien einzusetzen. Vor dem Hintergrund eines kognitivbehavioralen Störungsverständnisses setzt die Verminderung von Störungen der Emotionsregulation voraus, dass das Kind/der Jugendliche lernt, eigene Emotionen wahrzunehmen, sie zu erkennen und zu benennen. Zum Identifizieren eines Gefühls gehört, den auslösenden situativen Stimulus zu erkennen. Dieser kann extern oder intrapsychisch sein, er kann direkt,
A. Görtz-Dorten (*) Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]
automatisch, ohne vorherige kognitive Verarbeitung ein Gefühl auslösen oder erst durch die kognitive Interpretation der Situation zum Gefühlsauslöser werden. Das heißt, sowohl Situationen als auch Kognitionen werden als Auslöser eines identifizierten Gefühls untersucht. Werden entsprechende Auslöser auf der emotionalen, körperlichen, kognitiven und interaktionellen Ebene für Situationen identifiziert, die beispielsweise mit einer erhöhten Gereiztheit, Aggression oder Traurigkeit einhergehen, kann das Kind/der Jugendliche lernen, seine Emotionen rechtzeitig unter Anwendung adaptiver Strategien zu regulieren oder zu kontrollieren.
14.2 Indikationen Der Indikationsbereich des Emotionsregulationstrainings ist sehr breit und störungsübergreifend. Die Emotionsregulation kann sich prinzipiell auf alle Gefühle beziehen, wird aber gehäuft bei einer eingeschränkten Steuerung von Aggression, Wut, Ärger, Gereiztheit oder trauriger Verstimmung eingesetzt. Davon können u. a. Patienten mit depressiven Störungen (Kap. 49), mit Affektregulationsstörungen (Kap. 43), mit aggressiv-dissozialen Störungen (Kap. 44), mit selbstverletzendem Verhalten (Kap. 55) und Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen (Kap. 46) profitieren.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_14
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14.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Differenzierte Kriterien zu Kontraindikationen liegen nicht vor. Allerdings können Emotionsregulationstrainings bei nicht sachgerechter Durchführung Nebenwirkungen haben. Sie können zu Überforderung führen, wenn das kognitive Entwicklungsniveau dafür beim Kind/ Jugendlichen nicht hinreichend vorhanden ist.
A. Görtz-Dorten
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14.4 Technische Durchführung Für das diagnostische Vorgehen ist es hilfreich, das Kind oder den Jugendlichen zu konkreten Situationen zu befragen, in denen die belastende Emotion auftritt und mit welcher Häufigkeit bzw. Intensität dies geschieht. Zur Einschätzung der Intensität bietet sich die Einführung einer Skalierung an (z. B. eines Gefühlsthermometers mit einer Skala von 0 = nicht stark bis 10 = ganz intensiv). Gedanken, die Emotionen auslösen oder ihnen nachfolgen, werden identifiziert. Ein altersgemäßes Vorgehen ist dabei sehr wichtig, beispielsweise können Wut-Brillen und Cool-Brillen Kindern verdeutlichen, welchen Einfluss Kognitionen auf Emotionen haben (vgl. Görtz-Dorten und Döpfner 2019). Des Weiteren ist eine sorgfältige Exploration adaptiver und defizitärer, hilfreicher und nicht hilfreicher Emotionsregulationsstrategien in dieser spezifischen Situation notwendig. Dazu können auch (elektronische) Tagebücher (Kap. 26) eingesetzt werden. Gemeinsam mit dem Kind/Jugendlichen (evtl. auch unter Einbeziehung von Bezugspersonen) wird erarbeitet, welche potenziellen anderen Strategien zur Emotionsregulation für die Situation zur Verfügung stehen. Dabei können folgende adaptive Strategien zur Emotionsregulation unterschieden werden (vgl. Grob und Smolenski 2009): • Strategien problemorientierten Handelns: In einer emotional belastenden Situation versucht der Betroffene aktiv, die Bedingungen, die als Auslöser für die belastende Situation
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identifiziert wurden, zu verändern und das Beste aus der Situation zu machen. Strategien zur Zerstreuung: Die Gefühlsregulation erfolgt durch Beschäftigung mit etwas Angenehmen (etwas, das Spaß macht oder das erfreut). Strategien zur Anhebung der Stimmung: Stimmungsregulation durch Gedanken oder Erinnerungen an Dinge, die glücklich machen oder fröhlich sind. Strategien zur Erhöhung der Akzeptanz: Der Betroffene versucht, die Auslöser der emotional belastenden Situation zu akzeptieren und „das Beste“ daraus zu machen. Strategien zum Vergessen: Mitunter kann es hilfreich sein, wenn Kinder/Jugendliche versuchen zu vergessen, was sie wütend, gereizt oder traurig gemacht hat, und unterstützende Kognitionen (z. B. „Ich denke mir, dass es auch wieder vorbei geht“) anwenden. Strategien der Umbewertung: Durch kognitive Strategien versucht der Betroffene, das Problem als nicht so gravierend oder schrecklich einzustufen und es als nicht so wichtig zu bewerten. Strategien der kognitiven Problemlösung: Im Rahmen der kognitiven Problemlösung können mit dem Kind/Jugendlichen Strategien erarbeitet werden, wie mit dem Problem umgegangen werden könnte.
Diese Regulationsstrategien überschneiden sich mit Strategien zum Aufbau von Stresstoleranz aus der dialektisch-behavioralen Therapie für Adoleszente (DBT-A, Fleischhaker et al. 2010): • Ablenkung durch anstrengende Aktivitäten, die Aufmerksamkeit erfordern, mit dem Ziel, die belastende Situation nicht mehr so belastend zu erleben und eine innerliche Distanzierung hervorzurufen; • sich beruhigen durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Spüren mit dem Ziel der Spannungsreduktion durch Aufmerksamkeitsfokussierung über alle Sinne; • Veränderung des als belastend erlebten Augenblicks durch eine Entspannungsübung, Fantasiereise oder Selbstermutigung;
14 Emotionsregulationstraining
• Pro-Contra-Abwägung von positiven und negativen Konsequenzen unter Berücksichtigung von Kurz- und Langfristigkeit mit dem Ziel, Abstand zu gewinnen und eine Entscheidung aus der Distanz treffen zu können; • Lenkung der Aufmerksamkeit auf eine Sache, auch wenn man durch negative Gedanken oder Gefühle gestört wird, z. B. durch den Einsatz einer Achtsamkeitsübung (Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Körperhaltung, den Atem). Als nächster Schritt werden Lösungsstrategien nach Vor- und Nachteilen sowie hinsichtlich der Realisierbarkeit bewertet. Wenn negative Gefühle in der Therapiesitzung auftreten oder gezielt ausgelöst werden (Emotionsexposition), werden diese Strategien dann, sofern möglich, angewandt oder im Rollenspiel (Kap. 31) eingeübt und später dann in den Alltag mit Hilfe von Therapieaufgaben (Kap. 17) implementiert. Häufig wird ein Emotionsregulationstraining mit einem Problemlösetraining (Kap. 25) und einem Training sozialer Fertigkeiten (Kap. 31 und 34) kombiniert, da die Emotionsverarbeitung eng mit der s ozial-kognitiven Informationsverarbeitung verbunden ist und die für die Ausführung mancher Strategien zur Emotionsregulation erforderlichen sozialen Fertigkeiten häufig erst erlernt werden müssen. Zusätzlich können Selbst- und Fremdverstärkungstechniken sowie positive Selbstinstruktionen (Kap. 20, 24 und 27) zur Optimierung der Umsetzung in den Alltag eingesetzt werden.
14.5 Erfolgskriterien Der Erfolg von Emotionsregulationstrainings ist danach zu bewerten, ob sie zu einer Verbesserung des Umgangs mit Gefühlen beitragen konnten. Dazu kann auch gehören, dass
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bisherige Fehlinterpretationen einer Situation durch nunmehr realistische, situativ-interpretierende Kognitionen ersetzt worden sind und deshalb kein Anlass mehr zu dysfunktionalen Gefühlen besteht. Wenn vor dem Training Situationen gesammelt werden, in denen das Kind/der Jugendliche bisher dysfunktional mit den Gefühlen umgegangen ist, und wenn Ist- und Sollzustand festgelegt werden, so lässt sich der Therapieerfolg anhand einer Zielerreichungsskalierung individuell feststellen. In diesem Zusammenhang sollten auch Rückmeldungen von Bezugspersonen erhoben werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Bewertungen mit den Beteiligten zu diskutieren.
