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German Pages IX, 357 [362] Year 2020
Sport – Gesellschaft – Kultur
Benjamin Zander · Jörg Thiele Hrsg.
Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt Rekonstruktion sportiver Erfahrungsräume in synchroner und diachroner Perspektive
Sport – Gesellschaft – Kultur Reihe herausgegeben von Sebastian Braun, Berlin, Deutschland Ulrike Burrmann, Berlin, Deutschland Michael Mutz, Gießen, Deutschland
Die Buchreihe Sport – Gesellschaft – Kultur versammelt Bände, die aus sozialwissenschaftlichen Perspektiven das gesellschaftliche Phänomen des Sports mit seinen sozialen Strukturen, Akteuren und Prozessen untersuchen und die Wechselwirkungen zwischen Sport, Gesellschaft und Kultur in den sich immer schneller wandelnden Sport- und Bewegungswelten moderner Gesellschaften auf theoretischer und empirischer Ebene in den Blick nehmen. Angesprochen sind damit insbesondere die Sportwissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaften; aber auch für Teilgebiete anderer Wissenschaftsdisziplinen wie z.B. die Sozialpsychologie, -geschichte, -philosophie und -geografie oder Forschungsarbeiten in Public Health und Sozialer Arbeit soll die Reihe einen Disziplinen übergreifenden Publikationsort sportbezogener Forschungen bieten. Auf diese Weise eröffnet die Reihe auch einen Raum für trans- und interdisziplinäre Forschung über ein sozial, zeitlich, räumlich und sozial immer komplexer werdendes gesellschaftliches Phänomen.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16342
Benjamin Zander · Jörg Thiele (Hrsg.)
Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt Rekonstruktion sportiver Erfahrungsräume in synchroner und diachroner Perspektive
Hrsg. Benjamin Zander Georg-August-Universität Göttingen Göttingen, Deutschland
Jörg Thiele Technische Universität Dortmund Dortmund, Deutschland
Sport – Gesellschaft – Kultur ISBN 978-3-658-31348-7 (eBook) ISBN 978-3-658-31347-0 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31348-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ziele, Fokussierungen und Methoden der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Einführung in die Kapitelstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 3 6
2 Theoretische Rahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Sozialisationstheorie und Schulsport – das Konzept der Handlungsbefähigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Schule – Lebenswelt – Sport: Passungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Das Konzept der Intersektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Intersektionalität im Kontext von Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Intersektionalität im Kontext von schulischem und außerschulischem Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 11 13 20 30 34
3 Methodischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Praxeologische Wissenssoziologie als Grundlagentheorie . . . . . . . . . . 3.3 Gruppendiskussionsverfahren zur Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Exkurs: Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens . . . . . . . . . . 3.5 Dokumentarische Methode zur Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 59 64 70 75 86
39 45
V
VI
Inhalt
4 Erfahrungsraum Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung . . . 94 4.2.1 Offensive Entschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.2.2 Latente Entschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.2.3 Angepasste Beschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.2.4 Überzeugte Beschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Theoretische Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Sinngenetische Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Beziehungsbezogener Orientierungstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Autonomiebezogener Orientierungstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Leistungsbezogener Orientierungstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Entwicklungsbezogener Orientierungstyp . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133 133 136 139 141 147 153 164 173
6 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive . . . . 6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zum methodischen Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Zusammenfassende Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183 183 186 190 199
7 Erfahrungsraum Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Theoretische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Kollektive Perspektive auf Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Relationale Perspektive auf Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Intersektionale Perspektive auf Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Sportengagements der befragten Peergroups . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Gruppenübergreifende Orientierungstypen und gruppenspezifische Orientierungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Orientierung an Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Orientierung an Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207 207 211 211 214 218 221 226 227 234
Inhalt
7.4.3 Orientierung an Routinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Orientierung an Optimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.5 Orientierung an Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Freizeitbezogene Orientierungstypen im Vergleich . . . . . . . . 7.5.2 Freizeit mit und ohne Sportengagement? . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Erfahrungsräume jugendlicher Peergroups im Verlauf vom 7. zum 9. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Kontinuität und Transformation kollektiver Orientierungen jugendlicher Peergroups – Theoretische und methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Theoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Ergebnisse der fallbezogenen Längsschnittanalyse . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Fallbeispiel Gruppe 12 (dynamische Kontinuität) . . . . . . . . . 8.3.1.1 Orientierungen im 7. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1.2 Orientierungen im 9. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1.3 Vergleich der Fallanalysen vom 7. und 9. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1.4 Bilanz zur Längsschnittanalyse der Gruppe 12 . . . . . 8.3.2 Fallbeispiel Gruppe 4 (partieller Wandel) . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2.1 Orientierungen im 7. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2.2 Orientierungen im 9. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2.3 Vergleich der Fallanalysen vom 7. und 9. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2.4 Bilanz zur Längsschnittanalyse der Gruppe 4 . . . . . 8.3.3 Fallbeispiel Gruppe 13 (grundlegende Transformation) . . . . . 8.3.3.1 Orientierungen im 7. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3.2 Orientierungen im 8. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3.3 Vergleich der Fallanalysen vom 7. und 8. Schuljahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3.4 Bilanz zur Längsschnittanalyse der Gruppe 13 . . . . . 8.4 Ergebnisse der fallvergleichenden Längsschnittanalyse . . . . . . . . . . . 8.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
242 249 254 258 258 265 275 275 277 277 282 283 284 285 287 293 295 296 296 300 306 309 310 310 313 321 323 324 332
VII
VIII
Inhalt
9 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Sportunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Anschlussstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339 343 346 350 354
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Benjamin Büscher, M.Ed., Technische Universität Dortmund, Institut für Sport und Sportwissenschaft; Forschungsschwerpunkte: Sportunterricht, informeller Sport, Trendsportkulturen, Körperpraktiken; Kontakt: [email protected] Ulrike Burrmann, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Sportwissenschaft; Forschungsschwerpunkte: Sportbezogene Sozialisation von Heranwachsenden, Sportvereinsforschung, soziale Ungleichheit, Selbstkonzeptforschung; Kontakt: [email protected] Lara Stamm, M.Ed., Technische Universität Dortmund, Institut für Sport und Sportwissenschaft; Forschungsschwerpunkte: Sportunterricht, Praxis-TheorieVerhältnis, schulische Fachkultur, Schüler*innen und Sportlehrkräfte; Kontakt: [email protected] Jörg Thiele, Prof. Dr., Technische Universität Dortmund, Institut für Sport und Sportwissenschaft; Forschungsschwerpunkte: Schulsportforschung, Schulsportentwicklung; Kontakt: [email protected] Benjamin Zander, Dr., Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Sportwissenschaften; Forschungsschwerpunkte: Sozialisation, soziale Ungleichheit, Jugendsport, Schulsport; Kontakt: [email protected]
IX
Einleitung Jörg Thiele & Benjamin Zander
1
1 Einleitung
1.1 Ausgangssituation 1.1 Ausgangssituation
Sportliche Aktivitäten sehr unterschiedlicher Art werden etwa seit Ende der 1980er Jahre in zahlreichen jugendspezifischen Untersuchungen zu den zentralen Freizeitbeschäftigungen von Heranwachsenden gezählt. Zinnecker (1989, S. 136) hat dies mit der sehr einprägsamen Formel einer „jugendspezifischen Altersnorm“ auf den Punkt gebracht und damit auf die „soziale Symbiose zwischen Jugendphase und sportivem System“ verwiesen. Hinter dieser Formel steckt die Erkenntnis, dass insbesondere Sport- aber durchaus auch andere Bewegungsaktivitäten seit den 1950er Jahren zunehmend in die Alltagsabläufe der heranwachsenden Generationen in Deutschland integriert wurden. Empirisch spiegelt sich dieser Prozess am deutlichsten nachvollziehbar in den stetig wachsenden und erst in den letzten Jahren auf einem hohen Niveau mehr oder weniger stagnierenden Partizipationszahlen des organisierten Vereinssports als einer der beliebtesten Varianten des Sport-Treibens wider, hinzukommen aber auch die hohe Beliebtheit informeller Bewegungsangebote oder auch die in jüngster Zeit steigenden Mitgliedszahlen Jugendlicher im kommerziellen Fitness-Sport. Diese Entwicklungsdynamik ist mittlerweile vielfach dokumentiert (vgl. z. B. Schmidt, Neuber, Rauschenbach, Brandl-Bredenbeck, Süßenbach & Breuer, 2015) und weitgehend Konsens sowohl in jugendtheoretischen wie auch sportpädagogischen Diskursen. Schaut man ein wenig genauer hin, dann zeigt sich aber auch, dass diese ‚jugendspezifische Altersnorm‘ und mit ihr die Versportung des Jugendlebens durchaus von ‚Abweichungen‘ begleitet wird und nicht unabhängig von soziostrukturellen Rahmungen betrachtet werden kann. Empirisch ist nämlich nicht allein ein Anstieg der Partizipation feststellbar, sondern durchaus auch Nicht-Partizipation und in diesem Zusammenhang auch z. T. erhebliche Partizipationsunterschiede entlang gängiger Sozialisationsmerkmale wie z. B. Alter, Geschlecht oder Bildungs- und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zander und J. Thiele (Hrsg.), Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt, Sport – Gesellschaft – Kultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31348-7_1
1
2
1 Einleitung
Migrationshintergrund in Relation zur jeweils betrachteten Aktivitätsform. Die insbesondere vom organisierten Sport immer wieder ins Feld geführte gesellschaftliche Integrationsfunktion des Sports (u. a. Deutscher Olympischer Sportbund, 2014) die den Sport gern als ein Idyll sozialer Gleichheit stilisiert, ist vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse zumindest kein Automatismus. Die Gründe für diese Unterschiede sind erwartungsgemäß sehr vielfältig und reichen von z. B. kulturspezifischer Fremdheit gegenüber Sportaktivitäten bei bestimmten Gruppen, über die Eindimensionalität bestimmter Angebotsformen etwa des klassischen Wettkampfsports bis hin zu individuellen Dispositionsunterschieden auf der Motivationsebene. Trotz eines mittlerweile sehr breit gefächerten Angebots an Sportaktivitäten, die zumindest partiell auch schon als Reaktion auf die gerade genannten Gründe zu verstehen sind, zeigen sich auch weiterhin entsprechende Unterschiede. So zeigen einschlägige empirische Untersuchungen (Mutz & Burrmann, 2015; Zender, 2018) einen massiven Rückgang der Partizipation an Sportaktivitäten (insbesondere im Vereinssport) bei heranwachsenden Mädchen nach der Pubertät oder auch mit zunehmendem Alter bei muslimischen Mädchen. Diese hier nur holzschnittartig beschriebenen Entwicklungen weisen Sportaktivitäten eine zentrale, aber auch differenziert zu betrachtende Rolle in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zu. Sportaktivitäten sind darüber hinaus auch Gegenstand eines anderen zentralen Feldes jugendlichen Aufwachsens. Innerhalb der Schule finden sich unterschiedliche Angebote und Gelegenheiten, die – wie es in den einschlägigen Lehrplänen heißt – „Bewegung, Spiel und Sport“ thematisieren (z. B. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2014). Diese reichen von einem verpflichtenden und entlang der schulischen Rahmenbedingungen formalisierten Sportunterricht, über freiwillige aber in aller Regel angeleitete Arbeitsgemeinschaften oder Neigungsgruppen in z. B. Ganztagsprogrammen bis hin zu tendenziell eher wenig formalisierten Pausenaktivitäten. Bewegungs-, Spiel- und Sportaktivitäten sind damit in der ebenso privilegierten wie herausfordernden Sondersituation, sowohl im außerschulischen wie auch im schulischen Bereich für die Heranwachsenden thematisch zu werden. Eine ähnliche Konstellation kann man wohl nur noch für das Feld der Musik konstatieren. Die immer wieder beklagte Kluft zwischen der Schule und ihren Ansprüchen auf der einen und den lebensweltlichen Anforderungen an die Heranwachsenden auf der anderen Seite (u. a. Chott, 1988; Zander, 2017) stellt sich für das Feld des Sports demnach strukturell zunächst einmal ganz anders dar. Wenn also Sport eine jugendspezifische Altersnorm darstellt und wenn Schule auch die Aufgabe hat, die Kluft zur Lebenswelt zu überbrücken oder zu verringern, dann könnte Sport in der Schule dazu in ganz besonderer Weise prädestiniert sein.
1.2 Ziele, Fokussierungen und Methoden der Studie
3
Und dies insbesondere noch einmal dort, wo Sport notwendig zum Thema für alle Heranwachsenden in der Schule wird – im Sportunterricht. Diese strukturell günstige Ausgangsposition des Sportunterrichts an der Schule steht allerdings unter einem wesentlichen Vorbehalt. Die gerade benannte Kluft zwischen Schule und Lebenswelt ist – um im Bild zu bleiben – bei näherer Betrachtung eher eine vielfältig zerklüftete Landschaft. Die Lebenswelt der Schüler*innen ist eben nicht monolithisch strukturiert, sondern stellt sich z. B. für einen Schüler mit Migrationshintergrund anders dar als für eine Schülerin der gleichen Klasse ohne Migrationshintergrund, für eine Schülerin mit wettkampfsportlichem Hintergrund anders als für einen Schüler ohne ausgeprägtes Bewegungsinteresse. Vergleichbares dürfte sich auch auf Seiten der Sportlehrkräfte und deren lebensweltliche Eingebundenheit konstatieren lassen (u. a. Firley-Lorenz, 2004; Hoven, 2017). Gleichzeitig sollten konzeptionelle Rahmungen der Schule auf diese Formen der Heterogenität moderierend einwirken können. Fachliche Richtlinien und Lehrpläne oder auch fachdidaktische Konzeptionen könnten eine solche Funktion übernehmen. Blickt man dazu auf das Fach Sport, dann zeigen sich solche Leitlinien etwa in der Formulierung von unterrichtlichen Prinzipien in den Lehrplänen (z. B. Partizipation oder Mehrperspektivität in NRW) oder in Form theoretischer Konstrukte wie Handlungsfähigkeit in zentralen fachdidaktischen Konzeptionen (u. a. Schierz & Thiele, 2013). Diese hier nur exemplarisch benannten Rahmungen dienen auf der programmatischen Ebene unter anderen dem Versuch, die notwendigen Passungen von heterogenen lebensweltlichen Voraussetzungen und schulischen Angeboten zu ermöglichen. Das bedeutet aber eben auch, dass solche Passungsprozesse nicht strukturell vorgespurt sind oder gar automatisch funktionieren. Die Passung von u. a. lebensweltlichen Erwartungen und sportunterrichtlichen Ansprüchen realisiert sich in der Durchführung des konkreten Unterrichts und den daraus resultierenden neuen oder veränderten Erfahrungen der Schüler*innen – oder eben auch nicht.
1.2
Ziele, Fokussierungen und Methoden der Studie
1.2
Ziele, Fokussierungen und Methoden der Studie
An den skizzierten Diskussionslinien setzte das empirische Erkenntnisinteresse des in diesem Band vorgestellten DFG-Forschungsprojektes ‚Sportive Orientierungen und Körperkulturen von jugendlichen MigrantInnen im Spannungsfeld von Schule
3
4
1 Einleitung
und Lebenswelt‘1 (SpOK) an. Im Projekt werden die häufig nebeneinander verlaufenden Diskurse der Schul- und Jugendforschung miteinander verbunden, um am Beispiel von Jugendlichen und unter besonderer Berücksichtigung des Mediums ‚Sport‘ den Blick sowohl auf die Schule als auch die außerschulischen Lebenswelten richten zu können. Ein Ziel war es, Sozialisationsmechanismen zu entschlüsseln, die zu einer unterschiedlichen Teilhabe von Heranwachsenden am schulischen und außerschulischen Sport beitragen. Projektförmige Forschung ist aufgrund der zeitlichen und materiellen Begrenztheit immer auf die Engführung von Fragestellungen angewiesen und so lag eine zentrale Engführung der SpOK-Studie in der Fokussierung auf die Perspektive jugendlicher Migrant*innen. Daran anschließend wurde u. a. auch nach dem Erklärungswert eines Migrationshintergrunds für die Teilhabe am Sport in Verschränkung mit anderen sozialstrukturellen Kategorien gefragt. Wie später noch genauer ausgeführt wird (vgl. Kap. 2), sprechen einige Gründe dafür, dass die Passungsverhältnisse von Schule und Lebenswelt in der genannten Gruppe als besonders schwierig eingeschätzt werden können. Für den außerschulischen Sport dürfte dies vor dem Hintergrund bekannter empirischer Studien (z. B. Burrmann, Mutz & Zender, 2011) einerseits auch zutreffen. Andererseits könnte der Sportunterricht aufgrund der oben beschriebenen Sonderstellung aber auch Potenziale bereithalten, Passungen unter bestimmten Voraussetzungen auch leichter optimieren zu können als dies vielleicht in anderen schulischen Fächern möglich ist. Auf der Basis dieser Arbeitshypothese wurde im Rahmen der SpOK-Studie der Versuch unternommen, zunächst einmal die vorhandenen Erfahrungshorizonte von jugendlichen Schüler*innen bezogen auf ihre (sportlichen) Freizeitaktivitäten und ihren erlebten Sportunterricht in der Schule zu rekonstruieren. Da Schulklassen, das Alter der Schüler*innen einmal ausgeklammert, unausweichlich in Bezug auf unterschiedlichste soziostrukturelle Merkmale heterogen zusammengesetzt sind, ist die prinzipielle Annahme von ebenso heterogenen Lebenswelten innerhalb von Schulen und Schulklassen naheliegend. Ihre empirische Rekonstruktion ist aber, insbesondere bezogen auf das Feld des Sports, weitgehend ein Desiderat. Notwendig ist dazu dann auch, komplementär die Erfahrungen der gleichen Schüler*innen zu dem jeweils konkret erlebten Sportunterricht zu erheben, weil nur so Passungsver1 Das Projekt wurde in Zusammenarbeit von Kolleg*innen des Instituts für Sport und Sportwissenschaft (Prof.‘in Dr. Burrmann, Prof. Dr. Thiele, Dr. Zander) und des Instituts für Soziologie (Prof. Dr. Meuser, Dipl.-Päd. Kirchhoff) mithilfe einer DFG-Förderung (Projektnummer: 246493936) von Mai 2014 bis September 2017 an der Technischen Universität Dortmund durchgeführt. Der körpersoziologische Teil wurde federführend von Prof. Dr. Michael Meuser und Dipl.-Päd. Nicole Kirchhoff übernommen und wird in der vorliegenden Publikation nur am Rand thematisiert.
1.2 Ziele, Fokussierungen und Methoden der Studie
5
hältnisse empirisch rekonstruierbar sind. Leitend war zudem die Auffassung, dass solche Erfahrungshorizonte zwar individuell verfügbar, letztlich aber vor dem Hintergrund gemeinsam geteilter sozialer Strukturen immer auch kollektiv verankert sind. Aus diesem Grund wurde in der konkreten Umsetzung auf die bewährten Verfahren der Gruppendiskussion und dokumentarischen Methode zurückgegriffen, die sich besonders gut dazu eignen, kollektiv geteilte Orientierungen empirisch zu rekonstruieren. Ergänzend und zum Zweck der Kontrastierung der Kollektivebene mit der Individualebene wurde zudem eine quantitative Fragbogenstudie mit einer größeren Stichprobe von Schüler*innen gleichen Alters durchgeführt. Die frühe Jugendphase ist, neben Veränderungen im schulischen Bereich – wie etwa dem Wechsel in die Sekundarstufe I – gerade auch im Hinblick auf die Entwicklung sportiver Orientierungen, als besonders dynamisch anzusehen. Exemplarisch kann dies am Fluktuationsverhalten von Sportvereinsmitgliedern festgemacht werden (u. a. Gerlach & Brettschneider, 2013) Damit diese Dynamiken zumindest ansatzweise eingefangen werden konnten, wurde ein längsschnittliches Design gewählt, das auch den Übergang von der späten Kindheit zur frühen Adoleszenz erfasst. Es wurden Gruppen von Heranwachsenden nach Möglichkeit in der gleichen Zusammensetzung zunächst im 7. Schuljahr und dann noch einmal im 9. Schuljahr befragt. Die Befragten waren zu Beginn des Projekts mehrheitlich zwischen 12 und 13 Jahren alt und nahmen i. d. R. als Realgruppen, d. h. als Cliquen von befreundeten Mitschüler*innen, an der Studie teil. Um die Grundstruktur heterogener Lebenswelten mit ihren potenziell differenten Erfahrungszusammenhängen auch in der Samplestruktur abbilden zu können und um der Gefahr homogenisierender Zuschreibungen entgegenzuwirken, wurden die Merkmale des Migrationshintergrunds (vorhanden/nicht vorhanden), des Geschlechts (Schülerinnen/Schüler) und der Schulform (Hauptschule/Gymnasium) aufgenommen und systematisch innerhalb der Gruppen variiert. Insgesamt konnten so sechzehn Realgruppen akquiriert und im Regelfall zweimal befragt werden. Nachfolgend findet sich eine inhaltliche Kurzbeschreibung der einzelnen Buchkapitel. Diese Kapitel stehen in einem systematischen inhaltlichen Zusammenhang. Sie fokussieren auf die Bereiche Schule, Sportunterricht und Freizeit(sport) und zeigen anhand ausgewählter Ergebnisse, wie sie als jeweilig eigenständig sportive Erfahrungsräume verstanden werden können. Zugleich überschreiten die Kapitel aber auch diese isolierte Betrachtung, indem sie aus einer synchronen Perspektive die Frage der Passungsverhältnisse von Erfahrungsräumen aufgreifen. Diese Form der Ergebnisdarstellung wird abschließend noch durch ein Kapitel zur diachronen Perspektive erweitert. In diesem Kapitel werden die drei Bereiche Schule, Sportunterricht und Freizeit(sport) zusammen und im Längsschnitt betrachtet, bevor der Band mit einem Gesamtfazit schließt (Kap. 9). Die Ergebniskapitel der empi5
6
1 Einleitung
rischen Auswertung können isoliert gelesen werden, allerdings sollten zu einem nachhaltigen Verständnis der Interpretationen in jedem Fall auch die Theorie- und Methodenkapitel (Kap. 2 und 3) ergänzend hinzugezogen werden.
1.3
Einführung in die Kapitelstruktur
1.3
Einführung in die Kapitelstruktur
Im 2. Kapitel werden die in der Einleitung skizzierten thematische Linien des Forschungsprojekts in einen weiteren theoretischen Rahmen eingeordnet. Ausgehend von dem sozialisationstheoretisch fundierten Konzept einer milieutheoretischen Handlungsbefähigung als wünschenswerter Leitperspektive für die Gesamtentwicklung Heranwachsender wird dieser Gedanke im weiteren Verlauf einerseits sportpädagogisch (Konzept der Handlungsfähigkeit) und andererseits schulpädagogisch (Ansatz der Schulkulturforschung) näher spezifiziert. Dadurch geraten Passungsverhältnisse von Schule, Lebenswelt und Sport ins Zentrum der Betrachtung. In einem zweiten theoretischen Anlauf werden dann die aus der Idee einer milieutheoretischen Handlungsbefähigung resultierenden Phänomene der Pluralität, Heterogenität und sozialen Ungleichheit unter einem dezidiert intersektionalitätstheoretischen Zugriff beschrieben und auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung hin zugespitzt. Die nachfolgenden Kapitel der Auswertung der erhobenen empirischen Daten folgen diesem theoretischen Gesamtrahmen und konkretisieren ihn zugleich. Im SpOK-Projekt werden kollektive sportive Orientierungen und die mit ihnen verbundenen konjunktiven Erfahrungsräume jugendlicher Peergroups rekonstruiert. Ausgehend von diesem Fokus werden im 3. Kapitel auf Basis einer praxeologischen Wissenssoziologie die entsprechenden Konzepte (Orientierung, Erfahrungsraum) erläutert und ihre Verwendung im Rahmen der Studie in Bezug auf das methodische Vorgehen präzisiert. Des Weiteren wird das der Studie zugrunde liegende Sample hinsichtlich verschiedener Merkmale beschrieben. Das Kapitel abschließend erfolgt eine Begründung der Methoden der Datenerhebung und -auswertung. Im SpOKProjekt wurde mit dem Gruppendiskussionsverfahren und der dokumentarischen Methode gearbeitet. Beide Methoden werden im 3. Kapitel ausführlich in ihrer forschungspraktischen Umsetzung beschrieben. Den Auftakt der empirischen Auswertung bilden im 4. Kapitel die Analysen der Orientierungen, die die Heranwachsenden mit der Institution Schule verbinden. Hintergrund ist die naheliegende Überlegung, dass die Schule für die von uns befragte Altersgruppe einen in seiner verpflichtenden und strukturgebenden Funktion zentralen Anker darstellt. Interessant ist empirisch dann insbesondere die Frage,
1.3 Einführung in die Kapitelstruktur
7
welche konkreten Ausprägungsformen dieser Erfahrungshorizonte sich aus dem vorliegenden Material rekonstruieren lassen. Die Analyse liefert vier, hinsichtlich der von den Peergroups vorgenommenen Relevanzzuweisung von Schule, relativ gut abgrenzbare Typen. Die Spannbreite reicht dabei von der gesellschaftlich eher erwartungskonformen Akzeptanz und Unterstützung schulischer (Leistungs-)Ansprüche bis hin zur gesellschaftlich eher erwartungswidrigen Totalverweigerung. Die differenziertere Rekonstruktion der Orientierungsmuster zeigt aber zudem auch, dass diese Muster sich in einen Schule und Freizeit übergreifenden Modus der Lebensbewältigung einordnen lassen, der stark von lebensweltlichen Hintergründen determiniert scheint. Die Analysen des Kapitels liefern somit auch erste Ansatzpunkte für die nachfolgenden Interpretationen der sportunterrichts- und freizeitbezogenen Orientierungen der interviewten Gruppen. Im Anschluss an die Ergebnisse zum Erfahrungsraum Schule, wird im 5. Kapitel der Analysefokus auf dieselben jugendlichen Peergroups fachspezifisch geschärft und die Bedeutung und Relevanz des Sportunterrichts im 7. Schuljahr untersucht. Ziel ist die Rekonstruktion kollektiver Orientierungen, die vor allem auch implizite Wissensbestände berücksichtigen und im Sportunterricht handlungsleitend wirken können. Als Ergebnis wird eine sinngenetische Typologie mit vier Orientierungstypen (beziehungs-, autonomie-, leistungs- und entwicklungsbezogene Orientierungstyp) anhand von Fallbeispielen beschrieben. Die vier Typen verdeutlichen u. a., welche schulischen und sportiven Wissenselemente in kollektiven Orientierungen enthalten sind und weisen in Teilen eine Schulform- und/oder Geschlechtsspezifität auf. Zwischen den sportunterrichtlichen Orientierungstypen lassen sich zudem in mehrfacher Hinsicht Parallelen zu schulbezogenen Orientierungstypen identifizieren. Insgesamt weisen die vier rekonstruierten Orientierungstypen über den Sportunterricht hinaus und machen deutlich, dass der Erfahrungsraum Sportunterricht eng mit der Schule, aber auch mit außerschulischen Sportkontexten verwoben ist, die damit kaum voneinander getrennt werden können. Im 6. Kapitel werden die Ergebnisse der quantitativen Teilstudie des SpOKProjekts, basierend auf einer standardisierten (nicht-repräsentativen) Befragung von Schüler*innen im 7. Schuljahr, dargelegt. Darunter befinden sich auch Teilnehmer*innen der Gruppendiskussionen. Zum einen wird untersucht, wie Schüler*innen ihren Sportunterricht erleben und inwieweit das Erleben von sportbezogenen Vorerfahrungen, die u. a. in der Herkunftsfamilie vermittelt werden, abhängen. Zum anderen wird analysiert, inwieweit das Erleben im Sportunterricht in Zusammenhang steht mit dem Sporttreiben außerhalb der Schule, mit Facetten des Selbstkonzepts und mit dem Wohlbefinden in der Schule. Vier Cluster lassen sich differenzieren, wobei die ‚Unzufriedenen‘ und ‚Negativ Eingestellten‘ etwa ein Viertel der Befragten ausmachen. Besonders häufig erleben Mädchen aus der 7
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1 Einleitung
Hauptschule den Sportunterricht negativ. Das Erleben im Sportunterricht steht in Zusammenhang mit dem Sporttreiben außerhalb der Schule, wobei sich v. a. Zusammenhänge zum vereinsorganisierten Sport ermitteln lassen. Das Wohlbefinden im Sportunterricht steigt mit der Wahrnehmung von Peer-Akzeptanz. Schüler*innen des Clusters ‚Zufriedene‘ fühlen sich zumindest im Vergleich zu den ‚Unzufriedenen‘ in der Schule wohler. Im 7. Kapitel wird der Fokus vergleichbar einer Pendelbewegung vom Sport auf die Freizeit und wieder zurück auf den Sport gelenkt. Durch die unterschiedliche Fokussierung werden Sport und Freizeit einerseits analytisch getrennt und andererseits integriert, um eine tiefgehende Analyse des Verhältnisses von Freizeit und Sport zu ermöglichen. Ausgehend von der zentralen Forschungsfrage, welche freizeitbezogenen Orientierungen sich bei jugendlichen Peergroups unter besonderer Berücksichtigung des Sports zeigen und mit welchen kollektiv geteilten Erlebnis- und Erfahrungshintergründen sie einhergehen, werden im Kapitel gruppenspezifische Orientierungsmuster fallbezogen beschrieben und auf einer höheren Abstraktionsstufe in fünf gruppenübergreifenden Orientierungstypen systematisch gebündelt. Auf dieser Ebene lassen sich eine Orientierung an Gemeinschaft, Action, Routinen, Optimierung und Autonomie unterscheiden. Unter einem sinngenetischen Fokus dokumentarischer Interpretation wird der Sport von Jugendlichen in Relation zu anderen Aktivitäten und Handlungskontexten gesetzt und in der Freizeitgestaltung insgesamt verortet. Zudem wird die soziale Genese freizeitbezogener Orientierungen aus einer intersektionalen Perspektive reflektiert und auf die Identifikation sozialer Ungleichheiten im Sport bezogen. Die zuvor anhand der Erfahrungsräume Schule, Sportunterricht und Freizeit isoliert und synchron betrachteten Orientierungen der jugendlichen Peergroups aus dem 7. Schuljahr werden im 8. Kapitel im längsschnittlichen Vergleich zu den bislang unberücksichtigten Ergebnissen aus der zweiten Erhebungswelle im 9. Schuljahr aus diachroner Perspektive untersucht. Im Kontext der noch jungen qualitativen Längsschnittforschung ergänzt die Fokussierung auf kollektive Wissensbestände weitgehend auf die Individualperspektive beschränkte sportwissenschaftliche Untersuchungen. Zur Rekonstruktion kollektiver Wandlungsprozesse im Jugendalter werden zunächst drei ausgewählte Gruppen in Bezug auf zentrale Orientierungsmuster in den Erfahrungsräumen Schule, Sportunterricht, Freizeit und Freizeitsport im 7. und 9. Schuljahr beschrieben, die anschließend in der Längsschnittanalyse miteinander in Beziehung gesetzt werden. Im Rahmen des fallinternen und -externen Vergleichs kann aufgrund der methodischen Einschränkungen zwar keine empirisch belastbare Längsschnitttypologie, dafür aber Tendenzen im Hinblick auf unterschiedliche Prozesse der Veränderung von Orientierungen rekonstruiert werden. Diese Tendenzen knüpfen an bestehende formale Prozesstypen
1.3 Einführung in die Kapitelstruktur
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einer dynamischen Kontinuität, eines partiellen Wandels und einer grundlegenden Transformation an und dienen sowohl ihrer themenbezogenen Illustration, als auch einer thematischen Spezifikation. Damit reiht sich das Kapitel in die Diskussion der Prozesshaftigkeit kollektiver Wissensbestände jugendlicher Peergroups in Abhängigkeit von kollektivbiographischen Erfahrungen ein. Zum Abschluss des Bandes werden im 9. Kapitel ausgewählte Erkenntnisse aus den vorherigen Kapiteln in einer Gesamtbetrachtung zusammengeführt und unter Bezugnahme auf die Zielstellungen und Ausgangsannahmen des SpOK-Projekts bilanziert. Zudem werden einzelne Erkenntnisse unter Rückgriff auf Diskurse der Schul- und Jugendforschung diskutiert, um mögliche Erträge des Projekts für beide Forschungsfelder aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang sind auch quergelagerte Diskussionspunkte von Interesse, die sich entlang von Phänomenen (wie z. B. der Passung von Lebensbereichen), aus gemeinsamen Interessen (wie z. B. der Sozialisation von Heranwachsenden) oder aber auch aus in beiden Felder praktizierten Analyseperspektiven ergeben (wie z. B. Intersektionalität). Zudem werden offene Fragen angesprochen, die zwar durch das Projekt aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden können und somit als Grenzen des Projekts und zugleich als Ausblick auf weiterführende Forschung zu verstehen sind. Auch wenn für die einzelnen Kapitel einzelne Autor*innen namentlich benannt sind, so sollte an dieser Stelle doch nicht der Hinweis fehlen, dass nicht nur die Daten gemeinsam in Forschungswerkstätten interpretiert, sondern auch alle Kapitel von allen Autor*innen in der Entstehung und Entwicklung intensiv diskutiert wurden. Die Gruppendiskussion ist also nicht nur die Methode der eigenen empirischen Untersuchung, sondern auch Arbeitshintergrund der Entstehung dieses Bandes. Die namentliche Nennung soll gleichwohl eine Hauptverantwortlichkeit für die inhaltliche Darstellung markieren. Die Autor*innen möchten sich zudem auch bei den Personen bedanken, die namentlich in den Kapiteln keine Erwähnung finden, gleichwohl aber in unterschiedlicher Weise zur Entstehung des vorliegenden Bandes beigetragen haben. Für ihre Bereitschaft zur Mitarbeit an der Studie gilt unser besonderer Dank allen beteiligten Schüler*innen, Lehr*innen und Schulleitungen. Für die kollegiale Zusammenarbeit und den gewinnbringenden Austausch während der gesamten Projektlaufzeit danken wir den Kolleg*innen Prof. Dr. Michael Meuser und Dipl. päd. Nicole Kirchhoff. In die Umsetzung des Projektes waren mehrere studentische Mitarbeiter*innen involviert. Dank für ihre Unterstützung insbesondere bei der aufwendigen Datenaufbereitung gebührt Nicole Stobbe, Benjamin Büscher, Ricarda Schenk, Julian Hoffmann und Lara Stamm. Danken möchten wir auch Charline Döring fürs Korrekturlesen des vorliegenden Bandes. Für die Aufnahme des Bandes in die Buchreihe ‚Sport – Gesellschaft – Kultur‘ danken wir den Herausgeber*innen der Reihe Prof. Dr. Sebastian Braun, Prof.’in Dr. Ulrike Burrmann und 9
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1 Einleitung
Prof. Dr. Michael Mutz. Für die gute Zusammenarbeit mit dem Springer-Verlag danken wir vor allem (und auch stellvertretend für ihre Kolleg*innen) Frau Cori Antonia Mackrodt. Zu guter Letzt bedanken wir uns recht herzlich bei der DFG für die Finanzierung und die unkomplizierte Betreuung des Projekts.
Literaturverzeichnis Burrmann, U., Mutz, M. & Zender, U. (2011). Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Ein empirisch fundierter Vergleich zwischen Sportvereinen und SchulsportAG’s. sportunterricht, 60(8), 259–261. Chott, P. (1988). Das Prinzip der Lebensnähe in der Schule. Frankfurt a. M.: Lang. Deutscher Olympischer Sportbund (Hrsg.) (2014). Expertise. Diversität, Inklusion, Integration und Interkulturalität. Leitbegriffe der Politik, sportwissenschaftliche Diskurse und Empfehlung für den DOSB und die dsj. Frankfurt a. M.: DOSB. Firley-Lorenz, M. (2004). Gender im Sportlehrberuf. Sozialisation und Berufstätigkeit von Sportlehrerinnen in der Schule. Butzbach: Afra-Verlag. Gerlach, E. & Brettschneider, W.-D. (2013). Aufwachsen mit Sport. Befunde einer 10-jährigen Längsschnittstudie zwischen Kindheit und Adoleszenz. Aachen: Meyer & Meyer. Hoven, S. (2017). Geschlechtergerechtigkeit im koedukativen Sportunterricht – Eine empirische Analyse zur Genderkompetenz von Sportlehrkräften in der gymnasialen Sekundarstufe I. Dissertationsschrift, Deutsche Sporthochschule Köln. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.). (2014). Rahmenvorgaben für den Schulsport in Nordrhein-Westfalen. Zugriff am 23.06.2020 unter: http://www.schulsport-nrw.de/fileadmin/user_upload/schulsportentwicklung/ pdf/RVen%20Schulsport_Endfassung.pdf. Mutz, M. & Burrmann, U. (2015). Zur Beteiligung junger Migrantinnen und Migranten am Vereinssport. In U. Burrmann, M. Mutz & U. Zender (Hrsg.), Jugend, Migration und Sport. Kulturelle Unterschiede und die Sozialisation zum Vereinssport (S. 69–90). Wiesbaden: Springer VS. Schierz, M. & Thiele, J. (2013). Weiter denken – Umdenken – Neu denken? Argumente zur Fortentwicklung der sportdidaktischen Leitidee der Handlungsfähigkeit. In H. Aschebrock & G. Stibbe (Hrsg.), Didaktische Konzepte für den Schulsport (S. 123–147). Aachen: Meyer & Meyer. Schmidt, W., Neuber, N., Rauschenbach, T., Brandl-Bredenbeck, H. P., Süßenbach, J. & Breuer, C. (Hrsg.). (2015). Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Kinder- und Jugendsport im Umbruch. Schorndorf: Hofmann. Zander, B. (2017). Lebensweltorientierter Schulsport. Sozialisationstheoretische Grundlagen und didaktische Perspektiven. Aachen: Meyer & Meyer. Zender, U. (2018). Sportengagements türkisch-muslimischer Migrantinnen. Der Einfluss von Kultur, Religion und Herkunftsfamilie. Wiesbaden: Springer VS. Zinnecker, J. (1989). Die Versportung jugendlicher Körper. In W.-D. Brettschneider, J. Baur & M. Bräutigam (Hrsg.), Sport im Alltag von Jugendlichen (S. 133–159). Schorndorf: Hofmann.
Theoretische Rahmung Jörg Thiele und Ulrike Burrmann
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2 Theoretische Rahmung
2.1 Ausgangssituation Trotz der Bildungsexpansion in den 1970er Jahren und einer sich abzeichnenden Öffnung der Sozialstruktur ist die soziale Vererbung von Bildungslaufbahnen noch immer stark ausgeprägt und (umgekehrt) die intergenerationale Bildungsmobilität begrenzt (z. B. Becker, 2007; Quenzel & Hurrelmann, 2010; Wenzel, 2011). Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse eines DFG-Forschungsprojekts2 hatten als Ausgangspunkt Heranwachsende mit Migrationshintergrund in den Blick genommen, da diese überproportional häufig zu den so genannten Bildungsverlierern gehören (BAMF, 2010; Gresch & Becker, 2010).3 Schule ist keine gesellschaftlich quasi neutrale Instanz zur objektiven Vergabe von Bildungszertifikaten, sondern sie präferiert und unterstützt die Wissens- und Handlungsmuster, die in bildungsnahen Milieus an die Kinder und Jugendlichen vermittelt werden. Die lebensweltlichen Repertoires bildungsfernerer Milieus finden innerhalb der schulischen Grundkoordinaten dagegen kaum brauchbare Anschlussmöglichkeiten (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau & Groh-Samberg, 2004). 2 Die Darstellungen basieren auf dem von der DFG geförderten Projekt „Sportive Orientierungen und Körperkulturen von jugendlichen Migrantinnen und Migranten im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt“ (Me 3142/5-1 und TH 1532/4-1). Das Projekt wurde gemeinsam von den Bereichen der allgemeinen Soziologie (Prof. Dr. Meuser) und Sportwissenschaft (Prof. Dr. Burrmann, Prof. Dr. Thiele) initiiert und durchgeführt. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in zwei getrennten Publikationen, wobei sich die vorliegende Publikation schwerpunktmäßig mit den sportpädagogischen Teilen beschäftigt, während die zweite Publikation den Schwerpunkt auf die körpersoziologischen Aspekte des Forschungsprojekts legt. 3 Auch wenn sich mit zunehmender Aufenthaltsdauer Unterschiede zwischen Migrant*innen und Autochthonen einebnen, trifft dieser Befund auf Migrant*innen der ersten und zweiten Generation nach wie vor zu (Berngruber et al., 2012). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zander und J. Thiele (Hrsg.), Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt, Sport – Gesellschaft – Kultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31348-7_2
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2 Theoretische Rahmung
Nach Maaz, Baumert und Trautwein (2010, S. 39) lassen sich v. a. drei Argumentationsstränge bzgl. der Entstehung von Bildungsungleichheiten innerhalb der Schule ausmachen: (1) Sozial und ethnisch selektive Erwartungs-, Wertschätzungs- und Belohnungsstrukturen in Bildungsinstitutionen sind für wachsende soziale Disparitäten verantwortlich, die über die Schullaufbahn hinweg entstehen. (2) Eine ungünstige Passung zwischen sozialem und kulturellem Habitus von unteren Sozialschichten und Minoritäten und schulischen Verhaltensnormen und Sprachcodes ist für wachsende Ungleichheiten mitverantwortlich. (3) Die Interaktion zwischen kognitiven Ressourcen (Intelligenz, Vorwissen) und motivationalen Orientierungen einerseits und der effizienten Nutzung universell verfügbarer schulischer Lerngelegenheiten andererseits wird als disparitätsverursachender Mechanismus ausgemacht. So können kumulativ aus anfänglich kleinen Differenzen große (Leistungs-) Unterschiede werden. Wenn es darum gehen soll, so etwas wie eine „milieuspezifische Handlungsbefähigung“ herzustellen und zu unterstützen (Grundmann, Dravenau, Bittlingmayer & Edelstein, 2006, S. 57ff.), dann könnte das Feld von Bewegung, Sport und körperlicher Aktivität einen guten Anknüpfungspunkt bieten, um das häufig gestörte Verhältnis zwischen Schulen und ihren Schüler*innen mit Migrationshintergrund zumindest in einem ersten Ansatz anders zu justieren. Die zumeist geringe Bedeutsamkeit des Faches Sport im Hinblick auf schulischen Qualifikationserfolg könnte in dieser spezifischen Konstellation sogar eine Stärke sein, da der Prozess einer Wiederannäherung der Kontexte nicht sofort mit Fragen von Selektion und gesellschaftlicher Anerkennung konfrontiert und aufgeladen wird. Im Gegenteil, der Schulsport könnte eine der wenigen Möglichkeiten darstellen, Erfolgserlebnisse in der Schule zu generieren. Den Heranwachsenden dürften sich in vielen Handlungsfeldern des Sports Chancen bieten, v. a. ihre körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erproben oder soziale Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, um so Vertrauen in die eigene sportliche Leistungsfähigkeit aufzubauen und Anerkennung von Gleichaltrigen und Erwachsenen zu erhalten. Die flächendeckende Sportinfrastruktur, das ‚universell‘ gültige Regelwerk und der vorwiegend nonverbale Charakter des (Schul-)Sports werden u. a. als Gründe angeführt, weshalb insbesondere auch Migrant*innen in der Lage sein sollen, ‚aus dem Stand‘ mitzumachen (Baur, 2009; Bundesregierung, 2007; kritisch dazu Bröskamp, 1994; 2006). Solche Potenziale besitzen schulsportliche Angebote aber nicht automatisch (vgl. detaillierter Kap. 2.4.2). Das Forschungsvorhaben versuchte auf der Grundlage von quantitativen und qualitativen Daten schulische und außerschulische Sozialisationsmechanismen zu entschlüsseln, die zu einer unterschiedlichen Teilhabe von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund an schulischen und außerschulischen Bewegungs- und
2.2 Sozialisationstheorie und Schulsport
13
Sportpraktiken beitragen. Im Fokus der Untersuchungen steht die Frage, inwieweit bestimmte Handlungsbefähigungsmuster im Schulsport bevorzugt bedient werden, sich also auch der Schulsport, und hier wiederum insbesondere der Sportunterricht, an Wert- und Normpräferenzen bildungsnaher Milieus orientiert (oder eben auch nicht). Das Projekt ist damit anzusiedeln im Bereich einer „erfahrungsweltlich vermittelten Bildungsforschung“ (Grundmann, 2003, S. 39). Es ist zugleich im Rahmen eines interaktionalen sozialisationstheoretischen Verständnisses verortet, das Sozialisation als soziale Praxis begreift (Grundmann, 2006). Nach den einführenden und allgemein gehaltenen Überlegungen werden zunächst die forschungsleitenden theoretischen Rahmungen etwas ausführlicher vorgestellt. Den Anfang bilden die schon angesprochenen sozialisationstheoretischen Grundlagen mit dem Fokus auf das Konzept der Handlungsbefähigung und deren Übertragung auf das Feld des (Schul-)Sports (Kap. 2.2). Im Anschluss daran thematisieren wir den Zusammenhang von Schule/Schulsport und Lebenswelt, wobei die im Ansatz der Schulkulturforschung prominent behandelte Frage der Passungsverhältnisse von Schule und Lebenswelt näher betrachtet wird (Kap. 2.3). In einem weiteren Schritt greifen wir zur Spezifizierung ungleichheitstheoretischer Annahmen das so genannte Intersektionalitätskonzept auf und spezifizieren es im Hinblick auf die uns leitenden Fragestellungen (Kap. 2.4). Nach der Aufarbeitung des bisherigen empirischen Forschungsstandes zu Ungleichheit und Intersektionalität im Kontext der Schule (Kap. 2.4.1) und im schulischen und außerschulischen Sport (Kap. 2.4.2) werden die leitenden Fragestellungen des Forschungsprojekts (Kap. 2.5) skizziert.
2.2
Sozialisationstheorie und Schulsport – das Konzept der Handlungsbefähigung
2.2
Sozialisationstheorie und Schulsport
Sozialisationstheoretisch wird nachfolgend an das Konzept der Handlungsbefähigung („agency“) angeschlossen (Emirbayer & Mische, 1998; Alt & Lange, 2011). Dieses Konzept versucht, die Einseitigkeiten von individualisierenden und strukturalistischen Zugängen der Sozialisationstheorie zu überwinden. Im Zentrum steht „die Frage, wie Heranwachsende zum selbstständigen und verantwortungsbewussten Handeln, d. h. zur Gestaltung ihrer konkreten Lebensverhältnisse befähigt werden“ (Grundmann, 2002, S. 38). Im nachfolgenden Abschnitt soll es zunächst darum gehen, die eingangs knapp angedeuteten und gegenläufigen Prozesse differenzierter darzustellen. Dazu wird in einem ersten Schritt der Blick nach außen gelenkt und auf jüngere Entwicklungen unterschiedlicher Art in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften aufmerksam 13
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2 Theoretische Rahmung
gemacht, die zumindest eine große ‚Familienähnlichkeit‘ mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit aufweisen.4 Das Re-entry des Konzepts der Handlungsfähigkeit innerhalb des Bildungsund Schulbereichs läuft in den letzten Jahren über eine verstärkte Diskussion innerhalb der Sozialisationsforschung (Grundmann 2006; 2008; 2016). Ähnlich wie die Bildungs- und Schulforschung hat auch die Sozialisationsforschung nach einer Phase des Aufblühens in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in den nachfolgenden 80er und 90er Jahren eine Phase der Stagnation durchlaufen, die etwa seit der Jahrtausendwende von einem neuen Aufschwung – wiederum in beiden Feldern – abgelöst wird. War die Leitidee der Handlungsfähigkeit innerhalb der pädagogischen Debatten vor allem auch in der Curriculumtheorie der 70er Jahre im Zusammenhang von Qualifikationserfordernissen und Kompetenzerwerb intensiv diskutiert worden, so verschwand sie danach wieder für einige Zeit aus dem Zentrum des pädagogischen Diskurses. Im Kontext der neu aufkommenden Diskussionen um die Entwicklung von sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften, ist nun seit etwa einem Jahrzehnt eine massive Steigerung des Interesses an Fragen der Sozialisation feststellbar. Hatte die Sozialisationsforschung recht lange ihre Aufmerksamkeit auf die Perspektive des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts im Sinne der grundsätzlichen Überlegungen im Anschluss an Hurrelmann (1993) fokussiert, so zeigten neuere empirische Studien zu Fragen der sozialen Ungleichheit, dass diese eher konstruktivistische Perspektive von Sozialisation zwar eine wesentliche und zudem unhintergehbare Facette des Sozialisationsprozesses abbildet, darüber hinaus aber auch (und mit zunehmender Dringlichkeit) weiterhin der Ergänzung um die Bedeutsamkeit der sozio-strukturellen Umfeldbedingungen für den Sozialisationsprozess bedarf.5 Im Zuge dieser erneuten Perspektiverweiterung taucht innerhalb des sozialisationstheoretischen Diskurses auch das Konzept der Handlungsbefähigung auf. Dies darf aber nun nicht dahingehend missverstanden werden, dass das flexibel Realität konstruierende gesellschaftliche Individuum nun einfach wieder den klassischen 4 Die nachfolgenden Überlegungen basieren in wesentlichen Teilen auf die von Thiele & Schierz (2011) vorgestellten Leitgedanken zur Handlungsbefähigung, allerdings erweitert um aktuelle Entwicklungstendenzen. 5 Damit soll weder gesagt werden, dass Hurrelmann selbst entsprechende Facetten nicht thematisiert hätte, noch dass es nicht auch in dieser Zeit Diskussionen über die Bedeutung sozio-struktureller Rahmungen gegeben hätte. Allerdings lag der Aufmerksamkeitsfokus in der Sozialisationsforschung, und vielleicht sogar noch mehr in der Rezeption durch die Erziehungswissenschaft, eher auf den konstruktivistisch eröffneten Möglichkeiten der „produktiven Realitätsverarbeitung“, was, wie jede Fokussierung, eben auch zu Ausblendungen und Unschärfen führte.