14.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Emotionsregulationstrainings ohne Einbettung in eine verhaltenstherapeutische Gesamtstrategie wurden bislang kaum auf ihre spezifische Wirksamkeit hin untersucht. Bei sozialen Kompetenztrainings für aggressiv auffällige Kinder (z. B. Therapieprogramm für Kinder mit aggressivem Verhalten, THAV; G örtz-Dorten und Döpfner 2019a) und im Rahmen der dialektisch-behavioralen Therapie sind Emotionstrainings jedoch meist integraler Bestandteil (vgl. Garland et al. 2008). Diese Interventionen können als gut bewährt eingeschätzt werden. Nach eigener therapeutischer Erfahrung sind Emotionstrainings ein wichtiger therapeutischer Bestandteil bei Kindern und Jugendlichen mit affektiven Dysregulationen. Die Umsetzung von in der Therapie entwickelten Emotionsregulationsstrategien ist jedoch auch eine große Herausforderung, weil es Kindern und Jugendlichen nicht nur aufgrund ihrer Störung, sondern
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auch altersbedingt schwerfällt, entsprechende Strategien einzusetzen. Daher können unter anderem auch digitale Systeme hilfreich sein, welche die Anwendung von Bewältigungsstrategien im Alltag unterstützen (z. B. anhand der App-unterstützten Therapiearbeit für Kinder, AUTHARK; Görtz-Dorten und Döpfner 2019b)
Literatur Fleischhaker, C., Sixt, B., & Schulz, E. (2010). DBT-A. Dialektisch-behaviorale Therapie für Jugendliche. Heidelberg: Springer.
A. Görtz-Dorten Garland, A. F., Hawley, K. M., Brookmann-Frazee, L., & Hurlburts, M. S. (2008). Identifying common elements of evidence-based psychosocial treatments for children’s disruptive behavior problems. Journal of American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 47(5), 505–514. Görtz-Dorten, A., & Döpfner, M. (2019a). Therapieprogramm für Kinder mit aggressivem Verhalten (THAV) (2. erw. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Görtz-Dorten, A., & Döpfner, M. (2019b). App-unterstützte Therapie-Arbeit für Kinder (AUTHARK). Version 1.0, von www.authark-app.de. Grob, A., & Smolenski, C. (2009). Fragebogen zur Erhebung der Emotionsregulation bei Kindern und Jugendlichen – FEEL-KJ (2. aktual. u. erg. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Entspannungsverfahren und Achtsamkeit
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Angelika A. Schlarb
15.1 Allgemeine Beschreibung Entspannungsverfahren zielen auf eine Reduktion der Anspannung ab. Zu den Entspannungsverfahren werden die klassischen Methoden wie Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training sowie imaginative Verfahren gezählt. Auch achtsamkeitsbasierte Verfahren sowie hypnotherapeutische Methoden können zur Entspannung eingesetzt werden. Während beim Achtsamkeitstraining die Kinder und Jugendlichen üben, ihre Aufmerksamkeit im „Hier und Jetzt“ und somit in der Gegenwart zu halten, werden in der Hypnotherapie eher Vorstellungsbilder, die mit Entspannung assoziiert sind, verwendet. Im Allgemeinen werden Entspannungstrainings entweder singulär oder in kombinierter Form als Standardelemente in der Verhaltenstherapie eingesetzt. Ziel ist dabei, die Anspannung zu reduzieren und parasympathische Aktivitäten zu erhöhen. Damit einhergehend werden in der Regel unter anderem eine Verlangsamung der Atmung, Verringerung der Muskelanspannung sowie eine Blutdrucksenkung erzeugt. Zudem werden subjektive Aspekte hinsichtlich der erlebten Entspannung von den Kindern und
A. A. Schlarb (*) Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
Jugendlichen berichtet. So wird meist über mehr Ausgeglichenheit, größere innere Ruhe und weniger Erschöpfung oder Anspannung berichtet. Auf übergeordneter Ebene wird die wahrgenommene Selbstkontrolle erhöht, da die Kinder und Jugendlichen berichten, dass sie den Eindruck haben, physiologische Vorgänge und damit zusammenhängend auch psychologische Zustände besser steuern zu können, während sie zuvor meist als unbegrenzbar bzw. unsteuerbar wahrgenommen wurden.
15.2 Indikationen Der Einsatz von Entspannungselementen oder achtsamkeitsbasierten Verfahren ist bei vielen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungskonzepten zu verzeichnen. Standardmäßig werden bei Stressbewältigungsprogrammen Entspannungsmodule eingesetzt, um die mit dem Stress assoziierte Anspannung zu reduzieren (Hampel und Petermann 1998; Klein-Heßling und Lohaus 2012). Entspannungstechniken werden bei der Behandlung von Angststörungen (Kap. 59, 62) sowie von depressiven Störungen (Kap. 49) und auch bei externalisierenden Störungen wie beispielsweise hyperkinetischen Störungen (Kap. 42) oder Störungen des Sozialverhaltens (Kap. 44) eingesetzt. Weitere Einsatzbereiche sind unter anderem Schmerzstörungen (Kap. 57), Schlafstörungen (Kap. 56)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_15
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sowie Störungen mit körperlicher Symptomatik (Neurodermitis, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen). Allgemein kann man unterschiedliche Entspannungstechniken für Kinder und Jugendliche voneinander abgrenzen (Petermann 2010). Einmal werden eher sensorische bzw. körperorientierte Verfahren genannt, wie beispielsweise die Progressive Muskelrelaxation, welche gerade jüngere Kinder auch gut erlernen können, wenn sie mit einfachen Instruktionen vermittelt werden. Imaginative Verfahren werden meist als Fantasiereisen deklariert, welche jedoch auch hypnotherapeutisch anmutend sein können. Gerade für Kinder und Jugendliche ist eine eher imaginative Adaptation sehr sinnvoll und hilfreich, wie sie beispielsweise mit den Kapitän-Nemo-Geschichten schon vor längerer Zeit umgesetzt wurden (Petermann 2016). Zu diesen eher kognitiv orientierten Verfahren zählen das Autogene Training, welches auch als Selbstinstruktionstraining gesehen werden kann (Kap. 27), sowie meditative Verfahren. Neben Neurofeedback zur Entspannung, welches beispielsweise im Rahmen von Schmerzbewältigungstrainings eingesetzt wird (Kap. 57), werden mittlerweile auch adaptierte achtsamkeitsorientierte Verfahren in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verwendet. Zu betonen ist, dass Entspannungstechniken nicht als alleinige Interventionsverfahren eingesetzt werden sollten, sondern immer als Bestandteil einer komplexeren Therapie gelten. Bei der Umsetzung ist wichtig, darauf zu achten, dass die Technik gut erlernt wird, sodass insgesamt die Anspannung reduziert werden kann und vor stressigen Ereignissen vom Kind bzw. Jugendlichen gegensteuernde Maßnahmen ergriffen werden können. Aus diesem Grund sind auch beim Erlernen von Entspannungstechniken Übungsprotokolle sinnvoll und sollten zur Lernkontrolle eingesetzt werden (Kap. 26). Zudem sollte gegebenenfalls über verstärkende Elemente nachgedacht werden (Kap. 24, 27), um das Kind zum Üben zu animieren.
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15.3 Nebenwirkungen und Kontraindikationen Unerwünschte Wirkungen sind in der Anwendung bei oben genannten Störungen nicht bekannt. Kontraindikationen bestehen nicht, es sollte jedoch auf die Intensität der Störung Rücksicht genommen werden. Sind die Kinder oder Jugendlichen so stark beeinträchtigt, dass eine Teilnahme nicht möglich ist – beispielsweise durch eine zu hohe medizinische Einschränkung bei chronischen Erkrankungen – sollte das Erlernen von Entspannungstechniken ggf. auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Auch kann bei Vorliegen einer akuten posttraumatischen Belastungsstörung das sofortige Erlernen von Entspannungstechniken kontraindiziert sein, da zuerst andere therapeutische Interventionen umgesetzt werden sollten. Zu betonen ist auch der altersorientierte Einsatz der oben dargestellten Verfahren. Insbesondere bei Verfahren wie dem Autogenen Training oder achtsamkeitsbasierten Verfahren sollte genau auf die Altersgruppe geachtet werden, da sehr junge Kinder sich noch nicht so gut und lange konzentrieren oder ruhig verhalten können. Dies sollte bei der Planung und Umsetzung in der Therapie beachtet und beispielsweise bei jungen Kindern mit einer Dauer von ca. 2 min begonnen werden. Während der Therapie kann dann die Zeitspanne langsam und schrittweise ausgedehnt werden.
15.4 Technische Durchführung Zur Vorbereitung sollten das Kind sowie die Eltern über Hintergrund und Ziel des Entspannungsverfahrens aufgeklärt werden. Zudem sollte hinsichtlich der Effekte auf die Bedeutsamkeit des Einübens bzw. regelmäßigen Übens hingewiesen werden, und die Eltern sollten dazu angeleitet werden, das Kind je nach Alter
15 Entspannungsverfahren und Achtsamkeit
intensiv beim Üben zu begleiten bzw. auf das Einhalten der Übungen zu achten. Je nach Alter sollten die einzelnen Entspannungssequenzen gegebenenfalls zu Beginn sehr kurz sein bis hin zu längeren Übungseinheiten bei Jugendlichen, die durchaus auch eine längere Zeit gut durchhalten können. Bei eher körperorientierten bzw. handlungsorientierten Verfahren wie der Progressiven Muskelrelaxation stellt die Mischung von Anspannung und Entspannung (im Verhältnis von ca. 3:10) ein leicht zu erlernendes Verfahren dar und kann gut mit imaginativen Elementen ergänzt werden. Die Kinder sollen dezidiert hinsichtlich der Wahrnehmung des Anspannungszustands und des entspannten Muskelzustands angeleitet werden. Sehr hilfreich ist hier der Einsatz von Modelllernen (Kap. 23). Je nach Alter kann das Vorgehen in größere Muskelgruppen wie z. B. Beine, Arme etc. eingeteilt werden, und die Übungen können wiederholt werden (je höher das Alter, desto mehr Wiederholungen sind möglich). Bei Kindern im Vorschulalter sind ca. zwei bis drei Wiederholungen sinnvoll, während Jugendliche durchaus einem kleinschrittigeren Vorgehen folgen sowie mehr Wiederholungen durchführen können. Beim Einsatz eines Autogenen Trainings sollte sehr auf eine kindgerechte Adaptation geachtet werden, da hierbei die Selbstinstruktion sowie die Konzentrationsfähigkeit eine erhöhte und maßgebliche Rolle spielen. Für sehr junge Kinder können in diesem Zusammenhang auch Reime verwendet werden. Zudem ist die Kombination mit imaginativen Verfahren gerade beim Einsatz solcher Verfahren höchst sinnvoll. Achtsamkeitsbasierte Verfahren hingegen basieren auf der bewussten Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Gegenwart. Die Kinder und Jugendlichen lernen, ihre Wahrnehmung auf die gegenwärtige Situation bzw. gegenwärtiges Erleben zu lenken. Hierbei werden internale Faktoren (Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen) sowie externale Faktoren (Geräusche, wahrgenommene Gegenstände, Gerüche) adressiert. Bei diesem Prozess werden die Sinnesmodalitäten visuell, akustisch, kinästhetisch, olfaktorisch und gustatorisch
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angesprochen. In der kindgerechten Adaptation können dies Übungen mit Objekten sein (Fühlen, Klänge, Gerüche von Materialien etc.), wie in Tab. 15.1 dargestellt wird.
15.5 Erfolgskriterien Neben der subjektiv wahrgenommenen Anspan nungsverringerung kann auch die objektive Verminderung der Anspannung als Erfolgskriterium genannt werden. Emotionale Erregungszustände, wie sie bei Ängsten oder auch bei aggressiven Verhaltensweisen auftreten, werden eher reduziert, meist geht dies mit einer Verbesserung von kognitiven Funktionen wie Konzentrationsfähigkeit einher. Zudem kann eine reduzierte Symptomatik hinsichtlich der Störungsproblematik als Erfolgskriterium aufgeführt werden. Beispielsweise werden weniger Ängste, mehr Gelassenheit und weniger Anspannungsempfindungen bei internalisierenden Störungen und eine größere Ruhe und Selbstregulation bei externalisierenden Störungen benannt. Dies wird meist vom Kind oder Jugendlichen selbst, aber auch von den Eltern als deutlich wahrnehmbarer Effekt beschrieben.
15.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Der Einsatz von Entspannungstechniken im Rahmen von Behandlungsprogrammen hat sich als effektiv erwiesen. Dies wird sowohl anhand von Überblicksarbeiten (z. B. von der Embse et al. 2013) als auch im Rahmen von Behandlungsstudien einzelner Störungsbilder aufgezeigt. So können bei internalisierenden Störungen wie Prüfungsangst, Phobien, Trennungsängsten und depressiven Störungen durch die Anwendung von Entspannungsverfahren die Symptome in bedeutsamer Weise reduziert werden. Auch hinsichtlich einer allgemeinen Stressreduktion, welche oft im Rahmen von unterschiedlichen Störungsbildern eine Rolle spielt, liegen gleichartige Ergebnisse vor (Beyer und Lohaus 2018; Lohaus und
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Tab. 15.1 Achtsamkeitsübungen für Kinder Externale Faktoren Geräusche
Aufbau Es werden verschiedene Gegenstände mit unterschiedlichem Echo bzw. Nachhall benutzt, z. B. eine Klangschale, eine Trommel und ein Luftballon, aus dem die Luft herausgelassen wird
Fühlen/ertasten
Die Kinder bekommen verschiedene Gegenstände mit unterschiedlichen Oberflächen zum Ertasten (Stofftier, Steinchen, Glasstücke, Blätter, Gummi etc.). Schwierigkeitsgrade können durch die Ähnlichkeit der Oberflächenstruktur oder durch andere Wahrnehmungsflächen (z. B. mit den Füßen, dem Unterarm) geschaffen werden Schalen mit unterschiedlichen geruchsbasierten Substanzen werden präsentiert. Anschauungsbilder dienen zur Überprüfung. Ähnlich zum Ertasten: Schwierigkeitsgrade können durch die Ähnlichkeit generiert werden
Gerüche
Internale Faktoren Körperempfindungen Die einzelnen Körperregionen können angeleitet durch den Therapeuten adressiert werden
Gedanken
Gedanken sollen vom Kind oder Jugendlichen wahrgenommen werden. Es kann auf die Anzahl der Gedanken oder die Art der Gedanken geachtet werden
Gefühle
Die gegenwärtigen Gefühle sollen genauer betrachtet und wahrgenommen werden. Dies kann gut im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Gedanken geschehen. Vor allem bei jungen Kindern ist eine solche Kombination sinnvoll
Klein-Heßling 2003). Ähnliches lässt sich für Schmerzstörungen und für externalisierenden Störungen wie Hyperaktivität oder Aggressivität belegen (z. B. Goldbeck und Schmid 2003). Auch achtsamkeitsbasierte Methoden erzielen signifikante Effekte bei Angstsymptomatik und bei anhaltenden Schmerzstörungen.
Instruktion Kinder sollen versuchen, die Dauer des Geräuschs wahrzunehmen, und aufzeigen, wenn das Geräusch verebbt. Hierzu können die Augen geschlossen werden und per Handzeichen das Signal gegeben werden Das kinästhetische Erleben kann mit verbundenen Augen oder hinter dem eigenen Rücken erspürt werden
Die Kinder können die Geruchssubstanz mit einer bildlichen Darstellung vergleichen, z. B. Zitronenduft und Memorybild einer Zitrone
Je nach Alter können Vorschläge unterbreitet werden, die den Wahrnehmungsprozess unterstützen (z. B. fest wie ein Ball oder eine Gummimatte, warm wie die Sonnenstrahlen etc.) Der Therapeut kann auch bei dieser Übung durch bildhafte Beispiele das Wahrnehmen des Kindes unterstützen. Viele Gedanken wie auf der Kreuzung in einer großen Stadt, in der jedes Auto in eine andere Richtung will, oder „ein Gedanke nach dem anderen, so wie Wolken am Himmel vorbeiziehen“ Ähnlich wie bei der Gedankenübung kann bei diesem Teil der Übung die Wahrnehmung der Gefühle angeregt werden. Der Therapeut kann durch die Nennung der Gefühle auch hierbei eine Unterstützung bieten. Zudem können Farbbeispiele beispielsweise im Rahmen von Bildern eine Zuordnung von „gut“ und „schlecht“ relativieren, da ein Bild durch die Farbenvielfalt gewinnt
Entspannungsverfahren sind meist Teil eines umfassenderen und multimethodalen Behandlungsprogramms, und daher muss die Effektivität im Gesamtzusammenhang gesehen werden. Im Allgemeinen werden jedoch adaptierte Entspannungsverfahren von den Kindern und Jugendlichen sehr gut angenommen.