2.2 Sozialisationstheorie und Schulsport
15
gesellschaftlichen Strukturen gegenüber zu stellen wäre, so dass in einem Prozess wechselseitiger Vermittlung und Reproduktion am Ende dann der ‚sozialisierte‘ Mensch stünde. Leitend bleibt in diesem erweiterten Sozialisationsverständnis das Individuum, aber das Individuum in seinem beständigen Austausch mit den relevanten Akteur*innen seines spezifischen mikrosozialen Nahraums. „Die mikrosoziale Herleitung von Sozialisation ermöglicht es, die gesellschaftlichen und individuellen Einflüsse zu erfassen, die Sozialisationsprozesse beeinflussen, mithin die sozialen Bindungskräfte fördern oder untergraben, die Sozialisation auszeichnen“ (Grundmann, 2006, S. 12).
Das Modell von Sozialisation wird damit komplexer. „Auf diese Weise kann letztlich auch die enorme Variationsbreite in den empirischen Ausdrucksformen von Sozialisationspraxen erklärt werden. Die Praxen nämlich informieren über die Gestaltungspotenziale individueller Akteure, verlässliche und auf Solidarität zielende Sozialbeziehungen aufzubauen und auf Dauer zu stellen. Daher unterscheiden sich Sozialisationspraxen – je nach den ihnen zugrunde liegenden sozialen Lebensverhältnissen und sozio-kulturellen Rahmenbedingungen – vor allem durch die Art und Weise, wie sich Bezugspersonen aufeinander beziehen und wie sich die Akteure selbst in die Interaktion einbringen können“ (Grundmann, 2006, S. 12).
Auf der Folie einer derart komplex strukturierten Vorstellung des Sozialisationsprozesses, der Interaktionen seiner Akteur*innen und der Rahmungen durch die korrespondierenden sozialen Praxen, erhält nun das Konzept der Handlungsbefähigung eine zentrale – und in bestimmten Kontexten auch pädagogisch höchst relevante – Bedeutsamkeit. Um in mikrosozialen Nahräumen überhaupt angemessen und erfolgreich agieren zu können, benötigen die beteiligten Individuen eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und Wissensbeständen, die mit Blick auf die jeweils relevanten Lebenswelten in der Regel auch nur begrenzte Geltungsbereiche besitzen. Mit dem Ansatz der Handlungsbefähigung wird nun zunächst auf theoretischer Ebene ein differenziertes Modell des menschlichen Sozialisationsprozesses entwickelt, welches dann auch zunehmend einer empirischen Prüfung unterzogen wird (Grundmann, 2006). Mit dem Modell der Handlungsbefähigung sind aus der Perspektive ihrer Vertreter insbesondere zwei Vorteile verbunden: Zum einen wird die Aufmerksamkeit auf die konkret ablaufenden und Einfluss nehmenden Aushandlungsprozesse in lebensweltlich relevanten Interaktionen und den damit notwendig verknüpften Kompetenzen und Wissensbeständen gelenkt und zum zweiten wird die Frage nach den normativen Vorannahmen klassischer Sozialisationsvorstellungen in ein anderes Licht gerückt. 15
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2 Theoretische Rahmung „Das, was als angemessenes Handeln definiert wird, hängt von den lebensbereichsspezifischen Handlungssituationen ab. Daher bemisst sich die Handlungsbefähigung auch vornehmlich an der konkreten Handlungssituation. Denn was angemessen ist, entscheidet sich erst durch die Anerkennung und Angemessenheit des Handelns, und beides ist von vielen Rahmenbedingungen und Einflüssen der sozialen Umwelt abhängig“ (Grundmann, 2006, S. 66).
Insbesondere die Schule kann als eine Sozialisationsinstanz betrachtet werden, die aus dieser Perspektive Handlungsbefähigungen nur sehr selektiv thematisiert, d. h. aus zunächst vorfindlichen Differenzen in der Handlungsfähigkeit von Schüler*innen in einem weiteren Schritt Defizite konstruiert, die zur systematischen Auf- bzw. Abwertung bestimmter Kompetenzen führt und zwar zumindest in Teilen auch unabhängig von deren lebensweltlichen Bedeutsamkeit für die Akteur*innen. Folgerichtig wird innerhalb des Konzepts der Handlungsbefähigung der Milieuspezifik ein zentraler Stellenwert eingeräumt, womit auf diesem Weg auch entsprechende Anschlüsse an die eingangs erwähnte Ungleichheitsdebatte möglich werden. Innerhalb der Erziehungswissenschaft lässt sich aus anderer Richtung kommend, letztlich aber wohl durchaus mit kompatiblen Zielen (Grundmann, 2008), ebenfalls ein wieder steigendes Interesse an Fragen der Handlungsfähigkeit konstatieren. Der gerechtigkeitstheoretisch fundierte Capabilities-Ansatz stellt „die Erziehungswissenschaft vor die Aufgabe, eine relationale Perspektive zu entwickeln, die es erlaubt, den materiell, kulturell und politisch-institutionell strukturierten Raum gesellschaftlicher Möglichkeiten in Beziehung zum akteursbezogenen Raum der individuellen Handlungs- und Selbstaktualisierungsfähigkeiten ihrer AdressatInnen zu setzen“ (Otto & Ziegler, 2008, S. 12).
Im Zentrum des Capabilities-Ansatzes steht die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit zur Führung eines guten bzw. gelingenden Lebens für möglichst viele, im Idealfall aller Menschen. Insbesondere die Frage, welche Bedingungen und Befähigungen zur Erreichung dieses Ziels notwendig erscheinen, ist natürlich Gegenstand intensiver Diskussionen, die hier allerdings nicht weiterverfolgt werden sollen. Wichtiger für unsere Überlegungen ist die Tatsache, dass auch von diesem Ansatz aus die Ausstattung und Entwicklung von gesellschaftlichen Akteur*innen mit den für die individuell ‚gelungene‘ Lebensführung notwendigen Handlungskompetenzen unmittelbar einleuchtend ist. Unter einer im engeren Sinne pädagogischen Perspektive stellt sich – im Unterschied zur reinen Sozialisationsforschung – in diesem Kontext zusätzlich noch besonders nachdrücklich die Frage nach der praktischen Ausgestaltung und Vermittlung entsprechender Fähigkeiten. Aus einer wiederum ganz anderen Richtung wird innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung unter dem Etikett der ‚Kompetenzorientierung‘
2.2 Sozialisationstheorie und Schulsport
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etwa seit Beginn des Jahrtausends die Frage nach der Messung und Optimierung von als gesellschaftlich wichtig erachteten Fähigkeiten nachdrücklich gestellt und sowohl auf wissenschaftlicher wie auch bildungspolitischer Ebene massiv vorangetrieben. Hintergrund sind hier in erster Linie die weithin als schockierend interpretierten Ergebnisse großer schulischer Leistungsvergleichsstudien (z. B. PISA, TIMSS, IGLU), die eine systematische Verbesserung insbesondere der domänenspezifischen Grundkompetenzen der Schüler*innen einfordern. Auch wenn dem Begriff der Handlungsfähigkeit in diesen Diskussionen explizit kein besonderer Stellenwert zugewiesen wird, so weist die Karriere des Kompetenzbegriffs doch eindeutig in diese Richtung. Letztendlich geht es auch in dieser aktuellen Debatte um die Herstellung von gesellschaftlich als hoch bedeutsam eingestuften Facetten individueller Handlungsbefähigung. Die in den letzten Jahren verstärkt damit verknüpfte ungleichheitstheoretisch fundierten Diskussionen um so genannte Bildungsverlierer und -gewinner zeigt zudem einen weiteren Anknüpfungspunkt für die bereits oben ausgewiesenen Theoriestränge (Baumert & Maaz, 2010).6 Damit dürfte deutlich sein, dass außerhalb des engeren Bereichs der Sportpädagogik eine nachhaltige Renaissance der Leitidee der Handlungsfähigkeit bzw. Handlungsbefähigung zu konstatieren ist. In relevanten Bezugsdisziplinen wird die Thematik nach einer längeren Phase der Vernachlässigung unter zum Teil durchaus erweiterten oder auch neuen Fragestellung intensiv diskutiert. Das sozialisationstheoretische Konstrukt der Handlungsbefähigung findet ein schulsporttheoretisches Pendant im Konzept der Handlungsfähigkeit im und durch Sport (Ehni, 1977; Thiele & Schierz, 2011; Schierz & Thiele, 2013). Man kann wohl von dem zentralen Leitkonzept des Schulsports der letzten beiden Jahrzehnte sprechen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass sich die Leitidee der Handlungsfähigkeit auch in den seit den 1980er Jahren entstandenen Lehrplänen des Fachs Sport an zentraler Stelle niedergeschlagen hat und damit die Basis für die Umsetzung schulsportlicher Praxis bildet. Der Ansatz eines mehrperspektivischen Sportunterrichts steht seither für diese weiter entwickelte Version eines Schulsports, der nicht mehr allein an einer gegebenen Norm im Sinne der schlichten Abbildung des organisierten Vereinssports durch die Institution Schule ausgerichtet sein soll. 6 Auf zentrale Unterschiede in den Erklärungsansätzen für die konstatierten Bildungsungleichheiten soll im Folgenden nicht weiter eingegangen werden. Wichtig ist es allerdings darauf hinzuweisen, dass der Ansatz der Handlungsbefähigung stärker an einer von der Gesellschaftstheorie Bourdieus geleiteten Deutung orientiert ist, während die Forschungen im PISA-Umfeld sich stärker an Rational-Choice-Ansätzen ausrichten. Entsprechend divergent werden auch die Verantwortlichkeiten der Institution Schule für die Entstehung und Vererbung von Bildungsungleichheiten von beiden Seiten eingeschätzt (vgl. dazu im Detail auch Kramer, 2011, S. 117ff). 17
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2 Theoretische Rahmung
Handlungsfähigkeit im und durch Sport umfasst so neben der spezifischen Entwicklung motorischer Kompetenzen immer auch Kompetenzentwicklungen im Bereich kognitiver, sozialer und personaler Dimensionen (Kurz, 1986). Das Ziel der Entwicklung einer Handlungsfähigkeit der Heranwachsenden im und durch Sport nähert sich so der oben beschriebenen Grundidee einer sportiven und partiell allgemeinen Handlungsbefähigung auf konzeptioneller Ebene dicht an. Ermöglichung einer bewegungsorientierten, aktiven Lebensführung – im schulischen Lehrplan als lebenslanges Sporttreiben bezeichnet – und Ermöglichung und Erprobung einer milieuspezifischen sportiven Handlungspraxis – im schulischen Lehrplan als mehrperspektivischer Zugang zum Sport zumindest ansatzweise hinterlegt – bilden dazu die zentralen und weitgehend formal gehaltenen Klammern (Kurz, 1998). Die Verankerung der Handlungsfähigkeit in den bundesdeutschen Richtlinien Sport bietet eine günstige Voraussetzung dafür, dass dieser differenzierte und offen formulierte Anspruch der sportiven Handlungsbefähigung gerade auch im Lernort Schule zur Realisierung gelangen kann. Die aktuellen sozialisationstheoretisch inspirierten Debatten zur Handlungsbefähigung versuchen unter der Verknüpfung von mikro- und makrosoziologischen Perspektiven die Frage faktischer sozialer Ungleichheit stärker in die eigenen Überlegungen zu integrieren. Handlungsbefähigung wird vor diesem Hintergrund immer auch als eine spezifische, genauer als eine milieuspezifisch geprägte, ausgelegt (Grundmann et al., 2006). Diese grundlagentheoretische Perspektive wäre mit Blick auf unser Anliegen bezüglich des Gegenstands Sport und der Institution Schule weiter zu präzisieren. Die einschlägigen Ansätze von Ehni und Kurz thematisieren diese Zuspitzung von Handlungsbefähigung nicht explizit. Zwar gibt es – vor allem angesichts des Kontingenzcharakters des modernen Sports – durchaus Anzeichen für eine Offenheit hinsichtlich einer solchen Spezifizierung, ausbuchstabiert werden diese möglichen Ansatzpunkte aber kaum. Ehni und auch Kurz heben zwar auf die grundsätzliche Bedeutung des Erfahrungshintergrunds der Akteur*innen für die Konstruktion eines angemessenen Schulsports ab (z. B. Kurz, 1977), doch geschieht dies z. B. bei Kurz gerade in jenen Teilen seiner pragmatischen Sportdidaktik, die weitgehend unrezipiert geblieben sind und auch von ihm selbst nicht weiter verfolgt wurden.7 Eine differenzierte Auseinandersetzung mit einer milieuspezifisch 7
Anschlussmöglichkeiten böten sich hier vermutlich auch mit Blick auf das Konzept einer lebensweltlichen Orientierung. Aber auch der Ansatz der „Lebensweltorientierung“ ist in der sportdidaktischen Diskussion über den Status eines Schlagworts in der Vergangenheit nicht hinausgekommen (Zander, 2017). So wird diese Frage meist nur im Kontext der Einführung von so genannten Trendsportarten in den Schulsport geführt. Damit ist aber allenfalls ein Teilaspekt der Fragestellung umrissen.
2.2 Sozialisationstheorie und Schulsport
19
zugespitzten Handlungsbefähigung im Sport wäre eine denkbare Antwort auf die Herausforderungen, die die neuen Ungleichheiten in modernen Gesellschaften und in ihren spezifischen Teilsystemen produzieren. Milieuspezifische, sportive Handlungsbefähigung meint dabei eine habitualisierte aktive Lebensführung, die die Erfahrungen von Handlungswirksamkeit in Bewegungskontexten, die Integration von Bewegung und Sport in die alltägliche Handlungspraxis sowie deren perspektivische Verortung im Lebenslauf umfasst. Sie müsste einerseits den Gedanken ernst nehmen, dass in komplexen Gesellschaften die Anforderungen an die Akteur*innen in unterschiedlichen Milieus extrem disparat sein können und andererseits zur Kenntnis nehmen, dass derartige Anforderungen auch nicht notwendig den jeweils gewünschten pädagogischen Rahmenvorgaben der Institution Schule entsprechen müssen. Wenn sie dies tut, dann wird allerdings sofort auch die daraus sich ergebende Problematik (vielleicht sogar weitere Antinomie) für den Schulsport ersichtlich: So sehr es wünschenswert ist, dass der Schulsport auf die Ansprüche, Bedürfnisse und Notwendigkeiten seiner jeweiligen Klientel durch die Entwicklung spezifischer Handlungsbefähigungen anerkennend eingeht, so problematisch stellt sich diese Einschätzung angesichts der ebenfalls berechtigen Forderung dar, dass Schule – hier: Schulsport – sich nicht mit einer Reproduktion des Status quo zufrieden geben darf oder soll. Überspitzt formuliert: Es ist vermutlich durchaus zutreffend, dass die milieuspezifische Handlungsbefähigung für eine Bewältigung der lebensweltlichen Anforderungen in einem sozialen Brennpunkt mit ambitionierten schul- und sportpädagogischen Zielvorstellungen schwer in Einklang gebracht werden kann, es ist aber auch zutreffend, dass beide Ansprüche ihre je eigene Legitimität haben. Schule muss diesen Widerspruch schon immer aushalten, bzw. richtiger: sie hat ihn dahingehend für sich aufgelöst, dass sie ein Normmodell der Handlungsbefähigung als für alle Akteur*innen verbindlich in ihre Logik implementiert hat, das einerseits Bildungschancen jenseits der Umgangserfahrung eröffnet, andererseits damit zugleich sozial selektive Passungsverhältnisse zwischen Milieu und Schule konstituiert (z. B. Grundmann et al., 2006). Denn die Schule als übergeordnete und idealtypisch ‚neutrale‘ gesellschaftliche Sozialisations- und Bildungsagentur führt, wie bildungssoziologische Studien belegen, den Prozess der Handlungsbefähigung nicht gleichsam wertneutral fort, vielmehr hat die Orientierung an ausgewählten Wert- und Normpräferenzen bildungsnaher Milieus zur Folge, dass bestimmte – eben den Normpräferenzen angepasste – Handlungsbefähigungsmuster bevorzugt und andere, eher widersprechende Muster sanktioniert werden (Grundmann et al., 2004). Es wäre allerdings zu fragen, ob angesichts der dynamischen Entwicklungen moderner Gesellschaften eine derart monolithische Verfasstheit angemessen ist oder ob nicht vielleicht eher Strategien einer ‚flexible response‘ zumindest über19
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2 Theoretische Rahmung
legenswert wären. Der Sport kann in Anbetracht seiner geradezu prototypischen Dynamik einerseits und seiner vergleichsweise hohen Unverbindlichkeit/NichtErnsthaftigkeit andererseits vielleicht zu einem idealtypischen Erprobungsfeld derartiger Strategien werden.8 Die vorgestellten, schwerpunktmäßig sozialisationstheoretischen Überlegungen sollen nun schul(-sport)theoretisch weiter konkretisiert und zugespitzt werden.
2.3
Schule – Lebenswelt – Sport: Passungsverhältnisse
2.3
Schule – Lebenswelt – Sport: Passungsverhältnisse
Im Hinblick auf die Heranwachsenden zeichnet sich Schule durch eine Besonderheit aus, die ihr ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb moderner Gesellschaften verschafft. Alle Heranwachsenden unterliegen der Schulpflicht, Ausnahmen davon sind gesondert zu begründen und schwer durchsetzbar. Kern dieser allgemeinen Schulpflicht, deren Durchsetzung historisch gesehen im Übrigen alles andere als selbstverständlich war, ist – neben anderen Funktionen – die Gewährleistung „öffentlich organisierter Bildungsprozesse“ (Tenorth 1994, S. 33ff.) für alle Heranwachsenden. Historisch gesehen bedeutet dies auch zunächst einmal die Verringerung von sozialen Ungleichheiten durch die Ermöglichung einer ‚Volksbildung‘ etwa durch die drastische Reduktion des Analphabetismus in der Bevölkerung. Die Entwicklungen im 20. Jahrhundert zeigen aber auch, dass Schule als gesellschaftliche Institution neue Ungleichheiten produziert, z. B. durch früh einsetzende Selektionsfilter in Form eines dreigliedrigen Schulsystems oder durch die flächendeckende Entwertung von Bildungszertifikaten als Folge der Bildungsexpansion am Ende des 20. Jahrhunderts. Alles andere als eine neue, wenn man so will mit Bourdieu (1982) feinere, Produktion von Unterschieden wäre auch gesellschaftstheoretisch gesehen eine Überraschung. Schule als eine Institution von der Gesellschaft und für die Gesellschaft, mit ihren unterschiedlichen Akteur*innen und Interessen, mit ihren unterschiedlichen Weisungsbefugnissen und Abhängigkeiten, mit ihren unterschiedlichen Funktionen und Erwartungen muss diese Unterschiede innerhalb ihrer Möglichkeiten prozessieren, bearbeiten und vielleicht auch verändern, aufheben kann (und wird) sie sie aber nicht. Überraschend am Nach-PISA-Schock des beginnenden 21. Jahrhundert war dann auch nicht in erster Linie, dass das deut8 Der explizit hypothetische Charakter dieses Gedankens sei hier noch einmal nachdrücklich betont. Keinesfalls soll ‚dem‘ Sport hier einfach eine weitere Heilsperspektive angedichtet werden. Der empirische Teil des Projekts dient ja auch der Frage, ob und inwieweit ein solcher Gedankengang auch eine empirische Bewährung erhält.
2.3 Schule – Lebenswelt – Sport: Passungsverhältnisse
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sche Bildungssystem nach wie vor auch Ungleichheit (re-)produziert, sondern wohl eher das Ausmaß und die Struktur dieser diagnostizierten sozialen Ungleichheit. Blickt man – ohne dies hier weiter ausbuchstabieren zu können – etwa einmal auf einschlägige Indikatoren sozialer Ungleichheitsproduktion im Bildungssystem, so hat mit Bezug auf das berühmt gewordene Dahrendorf’sche ‚katholische Mädchen vom Land‘ als traditionelle ‚Bildungsverliererin‘ der 1960er Jahre heute vielleicht eher der ‚großstädtische Junge mit Migrationshintergrund‘ diese Funktion übernommen – was eben bedeutet, dass Bildungsungleichheit sich deutlich verändert hat, vielleicht haben auch in einigen Dimensionen die Ungleichheitsgewichte abgenommen, dafür sind aber eben auch andere Formen von Ungleichheit neu hinzugekommen. Das Resultat – so könnte man resümieren – sich verändernder sozialer Ungleichheitsrelationen im Bildungssystem ist also nicht Gleichheit, sondern sind neue Formen der Ungleichheit (u. a. Quenzel & Hurrelmann, 2010). Damit ist aber auch nur die Oberflächenstruktur der Ungleichheitsdimension innerhalb des Bildungssystems beschrieben. Blickt man tiefer in die Schulforschung, so stellt man relativ schnell fest, dass mit der formalen Organisation Schule zwar eine durchaus relevante Struktur erfasst ist, der Fokus aber für weitergehende Analysen noch zu schärfen ist. Die etwa zeitgleich mit der Publikation der ersten PISA-Ergebnisse entstandene empirische Schulkulturforschung (Helsper, Böhme, Kramer & Lingkost, 2001) macht genau das, indem sie wissend um die Bedeutung der Systemebene ihren Fokus auf die Einzelschulen lenkt und damit eine Perspektive aufgreift, die innerhalb der Schulentwicklungsforschung bereits in den 1990er Jahren eine gewisse Relevanz erhalten hatte (z. B. Dalin 1999; Rolff 2007), die durch die im deutschen Sprachraum mit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie einsetzenden international vergleichenden Schulwirksamkeitsstudien aber weitgehend in den Hintergrund der Schulforschung gedrängt wurde. Die Schulkulturforschung9 geht dabei von einem Mehrebenenmodell aus, wobei die Einzelschule als eine Art Mesoebene fungiert, die in die (regionalen, nationalen, internationalen) Rahmungen eines Bildungssystems eingeordnet ist und selbst wiederum den Rahmen für die Interaktionen und Kommunikationen der lokalen Akteur*innen (Schulleitungen, Lehrkräfte, Schüler*innen etc.) bildet (Helsper et al., 2001, S. 20ff.). Jede Einzelschule entwickelt innerhalb dieser komplexen Strukturen unterschiedlicher Abhängigkeiten eine Art Eigenleben, das gerade nicht eine ein9 Wenn hier von ‚der‘ Schulkulturforschung gesprochen wird, so ist dies dahingehend zu präzisieren, dass jenes empirisch-analytisch ausgerichtete Forschungsprogramm gemeint ist, das im Umfeld des Hallenser Zentrums für Schulforschung und Lehrerbildung entstanden ist und mit Namen wie Helsper, Krüger, Kramer, Böhme u. a. verbunden ist. Dass darüber hinaus auch andere Verständnisse von Schulkultur existieren, ist unbestritten (Helsper, 2010). 21
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2 Theoretische Rahmung
fache Kopie der Vorgaben der systemischen Ebene darstellt, sondern eine vor dem Hintergrund und unter Berücksichtigung der vorhandenen und mehr oder weniger bewussten Interessenlagen und Gegebenheiten der relevanten Akteur*innen emergierende symbolische Ordnung, eben die jeweilige Schulkultur mit ihren durch die Forschung zu rekonstruierenden symbolischen, imaginären und realen Facetten. Mit dieser Sichtweise wird die Bedeutung der Systemebene für die schulische Wirklichkeit nicht prinzipiell bestritten, sondern in einen komplexeren Zusammenhang von Wirkmechanismen gestellt. Schulkulturen sind nur im Plural zu haben und eine wesentliche Aufgabe der Schulkulturforschung liegt in den Rekonstruktionen dieser Schulkulturen, die in weiteren Abstraktionsschritten dann durchaus wieder zu allgemeineren Strukturen, zumeist in Form von Typologien, führen können. Wichtig für unsere Fragestellung ist nun insbesondere, dass die Rekonstruktion differenter Schulkulturen auch die Problematik der schulischen Beteiligung an der Produktion von Bildungsungleichheiten in ein anderes Licht zu rücken vermag. Wie bereits eingangs vor dem Hintergrund von sozialisationstheoretischen Annahmen erwähnt, stellt die Schule offenbar keine neutrale Instanz zur Vermittlung gesellschaftlich relevanten Wissens und Könnens dar, die allen schulpflichtigen Heranwachsenden ohne Ansehen ihrer Herkunft eine offene Gestaltung ihrer Zukunft ermöglichen würde. Stattdessen verfügt Schule über eine Art kultureller Bias, der dazu führt, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen von den Angebotsformen von Schule mehr profitieren können als andere „und darüber aus sozialer Ungleichheit eine Bildungsungleichheit macht, die in der Lage ist, die soziale Ungleichheit zu perpetuuieren, weil sie an die kulturelle Willkür der herrschenden Kultur gebunden ist […] Privilegierte soziale Schichten und das Bildungssystem mit seinen Repräsentanten stützen und bestätigen sich damit wechselseitig, so dass Bourdieu und Passeron bei dieser Passungskonstellation von einer ‚prästabilierten Harmonie‘ sprechen“ (Kramer, 2011, S. 342).
Diese Perspektive variiert die Schulkulturforschung nun, indem sie die grundlegende These des Passungsverhältnisses zwar aufgreift, aber auch entscheidend weiter ausdifferenziert. Nicht die Schule trifft auf die Gesellschaft, sondern vielfältige Schulkulturen treffen auf Heranwachsende aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus. Die grundlegende sozialisationstheoretische Annahme wird dadurch natürlich nicht falsch, aber sie stellt nur eine von zahlreichen Passungskonstellationen dar, die in der Schulkulturforschung dann als Institutionen-Milieu-Komplexe weiter untersucht werden.10 Das relativ einfach strukturierte Bourdieusche Schema 10 In einer jüngeren Studie stellen Helsper et al. (2018) diese Zusammenhänge sehr differenziert an einer Gruppe so genannter ‚exklusiver‘ Gymnasien dar. Hier wird exemplarisch
2.3 Schule – Lebenswelt – Sport: Passungsverhältnisse
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schulischer Passungsverhältnisse von Souveränität (privilegierte Klassen), Streben (Mittelschicht) und Abstoßung (untere Klassen) muss aus der schulkulturellen Perspektive an den konkret wirkenden und gelebten einzelschulischen Kulturen nochmals gebrochen werden. Tendenziell, da dürfte die Sozialisationstheorie durchaus richtig liegen, unterstützen und verstärken die Rahmungen der Institution Schule eher die gesellschaftlichen Gruppen, die für die Entwicklung der institutionellen Rahmenvorgaben auch verantwortlich zeichnen – also die privilegierten Klassen im Sinne Bourdieus, aber dennoch gibt es empirisch rekonstruierbare Unterschiede, je nachdem ob die Milieuspezifik z. B. an der Schulkultur einer pädagogischen Reformschule, eines Elitegymnasiums oder einer Brennpunktschule gebrochen wird.11 Daraus folgt zwangsläufig, dass die Schulkulturforschung aus ihrer inneren Logik heraus sehr viel stärker als in der Schulforschung gemeinhin üblich, den Blick auf die konkreten Akteur*innen der zu untersuchenden Einzelschulen richten muss. Um die Passungsverhältnisse (Institutionen-Milieu-Komplexe) möglichst detailgenau rekonstruieren zu können, ist es unumgänglich neben der Rekonstruktion der Einzelschulkultur auch die spezifische Schüler*innenklientel zu betrachten12 und zwar in ihrer gesellschaftlichen Rolle als Heranwachsende (Jugendliche, Peers) und nicht nur in ihrer Rolle als Schüler*innen. Schulkulturforschung öffnet sich damit notwendig auch in Richtung der relevanten schulischen Lebenswelten, denn ohne eine systematische Lebensweltanalyse ist die Rekonstruktion von Passungsverhältnissen nicht realisierbar.13
nachvollziehbar wie sich einerseits Schulformen weiter ausdifferenzieren, so dass schon die Kategorie der Schulform nur noch bedingt aussagekräftig ist, andererseits aber Schulen – so sie sich es erlauben können – auch gezielt soziale Milieus bzw. ausgewählte Schüler*innen gezielt ansprechen und rekrutieren bzw. auch ,abstoßen‘. 11 Wobei im Grunde auch diese Etikettierungen noch zu sehr ‚typisieren‘ und den empirischen Gegebenheiten nicht gerecht werden. Zum Zwecke der Veranschaulichung ist es aber an dieser Stelle vielleicht legitim und hilfreich, die benannten Schul-Labels zu benutzen. 12 Aber natürlich auch Eltern, (außerschulische) Peers oder die Lehrer*innen, da alle Akteur*innen an der komplexen Struktur der Passungsverhältnisse auf ihre Art mitwirken. Aufgrund unserer eingegrenzten Projektfragestellung fokussieren wir uns aber auf die Bedeutung der Schüler*innen. 13 Diese hier vorgenommene Fokussierung auf die benannten Passungsverhältnisse bedeutet selbstverständlich nicht, dass diese Einbeziehung lebensweltlicher Rahmungen die einzige Aufgabe von Schule wäre. Schule hat darüber hinaus immer auch die übergeordnete Funktion, die gesamtgesellschaftlichen Schnittmengen zum Gegenstand ihrer Vermittlung zu machen. Diese Aufgabe steht allerdings bei den nachfolgenden Überlegungen nicht im Vordergrund. 23
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2 Theoretische Rahmung
Wenn also – wie immer wieder zitiert – wir nicht für die Schule lernen, sondern für das Leben und wenn Schulpädagogik sich diese Leitlinie in Form einer Lebensweltorientierung von Schule zu eigen macht, dann stellt sich systematisch die Frage nach den konkreten Rahmungen einer solchen Perspektive. Schule als gesellschaftliche Organisation weist ihren Akteur*innen einen Status zu, der auf die in der Organisation hinterlegten Verhaltenserwartungen ausgerichtet und damit zwangsläufig partial strukturiert ist. Heranwachsende sind für einen bestimmten Entwicklungszeitraum (notwendig) auch Schüler*innen, sie sind aber immer auch noch mehr und anderes. Dieses ‚Mehr‘ dokumentiert sich in einer differenzierungstheoretischen Sicht formal als zunächst einmal weitgehend autark zu verstehende schulische Umwelt. Historisch betrachtet entsteht parallel zur Etablierung eines flächendeckenden Schulsystems die Notwendigkeit der ‚Freistellung‘ von bis dahin in ihren jeweiligen Lebenswelten integrierten Kindern und Jugendlichen in eine Teilzeitwelt Schule mit ihren eigenen, gesellschaftlich legitimierten Normen und Regeln.14 Erst diese Parallelstruktur erfordert auch eine Relationierung der unterschiedlichen Rahmen (z. B. Schule – Freizeit – Familie). Die gesellschaftlichen Entwicklungen zeigen nun interessanter Weise, dass erst mit der Teilvereinnahmung einer bis dahin totalen Lebensweltverbundenheit durch die Schule für die Heranwachsenden auch noch neue Anforderungen an die Gestaltung nicht-schulischer, aber auch nicht (mehr) alltagsweltlich vereinnahmter Handlungsräume entstehen. ‚Frei-Zeit‘ als neu entstehender ‚Frei-Raum‘ für Heranwachsende wird in modernen Gesellschaften zur zunehmend komplexen Gestaltungsaufgabe, die entsprechend den dynamischen Entwicklungstendenzen moderner Gesellschaften auch permanenten Wandlungs- und Anpassungsprozessen unterliegt.15 Verknüpft man diese Beschreibungen mit den weiter oben explizierten schulkulturellen Annahmen, dann ist verständlich, dass sich aus der abstrakten Forderung einer eher neutralen Relationierung von Teilwelten auf der Makroebene, umgehend die Frage nach den konkreten Passungskonstellationen von schulischen, milieuspezifischen und individuellen Strukturen auf einer Einzelschulebene aufdrängt. Schaut man nun etwas genauer auf die lebensweltliche Seite der Passungsverhältnisse, dann wird sehr schnell klar, dass auch Lebenswelt nicht als ein homo-
14 Die Entstehung einer eigenen ‚Lebensphase Jugend‘ mit den sich daraus entfaltenden, spezifischen Entwicklungsaufgaben ist eine der Konsequenzen dieser Entwicklung. 15 So findet sich etwa ab der Jahrtausendwende vermehrt die These, die von einem stetigen Bedeutungszuwachs der Teilwelt Schule für Heranwachsende ausgeht, was zu entsprechenden Konsequenzen für die korrespondierenden Welten führt. Die Diskussion um G8/G9 kann als ein Beispiel für solche dynamischen Prozesse gelten (Reinders, 2016).
2.3 Schule – Lebenswelt – Sport: Passungsverhältnisse
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genes Gegenüber der Schule verstanden werden kann.16 Modernisierungstypische Differenzierungsprozesse machen auch hier die Heterogenität zum Normalfall. Als anschauliches und vielleicht bekanntestes Beispiel kann auf die so genannten Sinus-Milieustudien verwiesen werden, die die aktuelle Sozialstruktur Deutschlands in nach bestimmten Gesichtspunkten geclusterte soziale Milieus unterteilt (z. B. Barth, Flaig, Schäuble & Tautscher, 2018). Derzeit werden dabei zehn Milieus unterschieden, die untereinander wiederum Schnittmengen bilden.17 Uns geht es dabei nicht um die theoretische oder methodische Angemessenheit derartiger Konstruktionen, auch nicht um deren konkrete Zahl, sondern allein um den Befund der Pluralität sozialer Milieus (z. B. Ilg, 2014). Schüler*innen entstammen solchen Milieus und sie verbringen auch während ihrer Schulzeit einen erheblichen Teil ihrer Lebenszeit in diesen Milieus, die dann vornehmlich in der Jugendphase auch noch um spezifische Peer- oder Jugendkulturen mit wiederum eigenen Einflussstrukturen erweitert werden können. Schulkulturen wiederum formulieren eigene Erwartungshaltungen, die in Teilen den spezifischen Rahmenbedingungen der je besonderen Schule geschuldet sind, etwa in Form eines besonderen ‚Schulmythos‘, die in Teilen aber immer auch die gesellschaftlich übergeordneten Grundfunktionen und -aufgaben von Schule repräsentieren, etwa in Form von Selektionsregeln oder Mustern der Leistungserbringung. Insbesondere Letztere sind – so die Grundannahme Grundmanns (u. a. Grundmann et al., 2006), Bourdieus (u. a. Bourdieu, 2001) oder Helpers (u. a. Helsper et al., 2001) – das Resultat der Einflussnahme jener sozialen Milieus, die über entsprechende Macht- und Durchsetzungspotenziale verfügen, um milieurelevante Ansprüche (im Sinne von Eigeninteressen) gesamtgesellschaftlich verbindlich machen zu können. Damit wird klar, dass die Rollen im ‚Spiel‘ um gesellschaftlich anerkannte und verwertbare Passungskonstellationen schon strukturell ungleich verteilt sind. Auf schulischer Seite dominieren dabei Basisregeln, die eng mit den Rahmungen (z. B. Leistungsbereitschaft, Bedürfnisaufschub, Disziplin) jener Milieus korrespondieren, die man gemeinhin als ‚bildungsnah‘ umschreibt, die aber auf einzelschulischer Ebene dann noch einmal schulkulturell überformt werden können, ohne dabei 16 Dies zumindest dann nicht, wenn man die sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskurse als Referenz nimmt. Verlässt man hier die Ebene der weitgehend phänomenologisch inspirierten Grundidee der Lebenswelt sensu Husserl und nimmt die konkreten Untersuchungen zu Ausprägungsformen und Gestalten von Lebenswelten in den Blick, dann zeigen sich diese nur noch als plurale Konstrukte und changieren zudem auch noch in den bevorzugt benutzten Grundbegrifflichkeiten (z. B. Alltagswelten, Milieus, soziale Lagerungen). 17 Etwas weniger bekannt ist, dass eine vergleichbare Clusterung auch für Jugendliche vorgenommen wird, die aktuell sieben unterscheidbare Jugendmilieus identifiziert. 25
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2 Theoretische Rahmung
allerdings ausgehebelt zu werden. Ein eliteorientiertes Privatgymnasium wird die Basisregeln dabei schulkulturell anders ‚ausgestalten‘ (müssen) als eine Gesamtschule im sozialen Brennpunkt. Die Schüler*innen wiederum treffen mit ihren milieuspezifischen Prägungen auf diese Rahmungen, was zu unterschiedlichsten – mehr oder weniger harmonischen – Resonanzmustern führt.18 Aber auch die Ebene der Einzelschulkultur ist nicht homogen oder monolithisch strukturiert, sondern eröffnet selbst wiederum Räume für zumindest partiell unterschiedliche Deutungen durchaus manifester Grundkonstellationen. Eine Kernstruktur schulischer Organisation ist dabei der Fächerkanon, der gern in so genannte ‚Hauptfächer‘ und ‚Nebenfächer‘ unterteilt wird. Resultat ist eine in Anlehnung an Zinneckers (1975) heimlichen Lehrplan mehr oder weniger ‚heimliche‘ Fächerordnung, in der sich die gesellschaftlich relevante Bedeutung der schulischen Fächer widerspiegelt. Nicht umsonst stimmen die regelmäßig in den OECD gesteuerten Leistungsvergleichsstudien untersuchten PISA-Fächer (Mathematik, Muttersprache, Englisch, Naturwissenschaften) mit diesen Hauptfächern überein und bilden so auch den harten Kern für die schulisch wie auch gesellschaftlich relevanten Selektions- und Auswahlprozesse. Den ‚Rest‘ bilden ‚da-neben‘ dann alle anderen Fächer, deren gesellschaftliche Bedeutsamkeit und Reputation sicher auch noch einmal unterschiedlich, vermutlich sogar milieuspezifisch, gefasst werden kann. Diese Fächerordnung soll hier aber nicht schulkritisch aufgeladen, sondern allein zu analytischen Zwecken herangezogen werden. Das Fach Sport besitzt ohne Zweifel den Status eines solchen Nebenfachs, genau wie der gesellschaftlich betriebene Sport oftmals als schönste Nebensache der Welt beschrieben wird19. Eben weil das so ist, ergeben sich aus dieser eher randständigen 18 Wobei natürlich auch im Vorfeld schon Passungsprozesse ablaufen. Um beim Beispiel zu bleiben: der oder die Heranwachsende aus dem sozialen Brennpunkt wird in aller Regel schon aus finanziellen Gründen gar nicht den Zugang zum eliteorientierten Privatgymnasium erlangen können, auch wenn eine meritokratische ‚Offenheit‘ gern von solchen Institutionen nach außen kommuniziert wird. 19 Natürlich ließe sich auch diese Darstellung relativieren: So ist das Fach Sport fast überall als durch alle Jahrgangsstufen gesetztes Pflichtfach mit einer hohen Gesamtstundenzahl im Kanon vertreten und führt in Schüler*innen-Befragungen regelmäßig als Lieblingsfach die Fachrankinglisten an. Allerdings würde wohl niemand ernsthaft auf die Idee kommen, im Entscheidungsfall das Fach Mathematik oder das Fach Deutsch dem Fach Sport zu opfern. Aber auch die gesellschaftliche Deutung als ‚schönste Nebensache der Welt‘ ist sicher mittlerweile diskutierbar und dies umso mehr, als ‚Fitness‘ immer mehr zu einer gesellschaftlichen Leitwährung mutiert, die mit der Schaffung und Erhaltung eines leistungsfähigen und -bereiten Körpers die Grundlage eines konkurrenzfähigen Subjekts moderner Gesellschaften unterstützt. Diese Deutungsangebote von Sport kursieren aber eher unter dem Radar öffentlicher Wahrnehmungen.
2.3 Schule – Lebenswelt – Sport: Passungsverhältnisse
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schulischen Position auch Möglichkeiten ganz eigener Art (vgl. Kap. 2.2). Das Fach Sport könnte – wie weiter oben beschrieben – unter den Rahmenbedingungen schulischer Grundstrukturen eine Art ‚Experimentierfeld‘ bieten, in dem gesetzte Passungsnormative abgemildert, umgedeutet und vielleicht auch zeitweise eingeklammert werden könnten, weil der harte Kern der Schule dadurch nicht angetastet würde. Damit ist zunächst einmal nichts weiter als ein Potenzial beschrieben, über dessen reale Umsetzung bzw. Umsetzbarkeit noch nichts ausgemacht ist. Die Nichternsthaftigkeit großer Teile des gesellschaftlichen Phänomens Sport und die eher randständige schulische Positionierung des Faches bilden jedenfalls die Voraussetzungen, um überhaupt die entsprechenden ‚Spielräume‘ eröffnen zu können – eben weil gesellschaftlich und schulisch betrachtet nicht viel auf dem Spiel steht.20 Betrachtet man den Sport als gesellschaftliches Phänomen, so fällt vor allem seine dynamische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ins Auge. Zwar sind entsprechende Umfragen und Studien zur Sportpartizipation aus unterschiedlichen Gründen immer auch mit einer gewissen Distanz zu betrachten, doch unbestreitbar dürfte sein, dass der Sport für eine große und offenbar noch weiter wachsende Zahl von Menschen zur lebensweltlichen Normalität geworden ist. Sport – oder Bewegung oder körperliche Aktivität21 – ist nicht mehr allein schwerpunktmäßig der Kindheit und Jugend als „Altersnorm“ zuzuschreiben (Zinnecker, 1989, S. 136), sondern greift immer weiter auf die Gesamtbiographie der Menschen aus, so dass das zunächst hauptsächlich von Seiten des organisierten Sports formulierte Ideal vom ‚lebenslangen Sporttreiben‘ für eine zunehmende Zahl von Menschen – ‚Sport für alle‘ – immer mehr zur zumindest ‚gefühlten‘ Realität wird. Als ein gesellschaftlich weitgehend positiv konnotierter Lebensstilfaktor erzeugt der Sport (oder: die sportive Einstellung) so auch einen Sog des Dazugehören-Wollens, der gesellschaftlich immer weitere Kreise zieht (bereits Kaschuba, 1989). Es mag also durchaus sein, dass die beeindruckenden Größenordnungen, die repräsentative Umfragen nach der eigenen Sport- oder Bewegungsaktivität immer wieder erzielen, in Teilen auch einer Tendenz zur sozialen Erwünschtheit geschuldet sind, doch
20 Dabei soll gar nicht bestritten werden, dass es auch Formen des Sports gibt, in denen eine Menge auf dem Spiel steht. So z. B. weite Teile des Hochleistungssports, aber auch z. B. Sport als Rehabilitationsfaktor. Diese Formen des Sports spielen allerdings im vorliegenden Kontext keine Rolle und werden wohl auch eher als Sonderformen des Sports wahrgenommen. 21 Wir möchten den Begriff ‚Sport‘ hier in einem weiten Verständnis verstanden wissen, ohne auf die Detailfragen nach möglichen Definitionen oder Begriffsumfängen an dieser Stelle einzugehen. Daher ergänzend auch die Begriffe der ‚Bewegung‘ und der ‚körperlichen Aktivität‘. 27
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2 Theoretische Rahmung
bestätigt letztlich auch diese Tendenz nur die These der wachsenden gesellschaftlichen Relevanz des Sports. Verständlich wird dieser Prozess sowohl durch sportexterne wie -interne Entwicklungen. Ohne auch hier ins Detail zu gehen, wird man als externe Einflussfaktoren sicher die Medialisierung und die Ökonomisierung der Gesellschaft als unterstützende Faktoren identifizieren können. Ohne Übertreibung wird man den Sport als Lieblingskind der medialen Entwicklung des 20. Jahrhunderts bezeichnen dürfen22, was in der Konsequenz zu einer enormen Publizität und Öffentlichkeit des Sports geführt hat. Auch wenn die Medien natürlich in allererster Linie den Sportkonsum bedienen und nicht die Sportaktivität, ist die Relevanzsteigerung des Phänomens Sport durch die mediale Entwicklung kaum zu überschätzen. Die zunehmende Ökonomisierung moderner Gesellschaften in Form der besonderen Wertschätzung von dynamischen, leistungsbereiten und ‚fitten‘ Individuen erfordert ergänzend zudem die prinzipielle und dauerhafte Bereitschaft des Einzelnen, sich diesen Anforderungen auch aktiv zu stellen und ihnen z. B. durch einen sportiven Lebensstil auch möglichst weitgehend zu entsprechen.23 Sportintern wird diese gesellschaftliche Rahmung durch Tendenzen der Pluralisierung und Individualisierung unterstützend begleitet. Bestand der Sport bis vor einem halben Jahrhundert noch im Kern aus der Monokultur des organisierten Sports, d. h. in Deutschland: Vereinssport, dann hat sich dieses Bild gegenwärtig massiv gewandelt. So bieten zum Beispiel kommerzielle Angebote – und hier insbesondere die Fitness-Studios – oder auch die so genannten informellen Aktivitäten neue Möglichkeiten für Menschen, die durch den organisierten Sport nicht oder nur unzureichend adressiert werden konnten. Die Pluralisierung der Sportarten und die Entwicklung immer neuer Trends tun ein Übriges, um den häufig individualisierten Bedürfnissen moderner Zeitgenossen gerecht werden zu können. Aufs Ganze gesehen bietet der sich dynamisch weiter entwickelnde Sport so ausgezeichnete Möglichkeiten, um den Erfordernissen moderner Gesellschaften gerecht werden zu können. Der Aufstieg des Sports als ein bedeutsames Teilsystem differenzierter Gesellschaften ist also
22 Diese zeitliche Einschränkung erfolgt sehr bewusst und fokussiert insbesondere auf die Wirkung des Sports im Fernsehen im ausgehenden 20. Jahrhundert. Ob die so genannten ‚neuen Medien‘ des 21. Jahrhunderts eine strukturell ähnliche Wirkung entfalten werden, ist aktuell als offene Frage zu betrachten. Themen wie E-Sports oder auch die Verbreitung sportiver Körperideale könnten als Fingerzeige in diese Richtung gedeutet werden, doch ist die Dynamik dieser Prozesse aktuell so hoch, dass sich Entwicklungsprognosen verbieten. 23 So zumindest die idealtypische Lesart für die Teile der Gesellschaft, die diesen Zielstellungen folgen können, die also nicht von der Gesellschaft ,abgehängt‘ sind oder werden.
2.3 Schule – Lebenswelt – Sport: Passungsverhältnisse
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durchaus kein Zufall, sondern das Resultat der Passfähigkeit gesellschaftlicher und sportiver Strukturen. Damit bietet sich der Sport aber auch als ein ausgezeichnetes Feld für die Thematisierung von Handlungsbefähigung innerhalb schulischer Prozesse an. Aufgrund seiner lebensweltlichen Allgegenwart einerseits und dem schulischen Anspruch einer Thematisierung lebensweltlich relevanter Handlungsfelder andererseits, scheinen die Voraussetzungen für das Fach Sport in der Schule günstig. Dies setzt natürlich voraus, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen auch auf schulischer und fachlicher Ebene eine entsprechende Resonanz finden (können). Das weiter oben vorgestellte Konzept der Handlungsfähigkeit im Schulsport bietet dazu die Möglichkeit einer strukturellen Kopplung, auch wenn die hier im Vordergrund stehende Ebene milieuspezifischer Passungsstrukturen dort sicher noch zu wenig ausbuchstabiert worden ist. Das methodische Prinzip der Mehrperspektivität könnte, wenn man es von seiner ursprünglichen Bindung an die pädagogisch als relevant erachteten Perspektiven löst, dabei als eine Grundlage für eine entsprechende Strukturierung des Faches dienen, ohne dass dies hier weiter ausgearbeitet werden kann und muss. Die gesellschaftliche Pluralität und Buntheit des Sports ist allerdings auch nicht beliebig. So zeigen zahlreiche Untersuchungen immer wieder, dass auch die Wahl sportlicher Aktivitäten nicht unabhängig von gesellschaftlichen Rahmungen erfolgt. Die insbesondere von Seiten des organisierten Sports immer wieder vernehmbare These vom Sport als gesellschaftlichen ‚Gleichmacher‘ bedarf zumindest der Ergänzung, dass dies kein ‚dem Sport‘ gewissermaßen inhärenter Automatismus ist, sondern dass auch sportliche Aktivitäten immer an sozio-strukturelle Merkmale gekoppelt sind. Wenn man so will, finden sich auch im Feld des Sports Passungen und Passungsstrukturen, die einer genaueren Betrachtung bedürfen. Dies soll nun nachfolgend geschehen, indem das Konzept der Intersektionalität als Deutungsfolie sowohl theoretisch eingeführt als auch hinsichtlich seines aktuellen Forschungsstands in Bezug auf das Phänomen Sport näher beschrieben wird. Mit dem Konzept der Intersektionalität wird ein Analysefokus schärfer gestellt und in den vorliegenden Diskussionskontext eingebunden, der aufgrund seines mehrperspektivischen Konstruktionscharakters ein hohes Anschlusspotenzial an die bisherigen Überlegungen eröffnet, indem das mehrfach angesprochene Thema der sozialen Ungleichheit einerseits sozialwissenschaftlich gerahmt und andererseits auch auf die eigene Untersuchung hin zugeschnitten wird.