15 Entspannungsverfahren und Achtsamkeit
Literatur Beyer, A., & Lohaus, A. (2018). Stressbewältigung im Jugendalter. Göttingen: Hogrefe. Goldbeck, L., & Schmid, K. (2003). Effectiveness of autogenic relaxation training on children and adolescents with behavioral and emotional problems. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 42(9), 1046–1054. Hampel, P., & Petermann, F. (1998). Anti-Streß-Training für Kinder. Weinheim: Psychologie Verlags Union. Klein-Heßling, J., & Lohaus, A. (2012). Stresspräventionstraining für Kinder im Grundschulalter. Göttingen: Hogrefe.
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Lohaus, A., & Klein-Heßling, J. (2003). Relaxation in children: Effects of extended and intensified training. Psychology and Health, 18(2), 237–259. Petermann, U. (2016). Die Kapitän-Nemo-Geschichten. Geschichten gegen Angst und Stress. Göttingen: Hogrefe. Petermann, U. (2010). Entspannungstechniken für Kinder und Jugendliche. Weinheim: Beltz. Von der Embse, N., Barterian, J., & Segool, N. (2013). Test anxiety interventions for children and adolescents: A systematic review of treatment studies from 2000–2010. Psychology in the Schools, 50(1), 57–71.
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Exposition und Konfrontation Hendrik Büch
16.1 Allgemeine Beschreibung Exposition oder Konfrontation ist eine verhaltenstherapeutische Technik, bei der die Kinder und Jugendlichen angeleitet werden, sich systematisch und wiederholt genau jenen Situationen oder Reizen auszusetzen, die sie im Alltag vermeiden, weil sie große Ängste, Ekel oder Unwohlsein auslösen (Hennemann et al. 2018). Durch das Vermeidungsverhalten machen sie nicht die Erfahrung, dass sie die Situation eigentlich bewältigen und aushalten können. Man unterscheidet die Exposition in vivo (in der Realität) von der Exposition in sensu (in der Vorstellung, z. B. durch Imaginationsübungen). In neueren Ansätzen werden auch Konzepte entwickelt, Exposition in virtuellen Realitäten durchzuführen (VR). Die Exposition in vivo hat sich als besonders wirksam erwiesen (Hennemann et al. 2018). Dennoch gibt es Situationen oder Stimuli, mit denen die Betroffenen in der Realität nicht gut konfrontiert werden können. Dies sind zum Beispiel traumatische Ereignisse (Kap. 53) oder Prüfungssituationen (Kap. 59), in
H. Büch (*) Freiburger Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg (Fakip GmbH), Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
denen es um eine Bewertung, das Bestehen oder um einen Erfolg geht. Für solche Situationen oder Stimuli hat sich die Exposition in sensu bewährt, bei denen die Szenarien in der Vorstellung durchgespielt werden und dadurch eine Exposition mit der gefürchteten Situation stattfindet. Die Präsentation in virtuellen Realitäten ist eine noch neue Möglichkeit, die es ermöglicht, durch eine Datenbrille die Reize in möglichst realistischer Umgebung zu präsentieren (Kap. 36). Vorteil dieser Art der Präsentation ist, dass die Art und die Intensität der angstauslösenden Reize genau kontrolliert werden kann. Die Intensität der Exposition kann gestuft (graduiert) oder massiert erfolgen. Bei der graduierten Vorgehensweise beginnt man mit einer Situation, die nur leichte oder mittlere Angst auslöst, und wählt dann Schritt für Schritt weitere Situationen, die stärkere Angst auslösen und schwieriger sind. Bei der massierten Konfrontation (auch Flooding) beginnt man mit den am stärksten Angst auslösenden Reizen. Das klassische Therapierational der Exposition und Konfrontation ist das der Habituation. Dabei soll das Kind die Erfahrung machen, dass die Angst sinkt, wenn es sich der Situation stellt und diese trotz der Angst aushält. Nach dem Modell der Habituation wird die Expositionsübung so lange durchgeführt, bis eine Angstreduktion von mindestens 50 % erfolgt ist. Allerdings kann dieses psychologische Wirkprinzip nur bei Monophobien (z. B. Spinnenangst) wirksam eingesetzt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_16
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werden, während es bei komplexen Phobien bei der Exposition eher um ein Lernen von Angstmanagement geht. Wissenschaftliche Befunde legen dementsprechend nahe, dass das Ausmaß der Angstreduktion während einer Exposition nicht ausschlaggebend für eine dauerhafte Extinktion der Angst ist. Von Bedeutung ist beispielsweise inhibito risches Lernen (Craske 2015; Mohr und Schneider 2015). Dabei geht es nicht darum, die gelernte Verbindung zwischen einem konditionierten Reiz (CS) und der dadurch ausgelösten konditionierten Furchtreaktion (CR) zu löschen. Stattdessen soll durch neue Erfahrungen und Neulernen hemmend auf die konditionierte Reaktion eingewirkt werden. Dabei ist es vor allem wichtig, dass die Betroffenen in der Exposition die Erfahrung machen, dass ihre Erwartungen nicht eintreffen (z. B., dass der Hund nicht beißt oder die Verkäuferin nicht lacht), und dies unabhängig davon, ob eine Angstreduktion während der Expositionsübung stattfindet oder nicht. Wichtig ist auch, dass die Patienten die Angst vor der Angst verlieren, d. h., dass sie ihre Angstbereitschaft und -reaktion generell unter Kontrolle bekommen (Reaktionsstatt Stimulusexposition). Exposition ist womöglich dann wirkungsvoller und Rückfälle können eher vermieden werden, wenn die Übungen zeitnah aufeinander erfolgen und durch Kombination verschiedener angstauslösender Reize vertieft werden. Auch sollte Sicherheitsverhalten von Anfang an weggelassen werden (z. B. das Handy, um die Mutter zu erreichen). Die Variabilität kann erhöht werden, indem die aversiven Reize nicht graduiert, sondern in zufälliger Reihenfolge präsentiert werden oder die Expositionsübungen in verschiedenen Kontexten (z. B. unterschiedliche Umgebungen, mit oder ohne Therapeut oder Therapeutin) durchgeführt werden.
16.2 Indikationen Expositions- und Konfrontationstechniken werden bei einer Vielzahl von Störungsbildern erfolgreich eingesetzt. Bei den Angst- (Kap. 59,
H. Büch
61, 62) und Zwangsstörungen (Kap. 64) sowie posttraumatischen Belastungsstörungen (Kap. 53) gehören sie zu den wirksamsten Techniken. Aber auch bei Essstörungen (z. B. Körperbildexposition) (Kap. 45) sowie bei der Rückfallprophylaxe von Abhängigkeitserkrankungen und Verhaltenssüchten (z. B. Cue Exposure) (Kap. 63) haben sich Expositionstechniken bewährt.
16.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Als Nebenwirkung kommt es durch die intensive Auseinandersetzung mit der Angst vorübergehend immer zu einer Symptomverschlechterung. Es kann auch überdauernd zu einer Verstärkung der Angstreaktion kommen (Kap. 7). Kontraindikationen können bei Patienten oder Patientinnen mit Psychosen und bei körperlichen Erkrankungen wie Epilepsie, Asthma oder Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems bestehen. In solchen Fällen sollte das Vorgehen mit einem Arzt oder einer Ärztin abgesprochen werden. Vorsicht ist auch geboten bei Patienten mit erhöhter Konditionierbarkeit und vegetativer Labilität, weil bei ihnen dadurch ein „Angstverlernen“ erschwert ist.
16.4 Technische Durchführung 16.4.1 Vorbereitung auf die Exposition Zuerst werden die angstauslösenden Situationen identifiziert und eine Angsthierarchie erstellt. Die Situationen können nach der Schwierigkeit gestuft auf einem Angstthermometer eingetragen werden (siehe z. B. Büch und Döpfner 2012). Das Bild eines Thermometers, das die Angst messen kann, analog dem Fieberthermometer, das die Temperatur misst, eignet sich vor allem bei jüngeren Kindern als Metapher. Wichtig ist, dass das Kind das Therapierational der Exposition gut verstanden hat. Es wird
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vermittelt, dass das Vermeidungsverhalten zwar kurzfristig die Angst reduziert, langfristig die Symptomatik aber aufrechterhält. Daraus wird das Expositionsmodell abgeleitet, indem gemeinsam erarbeitet wird, dass die Angst (oder das aversive Gefühl) langfristig sinkt und weggeht, wenn man sich wiederholt mit der Situation oder dem Reiz konfrontiert und dadurch die Erfahrung macht, dass die befürchteten Konsequenzen nicht eintreten. Der Angstverlauf während der Expositionsübung kann grafisch in einer Angstverlaufskurve dargestellt werden. Bei jüngeren Kindern eignen sich dazu Lego- oder Bausteine, mit denen Türme gebaut werden und somit der Angstverlauf über die Zeit veranschaulicht wird (Büch und Döpfner 2012).
16.4.2 Durchführung der Expositionsübungen Nach der Erarbeitung eines gemeinsamen Behandlungskonzeptes werden die einzelnen Expositionsübungen durchgeführt. In der Regel wird bei Kindern ein graduiertes Vorgehen gewählt. Dabei wird mit einer Situation mit geringer bis mittlerer Angststärke begonnen und dann die Intensität Schritt für Schritt gesteigert. Alternativ können die weiteren Übungen auch in zufälliger Reihenfolge mit wechselnder Intensität erfolgen. Vor der Übung werden die individuellen Befürchtungen nochmals wiederholt und benannt. Dann erfolgt die Instruktion, dass es nun in der Übung darum geht zu erfahren, dass man die Angst aushalten kann und nichts Schlimmes passiert. Die Höhe und der Verlauf der Angst oder des aversiven Gefühls können vor, während und nach der Übung erfragt werden und in einem Expositionsprotokoll festgehalten werden. Die Übung wird so lange durchgeführt, bis das Kind überzeugt davon ist, dass die Befürchtung nicht eintritt oder die Angst deutlich gesunken ist. Sicherheitsverhaltensweisen während der Expositionsübungen sollten vermieden werden. Nach der Expositionsübung wird reflektiert, ob die Befürchtung eingetreten ist. Die Betroffenen
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werden dafür gelobt, dass sie sich der Situation ausgesetzt und die Angst oder das aversive Gefühl ausgehalten haben. Die Übungen sollten zeitlich eng beieinander liegen und wiederholt werden. Dabei können die Situation oder der Angstreiz variiert werden (z. B. verschiedene Hunde bei einer Hundephobie). Expositionsübungen können intensiviert werden, indem verschiedene Angstreize erst einzeln und dann miteinander kombiniert werden (vertiefte Extinktion nach Craske 2015). So kann z. B. bei einer sozialen Angst zuerst das Ansprechen von fremden Erwachsenen (z. B. auf der Straße) geübt werden. Im zweiten Schritt wird dann das Ansprechen von fremden gleichaltrigen Kindern (z. B. auf einem Schulhof) geübt. Schließlich werden in einer dritten Übungseinheit die beiden Angstreize kombiniert und Übungen vor fremden Erwachsenen und gleichaltrigen fremden Kindern (z. B. eine Familie in der Warteschlange beim Eisladen ansprechen) durchgeführt.
16.4.3 Transfer in den Alltag Zwischen den Sitzungen können weitere Übungen geplant werden, die die Kinder im Alltag selbständig durchführen können. Eltern können parallel angeleitet werden, überprotektives Erziehungsverhalten abzubauen und das Kind darin zu bestärken, sich den angstauslösenden Situationen zu stellen (Kap. 38). Die Übungen können bei Kindern mit einem Verstärkerplan (Kap. 24) kombiniert werden. In Büch und Döpfner (2012) findet sich eine Anleitung zur Selbstexposition mit einem integrierten Verstärkerplan.
16.5 Erfolgskriterien Viele Patienten trauen sich nicht sofort in die Expositionsübung. Es ist wichtig, dass das Behandlungsmodell gut verstanden wurde. Oft besteht vonseiten der Therapeutin oder des Therapeuten der Wunsch, dem Kind die Situation zu erleichtern, wodurch manchmal
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ungewollt Sicherheitsverhaltensweisen wieder eingeführt werden. Es hat sich bewährt, das Kind zu ermutigen und ihm das Gefühl zu geben, dass es die Situation trotz der Angst bewältigen kann. Vor der Expositionsübung sollte mit dem Kind nicht zu viel diskutiert und die Übung möglichst schnell durchgeführt werden. Häufig werden in psychotherapeutischen Behandlungen von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen zu wenige Expositionsübungen durchgeführt. Die rechtzeitige Planung und Wiederholung der Übungen, z. B. in Rezidivprophylaxe-Sitzungen, sind zu empfehlen.
16.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Mehrere Metaanalysen haben gezeigt, dass die Expositionstherapie insbesondere bei der Behandlung von Angststörungen (Kap. 59, 61, 62) und Zwangsstörungen (Kap. 64), aber auch bei der posttraumatischen Belastungsreaktion (Kap. 53) sehr effektiv ist (Craske 2015; Mohr und Schneider 2015). Die Exposition
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gehört somit zu den wirkungsvollsten Techniken in der Verhaltenstherapie. Die Erkenntnisse aus dem Ansatz des inhibitorischen Lernens konnten bisher nur in tierexperimentellen Studien und bei erwachsenen Patienten nachgewiesen werden. Weitere Forschung ist notwendig, um die Wirkmechanismen und die Effektivität der Exposition bei Kindern und Jugendlichen verschiedener Altersgruppen zu erforschen und nachzuweisen (Mohr und Schneider 2015).
Literatur Büch, H., & Döpfner, M. (2012). Soziale Ängste – Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (THAZ) (Bd. 2). Göttingen: Hogrefe. Craske, M. (2015). Optimizing exposure therapy for anxiety disorders: An inhibitory learning and inhibitory regulation approach. Verhaltenstherapie, 25, 134–143. https://doi.org/10.1159/000381574. Hennemann, J.-L., Tuschen-Caffier, B., & Michael, T. (2018). Expositionsverfahren. In J. Margraf & S. Schneider (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie (Bd. 1). Berlin: Springer. Mohr, C., & Schneider, S. (2015). Zur Rolle der Exposition bei der Therapie von Angststörungen. Verhaltenstherapie, 25, 32–39.
Therapieaufgaben
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Manfred Döpfner und Michael Linden
17.1 Allgemeine Beschreibung Therapeutische Hausaufgaben, kurz Therapieaufgaben, sind alle Aktivitäten, die mit dem Patienten oder seinen Bezugspersonen (Eltern, Erzieher, Lehrer) während einer Therapiesitzung erarbeitet werden und die bis zur nächsten Sitzung durchgeführt werden sollen. Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil jeder multimodalen Kinder- und J ugendlichen-Verhaltenstherapie (Kap. 1), weil Therapieaufgaben zu einer vertieften Diagnostik (Kap. 2) beitragen und vor allem weil die in der Therapiesitzung erarbeiteten Strategien zur Veränderung von Verhalten im Alltag des Patienten implementiert werden. Zur vertieften Diagnostik können Selbstund Fremdbeobachtungsaufgaben, Wochenprotokolle (Kap. 26), Verhaltensproben und Verhaltensexperimente genutzt werden, wobei dabei auch therapeutische Effekte eintreten können. Zu den Therapieaufgaben, die eine Veränderung von Verhalten im
M. Döpfner (*) Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Linden Medizinische Klinik m.S. Psychosomatik, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]
Alltag des Patienten anstoßen sollen, zählen für Patienten unter anderem Aufgaben zur Exposition (Kap. 16) im natürlichen Umfeld z. B. bei Angst- und Zwangsstörungen, Aufgaben zum Aktivitätsaufbau (Kap. 9), Aufgaben zur Einübung von Reaktionsumkehr bei Tic-Störungen (Kap. 60), Aufgaben zur sozial kompetenten Konfliktlösung (Kap. 44), Aufgaben zur Einhaltung vereinbarter Regeln bei oppositionellem Verhalten, Aufgaben zur Durchführung von Schulaufgaben oder zur Mitarbeit im Unterricht bei ADHS (Kap. 42) oder Aufgaben zur regelmäßigen Nahrungsaufnahme bei Essstörungen (Kap. 45), um nur einige zu nennen. Eltern und andere Bezugspersonen (Erzieher, Lehrer) können die Aufgabe erhalten, den Patienten bei der Durchführung seiner Therapieaufgabe zu unterstützten (Kap. 38, 40); häufig werden auch Token-Systeme (Kap. 24) implementiert, die von Eltern, Lehrern oder Erziehern in dem jeweiligen Lebensumfeld umgesetzt werden.