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2 Theoretische Rahmung
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Das Konzept der Intersektionalität
2.4
Das Konzept der Intersektionalität
Der Begriff Intersektionalität wurde vor 30 Jahren von der afroamerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw in die Diskussion eingebracht. Die juristische Sichtweise beeinflusste zunächst die Reichweite des Konzepts (Lenz, 2010). Inzwischen wird das Konzept nicht nur in der Geschlechterforschung weitergeführt, sondern hat sich als Buzzword (Davis, 2008) oder Travelling Concept (Knapp, 2005a; Walgenbach, 2017a) u. a. auch in der Soziologie, Erziehungswissenschaft und Sportwissenschaft etabliert. Der Erfolg dieses Konzepts hänge so Davis (2008) u. a. mit dessen Unbestimmtheit und Offenheit zusammen. Zudem werde eine alte Debatte der Frauenbewegung und Geschlechterforschung aufgegriffen, und scheinbar inkompatiblen Ansätzen (z. B. antikategoriale vs. strukturelle Ansätze) werde eine neue Plattform bzw. ein gemeinsamer Knotenpunkt geboten. Momentan ist strittig, ob Intersektionalität ein Konzept, eine Beobachtungs- bzw. Analyseperspektive oder bereits ein wissenschaftliches Paradigma darstellt (Bührmann, 2009; Davis, 2008; Hormel, 2012; Walgenbach, 2017b). Unter Intersektionalität fasst Walgenbach, „dass historisch gewordene Diskriminierungsformen, Machtverhältnisse, Subjektpositionen sowie soziale Ungleichheiten wie Behinderung, Geschlecht, Sexualität, Race/Ethnizität/Nation oder soziales Milieu nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren Interdependenzen oder Überkreuzungen (intersections) analysiert werden müssen. Der Fokus wird somit auf die Wechselbeziehungen von sozialen Kategorien bzw. Ungleichheiten gelegt, die spezifische Formen von Diskriminierungs- und Machtkonstellationen hervorbringen“ (2017a, S. 212).
Walgenbach (2017a) versucht den gemeinsamen Kern der unterschiedlichen Ansätze in sechs Prämissen zu bündeln: (1) Eindimensionale Analysen greifen zu kurz. Es gibt nicht ‚die Mädchen‘ oder ‚die Jugendlichen mit Migrationshintergrund‘. (2) Eine Addition von Kategorien, die sich in Aussagen wie ‚Hauptschüler sind dreifach benachteiligt‘ widerspiegelt, wird kritisiert, weil „das Spezifische einer Machtkonstellation damit nicht erfasst werden kann bzw. zunächst erst einmal rekonstruiert werden muss“ (Walgenbach, 2017a, S. 214). Daraus folgt (3), dass nach den Wechselbeziehungen von Kategorien bzw. Machtverhältnissen zu fragen ist, wobei die Kategorien (4) zunächst als gleichrangig betrachtet werden. Es geht (5) um Fragen der sozialen Ungleichheit, um die Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, wobei Prozesse der Subjektivierung oder Identitätsbildung eingeschlossen sind. Das bedeutet aber auch, dass „erziehungswissenschaftlich relevante Heterogenitätsdimensionen wie Lerntempo, Leistung oder Talent“ (Walgenbach, 2017a, S. 215) nicht zum Gegenstandsbereich gehören. In die Analyse sind (6)
2.4 Das Konzept der Intersektionalität
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„unterschiedliche Ebenen einzubeziehen, auf denen Macht operiert bzw. hergestellt wird: soziale Strukturen, Institutionen, symbolische Ordnungssysteme, soziale Praktiken, Subjektformationen. Dabei wird in der Intersektionalitätsforschung davon ausgegangen, dass diese Ebenen lediglich analytisch getrennt werden können. Es geht demnach in den meisten intersektionalen Studien nicht allein um die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen den Kategorien bzw. Machtverhältnissen, sondern ebenfalls um die Herausarbeitung der Wechselbeziehungen zwischen den Ebenen“ (Walgenbach, 2017a, S. 215; vgl. auch Budde, 2013).
Diese Prämissen sind auch für unsere Analysen leitend. Wir gehen davon aus, dass die Form und das Ausmaß der sportiven Partizipation von Jugendlichen nicht eindimensional, sondern nur mit Blick auf die konfigurative Verschränkung verschiedener sozialstrukturell relevanter sozialer Zugehörigkeiten bzw. verschiedener Dimensionen sozialer Ungleichheit erklärt werden kann. Trotz dieser von vielen Intersektionalitätsforscher*innen geteilten Prämissen gibt es ganz unterschiedliche, teilweise sogar konkurrierende Ansätze. Bührmann (2009, S. 37) spricht von einem „umkämpften Feld“. Ungeklärt ist beispielsweise die Frage, welche und wie viele Kategorien, Konnexionen und/oder Interdependenzen Gegenstand der Intersektionalitätsforschung sein sollen (Nachtigall, 2017; Winker & Degele, 2009), wenngleich eine endlose Ausweitung aus Komplexitätsgründen gar nicht möglich erscheint. Bührmann (2009) schlägt vor, zunächst die Verhältnisbestimmungen Klasse, Geschlecht und Ethnizität/Rasse als zentrale Achsen der Ungleichheit in modernen ausdifferenzierten Gesellschaften zu betrachten (ähnlich Anthias, 2001; Klinger, Knapp & Sauer, 2008). Autorinnen wie Knapp (2005b) oder Degele und Winker (2007) weisen allerdings darauf hin, dass sich der US-amerikanische Zusammenhang nicht umstandslos auf westeuropäische oder deutsche Verhältnisse übertragen lassen und v. a. bei den Kategorien ‚Klasse‘ und ‚Rasse‘ im deutschsprachigen Raum Bedeutungsverschiebungen stattgefunden haben. In Anlehnung an Bourdieu subsummieren beispielsweise Degele und Winker (2011, S. 72) „unter der Strukturkategorie Klasse dreierlei: die über die soziale Herkunft vermittelten ökonomischen Ressourcen Vermögen, Geld und Besitz, die kulturellen Ressourcen Bildung und Beruf sowie die sozialen Ressourcen Netzwerke und Beziehungen. Diese Komponenten der Ressourcenausstattung sind miteinander verknüpft, da beispielsweise mit der Herkunft sowohl Besitz und Vermögen vererbt, aber auch über Sozialisationsprozesse Startchancen für Bildung und Beruf beeinflusst sowie soziale Beziehungen weitergegeben werden.“
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2 Theoretische Rahmung
Wir bevorzugen in unserer Untersuchung die Anlehnung an den Milieubegriff, der ebenfalls in Rückgriff auf Bourdieu konzipiert wurde. „Milieus fungieren als Sozialisationskontexte, milieuspezifische Unterschiede als Ressourcenungleichheiten, die nicht erst in langen biografischen Entwicklungsverläufen entstehen, sondern bereits auf die materielle wie immaterielle Grundausstattung im Herkunftsmilieu – die Verfügbarkeit über ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen – zurückgehen“ (Bauer & Vester, 2015, S. 579).
Neben der vertikalen Dimension werden damit zugleich auch horizontale Differenzierungen in den Blick genommen, so dass sich Typen der Lebensweise und Lebensführung identifizieren lassen. Inwieweit sich der Klassen- oder Schichtbegriff im Rahmen intersektionaler Analysen als Strukturkategorie besser eignet, da eindeutiger die vertikale Dimension sozialer Ungleichheit abgebildet wird, ist unseres Erachtens eine offene Frage, die auch mit den jeweils eingesetzten Forschungsmethoden zusammenhängen dürfte. Noch problematischer ist die Übernahme des in den USA üblichen Begriffs ‚Rasse‘, der aufgrund der deutschen Geschichte nur in Gänsefüßchen verwendet (Knapp, 2005b) und eher durch andere Begriffe wie Ethnizität24 oder Migrationshintergrund ersetzt wird (Lutz, 2010). Im Weiteren verwenden wir den Begriff Migrationshintergrund für eine unscharf abgegrenzte soziale Gruppe von Schüler*innen. „Zu ihrer Bestimmung werden, je nach Diskussionszusammenhang, juristische (Ausländer), biographische (Migrationserfahrung), kulturelle (nichtdeutsche Herkunftskultur), sprachliche (nichtdeutsche Familiensprache), ethnische (nichtdeutsches ethnisches Selbstverständnis), religiöse (nichtchristliches religiöses Bekenntnis) oder noch weitere Merkmale herangezogen“ (Wenning, 2013, S. 138).
Aber auch die Kategorie Geschlecht wird in den Intersektionalitätsansätzen unterschiedlich definiert. Wir folgen Degele und Winker (2011, S. 73) und fassen auf der Makro- und Mesoebene Geschlecht als „die binäre Mann-Frau-Unterscheidung sowie die naturalisierte, das heißt unhinterfragte und selbstverständlich gemachte Heterosexualisierung im Geschlechterverhältnis“.25 24 Ethnizität ist nach Hirschauer „eine imaginierte Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die auf einem Glauben an geteilte Kultur und gemeinsame Abstammung beruht. Dieser Glaube stützt sich auf kulturelle Praktiken, Ursprungsmythen oder körperliche Ähnlichkeiten; die Mitgliedschaft wird meist als askriptiv, primordial und unhintergehbar vorgestellt“ (2014, S. 171). 25 Die Unterscheidung zwischen Gender und sexueller Orientierung machen Winker und Degele (2011, im Unterschied zu Verloo, 2006) erst auf der Ebene der Identitätskon
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Selbst wenn diese Trias – Milieu, Migrationshintergrund und Geschlecht als Strukturkategorien – gesetzt ist, steht in methodologischer Perspektive noch eine Diskussion darüber aus, welche anderen Kategorien relevant seien und welche wie wirken könnten (Bührmann, 2009). Winker und Degele (2009) bringen beispielsweise den Körper als vierte Strukturkategorie ins Spiel. Sie begründen diese Erweiterung mit der zunehmenden Bedeutung der körperlichen Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft. „Entsprechend umfasst die Ideologie der Leistungsfähigkeit als Legitimationsgrundlage von Ungleichheit bei der Kategorie Körper zwei Varianten. Zum einen geht es dabei um eine Optimierung im Sinn einer Überwindung von Grenzen etwa durch Doping, Schönheitsoperationen, Training, Therapie und anderem mehr. Zum anderen werden aber auch Vererbung und genetische Ausstattung als Ursachen unterschiedlicher körperlicher Leistungsfähigkeit und damit zur Legitimierung sozialer Ungleichheit herangezogen. Diese beiden Varianten stecken ein Feld ab, in dem vor allem in Arbeitszusammenhängen die Dimensionen Alter, körperliche Verfasstheit, Gesundheit und Attraktivität in den letzten Jahrzehnten immer bedeutsamer geworden sind und über die Verteilung von Ressourcen entscheiden“ (Degele & Winker, 2011, S. 75f).
Andere Forscher*innen sehen dies eher kritisch, da unter Körper wiederum sehr unterschiedliche Aspekte gefasst werden können (Schildmann & Schramme, 2017).26 „Körper ist eben nicht eine spezifische »Gesellschaft strukturierende Kategorie«, sondern eine durch Gesellschaft, nämlich durch class, race, gender wie auch Gesundheit, Leistung, Ästhetik etc. strukturierte Kategorie: Vergesellschaftung geht gewissermaßen durch den Körper hindurch; Gesellschaft findet in Körpern, durch Körper und mit ihnen statt. Als Feld der Macht und Medium sozialer Ungleichheit muss somit der Körper in der Intersektionalitätsforschung – ähnlich wie Institution, Wissen, Subjekt – einen vornehmlich analytischen Status erhalten. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass der Körper zugleich mehr ist als ein Ort; er ist auch ein (zuweilen widerspenstiger) Akteur und zugleich Quelle subjektiver Erfahrung“ (Waldschmidt, 2010, S. 50).
Der Argumentation von Waldschmidt (2010) folgend, betrachten wir den Körper nicht als eigenständige Strukturkategorie auf der Makro- und Mesoebene. Wenngleich wir – wie andere Forscher*innen (z. B. Budde, 2013a; Lutz & Wenning, 2001)
struktionen. Hier wären auch die vielfältigen Beschreibungen für sexuelle Orientierungen und Formen von Identitäten einzuordnen, die unter der Abkürzung LGBTQI+ zusammengefasst werden. 26 Die jeweilige Anzahl dürfte auch von den jeweiligen Analyseebenen (Makro-, Meso- und Mikroebene) abhängen, die vorzugsweise in den Blick genommen werden sollen. 33
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2 Theoretische Rahmung
auch – für eine gewisse Offenheit der Strukturkategorien auf der Mikroebene und insbesondere bei qualitativen Studien plädieren. Damit sind wir bei Überlegungen, wie Strukturmerkmale und ihre Verknüpfungen empirisch modelliert werden können (McCall, 2005). Während antikategoriale Ansätze (dazu gehören v. a. dekonstruktivistische bzw. poststrukturalistische Ansätze) auf jedwede vorgängig gesetzte soziale Kategorie verzichten, wird in intrakategorialen Ansätzen auf Unterschiede innerhalb einer Kategorie abgehoben (z. B. das Erleben von Sportunterricht von Mädchen mit Migrationshintergrund in der Hauptschule). „Im Fokus sind dabei vor allem benachteiligte Gruppen, deren Lebenslagen auf diese Weise zum Sprechen gebracht werden sollen“ (Budde, 2013a, S. 250). Hier handelt es sich nicht selten um qualitative Ansätze und Fallstudien. Im Mittelpunkt interkategorialer Ansätze stehen die – meist quantitative – Analyse der Beziehungen der Kategorien zueinander und deren Veränderungen. Degele und Winker (2011, S. 79) schlagen eine Mehrebenenanalyse vor, mit zahlenmäßig begrenzten Strukturkategorien auf der Gesellschaftsebene und anzahloffenen Identitäts- und Repräsentationskategorien, die „sich als Wechselspiel von deduktiven (theoriegeleiteten) und induktiven (überraschungsoffenen) Vorgehensweisen rekonstruieren lässt.“ Um sowohl intra- als auch interkategoriale Analysen zu ermöglichen, haben wir in unserer Untersuchung qualitative und quantitative Forschungsmethoden eingesetzt (vgl. Kap. 3 und 6). Bevor aber das eigene methodische Vorgehen erläutert, wird, soll nachfolgend der bisherige Forschungsstand mit Blick auf die uns interessierenden Bereiche Schule und Sport aufgearbeitet werden.
2.4.1 Intersektionalität im Kontext von Schule Schulische Bildung ist formalisiert. Lehrpläne stellen einen mehr oder weniger verbindlichen und vereinheitlichten Rahmen dar, um Bildung systematisch und curricular zu strukturieren und Schüler*innen entsprechend der jeweiligen Voraussetzungen zu Abschlüssen zu führen. Das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland ist wenig durchlässig und stark selektiv. „Bildungserfolg bzw. Nicht-Erfolg wird vor diesem Hintergrund und unter der Dominanz des Leistungsprinzips v. a. den individuellen Kompetenzen und Anstrengungen der Schüler*innen zugeschrieben bzw. übertragen. Individueller Erfolg und Leistungsfähigkeit werden durch standardisierte Notengebung, Zeugnisse und Zertifikate bescheinigt, die als gerechte Instrumente der Zuweisung von Positionen im Arbeitsleben und in der Gesellschaft gelten“ (Riegel, 2016, S. 82).
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In den letzten Jahren stand Deutschland häufig in der Kritik, da das deutsche Schulsystem nicht nur zu einer Reproduktion, sondern sogar zu einer Verschärfung der Effekte sozialer Ungleichheit beiträgt. Es wurden Maßnahmen (Ganztag, Inklusion, Gemeinschaftsschule) ergriffen, um Chancengerechtigkeit zu erhöhen. Aktuelle Befunde zeigen auch Erfolge, dennoch sind die Zusammenhänge von sozialer Herkunft und Bildungserfolg bzw. höherem Bildungsabschluss nach wie vor eng (z. B. Vodafone Stiftung Deutschland, 2018). Seit den 1990er Jahren greifen viele handlungs- und entscheidungstheoretisch orientierte Studien den Ansatz von Boudon (1974) auf und gehen davon aus, „dass ungleiche Bildungschancen nach Klassenlage oder sozialer Schichtzugehörigkeit, Migrationsstatus sowie Geschlecht vor allem eine aggregierte Folge individueller, zwischen diesen sozialen Gruppen variierender Leistungen (bezeichnet als primäre Stratifikationseffekte) sowie variierender Bildungsaspirationen und -entscheidungen (sekundäre Stratifikationseffekte) oder sozialstrukturell unterschiedlicher Kosten-Nutzen-Abwägungen im Lebensverlauf sind (…). Anliegen dieser Studien ist es herauszufinden, welche institutionellen und individuellen Einflüsse in welcher Weise bedeutsam für soziale Ungleichheiten in den Bildungschancen sind“ (Solga & Becker 2012, S. 15).
Konflikttheoretische Ansätze rekurrieren eher auf Bourdieu (1982, 2001; Bourdieu & Passeron, 1971). In diesen Arbeiten wird weniger auf individuelle Motive und Entscheidungsprozesse Bezug genommen, sondern es werden Passungsverhältnisse zwischen dem herkunftsbedingten und dem Schüler*innen-Habitus analysiert. Indem „das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten und Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur“ (Bourdieu 2001, S. 39). Ähnlich argumentieren Grundmann et al. (2004) im sozialisationstheoretischen Konzept der milieuspezifischen Handlungsbefähigung. Aus bisherigen Studien zum Bildungserfolg oder zum schulischen Kompetenzerwerb lässt sich Folgendes festhalten: Die Kategorien Klasse/Schicht, Ethnizität/ Migrationshintergrund, Geschlecht wirken (eigenständig) ungleichheitsgenerierend (Solga & Becker, 2012). Unterschiede zwischen den sozialen Schichten/Klassen zuungunsten der niedrigen Schichten/Klassen haben sich verringert, sind aber nach wie vor relevant (Breen, Luijkx, Müller & Pollak, 2012; Köller, Knigge & Tesch, 2010). Nach Solga und Becker (2012, S. 16) lautet die Frage „heute häufig nicht mehr, warum Mädchen benachteiligt werden, sondern warum Mädchen so erfolgreich sind, obgleich auch die ‚alte‘ Frage weiterhin relevant ist“. Jungen zählen mittlerweile zu den ‚Bildungsverlierern‘. Vorteile bestehen bei den Mädchen unabhängig vom sozialen Status, während insbesondere Jungen mit niedrigem sozialem Status benachteiligt 35
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sind (Gottburgsen & Gross, 2012). Dies wird u. a. durch Befunde von Buchmann und Kriesi (2013) gestützt. Die Autorinnen gehen der Frage nach, ob und inwieweit die Passung des im Vorschulalter von Mädchen und Jungen erworbenen Lern- und Sozialhabitus mit dem im schulischen Kontext erwarteten Lern- und Sozialverhalten einen Einfluss darauf hat, wie gut diese den Übertritt in die Schule meistern und wie dadurch deren Schulleistungen im mittleren Grundschulalter beeinflusst werden. Die Vorteile der Mädchen gegenüber Jungen hängen ihrer Meinung nach „mit der besseren Passung ihres Lern- und Sozialhabitus mit den in der Schülerrolle institutionalisierten Kompetenz- und Verhaltenserwartungen zusammen. Mädchen sind besser ausgestattet mit Wissen und Kompetenzen, die in der Schule ‚zählen‘ und hoch bewertet werden. Für eine gute Passung des kindlichen Lern- und Sozialhabitus mit den in der Schülerrolle institutionalisierten Erwartungen sorgt auch die soziale Herkunft. Bildungsmäßig gut ausgestattete Elternhäuser vermögen in höherem Maße, ihren Söhnen und Töchtern diejenigen Dispositionen zu vermitteln, die in der Schule erwartet werden. Damit helfen sie, den schulischen Erfolg ihrer Kinder vorzuspuren“ (Buchmann & Kriesi, 2013, S. 38f).
Geschlechterunterschiede in den kognitiven Kompetenzen und Schulnoten sind seit den 1970er Jahren relativ konstant geblieben (Mathematikleistungen zugunsten der Jungen, Leseverständnis und Schulnoten in den Hauptfächern zugunsten der Mädchen), bzw. haben sich – so Helbig (2012) – bzgl. der Gymnasialübergänge und -verläufe zugunsten der Mädchen verschoben. Er macht dafür veränderte Entscheidungsprozesse von Eltern und Kindern als mögliche Ursache aus. Schüler*innen mit Migrationshintergrund sind nach wie vor benachteiligt, wenngleich weitere Differenzierungen notwendig sind. Die Benachteiligung „ist außer mit dem attestierten Mittelschichtsbias‘ der Schule verknüpft mit kulturalisierenden Stereotypen, die auf Kinder mit Migrationshintergrund gerichtet sind und dahinter liegenden Normvorstellungen vom ‚weißen‘, einsprachig-deutschen Normalschüler oder der Normalschülerin“ (Huxel, 2014, S. 110).
In der Schule werden ethnisch konnotierte Grenzlinien nicht nur vom Lehrpersonal (Mannitz, 2001; Rodriguez, 2003; Weber, 2003) und von autochthonen Schüler*innen gezogen (Rompel, 2008), sondern auch von allochthonen Schüler*innen, die sich, z. B. durch Cliquenbildung, ethnisch vergemeinschaften, wobei die Vergemeinschaftung nicht allein entlang der ethnisch markierten Grenzlinie erfolgt, sondern in Verschränkung mit anderen Grenzziehungen, v. a. nach Geschlecht und kleinräumlich bestimmtem sozialem Milieu. Ein Migrationshintergrund wirkt sich bei den Jungen im schulischen Kontext nachteiliger aus als bei den Mädchen (Gottburgsen & Gross, 2012). Bisherige Befunde verdeutlichen zudem, dass die
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Kategorie Migrationshintergrund weiter ausdifferenziert werden muss (Busse, 2013). So übertreffen die Kinder der dritten Einwanderergeneration in ihrem Schulerfolg die einheimischen Altersgleichen, wenngleich Vorteile insbesondere für Kinder aus interethnischen Partnerschaften berichtet werden (Gerleigner & Prein, 2015). Zudem hat der unterschiedliche Rechtsstatus direkte und indirekte Auswirkungen auf die Bildungschancen und Schulabschlüsse der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte (Söhn, 2012). Gottburgsen und Gross (2012) nehmen in ihrer quantitativen Studie auf der Grundlage der PISA-Daten 2006 explizit Bezug auf das Intersektionalitätsparadigma und gehen der Frage nach, inwieweit Geschlecht, soziale Herkunft und Migrationsstatus als eigenständige Kategorien (erfasst über Haupteffekte in den Regressionsanalysen), aber auch in ihrer Verknüpfung (Interaktionseffekte) und unter Kontrolle von Kontexteffekten, Kompetenzunterschiede im Lesen und in der Mathematik erklären. Im Lesen gehören die Jungen unabhängig vom sozioökonomischen Status und Migrationshintergrund zu den Leistungsschwächeren, wenngleich sich zwischen den Jungengruppen auch Unterschiede ergeben. Mädchen mit Migrationshintergrund und geringem sozioökonomischen Status weisen im Durchschnitt die gleiche Lesekompetenz auf wie Mädchen und Jungen mit einem hohen soziökonomischen Status. Währenddessen erzielen Mädchen mit Migrationsstatus und geringem sozioökonomischen Status besonders schlechte Mathematikwerte, gefolgt von Jungen mit Migrationsstatus und geringem sozioökonomischen Status sowie Mädchen ohne Migrationshintergrund und geringem sozioökonomischen Status. Jungen mit hohem sozioökonomischem Status und ohne Migrationshintergrund erreichen signifikant die höchsten Mathematikwerte. Huxel (2014) nimmt in ihrer qualitativen Studie mit (hauptsächlich) Hauptschülern mit Migrationshintergrund ebenfalls unter einer intersektionalen Perspektive die Verschränkungen zwischen Präsentationen ethnischer, geschlechtlicher und jugendlicher Zugehörigkeiten in den Blick. Auch sie kommt zu dem Ergebnis, dass alle drei Kategorien auf unterschiedliche Weise auf gesellschaftliche Machtverhältnisse verweisen und auf die Jungen unterschiedlich einwirken. „Dennoch sind nicht immer alle Dimensionen gleichzeitig in den Präsentationen vertreten. So verweisen die Jungen über den Bezug auf Homophobie und Heteronormativität vor allem auf Männlichkeit und Jugend, nicht jedoch auf ethnische Zugehörigkeit. Das Interesse für Fußball kann dagegen auf verschiedene geteilte Positionierungen verweisen und andere dafür in den Hintergrund treten lassen: Als Männer können die männlichen Schüler sich hier mit ihrem Sportlehrer treffen, Differenzen in ethnischer Zugehörigkeit und Alter sind in dieser Situation nicht im Vordergrund“ (Huxel, 2014, S. 265f).
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Die Schule spielte bei den Präsentationen und Positionierungen der Jungen indes kaum eine Rolle. Wenn sie ins Spiel kommt, waren die Äußerungen der Jungen negativ konnotiert (Huxel, 2014). Wellgraf (2012) analysiert mit seiner ethnographischen Studie in Hauptschulen, wie Machtverhältnisse mittels Formen von Verachtung im Alltag reproduziert werden. Er stellt fest, dass „ethnische, soziale und geschlechtliche Diskriminierung (…) auf unterschiedliche Weise wahrgenommen [werden], rassistische und sexistische Ausgrenzungen über klar erkennbare körperliche Zuschreibungen, klassenbedingte Benachteiligungen dagegen eher indirekt über Bildungszertifikate. Auch der Bewusstseinsgrad in Bezug auf ihre machtbedingte Fundierung unterscheidet sich, während die Hauptschüler im Schulalltag eine rassismuskritische Sprache verwenden und zumindest theoretisch auch auf eine sexismuskritische Sprache zurückgreifen könnten, fehlt ihnen, wie der gesamten Gesellschaft, derzeit ein entsprechendes kritisches »Klassismus«-Vokabular“ (Wellgraf, 2012, S. 103).
Wellgraf (2012) beschreibt verschiedene Formen von Verachtung gegenüber Hauptschüler*innen (z. B. verweigerte Anerkennung, als klassenbedingte Abstufung, als Demütigung in der Schule und bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, als medialer Stigmatisierungsprozess), die alltäglich und teilweise unbewusst fortgeschrieben werden, selbst von jenen, die den Hauptschüler*innen helfen wollen. Die Hauptschüler*innen setzen sich aktiv mit der Situation auseinander, entwickeln Strategien der Anerkennung, wobei Wellgraf (2012, S. 304) „unter anderem die Bedeutung von Freundschaften und Liebe, aggressiven Formen von Männlichkeit, kompensatorischen Konsumpraktiken, Aktivitäten in OnlineCommunitys, ethnischen Identifikationen, Coolness und Emotionen wie Scham, Wut und Neid“
herausstellt, während Praktiken, die Statusaspiration erkennen lassen, zu Markierungen von sozialer Randständigkeit werden. „Die soziale Akzeptanz moralischer Herabwürdigung von Hauptschülern und die gleichzeitige Verschleierung ihrer strukturellen Ursachen führen tendenziell zu einer individualisierten Wahrnehmung von Ausgrenzungserfahrungen. Formen klassenbedingter sozialer Ausschließung fließen dabei in die Selbstbeschreibungen der Akteure ein“ (Wellgraf, 2012, S. 304).
Als Gegenhorizont lässt sich das Gymnasium entwerfen, dessen Besuch zur Aufwertung der eigenen Person führen könnte und vermutlich nicht, wie häufig in
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der Hauptschule „tiefe biografische Spuren negativer Art“ (Schneider, 2013, S. 66) hinterlassen wird.
2.4.2 Intersektionalität im Kontext von schulischem und außerschulischem Sport Ein Großteil der Heranwachsenden – beispielsweise 72 % der 11- bis 17-jährigen Mädchen und 80 % der gleichaltrigen Jungen – beteiligt sich in der Freizeit an Bewegungs-, Spiel- und Sportaktivitäten. 38 % der Mädchen und 57 % der Jungen in dieser Altersgruppe treiben mehr als drei Stunden Sport pro Woche (Krug, Finger, Lange, Richter & Mensink, 2018). Viele Heranwachsende sind im Sportverein aktiv. Nach Angaben des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB, 2020) waren im Jahr 2019 80 % der 7- bis 14-jährigen Jungen und 61 % der altersgleichen Mädchen sowie 46 % der 15- bis 18-jährigen Mädchen und 65 % der gleichaltrigen Jungen Mitglied in einem Sportverein.27 Aber auch die Beteiligung an v. a. organisierten Freizeitaktivitäten hängt nicht nur von den individuellen Neigungen und Interessen der Heranwachsenden ab, sondern ist offensichtlich auch durch deren soziale Herkunft und den damit verbundenen spezifischen Zugriff auf Ressourcen präformiert (Mutz & Burrmann, 2011, 2015a). Clarke, Hall, Jefferson und Roberts (1976) gehen davon aus, dass die meisten Heranwachsenden im Laufe ihrer Sozialisation die kulturellen Orientierungen der Eltern übernehmen und je nach sozialer Herkunft unterschiedliche Lebensstile ausbilden (vgl. auch Zinnecker, 1988). Dies scheint ebenso auf die intergenerationale Vermittlung und sozialen Vererbung von Sportengagements zuzutreffen (Burrmann, 2005b; Hayoz, 2017; Zender & Burrmann, 2015). Zudem ist aus der jugendsoziologischen Forschung bekannt, dass der Freizeitsektor geldintensiv ist und die meisten Heranwachsenden in der Tat beträchtliche finanzielle Mittel in ihre Freizeitgestaltung investieren (Langness, Leven & Hurrelmann, 2006; Thole, 2002). Insbesondere die Sportvereinsmitgliedschaft variiert sehr deutlich mit dem Bildungshintergrund und/oder dem Erwerbsstatus der Eltern (zsfd. Mess & Woll, 2012; Cachay & Thiel, 2008). Entsprechende Zusammenhänge zeigen sich jedoch auch für den informellen Sport (zsfd. Burrmann, 2008) und allgemein für das Sporttreiben in der Freizeit (Krug et al., 2018). Viele Studien im Kindes- und
27 Allerdings beinhalten diese Angaben Doppelmitgliedschaften, so dass die tatsächlichen Zahlen etwas niedriger ausfallen dürften. 39
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Jugendalter beziehen sich eher auf die Schulform bzw. angestrebten Schulabschlüsse der Heranwachsenden und ermitteln ebenfalls relativ enge Zusammenhänge.28 Trotz aller ‚Sport für alle‘-Maßnahmen der Sportvereine und -verbände finden Hauptschüler/innen sowie Heranwachsende aus eher bildungsfernen Familien seltener den Weg in die Sportvereine als Altersgleiche aus Gymnasien oder aus bildungsnahen Familien. Die Chance, Mitglied in einem Sportverein in NRW zu sein, war Ende der 1970er Jahre und auch Anfang der 1990er Jahre für Gymnasialschüler*innen doppelt so hoch wie für Hauptschüler*innen (Burrmann, Seyda, Heim & Konowalczyk, 2016). Unterschiede im Sporttreiben werden auch zwischen Heranwachsenden mit und ohne Migrationshintergrund konstatiert. Sportaktivitäten basieren wie jede andere soziale Praxis auf kulturellen Voraussetzungen: auf kulturspezifisch ausgeprägten Werten, Traditionen und somatischen Kulturen (Bröskamp, 1994; Klein, 2011; Seiberth & Thiel, 2007; Mutz, 2015a). Unterschiede in den Körperpraktiken und -präsentationen werden nicht selten zum Anlass für ethnisierende (und damit gleichsam auch reifizierende) Zuschreibungen genommen (Reinders, 2003; Kleindienst-Cachay, 2007). Beispielsweise wird auf aggressivere und körperlich härtere Spiel- und Sportauffassungen insbesondere von männlichen Migranten verwiesen, die in einen Zusammenhang mit kulturell geprägten Männlichkeitsvorstellungen gebracht werden (Meuser, 2005). Zudem gehört ein außerhalb des Leistungssports betriebenes aktives Sportengagement in einigen Ländern, wie der Türkei, nicht zur kulturellen Selbstverständlichkeit (Pfister, 1998; Westphal, 2004b). Besonders geringe Beteiligungsquoten weisen Mädchen mit Migrationshintergrund auf, die aus einem Elternhaus kommen, das über wenig kulturelles und ökonomisches Kapital verfügt (Mutz & Burrmann, 2009; 2011). Dagegen findet Mutz (2009) bei Jungen mit Migrationshintergrund einen höheren Organisationsgrad im Sportverein als unter autochthonen Jungen. In einigen Studien werden die Herkunftsländer der Heranwachsenden mit in den Blick genommen (Fussan & Nobis, 2007; Westphal, 2004a). Die Sportbeteiligung der Mädchen mit russischer und türkischer Herkunft liegt bei ca. 20 %. Türkische Jungen treten demgegenüber sehr häufig, russische Jungen seltener einem Sportverein bei (68 % zu 47 %; Mutz, 2009; vgl. auch Mutz & Burrmann, 2015a). Die großen Unterschiede, die sich v. a. beim organisierten Sporttreiben von Mädchen und Jungen zeigen, lassen sich zum Teil auch auf den Sprachgebrauch in der Familie, die Geschlechterrollen, die in der Herkunftsfamilie vermittelt werden und dort Geltung besitzen, und auf die 28 Die Schulform bzw. angestrebten Schulabschlüsse der Heranwachsenden sind im mittleren Ausmaß mit dem Bildungshintergrund und dem Erwerbsstatus der Eltern korreliert (Becker, 2019; Wenzel, 2011).
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Religionszugehörigkeit zurückführen. Bzgl. der Religionszugehörigkeit lassen sich mit einer Ausnahme geringe positive Zusammenhänge zwischen der Sportvereinspartizipation und einer christlichen oder islamischen Religionszugehörigkeit ermitteln. Nur islamische Mädchen sind unterproportional häufig Mitglied in einem (deutschen) Sportverein (Burrmann & Mutz, 2016; Mutz, 2015b). Wird in der Familie und unter Freunden nicht deutsch gesprochen und fühlt man sich in Deutschland eher fremd, sinkt die Wahrscheinlichkeit, Mitglied in einem Sportverein zu sein (Mutz, 2015a; Burrmann, Brandmann, Mutz & Zender, 2017). Die geringen Beteiligungsquoten dürfen allerdings nicht mit einem Desinteresse an Sport gleichgesetzt werden (Mutz & Burrmann, 2011; Boos-Nünning & Karakaşoğlu, 2003, 2005). Insbesondere Migrantinnen greifen in Islamschulen und Moscheen angesiedelte Sportangebote eigenethnischer Kulturvereine auf oder betreiben Sport im privaten Rahmen (Westphal, 2004a; Zender, 2018). Kleindienst-Cachay (1998) verweist darauf, dass eine kleine, aber wachsende Gruppe türkischer Mädchen der zweiten und dritten Migrationsgeneration verstärkt Sport betreibt. Die dritte Migrantengeneration unterscheidet sich in der Sportvereinsmitgliedschaft nicht mehr von den einheimischen Altersgleichen (Mutz, 2013). Mädchen und Jungen werden, je nach Sozialisationskontext variierend, mit geschlechtertypischen Verhaltenserwartungen und mit entsprechenden Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit konfrontiert. Die Geschlechtertypisierungen durchwirken trotz vorhandener Tendenzen zu einer „De-Institutionalisierung“ der Geschlechterdifferenz (Heintz et.al., 1997) die Lebensführung von Mädchen und Jungen bis in ihre feinen Verästelungen hinein. Die Körper- und Bewegungssozialisation ist davon nicht ausgenommen (Baur, 1989; Baur, Burrmann & Krysmanski, 2002). Von früher Kindheit an lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede in den Spiel- und Bewegungsformen beobachten. Verletzungsanfällige Körperkontakte kennzeichnen typische Männersportarten, während bei typischen Frauensportarten der spielerische Ausdruck im Vordergrund steht. In homologer Weise sind jugendkulturelle, im öffentlichen Raum betriebene (Fun-)Sportaktivitäten geschlechtstypisiert. Das Riskieren des eigenen Körpers kennzeichnet z. B. Breakdance oder Skating, die überwiegend von Jungen und jungen Männern praktiziert werden (Alkemeyer, 2004; Meuser, 2006, 2007). Als besonders problematisch wird die Bewegungssozialisation von Mädchen mit Migrationshintergrund eingeschätzt. Es wird angenommen, dass sie häufiger als autochthone Mädchen mit patriarchalisch geprägten Familienstrukturen, wenig liberalen Geschlechtsrollen und rigiden Erziehungsvorstellungen konfrontiert werden (vgl. z. B. Halm, 2007; Wensierski, 2007). Je traditioneller die Geschlechtsrollenerwartungen sind, die an die Töchter gerichtet werden und je weniger die Eltern selbst mit den Gegebenheiten im organisierten Sport vertraut sind, desto geringer dürfte die Chance sein, dass die Töchter regel41
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mäßig sportlich engagiert sind (Kay, 2006; Strandbu, 2005; Zender & Burrmann, 2015, Zender, 2015a, 2015b, 2018). Für die Jungen (mit Migrationshintergrund) aus unteren sozialen Schichten dürfte der Körper hingegen eine wichtige Ressource darstellen, um (hegemoniale) Männlichkeiten zu gestalten (Budde & Mammes, 2009; Zander, 2015). Werden traditionelle Geschlechterrollen abgelehnt, ist jedes vierte Mädchen mit Migrationshintergrund in einen Sportverein involviert, werden solche Rollenbilder befürwortet, trifft das nur auf jedes neunte Mädchen zu. Dieses Muster lässt sich im Übrigen auch bei den autochthonen Mädchen erkennen. Ob die Jungen eine traditionelle Geschlechterordnung befürworten oder nicht, hängt mit ihrer Sportbeteiligung nicht wesentlich zusammen (Mutz & Burrmann, 2015b). Regressionsanalysen, die mit den repräsentativen Daten der SPRINT-Studie 2003 und AID:A Online Studie 2012 durchgeführt wurden, zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, Mitglied in einem Sportverein zu sein, v. a. von der besuchten Schulform abhängt. Aber auch Geschlecht und Migrationshintergrund stellen signifikante Prädiktoren zur Vorhersage einer Sportvereinsmitgliedschaft dar. Zudem werden Interaktionseffekte signifikant. Männliches Geschlecht, kein Migrationshintergrund und jüngeres Alter erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Sportvereinsmitgliedschaft, während insbesondere Mädchen mit Migrationshintergrund seltener Mitglieder in einem Sportverein sind (Burrmann et al., 2016; Mess & Woll, 2012). Gleichwohl darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch informelle Sportaktivitäten nach Schichtzugehörigkeit, Geschlecht und Migrationshintergrund variieren (zsfd. Burrmann, 2008). Zum Sportunterricht in Deutschland liegen unseres Wissens bisher keine empirischen Studien vor, die explizit unter einer intersektionalen Perspektive der Frage nachgehen, ob und inwieweit eine Benachteiligung bestimmter Schüler*innengruppen im Sportunterricht stattfindet und inwieweit der Sportunterricht an die Lebenswelt der Schüler*innen anzuknüpfen vermag. Wenn man die bislang vorliegenden Erkenntnisse berücksichtigt (vgl. Kleindienst-Cachay, 2007; Frohn, 2007; Schmidt, 2006), deutet sich an, dass im Bereich eines weitgehend ‚traditionell‘ orientierten Schulsports ähnliche Exklusionsprozesse ablaufen wie in anderen schulischen Feldern (zsfd. Frohn & Grimminger, 2011). Demnach scheint der Sportunterricht eher an den Bedürfnissen und Interessen sportaffiner Schüler*innengruppen, und dazu zählen vor allem Jungen, anzuschließen (Gerlach, Kussin, Brandl-Bredenbeck & Brettschneider, 2006a, Kleindienst-Cachay, Kastrup & Cachay, 2008; Mutz & Burrmann, 2014). Eine bewusste Ausgestaltung des Schulsports kann aber eine gleichberechtigte Partizipation im koedukativen Sportunterricht fördern (Gieß-Stüber, 1993; Grimminger, 2011; Van Acker et al., 2010).
2.4 Das Konzept der Intersektionalität
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Studien, die sich mit der Frage nach der Kompatibilität von migrationsmilieutypischen Körperkulturen und Bewegungspraktiken einerseits und der dem Schulsport zugrunde liegenden Sport- und Bewegungskultur andererseits auseinandersetzen, liegen unseres Wissens kaum vor. Wenige, meist explorativ-qualitative, Studien über den Umgang von Sportlehrkräften mit kultureller Vielfalt kommen zu dem Ergebnis, dass diese von vielen als Belastung wahrgenommen wird (zsfd. Frohn & Grimminger, 2011). Inwieweit die Identifikation von Problemsituationen von ethnisierenden und homogenisierenden Zuschreibungen getragen ist, wird selten thematisiert. Auch bleibt offen, in welchem Maße migrationsmilieutypische Körperkulturen in einem Wechselspiel von Eigen- und Fremdkonstruktionen zustande kommen. Gerlach, Stucke und Streso (2006b) machen zudem auf Rahmenbedingungen des Sportunterrichts aufmerksam: Schüler*innen aus Hauptschulen erhalten den geringsten Umfang an Sportunterricht, dieser wird in größerem Umfang von fachfremden Lehrkräften durchgeführt als in anderen Schulformen, und sie treiben außerhalb der Schule seltener Sport. Auf der Grundlage der repräsentativen Daten der SPRINT-Studie 2003 ermittelt Burrmann (2015) fünf Schülertypen unterrichtlicher Sportengagements, die sich auch in ihrem Verhältnis zum außerschulischen Sport voneinander unterscheiden. Entgegen der Erwartungen scheint es dem Fach Sport allerdings zu gelingen, bildungsnahe wie auch bildungsferne Milieus anzusprechen, auch der Migrationshintergrund spielt eine untergeordnete Bedeutung. Allerdings weisen die Befunde darauf hin, dass sich der Sportunterricht nach wie vor eher an den Interessen der Jungen als an denen der Mädchen orientiert. Burrmann und Mutz (2016, S. 99) übertragen die Thesen von Bourdieu und Passeron (1971) auf den Sportunterricht und gehen davon aus, „dass der Sportunterricht immer dann verstärkt mit dem Erleben negativer Emotionen wie z. B. Aufgeregtheit, Scham oder Besorgnis verbunden ist, wenn (familiär vermittelte) Voraussetzungen und Orientierungen zum Sport einerseits und die Inhalte und Anforderungen des Sportunterrichts andererseits divergieren.“
In ihrer quantitativen Studie mit den Daten der SPRINT-Studie 2003 prüfen sie, ob Mädchen oder Schüler*innen mit Migrationshintergrund von vergleichsweise hohen Angstwerten (Besorgnis, Aufgeregtheit) berichten. Zudem wird auf die Verknüpfung von Geschlecht und Migrationshintergrund fokussiert, „weil anzunehmen ist, dass z. B. Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund eine besonders prekäre Sportsozialisation aufweisen, insbesondere, wenn sie sehr religiös erzogen werden, was zu einer entsprechend negativen, angstbesetzten Wahr43
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2 Theoretische Rahmung nehmung des Sportunterrichts führen könnte. [...]. Neben Herkunftseffekten wird also auch geprüft, inwieweit der Sportunterricht mit seinen Inhalten und Interaktionsformen sowie den angelegten Bewertungsmaßstäben zum Auftreten von Ängsten (in bestimmten Gruppen) beiträgt oder diese abzuschwächen vermag“ (Burrmann & Mutz, 2016, S. 103).
Die Autoren*innen zeigen, dass die Jungen ohne Migrationshintergrund die geringste Angst vor dem Schulsport äußern, gefolgt von den Jungen mit Migrationshintergrund (türkisch, nicht-türkisch) und den Mädchen (unabhängig vom Migrationshintergrund). Geschlechterunterschiede werden erst unter Einbeziehung von Merkmalen des Unterrichts und der Lehrkraft nicht mehr signifikant. Dann treten allerdings signifikante Interaktionseffekte auf. Bei den Mädchen steigt die Aufgeregtheit, wenn sich die Lehrperson aus ihrer Sicht an sozialen Bezugsnormen orientiert und bei den Jungen steigt umgekehrt die Besorgnis, wenn ästhetischkompositorische Sportarten wie Tanzen, Turnen oder Gymnastik unterrichtet werden, in denen sie, wie anzunehmen ist, über weniger Vorerfahrungen verfügen und deshalb unsicherer sind. Burrmann und Mutz (2016) finden ihre (Passungs-) Hypothesen bedingt bestätigt. Sie weisen zudem auf die – auch unter Kontrolle der Unterrichtsmerkmale – besonders stark ausgeprägten Angstwerte der religiös erzogenen Mädchen und Jungen mit türkischer Herkunft hin. Sie vermuten, „dass muslimische Jungen verstärkt Angst vor dem Sportunterricht empfinden, weil sie befürchten, den Leistungserwartungen sozial relevanter Bezugspersonen nicht gerecht zu werden und religiöse muslimische Mädchen eher deshalb besorgt sind, weil sie im Schulsport die Gebote der Geschlechtertrennung oder Berührungsverbote nicht uneingeschränkt befolgen können“ (Burrmann & Mutz, 2016, S. 113).
Während wir inzwischen relativ viel über die Entwicklung von Ungleichheiten in der Schule und im Sport wissen, ist vergleichsweise wenig über die Mechanismen ihrer (Re-)Produktion und das wechselseitige Zusammenspiel der Ungleichheitsdimensionen bekannt. Solga und Becker (2012, S. 18) fordern u. a. die „Einbeziehung von Identitätsbildungs-, Erziehungs- und Lernprozessen sowie alltäglich-lebensweltlichen Praxen – jenseits von Entscheidungskalkülen – in die Erklärung der sozialen Strukturierung von Bildungsprozessen auf der Mikroebene. Thematisch hat die Bildungssoziologie heute zudem wenig […] zur Organisation von und Teilhabe an außerschulischen Lerngelegenheiten und deren Einfluss auf soziale Unterschiede und Ungleichheiten in formellen Bildungsprozessen und -ergebnissen beizutragen.“
Diesem Forschungsdefizit haben sich in den letzten Jahren vor allem qualitative Studien gewidmet, wobei neben der Familie und Schule (Helsper, Kramer & Thiersch, 2014; Moldenhauer, 2017) zunehmend auch Peer-Beziehungen einbezogen
2.5 Forschungsperspektiven
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werden (Deppe, 2013a, 2013b). Krüger und Deppe (2011) arbeiten auf der Basis einer kontrastierenden Fallauswertung zum Stellenwert von Gleichaltrigengruppen für schulische Bildungsbiographien bei Elfjährigen fünf zentrale Muster heraus, wobei sich Bezüge zu sportiven Praktiken bei vier Mustern wiederfinden lassen. Unterschiede zwischen diesen Mustern zeigen sich v. a. im Ausmaß und den Orten des Sporttreibens. Zudem scheinen sie in einem unterschiedlichen Passungsverhältnis zu den schulischen Orientierungen zu stehen. Unsere Untersuchung setzt ebenfalls an diesem Forschungsdesiderat an, wenngleich der Schulsport und seine Verknüpfungen zur Schule einerseits und zum außerschulischen Sport andererseits im Fokus stehen.
2.5 Forschungsperspektiven 2.5 Forschungsperspektiven
Mit unserem Forschungsprojekt wird der Blick v. a. auf die unterschiedliche Teilhabe am schulischen und außerschulischen Sport von Heranwachsenden der Sekundarstufe I gerichtet, woraus sich bezogen auf körper- und sportbezogene Sozialisationsprozesse besondere Perspektiven und Zielstellungen ergeben: Im Kontext der Schule wird aus dem eher spielerischen Sich-Bewegen der Primarstufe im Verlauf der Sekundarstufe I immer mehr ein Schulfach Sport, das sich zwar weiter von anderen Fächern aufgrund seiner thematischen Ausrichtung abhebt, aber zugleich vermehrt Züge der schulischen Organisation annimmt (Verpflichtungscharakter, Leistungsorientierung, Fachlichkeit u. a.) und aufs Ganze gesehen innerhalb der schulischen Logik zunehmend den Charakter eines Nebenfachs zugewiesen bekommt. Zudem kommt es mit dem Übergang in die Sekundarstufe I auch zu einer nachhaltigen leistungsorientierten und soziostrukturellen Selektion der Schülerschaft und einer Zuordnung in entsprechende Schulformen. Bezogen auf den Umgang mit dem eigenen Körper kommt es zu massiven individuellen, aber auch kontextbedingten Veränderungen. Es wird somit jene Entwicklungsphase angezielt, die für die Ausprägung überdauernder sportiver Handlungsbefähigung von zentraler Bedeutung zu sein scheint, da insbesondere mit dem Ende der Sekundarstufe I und den dort anstehenden Übergängen in weiterführende schulische oder berufliche Felder erste massive Einbrüche der sportlichen Partizipation zumindest im organisierten Sport zu verzeichnen sind (vgl. u. a. Burrmann, 2005a). Die empirische Untersuchung besteht aus einer quantitativen und einer qualitativen Teilstudie. Auf der Grundlage einer nicht-repräsentativen standardisierten Befragung gehen wir zum einen der Frage nach, wie Schüler*innen ihren Sportunterricht erleben und inwieweit das Erleben von sportbezogenen Vorerfahrungen, 45
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die u. a. in der Herkunftsfamilie vermittelt werden, abhängen. Zum anderen analysieren wir, inwieweit das Erleben im Sportunterricht in Zusammenhang steht mit dem Sporttreiben außerhalb der Schule, mit Facetten des Selbstkonzepts und mit dem Wohlbefinden in der Schule. Bedingt durch das Forschungsinteresse an den Modi der Verknüpfung von schulischen und außerschulischen Kontexten, wie sie von Schüler*innen (mit Migrationshintergrund) vorgenommen oder auch unterlassen werden, steht eine Rekonstruktion von deren sport- und körperbezogenen Perspektiven und Erfahrungen im Zentrum der Forschung. Insbesondere was die Frage nach Beweggründen, Verlaufskurven, Deutungsmustern und Einstellungen angeht, besteht ein erheblicher Forschungsbedarf. Den thematischen Fokus der rekonstruktiven Analysen bilden für die untersuchten Jugendlichen typische kulturelle Einflussfaktoren für die Sozialisation zum Sport: Körperkonzepte, Geschlechterbilder, Werthorizonte und deren Verankerung in lebensweltlichen (Familie, peer-Kulturen) sowie milieubedingte Erfahrungszusammenhänge. Darüber hinaus werden sozio-ökonomische Faktoren und wahrgenommene Diskriminierungserfahrungen im Sport mitberücksichtigt. Diese Herangehensweise bereichert die Interpretation der quantitativen Daten insofern, als sie über Handlungsoptionen und -restriktionen informiert, die aus Sicht der Akteur*innen bestehen, z. B. Fragen nach der (Nicht-)Kompatibilität von schulischen und außerschulischen Sport- und Bewegungsaktivitäten oder Möglichkeiten sinnvoller Kompatibilität zwischen schulischem und außerschulischem Sport oder auch anderer Freizeitaktivitäten Der Schulsport ist dabei sicher kein Allheilmittel zur Beseitigung sozialer Ungleichheit. Ein höheres Maß an Passung der schulischen und außerschulischen Sportaktivitäten könnte aber – so eine Annahme – aufgrund der prinzipiell vorhandenen Attraktivität des Sports für Heranwachsende nicht nur individuelle Teilhabeprozesse, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung befördern und damit Bildungserfolge (ggf. insbesondere auch für Heranwachsende mit Migrationshintergrund) unterstützen.