17.2 Indikationen Therapieaufgaben sind in der Verhaltenstherapie unverzichtbar. Geplante Aktivitäten des Patienten zwischen den Therapiesitzungen sind ein integraler Teil jeder Verhaltenstherapie und können sie geradezu definieren und von anderen Therapieformen abgrenzen. Therapieaufgaben
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_17
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können bei jeder durch Psychotherapie behandelbaren Störung eingesetzt werden. Ein Verzicht auf dieses Therapieelement ist nicht zu begründen.
17.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Kontraindikationen bestehen lediglich bei Patienten oder Bezugspersonen, die nicht zu Absprachen oder zu einem selbstgesteuerten Verhalten in der Lage sind, z. B. bei sehr jungen Patienten oder bei Patienten bzw. Bezugspersonen mit starken intellektuellen Beeinträchtigungen. Therapieaufgaben können bei nicht sachgerechter Durchführung erhebliche Nebenwirkungen haben. Sie können beispielsweise zur Überforderung, zur Förderung von Pessimismus und Selbstabwertung und zum Aufbau von Ängsten beitragen. Anhaltende Misserfolge im Zusammenhang mit Therapieaufgaben sind nicht dem Patienten, sondern immer dem Therapeuten zuzuschreiben, weil er dann wichtige Durchführungsregeln ungenügend berücksichtigt hat!
17.4 Technische Durchführung Therapieaufgaben sollten Bestandteil nahezu jeder Therapiesitzung sein. Bei der Durchführung ist jedoch eine Reihe von technischen Einzelheiten zu berücksichtigen. Das folgende Vorgehen hat sich bei Therapieaufgaben bewährt. 1. Eine Therapieaufgabe gut vorbereiten. Eine Therapieaufgabe kann erst dann entwickelt werden, wenn der Patient/ die Bezugsperson in der Lage ist, diese auch umzusetzen. Bevor eine Therapieaufgabe gestellt werden kann, müssen in der Therapiesitzung entsprechende Interventionen vorbereitet und häufig auch eingeübt worden sein: Eine gemeinsame Spielzeit von Mutter und Kind sollte erst dann als Therapieaufgabe gestellt werden, wenn diese in der Therapiesitzung eingeübt
M. Döpfner und M. Linden
worden ist; eine Exposition im häuslichen Umfeld sollte erst dann vereinbart werden, wenn diese in der Therapiesitzung erfolgreich durchgeführt werden konnte. Vor allem zu Therapiebeginn sollten die Therapieaufgaben so einfach wie möglich sein. 2. Das Ziel der Therapieaufgabe gemeinsam erarbeiten. Der Therapeut sollte mit Patient bzw. Bezugsperson möglichst klar den Zweck und den Sinn der Therapieaufgabe erarbeiten. Wichtig ist, dass der Patient/die Bezugsperson von Anfang an erkennt, dass Therapieaufgaben einen unverzichtbaren Teil der Therapie darstellen. Der Patient/die Bezugsperson sollte so aktiv wie möglich in die Entwicklung der Therapieziele von Therapieaufgaben einbezogen werden. 3. Die Therapieaufgabe gemeinsam exakt planen. Der Therapeut erarbeitet mit dem Patienten/der Bezugsperson was, wann, wie und wie oft zu tun ist. Therapieaufgaben sollten vom Therapeuten nicht verordnet, sondern als gemeinsame Strategie zur Erreichung des vereinbarten Ziels entwickelt werden. Häufig ist es notwendig, Therapieaufgaben zuvor in der Therapiesituation real oder im Rollenspiel (Kap. 31) einzuüben. Die Therapieaufgabe sollte detailliert schriftlich festgehalten werden. 4. Mögliche Barrieren antizipieren und deren Bewältigung vorplanen. Schon bei der Planung sollten gemeinsam mit den Beteiligten mögliche Schwierigkeiten antizipiert werden. Deshalb ist es wichtig, nach Abschluss der Planung für einer Therapieaufgabe noch einmal kritisch zu hinterfragen, ob die Aufgabe auch wirklich umgesetzt werden kann und was einer Durchführung im Wege stehen könnte. Therapieaufgaben sollten grundsätzlich nach dem „No-lose-Prinzip“ erstellt werden – man kann dabei nur gewinnen! Das bedeutet, dass eine Therapieaufgabe am Ende immer ein Erfolg sein muss, selbst wenn der Patient nichts oder das Falsche getan oder etwas wenig erfolgreich bewerkstelligt hat. Dies wird dadurch erreicht, dass der experimentelle Charakter einer jeden Aufgabe betont wird.
17 Therapieaufgaben
Im schlimmsten Fall ist eine gescheiterte Therapieaufgabe dazu gut, zu klären, wo die Schwierigkeiten lagen, um dadurch die nächste Therapieaufgabe entsprechend anpassen zu können. 5. Kontingenzen gemeinsam festlegen. Der Therapeut sollte schon bei der Planung die Einsatzbereitschaft der Beteiligten anerkennen. In der Regel ist eine erfolgreiche Durchführung der Therapieaufgabe schon in sich eine Verstärkung. Die Durchführung der Therapieaufgabe sollte dennoch in der folgenden Sitzung vom Therapeuten positiv verstärkt werden, selbst dann, wenn sie nur teilweise gelungen ist. Häufig werden auch unmittelbare Verstärkungen, beispielsweise durch Eltern oder Lehrer, oft auch über ein Token-System (Kap. 24) vereinbart. Außerdem sollten spätestens im Jugendalter und auch bei den Bezugspersonen Selbstverstärkungen (Kap. 27) eingeplant werden. 6. Materialien entwickeln und Dokumentationen festlegen. Der Therapeut händigt benötigte Materialien aus oder erstellt sie gemeinsam mit dem Patienten/ der Bezugsperson. Wichtig ist, die Art und Weise der Dokumentation festzulegen. Diese sollte möglichst einfach gehalten sein. Rein mündliche Berichte sind häufig nicht ausreichend. Als hilfreich haben sich elektronische Dokumentationssysteme (Smartphone-Apps) erwiesen, bei denen auch Videodokumentationen sowie Erinnerungen an die Durchführung der Therapieaufgaben möglich sind (Kap. 36). 7. Die Therapieaufgabe erst vereinbaren, wenn das Kompetenzvertrauen ausreichend vorhanden ist. Bevor eine Therapieaufgabe final vereinbart wird, sollten noch einmal das Kompetenzvertrauen und die Ergebniserwartung der Beteiligten kritisch hinterfragt (Traust Du Dir das zu? Wirst Du daran denken, das zu machen?) und mögliche Barrieren und Hilfestellungen zusammengefasst werden. Im Zweifel sollten eher einfachere Aufgaben gestellt oder die Therapieaufgabe um eine Sitzung verschoben
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werden, in der sie noch einmal besser vorbereitet werden kann. 8. Die Erfahrungen mit der Therapieaufgabe in der nächsten Sitzung besprechen. Eine wichtige Belohnung für die Durchführung einer Therapieaufgabe ist die Nachbesprechung in der folgenden Sitzung. Der Therapeut sollte jede Sitzung damit beginnen, dass die Therapieaufgabe vom letzten Mal besprochen wird. Dafür ist genügend Zeit einzuplanen. Die Erfahrungen mit der Therapieaufgabe bieten Anlass zu genaueren Verhaltensanalysen, zu Problempräzisierungen und zur Planung der weiteren Therapie. Wenn eine Therapieaufgabe vom Patienten/von der Bezugsperson nicht angegangen wurde, dann bedarf dies sorgfältiger Analysen. Prinzipiell sollte der Therapeut in diesem Fall die Verantwortung für eine offensichtlich unzureichende Planung übernehmen, um dann die genauen Ursachen für die fehlende Compliance zu analysieren – offensichtlich wurden bei der gemeinsamen Planung mögliche Hindernisse nicht bedacht. Wenn der Therapeut eine solche Haltung überzeugend einnehmen kann, dann ist es auch möglich, dass Probleme bei dem Patienten/seiner Bezugsperson konstruktiv angesprochen werden können („Vielleicht habe ich nicht bedacht, dass du dazu neigst, etwas zu vergessen. Wir müssten dann wohl überlegen, wie du das besser hinkriegen kannst.“). Auch wenn eine Therapieaufgabe zwar durchgeführt wurde, aber nicht erfolgreich zu Ende gebracht werden konnte (wenn z. B. das Token-System nicht funktioniert hat oder die Exposition doch zu viel Angst gemacht hat), dann sollte der Therapeut ebenfalls die Verantwortung übernehmen (Was habe ich nicht bedacht?) und auch das Positive herausarbeiten (Dann wissen wir ja, was wir besser machen müssen.). 9. Aus den Erfahrungen neue Therapieaufgaben gemeinsam ableiten. Die Erfahrungen mit der letzten Therapieaufgabe sollten dann direkt überleiten zur Planung
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der nächsten. Letztlich besteht eine gute Verhaltenstherapie nur aus Therapieaufgaben, die in der Therapiestunde nachbesprochen bzw. vorausgeplant werden.