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3
Methodischer Zugang Benjamin Zander 3 Methodischer Zugang
3.1 Einleitung 3.1 Einleitung
In diesem Kapitel werden ausgehend von bestimmten Forschungsanliegen die für die methodische Umsetzung der empirischen SpOK-Studie relevanten theoretischen Hintergrundannahmen erläutert. Darauf aufbauend werden die Methoden der Datenerhebung und -auswertung beschrieben und das forschungspraktische Vorgehen begründet.29 Wie bereits in der Einleitung des Sammelbands dargelegt, richtet sich das Anliegen der SpOK-Studie auf die Erforschung kollektiv geteilter Wissensbestände von Jugendlichen über das sportive Handlungsgeschehen in Schule und Freizeit. Der Zugang zu diesen Wissensbeständen erfolgt durch eine Rekonstruktion kollektiv geteilter Orientierungen jugendlicher Peergroups. Diese kollektiven Orientierungen sind in unterschiedliche konjunktive Erfahrungsräume eingelassen, die den Sinnhorizont der jeweiligen Gruppe bestimmen. Der Fokus wird auf kollektive Orientierungen gelegt, da unter Bezugnahme auf Überlegungen praxeologischer Wissenssoziologie (Bohnsack, 2017) angenommen werden kann, dass sie als handlungsleitendes Wissen in vielschichtigem und entscheidendem Maß in das Handlungsgeschehen einfließen. Vor dem Hintergrund dieses Forschungsanliegens waren für die Durchführung der SpOK-Studie folgende Forschungsfragen leitend: Welche gruppenspezifischen und gruppenübergreifenden Orientierungen zeigen jugendliche Peergroups in Bezug auf Schule, Freizeit, Sportunterricht und Freizeitsport? Welche konjunktiven Erfahrungsräume lassen sich in diesem Zusammenhang rekonstruieren? 29 Der vorliegende Beitrag bezieht sich ausschließlich auf die qualitative Teilstudie. Innerhalb des SpOK-Projekts wurden auch quantitative Daten erhoben und ausgewertet. Neben einer Sekundärauswertung des repräsentativen SPRINT-Datensatzes wurde auch eine eigene Fragebogenstudie realisiert. Die Methoden der quantitativen Teilstudie werden im 6. Kapitel beschrieben. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zander und J. Thiele (Hrsg.), Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt, Sport – Gesellschaft – Kultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31348-7_3
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3 Methodischer Zugang
Des Weiteren kann in Rückbindung an die praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack, 2017) davon ausgegangen werden, dass die zu untersuchenden jugendlichen Peergroups in gesellschaftlichen Kollektiven verortet bzw. eingebunden sind. Die Peergroups verweisen demnach auf weitere soziale Zugehörigkeiten wie Generation, Geschlecht oder Milieu, die z. B. eine Partizipation am Sport begünstigen bzw. verhindern können. Die mehrdimensionale Einbindung der Peergroups in diese sozialen Zugehörigkeiten zu rekonstruieren und die mit den sozialen Zugehörigkeiten verbundenen kollektiv geteilten Erfahrungen offenzulegen, ist ein zweites Anliegen der SpOK-Studie, da nur so die Genese kollektiver Orientierungen erfasst werden kann, welche die sozialen Hintergründe für z. B. unterschiedliche Partizipationsweisen sichtbar macht. Erst dieser soziogenetische ‚Blick‘ macht die soziokulturelle Machart der Passung zwischen jugendlichen Peergroups und ihren (sportiven) Handlungen einer Analyse zugänglich und ermöglicht die Beschreibung sozialer Ungleichheitsverhältnisse. Im SpOK-Projekt werden die kollektiven Orientierungen und die mit ihnen verbundenen konjunktiven Erfahrungsräume jugendlicher Peergroups mit Gruppendiskussionen erhoben und mittels der dokumentarischen Methode rekonstruiert. Unter Rekonstruktion wird dabei in Anlehnung an Bohnsack (2010b) der Anspruch verstanden, die alltäglichen Konstruktionen der zu untersuchenden Peergroups aus einer wissenschaftlichen Beobachter*innenposition zu erfassen und hinsichtlich von Sinn-Strukturen und Sinn-Logiken zu untersuchen, um darauf aufbauend eine Re-Konstruktion als sozialwissenschaftliche Konstruktion zweiter Ordnung erstellen zu können. „Das spezifische Erkenntnispotenzial rekonstruktiver Sozialforschung liegt darin, soziale Verhältnisse als Sinnzusammenhänge erfassen zu können und auf diese Weise – ganz im Sinne der Durkheimschen Devise, Soziales aus Sozialem zu erklären – einen verstehenden Nachvollzug sozialen Handelns zu ermöglichen“ (Meuser, 2018, S. 207).
Die Gruppendiskussion und die dokumentarische Methode als zwei etablierte Erhebungs- und Auswertungsverfahren der rekonstruktiven Sozialforschung haben sich inzwischen – gerade in ihrer Kombination – zur Untersuchung kollektiver Orientierungen in diversen Studien unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen bewährt (vgl. u. a. Bohnsack, 2010a).30 Ihr Potenzial liegt insbesondere in der Erforschung kollektiver Handlungsprozesse und Erfahrungszusammenhänge. In 30 In der Sportwissenschaft wurde die dokumentarische Methode jedoch bislang primär mit Beobachtungs- und/oder Interviewdaten kombiniert (siehe hierzu u. a. Pallesen & Schierz, 2010; Schierz et al., 2008; Schiller, 2019; Zander, 2015; Zander & Zender, 2015; Zender, 2018).
3.2 Praxeologische Wissenssoziologie als Grundlagentheorie
59
diesem Zusammenhang ermöglichen beide Methoden dem SpOK-Projekt, das Wissen jugendlicher Peergroups in seinen sinn- und soziogenetischen Formationen zu untersuchen.
3.2
Praxeologische Wissenssoziologie als Grundlagentheorie
3.2
Praxeologische Wissenssoziologie als Grundlagentheorie
Die im Rahmen der SpOK-Studie eingesetzten Erhebungs- und Auswertungsverfahren basieren auf Annahmen einer praxeologischen Wissenssoziologie, wie sie von Bohnsack (2010b, 2017) unter Bezugnahme auf die bereits in den 1920–1940er Jahren formulierten Gedanken Mannheims (2003, 2004) entwickelt wurde. Diese Variante der Wissenssoziologie stellt als Grundlagentheorie zum einen Begründungshilfen für bestimmte Entscheidungen bei der Umsetzung des Gruppendiskussionsverfahrens und der dokumentarischen Methode bereit, zum anderen liefert sie metatheoretische Kategorien, die maßgeblich in die Bestimmung des Untersuchungsgegenstands eingehen. Im Folgenden sollen diese Metakategorien näher beschrieben werden. Soziale Wirklichkeit und damit alle Formen des Handelns, wie z. B. auch sprachliche Äußerungen oder körperliche Praktiken, können mittels der theoretischen Überlegungen einer praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack, 2017) auf ihre Herstellungs- und Vollzugspraxis hin fokussiert und hinsichtlich eingelagerter Wissensbestände und Sinngehalte untersucht werden. Dabei lässt sich mit Blick auf die Herstellungs- und Vollzugspraxis sozialer Wirklichkeiten ein darin enthaltenes explizites/implizites Wissen auf einer kommunikativen/konjunktiven Sinnebene analytisch unterscheiden. Beide Wissensbestände haben für die im Rahmen der SpOK-Studie zu beforschenden Peergroups handlungsorientierendes Potenzial. Die kommunikative Sinnebene bezieht sich auf lexikalisches und damit auch gruppenübergreifendes sowie kontextunabhängiges Wissen über z. B. die soziale Rolle von Schüler*innen innerhalb der Institution Schule, während die konjunktive Sinnebene auf existenzielle Erfahrungszusammenhänge und ein fallspezifisches Wissen verweist (z. B. den Unterrichtsalltag von Schüler*innen XY am Gymnasium XY im Stadtteil XY). Die prinzipielle Unterscheidung der beiden Wissensbestände und ihr Zusammenspiel kann mit den Unterkategorien ‚Orientierungsschema‘ und ‚Orientierungsrahmen‘ innerhalb der Oberkategorie ‚Orientierungsmuster‘ gefasst werden (Bohnsack, 2012). Im Sinne einer handlungsbezogenen Leitdifferenz bezieht sich das Orientierungsschema auf ein theoretisches Wissen über Handlungen, während 59
60
3 Methodischer Zugang
der Orientierungsrahmen als ein atheoretisches Wissen auf die Hervorbringung des Handelns richtet. Das explizite Wissen auf der kommunikativen Sinnebene ist den Akteur*innen als Orientierungsschema u. a. in Form normativer Erwartungen bewusst zugänglich. Das implizite Wissen auf der konjunktiven Sinnebene ist hingegen nur bedingt gedanklich verfügbar und wird als inkorporierter Orientierungsrahmen im modus operandi der Akteur*innen sichtbar. In der sozialen Wirklichkeit liegt das nur in der Analyse getrennte ‚kommunikative‘ und ‚konjunktive‘ Wissen in einer Art Doppelstruktur vor. Bohnsack (2017, S. 107) formuliert dies im Rückgriff auf Mannheim (2004) als „Doppelheit der Verhaltensweisen in jedem Einzelnen sowohl gegenüber Begriffen als auch Realitäten“. Die Handlungsorientierungen von Akteur*innen sind immer durch eine propositionale und performative Struktur gekennzeichnet, die in notorischer Diskrepanz zueinander stehen (Bohnsack, 2017), was sich in einer Gesamtschau unter dem Oberbegriff des Orientierungsmusters auch grafisch darstellen lässt (siehe Abb. 1). In dieser Grafik unterscheidet Bohnsack (2018, S. 183f) weiterhin noch zwischen Orientierungsrahmen im „engeren“ und im „weiteren Sinne“, um auf die im Handeln stattfindende Bearbeitung der notorischen Diskrepanz bzw. des damit verbundenen Spannungsverhältnisses von propositionaler und performativer Struktur hinzuweisen. Seiner Argumentation folgend entfaltet sich die Handlungsrelevanz eines Orientierungsschemas immer erst im Kontext eines Orientierungsrahmens im engeren Sinne, womit die Art und Weise der Bearbeitung des Spannungsverhältnisses an spezifische Erfahrungen innerhalb einer kollektiven Sozialisationsgeschichte gebunden ist. Die Art und Weise der Überführung von Orientierungsschema und Orientierungsrahmen in das Handeln unter Vereinbarkeit beider Seiten wird durch den Orientierungsrahmen im weiteren Sinne zum Ausdruck gebracht bzw. bezeichnet.
3.2 Praxeologische Wissenssoziologie als Grundlagentheorie
Abb. 1
61
Orientierungsmuster (Bohnsack, 2018, S . 184)
Bilanzierend gesagt, wird für das SpOK-Projekt mit Blick auf zu untersuchende soziale Wirklichkeit mit dem Verweis auf kollektiv geteilte Orientierungsmuster von jugendlichen Peergroups eine Unterscheidung handlungsleitender Wissensbestände und Sinngehalte in einem komplexen Verhältnis zueinander möglich . Der metatheoretische Oberbegriff ‚Orientierungsmuster‘ schafft so innerhalb der Herstellungs- und Vollzugspraxis sozialer Wirklichkeit eine Strukturierung von Elementen, die für die Orientierung der Akteur*innen/Gruppen maßgeblich sind . Auf konzeptioneller Ebene der Zusammensetzung seiner einzelnen Elemente ist er zudem anschlussfähig an verschiedene Theorietraditionen, die zugleich über ihre Kategorien eine weiterführende Ausbuchstabierung im Rahmen spezifischer empirischer Fokussierungen ermöglichen . Wie in der Abb . 1 veranschaulicht wird, lassen sich Orientierungsschemata, so auch im SpOK-Projekt, mit bekannten Kategorien Norm, Common Sense-Theorie oder Identität weitergehend beschreiben, während sich der Orientierungsrahmen über den Habitusbegriff tiefergehend erfassen lässt . Neben einer Rekonstruktion von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen ist das Anliegen des SpOK-Projekts auch, einen empirischen Zugang zum „Orientierungsrahmen im weiteren Sinne“ respektive dem „konjunktiven Erfah61
62
3 Methodischer Zugang
rungsraum“ jugendlicher Peergroups zu erhalten (vgl. Abb. 1). Der konjunktive Erfahrungsraum ist eine weitere Kategorie aus dem metatheoretischen Begriffsinventar der praxeologischen Wissenssoziologie. Er wurde in der SpOK-Studie zur Bestimmung des Untersuchungsgegenstands herangezogen, um insbesondere auf die handlungspraktische Einbettung von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen fokussieren zu können. Zudem ermöglicht die Kategorie, die Analyseeinstellung auf das kollektive Handeln jugendlicher Peergroups zu schärfen. Dabei rückt sie sowohl die kollektiven Erlebnisstrukturen des Handelns als auch die vor allem implizit geteilten Erfahrungen und praktischen Wissensbestände der Peergroups in den Vordergrund, wie im Folgenden näher ausgeführt wird. Ein konjunktiver Erfahrungsraum bezeichnet eine Vergemeinschaftung von Menschen durch „Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biografischen Erlebens oder durch eine gemeinsame Sozialisationsgeschichte“ (Bohnsack, 2010b, S. 111). Die sogenannte Konjunktion „verbindet die Menschen quasi von innen, auf der Basis ihrer gemeinsamen Erfahrungshintergründe miteinander“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2010, S. 272). Der für den konjunktiven Erfahrungsraum zentrale Erfahrungsbegriff bezieht sich auf ein kollektiv geteiltes Gedächtnis. Er umfasst die Erinnerung des Erlebten und eine sinnhafte Verarbeitung des Erinnerten zu Orientierungen, die dann auch reproduzierbar sind bzw. in das Handeln einwirken (Bohnsack, 2017). Als Erfahrungsgemeinschaften sind konjunktive Erfahrungsräume konstitutiv an ein gemeinsames oder strukturidentisches Erleben von Menschen gebunden. Empirisch lassen sie sich auf den drei Ebenen Gesellschaft, Organisation und Interaktion/Gruppe identifizieren (Bohnsack, 2017). Peergroups können aufgrund der gemeinsamen Sozialisationsgeschichte ihrer Gruppenmitglieder als konjunktive Erfahrungsräume bezeichnet werden. Aus wissenssoziologischer Perspektive (Bohnsack, 2017) gründen die Beziehungen der Akteur*innen in Peergroups mit ihrem Modus von hohem Vertrauen und intuitiver Verständigung auf explizit und implizit geteilten Wissensbeständen, die als gruppenspezifisch-kollektives Gedächtnis erfahrungsbasiert aus der direkten Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern resultieren. In konjunktiven Erfahrungsräumen sind Menschen über geteilte Erfahrungen gleichsam existenziell bzw. durch existenzielle Beziehungen miteinander verbunden, was einhergeht mit spezifischen Modi der Verständigung bzw. Interaktion zwischen den Akteur*innen. Ein konjunktiver Erfahrungsraum dokumentiert sich in vielfältigen und weitreichenden Formen der praktisch-habituellen Übereinstimmung von Akteur*innen, jenseits ihres theoretischen Erkennens und ihrer kommunikativen Absichten (z. B. in Form ähnlicher Praktiken, Handlungs-, Denk- oder Sprachstile). In einem kollektiv geteilten Erfahrungsraum vollzieht sich die Interaktion als unmittelbar intuitives Verstehen, während sie bei ungeteilten Erfahrungsräumen
3.2 Praxeologische Wissenssoziologie als Grundlagentheorie
63
auf kommunikative Verständigung im Sinne rationaler Abstraktions- und Interpretationsleistungen der Akteur*innen angewiesen ist (Bohnsack, 2010b). Analog zum Orientierungsrahmen im weiteren Sinne (vgl. Abb. 1) sind konjunktive Erfahrungsräume auf der Grundlage kommunikativer und konjunktiver Wissensbestände durch eine komplexe Doppelstruktur gekennzeichnet und auf dasjenige Erfahrungswissen bezogen, das kollektivspezifisch einerseits die Verwendung der beiden Wissensbestände und andererseits den Umgang mit dem Verhältnis der Wissensbestände zueinander umfasst. Dieser komplex gefasste Blick auf Handeln kann z. B. das kollektive Erfahrungswissen über den Umgang mit schul- und sporttypischen Normen in einer zweckrationalen und habituellen Logik unterscheiden und dazu dienen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einzelnen Peergroups zu erfassen. Insbesondere in der Schule ist aufgrund spezialisierter Rollenanforderungen von einer Spannung zwischen rollenförmig-zweckrationalem und habituellem Handeln auszugehen (u. a. Streblow, 2005). Diese Spannung kann entstehen, wenn der konjunktive mit dem kommunikativen Sinn schlecht zu vereinbaren ist bzw. sich widerspricht, wie im Sammelband u. a. für den Sportunterricht als einem konjunktiven Erfahrungsraum empirisch gezeigt wird (vgl. hierzu ausführlich Kap. 5). Ein konjunktiver Erfahrungsraum ist – wie bereits angedeutet – nicht ausschließlich an das gemeinsame Handeln im Rahmen eines gruppenhaften Zusammenlebens gebunden, sondern durch eine gleichartige bzw. strukturidentische Teilhabe an einem existenziellen Erlebniszusammenhang definiert (Bohnsack, 2010b). Innerhalb einzelner Peergroups bestehen daher auf der Basis geteilter existenzieller Erlebnisse weitere Erfahrungsräume. Zum Beispiel können die Mitglieder einer Peergroup aufgrund von gleichen Geschlechts- und Generationszugehörigkeiten in zusätzlichen Erfahrungsräumen miteinander verbunden sein. Konjunktive Erfahrungsräume sind daher grundsätzlich mehrdimensional, da sie mit verschiedenen sozialen Zugehörigkeiten einhergehen und auf je spezifisch erlebte Handlungskontexte verweisen. Auch in den kollektiven Orientierungen jugendlicher Peergroups bzw. den zu rekonstruierenden Orientierungsmustern überlagern sich immer mehrere Erfahrungsräume. Ausgehend von der Annahme, dass jugendliche Peergroups in mehrere konjunktive Erfahrungsräume eingebunden sind, aus deren Perspektive sie ihre Erfahrungen in der sozialen Wirklichkeit einordnen, sollen im SpOK-Projekt mit Blick auf Schule, Freizeit, Sportunterricht und Freizeitsport die verschiedenen zentralen sozialen Zugehörigkeiten auch in ihrer intersektionalen Verschränkung herausgearbeitet werden. Eine offene Frage wäre z. B., inwiefern sich die Orientierungen jugendlicher Peergroups in Bezug auf den Sportunterricht entlang mehrerer miteinander verschränkter Erfahrungsräume unterscheiden, also z. B. durch die Kombination von geschlechtsbezogenen, milieuspezifischen und ethnischen Einflüssen spezifisch gelagert sind. 63
64
3 Methodischer Zugang
An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass konjunktive Erfahrungsräume unabhängig von ihrer sozialen Verortung auf den Ebenen von Gruppen oder sozialen Zugehörigkeiten durch eine erfahrungsgebundene Art von Kollektivität gekennzeichnet sind. Ein konjunktiver Erfahrungsraum lässt sich demnach, wie auch der Orientierungsrahmen im engeren Sinne, dezidiert nicht kausal an ein gruppenhaftes Zusammenleben oder soziale Zugehörigkeiten binden. Vielmehr geht es darum, die Sinn-Strukturen/-Logiken der kollektiv geteilten, teils existenziellen Erfahrungsgeschichte der Beforschten unter Berücksichtigung der sozialen Rahmenbedingungen zu verstehen. „Kollektive Orientierungen werden mit zwar unabhängig voneinander gesammelten, aber ihrem Wesen nach gleichen Erfahrungen von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen in Verbindung gebracht. Das Kollektive ist diesem Verständnis nach also nicht als etwas abstrakt Äußeres zu verstehen, das jenseits des Individuellen zu konzeptualisieren ist, sondern erfahrungsgebunden. Allerdings werden Erfahrungen hier nicht mit biographischen Einzelschicksalen verbunden, sondern als durch sozial gegebene Rahmenbedingungen vermittelt angesehen“ (Kühn & Koschel, 2011, S. 265).
Zur Analyse der Soziogenese von kollektiven Orientierungen in mehrdimensional aufgespannten konjunktiven Erfahrungsräumen wurde im Rahmen der SpOKStudie die dokumentarische Methode verwendet. Über eine komparative Analyse wird so sukzessive von den einzelnen Peergroups abstrahiert und im Verlauf der Typenbildung dann auch der konjunktive Sinn- bzw. Erfahrungsgehalt von ‚größeren‘ sozialen Kollektiven freigelegt. Der faktische Wahrheitsgehalt und die normative Richtigkeit werden in der dabei eingebrachten dokumentarischen Analysehaltung ausgeklammert (Bohnsack, 2017). Stattdessen wird der Blick auf den performativen Herstellungsprozess von sozialer Wirklichkeit gerichtet und dabei auf die handlungspraktische Funktionalität der kollektiven Orientierungen in eben diesen Prozessen geschaut.
3.3
Gruppendiskussionsverfahren zur Datenerhebung
3.3
Gruppendiskussionsverfahren zur Datenerhebung
In der vorliegenden Studie wurden in der Erhebung und Auswertung der Daten Jugendliche nicht individuell, sondern als Gruppe betrachtet. Unter Bezugnahme auf die theoretischen Grundlagen der praxeologischen Wissenssoziologie stellte die Gruppe den Fall dar, deren kollektiv geteilte Orientierungen es zu rekonstruieren galt, die wiederum in konjunktiven Erfahrungsräumen begründet liegen. Dieser Fokus der Studie auf die Kollektivität der Gruppe hatte auch Einfluss auf die Aus-
3.3 Gruppendiskussionsverfahren zur Datenerhebung
65
wahl und die Zusammensetzung der zu untersuchenden Diskussionsgruppen. In der Literatur (vgl. u. a. Loos & Schäffer, 2001; Schäffer, 2018) wird empfohlen, dass die Gruppen Realgruppen sind oder zumindest über gleiche Erfahrungen verfügen, also in bestimmten Dimensionen eine homogene Teilnehmer*innenstruktur aufweisen. Insbesondere die letztgenannte Variante der Gruppenauswahl lässt sich z. B. an dem Besuch derselben Schule oder dem gleichen Lebensalter festmachen. Sie basiert auf von außen herangetragenen Zuschreibungen, die als Vermutungen zu behandeln sind, sodass die Frage nach der erfahrungsbezogenen Homogenität der Gruppe erst empirisch über die Rekonstruktion beantwortet werden kann. Wenn Gruppen zu heterogen zusammengesetzt sind, kommt es zum argumentativen Austausch in generalisierender Form von individuellen Meinungen und Stellungnahmen im Rückgriff auf kommunikatives Wissen. In einer solchen Diskussion werden Erzählungen und Beschreibungen kaum arbeitsteilig von der Gruppe im Sinne einer kollektiven Thematik hervorgebracht, sodass der Zugang zum konjunktiven Wissen in Form kollektiver Orientierungsgehalte mit entsprechenden Positionierungen in konjunktiven Erfahrungsräumen erschwert ist.31 Vor diesem Hintergrund wurden im SpOK-Projekt auf Basis ihrer Selbstdefinition befreundete und auch außerschulisch aktive Peergroups befragt. Bei den Gruppendiskussionen bestand eine Peergroup mindestens aus drei Jugendlichen. Der Zugang zu den Peergroups erfolgte über die Schulen, wo auch die ca. 90-minütigen Diskussionen (eine Schuldoppelstunde) durchgeführt wurden. Der Kontakt zu den Schulen wurde entweder über persönliche Beziehungen der Projekt-Mitarbeiter*innen zu einzelnen Lehrer*innen und/oder über die jeweiligen Schulleitungen mittels eines entsprechenden Anschreibens realisiert. Während sich der Zugang zu den Peergroups in einigen Fällen als relativ einfach herausstellte, gab es bei mehreren Jugendlichen auch Schwierigkeiten, die Einverständniserklärung der Eltern (bzw. Erziehungsberechtigten) einzuholen. Trotz eines hohen organisatorischen Aufwands im Vorfeld (Telefonate, Terminverschiebungen) lagen nicht zu jeder Peergroup für alle Jugendlichen Einverständniserklärungen vor. So wurden zum Teil auch Jugendliche als Gruppe – gebildet auf Basis der eingegangenen Einverständniserklärungen – befragt. Alle Mitglieder dieser ‚künstlich‘ gebildeten Gruppen sind auf den ‚ersten‘ Blick primär über die Gemeinsamkeit der Zugehörigkeit zu einer Klasse oder einem Jahrgang miteinander verbunden. Wie auch in den Fallrekons-
31 Auch in heterogen zusammengesetzten Gruppen stehen die Aussagen im Zusammenhang mit sozialen Zugehörigkeiten wie etwa Geschlecht oder Generation. Für Forscher*innen ist es hier jedoch erschwert, valide Rekonstruktionen kollektiver Orientierung vorzunehmen, da vorrangig Einzelmeinungen abgegeben werden und so keine Kontrolle möglich ist, ob es sich um eine kollektive Thematik handelt (Schäffer, 2018). 65
66
3 Methodischer Zugang
truktionen innerhalb der einzelnen Kapitel kenntlich gemacht wird (siehe Kap. 4–7), sind einige wenige Gruppen des Samples keine ‚reinen‘ Freundescliquen. Anliegen der SpOK-Studie ist es, neben Einzelfallanalysen vor allem den Vergleich unterschiedlicher Gruppen zu ermöglichen, um über die Rekonstruktion verschiedener Dimensionen konjunktiver Erfahrung auch zu einer auch soziogenetisch fokussierten Typenbildung zu gelangen. Unter Berücksichtigung der besonders einschlägigen Befunde zur sozialstrukturellen Differenzierung bezüglich des Sportengagements von Jugendlichen in Schule und Freizeit (vgl. Kap. 2) wurden hierzu Gruppendiskussionen mit weiblichen und männlichen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund an Gymnasien und Hauptschulen durchgeführt, um auch einer möglichen geschlechts-, herkunfts- und schulformspezifischen Rahmung kollektiver Orientierungsmuster jugendlicher Peergroups Rechnung zu tragen und die Einbettung der Orientierungsmuster in ihre konjunktiven Erfahrungsräume zu ergründen.32 Auch wurden gezielt mehrere Gruppen an unterschiedlichen Schulen befragt, um differenziertere Einblicke in Jahrgangs- und Klassenkontexte spezifischer Einzelschulen (z. B. konfessionelles Mädchengymnasium) und ihre Schulkulturen zu erhalten. Unter Berücksichtigung ihrer Zielstellung richtete die SpOK-Studie den Fokus auf Peergroups im Jugendalter. Auch wenn für das Sampling der untersuchten Peergroups die drei Kriterien Geschlecht, Migration, Schulform unter Berücksichtigung des Forschungsstands eingegrenzt wurden (vgl. Kap. 2), fungierten die mit den Kriterien verbundenen Zuschreibungen allenfalls im Sinne eines Anfangsverdachts zur Begründung der Auswahl der Gruppen. Für die Datenauswertung galt es daher, die Zuschreibungen der Fallauswahl selbst zu hinterfragen, also zum Gegenstand einer Rekonstruktion werden zu lassen. Eine Annahme in diesem Zusammenhang war z. B., dass trotz der Zugehörigkeit zu einer Einzelschule, Klassengemeinschaft oder gar der Teilnahme an einem bestimmten Fachunterricht nicht zwingend von homologen Orientierungsrahmungen innerhalb und zwischen jugendlichen Peergroups auszugehen ist (vgl. hierzu auch Bonnet, 2009). Die Kriterien der Fallauswahl wurden von uns als miteinander verknüpfte Zugehörigkeiten zu bestimmten „sozialen Lagerungen“ verstanden (u. a. Nohl, 1996, S. 17ff). In diesem Zusammenhang beschreiben die Kriterien entlang bestimmter Merkmale das begründete Vorhandensein der Möglichkeit für eine Partizipation an den spezifischen Erfahrungen dieser sozialen Lagerungen. Mit Blick auf den Einzelfall wurde im Zuge der Datenauswertung rekonstruiert, inwieweit z. B. das 32 Im Projektantrag wurde für das Sampling (ursprünglich) auch ‚Sportivität‘ als eine weitere Kategorie angedacht, die sich aber als kaum praktikabel für eine gezielte Akquise von Gruppen erwies.
3.3 Gruppendiskussionsverfahren zur Datenerhebung
67
Kriterium Migrationshintergrund erfahrungsrelevant für die Gruppe wurde. Ob es Einfluss auf das Sportengagement nahm, ist dann eine empirische Frage. Die Entscheidung über eine Bezeichnung der Gruppe als Fälle für XY wurde zudem während der Datenauswertung, also zu einem späteren Zeitpunkt getroffen, wobei das Sampling für die fallvergleichende Analyse in den Beiträgen des Sammelbands unterschiedlich in Abhängigkeit der einzelnen thematischen Schwerpunkte erfolgte. Die für die finale Auswahl der Gruppen (vgl. Tab. 1) zentralen soziodemografischen Informationen wurden von den Jugendlichen vor oder während der Gruppendiskussion erzählt und/oder im Anschluss an die Gruppendiskussionen in einem Kurzfragebogen angegeben. Mit dem Kurzfragebogen wurden u. a. Eckpunkte zur Migrationsgeschichte erfasst, um z. B. Möglichkeiten einer Zuordnung in die erste oder zweite Migrationsgeneration vornehmen zu können. Insgesamt wurden 16 Peergroups bestehend aus Schüler*innen des 7. Schuljahrs (N = 71) in Gruppendiskussionen befragt.33 Wie im weiteren Fortgang des Kapitels noch ausgeführt wird (vgl. Kap. 3.4) war die SpOK-Studie längsschnittlich angelegt. So wurden noch einmal 14 Diskussionen mit denselben Gruppen im neunten Schuljahr (N = 56) durchgeführt.34 Bezogen auf die außerschulischen Aktivitäten der befragten Schüler*innen kann das Sample als sportaffin bezeichnet werden, da nur zwei Schülerinnen der Gruppe 10 explizit angeben, in ihrer Freizeit überhaupt nicht sportlich aktiv zu sein (zu einer ausführlichen Beschreibung des Sportengagements in der Freizeit siehe Kap. 7). Die Datenerhebung erfolgte mittels einer Variante des Gruppendiskussionsverfahrens, das sich als besonders geeignet für die Erfassung kollektiven Wissens erwiesen hat (Bohnsack, 1989, 2010b; Bohnsack et al., 2010; Loos & Schäffer, 2001; Schäffer, 2018).35 Das Verfahren kann insbesondere in der Jugendforschung als 33 Eine Schülerin hat zweimal teilgenommen, weshalb die Anzahl der befragten Heranwachsenden nicht identisch mit der Anzahl der Diskutierenden ist. 34 Einige wenige Gruppen wurden nicht im 9. Schuljahr, sondern zu Ende des 8. Schuljahrs befragt. 35 Das Gruppendiskussionsverfahren, wie es in vorliegender Studie zum Einsatz kommt, unterscheidet sich daher grundlegend von Fokusgruppen oder Gruppeninterviews. Aktuell gibt es eine Vielzahl an Ansätzen der Gruppendiskussion für eine Verwendung in verschiedenen Kontexten (vgl. u. a. Kühn & Koschel, 2011; Lamnek, 2005). Auch lassen sich innerhalb der Gruppendiskussion als Methode in der zeitgeschichtlichen Abfolge bestimmte Stationen hinsichtlich der zugrunde liegenden theoretischen Modelle markieren (vgl. im Überblick u. a. Bohnsack, 2010a). Diese teils impliziten, teils expliziten theoretischen Ansätze sind (Bohnsack et al., 2006): das Individuum in der öffentlichen Auseinandersetzung (1950er Jahre), die informelle Gruppenmeinung (Anfang der 1960er Jahre), das interpretative Aushandeln von Bedeutungen (Ende der 1960er Jahre). Heute (seit Mitte der 1980er Jahre) und in der vorliegenden Studie wird das Modell der 67
68
3 Methodischer Zugang
Tab. 1
Sample zum 7. Schuljahr differenziert nach soziodemografischen Merkmalen
Gruppen- Schul- Schul- Personen- Alter Nr. Nr. form Anzahl A HS 5 12-14 1
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Geschlecht M
Migrationshintergrund (1. Generation) 4
A
HS
5
12-15
W
3
A
HS
3
12-15
M
2
B
GYM
6
12-13
W
3
B
GYM
4
12-13
M
1
C
GYM
5
12-13
W
3
B
GYM
5
12-13
W
2
C
GYM
4
12-13
W
1
D
HS
5
12-14
3m / 2w
5 (1)
D
HS
3
14
W
2
D
HS
6
13-16
1m / 5w
5 (2)
E
GYM
4
12-13
2m / 2w
1
F
HS
6
13-14
M
6 (1)
F
HS
4
13-14
W
4
G
GYM
3
12
W
3
G
GYM
4
12
W
0
etabliert angesehen werden. Aktuell wird es zudem vermehrt an der Schnittstelle von z. B. Jugend- und Schulforschung (u. a. Krüger, Deinert & Zschach, 2012) oder Jugend-, Geschlechter- und Schulforschung (u. a. Oktay et al., 2015) eingesetzt. Gruppendiskussionen, die unter Bezugnahme auf die Methodologie dokumentarischer Interpretation geführt werden, sind als Interaktions- und Kommunikationsprozesse zu verstehen, die in ihrem regelhaften Ablauf auf gemeinsame biografische und kollektivbiografische Erfahrungen verweisen (Schäffer, 2011). Das für das Verfahren zentrale Merkmal der „Selbstläufigkeit“ ist dann gegeben, wenn sich die Gruppe der Diskutierenden ihres Relevanzsystems in Erzählungen und Beschreibungen versichert und (vorrangig) nicht die Relevanzen der Forschenden bearbeitet (Schäffer, 2011, S. 76). Zur praktischen Vorbereitung und Durchführung derartiger Gruppendiskussionen sind bestimmte Prinzipien der Gesprächsführung einzuhalten, wodurch sich z. T. gravierende Unterschiede zu anderen Gruppendiskollektiven Orientierungsmuster favorisiert. Es gibt aber aktuell weitere Ansätze der Gruppendiskussion für eine Verwendung in verschiedenen Kontexten (vgl. u. a. Kühn & Koschel, 2011; Lamnek, 2005).
3.3 Gruppendiskussionsverfahren zur Datenerhebung
69
kussionsverfahren ergeben (für eine Übersicht vgl. u. a. Lamnek, 2005). Bohnsack (2010b) spricht in diesem Zusammenhang von der methodisch kontrollierten Verschränkung zweier Diskurse (Forschende-Diskutierende und Diskutierende untereinander). Im Mittelpunkt der Prinzipien steht die Initiierung und Aufrechterhaltung der Selbstläufigkeit des Diskurses unter den Diskutierenden (Bohnsack, 2010a; Schäffer, 2011).36 Vor dem Hintergrund der anspruchsvollen Gesprächsführung wurden in der SpOK-Studie zwei Diskussionsleiter*innen eingesetzt. Die beiden Diskussionsleiter*innen unterschieden sich in ihrem Geschlecht, was mit Blick auf die Unterschiedlichkeit der zu befragenden Gruppen als Gewinn eingestuft wurde, da es –zumindest potenziell und partiell – Anerkennung und Verstehen förderte. Der Ablauf der Datenerhebung kann grob in eine Zeit vor, während und nach der Gruppendiskussion eingeteilt werden (Schäffer, 2018). Die Diskussionsrunde wurde durch eine Begrüßung der Diskussionsleiter*innen eröffnet, worauf sich eine knappe Erläuterung des Projektanliegens anschloss, in der insbesondere auch auf die bereits schriftlich eingegangenen Einverständniserklärungen und die Garantie der Anonymisierung Bezug genommen wurde. Gerade weil die Diskussionen in schulischen Räumlichkeiten stattfanden, wurde dezidiert darauf hingewiesen, dass die Diskussionsleiter*innen keine Lehrer*innen seien und das Gespräch nicht zu schulischen Zwecken diene (z. B. Leistungsbeurteilung). Danach folgt eine Vorstellungsrunde aller Beteiligten, die zugleich die Zuordnung der Stimmen zu den Sprecher*innen ermöglichen und so die Transkription erleichtern sollte. Die Art der Gruppendiskussion mit ihrem Fokus auf Selbstläufigkeit wurde sodann den Beteiligten erläutert. Dies war insbesondere in Abgrenzung zur schulischen Logik wichtig, in der Redebeiträge gewöhnlich durch die Lehrer*innen strukturiert werden. Alle Gruppen bekamen zu Beginn der Diskussion die gleiche Ausgangsfrage gestellt, wie sie zur ‚Gruppe‘ geworden sind. Mit dieser Frage sollte herausgefunden werden, wie die Gruppenmitglieder miteinander verbunden sind (z. B. über sportliche Aktivitäten). Immanent anknüpfend an diese Frage wurde für den weiteren Verlauf der Diskussion der erzählgenerierende Grundreiz bezogen auf die zentralen Aktivitäten der Gruppe gesetzt. Hierbei war das Anliegen, schulische und außerschulische Aktivitäten der Gruppe zu erfragen. Im weiteren Verlauf der Diskussion 36 Hierfür gibt es acht reflexive Prinzipien der Initiierung und Leitung von Gruppendiskussionen, die auch in der SpOK-Studie Berücksichtigung fanden. Die Prinzipien sind: 1. Die gesamte Gruppe ist Adressatin der Forscherintervention, 2. Vorschlag von Themen, nicht Vorgabe von Propositionen, 3. Demonstrative Vagheit, 4. Kein Eingriff in die Verteilung der Redebeiträge, 5. Generierung detaillierter Darstellungen, 6. Immanente Nachfragen, 7. Die Phase exmanenter Nachfragen und 8. Die direktive Phase (Bohnsack, 2010b, S. 207ff.). 69
70
3 Methodischer Zugang
sprach die Gruppe zudem über selbstinitiierte, aber auch vorgegebene (Leitfaden) Themen.37 Spätestens dann wurde z. B. über das (eigene) Sporttreiben in der Schule und der Freizeit gesprochen. Die Gruppendiskussion endete mit der Frage der Diskussionsleiter*innen nach noch offenen Punkten oder Themen. Danach wurde von den Jugendlichen der oben angesprochene soziodemografische Kurzfragebogen38 ausgefüllt. Die Diskussionsleiter*innen erstellten im Anschluss ein Memo, in dem u. a. die Anordnung der Diskutierenden im Raum und sprachlich/thematische Besonderheiten festgehalten wurden.
3.4
Exkurs: Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens
3.4
Exkurs: Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens
Das ‚klassische‘ Gruppendiskussionsverfahren ist, so wie oben beschrieben, vor allem auf verbale Kommunikation ausgerichtet und zielt auf die Artikulation von kollektiv geteilten Erfahrungen. Wie alle verbalen Verfahren der Datenerhebung erfasst auch die Gruppendiskussion die soziale Praxis in einer notwendig perspektivisch gebrochenen Form. Die soziale Praxis ist nicht der unmittelbaren Beobachtung zugänglich, sondern erscheint als kollektive Erfahrung im Reden der Gruppenmitglieder. Die Dominanz der Verbalität kann im Hinblick auf bestimmte Untersuchungsgegenstände aber auch zu einer Limitierung führen. Im Sinne der Gegenstandsangemessenheit wurde daher für die SpOK-Studie eine Methodenerweiterung vorgenommen, die nun näher beschrieben und begründet werden soll.39
37 Weitere Leitthemen waren u. a. Körper-, Geschlechter- und Schönheitsvorstellungen. 38 Für die erste Erhebungswelle wurden folgende Fragen gestellt: Wie heißt du (Vorname)? Wie alt bist du? In welchem Land bist du geboren? In welchem Land sind deine Eltern geboren? Welche Sprache sprichst du (differenziert nach: mit deinen Eltern, Geschwistern, Freunden)? Was machen deine Eltern beruflich (differenziert nach: Mutter/Vater)? Welche Sportarten machst du außerhalb der Schule? Wo machst du Sport außerhalb der Schule? Mit wem machst du Sport außerhalb der Schule? Wie viel Stunden in der Woche machst du Sport außerhalb der Schule (differenziert nach: Wochentag und Wochenende)? Wie würdest du dich in der Schule einschätzen (eher gut, eher durchschnittlich, eher schlecht)? Wie gern gehst du zur Schule (sehr gern, gern, nicht so gern, ungern)? 39 Der Exkurs wurde in weiten Teilen bereits publiziert (vgl. ausführlich Zander, 2019); neben weiterführenden methodischen Überlegungen (Kirchhoff, 2016; Kirchhoff & Zander, 2018; Zander & Kirchhoff, 2016).
3.4 Exkurs: Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens
71
Die Methode der Gruppendiskussion wurde durch zwei zusätzliche, stärker visuell ausgerichtete Erhebungsverfahren erweitert: zum einen in Form von Collagen, die durch die Schüler*innen mithilfe von Zeitschriftenmaterial40 erstellt wurden, und zum anderen durch die Selbst-Abbildung der Schüler*innen über Gruppen-Selfies nach dem Ende der jeweiligen Diskussion. Hierbei konnten die Jugendlichen ihre Selbstinszenierung über eine speziell auf dem Laptop installierte Spiegelungsfunktion eigenständig kontrollieren. Wie die Collage war auch das Selfie ein Produkt des gemeinsamen Interaktions- und Kommunikationsprozesses der Diskutierenden. Durch diese beiden visuellen Erhebungsverfahren entstand eine in seinen Modalitäten erweiterte Form der Gruppendiskussion, die als in sich geschlossener Gruppenwerksprozess verstanden wird (Kirchhoff, 2016). Der dreiphasige Prozess besteht aus: • einer Diskussion, • der Collagenerstellung und Collagenbesprechung und • einem abschließenden Gruppen-Selfie. Diese Phasen bauen sukzessiv aufeinander auf, wobei die Übergänge zwischen den drei Phasen durch spezifische Impulse der Forscher eingeleitet, beendet und in ihrem Verlauf moderiert werden.41 Die Impulse lassen sich grob als Erzähl-, Beschreibungs-, Begründungs- und Handlungsaufforderungen (Arbeitsaufträge) unterscheiden. Diese Erweiterung der ‚klassischen‘ Gruppendiskussion wird zum einen mit dem Thema der Körperlichkeit als einem der Forschungsgegenstände der SpOKStudie begründet. Unter Bezugnahme auf körpersoziologische Überlegungen (v. a. Gugutzer, 2015) wird angenommen, dass ausschließlich sprachlich basierte Forschungszugänge aufgrund der ‚Sprachlosigkeit des Körpers‘ an Grenzen stoßen, die durch einen Einbezug von Körperbildern in die Phase der Collage und durch die Ermöglichung von Körperpraktiken während des Selfies relativiert werden können. 40 Zeitschriften der ersten Erhebungswelle waren: Bravo, Gala, Fit for fun, men´s health, Myself, Auto Bild. Sie wurden vor allem aufgrund ihres Schwerpunkts auf Fotografien von Personen bzw. ihrer Körper(lichkeit) ausgewählt. Die Zeitschriftenauswahl durch das Projektteam erfolgte dabei auch unter der Zielsetzung, einerseits Relevanzen zu berücksichtigen, die in jugendlichen Lebenswelten zu vermuten sind, andererseits deren Partizipation an der ‚erwachsenen‘ Nutzung von Zeitschriften, etwa seitens des sozialen Umfelds, einzubeziehen. 41 Die Phasen dauerten in Abhängigkeit der Gesprächigkeit und Themenwahl der einzelnen Gruppen unterschiedlich lang, wobei i. d. R . die Hälfte der Zeit (45 Min.) für die Diskussion verwendet wurde. 71
72
3 Methodischer Zugang
Mit dem Einsatz wurde nicht eine Kompensation der diesbezüglichen ‚Schwäche‘ verbaler Verfahren intendiert, sondern ein zusätzlicher Zugang im Sinne einer handlungspraktischen Perspektive auf den Forschungsgegenstand Körper(lichkeit). Zum anderen ist die Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens mittels der visuellen Ebene durch die Collage und das Selfie mit den Jugendlichen als den Beforschten selbst zu begründen. Gemeint sind hier ihre veränderten Lebenswelten, die u. a. durch eine Allgegenwart des Ikonischen gekennzeichnet sind (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2010). Andere Autor*innen sprechen sogar von einem „iconic turn“ im Sinne eines grundlegenden gesamtgesellschaftlichen Umbaus von Wirklichkeit, der in besonders starkem Maß auch das Leben von Jugendlichen betrifft und sie auffordert, „ihr Leben vor sich selbst zu beobachten, zu inszenieren und zu präsentieren“ (Sellmann, 2013, S. 79ff.).42 Im historischen Vergleich lässt sich zeigen, dass Jugendliche in einer zunehmend ästhetisierten Wirklichkeit leben, „die sich auch immer stärker nur noch über ästhetisierende Logiken begreifen lässt“ (Sellmann, 2013, S. 90). Die bildbezogene Kommunikation ist gegenüber früheren Zeiträumen durch neue technische Möglichkeiten, wie z. B. dem Smartphone, erheblich vereinfacht worden.43 Hierbei kann zwischen einer Verständigung über und durch Bilder unterschieden werden (vgl. z. B. Bohnsack, 2010), wobei beide Formen nicht nur bei der fotografischen Gruppen-Inszenierung (Selfie-Phase) zu finden sind, sondern auch bei der Collagenerstellung und -besprechung. Über den Einsatz von Collagen und Selfies wurden in der SpOK-Studie die jugendlichen Peergroups zu Rezipient*innen und Produzent*innen von Körperbildern gemacht. In anderen Forschungsprojekten wurden Körperbilder bereits in Gruppendiskussionen als z. B. mehrdeutiger Stimulus eingesetzt, um zu erfassen, wie sich Akteur*innen in Bezug auf bestimmte Themen positionieren (vgl. z. B. Degele, 2013).44 Bezogen auf die Erstellung der Collagen stehen in der SpOK-Studie Fragen nach einer z. B. geschlechts- oder bildungsmilieutypischen Positionierung der Jugendlichen zu Körperbildern im Zentrum. Die zum Teil eindimensionalen 42 Der „iconic turn“ trifft aber nicht gleichermaßen für alle gesellschaftlichen Bereiche zu. In den Sozialwissenschaften bzw. für die sozialwissenschaftliche Forschung lässt er sich nicht diagnostizieren (Bohnsack, 2017, S. 190ff.), was uns im vorliegenden Projekt vor viele offene Fragen stellte. 43 Die Präsenz von Selfies in den sozialen Medien unterstreicht diese Entwicklung. Selfies werden in diversen Situationen erstellt, z. B. auch auf Beerdigungen, vgl. http://selfiesatfunerals.tumblr.com/. 44 Bei der Auswertung muss der Stimulus nicht nur als verbale Ansprache, sondern auch als Handlungsaufgabe reflektiert werden (Reflexionsfragen wären z. B.: Was heißt es, ein Selfie oder eine Collage zu machen? Welche Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen werden durch die Forscher*innen vorgegeben? Etc.).
3.4 Exkurs: Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens
73
Körperinszenierungen, die sich in den ausgewählten Zeitschriften finden lassen, werden damit nicht nur visuell über die Collage, sondern auch verbal über die Beschreibungen und Bewertungen der Heranwachsenden rekontextualisiert. Auch Selfies wurden bereits in der sozialwissenschaftlichen Forschung eingesetzt (vgl. z. B. Terhart, 2014). Sie bieten innerhalb des SpOK-Projekts eine adäquate Möglichkeit, Fragen des handlungsleitenden Umgangs der Jugendlichen mit ihrem eigenen Körper (und den Körpern der anderen Mitglieder) ansatzweise zu untersuchen, da die Gruppen in die fotografische Inszenierung körperpraktisch involviert sind und auch selbst Regie führen. Zudem wird angenommen, dass eine Untersuchung der szenischen Choreographie mit einhergehender Regie (und damit auch Kontrolle über den Prozess) entsprechende Rückschlüsse auf die kollektiv geteilten Körperbilder zulässt, da hier der Fokus auf die Körperbilder der Gruppe selbst gelegt wird. Bezogen auf das Anliegen einer Rekonstruktion körperbezogener Orientierungen kann die Selfiephase damit auch als kollektive Konklusion des Gruppenwerksprozesses gelten (vgl. hierzu auch Kirchhoff, 2016). Im Rahmen der SpOK-Studie sind Körper und Bilder nicht nur Teile der Erhebungsmethode, sondern auch Forschungsgegenstände, zu denen der Gruppenwerkprozess Zugang schafft. Anders als beim ‚klassischen‘ Gruppendiskussionsverfahren verläuft der Gruppenwerksprozess nicht ausschließlich als v. a. verbal gestützter Kommunikationsprozess, sondern ist durch seine handlungspraktischen Erweiterungen auch auf körperliche Interaktionen ausgerichtet, die in Bildern visuell dokumentiert sind und hervorgebracht werden (vgl. hierzu ausführlich Kirchhoff, 2016). Innerhalb der drei Phasen wurden verschiedene Datenarten erzeugt: • die (Audio)Aufzeichnung des Redens in allen Phasen des Gruppenwerksprozesses, • die Collage als (beobachtbarer45) Handlungsprozess und (beobachtbares) Handlungsprodukt, • das Selfie als (beobachtbare) Selbstinszenierung.46 Die Daten sind als Einzeldaten zu begreifen, d. h. sie werden getrennt voneinander analysiert und erst im Anschluss daran im Rahmen dichter Fallbeschreibungen aufeinander bezogen. Um den verschiedenen Datenarten gerecht zu werden, sind
45 Insbesondere während der Phase der Collagenproduktion erstellen die Diskussionsleiter*innen Beobachtungsprotokolle. Diese werden nach Ende des Gruppenwerksprozesses durch das Anfertigen von Memos ergänzt. 46 Am Ende des Gruppenwerksprozesses wird zudem ein Kurzfragebogen eingesetzt, der v. a. soziodemografische Merkmale der Jugendlichen und ihrer Familien sowie Angaben zum Sporttreiben erfasst. 73
74
3 Methodischer Zugang
jeweils unterschiedliche und aufgrund der innovativen Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens auch spezifisch für das SpOK-Projekt angepasste Auswertungsverfahren erforderlich.47 Unabhängig von der visuellen Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens wurden in der SpOK-Studie große sprachliche Unterschiede zwischen den Schüler*innen verschiedener Schulformen sichtbar. Die Verbalität des Gruppendiskussionsverfahrens wurde daraufhin auch in ihrer Spezifität beim konkreten Einsatz reflektiert. An Hauptschulen verliefen die Diskussionen tendenziell weniger selbstläufig als an Gymnasien. Anders als methodisch intendiert, fand dort auch häufiger ein Gespräch zwischen den Forscher*innen und den Jugendlichen statt, was neben der Aktualisierung von Differenzen zwischen diesen beiden Gruppierungen (u. a. Alter, Milieu etc.) in einigen Fällen u. a. auch auf den Umstand zurückgeführt werden kann, dass von einigen Jugendlichen Deutsch als Zweitsprache gesprochen wurde. Des Weiteren zeigte sich in den Diskussionen mehr oder weniger analog zur Schulform neben einem peerspezifisch habitualisierten Kommunikationsstil (z. B. ‚Dissen‘) ein grundlegend unterschiedlicher, möglicherweise bildungsmilieu- bzw. schichtspezifischer Sprachgebrauch. Wie auch in den Studien von Bernstein (2012, S. 155f.) zum Sprachgebrauch von Kindern aus der Arbeiter- und Mittelschicht brachten die Gymnasialgruppen im Vergleich zu den Hauptschulgruppen mit ihrer Sprache häufiger „universale“ (ebd.) für die Diskussionsleiter*innen verständliche Bedeutungen hervor. In den Gruppendiskussionen mit Hauptschulgruppen überwogen hingegen „partikulare“ (ebd.) Bedeutungen, deren Sinn eng an spezifische Kontexte gebunden war. Im SpOK-Projekt führte die Beobachtung dieser sprachlichen Unterschiede zwischen den Schüler*innen zu folgenden Konsequenzen: Zum einen wurde der Kommunikation auf der wörtlichen bzw. immanenten Sinnebene bei einigen Gruppen über u. a. zusätzliche Verständnisfragen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, was teilweise vor dem Hintergrund der zu beachtenden Prinzipien der Initiierung und Aufrechterhaltung von Gruppendiskussionen ein schwieriger Balanceakt war, zum anderen wurde die Sprache einzelner Gruppen dezidiert bei der Erstellung der Transkripte und in der Auswertung reflektiert. Hier wurde verstärkt auch das kommunikativ generalisierende Wissen der Peergroups rekonstruiert, was in der Konsequenz zu einer größeren Gewichtung des Schritts der formulierenden Interpretation führte (siehe Abschnitt 3.3). 47 Die methodischen Überlegungen zur Auswertung der visuellen Daten sind im vorliegenden Projekt noch nicht abgeschlossen (vgl. Kirchhoff, 2016). Sie werden in dem laufenden Dissertationsvorhaben von Nicole Kirchhoff vertieft ausgewertet und methodologisch reflektiert.
3.5 Dokumentarische Methode zur Datenauswertung
75
Abschließend gesagt, können Collagen und Selfies in Gruppendiskussionen – insbesondere vor dem Hintergrund der sprachlichen Unterschiede zwischen jugendlichen Peergroups – auch als ein kompensatorisches bzw. sprach- und erzählgenerierendes Mittel eingesetzt werden. Die Erweiterung des Gruppendiskussionsverfahrens um eine visuelle Dimension wird unter dieser Perspektive dann weniger gegenstandsbezogen begründet, sondern gruppenspezifisch legitimiert. Mit Blick auf die Ergebnisse des vorliegenden Sammelbands wird das Visuelle primär als ein sprachbezogener Motor in der Diskussion verstanden und wenn überhaupt, dann nur ergänzend als eigenständiges Datum in die Auswertung einbezogen. Für die hier vorgestellten schul- und sportbezogenen Forschungsschwerpunkte hat sich dieses Vorgehen als hinreichend geeignet erwiesen, für andere, stärker die Körperlichkeit Jugendlicher fokussierende Fragestellungen können die visuellen Daten sicherlich von deutlich höherer Bedeutung sein.48
3.5
Dokumentarische Methode zur Datenauswertung
3.5
Dokumentarische Methode zur Datenauswertung
Die Auswertung der verbalen Daten der Gruppendiskussionen zur Rekonstruktion gruppenspezifischer Orientierungsmuster und gruppenübergreifender Orientierungstypen erfolgt über die dokumentarische Methode in vier zum Teil parallel stattfindenden Schritten (vgl. Bohnsack, 2010, S. 34ff.).
1. Schritt: Transkription In einem ersten Schritt wurden alle Gruppendiskussionen nach entsprechenden Richtlinien transkribiert und ihr thematischer Verlauf paraphrasiert. Die Transkripte basieren auf Richtlinien (vgl. Bohnsack, 2010, S. 236f.), die für die dokumentarische Methode entwickelt wurden. ‚@‘ steht für Lachen. Die Schüler*innen sind mit einer Kombination aus großen und kleinen, das Geschlecht anzeigenden Buchstaben markiert (‚Aw‘ steht für Schülerin A), die Diskussionsleiterin und der Diskussionsleiter sind mit ‚Y1‘ und ‚Y2‘ bezeichnet. Bei allen genannten Namen handelt es sich um Anonymisierungen. Auch weiterführende Angaben, die einen
48 Das SpOK-Projekt bestand als interdisziplinäres Projekt aus einer sportwissenschaftlichen und soziologischen Teilstudie. Insbesondere die soziologische Teilstudie fokussierte aus der Perspektive von Geschlechter- und Körpersoziologie auf die visuellen Daten (vgl. u. a. Kirchhoff, 2016). Es wurde z. B. danach gefragt, welche Geschlechter- und Körperbilder den Lebenswirklichkeiten von Jugendlichen zugrunde liegen und wie massenmedial verbreitete Körperbilder von ihnen rezipiert werden. 75
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3 Methodischer Zugang
Rückschluss auf Personen erlauben könnten, wurden anonymisiert (z. B. Ortsangaben, kalendarische Daten). Auslassungen in den Zitaten werden mit einem ‚[...]‘ markiert. Unerwartete Ereignisse während des Gesprächs wurden vermerkt (z. B. das Betreten des Raumes durch andere Personen). In dieser Phase des Auswertungsprozesses entstanden für jede Gruppendiskussion die drei Dokumente Transkript, thematischer Verlauf und Maskierung. Insbesondere der thematische Verlauf49 ermöglicht eine Übersicht über die gesamte Gruppendiskussion, die dann in Abhängigkeit von u. a. einzelnen Projektmitarbeiter*innen und ihren Forschungsschwerpunkten in einer gezielten Datenauswahl zur vertieften Auswertung mit der dokumentarischen Methode mündete. Die dokumentarische Methode lässt sich in zwei abgrenzbare Arbeitsschritte der formulierenden und reflektierenden Interpretation der Transkripte unterteilen. Diese Teilung ergibt sich methodologisch über die bereits im Abschnitt 3.2 dargelegte Differenz des kommunikativen und konjunktiven Wissens bzw. des immanenten und dokumentarischen Sinngehalts, auf die sich die beiden nächsten Arbeitsschritte jeweils beziehen.
2. Schritt: Formulierende Interpretation Im zweiten Schritt wurden einzelne Passagen aus den Transkripten ausgewählt. Zu diesen Passagen wurde sodann eine formulierende Interpretation erstellt, die auf die kommunikativen Wissensgehalte der Orientierungsschemata bezogen ist und darauf abhebt zu untersuchen, was (wörtlich) auf immanenter Sinnebene gesagt wird. Als zentrale Analyseeinheit, auf die sich dann eine vertiefende formulierende und reflektierende Interpretation fokussiert, wird eine „Passage“ unter formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten bestimmt (Przyborski, 2004, S. 50ff.). Durch die Selektion von Daten mit einer einhergehenden Reduzierung des Transkripts auf relevante Textstellen kommt der Passage eine entscheidende Steuerungsfunktion für den Fortgang des Auswertungsprozesses zu. Folgende Kriterien für die Bestimmung bzw. Auswahl von Passagen wurden im SpOK-Projekt verwendet: Eingangspassagen, die über die Rahmung des vorgegebenen Themas durch die jeweilige Gruppe Auskunft geben; Passagen mit hoher interaktiver und/oder metaphorischer Dichte, die verdeutlichen, dass die Gruppe über für sie besonders relevante Themen redet, 49 Die „thematische Gliederung“ wird manchmal auch der Phase der formulierenden Interpretation zugerechnet und dort von einer „detaillierten formulierenden Interpretation“ unterschieden (Bohnsack & Schäffer, 2007, S. 314f.). Unabhängig von der Zuordnung und Unterteilung sollte am Ende der formulierenden Interpretation durch Formulierung von Überschriften und durch Paraphrasierung eine fein strukturierte (hierarchische) Ordnung für den Verlauf des gesamten Diskurses stehen, die als detaillierte inhaltliche Übersicht eine Basis zur Weiterbearbeitung im Zuge der reflektierenden Interpretation garantiert.
3.5 Dokumentarische Methode zur Datenauswertung
77
die in einem engen Zusammenhang mit den „Erlebniszentren“ der Gruppe stehen und anhand von „Fokussierungsmetaphern“ identifiziert werden (Bohnsack, 2010, S. 138); Passagen zur Praxis des Sports (v. a. Erzählungen und Beschreibungen), die vor dem Hintergrund der Fragestellung des Forschungsvorhabens inhaltlich relevant sind; Passagen, die für einen thematischen Vergleich der Diskussionen von Bedeutung sind. Die Interpretation verbleibt in der formulierenden Interpretation zwar noch eng an dem Gesagten der befragten Peergroups, aber berücksichtigt in dieser Phase des Bestimmens und Auswählens von Passagen schon die Diskursorganisation. Die damit in den Blick gerückten formalen Sprachaspekte werden jedoch erst in der reflektierenden Interpretation vertieft interpretiert. Die ausgewählten Passagen wurden sodann im Rahmen einer formulierenden Feininterpretation nach mehr oder weniger markanten Themenwechseln durchgesehen bzw. Ober- und Unterthemen sequentiell identifiziert. Zu jedem Unterthema, das über eine, zwei oder auch mehrere Transkriptzeilen reichen kann, ist zudem mit eigenen Worten eine thematische Zusammenfassung in ganzen Sätzen angefertigt worden. Durch das Aufbrechen des Textes und die (Re)Formulierung des thematischen Gehalts soll in dieser Phase primär erkannt werden, dass der thematische Gehalt in den Äußerungen der Befragten nicht selbstverständlich, sondern interpretationsbedürftig ist (Nohl, 2009). Im Zuge des Auswertungsprozesses wird die milieugebundene Sprache der Diskutierenden in die milieugebundene Sprache der Forscher*innen methodisch kontrolliert übersetzt (Loos & Schäffer, 2001). Hierzu wurden die geäußerten Sichtweisen und erzählten Handlungspraxen bewusst als etwas Fremdes betrachtet, das es aus der Gruppenperspektive zu beschreiben galt. Es wurde also innerhalb des Relevanzsystems der Diskutierenden zusammenfassend ein Gruppenthema formuliert. Zudem ist die Analyseeinstellung von der Herausforderung gekennzeichnet, eine nicht intentionale Interpretation anzufertigen, die die Ebene des Ausdruckssinns unberücksichtigt lässt (Loos & Schäffer, 2001)50. Die dokumentarische Methode zielt auf das der Handlungspraxis zugrunde liegende „habitualisierte und z. T. inkorporierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert“ (Bohnsack, 2011, S. 40). In diesem Zusammenhang wurden von den Forscher*innen im SpOK-Projekt bereits parallel zu der formulierenden Interpretation – quasi im Vorgriff auf den Schritt der reflektierenden Interpretation – erste Interpretationsansätze zur 50 Die Frage, warum etwas in der Diskussion gesagt wird, spielt im Rahmen der dokumentarischen Methode keine Rolle, da Intentionen nicht unmittelbar zugänglich sind und sich zudem schwer rekonstruieren lassen (Loos & Schäffer, 2001). Im Unterschied zur Alltagskommunikation, die auf Abgleichung von Intentionen ausgelegt ist, müssen sich Forscher*innen im Zuge der Arbeit nach der dokumentarischen Methode von dieser alltäglichen Verfahrensweise abgrenzen (Loos & Schäffer, 2001). 77
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3 Methodischer Zugang
Diskursorganisation und dem mit ihr verbundenen Orientierungsrahmen der Gruppe notiert.
3. Schritt: Reflektierende Interpretation Im dritten Schritt wurde für dieselben Passagen, zu denen bereits im zweiten Schritt eine formulierende Interpretation erstellt wurde, eine reflektierende Interpretation verfasst, die das konjunktive Wissen des Orientierungsrahmens zum Gegenstand hat (dokumentarischer Sinngehalt) und unter Berücksichtigung ihrer performativen Seite über eine Sequenzanalyse untersucht, wie die Gruppe ein spezifisches Thema behandelt, was v. a. über den formalen Rahmen der Textkonstruktion zum Ausdruck kommt. Zentrale Frage ist (Loos & Schäffer, 2001, S. 63), wie sich über das „Wie etwas gesagt wird“ der dahinterstehende konjunktive Erfahrungsraum dokumentiert. Der zu rekonstruierende Erfahrungsraum (und mit ihm auch der Orientierungsrahmen im engeren sowie weiteren Sinne) wird dadurch sichtbar, dass im Text „an grundverschiedenen objektiven und ausdrucksmäßigen Momenten stets ein Identisches, nämlich das gleiche Dokumentarische“ herausgearbeitet wird (Mannheim, 1970, S. 121). In Abgrenzung, aber zugleich auch in Bezugnahme auf die Ergebnisse der formulierenden Interpretation geht es in diesem Schritt nicht mehr um die thematische Gliederung des Textes, sondern um die Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen das Thema in kollektiven Prozessen abgehandelt wird. Zentrale Frage dabei ist, ob und wie ein Sinngehalt von den Diskutierenden geteilt wird. Hierzu ist es notwendig zu erarbeiten, in welcher Art und Weise der Diskurs formal strukturiert ist. Um festzustellen, in welcher Weise ein Orientierungsgehalt unter Gruppenmitgliedern in jugendlichen Peergroups geteilt wird, bedarf es immer eines Blicks auf mehrere (Re)Aktionen zwischen den Befragten: „Denn erst, wenn die Reaktion als adäquate Reaktion bestätigt wird, ist sie nicht nur für den Produzenten, sondern auch für andere Beteiligte eine ‚passende‘ Reaktion“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2010, S. 291). Die kollektive Sinnproduktion der Gruppe (und auch die Rekonstruktion der Forscher*innen) folgt dabei einem Dreischritt von Proposition, Bearbeitung der Proposition/Elaboration und Konklusion (vgl. Przyborski, 2004, S. 61ff.). In dem Dreischritt dokumentieren sich die geteilten oder auseinanderfallenden Erfahrungsgrundlagen, weshalb sich an dieser Stelle noch tiefergehend mit der Sequenzanalyse befasst werden soll. Die Sequenzanalyse der Diskursbewegungen berücksichtigt die gesamte Dramaturgie des Diskurses und die Modi wechselseitiger Bezugnahme zwischen den Diskutierenden (Przyborski, 2004; Bohnsack & Przyborski, 2010). Zur Analyse der formalen Diskursbewegungen zwischen den Gruppenmitgliedern finden sich
3.5 Dokumentarische Methode zur Datenauswertung
79
detaillierte Hinweise (Bohnsack & Schäffer, 2007; Loos & Schäffer, 2001), die insbesondere die im Folgenden dargestellten Merkmale der Diskursorganisation betreffen: • Proposition: Aussage über einen Sachverhalt, Behauptung, Stellungnahme, These • Anschlussproposition: Aufgreifen einer Proposition, um daran eine weitere anzuschließen • Elaboration: Weiterführung, Ausarbeitung einer Proposition (z. B. in Form einer Begründung, einer Detaillierung) • Exemplifizierung: Erläuterung einer Proposition oder einer Elaboration anhand eines Beispiels • Validierung: Bestätigung einer Proposition oder einer Elaboration • Interaktive Validierung: In wechselseitiger Rede ausgeführt • Opposition: Widerspruch zu einer Proposition oder Elaboration • Konklusion: Abschließen einer Proposition bzw. eine Folge von Propositionen, Anschlussproposition(en), Elaboration(en) (z. B. durch Äußerungen wie „So ist das“, „Das war’s“, „Nicht wahr“, „ne“ u. Ä.) • Metakommunikation: Verständigung über die Bedeutung bzw. den Sinngehalt einer Frage oder einer Äußerung (z. B. „Was meinst du damit?“) • Themeninitiierung: Einführung eines Themas durch die Diskussionsleiter*innen • Immanente Nachfrage: An Äußerungen von Gruppenmitgliedern anknüpfende Bitte der Diskussionsleiter*innen um Detaillierung, Exemplifizierung, Fortführung usw. • Exmanente Nachfrage: Siehe Themeninitiierung Erst die Sequenzanalyse der Diskursorganisation ermöglichte den Forscher*innen im SpOK-Projekt, auf methodisch kontrollierte Weise die kollektiv geteilten Sinngehalte der Jugendlichen zu identifizieren. Gruppendiskussionen zu gleichen Themen, wie sie in der SpOK-Studie realisiert wurden, können z. B. trotz inhaltlich-verbaler Gemeinsamkeiten Unterschiede bezüglich der Diskursorganisation aufweisen, die wiederum auf Unterschiede in den Orientierungen der Gruppenmitglieder verweisen. Als zentrale Modi der Diskursorganisation in Gruppendiskussionen gelten der univoke, antithetische und der divergente Modus. Der univoke Modus lässt sich mit der Devise „Eine für alle, alle für eine“, der antithetische mit der Frage „Wer weiß es besser?“ und der divergierende mit dem Hinweis „Mind the gap“ näher charakterisieren (Bohnsack & Przyborski, 2010, S. 243ff.). Diese drei Modi werden einerseits als Beleg für die Art der Gemeinsamkeit oder Verschiedenheit von Erfahrungshintergründen der Diskutierenden interpretiert, andererseits wird ihnen die Funktion der Inszenierung von Kollektivität zugeschrieben (vgl. Przyborski, 2004, 79
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3 Methodischer Zugang
S. 95). Insgesamt lassen sich nach Przyborski (2004, S. 96) in Gruppen – unabhängig von ihrer Zusammensetzung nach Kriterien, wie z. B. Geschlecht, Bildungsmilieu oder Generation – drei inkludierende Modi unterscheiden, in welchen gemeinsame Orientierungen zum Ausdruck kommen: • Paralleler Modus, • Antithetischer/konkurrierender Modus, • Univoker/unisono Modus. Bei den exkludierenden Modi, die auf unterschiedliche, unvereinbare Orientierungen verweisen, lassen sich nach Przyborski (2004, S. 216) zwei unterscheiden: • Oppositioneller Modus, • Divergenter Modus. Insbesondere diese letzten beiden Modi machen deutlich, dass die dokumentarische Methode nicht ausschließlich auf Kollektivität fokussiert ist, sondern immer auch die nicht geteilten Orientierungs- bzw. Sinngehalte erfasst (vgl. hierzu ausführlich Asbrand & Martens, 2020). Übersichtlich lassen sich diese fünf Modi wie folgt in einer Tabelle darstellen (vgl. Tab. 2): Tab. 2
Diskursmodus und Verhältnis von Erfahrungen (Przyborski, 2004, S. 316)
Ob und wie Erfahrungsbasis geteilt wird
Modus der Diskurs organisation
Gemeinsamer Orientierungsrahmen: inkludierende Modi struktur-identische identische Erfahrungen Erfahrungen, partielles Zusammenfallen der Identität parallel antithetisch unisono
Rahmeninkongruenz: exkludierende Modi nicht geteilte nicht geteilte Erfahrungen: Erfahrungen: offene Erfah- Falschrungsunter- rahmungen schiede oppositionell divergent
Die Sequenzanalyse der Diskursorganisation hat zum Ziel, die Transkripte bzw. die Erzählungen und Beschreibungen auf durch die Gruppe arbeitsteilig hervor-
3.5 Dokumentarische Methode zur Datenauswertung
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gebrachte Sinngehalte hin zu prüfen. Unter Berücksichtigung der Analyse von mehreren Passagen ermöglichte sie den Forscher*innen im SpOK-Projekt, die für das Handeln der jugendlichen Peergroups jeweilig zentralen Orientierungen zu entdecken. Die Gruppen zeigten nämlich mehrere kollektive Orientierungen und auch in bestimmten Themenbereichen durchaus in sich widersprüchliche Sinnhorizonte auf, die es bezüglich ihrer Bedeutung für den gesamten Fall einzuordnen galt. Die Beschreibung der Diskursorganisation geht einher mit der Entwicklung von Lesarten über eine kollektive geteilte Orientierung bzw. die konkrete Beschaffenheit einer bestimmten Orientierungsfigur. In den Aussagen der Gruppe lässt sich diese Orientierungsfigur (und mit ihr das kollektive Orientierungswissen) durch positiv und negativ begrenzende Horizonte in ihren Eckpunkten bestimmen (Przyborski, 2004; Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2010). Der positive Horizont markiert positiv besetzte Ideale, auf die eine Orientierung zustrebt. Er wird meist durch einen negativen Gegenhorizont begrenzt. Der negative Gegenhorizont kommt in negativ besetzten Idealen zum Ausdruck, z. B. wenn sich Gruppen in ihren Äußerungen von etwas abwenden oder eine bestimmte Orientierungsrichtung ablehnen. Die Enaktierungspotenziale stellen den dritten Eckpunkt der Orientierungsfigur dar und beschreiben (mögliche) Verwirklichungen der Orientierung. Findet sich in den Aussagen der Gruppe nur ein negativer Horizont oder finden sich sowohl positive als auch negative Horizonte, die einander ausschließen, besteht ein „Orientierungsdilemma“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2010, S. 290). Im Rahmen der Entwicklung von Lesarten verfassten die Projektmitarbeiter*innen der SpOK-Studie umfangreiche Textdokumente mit Interpretationen, die dann ausgiebig diskutiert wurden. Dies geschah zum Teil in Interpretationswerkstätten unter Bezugnahme auf Interpretationen zu mehreren Passagen eines Falles oder auch zu Passagen mehrerer Fälle. Die komparative Analyse (siehe ausführlich Schritt 4) hatte also bereits in dieser Phase einen wichtigen Stellenwert. Der Entwicklung von Lesarten bzw. der Textinterpretation liegt die zentrale Prämisse einer Analogie von Text und Handlung zugrunde. Im Sinne der dokumentarischen Methode geht es dabei nicht um die Handlung selbst, sondern um die Rekonstruktion von praktischen Erfahrungen bzw. Wissensbeständen, die in der sozialen Praxis gewonnen wurden und diese wieder hervorbringen kann (Nohl, 2009). Insbesondere der Zugang zum impliziten Handlungswissen ist neben der Sequenzanalyse an weitere Interpretationsschritte gebunden. Um einen vertieften Zugang zu diesem impliziten Wissen zu bekommen, bot auch die Textsortentrennung ein geeignetes analytisches Mittel (vgl. Nohl, 2009, S. 26ff.). Die Unterscheidung erfolgte nach den Textsorten Erzählung, Beschreibung, Argumentation und Bewertung, die im Rückgriff auf die Überlegungen von Schütze (u. a. 1987) bei der 81
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3 Methodischer Zugang
reflektierenden Interpretation von Interviews genutzt werden.51 Das Vorgehen zur Entwicklung von Lesarten wurde zudem mit Analysen bestimmter sprachlicher Mittel kombiniert, wie z. B. Satzkonstruktionen, Metaphern, Pronomina, Adverbien usw., um zu tieferliegenden Sinngehalten vorzudringen. Auch wenn Grammatik und Wortschatz übereinstimmen, ist dennoch davon auszugehen, dass in unterschiedlichen Sprachen gesprochen wird, da sich der Sinngehalt der gesprochenen Wörter unterscheidet (Bohnsack, 2010b). Die analysierten sprachlichen Mittel wurden dementsprechend durch fallinterne und -externe Vergleiche kontextualisiert gedeutet. Die Auswertung einer Gruppendiskussion kann nach der dokumentarischen Methode durch eine fallbasierte Diskursbeschreibung und/oder fallübergreifende Typenbildung abgeschlossen werden (Schäffer, 2018). In der SpOK-Studie wurden im Anschluss an den Arbeitsschritt der reflektierenden Interpretation erste und noch vorläufige Typologien über die Erfahrungsräume Schule, Sportunterricht und Freizeit herausgearbeitet.
4. Schritt: Typenbildung Im vierten Schritt wurden über fallinterne und -übergreifende Vergleiche fallspezifische Orientierungsmuster rekonstruiert. Diese vergleichende Analyse ist für die dokumentarische Methode wesentlich. Sie mündet in sinn- und dann auch ggf. soziogenetischen Typen. Der Fallvergleich ist ein sehr zentraler Bestandteil der dokumentarischen Methode. Die letztendliche Sinn-Rekonstruktion soll im Vergleich mit anderen Fällen geschehen, denn nur so lässt sich das zu Verallgemeinernde identifizieren. Die komparative Analyse kommt dabei nicht erst bei der Typenbildung, sondern bereits bei der Passagenauswahl und reflektierenden Interpretation zum Einsatz. Sie ist ein durchgehendes Arbeitsprinzip der dokumentarischen Methode (vgl. u. a. Schäffer, 2012). In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass – wie der Gegenstand der Interpretation auch – der Prozess des Interpretierens in Formen gesellschaftlicher Kollektivität eingebunden ist (Loos & Schäffer, 2001). Vor dem Hintergrund der kollektiven Eingebundenheit der interpretierenden Forscher*innen war es bereits in der Phase der reflektierenden Interpretation wichtig, die einzelnen Fälle nicht vor dem Vergleichshorizont der Forscher*innen zu interpretieren, sondern mithilfe empirischer Vergleichshorizonte. Hierzu wurden neben anderen Textpassagen zu dem Fall selbst (interner Vergleich) auch weitere Fälle der Studie genutzt (externer Vergleich). Erst diese fallinterne sowie -übergreifende Kontrastierung ermöglichte 51 Für ein und dasselbe Thema lassen sich in den erhobenen Daten entlang der Verwendung der Textsorte primär Orientierungsschemata (Argumentation) oder Orientierungsrahmen (Erzählung) identifizieren.
3.5 Dokumentarische Methode zur Datenauswertung
83
die Bestätigung einer Regelmäßigkeit (hier des habituellen Orientierungsrahmens), die nicht nur zufällig ist. Mithilfe von homologen Äußerungen innerhalb eines Falles und in Abgrenzung von heterologen Äußerungen, die in anderen Fällen zum Ausdruck kamen, wurde dieser Orientierungsrahmen zunehmend evidenter. Die komparative Analyse dient somit auch der Validierung der Interpretationen, wobei dieser Vergleichsprozess nicht endgültig abzuschließen ist (Nohl, 2009). Die komparative Analyse hat daher neben einer erkenntnisgenerierenden auch eine dezidiert erkenntniskontrollierende Funktion, da sie die Standortgebundenheit der Interpretation durch den Einbezug empirischer Gegenhorizonte aufdeckt. In diesem Zusammenhang wurden die Ergebnisse der vorliegenden Studie in Interpretationswerkstätten der Projektgruppe hinsichtlich ihrer empirischen Verankerung und intersubjektiven Nachvollziehbarkeit validiert.52 Hierbei wurden auch diverse Grenzen erkannt, die in den einzelnen Beiträgen des Sammelbands zum Teil in den Ergebnisdarstellungen, vor allem aber in den Zwischenfazits als Anschlussstellen für zukünftige Forschungen benannt werden. Das besondere Potenzial der dokumentarischen Methode liegt insbesondere auch in der soziogenetischen Typenbildung. Anders als in der sinngenetischen Typenbildung erfolgt dabei ein stärker erklärender Zugriff auf soziale Wirklichkeit, um die Genese der Orientierungen entlang sozialer Lagerungen/Zugehörigkeiten herauszuarbeiten: „Das Handeln jugendlicher Peergroups wird damit auf sozialstrukturell bedingte ähnliche Erfahrungen zurückgeführt, die in der konkreten Situation der Gruppendiskussion zwar zum Ausdruck gebracht werden, aber dort nicht entstehen“ (Kühn & Koschel, 2011, S. 271). In der Erklärung wird jedoch nicht von einem kausalen Bedingungsverhältnis ausgegangen, stattdessen wird ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis zwischen sozialer Praxis und Erfahrungsräumen zugrunde gelegt, was z. B. bezogen auf Phänomene sozialer Ungleichheit die Chance eröffnet, „das Wirksamwerden von sozialen Lagerungen als Bedingungen von Handlungspraxis in ihrem Vollzug zu dokumentieren“ (Pfaff, 2018, S. 68). In der soziogenetischen Typenbildung werden die sozialen Erfahrungshintergründe des sich auf die soziale Praxis beziehenden sinngenetischen Orientierungswissens gleichsam in den Vordergrund gerückt und näher bestimmt. Durch die „Repräsentation sozialer Strukturen im Wissen“ (Meuser, 2007, S. 209) wird es möglich, den Fokus der Analyse von gruppenbezogenen Erfahrungen hin zu einer Art Milieuanalyse zu lenken, in der soziale Zugehörigkeiten zu größeren 52 Für qualitative Studien wird die Arbeit in einer Interpretationsgruppe bzw. einem Forscher*innenteam empfohlen, um verschiedene Lesarten bei der Datenauswertung zu entwickeln. Je mehr Forscher*innen zu dem gleichen Ergebnis kommen, desto gehaltvoller ist es einzustufen (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2010). 83
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3 Methodischer Zugang
gesellschaftlichen Kollektiven und ihrer konjunktiven Erfahrungsräume miteinander relationiert werden. In der dokumentarischen Methode werden Fälle als Dokumente für mehrere (Milieu)Typiken verstanden, d. h. es können an jedem Fall grundsätzlich unterschiedliche Erfahrungsräume in ihrer Überlagerung empirisch rekonstruiert werden (Bohnsack & Nentwig-Gesemann, 2018). In der reflektierenden Interpretation und vor allem auch in der Typenbildung ist die Arbeit mit Vergleichshorizonten ein zentraler Punkt, der zugleich die Aspekthaftigkeit der Rekonstruktionen betont. „Dabei gilt es vor allem zu beachten, dass wir (abhängig von unseren Vergleichshorizonten) den jeweiligen Fall grundsätzlich immer nur aspekthaft, das heißt in Bezug auf einen der ihn konstituierenden Habitus oder Erfahrungsräume erfassen und erst durch diesen hindurch dessen Überlagerung durch andere Erfahrungsräume zu rekonstruieren vermögen“ (Meuser, 2018, S. 199). In der Typenbildung wird der Fall demnach nicht als Totalität bzw. die Gruppe als ‚Gesamthabitus‘ gefasst, sondern es werden mehrere Typiken oder eine mehrdimensionale Typik entwickelt. In der SpOK-Studie wurden einzelne Erfahrungsräume (Schule, Freizeit, Sportunterricht, Freizeitsport) ausgewählt und die Fälle entlang dieser Fokussierungen miteinander verglichen. Im vorliegenden Sammelband werden dabei vor allem in sinngenetischen Typenbildungen nicht nur eine Vielzahl an Fallunterschieden rekonstruiert, sondern auch erste fallübergreifende Orientierungen identifiziert. Diese fallübergreifenden Rekonstruktionen können als Ausgangspunkte für die Entwicklung entsprechender Basistypiken53 zu den vier Erfahrungsräumen Schule, Freizeit, Sportunterricht und Freizeitsport fungieren. Die einzelnen fallübergreifenden Rekonstruktionen bedürfen hierzu einer weiterführenden sinngenetischen 53 „Die Basistypik ist in den voneinander abgegrenzten Arbeitsschritten der sinngenetischen und der soziogenetischen Typenbildung auf zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. In der sinngenetischen Typenbildung bezeichnet sie ein erstes Ergebnis der konjunktiven Abstraktion, nämlich den übergreifenden Orientierungsrahmen des Samples, den man auch als allen Fällen gemeinsames Orientierungsproblem oder als gemeinsame Orientierungsdiskrepanz fassen kann. In der soziogenetischen Typenbildung bezeichnet die Basistypik die allen Fällen gemeinsame Erfahrungsdimension oder die Überlagerung mehrerer Erfahrungsdimensionen. Liegt die Basistypik im ersten Fall auf der Ebene der handlungsleitenden Orientierungen oder habituellen Gemeinsamkeiten, bezieht sie sich im zweiten Fall auf die Genese dieser Gemeinsamkeiten und damit auf die milieuspezifische Erlebnisschichtung. Die empirischen Rekonstruktionen auf beiden Ebenen zielen letztlich auf die Verknüpfung von Orientierungsrahmen auf der einen und einer bestimmten Erlebnisschichtung auf der anderen Seite. Ziel der Milieuanalyse der Dokumentarischen Methode ist also, einen regelmäßigen Zusammenhang zwischen beiden Ebenen zu identifizieren oder eine typisierte Relationierung“ (Amling & Hoffmann, 2013, S. 192f.).
3.5 Dokumentarische Methode zur Datenauswertung
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empirischen Analyse, die den übergreifenden Orientierungsrahmen des Samples herausarbeitet, „den man auch als allen Fällen gemeinsames Orientierungsproblem oder als gemeinsame Orientierungsdiskrepanz fassen kann“ (Amling & Hoffmann, 2013, S. 192). Ausgehend von einem fallübergreifenden Orientierungsrahmen lassen sich sodann in einer die SpOK-Ergebnisse weiterführenden Typenbildung spezifische Ausprägungen derselben Orientierungsfigur untersuchen. Die Abstraktion und Spezifizierung von Orientierungstypen ermöglicht nicht nur die Entwicklung und Präzisierung von Basistypiken, sondern auch eine Generalisierung der Rekonstruktionen. „Die Generalisierung ist ganz wesentlich davon abhängig, dass der Typus von anderen – auch möglichen – Typen oder Typiken abgegrenzt werden kann“ (Bohnsack, 2013, S. 254). In einer mehrdimensionalen, soziogenetischen Typenbildung werden die Basistypiken über die Abgrenzung von weiteren Vergleichsfällen (maximale Kontraste innerhalb des Samples) bzw. durch die Entwicklung weiterer (Milieu)Typiken validiert. Die ersten im SpOK-Projekt rekonstruierten Ansätze von Basistypen zu Schule, Freizeit, Sportunterricht und Freizeitsport wurden exemplarisch auch mit einer Längsschnitt- bzw. Entwicklungstypologie verbunden. Ein auf eineinhalb bzw. zwei Jahre angelegter Längsschnitt diente dazu, die mit der Pubertät und der Jugendphase assoziierten personalen Entwicklungen und sozialen Veränderungen zu berücksichtigen und eine im Zeitverlauf mögliche Kontinuität sowie Transformation der kollektiv geteilten Wissensbestände zu rekonstruieren. Innerhalb einer mehrdimensionalen Typenbildung eröffnet der Rückgriff auf Längsschnittdaten eine zusätzliche zeitliche Vergleichsdimension (Asbrand, Pfaff & Bohnsack, 2013), die in einer Prozesstypologie münden kann. Orientierung wird unter der zeitlichen Perspektive gleichsam zu einem Prozessphänomen. Neben Einblicke in vor- und nachgelagerte Ereignisse, die im Zusammenhang stehen mit den sich stetig orientierenden jugendlichen Peergroups, ist auch ein Auftauchen und Verschwinden einzelner Orientierungsgehalte aus dem Horizont der Akteur*innen denkbar. Auf dem Weg zu dieser Prozesstypologie ergibt sich forschungspraktisch eine stärkere Gewichtung des Einzelfalls. Für die Analyse jedes Einzelfalls waren die Fragen leitend, ob und inwiefern sich die kollektiven Orientierungen und konjunktiven Erfahrungen einzelner Peergroups im Zeitraum vom 7. zum 9. Schuljahr verändert haben und wie sich die Ergebnisse des zweiten Erhebungszeitpunkts auf die Ergebnisse des ersten beziehen lassen. Zur Beantwortung dieser Fragen wurde von den zentralen heuristischen Annahmen (Krüger et al., 2012; Winter, Niemann, Kotzyba & Hüfner, 2019) einer dynamischen Kontinuität, einem partiellen Wandel oder einer grundlegenden Transformation kollektiver Orientierungen ausgegangen. Diese heuristischen Begriffe bzw. metatheoretischen Kategorien sollten in der SpOK85
86
3 Methodischer Zugang
Studie für die Prozesshaftigkeit kollektiver Orientierungen jugendlicher Peergroups sensibilisieren. Im 9. Kapitel des Sammelbands finden sich hierzu erste Ergebnisse.
3.6 Zwischenfazit 3.6 Zwischenfazit
Anliegen der SpOK-Studie ist es, die kollektiv geteilten Orientierungen und konjunktiven Erfahrungsräume jugendlicher Peergroups über den Einsatz von Gruppendiskussionen und dokumentarischer Methode zu rekonstruieren. Indem nicht untersucht wird, was die soziale Wirklichkeit ist, sondern wie sie sich als Herstellungs- und Vollzugspraxis zeigt, findet zum einen ein Bruch mit dem common sense und zum anderen ein Zugang zum impliziten Wissen auf der Ebene des Dokumentsinns statt: „Die dokumentarischen Interpret(inn)en gehen also nicht davon aus, dass sie mehr wissen als die Akteure oder Akteurinnen, sondern davon, dass letztere selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen, somit also über ein implizites Wissen verfügen, welches ihnen reflexiv nicht so ohne Weiteres zugänglich ist“ (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl, 2007, S. 11).
Die Arbeit mit der dokumentarischen Methode verschreibt sich demnach dem Anspruch, das Implizite in der Herstellungs- und Vollzugspraxis sozialer Wirklichkeiten explizit zu machen. In der SpOK-Studie werden insbesondere über die komparative Sequenzanalyse im Rahmen der reflektierenden Interpretation die Orientierungsmuster jugendlicher Peergroups differenziert erfasst und dabei auch Relationen zwischen explizitem und implizitem Wissen systematisch aufgedeckt, u. a. im Sportunterricht in Form von spannungsvollen Verhältnissen zwischen z. B. schulbezogenen Orientierungsschemata und sportbezogenem Orientierungsrahmen. Auf Basis der metatheoretischen Ausrichtung einer praxeologischen Wissenssoziologie sind auch die im Sammelband in Form sinngenetischer Typologien dargestellten Ergebnisse primär grundlagentheoretischer Art. Die drei Typologien zu Schule, Sportunterricht und Freizeit sind für die sportwissenschaftliche Jugendund Schulforschung von erkenntnisgenerierendem Wert. Auch wenn sie unabgeschlossen und überprüfungswürdig bleiben, explizieren und systematisieren sie kollektive Orientierungen und strukturidentische Erfahrungen von jugendlichen Peergroups und stehen damit zugleich für das gemeinsame Erfahrungswissen in Form eines konjunktiven Erfahrungsraums.
3.6 Zwischenfazit
87
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88
3 Methodischer Zugang
Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis (2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Aufl., S. 233–248). Opladen: Barbara Budrich. Bohnsack, R., Przyborski, A. & Schäffer, B. (2006). Einleitung: Gruppendiskussionen als Methode rekonstruktiver Sozialforschung. In R. Bohnsack, A. Przyborski & B. Schäffer (Hrsg.), Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis (S. 7–22). Opladen: Barbara Budrich. Bohnsack, R., Przyborski, A. & Schäffer, B. (Hrsg.). (2010). Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis (2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage). Opladen: Barbara Budrich. Bohnsack, R. & Schäffer, B. (2007). Exemplarische Textinterpretation: Diskursorganisation und dokumentarische Methode. In R. Bohnsack, I. Nentwig-Gesemann & A.-M. Nohl (Hrsg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis (2., erw. aktual. Aufl., S. 309–332). Wiesbaden: VS. Bonnet, A. (2009). Die Dokumentarische Methode in der Unterrichtsforschung. Ein integratives Forschungsinstrument für Strukturrekonstruktion und Kompetenzanalyse. Zeitschrift für Qualitative Forschung, 10(2), 219–240. Degele, N. (2013). Fußball verbindet – durch Ausgrenzung. Wiesbaden: Springer VS. Gugutzer, R. (2015). Soziologie des Körpers (5., vollständig überarbeitete Aufl.). Bielefeld: transcript. Kirchhoff, N. (2016). Reden über den Körper als Handlungsproblem von Schüler/innen. Zur Erweiterung von Gruppendiskussionen durch Collagen und fotografische Selbst-Inszenierungen. Zeitschrift für Qualitative Forschung, 15(1–2), 107–132. Kirchhoff, N. & Zander, B. (2018). „Aussehen ist nicht wichtig!“ – Zum Verhältnis von Körperbildern und Körperpraktiken bei der Herstellung von Geschlecht durch männliche und weibliche Jugendliche. Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 10 (1), 81–99. Krüger, H.-H., Deinert, A. & Zschach, M. (Hrsg.). (2012). Jugendliche und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen und Bildungsbiografien in einer Längsschnittperspektive. Opladen: Barbara Budrich. Kühn, T. & Koschel, K.-V. (2011). Gruppendiskussionen. Ein Praxis-Handbuch. Wiesbaden: VS. Lamnek, S. (2005). Gruppendiskussion. Theorie und Praxis (2., überarb. und erweiterte Aufl.). Weinheim und Basel: Beltz. Loos, P. & Schäffer, B. (2001). Das Gruppendiskussionsverfahren. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendung. Opladen: Leske + Budrich. Mannheim, K. (1970). Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk (K. H. Wolff, Hrsg.; 2., Aufl.). Neuwied: Luchterhand. Mannheim, K. (2003). Strukturen des Denkens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mannheim, K. (2004). Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation. In J. Strübing & B. Schnettler (Hrsg.), Methodologie interpretativer Sozialforschung. Klassische Grundlagentexte (S. 101–153). Konstanz: UVK. Meuser, M. (2007). Repräsentation sozialer Strukturen im Wissen. Dokumentarische Methode und Habitusrekonstruktion. In R. Bohnsack, I. Nentwig-Gesemann & A.-M. Nohl (Hrsg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis (2., erw. aktual. Aufl., S. 209–224). Wiesbaden: VS. Meuser, M. (2018). Rekonstruktive Sozialforschung. In R. Bohnsack, A. Geimer & M. Meuser (Hrsg.), Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung (4., vollst. überarb. und erweit. Aufl., S. 206–209). Opladen: Barbara Budrich.
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3 Methodischer Zugang
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Erfahrungsraum Schule Jörg Thiele
4
4 Erfahrungsraum Schule
4.1 Einleitung 4.1 Einleitung
Wenn man den möglichen Einfluss des Sportunterrichts auf Handlungsbefähigungsoptionen der Schüler*innen näher betrachten will, dann wird man zwangsläufig zunächst die Perspektive erweitern müssen, denn der Sportunterricht findet in der Institution Schule statt, die wiederum – in Anlehnung an Luhmann gesprochen – die ‚Schule der Gesellschaft‘ ist. Es existieren demnach unterschiedliche Rahmungen und Kontexte, die für ein Verständnis der sowohl individuellen wie auch strukturellen Funktionen von Bedeutung sind (Hummerich & Kramer, 2017). Im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojekts wurden diese vielfältigen Bezüge aus den in Kap 2.4 benannten Gründen bereits auf einige relevant erscheinende Kategorien eingegrenzt, die dann auch zur Auswahl und Strukturierung des Samples für die Gruppendiskussionen zugrunde gelegt wurden (Migration, Geschlecht, Schulform und ‚Sportivität‘). Die Analyse des vorliegenden Datenmaterials zeigte relativ schnell, dass diese vier ‚Datenbrillen‘ von sehr unterschiedlicher Relevanz für die Bearbeitung der dem Projekt zugrunde liegenden Fragestellungen sind54. Bezogen auf die dem Feld des (Schul-)Sports zugeordneten Fragen heißt das zunächst einmal, dass die – ursprünglich forschungsleitende – Differenzierung hinsichtlich des Migrationshintergrundes in unseren Gruppen keine besondere Rolle zu spielen scheint55, während die Schulform in vielerlei Hinsicht ein besonderes 54 Das Thema Intersektionalität ist damit natürlich nicht ausgeschlossen. Das denkbare Zusammenwirken der verschiedenen Kategorien soll an späterer Stelle aufgegriffen werden. 55 Das Themenbündel ‚Migration‘, ‚Migrationshintergrund‘ etc. wurde von den Schüler*innen so gut wie gar nicht thematisiert, es spielt für die von uns betrachteten Gruppen offenbar keine erwähnenswerte Rolle. Damit bestätigen sich Hinweise, die auch in anderen Untersuchungen vermehrt auftauchen. Hummerich & Kramer sprechen daher © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zander und J. Thiele (Hrsg.), Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt, Sport – Gesellschaft – Kultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31348-7_4
91
92
4 Erfahrungsraum Schule
Deutungspotenzial besitzt. Geschlecht und ‚Sportivität‘ sind demgegenüber für bestimmte Teilfragestellungen offenbar bedeutsam, für andere aber auch nicht. Diese sehr holzschnittartige und grobe Beschreibung soll nachfolgend weiter präzisiert und anhand empirischer Daten der Gruppendiskussionen auch unterlegt werden. Das Hauptaugenmerk wird dabei zunächst auf den schon erwähnten Schulformbezug gelenkt, der auch in den weiteren Analysen, z. B. zum Schulsport, eine Art Leit- oder Orientierungsfunktion übernehmen wird. Die Bedeutung dieser Perspektive lässt sich auch theoretisch durchaus gut plausibilisieren. Konkretisiert man den oben eingeführten Gedanken einer ‚Schule der Gesellschaft‘ am konkreten Beispiel der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, so ist ohne Zweifel ein zentrales Merkmal der deutschen Schulstruktur – und das nicht erst seit PISA – die hohe soziale Selektivität, die den unterschiedlichen Schulformen zukommt und die der frühen Differenzierung der Schulformen nach in der Regel vier Jahren (gemeinsamer) Grundschule sehr einmütig zugeschrieben wird. Alle größeren Schulstudien der letzten beiden Jahrzehnte haben auf diesen Sachverhalt immer wieder mahnend hingewiesen und die Diskussion um die unterschiedlichen Schulformen in Deutschland damit auch zum bildungspolitischen Dauerbrenner gemacht (vgl. z. B. Baumert, Stanat & Watermann, 2006; Becker & Lauterbach, 2007). Das Bild vom Schulsystem als gesellschaftlicher Reproduktionsinstanz sozialer Ungleichheit denn als Produzent von Chancengerechtigkeit prägt so die öffentliche Wahrnehmung und wird durch die angesprochenen wissenschaftlichen Studien auch zusätzlich untermauert. Nicht zuletzt vor diesem skizzierten Hintergrund ist die Schulform auch zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung geworden.56 Interessant ist dabei der überaus dominante Charakter des Schulformbezugs für die Strukturierung unseres eigenen Datenmaterials. Bevor es also darum gehen kann und soll, den Schulsport in seinen verschiedenen Facetten einer genaueren Deutung zu unterziehen, ist der Blick auf die konstitutive Bedeutung der übergeordneten Rahmung zu richten, also der Funktion und Rolle der Institution Schule in der Gesellschaft, genauer gesagt: die konstitutive Funktion und Rolle der Schulform für die Strukturierung der empirischen Daten der Gruppendiskussionen. Ausgewählt wurden für die Untersuchung die beiden Schulformen Hauptschule und auch von einer „postmigrantischen Gesellschaft“ (2017, S. 147), in der – zumindest bezogen auf die schon länger in Deutschland lebenden Personen (3./4. Generation) – das Thema Migration seinen dominanten Stellenwert sukzessive verliert. 56 Wobei sportspezifische Besonderheiten hier noch ein Übriges tun. Die mittlerweile auch in vielen Studien belegten unterschiedlichen Partizipationsraten von Schüler*innen unterschiedlicher Schulformen am organisierten außerschulischen Sport, deuten auf eine ebenfalls konstatierbare soziale Selektivität des Sports (vgl. z. B. Gerlach & Brettschneider, 2013).