17.5 Erfolgskriterien Der Erfolg einer Therapieaufgabe ist zunächst danach zu bewerten, ob sie umgesetzt werden konnte, ob sie zur weiteren Klärung der Probleme und zur Weiterentwicklung von Lösungen beitragen konnte. Insofern kann auch eine nicht erfolgreich abgeschlossene Therapieaufgabe wertvolle Informationen liefern und zum Therapieerfolg insgesamt beitragen. Mittelfristig wird der Therapieerfolg nach dem Grad gemessen, in dem die Therapieziele erreicht und die Symptomatik des Patienten erfolgreich bewältigt werden konnte (vgl. Döpfner et al., 2019).
17.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Für das Kindes- und Jugendalter liegen teilweise widersprüchliche empirische Ergebnisse vor. Eine Metaanalyse zeigt jedoch, dass die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen für depressive Kinder und Jugendliche durch Therapieaufgaben verbessert wird (Stice et al.
2009). Effekte konnten auch in Elterntrainings und für Eltern-Schul-Interventionen gefunden werden (Ros et al. 2016; Clarke et al. 2015). Nach eigener therapeutischer Erfahrung kann die Bedeutung von Therapieaufgaben in der Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie gar nicht überschätzt werden. Das Wesentliche in der Therapie passiert zwischen den Therapiesitzungen. Die Therapiesitzungen dienen dazu, alle Beteiligten zu motivieren und zu befähigen, in ihrem Alltag zwischen den Therapiesitzungen neue Verhaltensweisen zu erproben und bisher nicht bewältigte Probleme erfolgreich zu bewältigen. Therapieaufgaben bereiten den Weg dahin.
Literatur Clarke, A. T., Marshall, S. A., Mautone, J. A., Soffer, S. L., Jones, H. A., Costigan, T. E., Patterson, A., Jawad, A. F., & Power, T. J. (2015). Parent attendance and homework adherence predict response to a family-school intervention for children with ADHD. Journal of Clinical Child and Adolescent Psychology, 44, 58–67. Döpfner, M., Schürmann, S., & Frölich, J. (2019). Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) (6. aktual Aufl.). Weinheim: Beltz. Ros, R., Hernandez, J., Graziano, P. A., & Bagner, D. M. (2016). Parent training for children with or at risk for developmental delay: The role of parental homework completion. Behavior Therapy, 47, 1–13. Stice, E., Shaw, H., Bohon, C., Marti, C. N., & Rohde, P. (2009). A meta-analytic review of depression prevention programs for children and adolescents: Factors that predict magnitude of intervention effects. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 77, 486–503.
Imagination und kognitives Rehearsal
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18.1 Allgemeine Beschreibung
18.2 Indikationen
Unter Imaginationstechniken werden unterschiedlichste Vorstellungstechniken verstanden, die sich auf die bildhafte Verarbeitung von Vergangenem und Zukünftigem stützen. Mittels innerer Vorstellungsbilder wird versucht, ganz gezielt Emotionen erlebbar zu machen und diese zu verändern. Vorstellungsbilder und Imagination werden mehr und mehr bei unterschiedlichsten Störungsbildern eingesetzt und können als störungsübergreifende bzw. transdiagnostische Intervention angesehen werden. Beim kognitiven Probehandeln bzw. dem kognitiven Rehearsal geht das Kind bzw. der Jugendliche eine Situation detailgenau in der Vorstellung durch und versucht so, eine Simulation zu erzeugen, welche alle Erlebnisqualitäten widerspiegelt, um neues Verhalten zu erlernen oder das Verhalten möglichst gut einzuüben und um schwierige Situationen besser bewältigen zu können.
Der Einsatz imaginativer Techniken kann sinnvoll sein, wenn stark ausgeprägte emotionale Probleme vorhanden sind, wie sie beispielsweise im Rahmen von Ängsten auftreten. Diese müssen jedoch nicht notwendigerweise durch eine (traumatische) Situation bedingt sein, sondern können sich auch diffus darstellen (Dunkelheit, Grübeln). Sehr verbreitet sind imaginative Techniken daher vor allem im Rahmen von Angstbehandlungen als Expositionsverfahren (Exposition in sensu). Jedoch werden sie auch im Rahmen der Therapie von Substanzgebrauchsstörungen bei Jugendlichen zur Reduktion von Emotionsvermeidung verwendet. Daher werden Imaginationstechniken bei unterschiedlichsten internalisierenden (Ängste, Kap. 59, 62; PTBS, Kap. 53) aber auch externalisierenden Störungsbildern (ADHS, Kap. 42) eingesetzt. Zudem spielen sie im Rahmen von Entspannungsverfahren (Kap. 15) und Selbstinstruktionstrainings (Kap. 27) sowie in der kognitiven Umstrukturierung (Kap. 19) von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle. Sie werden auch bei der Behandlung von Schmerzstörungen (Bauchschmerzen, Kopfschmerzen) (Kap. 57) oder Schlafstörungen (Kap. 56) effektiv implementiert. Übergeordnet können imaginative Verfahren auch zur Generierung von Ressourcen oder positiven Emotionen und zum Abbau negativer Emotionen dienen. Das Erleben
A. A. Schlarb (*) Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft/ Abteilung Psychologie/Arbeitseinheit 07 – Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Döpfner et al. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_18
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von Freude, Sicherheit und Geborgenheit ist gerade in der Therapie von Kindern und Jugendlichen eine wiederkehrende Thematik, welche unabhängig vom Störungsbild relevant sein kann.
18.3 Kontraindikationen und Nebenwirkungen Der Einsatz imaginativer Techniken sollte bei psychotischen Symptomen nicht erfolgen. Auch der (zu frühe) Einsatz bei einer aktuellen Traumatisierung, etwa durch Missbrauch, sollte gut durchdacht und vorbereitet sein. Es wird heute davon ausgegangen, dass auch stark traumatisierte Kinder und Jugendliche oder Patienten mit einer Borderline-Störung mittels imaginativer Techniken behandelt werden können. Wichtig sind allerdings eine sukzessive Heranführung an das Verfahren sowie eine deutliche therapeutische Steuerung und Begleitung des emotionalen Erlebens.
18.4 Technische Durchführung Das magische Denken im späten Vorschul- oder frühen Grundschulalter ist ein gutes Beispiel für bildhaftes Denken. Für Kinder sind logische Strukturen noch nicht so deutlich etabliert, dass diese in der Vorstellungskraft nicht aufgehoben werden könnten. Bei älteren Jugendlichen muss dies bisweilen stärker geübt werden, da sie mehr dem logischen und rationalen Denken verhaftet sind. Daher sind imaginative Strategien im Allgemeinen für Kinder meist leicht zu erlernen. Bezüglich der Vorbereitung und Durchführung sollten das Alter des Kindes, der Entwicklungsstand, die Kompetenzen und die gegebene Problematik berücksichtigt werden. Im Allgemeinen lassen sich folgende Empfehlungen für die Durchführung formulieren: Die Anleitung sollte nicht zu schnell erfolgen. Gegebenenfalls sollte eine Rückmeldung während der Imagination über die Befindlichkeit e ingebunden
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und verabredet werden (z. B. über Handzeichen). Die Wahrnehmungsprozesse sollten auf allen Sinnesmodalitäten umfassend beschrieben werden. Bei der Formulierung sollte auf emotionale Erlebniskomponenten geachtet werden (Kontrolle, Selbstwirksamkeit, Bewältigbarkeit etc.). Das Sprechtempo sollte langsamer als gewöhnlich sein, die Betonungen nicht allzu ausgeprägt. Suchprozesse sollten gezielt angeregt bzw. unterstützt werden. Während sich Kinder – wie schon beschrieben – schnell auf Imaginationsübungen einlassen können, sollte bei Jugendlichen (meist) mit einer Entspannungssequenz begonnen werden. Darauf aufbauend kann dann die jeweilige Thematik aktualisiert oder adressiert werden. Rückkoppelungsprozesse während der Übung können helfen, die Imagination intensiver und adäquater auf die jeweilige Problemstellung abzustimmen. Je nach Alter werden unterschiedliche Objekte bei den Imaginationsübungen präferiert. Während für jüngere Kinder Objekte wie Tiere oder Fabelwesen passend erscheinen können, sind für die Jugendlichen gegebenenfalls andere Figuren hilfreich. Dies sollte zuvor erfragt werden, da sich die Interessen und Kenntnisse sehr unterscheiden können. Wichtig bei der Durchführung ist die Betonung und Wiederholung der emotionalen Erlebnisqualität. Eine Imaginationsübung mit Kindern bzw. Jugendlichen zu beenden ist wesentlich unkomplizierter als mit Erwachsenen, da Kinder einen leichteren Zugang zu Imaginationsübungen haben, jedoch die Imagination in der Regel auch leichter wieder verlassen können. Die Nachbesprechung der Imaginationsübung ist jedoch auch in diesem Alter sehr bedeutsam. Hierdurch können die Inhalte, erlebte Schwierigkeiten sowie weitere Veränderungsmöglichkeiten oder Adaptationen reflektiert werden. Durch Übungsprotokolle (Kap. 26) im Rahmen von Hausaufgaben (Kap. 17) können weitere Veränderungsprozesse festgehalten und in den kommenden Sitzungen aufgenommen und eingebaut werden.