4.1 Einleitung
93
Gymnasium, da sich die Diskussion um die Selektivität des Systems auch häufig an diesen beiden (polaren) Schulformen festmacht. Eine Diskussion über die nahezu gegenläufigen Entwicklungen beider Schultypen in den letzten Jahrzehnten mit allen ihren Konsequenzen kann hier nicht geführt werden, jedoch zeigen allein schon die quantitativen Veränderungen der Partizipation von Schüler*innenkohorten in den letzten Jahrzehnten, dass aus der ehemaligen ‚Haupt‘-Schule mittlerweile eine ‚Neben‘- (oder ‚Rest‘-)Schule geworden ist, während aus dem ehemals elitären Gymnasium für Wenige mittlerweile die eigentliche ‚Haupt‘-Schule geworden ist, die den größten Teil der jeweiligen Schüler*innenkohorten zum Abiturabschluss führt. Eng an diese Entwicklung geknüpft sind Effekte in der sozialen Zusammensetzung der Schülerklientel, d. h. Homogenisierung sozial schwächerer Gruppen in der Hauptschule und (in Teilen) Heterogenisierung in der sozialen Zusammensetzung im Gymnasium (z. B. Specht, 2011).57 Greift man zudem auf das Konzept der Handlungsbefähigung von Schüler*innen als Leitidee des schulischen Entwicklungs- und Erziehungsauftrags zurück, wie wir es in dem vorliegenden Projekt tun (vgl. Kap. 2.2), dann wird unmittelbar deutlich, dass die Konkretisierung solcher Überlegungen eng verknüpft mit den für die Schüler*innen relevanten außerschulischen Handlungskontexten sein muss, wie sie z. B. über die Familie, die Peers oder das Milieu exemplarisch abgebildet werden können. Auch wenn der Schulformbezug selbstverständlich nicht als einfache Blaupause für derartige lebensweltlichen Kontexte genutzt werden darf, so dürfte doch die Frage lohnen, ob sich strukturell ähnliche schulische Orientierungsmuster aus den Daten der Gruppendiskussionen rekonstruieren lassen.
57 Neuere Untersuchungen zur Schulkulturforschung zeigen aber auch, dass hier noch weitere Differenzierungen nötig sind, insbesondere Abgrenzungstendenzen spezifischer Formen der Sekundarbildung durch ‚elitäre‘ Schulen. Die ehemals herausgehobene Stellung des Abiturs wird durch die Expansion des Zertifikats auf große Teile einer Jahrgangskohorte konsequent entwertet, gleichzeitig finden sich jedoch wieder neue Absetzungsstrategien bestimmter Milieus durch die Etablierung unterschiedlicher Formen von Exklusivität bzw. Elitebildung (Helsper et al., 2018). Rein quantitativ lassen sich dabei in den letzten Jahren z. B. verstärkt Tendenzen einer zunehmenden, für Deutschland bislang eher atypischen Privatisierung des Schulbereichs konstatieren. Ob sich in Hauptschulen auch Formen der Differenzbildung systematisch identifizieren lassen, wäre eine interessante Frage, die hier aber nicht beantwortet werden kann. Bei den von uns eher zufällig ausgewählten Hauptschulen deuten sich solche Differenzen zwar an, können aber aufgrund der leitenden Fragestellungen und Datensorten nicht systematisch analysiert werden. 93
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4 Erfahrungsraum Schule
4.2
Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
4.2
Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
Wie alle anderen sozialen Organisationen auch, verfügt die Schule über ein spezifisches Set von Strukturen, Rollen, Regeln etc., die in ihrem Zusammenspiel die besondere Funktion der Organisation charakterisieren und gewährleisten. So ist Schule u. a. durch die Form des (Fach-)Unterrichts, die Konstruktion unterschiedlicher Rollen etwa von Lehrenden und Schüler*innen, die spezifische zeitliche Taktung von Unterrichtungsphasen und Pausen und in aller Regel auch die räumliche Eingrenzung gekennzeichnet, ohne die Schule nicht so funktionieren könnte, wie sie funktioniert und die Schule damit auch von anderen gesellschaftlichen Kontexten unterscheidbar macht. Schulische Sozialisationsprozesse führen im Regelfall zur mehr oder weniger gelungenen Passung von Akteur*innen und Strukturen und sind die Voraussetzung zur Erfüllung der gesellschaftlich an die Schule gestellten Aufgaben, wie z. B. die Vergabe von Zertifikaten und Abschlüssen oder auch die Vermittlung von gesellschaftlich geteilten Normen und Werten. Diese Passungsprozesse können nun von Schüler*innen in sehr unterschiedlicher, wenn auch nicht beliebiger Weise in individuelle Handlungsmuster übersetzt werden. Von der Schule her gedacht können diese Handlungsmuster nun prinzipiell unterschiedliche Grade an Übereinstimmung oder Passung mit den organisatorischen Notwendigkeiten besitzen, idealtypisch gewendet reicht die denkbare Bandbreite von vollständiger Adaptation bis zur totalen Negation58. Aufgabe der nun einsetzenden empirischen Analyse ist der Abgleich der theoretisch denkbaren mit der aus den vorhandenen empirischen Daten rekonstruierbaren Bandbreite an Ausprägungen dieser Orientierungen. Identifizierbar sind vier typische Muster, die eng mit dem idealtypischen Rahmen und dem Schulformbezug korrespondieren. Der Forschungsmethodologie der dokumentarischen Methode folgend, sollen diese Strukturen nun zunächst auf der Basis von Fallbeschreibungen und -kontrastierungen empirisch erhärtet und plausibilisiert werden. Als Fall dient uns dazu jeweils eine Gruppendiskussion (vgl. Kap. 3.3). Nach der empirischen Entfaltung der unterschiedlichen Muster, versuchen wir in einem zweiten Schritt einen theoretischen Abgleich mit bereits vorliegenden und teilweise ähnlich gelagerten Untersuchungen vorzunehmen. Wie den bisherigen Darstellungen zu entnehmen ist, folgen wir in der Analyse dem von Bohnsack (2010) in Anschluss an Mannheim (u. a. 2004) formulierten 58 Vgl. zum Konzept der Passung auch die einschlägigen Studien zur Typisierung von Schülerhabitus in der Schulkulturforschung (z. B. Kramer & Helsper, 2011; Kramer, Helsper, Thiersch & Ziems, 2013).
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
95
Gedanken der Standortgebundenheit der Interpretation. Fokussiert man den analytischen Blick auf die Relevanz des schulischen Kontextes für die unterschiedlichen Gruppen, dann lässt sich eine Art von Kontinuum59 identifizieren, auf dem sich schulische Relevanz60 zu bestimmten Typen61 verdichten lässt, die nun genauer beschrieben werden sollen. Wir unterscheiden dabei zwischen • • • •
der ‚offensiven‘ Entschulung, der ‚latenten‘ Entschulung, der ‚angepassten‘ Beschulung und der ‚überzeugten‘ Beschulung.
Das postulierte Relevanzkontinuum basiert nicht auf der Vorstellung einer Schulean-sich, deren Bedeutsamkeit sich für die Schüler*innen gleichsam aus sich selbst heraus erschließt, sondern aus einer Sicht auf Schule, die eingelassen ist in eine Vielzahl heterogener und parallel existierender Bedeutungsräume62, deren Relevanz 59 Die beiden verwendeten Bilder von Kontinuum und Typ sind nicht deckungsgleich und folgen im Prinzip sogar unterschiedlichen Logiken. Die Vorstellung eines Kontinuums signalisiert dabei so etwas wie Gleichmäßigkeit, während Typen eben eher für besondere Ausprägungsformen stehen. Wenn man so will, folgt das Kontinuum eher theoretischen Vorstellungen, da (vermutlich) eine Vielzahl von unterschiedlichen Realisationsmöglichkeiten auf dem Kontinuum existieren, während die Typen auf der Basis des vorliegenden Materials rekonstruierbare Ausprägungsmuster darstellen. Beide Perspektiven haben aus unserer Sicht aber ihre Berechtigung und finden daher Erwähnung. 60 Relevanz soll hier als Relevanzsetzung durch die beteiligten Personen verstanden werden, die sich von einer gleichsam ‚objektiven‘ Relevanz durchaus unterscheiden kann. Die prinzipiell vorhandene und auch nicht einfach ‚negierbare‘ Relevanz der Institution Schule z. B. für die Vergabe von Lebenschancen in modernen Gesellschaften, kann durch das Individuum durchaus in Frage gestellt oder unterlaufen werden, allerdings haben solche abweichenden Relevanzsetzungen zumeist einen Preis. 61 Da die ‚Rezeptionsmächtigkeit‘ solcher Typologien nicht unterschätzt werden sollte, an dieser Stelle ein paar relativierende Anmerkungen zur Benennung der Typen. Das Begriffspaar ‚Entschulung/Beschulung‘ ist innerhalb der pädagogischen Diskussion natürlich normativ hoch aufgeladen, etwa wenn die Legitimität von Schule aus einer gesellschaftskritischen Perspektive grundsätzlich hinterfragt wird (Lechner, 1984). Diese Bedeutungshorizonte sind hier ausdrücklich nicht angezielt. Vielmehr wird versucht, auf deskriptiver Ebene individuelle Relevanzsetzungen prägnant zu benennen, die auf der einen Seite Entfremdungs- und auf der anderen Seite Identifikationstendenzen zur Institution Schule umfassen und damit konkrete Akteur*in-Institution-Relationen in den Blick nehmen. 62 Man kann auch von ‚Welten‘ sprechen. So wird Schule häufig z. B. der Lebenswelt gegenübergestellt, wobei sich auch hier der Singular bei näherem Hinsehen schnell in einen Plural verwandelt (vgl. im Hinblick auf den Sport z. B. Zander, 2017, Schierz, 1995). 95
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4 Erfahrungsraum Schule
sozial erst auszuhandeln ist (Böhme, Hummrich & Kramer, 2015). Aufgrund ihres verpflichtenden Charakters für alle Heranwachsenden über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren erhält die Institution Schule als gesellschaftliche Setzung natürlich formal und strukturell eine herausragende Funktion als Bedeutungsraum, dennoch ist damit nicht automatisch auch die Bedeutung von Schule in individuellen oder milieuspezifischen Sinnzuschreibungen verbürgt. Das ist deshalb besonders wichtig zu erwähnen, weil wir uns an ein Bild von Schule gewöhnt haben, das die herausragende Bedeutung von Schule als Rahmung für die Entwicklung von Heranwachsenden quasi als selbstverständlich setzt. In dieser Vorstellung wird die Lebenswelt von Heranwachsenden von der Leitinstanz Schule her definiert und alle anderen Bedeutungsräume der Schule gewissermaßen zugeordnet. Für diese Zuordnung lassen sich auch durchaus plausible Gründe anführen, z. B. eben die schon erwähnte Funktion von Schule als gesellschaftliche Allokationsinstanz, allerdings basiert sie auf einer zumeist implizit verbleibenden Voraussetzung, die man pointiert vielleicht als ‚mittelschichtspezifische Bildungsakzeptanz‘ umschreiben könnte63 und der durch eine gesetzlich verbürgte Schulpflicht auch ein umfassender Geltungsanspruch faktisch unterlegt wird. Wo diese Voraussetzungen allerdings nicht mehr in ihrer Selbstverständlichkeit greifen, da entstehen Sinnzuschreibungen, die die Relation von Schule und Lebenswelt in ein anderes Licht rücken können. Die vier genannten Typen können als Kristallisationskerne solcher Relationierungsprozesse verstanden werden.
4.2.1 Offensive Entschulung Ein Extrem der Relationierung ist der Typ der ‚offensiven Entschulung‘. Die Gruppe 10 kann als Beispiel für diesen Typ dienen. Es handelt sich hier um eine Gruppe von drei Mädchen der siebten Klasse einer Hauptschule in einem Ballungsraum des Ruhrgebietes64. Sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Schule steht die Gruppe 63 Sozialisationstheoretische Ansätze weisen u. a. darauf hin, dass die Institution Schule durchaus nicht als gesellschaftlich neutrale agierende Instanz zur chancengerechten Vermittlung von Handlungsbefähigung gesehen werden muss, sondern insbesondere auch durch ihre ‚impliziten Lehrpläne‘ bestimmte Milieus bevorzugt und andere benachteiligt, also soziale Ungleichheit auch reproduziert (vgl. z. B. Grundmann, 2003; Bremer, 2009). 64 Mit Blick auf die nachfolgend beschriebene Ausprägung dieses Typs ist sicher bemerkenswert, dass es sich hier um eine Mädchengruppe handelt. Angesichts der Verhaltensweisen würde man sicher eher eine Jungengruppe dahinter vermuten. Insofern ist diese Gruppe vermutlich eher nicht der Geschlechtsstereotypik entsprechend, wenngleich auch solche
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
97
sehr eng zusammen und unternimmt gemeinsam zahlreiche unterschiedliche Aktivitäten. Die Gruppe beschreibt sich bereits in der Eingangspassage als eine spaß- und actionorientierte Clique. Sie gehen nach der Schule in ein „abgelegenes Sperrgebiet“, sprechen in Zügen „einfach irgendwelche Männer an“, gehen in „Shisha-Bars“, übernachten spontan nach Partys bei anderen Jungen und suchen verlassene und von anderen gemiedene Orte auf, an denen z. B. ein anderer Jugendlicher „gestorben ist wegen einer Mutprobe“. Die Beschreibung einer ‚toughen‘ Gruppe, die sich um gängige soziale Reglementierungen wenig kümmert und stattdessen ihren eigenen Bedürfnissen nach Spaß und Action folgt, wird also direkt zu Beginn in die Diskussion anschaulich eingeführt. Später wird dann zudem noch deutlich, dass diese Aktivitäten keiner besonderen Planung folgen: „Wir machen immer alles so spontan“. Die Gruppe trifft sich nach der Schule, weil sie dort schon zusammen in der Klasse sind und „dann geht man spontan nach der Schule einfach raus“. Schule dient hier – im Grunde völlig zweckentfremdet – primär der Vororganisation von Freizeitaktivitäten. Diese passieren dann einfach, stoßen den Mädchen zu, werden aber nicht vorab geplant. Entsprechend finden sich bei den Mitgliedern der Gruppe auch keine regelmäßigen, organisierten Aktivitäten wie etwa für unsere Fragestellung interessierende Vereinsaktivitäten o. ä.. Die mit solchen organisierten Aktivitäten verbundene Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit (z. B. Trainings- oder Übungsprozesse) sind für die Mädchen wenig attraktiv, sprich: „langweilig“, da das Spannungs- und Erlebensmoment durch vorstrukturierte und vorgeplante Tätigkeiten in aller Regel ja gerade absichtlich reduziert und durch Routinen ersetzt wird. Das ist bei spontanen Tätigkeiten potenziell anders. Zwar ist dort Spannung oder Action auch nicht garantiert, aber die Unvorhersehbarkeit spontaner Unternehmungen erhöht zumindest die Auftretenswahrscheinlichkeit solcher Spannungs- und Erlebensmomente und wird daher der organisierten Aktivität vorgezogen. Dass diese Handlungsstruktur der Mädchen wiederum nicht in Stein gemeißelt ist, zeigt eine – allerdings für die Gruppe untypische – Passage, in der ein Mädchen beschreibt, wie es auch anders ablaufen kann: Aw: Jaa, also. Ich mag reiten, weil ich generell Pferde liebe. Ich finde die voll süß und Y2:
└//mhm//
Stereotypiken natürlich zu hinterfragen sind (Oktay, Hippmann & Meuser, 2015). Für die Beschreibung des schulischen Orientierungsmusters steht die Frage des Geschlechts allerdings hier auch nicht im Vordergrund. 97
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4 Erfahrungsraum Schule
Aw: halt meine Schwester hatte damals auch n Pferd und ich war auch halt oft auf Reiterhof und Y2:
└//mhm//
Aw: dann hab ich dann auch irgendwann ja Interesse daran gefunden Y2: //mhm//
Aw: Bin ich halt auch zwei Jahre lang geritten Y2: //mhm//
Aw: Und dann ist halt mein Pferd gestorben und dann hat mich das halt so runtergezogen Y2: //mhm//
Aw: dann hab ich halt auch keine Lust mehr irgendwas zu machen
Aw „mag reiten“, weil sie Pferde „liebt“ und „Interesse“ findet daran. Alltagspraktisch gut nachvollziehbar passiert bei Aw das, was eben häufig mit einem intrinsischen Interesse verbunden ist: die Aktivität wird auf Dauer gestellt. Aw kommt durch ein Geschenk ihrer Oma zu einem Pferd und durch ihre Zuneigung zu Pferden und dem Interesse am Reiten bleibt sie in diesem Fall auch längere Zeit bei dieser Aktivität, bis das Pferd stirbt. Interessanterweise ist das dann zugleich auch das Ende einer Aktivität, die sie ja eigentlich positiv anspricht. Angesichts des vorhandenen Interesses und der daraus resultierenden positiven Gefühle und Erlebnisse, wäre es durchaus denkbar, dass Aw nun versuchen würde, andere Optionen für eine Fortsetzung dieser Aktivität zu erkunden. Das passiert auch, allerdings mehr halbherzig, so dass das bekannte Muster erneut Übergewicht erlangen kann: „Aber da ist mein Pferd gestorben und seitdem hatte ich auch kein Bock mehr irgendwie neu mich irgendwo anzumelden. Dann bin ich auch ne Zeitlang schwimmen gegangen auch als Verein, aber dann hatte ich auch irgendwann kein Bock mehr, weil ich halt dann lieber mit Freundinnen rausgegangen bin.“ Die Ziel- und Orientierungslosigkeit der Fortsetzungsversuche nach dem Reiten bricht sich auch in der sprachlichen Form radikal Bahn, denn es fehlte dann der Anreiz sich „irgendwie“ und „irgendwo“ „neu“ zu positionieren. Das Kein-Bock-Prinzip steht so am Ende auch dieser Episode organisierter Aktivität. Diese Folie vermag nun auch die Orientierung der Gruppe zur Schule besser zu bestimmen. Die Institution Schule tritt der Gruppe im Kern als eine Instanz gegenüber, vor der man sich gegenseitig beschützen muss. Schon bei einer der ersten Thematisierungen von Schule wird diese Funktion angesprochen: „Halt in der Schule, wir hängen in der Pause ab zusammen, wir gehen zusammen essen in
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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der Pause und manchmal gehen wir auch halt alle vom Schulhof runter, damit wir uns halt bei McDonalds oder Backwerk was zu essen holen. Und dann muss man sich ja gegenseitig so schützen, wenn man erwischt werden sollte.“ Die Schule mit ihren geordneten Abläufen und Regeln, mit ihren Forderungen und Sanktionen läuft der gelebten Spontanität der Gruppe völlig zuwider. Diese Diskrepanz wird dann von den Mädchen auch in verschiedenen Episoden entsprechend geschildert. Der Unterricht innerhalb der im Grunde „voll anständigen“ Klassengemeinschaft wird von den Mädchen (und einigen wenigen anderen in der Klasse) als „voll langweilig“ umschrieben und aus Sicht der Mädchen nur folgerichtig werden die Mechanismen der Schulstruktur immer wieder unterlaufen. Am deutlichsten zeigt sich dies in den Beschreibungen, die um das unerlaubte Verlassen der Schule kreisen. Die Regel der verpflichtenden Teilnahme am Unterricht, der von den Mädchen fast durchgängig als langweilig empfunden wird, führt zur Hintergehung der entsprechenden Regelungen. Y2: //mhm// (.) und du sagtest vorhin, das fand ich ganz interessant, ihr müsst euch gegenseitig schützen. Wovor denn eigentlich genau?
Aw: Ja, also zum Beispiel, wenn irgendjemand jetzt Stress hat, zum Beispiel sie hat jetzt mit irgendeiner anderen Stress dann Y2:
└//mhm//
Aw: schützen wir die halt, wenn die jetzt sagt so ich schlag dich oder so Y2: //mhm//
Aw: und damit wir das klären und halt auch so schützen, wenn zum Beispiel, wenn sie jetzt sagt, so ja ich gehe kurz für ne Stunde weg, sagt ich bin krank oder ich bin auf Toilette, dann sagt man das halt so. Y2: //mhm// (.) //mhm// (3). Aber das heißt schon, okay. Das, das heißt, dass das wichtig ist, dass ihr voneinander Bescheid wisst, was ihr macht Aw: └Ja
Y2: damit ihr, wenn das jemand wissen will, da entsprechend was sagen könnt oder genau auch nicht was sagt sozusagen.
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Cw: Dass wenn halt sie erwischt wird, Y2:
└//mhm//
Cw: sie genau das gleiche sagt, wie sie jetzt gesagt hat.
Die Mädchen, so wird aus der Passage deutlich, decken sich gegenseitig und schützen sich bei unterschiedlichen Anlässen. Das kann einmal der konkrete Schutz vor möglichen (und offenbar vorkommenden) handgreiflichen Übergriffen von anderen Schüler*innen sein, das meint aber auch das gegenseitige Decken gegenüber der Institution Schule, verkörpert durch die sanktionierenden Repräsentanten in Form der Lehrkräfte. Die Mädchen sprechen untereinander schon im Vorfeld Geschichten ab, die ihre Abwesenheit gegenüber den Lehrkräften erklären können, wenn es denn auffällt und zur Sprache kommt. Die Mädchen sind es gewohnt, sich auch gegenüber den von ihnen so empfundenen ‚Übergriffen‘ der Institution so gut es geht zu schützen und offenbar gehören diese Prozeduren schon zum routinemäßigen und eingespielten Handeln. Cw: Das war zum Beispiel am Montag so Y2: //mhm//
Cw: Wir sind abgehauen Y2: //mhm//
Cw: Wir hatten keine Lust mehr und ich und Bw wir hätten, hätten uns jetzt nicht gedacht, dass die ( ) Frau 1 was, etwas von mir wollte. Die wollte mir noch einen Brief geben (.) Und ich und Bw, keiner hat uns irgendetwas gesagt. Ich und Bw waren mit einem Kollegen draußen und sie war zu Hause und danach halt am nächsten Tag haben wir bisschen Ärger gekriegt (.), ja (.) Und gestern war ja halt auch Elternsprechtag. Y2: Oh, und?
Cw: Ja, nicht so gut bei mir (4)
Ausgangspunkt ist einmal mehr die konstatierte Lustlosigkeit. Interessant ist dann weiter auch die Wortwahl. Die Mädchen fliehen („abhauen“) aus der Institution, die ihnen Verhaltensweisen abverlangt, die nicht mit ihren üblichen außerschulischen Verhaltensweisen in Einklang stehen. Konsequent entwerfen die Mädchen ein Bild des Drinnen (Schule) und Draußen (Nicht-Schule), wobei die schulischen Lehrkräfte
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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als Gegner beschrieben werden, die versuchen, die Mädchen in ein Regelkorsett zu pressen, das ihnen nicht entspricht und dem sie zu entkommen suchen. Entdeckte Zuwiderhandlungen werden folgerichtig durch die Systemagent*innen, die Lehrkräfte, bestraft. Schule erscheint hier nicht z. B. als ein Lern- und Bildungsort, Lehrkräfte nicht als unterstützende und zugewandte Lernhelfer*innen. Beschrieben wird stattdessen die Logik einer ‚Straf-Anstalt‘. Die Mädchen entziehen sich dem auf mehrfache Weise. Einerseits durch die schon benannte ‚Flucht‘ aus dem verpflichtenden Rahmen, wann immer ihnen danach ist und durchaus auch bei klarer Kenntnis der möglichen Folgen (z. B. Elternanrufe, Schulkonferenzen) zum anderen aber auch durch den Versuch, die langweilige Veranstaltung Unterricht durch eine Art ‚Reframing‘ zu einer ihren eigenen Vorstellungen angepassten Inszenierung werden zu lassen. Sie machen dann zusammen mit anderen „ein bisschen Spaß“, holen also – aus Sicht der Gruppe – das Leben in die Schule und verwandeln die Schule zumindest phasenweise in Nicht-Schule. Eine weitere Variante, die man auch als Form der Flucht, allerdings auf eher mentaler Ebene bezeichnen könnte, besteht im ‚Ausklinken‘ aus dem Unterricht. Das lässt sich auch an einem Beispiel aus dem Sportunterricht exemplifizieren: Y1: Ja. Ist es denn für euch wichtig, gut im Sport zu sein, gut im Sportunterricht zu sein? Aw: Ja, eigentlich schon, aber wir machen fast nie mit. Y1: Was heißt das, ihr macht nicht mit?
Cw: Ja also ich mach schon meistens mit, nur die beiden nicht. Die haben manchmal keine Lust oder haben keine Sachen dabei oder keine Ahnung. Manchmal hab ich auch kein Bock. Bw: Boah, ich hab voll Hunger.
Y1: Gibt´s da irgendeine Erklärung für, war- warum ihr kein Bock habt oder häufig irgendwie. Aw: └Ja, wenn man zum Beispiel schlechte Laune hat oder so. Y1: Und das geht dann auch so oder sagt der Lehrer dann
Aw: Ja, brauchst ne Entschuldigung bla bla bla, dann muss man oben schreiben. Y1: Was muss man dann?
Aw: Oben schreiben, hier oben.
Y1: Ach, dann geht man aus der Halle hier hin und schreibt hier was ab oder wie?
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4 Erfahrungsraum Schule
Bw: Ja.
Cw: Aber vorher sind wir halt immer unten geblieben.
Bw: Ja, also, weil die meisten, also früher konnt man halt, wenn man kein Sportzeug hatte, durfte man halt auch in die Sporthalle, Musik hören über Kopfhörer und da sitzen und halt jetzt, ähm, da immer richtig viele kein Sport gemacht haben, ähm, ist jetzt halt die neue Regel, dass wenn man kein Sportzeug mit hat, dass man dann halt nach oben geht und schreibt.
Zunächst ist die Paradoxie zwischen der konstatierten Wichtigkeit des Sports und der direkt darauffolgenden Äußerung der Nicht-Teilnahme am Sportunterricht interessant. Diese wird offenbar auch von den Mädchen gesehen und durch das „aber“ auch sprachlich artikuliert, um schließlich durch eine Aufreihung von ‚Gründen‘ auch erläutert zu werden („keine Lust“, „keine Sachen“, „keine Ahnung“)65. Danach wird die angesprochene Variante der Untergrabung schulischer Rahmungen dokumentiert, die Verweigerung innerhalb der Institution Schule. Man flieht nicht, man demontiert auch nicht den Unterricht durch ‚kleine Späße‘, sondern man entzieht sich durch Nicht-Teilnahme66. Durch das Überhandnehmen dieser Praxis – „da immer richtig viele kein Sport gemacht haben“ – sieht sich die Institution nun zur Wiederherstellung der inneren Ordnung gezwungen, die allerdings nicht in einer vielleicht erwartbaren Durchsetzung der Teilnahme am Sportunterricht besteht, sondern durch das Unsichtbarmachen dieser Praxis, indem die betreffenden Schüler*innen nun außerhalb der Sporthalle „schreiben“ müssen. Die skizzierte institutionelle Praxis kann auch als deutlicher Hinweis darauf gelesen werden, wie schwierig in manchen Kontexten eine Aufrechterhaltung schulischer ‚Normalität‘ geworden ist. Das „Schreiben“ kann als Unterrichts-Simulation interpretiert werden, da ohne eine anwesende Lehrkraft im Grunde nur 65 Interessant ist an dieser Stelle auch die völlig überraschende und den Gesprächskontext vollständig negierende Anmerkung von Bw, in der sie demonstrativ ihren Hunger konstatiert. Demonstrativer kann Desinteresse – hier an der Diskussion selbst – kaum signalisiert werden. Das ist hier nicht weiter zu analysieren oder gar zu bewerten, bestätigt aber auf einer ganz anderen Ebene erneut die latente Aversion gegen alles von außen Vorstrukturierte – hier eben die Gruppendiskussion. 66 An dieser Stelle soll zumindest kurz darauf hingewiesen werden, dass das Phänomen der Nicht-Teilnahme sich im Fach Sport aufgrund der meist eingeforderten körperlichen Aktivitäten noch einmal anders darstellt als im Klassenunterricht, wo die physische Anwesenheit bekanntermaßen noch nicht mit ‚Teilnahme am Unterricht‘ gleichzusetzen ist. Dieser Aspekt steht aber hier nicht im Vordergrund.
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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ein Als-ob-Unterricht in Form einer – allerdings weitgehend sinnentleerten – Routine-Tätigkeit klassischen Unterrichts verordnet werden kann. Die Kosten dieser simulierten Wiederherstellung der schulischen Ordnung dürften in einer weiter gesteigerten Entfremdung der betroffenen Schüler*innen mit neuen Eskapaden zu sehen sein, womit eine klassische, sich wechselseitig bestätigende Eskalationsspirale beschrieben sein dürfte. Bezogen auf unsere Gruppe sprechen wir von einer ‚offensiven Entschulung‘ weil in den rekonstruierten Verhaltensmustern erkennbar wird, dass für die Gruppe nicht mehr die Institution Schule als Leitinstanz fungiert, an der andere (lebensweltliche) Kontexte sich orientieren oder beiordnen, sondern wie – in einigen Aspekten schon umgekehrt – die Institution Schule den außerschulischen Strukturen und Verhaltensweisen angepasst wird. Man könnte im übertragenen Sinne auch von einer ‚Kolonialisierung der Schule‘ sprechen. Da Schule in einigen Milieus offenbar ihre ursprüngliche Funktion einer ‚objektiv-relevanten‘ Sozialisationsinstanz weitgehend eingebüßt hat, weil für die Schüler*innen nicht mehr erkennbar ist, welcher Nutzen aus einer Partizipation an Schule entstehen könnte, werden aktiv selbst fundamentale Prinzipien von Schule (wie Anwesenheit, Teilnahme, Mitarbeit) in Frage gestellt oder gemäß der eigenen Relevanzstrukturen umgedeutet67. Dass dies nicht vollständig gelingen kann und die Institution Schule natürlich auch über massive Mechanismen zur Abwehr solcher Umdeutungsversuche verfügt68, steht auf einem anderen Blatt und ändert nichts an der beschriebenen Intention.
67 Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass diese Form der Passungsstruktur auch nicht neu ist. Am Bekanntesten ist in diesem Kontext wohl die einschlägige Studie von Willis (1979) zu den englischen Arbeitermilieus und den korrespondierenden schulischen Ausprägungsformen, die durchaus an die hier vorgestellte Version einer offensiven Entschulung erinnert. Ein interessanter Unterschied findet sich dabei in der Zusammensetzung unserer Gruppe, die ausschließlich aus Mädchen besteht, während in der Studie von Willis typisch männliche Kulturen beschrieben werden. 68 Natürlich ist aus einer distanzierten Beobachterperspektive offensichtlich, dass dieser ‚Kampf‘ gegen die Institution von den Schüler*innen auf Dauer nicht gewonnen werden kann. Es ist aber erstaunlich genug, dass er zumindest von einigen Schüler*innen trotz der absehbar hohen individuellen Kosten überhaupt geführt wird. Es zeigt auch, wie weit sich die Institution Schule von den Relevanzsystemen einiger (weniger) Milieus entfernt hat. In einer zweiten Gruppendiskussion, die zwei Schuljahre später durchgeführt wurde, konnte ansatzweise rekonstruiert werden, wie hoch solche individuellen Kosten tatsächlich zu veranschlagen sind. Eines der drei Mädchen musste zwischenzeitlich die Schule verlassen, ein zweites ist umgezogen, da die Eltern darin den einzigen Ausweg sahen, sie aus dem ‚negativen‘ Umfeld heraus zu nehmen und nur ein drittes Mädchen ist noch an der Schule und bemüht sich nun (im 9. Schuljahr) ganz regelkonform um einen schulischen Abschluss. 103
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4.2.2 Latente Entschulung Eine andere Relevanzstruktur, die wir als ‚latente Entschulung‘ bezeichnen, findet sich in Gruppe 2. Hierbei handelt es ich ebenfalls um eine reine Mädchengruppe an einer mittelstädtischen Hauptschule. Alle Mädchen gehen gemeinsam in die siebte Klasse, allerdings bilden nur drei der fünf Mädchen auch außerhalb der Schule eine gemeinsame Clique. Auf formaler Ebene zeichnet sich diese Gruppendiskussion durch eine hohe Zähigkeit des Gesprächsverlaufs aus, die Beiträge der Diskussionsteilnehmerinnen sind fast durchgängig sehr einsilbig und knapp und müssen durch nachhaltige Fragestrategien der Interviewer*innen auch immer wieder explizit erfragt werden, ohne dass sich daraus ein selbstläufiges Gespräch im Laufe der Diskussion ergeben würde. Diese, sicher nicht nur auf sprachliche Unzulänglichkeiten zurückzuführende, Gesprächslethargie69 dokumentiert sich interessanter Weise auch auf der inhaltlichen Ebene. Die sich über fast zehn Seiten erstreckende ‚Einstiegspassage‘, die sich um die Freizeitaktivitäten der Gruppe dreht, mag – hier nur in einem kurzen Auszug – als illustrierender Prototyp dieser Gesprächsstruktur dienen: Y1: //mhm// (.) Ok. (.) Du hast aber nicht also hast nicht `ne besondere irgendwie `ne besondere Art, also etwas was du besonders gerne malst? (.) Nee? Und ähm gibt’s denn noch irgendetwas, was ihr auch gemeinsam macht? Also jetzt haben wir ja so `n bisschen `nen Einblick darein gekriegt, was so jeder für sich macht, ihr äh habt euch beide beworben bei dem Wettbewerb, (.) gibt’s auch etwas, was ihr gemeinsam macht, (.) als Gruppe? Cw: Chillen. Y1: Hm?
Bw: └( )
Cw: Chillen.
69 Drei der fünf teilnehmenden Mädchen verfügen über einen so genannten Migrationshintergrund mit mindestens einem türkischstämmigen Elternteil. Alle sprechen aber die deutsche Sprache und in der Gruppendiskussion lassen sich auch keine erkennbaren sprachlichen Unterschiede zu den in der Gruppendiskussion ebenfalls anwesenden Mädchen ohne Migrationshintergrund ausmachen.
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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Y1: Chillen. Wie läuft chillen ab? Das finde ich interessant.
Cw: Also wir treffen uns(.) zum Beispiel K und K und holen uns was zum Trinken, ja dann reden wir. Ja das war’s (.) eigentlich. Y1: //mhm// Hast du gesagt eben K und K? Das hab ich nicht richtig verstanden. Bw:
└@ (
Cw: Laden. K und K. K plus K sp- Ja.
)
└K. Das ist `n
Y1: Und was ist das?
Bw: Das ist ein Laden. Cw:
└Ein Laden.
Dw: └Einkaufladen. Also wo man Essen und Trinken und so weiter Y1: //mhm// Ah, ok. Und da- das nutzt ihr als Treffpunkt? Oder oder Dw: Manchmal. Y1: Ja.
Y2: Geht ihr dann irgendwo hin mit euren Getränken oder bleibt ihr dann da im Laden oder (.) wie kann man sich das vorstellen? Cw:
Dw: Wir sitzen.
└Wir sitzen immer (.) da vorne.
Y2: Vor dem Laden? Cw, Dw: Ja.
Cw, Dw, Bw: @ Y2: Ja.
Bw: Da kann man sich hinsetzen, wenn man nach draußen geht. Y2: Ok.
Y1: Und gibt’s besonders wichtige Themen? Jetzt frag ich doch noch mal neugierig nach. Wenn ich darf. Was ist so besonders wichtig? Worüber redet man? Also nicht im Einzelnen, aber (4)
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4 Erfahrungsraum Schule
Cw: Also manchmal über (.) Personen. Y1: //mhm// Cw: Ja.
Y1: Ok. (.) Andere Personen Cw: Ja.
Y1: als ihr. (.) //mhm//
Y2: Andere spannende Themen? Die man so mit seinen Freundinnen besprechen will? (3) Wer sitzt denn da immer? Sitzen da nur nur Mädels oder sitzen da auch Jungs? Cw: Ja.
Die hier auf das Thema ‚Chillen‘ bezogene Passage wird schon in der ersten, auf Nachfrage durch den Interviewer erläuternden Sequenz von Cw fast idealtypisch für den gesamten Aktivitätenkanon der Mädchen ‚umschrieben‘: „Also wir treffen uns (.) Zum Beispiel K und K und holen uns was zum Trinken, ja dann reden wir. Ja das war’s (.) eigentlich.“ Obwohl der Versuch des Interviewers mehr Details über das Chillen heraus zu finden noch weitergeht, bleibt es im Kern bei dem Fazit: „das war’s“, mehr ist nicht dazu zu sagen. Man trifft sich, geht in den Laden, kauft etwas zu trinken, geht wieder raus und redet. Es werden keine Beispiele angeführt, keine Themen oder Anlässe aufgezählt. Es kommt offenbar auch nicht auf die sinnvolle Füllung der Zeit an, sondern auf das Vergehen der Zeit. Vergleichbar stellen sich auch die anderen Tätigkeiten der Mädchen dar, das Rausgehen, das Shoppen, das Musik hören. Alle diese Dinge bleiben in der Darstellung unbestimmt und diffus, die Dinge geschehen einfach, sie scheinen in der Darstellung der Mädchen auch irgendwie austauschbar, ohne besondere Bedeutung. Dieses interesselose Geschehen kann als durchgehende Blaupause der außerschulischen Aktivitäten der Mädchen gefasst werden. Das Ganze folgt keinem erkennbaren Plan, deshalb finden sich auch kaum Aktivitätsstrukturen, die an ein institutionelles Handeln geknüpft wären. Zwar waren die Mädchen phasenweise in Sportvereinen, aber das Engagement war niemals von Dauer und wurde entweder aufgrund von Langeweile oder bei ersten auftretenden Unstimmigkeiten (z. B. mit Trainer*innen) wieder aufgegeben. Y1: Wie ist das bei den anderen? Macht ihr Sport? Bewegt ihr euch gern in eurer Freizeit? Cw: Ich war zwei Jahre im Fußball und jetzt hab ich aufgehört. Ja.
Y1: //mhm//
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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Cw: Jetzt mach ich gar nichts.
Dw: Ich war tanzen und hab auch aufgehört.
Y1: Warum hört man au- also was was war nicht mehr so interessant wie vorher? Dw: Also, die Trainerin könnte nicht so richtig gut tanzen Y1: Oh.
Dw: Ja. Also fand ich. Und es war auch zu teuer. Y1: Ok.
Bw: Ich hab mit acht Fußball ange- mit Fußball spielen angefangen. Y1: //mhm//
Bw: Bis neun. Bis ich neun war. Ich hab nur ein Jahr gespielt. Danach
Y1:
└//mhm//
Bw: danach wollt ich nicht mehr.
└//mhm//
Y1: Kannst du dich noch dran erinnern warum nicht? Bw: Boah. Nein.
Auch die organisierten Aktivitäten passen sich in das Muster ein, eine intrinsische Orientierung für den Beginn dieser sportiven Tätigkeiten wird nicht erkennbar, es wird auch nicht weiter spezifiziert, was diese Tätigkeiten ausgemacht hat, stattdessen verschwinden sie ebenso lautlos wieder von der Gesprächsbühne wie sie aufgetaucht sind70. Das außerschulische Leben der Mädchen fließt eintönig, gleichförmig und ohne erkennbare Interessenschwerpunkte dahin, ein Gespräch findet auch deshalb nicht statt, weil es offensichtlich nichts zu erzählen gibt. Auch in diesem Fall zeigt sich eine frappierende Strukturähnlichkeit der Tätigkeitsmuster im Bereich der Schule. ‚Langeweile‘ ist das Schlagwort mit dem der schulische Horizont am besten umrissen werden kann. In der Schule wird herumgesessen, wiederholt und geübt und alles in allem wird das von den Schüler*innen eben nicht als Lernanlass oder Herausforderung gedeutet, sondern als Ort der Lange70 Das mühselige und zähe Ringen um erzählrelevante Themen durch die Interviewer*innen, führt dann auch zu teilweisen absurden Episoden, wie z. B. der Bericht eines Mädchens vom „früheren“ Sporttreiben. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass das Mädchen mit ihrem Hund „gejoggt“ ist – und dies für ungefähr ein oder zwei Wochen! Darüber hinaus zeigen solche Episoden aber auch nachdrücklich, wie wenig aussagekräftig allgemeine Fragen nach sportlichen Aktivitäten sind, weil darunter offenbar alles Mögliche bei den Heranwachsenden verstanden wird (vgl. schon bei Burrmann, 2007). 107
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4 Erfahrungsraum Schule
weile. Unterschiede gibt es im Grad der Langeweile, so ist der Sportunterricht „mal cool, mal langweilig“, aber zumeist auch eher dem Pol der Langeweile zugeordnet. Umso interessanter sind die Beispiele für ‚coole‘ Momente des Sportunterrichts: Y1: Wie ist das denn bei den anderen? Jetzt haben wir gerade gehört, ähm ihr habt schön beschrieben worden wie das ähm wie das so ist, das Sport machen. Gibt`s bei euch im im Sportunterricht, neben dem Tanzen, noch irgend`ne andere Sache, die euch gut gefällt. Und vielleicht könnt ihr auch mal so beschreiben, was ihr dabei erlebt. Was so toll daran ist. Gibt`s irgend ne Sache? Bw: Ja, manche fliegen ja auch auf die Fresse. @ Y2: Was?
Bw: Tut mir leid. Manche fallen ja auch hin. Y1: //mhm//
Bw: Das ist auch witzig. Wenn man irgendwas spielt, zum Beispiel Basketball oder Fußball.
Y1: Also du machst gerne so Jungssachen. Wenn ich jetzt mal, das was deine Freundinnen gesagt haben aufgreife. Aha. Ok. Y2: Lacht ihr oft im Sportunterricht? Dw: Ja sehr viel. Auch in der Pause.
Cw: @ Also ich finde witzig, wenn jemand auf die Fresse fliegt. Y1: Wenn was? Wenn jemand was macht? Bw: Auf die Fresse fliegt.
Y1: Ah. Ok. Und wenn du selber das bist? Mädchen: @
Bw, Cw: └( Y1: Ok.
)
Y2: Was gibt’s denn noch für Situationen, wo ihr lachen müsst, weil weil`s irgendwie witzig ist, oder cool aussieht oder
Cw: Also nicht so jetzt äh wenn jemand auf die Fresse fliegt, also wenn’s nur leicht ist, nicht so jetzt gegen so richtig hart, also wenn er blutet, das ist ja dann nicht witzig. Aber wenn er stolpert ( ) Oder wenn er gegen die Tür knallt.
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung Dw:
Y1: //mhm//
└(
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)
Aw: Vorhin im Sportunterricht da sollten wir `n Radschlag versuchen. Dann sah das auch voll lustig aus, wie wir das dann gemacht haben. Haben wir alle einfach nur noch gelacht.
Diese Passage zeichnet sich zum einen durch den fast schon als Redefluss zu kennzeichnenden Darstellungsmodus aus, was für ein durchaus erhöhtes Engagement auf Seiten der Gruppe zu sprechen scheint und zum anderen gibt sie eben Auskunft über die ‚Erlebnishöhepunkte‘ schulischer Aktivitäten. Ohne diese Passage hier im Detail interpretieren zu wollen (vgl. dazu Kap. 5.3.1), fällt sofort die unverhohlene Freude der Mädchen am Scheitern der Mitschüler*innen auf. Im Hinblick auf das Thema der Relevanzstruktur ist daran aber hier nicht die gewissermaßen ‚antipädagogische‘ Schadenfreude der Mädchen von Interesse, die auch den Interviewer an eine Grenze führt („Und wenn Du selber das bist?“), sondern der mit derartigen Situationen offenbar verknüpfte Gegenhorizont zum schulischen Normallfall erlebter Langeweile. Es sind nachvollziehbarer Weise die Situationen, die aus dem schulischen Rahmen fallen, die den Schüler*innen zunächst einmal jenseits jeglicher moralischer Wertung einfach so etwas wie Abwechslung bringen. Diese werden aber, und dies ist eine strukturelle Differenz zur zuvor beschriebenen Gruppe, nicht aktiv von den Beteiligten hergestellt, sondern auch sie ereignen sich im Rahmen des normal eher langweilig dahinfließenden Unterrichts. Diese Situationen sind nicht geplant oder inszeniert, sondern sie ‚passieren‘ eigentlich entgegen der Intentionalität des Unterrichts, werden aber gerade so in der Wahrnehmung der Mädchen zu Highlights in einem Hort der Langeweile. Anders als die zuvor beschriebene Gruppe dekonstruieren oder demontieren sie nicht aktiv Schule und Unterricht, indem sie versuchen, sie zur Blaupause ihrer Lebenswelt umzugestalten, sondern sie genießen Schule einfach gerade dort, wo sie aus dem Rahmen fällt. Eine aktive Verschiebung der schulischen Rahmung findet sich demgegenüber in der Nutzung der Nicht-Teilnahme-Option: Y2: Was habt ihr so ausgewählt aus diesem Parcours? (2) Du hast was ausgewählt, das seh ich dir an. Cw: Aus welche Kurs? Dw: Sport.
Y2: └Parcours.
Y1: Warst du nicht in Sport dabei?
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4 Erfahrungsraum Schule
Cw: Doch ich war dabei, aber ich hatte Bauchschmerzen und hab nicht mitgemacht. Dw: └Also wir haben nicht mitgemacht. Y1:
└Ah ok. Alles klar.
Bw: Bei uns haben die Basketball gespielt. Y1: Und was hast du gemacht?
Bw: Ich hatte Rückenschmerzen wegen einen Jungen. Y1: Oje. Was ist da passiert? Bw:
└Und ich hab ja auch Rückenprobleme, deswegen.
Y1: Ah. Ok.
Bw: Ich konnte auch nicht mitmachen. Y1: //mhm//
Y2: Muss man dann irgendwas extra machen, wenn man nicht mitmacht. Oder wie läuft das bei euch? Cw: Also sitzen. Außer
Dw: └Also wir mussten Lehrer Bescheid sagen, was wir haben und dann mussten wir sitzen halt. Y1: //mhm//
Y2: Wo sitzen? Cw: Bank.
Dw: └Auf der Bank. Y2: Und warten? Cw, Dw: Ja.
Vergleichbar Gruppe 10 nutzen die Mädchen die Situation, sich dem Unterricht durch Nicht-Teilnahme zu entziehen. Sie sind „dabei“, verbleiben also in der Institution Schule, „machen aber nicht mit“, entziehen sich also der (sport-)unterrichtlichen Vereinnahmung aufgrund von (kollektiv) vorhandenen Schmerzsymptomen. Angesichts des Langeweile-Verdikts von Unterricht scheint das zunächst durchaus plausibel, allerdings ist die dadurch entstehende Alternative – auf der Bank sitzen und warten – von außen betrachtet auch nicht attraktiver. Wenn die Mädchen diese antizipierbare Alternative dennoch vorziehen, dann wird sich aus der Innenperspektive vermutlich auch ein Gewinn daraus ergeben, über den aber
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
111
nicht explizit gesprochen wird. Für unsere aktuelle Fragestellung wichtiger ist auch hier die Feststellung, dass die Gruppe ein Kernelement der Institution Schule unterläuft, allerdings auch hier ohne die Grenzen des Systems zu überschreiten. Die Nicht-Teilnahme ist von der Schule weder intendiert noch gewünscht, sie wird aber in der von den Mädchen durchgeführten Art und Weise offenbar toleriert. Beide Seiten profitieren so davon: das System erhält seine Funktionsfähigkeit und kann mit den übrigen Teilnehmenden weiter Unterricht prozedieren, zumindest so lange, wie nicht zu viele auf der Bank sitzen und warten und die Mädchen können sich der unattraktiven Unterrichtaktivität von der Lehrkraft toleriert – indem sie sie informieren – entziehen. Anders als die Grenzen überschreitende, partielle Schulabstinenz der Gruppe 10, bewegt diese Gruppe sich auch hier gewissermaßen im Rahmen des (noch) Zulässigen. ‚Latente Entschulung‘ meint genau diesen Prozess des Unterlaufens schulischen Unterrichts ohne gezielte Grenzüberschreitung der zentralen Rahmenbedingungen. Schule wird von den Schüler*innen durchaus als eine eigenständige Institution wahrgenommen und wohl auch respektiert, allerdings werden die Grenzen auch genau ausgelotet und ausgereizt, um auf diesem Weg einen Ausgleich von außerschulischen und schulischen Erwartungshorizonten im Rahmen des institutionell Tolerierten vornehmen zu können. Eine interessante Variante dieses Typs ergibt sich zudem, wenn man die Aushandlungsprozesse zwischen den Akteur*innen auf Schüler*innenseite und Institution aus der Perspektive der Schule betrachtet. Bei den beiden bisher beschriebenen Typen wurde die Relationierung von Schule und umgebende Lebenswelt der Schüler*innen im Wesentlichen durch die Aktivitäten der Schüler*innen strukturiert. Im Resultat ergaben sich daraus unterschiedliche Typen und Grade der Entschulung bzw. ‚feindlichen Übernahme‘ der Schule durch externe, systemfremde Ansprüche. Es finden sich aber im Datenmaterial für andere Gruppen auch Hinweise darauf, dass die Institution Schule quasi proaktiv tätig wird, um den beschriebenen Entwicklungen entgegen zu wirken bzw. ihnen ihr subversives Potenzial zu nehmen, indem schulische Strukturen ‚besser‘ an die außerschulischen Erwartungen der Schüler*innenklientel angepasst werden. Grundsätzlich sind derartige Prozesse auch nicht unbekannt, sondern werden immer wieder auch in entsprechenden Diskursen einer angemessenen Relationierung von Schule und Lebenswelt, z. T. mit deutlich vernehmlichen schulkritischen Untertönen angemahnt und eingefordert. Gefordert ist damit im Prinzip eine Öffnung von Schule hin zu den lebensweltlichen Erfahrungshorizonten der Schüler*innen. Konkret finden sich solche Bestrebungen insbesondere dort, wo der äußere Druck auf Schule besonders spürbar wird, weil schulische Ansprüche und individuelle Erfahrungshintergründe bzw. Relevanzstrukturen stark differieren. In der Konsequenz finden sich dann Formen 111
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einer strukturell anders gearteten, weil institutionell initiierten und gesteuerten, ‚latenten Entschulung‘: Y2: Ja. Die-die letzte zum Sportunterricht. Ich mein mit Sportunterricht das, was ihr mit dem euren Klassenlehrer habt. Dm: Sport!
Y2: Ja ihr habt doch Sport, aber in den AGs mein ich jetzt da ham wir ja schon drüber uns unterhalten. Jetzt ehm das was ihr mit der ganzen Klasse zusammen habt, oder habt ihr das getrennt, oder wie läuft das ab? Em: └Nein nicht mit der ganzen Klasse-also gemischte Klassen alle die die Fußball gewählt haben. Am: └Nein er meint das mit-er meint das mit Lehrer-B was wir eh immer Montags haben. Em: Sport! Also meinten Sie AG, oder?
Bm: Unterricht, Unterricht, Sportunterricht! Dm: AG oder nur normal?
Y2: Ja-ja genau ich mein-ich mein nicht die AGs, sondern normal Sportunterricht. Das was ihr auch in der Grundschule schon hattet.
Dm: Ah da ham wir zehn Minuten erstmal eh laufen, also warmlaufen, erstmal fünf Minuten warmlaufen, dann ham wir eeeh erstmal Bisschen Pause und dann dürf-müssen wir weiterlaufen. Bm: Fünf Minuten am Stück!
Dm: Ja. Und dann eeh also dann weiß ich nicht, weil letzte Woche konnten wir nicht machen, weil wir eh länger Unterricht haben. Am: Gestern konnten wir auch kein Sport machen, weil wir Hitzefrei hatten.
Y1: Ja. Darf ich nochmal fragen ganz kurz um das nochmal so Bisschen zu verstehen? Ihr habt-also die AGs sind über den Normalsportunterricht hinaus und das ist aber nicht so, dass die AGs n Teil vom normalen Sportunterricht ersetzen,
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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weil wie viel Stunden ganz normalen Schulsport habt ihr? Das-
Am: Eeh eine!
Y2: Eine Doppelstunde!
Y1: Ja eben und das ist ja eigentlich-das ist ja eigentlich ziemlich wenig ehrlich gesagt. Normalerweise hat man ja-ja immer drei Stunden so die Woche. Am: └Wir ham drei Stunden!
Bm: Ja ham wir! Drei Stunden!
Em: Pro Woche ham wir eh vier Stunde-Fünf! Bm: Fünf!
Em: Fünf eh Schwimmen, AG und Sport.
Am: Also ins-ins-insgesamt fünf Stunden, weil also zwei Stunden AGsY1: Mit den AGs aber dann?
Am: Ja zwei Stunden AGs, zwei Stunden eh Schwimmen und eine Stunde Sport.
Bm: Also wir im-also die Schule XY-meinte Lehrer-B, dass wir in NRW die meisten Sportstunden haben!
Die hier von der Gruppe 13, einer sechsköpfigen Jungengruppe, wiedergegebene Gesprächssequenz dreht sich über die gesamte Passage um den Versuch der Herstellung eines Verständnisses dessen, was mit Sportunterricht gemeint ist. Die Unklarheit auf Seiten der Schüler*innen entsteht dadurch, dass in der betreffenden Schule der ‚normale‘ Sportunterricht in Teilen durch freiwillige Angebotsstrukturen ergänzt oder ersetzt wird, die von den Schüler*innen nach individuellen Präferenzen gewählt werden können bzw. müssen. Der schulische Normalfall (Unterricht) wird dadurch zur institutionell abgesicherten Ausnahme71. Noch verwirrender wird 71 Nicht uninteressant ist der Aspekt, dass es sich im ausgewählten Beispiel um das Fach Sport handelt. Dies ist natürlich zum einen sicher unserer Forschungsfrage geschuldet, die dem Fach Sport eine zentrale Stellung einräumt. Man könnte darüber hinaus aber auch argumentieren, dass das Fach Sport vielleicht so etwas wie einen institutionellen Versuchsballon darstellt, an dem die Institution selbst die Auswirkungen des Strukturwandels relativ gefahrlos beobachten kann. Als ‚Nebenfach‘ zählt Sport nicht zum harten Kern schulischer Programmatik und bietet so auch ein gutes Experimentierfeld. 113
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das Gesamtverständnis, wenn die Schule von einem Schüler als ‚Ausnahmeschule‘ beschrieben wird, die in NRW „die meisten Sportstunden“ hat. Gemeint sind hier eben gerade nicht Sportstunden als Unterrichtsstunden, sondern Sportaktivitäten in Form ‚freiwilliger Wahl‘ und Vergemeinschaftung. Gerade weil in bestimmten Kontexten die Durchsetzung von Unterricht als Normalform von Schule auf erhebliche Schwierigkeiten stößt, reagiert hier die Institution mit ‚Entschulung‘ im Sinne der systematischen Schaffung einer hohen Anzahl von freiwilligen und wählbaren Angeboten, die das bekannte Unterrichtsformat verlassen, um – gewissermaßen über den Umweg der Einbeziehung der individuellen Erfahrungshorizonte – zumindest noch einige andere schulischen Ziele erreichen zu können. Das vom Erziehungswissenschaftler Prange (1995, S. 328) formulierte Bonmot, „Schule ist dann gut, wenn sie keine ist“, findet hier eine ganz eigene Umsetzung, die aber auch aus Sicht der Institution Schule durchaus Sinn machen kann72. Bevor die Schüler*innen der Schule in bestimmten Kontexten entgleiten, weil sie deren Angebote entweder durch aktives Fernbleiben gar nicht mehr wahrnehmen oder sie deren Angebote nach eigenen Vorstellungen umfunktionieren, könnte eine zielgerichtete Anpassung der Angebotsstrukturen durch die Institution Schule der Erfolg versprechendere Weg sein, um den Einfluss auf die Schüler*innen aufrecht erhalten zu können. Der in der Gesprächssequenz erkennbare Preis der Diffusion der Kontexte ist dann in Anbetracht schulischer Normalitätsstrukturen kaum vermeidbar.
4.2.3 Angepasste Beschulung Natürlich finden sich nicht nur Relevanzstrukturen, die Bedeutung und Stellenwert von Schule bei den Schüler*innen in Frage stellen oder negieren. Wandert man auf dem anfangs benannten Kontinuum weiter, dann lassen sich auch Typen rekonstruieren, die dem Feld der Schule ein eigenes Gewicht beimessen. Identifizierbar ist dort zunächst der Typ der ‚angepassten Beschulung‘. Exemplarisch kann hier die Gruppe 16 zur Beschreibung herangezogen werden. Die Gruppe besteht aus vier Mädchen, die die siebte Klasse eines kleinstädtischen Gymnasiums besuchen. 72 Helsper spricht in einem Artikel im Kontext einer Studie zu Hauptschulen von einer „reflexiven Entschulung“ (2016, S. 99) und beschreibt damit ein strukturell ähnliches Phänomen. „Erwartungswidrig“ fand sich in der beschriebenen Untersuchung eine Hauptschule mit „gewaltfreien Klassen“, „verschwisterten Klassengemeinschaften“ und „stützendem Peermilieu“. Als mögliche Erklärung wird auf schulisch initiierte Veränderungen der Schulstruktur hingewiesen, die zu diesen überraschenden Veränderungen geführt haben dürften.
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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In der Eingangspassage, wo es um die Frage nach dem Zusammenfinden der Gruppe geht, zeigt sich sehr schnell, dass außerschulische Aktivitäten hier zwar keine konstitutive Rolle für den Findungsprozess spielen, wichtiger ist jedoch die Einsicht, dass alle Mädchen in ihrer Freizeit strukturierten Aktivitäten – hier Sport im Verein73 – regelmäßig nachgehen. Initiiert durch den Hinweis auf das gemeinsame Prellball-Spielen zweier Gruppenmitglieder finden sich auch bei den anderen Bezüge zum Vereinssport: Y1: //mhm// Und das macht ihr im Verein oder oder in der Schule? Aw:
Dw:
└Ja. Im Verein.
Y1: //mhm//
└Im Verein.
Y2: Wie ist das denn bei den Anderen? Machen die auch was so im Sportverein oder
Cw: Also ich hab Rhönrad gemacht, aber da hab ich jetzt mit aufgehört, (ich geh jetzt Handball spielen). Bw: Ich ähm tanze und ich habe mal geritten. Dw: Äh (.) ja mach du zuerst.
Aw: Ich mach auch noch ähm oder haben halt gemacht Taekwondo, also das ist Kampfsport. Y1: //mhm//
Dw: Und ich äh mach Leistungsturnen.
Im Unterschied zu den bisher vorgestellten Typen, zeigt sich in dieser Gruppe ein ganzer Strauß von regelmäßig durchgeführten Sportvereinsaktivitäten, die sie im weiteren Verlauf auch als bedeutsam für sich selbst einstufen. Die Trainingstermine sind in der Regel mehrmals wöchentlich und werden auch regelmäßig wahrgenommen, da zumindest bei drei Mädchen auch der Leistungsaspekt explizit in Form
73 Es ist an dieser Stelle nicht unwichtig darauf hinzuweisen, dass das Thema des Vereinssports nicht durch die Interviewer in Form einer entsprechenden Frage(richtung) eingeführt wurde, sondern die Mädchen es selbstständig ins Gespräch eingeführt haben, da der Sportverein für zwei Mädchen der Ort des „Zusammentreffens“ gewesen ist. 115
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von Wettkämpfen in diesen Aktivitäten eine bedeutsame Rolle spielt74. Unterstützt und teilweise auch initiiert durch die Eltern oder das familiäre Umfeld erhält die Freizeit der Mädchen so eine in Teilen vororganisierte Struktur, die dann auch noch durch weitere informelle Aktivitäten (wie das Treffen von anderen Peers) ergänzt wird. Interessanterweise spielt auch für alle Mädchen das Anfertigen der „Hausaufgaben“ eine explizite Rolle. Bei der Beschreibung ihrer Tagesabläufe finden die Hausaufgaben durchweg Erwähnung, was den Eindruck eines strukturierten und geplanten Ablaufs der Freizeit weiter verstärkt. In diesem fremd- und zum Teil selbststrukturierten Rahmen der eigenen außerschulischen Aktivitäten passt sich die Schule als verpflichtende Veranstaltung dann problemlos ein. Auf einen ganz kurzen Nenner gebracht ist Schule „ganz ok“ und „geht eigentlich“. Dieser weder überschwängliche noch vernichtende Blick auf die Institution Schule gibt den Rahmen vor, in dem sich die bei näherer Analyse sehr pragmatische Einstellung der Gruppe bewegt. Allerdings ist Schule den Mädchen alles andere als gleichgültig, was sich schon daran zeigt, dass fast die gesamte Restdiskussion75 sich immer wieder um verschiedene Facetten dieser Schulwirklichkeit dreht. Dabei wird auch zunehmend deutlich, dass das Urteil der Gruppe nicht auf Willkür oder Desinteresse basiert, sondern einem bestimmten Deutungsmuster folgt. Auf der einen Seite stehen dabei zahlreiche Beispiele für einen durchaus distanzierten und kritischen Blick auf zentrale schulische Gegebenheiten. Diese seien hier zunächst nur aufgelistet. Es gibt „natürlich“ eine ganze Reihe von Lehrkräften, die aus unterschiedlichen Gründen „nerven“, es gibt langweiligen Unterricht, es gibt Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlung durch die Lehrkräfte, die Pausen sind zu kurz und schließlich nerven auch bestimmte Mitschüler*innen – die von der Gruppe so bezeichneten „Tussis“ – nicht unerheblich. Betrachtet man diese Liste ein bisschen intensiver, dann verwundert das oben bezeichnete Urteil über Schule schon fast. Dieser Eindruck verstärkt sich auch noch, wenn man die von der Gruppe vorgetragenen Beispiele differenzierter betrachtet: Y2: Und hier in der Klasse, so die die Stimmung, wie ist das mit den anderen Klassenkameraden? Versteht ihr euch gut, wie kommt ihr miteinander aus.
Cw: Also wir haben gewisse Leute in der Klasse, die sind auch von gewissen Lehrern sehr gehasst.
74 Bei dem vierten Gruppenmitglied ist dies angesichts der regelmäßigen zweimaligen Trainingszeiten/Woche auch zu vermuten, allerdings wird es nicht explizit formuliert. 75 Ausgenommen der obligatorische Teil der Collage und ihrer Deutung.
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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Mädchen: @
Cw: Und ähm wir haben andere also das ist eine Gruppe und die stört auch den Unterricht. Aw: Extrem, also
Cw: └Und ähm die Anderen, die sind eigentlich alle, die machen halt jetzt sind nicht beste Freundinnen oder sowas aber die machen halt auch mal was zusammen und so und die sind dann ohne die wär `s `ne perfekte Klasse. Y1: //mhm//
Cw: Sozusagen.
Aw: └Also ich glaube, ähm es gibt wirklich so ein paar die die Klassengemeinschaft sozusagen zerstören, aber die gibt es glaub ich diese Zicken gibt es glaub ich auch an jeder Klasse Y1:
Y1:
└//mhm//
Aw: und das Doofe ist dann, also eine doofe Sache is halt, wenn ähm die dann die ganze Zeit Scheiße bauen im Unterricht, laut sind und alle stören, dann wird meistens die ganze Klasse bestraft also bei einem Lehrer is das richtig cool, der bestraft nur die aber die meisten Anderen sagen dann: „Die ganze Kla- Klasse bleibt fünf Minuten länger.“ Oder irgendwie so was und das is halt dann richtig doof aber in unserer Klasse, die Klassengemeinschaft, also es ist nicht wirklich so `ne richtige Klassengemeinschaft, ich finde es geht, es gibt aber auch kein Mobbing oder das irgendwer ausgeschlossen Aw: richtig stark ausgeschlossen wird.
└//mhm//
Beschrieben wird hier eine klasseninterne Struktur von Störer*innen, die den eigentlich „perfekten“ Gesamteindruck der Klasse unterhöhlen. Als besonders problematisch wird dann wahrgenommen, dass auf Seiten der Mehrzahl der Lehrkräfte nicht ausreichend differenziert werde und die nur von Teilen der Klasse provozierten Störungen in aller Regel zu kollektiven Bestrafungen führen, was nach Einschätzung der Mädchen „doof“ sei. Dass es sich nicht um Petitessen handelt, zeigen die rigiden Bezeichnungen der Mädchen, die sich im gesamten 117
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4 Erfahrungsraum Schule
Diskussionsverlauf ansonsten sehr kontrolliert und reflektiert ausdrücken: die Lehrkräfte „hassen“ einige Mitschüler*innen, die als „extrem“ empfunden und als „Zicken“ etikettiert werden. Im gleichen Beispiel zeigt sich zugleich aber auch die andere Seite der Wahrnehmung, die schlussendlich dazu führt, dass alles irgendwie im Rahmen bleibt und – wie Gruppe häufiger wiederholt – nur „ein bisschen unfair“ und eigentlich ganz in Ordnung ist. Im Kern findet sich bei der Gruppe ein Deutungsmuster, in dem die nervigen Bestandteile von Schule ‚normalisiert‘ werden. Im vorliegenden Beispiel ist es die selbst formulierte Einsicht, dass es wohl in jeder Klasse die beschriebene Spezies der „Zicken“ gibt, die eine Klassengemeinschaft zerstören – und weil dem so ist, relativiert sich zugleich auch die Einordnung. Es ist, wie es ist und daran lässt sich auch nichts ändern – so in etwa könnte man die Schulphilosophie der Gruppe formulieren. Hinzu kommt, dass die Gruppe selbst die Basisregeln von Schule durchaus respektiert und ihnen auch folgt. Die Leistungsanforderungen von Schule werden im Grunde akzeptiert, auch wenn den Mädchen durchaus bewusst ist, dass diese nicht immer gerecht sind. Die Mädchen machen selbstverständlich ihre Hausaufgaben, auch wenn vielleicht gelegentlich andere Aktivitäten reizvoller wären und sie respektieren selbstverständlich die Lehrkräfte, auch wenn diese immer wieder einmal „ein bisschen unfair“ agieren. Diese Einstellung wird auch im explizierten Gegenbild der „Zicken“ deutlich: „Und sie sind auch sehr respektlos den Lehrern gegenüber und machen die Hausaufgaben nie“. Damit stellen sich die „Zicken“ gewissermaßen außerhalb des von der Gruppe akzeptierten Umgangs mit Schule und insofern ist es auch dann nur gerecht, wenn die Institution Schule dies mit schlechten Noten quittiert. Die Gruppe 16 arrangiert sich mit einer Schule, die sie in ihren Grundprinzipien nicht ändern kann und will. Sie weiß durchaus um die Schwächen der Institution und formuliert diese auch kritisch-distanziert, aber sie ist im gleichen Atemzug auch pragmatisch genug, sich von allzu drastischen Konsequenzen im Sinne einer Entschulung fernzuhalten. Die Gruppe trägt ihren Part zum ohnehin nicht kündbaren Pakt mit der Schule bei und sie rechnet auf eine im Prinzip faire Behandlung, wohl wissend dass ein bisschen Ungerechtigkeit wohl kaum zu vermeiden und auch zu ertragen ist. Dies alles wirkt auf den/die Beobachter*in kalkuliert und ausgewogen, ein Verhältnis nicht von Emphase sondern von Pragmatik getragen. Man muss und möchte miteinander auskommen, die Mädchen tragen aus ihrer Sicht das Notwendige dazu bei und erwarten nichts anderes auch vom Vertragspartner. Der Pflicht wird Genüge getan, als Lohn erwartet man eine im Großen und Ganzen faire und berechenbare Behandlung.
4.2 Schulische Orientierungsmuster: Negation und Verinnerlichung
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4.2.4 Überzeugte Beschulung Den anderen Pol der Relationierung bildet schließlich der Typ der ‚überzeugten Beschulung‘. Als Beispiel kann hier eine geschlechtsheterogene Gruppe der 7. Klasse eines Gymnasiums in einer kleineren Stadt in NRW dienen. Im Unterschied zu vielen anderen Gruppen fokussiert sich die Gruppe 12 bereits sehr früh in der Diskussion auf den schulischen Kontext. Hintergrund ist die Tatsache, dass die Gruppe sich innerhalb des schulischen Kontextes zusammengefunden hat, in Teilen bereits in der Grundschule und dann auch noch ergänzend im Gymnasium. Die gemeinsamen Aktivitäten liegen dann auch schwerpunktmäßig im schulischen Kontext, z. B. beim gemeinsamen Tischtennis-Spielen in den Pausen, während gemeinsame außerschulische Aktivitäten dieser Gruppe eher die Ausnahme bilden. Hier rückt dann eine weitere Besonderheit in den Fokus, die Bedeutung der „Klassengemeinschaft“: Y2: Ja. Und ist, sind diese Freundschaften dann auch über die Schule hinaus oder ähm? Cw: Ja.
Am: Teilweise schon, ja.
Bm: Wir gehen ja auch meistens, also alle, also fast ein Teil, ein großer Teil der Klasse geht dann auch zusammen ins Freibad oder so. Also alle zusammen. Cw: Was wir halt die letzten Jahre auch immer gemacht haben nach dem Sportfest, da ähm sind wir halt alle, wirklich alle zusammen nach X-Stadt gelaufen und dann von da aus ins Freibad und dann machen wir da halt auch immer was zusammen im Freibad.
Dw: Man merkt halt auch schon, dass das richtig so die Klassengemeinschaft auch stärkt, weil wir halten einfach alle zusammen und niemand wird verraten oder sowas. Y1: Mhh. Y2: Ja.
Bm: Ich würde auch sagen, ein großer Teil der Klassengemeinschaft ist auch, dass das so gut funktioniert, wir waren ja in der fünften und sechsten Klasse in einer Blä- Bläserklasse und ich würde auch sagen, dass durch auch vielleicht die Klassengemeinschaft ziemlich verstärkt hat und
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Y1: ʟMhh.
Dw: Ja, weil wir hatten halt auch gemeinsame Erlebnisse und die Auftritte und dann so dieses Gefühl, alle zusammen machen wir jetzt einen Auf- also so ein Konzert oder so. Ich glaube das ist schon ein ganz cooles Gefühl. Cw: Oder
Am: ʟDas stärkt so das Zusammensein, den Zusammenhalt mit anderen dann. Y1: Mhh.
Cw: In der fünften, da hat- da kannten wir uns ja alle gegenseitig noch nicht so gut. Und dann wurden wir halt in so Gruppen eingeteilt, um halt die Instrumente kennenzulernen Y1: ʟMhh
Cw: Und dadurch, dass man dann halt teilweise eine Freistunde zusammen hatte, finde ich hat man sich halt viel besser kennengelernt und dadurch hatte man, ich finde das hat die Klassengemeinschaft auch gestärkt.
In gewisser Hinsicht steht die interviewte Gruppe hier auch stellvertretend für die größere Gruppe der Schulklasse, die einen Teil ihrer außerschulischen Aktivitäten gemeinsam durchführen („wirklich alle“), was aufgrund der ja institutionell bedingten Zusammenstellung einer Schulklasse als durchaus außergewöhnlich gelten kann76. Die Schüler*innen liefern dann auch gleich eine Erklärung für diese außergewöhnliche Situation mit, denn es handelt sich um eine so genannte „Bläserklasse“77. Der Zusammenhalt der Klasse, der sich u. a. auch darin dokumen76 Formal zeigt sich dies auch in der durchgehenden Beteiligung aller Gruppenmitglieder an der Diskussion, was durchaus nicht selbstverständlich ist. Auch in der vorgestellten Passage beteiligen sich alle Mitglieder der Gruppe an der Beschreibung und Erklärung des Phänomens „Klassengemeinschaft“. Sehr gut illustriert wird diese Struktur auch in der konkreten Arbeit an der Collage, in der alle Schüler*innen sehr kooperativ, konstruktiv und zielorientiert vorgingen. 77 Dabei handelt es sich um in den letzten Jahren im Fahrwasser des Großprojekts „JeKi“ (Jedem Kind ein Instrument) vermehrt entstandene Klassen, in denen die Schüler*innen unabhängig vom eigentlichen Musikunterricht unterschiedliche Blasinstrumente ausprobieren und erlernen können, um z. B. auch bei Schulkonzerten oder anderen Gelegenheiten dann gemeinsam aufzutreten.
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tiert, dass „niemand verraten (wird)“, wird von der Gruppe auf die gemeinsamen Erlebnisse und „dieses Gefühl, alle zusammen machen wir jetzt“ zurückgeführt. Der Institution Schule ist es hier offenbar gelungen, im Rahmen der gymnasialen Initiation so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft zu bilden, die auch zu einem hohen Grad an Identifikation mit (dieser) Schule führt. Damit ist eine zentrale Orientierung benannt, die sich durch die gesamte Gruppendiskussion hindurch an sehr unterschiedlichen Themen verfolgen lässt. Innerhalb der Gruppe herrscht eine hohe Akzeptanz hinsichtlich der Ziel- und Leistungsorientierung von Schule, was sich u. a. auch an der Wertschätzung von Turnieren und Wettkämpfen im Rahmen des Schulsports dokumentiert. Noch deutlicher wird die buchstäbliche ‚Verinnerlichung‘ schulischer Wertorientierungen aber in den Beispielen der ‚Selbstthematisierung‘, die sich in der Diskussion finden. Dw: Ja, aber man weiß auch so, alle wissen, dass ich es war und wenn ich es jetzt nicht sage, dann werden die alle schon irgendwie, also werden sie mich jetzt nicht verpetzen, aber trotzdem werden sie sagen „ja, warum hast du es denn nicht gesagt? Jetzt müssen wir alle Y1: ʟMhh
Dw: ʟleiden, nur weil du es nicht zugeben konntest so. Dann kriegt man dann- also weiß man, dass man schon so eine Art Vorwurf bekommt. Bm: Genau, man kriegt so´n bisschen Druck. Y1: Ja, okay.
Bm: Also jetzt nicht direkt, aber man weiß halt, dass es passieren könnte, also das vielleicht irgendjemand einen dann darauf anspricht. Y1: ʟMhh.
Bm: Und ich würde schon sagen, dass das einem dann ähm schon dazu verleitet, dass man´s dann sagt. Y1: Mhh. Ja, und die anderen eben auch wahrscheinlich dann nicht leiden zu lassen, obwohl sie damit nichts zu tun haben. Dw: ʟJa
Bm: ʟGenau.
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Y1: Das versteh ich gut, aber was hat so ein Lehrer davon zu wissen eigentlich, wer es war? Warum ist das für die wichtig? Bm: Ja, weil ja irgendwer die Türklinke ersetzen muss. Y1: Achso, ja stimmt. Am: Oder das Fenster. Y1: Mhh.
Dw: Oder vielleicht auch um einen Eindruck von den Kindern zu bekommen.
Cw: Weil, wenn sowas jetzt häufiger vorkommt, dann muss da ja auch irgendwann mal was passieren. Das geht ja nicht, dass derjenige dann immer unbestraft davon kommt.
An diesem Beispiel lassen sich sehr schön die Mechanismen rekonstruieren, die bei Regelverstößen innerhalb der Klassengemeinschaft zum Tragen kommen. Weil alle zusammenhalten, wird ein Verursacher einerseits „nicht verpetzt“, das würde dem klasseninternen Moralkodex widersprechen, aber „man kriegt so’n bisschen Druck“, um sich in der Konsequenz selbst bei der als Ordnungsinstanz anerkannten Lehrkraft anzuzeigen und damit den Schulfrieden wiederherzustellen und die anderen Klassenkameraden „nicht leiden“ zu lassen. Fast idealtypisch wird hier einer (dem ‚Chorgeist‘) äußerlichen Strafinstanz Schule eine (klassen-)interne Moralität gegenübergestellt, die – und das ist zentral – auch zur Wiederherstellung der allgemein akzeptierten (Schul-)Ordnung führt. In der letzten Sequenz formuliert Cw dann das internalisierte Prinzip, denn „das geht ja nicht, dass derjenige immer ungestraft davonkommt.“ Diese Internalisierung sozialer Kontrolle durch die Klassengemeinschaft funktioniert auch bei anderen Problemen, wie etwa der „Einpassung“ eines „schwierigen“, „aggressiven“ Außenseiters in die Klasse, der der Klasse offenbar auf die Nerven ging. Mit ihm war es „am Anfang“ schwierig, aber durch entsprechende Maßnahmen (z. B. Isolation bei Gruppenarbeiten) wird auch diesem Schüler klargemacht, dass es Regeln gibt, an die man sich zu halten hat und – nach zwei Jahren – „ist es besser geworden auf jeden Fall“, da er kaum noch „ausrastet“. Diese am Beispiel von klasseninternen Abweichungsformen verdeutlichte hohe Verinnerlichung schulischer Werte und Normen in der Gruppe zeigt sich noch einmal aus einer anderen Perspektive, wenn es um den Vergleich mit anderen Klassen geht:
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Dw: Die haben finde ich auch so eine ganz andere Sprechweise als wir teilweise, also die Wortwahl und so. Y1: Okay, beschreib mal, wie Am: ʟBm kann´s.
Bm: Ähm, ich würde sagen, dass ist ähm, das ist jetzt Y1: ʟDu kannst das aber auch gut.
Bm: Das ist seit der fünften Klasse ist mir das jetzt-also so den neuen Fünftklässlern, die sind jetzt nach den Sommerferien Sechstklässler geworden, ist mir das ganz stark aufgefallen ähm, die ähm, ja das find ich ein bisschen erstaunlich, wie die mit Kraftausdrücken umgehen und, wie die sich jetzt auch gegenüber Älteren verhalten so. Y1: Mhh.
Am: Respektloser. Bm: Genau. Y1: Okay.
Dw: Früher finde ich war´s ja immer so ähm, dass äh auf nem Gymnasium ja eher die gut gebildeten und einem guten Sozialverhalten und so waren und da denkt man dann zwischendurch halt auch mal so ähm, wie kann es sein äh, dass die jetzt hier sind und halt diese Wortwahl, das regt einen dann zwischendurch finde ich ganz schön auf. Y1: Mhh.
Dw: Wie die sich halt auch verhalten und so. Y1: Mhh.
Am: Das erinnert irgendwie stark an die Amerikaner, die äh, das, die die die geben praktisch der Stimme, also wenn ich jetzt normal rede, dann geben sie ihr noch so einen komischen Unterton äh dazu. Und dann benutzen die auch noch irgendwelche Kraftausdrücke oder praktisch so einen Slang. Y1: Bisschen ( ). Am: So asi so.
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Bm: Genau.
Am: Die meisten.
Y1: ʟKannst du das vormachen? Am: Asi, Asisprache.
Was sich hier dokumentiert, könnte man mit Bourdieu (u. a. 1982) als Distinktion zwischen Siebt- und Fünftklässlern deuten. Auch hier versteht sich die Gruppe als Bewahrerin von ‚Tradition und Ordnung‘, wobei interessanter Weise explizit auf eine gymnasiale Tradition Bezug genommen wird, die sich durch die „gut gebildeten“ Schüler*innen mit einem „guten Sozialverhalten“ auszeichnet. Unklar ist, was mit dem Begriff „früher“ gemeint ist, aber offensichtlich fühlt sich die Gruppe diesem „Früher“ mehr zugehörig als den Entwicklungen, die als neu, verbunden mit Respektlosigkeiten und letztlich „asi“ beschrieben werden78. Auch hier bietet die Gruppe Erklärungsmuster an, die von starken Distinktionsbewegungen (wir und die anderen) und Generalisierungen (die Jugend, die Kinder) begleitet werden und letztlich in einer fragwürdigen Orientierung an medialen Vorbildern einmünden. Man kann sich hier des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die gymnasialen Siebtklässler als Hüter eines zu bewahrenden gymnasialen Ethos verstehen, der von den nachfolgenden „Generationen“ (d. h. Klassenstufen) nicht mehr in angemessener Weise weitergeführt wird. Der Typ der „überzeugten Beschulung“ zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die Institution Schule nicht nur als ein notwendiges und verpflichtendes Übel hingenommen wird, sondern dass ihre zentralen Koordinaten von den Schüler*innen auch „verinnerlicht“ werden. Überzeugungen verlangen in erster Linie nicht nach rationalen Argumenten – wenngleich sie nicht schaden können – sondern nach 78 An diesem Beispiel kann auch noch ein anderer Aspekt der hier vorgestellten Typologie verdeutlicht werden, der allerdings bezogen auf unsere Fragestellung nicht im Mittelpunkt steht. Die skizzierte Distinktionsbewegung der Gruppe gegenüber anderen schulischen Akteur*innen – hier: die „asozialen“ Jüngeren – zeigt auch, dass die hier skizzierten Typen nicht im Sinne von ‚Schulkulturen‘ interpretiert werden dürfen. Auch wenn Schulformbezüge und -homologien immer wieder betont wurden, können an Schulen durchaus unterschiedliche Typen im Sinne der vorgestellten Orientierungsrahmen parallel existieren. Auch auf der Entschulungsseite finden sich entsprechend Beispiele dafür, dass dort andere Orientierungsrahmen vorkommen, etwa wenn die Gruppe 10 der eigenen Klassengemeinschaft attestiert „voll anständig“ zu sein, sich also an gängige Verhaltensschemata innerhalb der Schule zu halten. Typologien sollen natürlich vereinfachen und veranschaulichen, das ist einer der zentralen Zwecke, man sollte Typologien aber nicht mit der Realität verwechseln, insofern produzieren alle (!) Typologien ‚Idealtypen‘.
4.3 Zwischenfazit
125
einer emotionalen Verbindung. Der von der hier vorgestellten Gruppe formulierte Sinn für Gemeinschaft kann prototypisch für eine derartige emotionale Bindung verstanden werden, ist aber sicher auch durch andere Äquivalente austauschbar. Interessanterweise scheint dieser Typ sich in unserem Beispiel auch einer spezifischen schulischen Besonderheit zu verdanken, da die Schule durch ihre musikalische Ausrichtung in den ersten Jahrgangsstufen thematisch homogene Klassenstrukturen unterstützt („Bläserklassen“). Diese schulkulturelle Besonderheit führt auf der Ebene der Schüler*innen zumindest im hier vorliegenden Fall zu einer offenbar erhöhten Identifikation mit der Schule und der Ausprägung eines Typus der überzeugten Beschulung, wenngleich dies vermutlich nicht der alleinige Grund sein dürfte.
4.3
Zwischenfazit
4.3
Zwischenfazit
Die hier vorgestellten Typen schulischer Orientierung beschreiben idealtypisch verdichtete Deutungshorizonte der Gruppen im Umgang mit den schulischen Anforderungen, denen sie sich zu stellen haben. Dabei ist es nun keineswegs so, dass eine einzelne Schule oder auch nur eine einzelne Klasse in unserer Untersuchung einem spezifischen Typ eindeutig zugeordnet werden könnte79. Gleichwohl bestätigt sich die eingangs formulierte Hypothese, dass auf dem beschriebenen Relevanzkontinuum eine klare Clusterung entlang der Schulformen rekonstruierbar ist, die auch den theoretischen Erwartungen folgt. Die Hauptschulgruppen liegen schwerpunktmäßig auf der ‚Entschulungsseite‘, die Gymnasialgruppen eigentlich vollständig auf der ‚Beschulungsseite‘. Unsere Deutungen fügen sich damit gut in die Ergebnisse der Schulkulturforschung ein, die mittlerweile in verschiedenen Studien eine Art Passungsspektrum von Schüler*innenhabitus entwickelt hat, das ebenfalls deutliche Schulformbezüge ausweist (Kramer et al., 2013; Helsper et al., 2018)80. 79 Die innerhalb schultheoretischer Untersuchungen immer wieder betonte Mehrebenenstruktur von Schule bildet sich auch in unserer Fragestellung deutlich ab. Einflüsse der jeweiligen Schul- und/oder Klassenkultur können durch unsere Daten aber allenfalls indirekt und sporadisch erschlossen werden, wie es sich etwa beim ‚Chorgeist‘ der vorgestellten Bläserklasse andeutet. Sie bilden aus diesem Grund auch nicht den zentralen Analysefokus, ohne dass damit ihre Bedeutsamkeit prinzipiell in Frage gestellt werden soll. 80 Unsere Typologie ist dabei einerseits deutlich grober als die von Helsper (Helsper et al., 2018) und Kramer (Kramer et al. 2013) u. a. sukzessive entwickelte Habitustypologie von Schüler*innen, andererseits deutet sich in unseren Gruppen zumindest ein Typ an, der die als gesetzt angenommene zentrale Bedeutung von Schule für die Lebenswelt von 125
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Die extreme Variante der Entschulung taucht in unserer Untersuchung dabei nur in wenigen Einzelfällen auf81, die extreme Variante der Beschulung dagegen relativ häufig, wobei auch gesagt werden muss, dass eindeutige Zuordnungen nicht immer zu treffen sind, da die puristische Ausprägung eines Typus einer zumeist opaken und vielschichtigen Realität nicht angemessen scheint. Als Orientierung können die Typen aber gleichwohl die Funktion einer Rahmung übernehmen, innerhalb derer auch weitergehende Differenzen und Unterscheidungen vorgenommen werden können (z. B. im Hinblick auf Spezifiken des Sportunterrichts, des außerschulischen Sports oder auch anderer (peerorientierter) Freizeitaktivitäten). Bevor diese Perspektiven aber aufgemacht werden, soll zunächst noch der Versuch eines theoretisch fundierten Abgleichs der empirischen Rekonstruktionen unternommen werden. Die fallbezogenen und verdichteten Beschreibungen schulischer Orientierungen ergeben eine datengestützte Matrix, deren theoretische Unterfütterung nun geprüft werden soll. Als Ausgangspunkt für eine Art „doing difference“ auf Systemebene (Hirschauer, 2014) kann der Schulformbezug genommen werden. Vorhandene Untersuchungen etwa zur Hauptschule (vgl. z. B. Hansel, 2000; Knigge, 2009; Völcker, 2013) oder zum Gymnasium (z. B. Kiper, Freisel & Jahnke-Klein, 2007; Helsper u. a., 2018) bestätigen die These von sehr unterschiedlich ausgeprägten Passungsverhältnissen zwischen Schulform-Kulturen und den korrespondierenden sozialen Milieus. Das zeigt sich auch in den hier rekonstruierten Typen von Schulnähe und Schuldistanz82. Während die ersten beiden Typen als wenig kompatibel/passend zu den schulischen Heranwachsenden insofern in Frage stellt, als die strukturierende Funktion von Schule für die Lebenswelt Heranwachsender hier grundsätzlich negiert zu werden scheint. 81 Krüger et al. (2015) weisen ebenfalls darauf hin, dass extreme Formen des Widerstands gegen schulische Ansprüche (wie z. B. bei Willis, 1979 beschrieben) gegenwärtig eher selten anzutreffen sind, da sich die Notwendigkeit zur Erreichung eines Schulabschlusses als conditio sine qua non für gesellschaftliche Teilhabe auch in traditionell eher bildungsfernen Milieus etabliert zu haben scheint. 82 Wir legen den Analysefokus demnach auf eine Schulform-Kultur, während z. B. die Arbeitsgruppe um Helsper häufig den Fokus noch enger auf die Explikation von Einzelschulkulturen legt. Dass damit durchaus interessante und relevante Differenzierungen innerhalb der – äußerlich homogen verfassten – Schulformen zum Vorschein kommen, zeigt zum Beispiel die jüngere Studie von Helsper et al. (2018) zu den „exklusiven“ Gymnasien sehr eindrucksvoll und detailreich. Die Identifizierung und Analyse derartiger schulforminhärenter „Segregationslinien“ (ebd., S. 479) setzt selbstverständlich eine gründliche Kenntnis der einzelschulspezifischen Hintergründe voraus, die unserer eigenen Untersuchung aber keine explizite Rolle gespielt haben. Grundsätzlich zum Ansatz und zum Verständnis der „Schulkultur“ (vgl. z. B. Hummerich & Kramer, 2017, S. 159ff.)
4.3 Zwischenfazit
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Anforderungsprofilen erscheinen und von den Schüler*innen auch eher als ‚Zumutungen‘ verstanden werden, denen man sich mehr oder weniger rigide entzieht, sieht das bei den beiden letzten Typen deutlich anders, d. h. passförmiger, aus, indem die vorgegebenen Schulstrukturen toleriert oder gar internalisiert und akzeptiert werden. Erklärend können hier sicher die unterschiedlichen Herkunftsmilieus der Schüler*innen herangezogen werden. „Dadurch stehen spezifische Schulkulturen zu sozialen Milieus in einem korrespondierenden Verhältnis der Homologie, der Nähe oder Distanz bis hin zur Abstoßung“ (Kramer & Helsper, 2011, S. 109f.). In aller Regel ist dabei nicht ein einzelnes Merkmal des sozialen Kontextes entscheidend, sondern vielmehr das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren, die aber im Resultat alle in die gleiche Richtung wirken. So können sich im Falle der offensiven Entschulung beispielsweise die Peer-Kontakte gegenseitig zunehmend hochschaukeln und in Eskalationsspiralen führen, die zu immer stärkerem Sanktionsdruck der Schule führen. Wenn von familialer Seite dann aufgrund mangelnder Bereitschaft oder mangelnder Ressourcen kein Gegensteuern erfolgt und parallel auch noch andere externe Instanzen als Hilfe ausfallen, weil sie entweder nicht eingefordert werden oder schlicht nicht zur Verfügung stehen, dann ist der Entwicklungsverlauf sehr häufig fast vorgegeben. Das gilt für den Pol der überzeugten Beschulung strukturell in gleicher Weise. Passungen und Abstoßungen sind in diesem Verständnis also nicht primär individuell zurechenbare Einstellungen oder Charakterzüge, sondern komplexe sozio-strukturell unterlegte Akteur*in-Milieu-Konstellationen. Was beim ersten Typ aus unserer Sicht noch erweiternd angefügt werden könnte, ist der Versuch, das Passungsverhältnis nicht primär von der Schulseite her zu deuten, sondern von der Lebenswelt- bzw. Milieuseite. ‚Leitkultur‘ ist in dieser Perspektive dann das Milieu und Schule wird – wenn man so will – dieser Leitkultur ‚eingepasst‘, das meint letztlich auch ein zu Ende gedachter Begriff der ‚Entschulung‘. Dies gilt ausdrücklich nur für die extreme Variante und dürfte auch den Ausnahmefall darstellen, es eröffnet aber dadurch auch eine neue oder eigene Perspektive, in der habituell bildungsferne Milieus nicht wie Fremdkörper in einem nicht für sie gemachten Bildungskosmos wirken, sondern in der Schule den noch verbliebenen gesellschaftlichen Brückenkopf einer im wahrsten Sinne des Wortes fremden Welt darstellt, der von den Einheimischen selbst kolonialisiert und mit den eigenen Spielregeln konfrontiert wird. Untersuchungen zum Phänomen der Schulverweigerung bzw. Schulabstinenz deuten tendenziell in eine vergleichbare Richtung (z. B. Wissinger, 2012). Werden die Differenzen zwischen den lebensweltlichen Milieus einschließlich seiner habituellen Prägungen auf der einen und den bildungsbürgerlich gesetzten schulischen Ansprüchen mit seinen konkreten Leistungsanforderungen und Verhaltenscodizes auf der anderen Seite zu groß, dann treten an Stelle von Passungsverhältnissen Brüche oder Verwerfungen, von 127
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4 Erfahrungsraum Schule
denen „noch gar nicht gesagt werden kann, welche Institutionengrenzen sprengende Dynamik sie zu entfalten vermögen, und ob und wie diese Prozesse gesteuert werden könnten“ (Wissinger, 2012, S. 138f.). Schule braucht dort in der Tat kein Mensch, weil deren Angebote für die Lösung der lebensweltlichen Probleme in diesen Milieus aus der Perspektive der Akteur*innen nichts beizutragen haben (ebd., S. 129). Jenseits struktureller Notwendigkeiten einer Schulpflicht oder des Erwerbs von Bildungszertifikaten zur Positionierung in der Gesellschaft kann die Lösung einer ‚offensiven Entschulung‘ so aus der Perspektive der betroffenen Jugendlichen durchaus ‚Sinn‘ ergeben83. Warum sollten diese Jugendlichen an den Veranstaltungen einer milieufernen und ‚voreingenommenen‘ Institution teilnehmen, die ihnen auf allen Ebenen permanent nur mangelnde bzw. fehlende Passung attestiert und jegliche Form von Anerkennung verweigert (Wellgraf, 2014)? Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt auch von Rosenberg (2008) in seiner Studie, die sich mit Peergroup-Beziehungen an einer Hauptschule beschäftigt und zwischen einem affirmativen, subversiven und antagonistischen Schülerhabitus differenziert. Da von Rosenberg nur die Hauptschule in den Blick nimmt, spielt der affirmative Typ in seinen Darstellungen eine deutlich geringere Rolle. Durch die Ergänzung der gymnasialen Perspektive kann gut plausibilisiert werden, warum in unserer eigenen Untersuchung die affirmativen Typen sehr viel bedeutsamer sind als in der Untersuchung von Rosenbergs. Auch von Rosenberg argumentiert, dass – in seinem Zugang in Anlehnung an Goffman (2009) – die ‚Hinterbühne‘ insbesondere beim antagonistischen Schüler*innenhabitus zur dominierenden Strukturierungsdimension des individuellen Handelns und damit die Normalität schulischer Routinen unterlaufen wird, während in affirmativen Kontexten zumindest der Anschein von Normenkonformität nicht nur aufrecht erhalten, sondern in der Regel durch die Internalisierung schulischer Handlungsroutinen sogar aktiv unterstützt wird. 83 Dabei geht es an dieser Stelle nicht um die Frage, ob solche ‚Lösungsansätze‘ zielführend oder erfolgversprechend im Sinne einer Verbesserung der eigenen prekären Position der Jugendlichen sind. Eine solche Sicht würde erneut Bewertungsmaßstäbe zu Grunde legen, die milieuintern zuerst einmal hinsichtlich ihrer Gültigkeit zu prüfen wären, was hier allerdings nicht Gegenstand der Analyse sein kann. Offenbleiben muss an dieser Stelle auch die Frage nach der Stabilität solcher Muster. So könnte es sein, dass mit dem weiteren Verlauf von Schulkarrieren die Nachdrücklichkeit einer zumindest basalen Anpassung an schulische Erfordernisse größer wird, eben weil Schule letztlich auch Lebenschancen verteilt. Bei aller Aversion gegen Schule könnten sich dann ggf. auch Formen einer erzwungenen Anpassung vermehrt identifizieren lassen. Erste längsschnittliche Untersuchungen zur Entwicklung und Transformation von Passungsstrukturen zeigen, dass Prozesse des Habituswandels auch empirisch rekonstruierbar sind (Kramer, 2013).
4.3 Zwischenfazit
129
Versucht man abschließend auf der Basis der vorhandenen Daten noch einen weiteren Analyseschritt zu gehen und so etwas wie die kollektiven Verhaltensdispositionen der Schüler*innen als Erklärungshypothese in Anschlag zu bringen, dann fällt ein Phänomenbereich ins Auge, der sich mit dem Begriff des ‚Zeiterlebens‘ vielleicht zunächst grob umreißen lässt. Schule verbraucht ganz nüchtern gesehen die Lebenszeit Heranwachsender und dies in einem durchaus erheblichen Umfang. Obwohl – wie Lohrmann (2008, S. 202) konstatiert – Schule offenbar das „Langeweileinstitut par excellence“ für Kinder und Jugendliche darstellt, finden sich zu diesem Phänomen erstaunlich wenig schulpädagogische Überlegungen84. Unsere Rekonstruktionen legen die Deutung nahe, dass das Zeiterleben der Heranwachsenden in der Schule sehr unterschiedlich wahrgenommen wird und dass die zentrale Unterscheidungskategorie für die Bewertung des Zeiterlebens in der Sinnhaftigkeit der schulischen Aktivitäten zu suchen ist. Diejenigen Gruppen, die die schulische Aufenthaltszeit mit Sinn füllen können, stellen die Legitimität von Schule verständlicher Weise prinzipiell weniger in Frage als die Gruppen, die mit der ganzen Veranstaltung nichts anfangen können (vgl. auch Wissinger 2012). Letztere zweifeln demnach nicht an der einen oder anderen schulischen Aktivität, an dem einen oder anderen Lerngegenstand etc., sondern sie stellen Schule in Gänze in Frage, können der Schule in ihrer Totalität keinen Sinn abgewinnen und subsummieren Schule somit unter verschwendeter Lebenszeit. Unter dieser Voraussetzung – deren objektive Richtigkeit hier gar nicht Thema ist – ist der Versuch, sich der Schule systematisch zu entziehen (Teilnahmeverweigerung, Abstinenz) bzw. ihr eigene ‚Sinnstrukturen‘ zu verleihen (z. B. Spaßproduktion durch abweichendes Verhalten), eine durchaus nachvollziehbare oder sinnstiftende Strategie85. Auch hier wird man anstelle eines Entweder – Oder eher mit Abstufungen und Übergängen rechnen müssen, wie bei den Typen auch. Vergleichsweise unstrukturierte Pausenzeiten in der Schule können so vermutlich von einigen, tendenziell schulaversen Gruppen eher ‚sinnvoll‘, d. h. den eigenen Vorstellungen gemäß, genutzt werden als weitgehend vorstrukturierte Unterrichtszeiten. Aber auch zwischen den Fächern werden sich unterschiedliche Interessenlagen konstatieren und damit heterogene Sinnprovinzen identifizieren lassen. Nur im Extremfall wird die totale Sinnfreiheit von Schule zur vollständigen Verweigerung durch Abstinenz führen. Vermuten könnte man auch, dass es Bereiche in der Schule gibt, die sich als 84 Zudem sind vorhandene Überlegungen meist sehr eindimensional an einer Vorstellung von effizienter Zeitnutzung orientiert, so dass Langeweile als defizitäre Zeitform erscheinen muss. Mögliche produktive Seiten der Langeweile kommen so gar nicht erst in den Blick. Das entspricht indes auch den Darstellungen in den Gruppendiskussionen. 85 Das zeigt auch die schon angeführte frühe Studie von Willis (1979) sehr eindrücklich. 129
130
4 Erfahrungsraum Schule
‚Sinnprovinz‘ mehr eignen als andere und hier könnte der Schulsport insbesondere für die Gruppen, die mit den ‚normalen‘ schulischen Angebotsformen eher wenig anfangen können, eine potenzielle Anschlussmöglichkeit darstellen, was aber auch zu prüfen wäre. Kramer et al. (2013) argumentieren in ihrer Studie zum 7. Schuljahr in eine prinzipiell ähnliche Richtung, wenn sie dafür plädieren, einer tendenziellen Schulfremdheit mit „pädagogischen Angeboten und Offerten“ zu begegnen: „Deutlich wird, dass eine Transformation der Schulfremdheit wohl nur durch eine starke Veränderung von Lern- und Schulkulturen möglich ist, in der eine ständige Rahmenübersetzungs- und Vermittlungsarbeit zwischen den kindlich-jugendlichen Bildungsorientierungen und den schulischen Lernformaten als sinnstiftende Brückenschläge stattfindet“ (ebd., S. 286). Darauf allerdings – so eine weitere Einsicht in dieser Studie – scheint Schule nur unzureichend eingestellt86. Abschließend soll nun noch kurz auf den Zusammenhang von schulischen und außerschulischen Aktivitäten und den zugrunde liegenden Orientierungsmustern hingewiesen werden. Wie Krüger et al. (2015) in ihrer Längsschnittstudie gezeigt haben, lassen sich durchaus unterschiedliche Relationen von bildungs- und peerspezifischen Verhaltensweisen identifizieren, die sich zudem auch noch im Verlaufe der in der Studie betrachteten Sekundarstufe I wandeln können. Auffallend an unserem Sample erscheint die bereichsübergreifende Homogenität und Stabilität der Orientierungen. So ließen sich in unserer Untersuchung keine Gruppen finden, deren schulische und außerschulische Handlungsorientierungen in ihren Grundstrukturen deutlich voneinander abweichen. Gruppen, die sich von den schulischen Basisanforderungen prinzipiell distanzieren, zeigen auch in den von uns betrachteten Freizeitaktivitäten – insbesondere sportlichen Aktivitäten – kaum Neigungen zu strukturierten oder systematischen Durchführungspraktiken, während andersherum diejenigen, die sich mit den schulischen Gegebenheiten arrangieren bzw. sie auch verinnerlichen, mit einer vergleichbaren Einstellung auch an die Aufgaben herantreten, die im Freizeitbereich auf sie warten. So sind z. B. dauerhafte Vereinsaktivitäten, die ggf. noch an Konkurrenz- und Wettkampfstrukturen gekoppelt werden, und damit auch Eigenschaften wie Leistungsbereitschaft, Disziplin, Ausdauer, Verlässlichkeit abrufen, nur bei den Schüler*innen identifizierbar, die auch den Strukturen und Rahmungen schulischer Bildungsprozesse einen Sinn abgewinnen können. Wo dieser Rahmen fehlt, sind auch die Freizeitaktivitäten eher sporadisch, sprunghaft, unsystematisch und kurzlebig. 86 Die in Kap. 4.2.2 skizzierte Gruppe 13 beschreibt, wie eine solche ‚Offerte‘ im Bereich des Schulsports vielleicht aussehen könnte, indem aus Sportunterricht eine hybride Form des schulischen Sport-Angebots gemacht wird, das den Schüler*innen und ihren Orientierungen entgegenkommt.