18 Imagination und kognitives Rehearsal
Falldarstellung
Die 8-jährige Alina wird vorgestellt mit einer ausgeprägten Angst vor Monstern. Sie denkt, dass sie am Abend oder in dunklen Ecken auf sie lauern würden. In der Erarbeitung der Einschränkungen bzw. der wahrgenommenen Bedrohung zeichnet Alina das Monster, wie es aussehen würde und wie es ihr Angst machen würde. Mittels Einsatz von imaginativen Verfahren entwickelt Alina eine Gegenfigur, das Freundemonster. Sie erkennt es eindeutig durch das Herz mit dem A, welches die Freundschaft zu Alina darstellen würde, und sie führt weiter und detailliert alle Möglichkeiten auf, die dem Freundemonster Kraft und Waffen zur Verteidigung geben würden: Beulen mit Widerhaken, an denen sich die anderen verletzen, Krater, aus denen eklige Dämpfe herauskommen, einen
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feuerspeienden giftigen Strahl, wenn es die Feinde verjagen möchte, und giftige Klauen, die den anderen treffen würden. Diese werden in zirkulären Prozessen zwischen imaginativem Arbeiten und Nachspüren des Effekts („Würdest du dich jetzt sicher fühlen? Wann würde das andere Monster abhauen?“) weiter verfeinert und mit mehr Details ausgestattet. Abb. 18.1 gibt die Schritte wieder. All diese Attribute führen dazu, dass das andere Monster Angst bekommt und wegläuft. Alina geht es gut. Sie fühlt sich wohl und sicher. Alina übt im Weiteren, in derartige Dunkelsituationen zu gehen, und „ruft“ bzw. visualisiert vorher ihr Freundemonster, welches ihr beistehen soll (einschließlich der Wahrnehmung des Sicherheitsgefühls). Sie berichtet, dass die Angst deutlich nachlässt. Nach einer weiteren Adaptation (Schutzhülle für Alina) fühlt sie sich vollkommen sicher und kann die Situationen gut bewältigen. ◄
Abb. 18.1a, b Darstellung der kindlichen Angst vor Monstern am Beispiel Alina; b Angstbewältigung nach der Imaginationsarbeit: Alina hat ein Freunde-Monster entwickelt, das sie beschützt
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Abb. 18.1a, b (Fortsetzung)
18.5 Erfolgskriterien Imaginative Methoden sind effektiv bei Ängsten, Schmerzen (u. a. Bauch-, Kopfschmerzen), Aggressionen, Albträumen und verbessern den Schlaf, die Selbstregulation, das Lernverhalten und die positive Selbstwahrnehmung. Daher kann der Erfolg an einer Reduzierung der Symptomatik und Erhöhung der wahrgenommenen Kompetenzen gemessen werden. Weitere Erfolgsmaße könnten das selbstverantwortliche Anwenden der Imaginationstechniken sowie der Transfer in andere Erlebnis- und Verhaltensbereiche sein (z. B. helfendes Tier gegen Dunkelängste, das dann auch in einer schwierigen Schulsituation eingesetzt wird). Darüber hinaus lassen sich Erfolgskriterien anhand der Übungshäufigkeit zu
Hause formulieren, welche gerade bei Jugendlichen wesentlich ist.
18.6 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Da die hier beschriebenen imaginativen Techniken der eher assoziativen Denkweise der Kinder entgegenkommen, ist die Compliance der Kinder hoch und die Anwendung dieser Strategien auch erfolgversprechend (Porat und Sadeh 2013). Studien hinsichtlich der oben genannten Störungsbilder im internalisierenden und externalisierenden, im Schmerz- sowie im Schlafstörungsbereich zeigen signifikante Verbesserungen beim Einsatz solcher imaginativer
18 Imagination und kognitives Rehearsal
Methoden (Schlarb et al. 2016; Gulewitsch et al. 2013; Gulewitsch & Schlarb 2012; Schlarb & Stavemann 2011).
Literatur Gulewitsch, M. D., & Schlarb, A. A. (2012). KVT bei funktionellen Bauchschmerzen. In A. A. Schlarb (Hrsg.), Praxisbuch KVT mit Kindern und Jugendlichen. Störungsspezifische Strategien und Leitlinien (S. 315–352). Weinheim: Beltz. Gulewitsch, M. D., Müller, J., Hautzinger, M., & Schlarb, A. A. (2013). Brief hypnotherapeutic
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behavioral intervention for functional abdominal pain and irritable bowel syndrome in childhood: A randomized controlled trial. European Journal of Pediatrics, 172(8), 1043–1051. Porat, J., & Sadeh, A. (2013). Imagination-based interventions with children. Oxford: Oxford Handbooks online. Schlarb, A. A., & Stavemann, H. H. (2011). Einführung in die KVT mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Beltz. Schlarb, A. A., Bihlmaier, I., Velten-Schurian, K., Poets, C.-R., & Hautzinger, M. (2016). Long term effects of CBT-I for children with chronic insomnia – Sleep and mental improvements. Sleep Medicine, 40, e295.
Kognitives Umstrukturieren
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Charlotte Hanisch und Martin Hautzinger
19.1 Allgemeine Beschreibung Kognitives Umstrukturieren zielt darauf ab, irrationale, d. h. der Realität widersprechende Kognitionen zu verändern. Beck unterscheidet automatische Gedanken und übergeordnete Denkschemata (Beck 1999), wobei erstere in einer Situation unmittelbar da sind und bei der Nachbesprechung einer erlebten Situation mit Hilfe von Spaltenprotokollen bzw. Kreislaufschemata (Abb. 19.1) leichter benannt werden können als die übergeordneten abstrakten Denkschemata. Eine Veränderung automatischer Gedanken kann über eine Prüfung des Realitätsgehalts, über eine Veränderung von Ursachenzuschreibungen oder über das Suchen alternativer Erklärungen erreicht werden. Der wiederholte Einsatz von Spaltenprotokollen ermöglicht Patienten das Erkennen eigener Denkmuster und schafft so Distanz dem eigenen Denken gegenüber. Durch Korrektur der „runter-
C. Hanisch (*) Lehrstuhl für Psychologie und Psychotherapie in Heilpädagogik und Rehabilitation, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Hautzinger Fachbereich Psychologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Eberhard-Karls-Universität, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]
ziehenden“ Gedanken lassen sich Befindensund Verhaltensänderungen erzielen.
19.2 Indikationen Viele kognitiv-verhaltenstherapeutische Behand lungsmanuale sehen Übungen und Materialien zur Beobachtung und Veränderung kognitiver Fehler und irrationaler Überzeugungen vor (z. B. Abel und Hautzinger 2013). Spaltenprotokolle werden v. a. bei älteren Kindern oder Jugendlichen in der Therapiestunde oder als Hausaufgabe genutzt, wenn dysfunktionales Denken zentral für die jeweilige Problematik ist. Bei jüngeren Kindern (