4.3 Zwischenfazit
131
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4 Erfahrungsraum Schule
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Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive Benjamin Zander und Lara Stamm
5
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
5.1 Einleitung 5.1 Einleitung
Nachdem im vierten Kapitel für die befragten Gruppen von Schüler*innen des 7. Schuljahrs die schulbezogenen Orientierungen dargelegt wurden, folgt nun in diesem Kapitel die Rekonstruktion ihrer Orientierungen zum Sportunterricht.87 Der Blick bleibt dabei auf dieselben bereits bekannten Gruppen gerichtet und fokussiert – die Analyse fortführend – auf ein einzelnes Fach in der Schule. Unter Beibehaltung der Perspektive der Schüler*innen rückt das vorliegende Kapitel damit eine fachbezogene Wahrnehmung und Bewertung von Schule in den Mittelpunkt. Die Perspektive von Schüler*innen auf Sportunterricht ist intensiv beforscht, wobei die Untersuchungsgegenstände und methodischen Zugänge stark differieren (Bräutigam, 2011). Im Zentrum der Studien stehen dabei vor allem die Untersuchung einzelner Schüler*innen und eine individuumszentrierte Konzeption ihrer Erfahrungen im Sportunterricht, z. B. zum Umgang mit didaktisch relevanten Strukturmerkmalen wie Zielen und Inhalten. Für den Forschungsstand zur Schüler*innenperspektive stellt der vorliegende Beitrag insofern eine Erweiterung dar, als dass nicht eine Untersuchung von Einzelpersonen vorgenommen wird, sondern der Blick auf die Gruppe anhand jugendlicher Peergroups im Sportunterricht gelenkt wird. Dieser Sportunterricht steht im Kontext des 7. Schuljahrs, das für Biografien von Heranwachsenden u. a. aus folgenden Gründen besonders ist: Die dem Beitrag zugrunde liegende SpOK-Studie wurde in NRW umgesetzt (vgl. Kap. 3). Das 7. Schuljahr markiert dort das Ende der Orientierungsstufe und damit auch einen längeren Zeitraum des Übergangs zwischen der Grundschule und den Schulformen der Sekundarstufe I (Kramer, Helsper, Thiersch & Ziems, 2013). Mit dem Ende des Übergangs verbunden fungiert das 7. Schuljahr maßgeblich als
87 Die Ergebnisse der quantitativen Teilstudie zum Sportunterricht folgen in Kapitel 6. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zander und J. Thiele (Hrsg.), Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt, Sport – Gesellschaft – Kultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31348-7_5
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5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
Startpunkt einer schulformspezifischen Schulkarriere und markiert damit einen möglichen Wendepunkt in der Wahrnehmung und Bewertung von Schule. Im Rahmen eines sich nun verändernden Schulkontextes dürfte neben der Transformation bestehender auch die Genese neuer Perspektiven auf Schule möglich sein. Zudem ist das 7. Schuljahr eng mit der Pubertät und den damit einhergehenden körperlichen Veränderungen ebenso wie mit der Lebensphase der Frühadoleszenz und den damit verbundenen Entwicklungsaufgaben assoziiert (u. a. Göppel, 2011). Die Peers gewinnen als Sozialisationsinstanz an Relevanz und nehmen zunehmend mehr Einfluss auf die Schulkarriere (Krüger, Deinert & Zschach, 2012). Allgemein kann dem 7. Schuljahr eine besondere Stellung in Schüler*innenbiografien zugesprochen werden, wobei im Folgenden darauf eingegangen werden soll, inwieweit dies auch den Sportunterricht betrifft. Das 7. Schuljahr liegt in einer Lebensphase, welcher für die Ausprägung und Aufrechterhaltung von Sport- und Bewegungspraktiken (oder auch deren Abbruch) eine zentrale Bedeutung zukommt (u. a. Burrmann, 2005). Zumindest lassen sich im organisierten Vereinssport erste Einbrüche in der Partizipation verzeichnen (u. a. Mutz & Burrmann, 2015). Auch der Sportunterricht dürfte sich verändern, was aber noch nicht differenziert untersucht wurde. Erste Ergebnisse qualitativer Studien zum Schulsport lassen vermuten, dass im Sportunterricht der Sekundarstufe I das eher spielerische Sich-Bewegen der Primarstufe zunehmend mehr in einen Vollzug von Sportarten überführt wird (u. a. Hunger, 2000). Zudem ergeben sich durch eine leistungsbezogene und sozialstrukturelle Selektion der Schüler*innenschaft schulformspezifische Bedingungen für den Sportunterricht, z. B. lassen sich aus Schüler*innenperspektive deutliche Unterschiede im Sportunterricht an Hauptschulen und Gymnasien in Form einer mehr emotions- bzw. mehr leistungsfokussierten Ausrichtung aufzeigen (Theis, 2010). Vor dem Hintergrund dieser ersten Ergebnisse dürfte auch der Sportunterricht im 7. Schuljahr eine besondere Stellung in Schüler*innenbiografien einnehmen. Die Wahrnehmung und Bewertung des Sportunterrichts lässt sich jedoch noch tiefergehend untersuchen, insbesondere unter Berücksichtigung der Perspektive jugendlicher Peergroups. Vor dem Hintergrund dieser hier nur grob skizzierten Ausgangslage steht im Mittelpunkt des Beitrags die Forschungsfrage, welche kollektiven Orientierungen sich bei jugendlichen Peergroups des 7. Schuljahrs gegenüber ihrem Sportunterricht zeigen. In Anlehnung an Überlegungen einer praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack, 2017) sind kollektive Orientierungen kollektiv geteilte Wissensbestände, die mit bestimmten Praktiken im Unterricht einhergehen bzw. als Wissenselemente für Gruppen im Sportunterricht handlungsorientierendes Potenzial haben, also auch die Praxis des Sportunterrichts mit hervorbringen.
5.1 Einleitung
135
Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurden mithilfe der dokumentarischen Methode (Bohnsack, 2010) die kollektiven Orientierungen der 16 befragten Gruppen zum Sportunterricht über komparative Fallanalysen in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden erfasst (vgl. Kap. 3). Auf Basis der Fallanalysen wird mit dem vorliegenden Beitrag das Anliegen verfolgt, eine sinngenetische Typologie kollektiver Orientierungen darzulegen. Die kollektiven Orientierungen werden als gruppenspezifische Orientierungsmuster fall- bzw. gruppenbezogen beschrieben und auf einer höheren Abstraktionsstufe in folgenden vier gruppenübergreifenden Orientierungstypen systematisch gebündelt: • • • •
Beziehung Autonomie Leistung Entwicklung
Im Zentrum des Kapitels steht die Beschreibung dieser vier sportunterrichtsbezogenen Orientierungstypen. Alle Orientierungstypen fokussieren auf kollektiv geteilte Bedeutungs- und Relevanzzuschreibungen jugendlicher Peergroups gegenüber der Handlungspraxis des Sportunterrichts. Im Anschluss an die Beschreibung jedes einzelnen Typs wird er in zweifacher Weise eingeordnet und diskutiert: Erstens wird jeder Typ mit den bereits in Kapitel 4 beschriebenen schulbezogenen Orientierungstypen in Verbindung gebracht. Hierzu wird für einzelne ausgewählte Gruppen herausgearbeitet, ob sie ihrem Sportunterricht ähnliche Bedeutungen und Relevanzen wie der Schule zuschreiben. Bezugnehmend auf eine übergeordnete Fragestellung des DFG-Projekts (vgl. Kap. 1 und 2) soll mit einer solchen Relationierung geprüft werden, inwieweit in sportunterrichtlichen Orientierungen schulische Orientierungen fachspezifisch bestätigt, modifiziert oder negiert werden. Durch eine verschränkende Relationierung sportunterrichtlicher und schulischer Wissensbestände lassen sich Ergebnisse beider Typologien wechselseitig validierend schärfen und systematisch auf eine allgemein schulische bzw. sportunterrichtliche Handlungspraxis und damit einhergehende schul- und fachkulturelle Felder beziehen. Als ein Ergebnis dieser Relationierung kann schon an dieser Stelle festgehalten werden, dass für den Großteil der Gruppen schulbezogene Wissensbestände auch im Sportunterricht im Sinne allgemein institutioneller Rahmungen fungieren und als positive Gegenhorizonte in sportunterrichtlichen Orientierungen vorzufinden sind. Die schulische Ausrichtung sportunterrichtlicher Orientierungen folgt dabei der Relevanz bzw. Nicht-Relevanz von Schule. Die sportunterrichtlichen Orientierungen sind dennoch in ihren Variationen nicht vollständig durch schulbezogene 135
136
5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
Orientierungen präformiert, da vor allem auch sportbezogenes Wissen aus der Freizeit hohen Einfluss auf die Ausprägungen sportunterrichtlicher Orientierungen hat (vgl. Kap. 5.3). Im vorliegenden Beitrag werden die Homologien oder auch punktuellen Divergenzen zwischen sportunterrichtlichen und schulischen Orientierungen/Wissensbeständen über die Beschreibung ihrer soziogenetischen Strukturen im Ansatz erklärbar, z. B. über die Schulformzugehörigkeit. Zweitens sollen im Beitrag die vier gruppenübergreifenden Orientierungstypen hinsichtlich ihrer Soziogenese untersucht werden. Den Orientierungstypen gehen soziohistorische Rahmungen und vorgelagerte Einbettungen in gesellschaftliche Kollektive voraus, die es in Form soziogenetischer Wissensstrukturen zu rekon struieren gilt. In diesem Zusammenhang sollen zu den Orientierungstypen erste Anschlussstellen für die Entwicklung einer soziogenetischen Typologie vorgelegt werden. Diese Anschlussstellen greifen u. a. die Frage auf, inwieweit die in Kapitel 4 beschriebene zentrale Gewichtung der Schulformspezifität für das Handeln im Rahmen von Schule auch für den Sportunterricht zu bestätigen oder zu widerlegen ist. An dieser Stelle soll bereits eine erste Antwort auf diese Frage vorweggenommen werden: Anders als die Orientierungen zur Schule allgemein sind die kollektiven Orientierungen zum Sportunterricht zwar auch maßgeblich schulformspezifisch, jedoch variieren sie stark geschlechtsspezifisch in Form einer in Teilen geschlechtsspezifischen Passung des Sportunterrichts zu den außerschulischen Sporterfahrungen der Heranwachsenden. Bevor nun auf die sinngenetische Typologie und die soziogenetischen Anschlussstellen näher eingegangen wird, sollen zu Beginn des Kapitels die theoretischen Grundannahmen für diese Typenbildung skizziert werden.
5.2
Theoretische Grundannahmen
5.2
Theoretische Grundannahmen
Die theoretischen Grundannahmen der Typenbildung resultieren zum einen aus den metatheoretischen Kategorien der dokumentarischen Methode, die eine wissenssoziologische Perspektive auf das Untersuchungsfeld eröffnen, zum anderen aus den mit der projektspezifischen Forschungsfrage verbundenen theoretischen Bezügen zur Schul-, Jugend- und Peerforschung, die eine theoretische Sensibilität zur näheren Konturierung des Untersuchungsfelds ermöglichen. Diese beiden noch recht allgemeinen Stränge theoretischer Grundannahmen werden in den Kapiteln 2, 3 und 7 des Sammelbands dargelegt, sodass an dieser Stelle insbesondere auf die gegenstandskonstituierenden Setzungen sportunterrichtlicher Orientierungen näher eingegangen werden soll.
5.2 Theoretische Grundannahmen
137
Normativ betrachtet – z. B. vonseiten fachdidaktischer Konzepte (Aschebrock & Stibbe, 2013; Balz, 2009) und curricularer Vorgaben (für NRW z. B. MSW, 2014) – soll im Sportunterricht ‚Sport‘ unter einer schulischen Logik (‚Unterricht‘) thematisiert werden. Im Kontext einer „Versportlichung der Gesellschaft und Entsportung des Sports“ (Cachay, 1990, S. 97) wird Sport von Heranwachsenden nicht nur in der Schule praktiziert, sondern vor allem in der Freizeit. Auch wenn die Bezüge Heranwachsender zum Sport gerade vor dem Hintergrund eines weiten Sportbegriffs als ‚Bewegung, Spiel und Sport‘ sehr unterschiedlich sein dürften, können Teile des Phänomens Sport, teilweise eingelagert in andere Alltagspraktiken, als bekannt vorausgesetzt werden. Für die Schüler*innen folgt daraus, dass sie mit dem thematischen Angebot eines Sportunterrichts nicht nur vor dem Hintergrund ihrer allgemeinen Voraussetzungen umgehen, sondern dass sie das Angebot unter Einbezug ihrer sportspezifischen Vorerfahrungen annehmen, umsetzen bzw. mit hervorbringen. Mit Blick auf das Lebensalter der befragten Heranwachsenden gehen wir davon aus, dass sportive Praktiken omnipräsent sind und zu einer Art „jugendspezifischer Altersnorm“ (Zinnecker, 1989, S. 136) gehören. Je älter die Heranwachsenden werden, desto stärker ist auch davon auszugehen, dass sie ihre sportbezogenen Kompetenzen, Vorstellungen und Orientierungen nicht nur in der Schule, sondern vor allem außerhalb von ihr erworben haben (Kurz, 2010). Schüler*innen der 7. Jahrgangsstufe, die im Rahmen der SPRINT-Studie befragt wurden, bestätigten mehrheitlich, dass sie im Sportunterricht von ihren sportlichen Vorerfahrungen profitieren (vgl. zur Thematik Kap. 6; Burrmann, 2015; Gerlach et al., 2006), was vermuten lässt, dass der außerschulische Sport auf das Handeln im Unterricht orientierend wirkt. Dem Handeln jugendlicher Peergroups im Sportunterricht dürften demnach nicht nur allgemein schulische, sondern auch sportive Orientierungen aus außerschulischen Kontexten zugrunde liegen. Formal betrachtet sind schulische Orientierungen vor allem ein institutionsbezogenes Wissen zum Umgang mit schulischen Normen, Rollen und Regeln. Sportive Orientierungen berücksichtigen vor allem sachbezogenes Wissen zur Deutung und Hervorbringung des (außerschulischen) Phänomens Sport. Wissen über Sport und Schule wird von uns als zwei konstitutive Elemente für sportunterrichtsbezogene Orientierungen von Schüler*innengruppen verstanden, wobei an dieser Stelle nicht festgelegt wird, was die Elemente inhaltlich ausmacht bzw. wie sie sich auf Basis einer „hybriden Kontextur“ des Sportunterrichts (Schierz, 2012, S. 281) näher bestimmen lassen. Trotz formaler Gegenstandssetzungen ist es unser Anliegen auch zu prüfen, inwieweit in den sportunterrichtlichen Orientierungen – in noch empirisch zu rekonstruierender Weise – weitere Elemente enthalten sind, die nicht im Vorfeld der Studie antizipiert 137
138
5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
wurden. Die Analyse ist damit ‚offen‘ für die Relevanzen der Peergroups und für unterschiedliche Konstruktionen des Sportunterrichts. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, werden sportunterrichtsbezogene Orientierungen in Anlehnung an Bohnsack (2017) als implizit und/oder explizit verfügbare Wissensbestände über die Praxis des Sportunterrichts verstanden. Diese Wissensbestände haben eine handlungsorientierende Funktion und umfassen dabei explizite Orientierungsschemata (z. B. Regeln im Sport) und implizite Orientierungsrahmen (z. B. wettkampfsportaffiner Habitus). Orientierungsschema und -rahmen sind als zwei wechselseitig verschränkte Komponenten zu denken, die in verschiedenen, auch spannungsvollen Verhältnissen zueinanderstehen. Das handlungsorientierende bzw. -leitende Wissen zum Sportunterricht wird wie folgt empirisch identifiziert und in seiner Genese eingeordnet: a) Verbalisierte Erfahrungen der Befragten aus dem Sportunterricht, die v. a. mit vorgängigen Erfahrungen aus dem Sportunterricht, aus anderen Bereichen von Schule oder der Freizeit in Zusammenhang stehen. b) Beschreibungen und Erzählungen der Befragten von Handlungen im Sportunterricht, die ebenfalls mit sportunterrichtsinternen und -externen Rahmungen einhergehen können. Insgesamt verweisen die in diesem Kapitel rekonstruierten sportunterrichtlichen Orientierungen auf ein Erfahrungswissen über Sportunterricht in Form kollektiv geteilter Strukturen der Einordnung von unterrichtlichen Erlebnissen. Ausgehend von dem rekonstruierten Erfahrungswissen über Sportunterricht zeigt sich dann im vorliegenden Kapitel auch das Verhältnis von Schüler*innengruppen zum Sportunterricht. Das Verhältnis begreifen wir dabei weniger statisch und strukturell bedingt, sondern stärker dynamisch als ein sich in Praktiken konstituierender Passungsprozess. Hierzu wird angenommen, dass alle Heranwachsenden durch Schule aufgefordert sind, ihren ‚Job‘ als Schüler*in zu machen (Breidenstein, 2006). Schüler*innen ‚lernen‘ folglich die Ko-Konstruktion von Unterricht, wobei aus dem Zusammenspiel primärer und sekundärer Sozialisation (Helsper, Kramer & Thiersch, 2014) kollektivspezifische Resultate einer kulturellen Passung zwischen den Handlungsanforderungen des Sportunterrichts mit den außerschulisch erworbenen (z. B. auch sportiven) Orientierungsmustern der Schüler*innen zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang lässt sich zudem annehmen, dass die Herstellung und Form der Passung nicht nur in Abhängigkeit von spezifischen Schüler*innenkollektiven, sondern auch bezüglich der jeweils spezifischen Anforderungen auf der ‚Vorder- und Hinterbühne‘ des Unterrichts variiert (Wagner-Willi, 2005). Um diesen ‚feinen‘ Unterscheidungen zwischen den am Passungsprozess beteiligten Elementen gerecht zu werden, richten wir in diesem Kapitel unter Bezugnahme auf theoretische Überlegungen einer praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack,
5.3 Sinngenetische Typologie
139
2017) den Blick auf die in den Gruppendiskussionen mitgeteilte Herstellungspraxis des Sportunterrichts und die darin enthaltenen kollektiv geteilten Wissensbestände.
5.3
Sinngenetische Typologie
5.3
Sinngenetische Typologie
Ein wesentliches Ergebnis der Auswertungen ist, dass sich einerseits innerhalb der Peergroups relativ homogene Orientierungen in Bezug auf den Sportunterricht herausbilden, diese aber andererseits stark zwischen den Peergroups differieren. Die zur Fallrekonstruktion und Typenbildung verwendete dokumentarische Methode fokussiert mittels komparativer (fallinterner und fallexterner) Analyse darauf, den Kontrast in der Gemeinsamkeit zu suchen (Bohnsack, 2010). Die sportunterrichtlichen Orientierungen der befragten Gruppen von Schüler*innen des 7. Schuljahrs lassen sich erst unter Berücksichtigung ihrer Gemeinsamkeiten verstehen und systematisch als Orientierungstypen auf abstrakter Ebene unterscheiden. Aus diesem Grund werden zu Beginn des Kapitels die Gemeinsamkeiten beschrieben und anschließend die einzelnen Orientierungstypen dargelegt. Über das Gemeinsame in den sportunterrichtlichen Orientierungen rückt der Sportunterricht als ein „konjunktiver Erfahrungsraum“ (Bohnsack, 2017, S. 104) in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dieser Erfahrungsraum ist durch einen existenziellen Erlebniszusammenhang, welcher von allen befragten Gruppen strukturidentisch erfahren wird, gekennzeichnet. Der Erlebniszusammenhang lässt sich über drei eng miteinander verbundene Aspekte fassen. Erstens kann in der Studie eine relativ geringe Relevanz des Fachs Sport für die Lebenswelt der befragten Schüler*innengruppen des 7. Schuljahrs rekonstruiert werden.88 Sportunterricht hat für die Genese der Peergroups, ihre Gruppenidentität und ihre Aktivitäten eine geringe Relevanz, was vor allem daran deutlich wird, dass er in den Gruppendiskussionen im Vergleich zu anderen Themen selten selbstinitiiert angesprochen wurde. Stattdessen werden sportunterrichtliche Relevanzen zumeist von den Heranwachsenden erst auf exmanente und konkrete Nachfragen hin – also unter Einbezug der Orientierungen der Diskussionsleiter*innen – im Gespräch konstruiert. Die dabei explizit formulierten Bedeutungen des Sportunterrichts stehen zwar für z. T. positive und weitreichende Wirkungen (bspw. Gesundheitsförderung), sie sind aber oft formelhaft verkürzt und weisen selten 88 Diese Aussage ist an dieser Stelle erst einmal unabhängig vom Sport in der Freizeit zu betrachten; dem Freizeitsport kann allgemein eine durchaus größere Bedeutung zugeschrieben werden, wenngleich dieser Befund nicht für alle Gruppen gilt (vgl. Kap. 7). 139
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5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
über die räumlichen-sozialen-zeitlichen Grenzen des Unterrichts hinaus. Aus der Perspektive der Befragten existiert der Sportunterricht damit vor allem selbstreferenziell und nimmt kaum Einfluss auf die Biografien der Schüler*innen (vgl. hierzu ausführlich Blotzheim, 2006). Die relativ geringe Relevanz des Sportunterrichts für die Lebenswelten von Peergroups korrespondiert mit einer Überlagerung des Fachs durch in ihrer Sicht ‚wichtigere‘ Themen, wie der nächste Aspekt verdeutlicht. Zweitens zeigt die Auswertung der geschilderten Erlebnisse aus dem Sportunterricht, dass dem Sportunterricht fallübergreifend eine explizite Bezugnahme auf einen eigenständigen Bildungsauftrag im Sinne einer gezielten Vermittlung fachspezifischer Unterrichtsgegenstände fehlt. Der Sinn des Handelns im Sportunterricht ist stattdessen häufig direkt an andere Instanzen wie den außerschulischen Sport oder andere Fächer gekoppelt. Diese Instanzen fungieren im Sportunterricht als (teils implizit) importierte Kontexte oder stellen über explizite Vergleiche positive und negative Gegenhorizonte für die Orientierungen der Peergroups dar. Zum Beispiel wird der Sportunterricht oft mehr oder weniger als das ‚geringste Übel‘ im Schulalltag gesehen. Verglichen mit etwas Schlechtem erscheint den Peergroups das Mittelmäßige gut. Ganz getreu dieser Devise wird Sportunterricht häufig erst im Vergleich zu den anderen Fächern zu einem beliebten Teil der Schulwelt stilisiert, der aufgrund seiner strukturellen Ausrichtung (z. B. andere Räume/Materialien, körperliche Bewegungen, verdichtete Peerinteraktionen) als die ‚gangbarste‘ Form von Unterricht bewertet wird. Trotz positiver Bewertungen wird Kritik am Sportunterricht in einem Großteil der Fälle in expliziter Weise formuliert, wobei sich die Kritik u. a. aus dem Rückgriff auf außerschulische Sporterfahrungen speist. Auf Basis unserer Fallrekonstruktion ist im Hinblick auf die sportunterrichtliche Handlungspraxis von einer Sinndiffusion auszugehen, wie dies anhand des dritten Aspekts deutlich wird. Drittens lässt sich bei den befragten Peergroups ein Wissen über die Möglichkeit der Enaktierung bzw. Verwirklichung kollektiv geteilter Orientierungen rekonstruieren. Die Praxis des Sportunterrichts ist für sie eine Spielfläche zur Umsetzung gruppenspezifischer Orientierungen. Diese Spielfläche wird durch verschieden gewichtete Relationen zu den drei ‚externen‘ Bezugspunkten Freizeitsport, Schule und Peergroup geprägt (vgl. hierzu ausführlich Zander, 2018). Besonders das Wissen aus dem außerschulischen Sport hinterlässt im Sportunterricht implizite und explizite Spuren, es evoziert eine punktuelle Transformation schulischer Sinnordnungen und ermöglicht schlussendlich fachspezifische Praktiken. Eine dieser Praktiken, die als Orientierungswissen rekonstruiert werden kann, ist, dass die befragten Gruppen im Sportunterricht danach streben, ihre intern geteilten Orientierungen zu verwirklichen und ihre (sportiven) Vorstellungen, Wünsche oder Interessen aufrechtzuerhalten. Wird dies nicht oder nicht in vollem Maß erreicht, werden
5.3 Sinngenetische Typologie
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schnell einzelne Akteur*innen des Unterrichts (Lehrkräfte, Mitschüler*innen, Schüler*innengruppen) oder ihre Handlungen (z. B. didaktische Entscheidungen und konkrete Verhaltensweisen) als Hindernis betrachtet. Das kann offen konflikthaft auf der Vorderbühne des Unterrichts und/oder eher verdeckt vor der Lehrkraft auf der Hinterbühne geschehen. Die Verwirklichung kollektiv geteilter Orientierungen erfolgt kurzfristig und situationsspezifisch, aber reicht auch dauerhaft und strukturbildend so weit, dass einzelne Schüler*innen sich dem Unterricht durch eine nur passive Teilhabe komplett entziehen, wobei in den Gruppendiskussionen einige Peergroups auch explizit kommunizieren, dass ihre Orientierungen durch die Verwirklichung andersgelagerter Orientierungen nicht realisierbar sind. Zusammengefasst verdeutlichen die drei miteinander verbundenen Aspekte, dass aus der Perspektive jugendlicher Peergroups der Sportunterricht ein ambivalenter Erlebniszusammenhang ist, da er Offenheit für gruppenspezifische Orientierungen bietet, aber diese mit unterschiedlichen externen Sinninstanzen verknüpft. Zudem wird diese prinzipielle Offenheit auf der konkreten Handlungsebene begrenzt, weil sich mehrere Peergroups zeitgleich in den Unterricht einbringen und die gruppenspezifischen Orientierungen nicht zwangsläufig kompatibel sind. Die Schüler*innengruppen des 7. Schuljahrs teilen als zentrale Gemeinsamkeit ein Wissen über diesen ambivalenten Erlebniszusammenhang. Die Verarbeitung der Erlebnisse auf expliziter und impliziter Wissensebene kann dabei als ‚Effekt‘ einer Sozialisation durch Sportunterricht in Abhängigkeit von u. a. den sozialen Zugehörigkeiten der Schüler*innen (z. B. Schulform) durchaus sehr unterschiedlich ausfallen, wie dies in den vier verschiedenen Orientierungstypen zum Ausdruck kommt, welche nachfolgend dargelegt werden.
5.3.1 Beziehungsbezogener Orientierungstyp Dieser Orientierungstyp fokussiert im Sportunterricht auf die Beziehungen zwischen Schüler*innen und den Umgang der Schüler*innen miteinander. Einzelne Schüler*innen der befragten Gruppen agieren innerhalb des Klassenverbands auf Basis einer stark ausgeprägten Beziehungsorientierung fast ausschließlich mit befreundeten Mitschüler*innen und/oder im Rahmen ihrer Peergroup. Dabei stehen Wissensbestände über Aufnehmen, Ausleben und Ausbauen von Peerbeziehungen im Mittelpunkt. Die Beziehungsorientierung wird über eine gegenwartserfüllende Auslegung der Themen des Sportunterrichts prozessbezogen ausgelebt. Hierbei wird weniger das Thema selbst, sondern der innere und äußere Beziehungszusammenhang der Gruppe bearbeitet. Die Gruppen reproduzieren ihre Freundschaften und/oder Peergroups, wobei sie sich zum einen an der Umdeutung oder Negierung 141
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von schulischen oder sportiven Erwartungen und zum anderen im wechselseitigen Verhältnis zu anderen Gruppen, Mitschüler*innen oder den Sportlehrer*innen an Abgrenzung bzw. Distinktion orientieren. Der beziehungsbezogene Orientierungstyp wurde bei zwei Gruppen des Samples rekonstruiert (Gruppe 2 & 10). Im Folgenden soll er über eine fallübergreifende Kurzbeschreibung näher in Bezug auf seine Wissensbestände und unterrichtliche Handlungspraxis bestimmt werden. Anschließend wird er fallspezifisch für die zwei Gruppen präzisiert. Danach werden die Bezüge zur Schultypologie und Anschlussstellen seiner Soziogenese diskutiert.
Fallübergreifende Kurzbeschreibung des Orientierungstyps (Gruppen 2 & 10) Die Beziehungsorientierung dokumentiert sich bei beiden Gruppen in der hohen Relevanz der Mitschüler*innen, im personenbezogenen Wissen über sie, in mehr oder weniger explizit geteilten Wertvorstellungen bezüglich des Umgangs miteinander, in einem ähnlichen Humor oder auch in der Durchsetzung gemeinsamer Interessen als Peergroup. Mit Blick auf den Sportunterricht geht die Beziehungsorientierung z. T. auch mit antischulischen und antisportiven Orientierungsschemata einher, die wiederum von befreundeten Mitschüler*innen und/oder Peergroups geteilt werden. Das Geschehen auf der Vorderbühne des Unterrichts wird nicht dazu genutzt, etwa schulischen Erwartungen oder institutionellen Vorgaben gerecht zu werden, vielmehr wird die sportunterrichtliche Logik auf der Vorderbühne im Sinne der Beziehungsorientierung zweckentfremdet und der Hinterbühne angeglichen. Getreu der Devise ‚Wir machen hier unser eigenes Ding‘ konstruiert die Peergroup gegenwartserfüllende Situationen zu ihren Themen und distanziert sich auf diese Weise von einer zielgerichteten auf Lernergebnisse ausgerichteten Unterrichtung. Das Verhältnis zwischen den Gruppen von Schüler*innen und ihrem Sportunterricht kann als subversiv bezeichnet werden, da die Orientierung nicht auf Schule und/oder Sport, sondern auf die Peergroup gerichtet ist, welche in den untersuchten Fällen andere Interessen als Schule und Sport verfolgt. Auf Basis der hohen Beziehungsorientierung parallelisieren die Gruppen die Anforderungen auf der Vorder- und Hinterbühne und schaffen sich dadurch ihre ‚eigene‘ Subsinnwelt. Diese Subsinnwelt ermöglicht ihnen eine selbstbestimmte, teilweise auch bewegungsaktive Teilnahme am Unterricht (vgl. autonomiebezogener Orientierungstyp), bei der sie sich zwar am Unterrichtsgeschehen aktiv beteiligt zeigen, aber die Ebene der Beschulung und den Kontext einer hierarchischen Interaktion zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen verlassen. Gruppen dieses Orientierungstyps partizipieren so am Unterricht, wie es ihnen gefällt bzw. wie es mit ihrer
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Beziehungsorientierung kompatibel ist. Insbesondere in solchen Momenten lassen sich synergetische Passungen zwischen Schule und außerschulischer Lebenswelt rekonstruieren. Jedoch steht für die Gruppen, die dem beziehungsbezogenen Orientierungstyp zugeordnet werden können, die Teilnahme am Unterricht im Grunde zur Disposition. Häufig verweigern sie den Sportunterricht, bleiben ihm fern oder nehmen beobachtende Zuschauer*innenrollen ein. Aufgrund der peerorientierten Erlebnisse, der tendenziell geringen oder gar negativen Erfahrungen mit Sport im Sportunterricht, die u. a. auch aus einem engen Leistungsverständnis sowie einem einseitigen Inhaltsangebot resultieren dürften, verfestigt sich die fehlende Passung zwischen schulischen und außerschulischen Sportangeboten, die über eine Kluft hinaus bis zur sukzessiven Auflösung sportiver Erfahrungsräume in Schule und Freizeit reichen kann. Überall, wo es Sport gibt, sind sie nicht mehr dabei.
Fallbeispiel Gruppen 2 und 10: Orientierungsmuster am sozialen Entertainment Eine Variante des beziehungsbezogenen Orientierungstyps fokussiert auf soziales Entertainment im Kreis der Peers. Dieses Orientierungsmuster am sozialen Entertainment kann für zwei Fälle (Gruppen 2 & 10) rekonstruiert werden. Für diese zwei Fälle ist die Peergroup der zentrale Referenzpunkt des Handelns im Sportunterricht, wie im Folgenden näher erläutert wird. Für die Gruppe 2 und 10 kann der Sportunterricht die schulischen Rahmungen aufbrechen und die negative Sicht der Heranwachsenden auf Schule bzw. ihre negative Bewertung reduzieren. Das sportunterrichtliche Handeln der Gruppen bleibt am positiven Gegenhorizont einer negativen Gesamteinschätzung von Schule orientiert. Als Teil des Gesamtsystems Schule bzw. vor dem Hintergrund einer negativ-konfrontativen antischulischen Orientierung erhält der Sportunterricht eine positive Bedeutung als das geringste Übel im Schulalltag. Gründe dafür, dass Sportunterricht anders als die anderen Fächer eingestuft wird, liegen u. a. in der erhöhten Möglichkeit zur Peerkommunikation. Einzelne Gruppen nutzen den Sportunterricht für intensive soziale Beziehungen zu den Mitschüler*innen, sodass für sie während des Unterrichts das Thema Sport oder ein Erleben schulischer Anforderungen kaum noch relevant ist, wie dieses Zitat der Gruppe 10 zeigt: Cw: In verschiedenen Gruppen sind wir dann halt immer, und da hat man dann auch immer voll viel Spaß (.), weil man da halt so lachen kann und so und der Lehrer ist auch eigentlich ganz nett.
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Die Gelegenheit, Gruppenbeziehungen auszuleben, wird von Schüler*innen mit einer hohen Beziehungsorientierung ergriffen, die miteinander auch als Peergroups durch z. B. gemeinsame Interessen verbunden sind. Insbesondere aus solchen Peergroups heraus können v. a. auf der Hinterbühne des Sportunterrichts Aktivitäten entstehen wie Lachen oder Kommentieren, die dem zentralen Handlungsgeschehen auf der Vorderbühne einen anderen Sinn geben. Die Peergroup erzeugt dadurch für sie spaßhafte Erlebnisse im Unterricht, die im Sinne eines Entertainments einer gegenwartsfokussierten Bedürfnisbefriedigung dienen. Insbesondere ein öffentlich sichtbares Scheitern von Mitschüler*innen an den Bewegungsvorgaben der Lehrkraft bietet der Peergroup einen Anlass für ihre Binnenkommunikation, wie dieses Zitat der Gruppe 2 zeigt: Bw: Manche fliegen ja auch auf die Fresse. @ [...] Das ist auch witzig. Wenn man irgendwas spielt, zum Beispiel Basketball oder Fußball [...]
Aw: Vorhin im Sportunterricht da sollten wir `n Radschlag versuchen. Dann sah das auch voll lustig aus, wie wir das dann gemacht haben. Haben wir alle einfach nur noch gelacht.
Das Orientierungsmuster am sozialen Entertainment dürfte in Teilen schulformspezifisch ausgeprägt sein, da es bislang nur bei zwei Hauptschulgruppen (Gruppen 2 & 10) identifiziert wurde. Bei beiden Gruppen zeigt sich eine stark ausgeprägte Beziehungsorientierung, die deutlich macht, dass für sie die Peergroup fächerunabhängig in der Schule und auch in der Freizeit die dominante Bezugsgruppe ist, was in dieser Form bei Gymnasialgruppen nicht rekonstruiert werden konnte. Insbesondere das Verhältnis der Gruppen zu schulischen Leistungsanforderungen macht hier die Schulformspezifik aus. Für beide Hauptschulgruppen wird ein Scheitern an schulischen Bewegungsanforderungen nicht als ein solches gerahmt, während es in Gymnasialgruppen so verstanden wird und eingebunden ist in z. B. eine Kritik an der Lehrkraft bzw. an den von ihr gestellten zu hohen oder unangemessenen Anforderungen. Die Orientierung am sozialen Entertainment geht zudem bei den beiden Gruppen mit einer (häufigen) Verweigerung der körperlich aktiven Teilnahme am verpflichtenden Sportunterricht einher. Das heißt, dass auch zentrale schulische Leistungsanforderungen nicht immer erfüllt werden. Während sich die befragten Gymnasialgruppen des Samples durchaus auch an Konsequenzen wie etwa einer schlechten Benotung orientieren, fällt bei den beiden Hauptschulgruppen auf, dass ihnen zwar schulische Vorgaben, Regeln und Normen
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für den Sportunterricht bekannt sind, diese aber kaum als handlungsorientierend thematisiert werden.
Bezüge zur Schultypologie und Anschlussstellen der Soziogenese Der beziehungsbezogene Orientierungstyp kann bezüglich seiner Soziogenese u. a. auf die Negation schulischer Relevanz (in Form einer latenten oder offensiven Entschulung) zurückgeführt werden. In der Negation von Schule wird eine hauptschulspezifische Orientierung erkennbar, die als Reaktion auf die Problemlage der Hauptschüler*innen allgemein verstanden werden kann (Wellgraf, 2012) und milieutheoretisch gesprochen auf einen konjunktiven Erfahrungsraum verweist: Die schul- und berufsbezogene Perspektivlosigkeit – bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Stigmatisierung – steigert die Attraktivität der Peergroup als zentrale Bezugsgruppe, da die Schüler*innen hier Selbstwirksamkeit und Anerkennung erleben. Vor diesem Hintergrund kann die Soziogenese des beziehungsbezogenen Orientierungstyps auch auf eine im Rahmen der schulischen Sozialisation der Hauptschüler*innen nicht stattgefundene Inwertsetzung schulischer Bildung zurückgeführt werden. Zugleich ist von einer Enaktierung der Orientierung an Beziehung im Rahmen von Schule auszugehen. So verläuft die Konstruktion der Schule als Peerwelt für die befragten Peergroups unproblematisch, zumindest werden aus ihrer Perspektive keine größeren Widerstände oder weiterreichende Konsequenzen durch z. B. Lehrer*innen beschrieben. Auf diese Weise bestärkt die Teilnahme an Schule die Genese einer spezifischen Variante der Beziehungsorientierung im Sinne einer Orientierung an der Peergroup. Die Genese einer beziehungsbezogenen Orientierung lässt sich jedoch auf Fachebene des Sportunterrichts nicht vollständig durch die Schulebene und gesellschaftliche Stellung der Hauptschulbildung erklären. Sie hat auch fachspezifische Ausprägungen. So liegt ihr als sportunterrichtsbezogene Orientierung eine fehlende Passung des Sportunterrichts zum außerschulischen Sport zugrunde, was zugleich auch als ein Hinweis auf die Geschlechtsspezifität des Typs gedeutet wird. Bisher wurde der beziehungsbezogene Orientierungstyp für den Sportunterricht nur bei Schülerinnen von Hauptschulen identifiziert, was sich über weitere Fallvergleiche unter Einbezug des Samples und vor allem auch unter Bezugnahme auf den Forschungsstand zu ihrer Sportsozialisation plausibilisieren lässt. Die Sportsozialisation von Hauptschülerinnen ist häufig durch eine komplexe Konstellation hemmender Faktoren gekennzeichnet (Frohn, 2007). Hemmende Faktoren in der Sozialisation zum Sport, wie z. B. Sport als männliche Domäne, Geschlechterkonstruktionen im Sport oder Sport als komparatives System, können als ein Erklärungsansatz dafür gesehen werden, dass die sportive Logik des Sportunterrichts einige Hauptschülerinnen nicht erreicht und sie stattdessen nach 145
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alternativen Aktivitäten und Sinnzuschreibungen suchen (Entertainment statt Sporttreiben). Unter Bezugnahme auf den Forschungsstand zur Sportsozialisation und im Kontrast zu sportunterrichtlichen Orientierungen von männlichen Hauptschulgruppen (vgl. hierzu auch den leistungsbezogenen Orientierungstyp, Kap. 5.3.3) können im koedukativen Sportunterricht der Hauptschule gerade männlich gerahmte Ausdeutungen des Sports dominieren und machtvolle Erlebnisstrukturen für Schülerinnen darstellen, die die Genese der Beziehungsorientierung begünstigen und anteilig dafür sorgen dürften, dass die Mädchengruppen kaum vom Unterricht im Sinne eines sportbezogenen Bildungsangebots profitieren. Dies ist insofern relevant, weil der Sportunterricht als verpflichtendes Angebot oft der einzige Ort ist, an welchem die Mädchen z. B. über motorische Eigenrealisationen in Kontakt zur Sportkultur treten. Das männlich konnotierte Unterrichtsangebot betrifft damit nicht nur eine sportbezogene Teilnahme am Sportunterricht, sondern wirkt sich mittelbar über körperbezogene Erlebnisse auch auf eine Teilnahme an der außerschulischen Sportkultur aus. Insgesamt zeigt sich bei beiden Gruppen eine fehlende Passung zwischen sportiven Vorerfahrungen und sportunterrichtlichem Angebot, was nur punktuell durch positive Momente in seiner Regelhaftigkeit durchbrochen wird. Über die Beziehungsorientierung der Gruppen kann sich diese fehlende Passung weiter verfestigen und mit einer zunehmenden Distanzierung der Hauptschülerinnen von schulischen und auch außerschulischen Sportangeboten einhergehen, da die starke Ausrichtung des Handelns am positiven Gegenhorizont der Peergroup zugleich in eine hohen Abhängigkeit der Jugendlichen von ihren sportnahen oder auch sportfernen Peers mündet (Zander, 2016). In weiterführenden Untersuchungen könnten diese Prozesse in einer Geschlechterspezifik über eine Kontrastierung der Perspektiven von männlichen und weiblichen Hauptschulgruppen vertieft untersucht werden. Die Ergebnisse der vorliegenden SpOK-Studie verweisen zwar innerhalb der Schulformspezifität auf eine geschlechtsbezogene Differenzierung der Soziogenese des beziehungsbezogenen Orientierungstyps, aber inwiefern der beziehungsbezogene Orientierungstyp auch auf Gruppen von Hauptschülern zutrifft, ist bisher noch nicht abschließend geklärt. So wäre denkbar, dass die Orientierung auch in Gruppen von Hauptschülern auftritt, wenn sie eher sportfern sozialisiert sind. Aufgrund fehlender Nachweise mit Fällen unseres Samples ist hier ein bis dato blinder Fleck zu identifizieren.
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5.3.2 Autonomiebezogener Orientierungstyp Dieser Orientierungstyp fokussiert auf die Autonomie der Schüler*innen im Sportunterricht. Autonomie meint hier, dass sich die Gruppen an der Idee einer Übereinstimmung jedes Einzelnen mit seinen eigenen Gefühlen, Bedürfnissen, Interessen etc. und einer damit verbundenen Entscheidungsfreiheit der Schüler*innen vor allem bezüglich der Art der Teilnahme an einem Bewegungsgeschehen orientieren. Aufseiten der Gruppen ist in dieser Orientierung zugleich ein gewisser Anspruch auf Unabhängigkeit von der Lehrkraft und anderen Mitschüler*innen enthalten. Auf Handlungsebene geht es darum, dass die Sportlehrkraft einen sportunterrichtlichen Freiraum gewährt, welcher von den Schüler*innen spezifisch angenommen wird. Die Gruppen beziehen ihre Autonomieansprüche maßgeblich auf die Lehrkraft, durch die sie ihr Handeln beeinflusst sehen und die ihnen (teils nicht intendiert) Freiräume eröffnet, auf individuelle Art und Weise am Unterricht zu partizipieren bzw. Sport zu treiben. Vor diesem Hintergrund ist Autonomie also nicht primär als selbstbestimmte Unabhängigkeit und als ein selbstverantwortliches Handeln seitens der Schüler*innen zu verstehen, sondern als eine Reaktion auf das Lehrer*innenhandeln. Der autonomiebezogene Orientierungstyp wurde bei zwei Gruppen des Samples rekonstruiert (Gruppen 3 & 14). Im Folgenden soll er über eine fallübergreifende Kurzbeschreibung noch näher in Bezug auf seine Wissensbestände und unterrichtliche Handlungspraxis bestimmt werden. Anschließend wird er über ein ausgewähltes fallspezifisches Orientierungsmuster präzisiert. Danach werden die Bezüge zur Schultypologie und Anschlussstellen seiner Soziogenese diskutiert.
Fallübergreifende Kurzbeschreibung des Orientierungstyps (Gruppen 3 & 14) Der autonomiebezogene Orientierungstyp kann im Sportunterricht mindestens zwei unterschiedliche gruppenspezifische Orientierungsmuster umfassen, wie z. B. eine Orientierung an einer selbstbestimmten Sportrealisation oder am spannungsvollen Sich-Bewegen. Die gemeinsame Schnittmenge der verschiedenen gruppenspezifischen Orientierungsmuster lässt sich mit der Devise ‚Unabhängigkeit ist alles!‘ beschreiben, wobei aus der ‚Unabhängigkeit‘ jegliche (aktive) Form eines gegenwartserfüllenden Sich-Bewegens bzw. Mitmachens und Mitspielens resultieren kann. Ähnlich wie der beziehungsbezogene Typ wird innerhalb des autonomiebezogenen Typs der Sportunterricht prozessbezogen ausgelegt und die Orientierung in gegenwartserfüllenden Themen ausgelebt. Während die beziehungsbezogene Orientierung jedoch stark nach außen auf das soziale Umfeld und die Herstellung gemeinsamer kommunikativer Praktiken in der Peergroup gerichtet 147
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ist, bezieht sich die autonomiebezogene Orientierung stärker auf die eigene Person und die nach innen gerichtete Suche nach bzw. Herstellung von spezifischen Erlebnisqualitäten durch Übereinstimmung mit individuellen Ausgangslagen wie Bedürfnissen, Interessen, Wünschen etc. Die autonomiebezogene Orientierung enthält (anders als der entwicklungsbezogene Orientierungstyp) aus dem Spektrum schulischer Orientierungselemente nur wenige, eher allgemein schulische Orientierungsschemata, wie z. B. die einer Teilnahmepflicht, wohingegen spezifische unterrichtsbezogene Orientierungsschemata wie Leistungs- und Lernbereitschaft zumindest bei den untersuchten Gruppen fehlen. Aus dem Spektrum sportspezifischer Orientierungselemente lassen sich zudem nur recht allgemeine mit dem Bewegungsthema verbundene Vorstellungen zu z. B. einzelnen Spielideen identifizieren, während spezifische, z. B. sportartbezogene Wissensbestände wie u. a. Strategien zum Erreichen sportlichen Erfolgs in Wettkämpfen, (anders als im leistungsbezogenen Orientierungstyp), nicht relevant sind. Die Gruppen des autonomiebezogenen Orientierungstyps kategorisieren das Fach Sport als Sonderfach im Fächerkanon, das im Sinne eines schulisch betreuten Sporttreibens nicht auf eine Förderung der Entwicklung (entwicklungsbezogener Orientierungstyp) oder eine Bewertung von Leistung (leistungsbezogener Orientierungstyp) abzielt, sondern auf die Anerkennung von Individualität und der damit verbundenen Möglichkeit einer subjektiv sinnvollen Teilhabe jedes Einzelnen an (irgend)einem Bewegungsgeschehen. Innerhalb der zentralen für alle Schüler*innen gültigen schulischen Orientierungsschemata wird die Sportpraxis vor dem Hintergrund variabler sportiver Orientierungsrahmen individuell umgesetzt. Die Dimension dieser auf das Bewegungs- und Sportgeschehen bezogenen Autonomie variiert je nach Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnis und ist als Prozess zwischen „gewährter Autonomie“ (seitens der Sportlehrkraft) und „beanspruchter Autonomie“ (seitens der Schüler*innen) zu verstehen. Die Passung zwischen schulischem und außerschulischem Sport ist innerhalb des autonomiebezogenen Orientierungstyps harmonisch bis synergetisch. Das Verhältnis zwischen den Gruppen von Schüler*innen und ihrem Sportunterricht kann insgesamt als sehr pragmatisch bezeichnet werden. Mit Blick auf die Anforderungen des Sportunterrichts ist bei diesem Orientierungstyp festzustellen, dass meist eine – in unterschiedlicher Form gestaltete – Einflussnahme auf das Unterrichtsgeschehen eingefordert wird und erst unter der Prämisse der Mitbestimmung von Schüler*innen die Sportlehrer*innen und das Fach allgemein akzeptiert werden.
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Fallbeispiel Gruppe 3: Orientierungsmuster an selbstbestimmter Sportrealisation Der bewegungsbezogene Orientierungstyp lässt sich anhand des Fallbeispiels der Gruppe 3 näher erläutern. Die Gruppe zeigt ein Orientierungsmuster an selbstbestimmter Sportrealisation. Bei der Gruppe handelt es sich um drei Jungen, die eine städtische Hauptschule besuchen. Sie definieren sich nicht als feste Clique. Alle sind als informelle Gelegenheitssportler aktiv. Zwei verfügen über Vereinssporterfahrung. Die Inhalte des Sportunterrichts sind – mit Ausnahme von Rugby – eher traditionelle Sport- und Spielformen, da zumeist „immer Verschiedenes, wie z. B. Fußball, Brennball, früher auch manchmal Basketball“ thematisiert wird. Der autonomiebezogene Orientierungstyp lässt sich vor allem an den Beschreibungen der Gruppe zum Ablauf des Fußballspiels im Sportunterricht verdeutlichen: Bm: Meistens wenn wir Fußball spielen, wird so in zwei Gruppen aufgeteilt. Die einen spielen Fußball und die anderen machen dann irgendwas anderes-Badminton oder so. So dass halt jeder was macht was er auch möchte. Und es gibt auch noch Momente wo natürlich alle Fußball mitspielen müssen und da sind wiederum welche die einfach nur eh in der Ecke rumstehen sag ich mal und-die spielen dann auch so irgendwie mit. Sprich der Ball kommt zu ihnen, dann schießen sie auch schon mal und das ist eigentlich schon so gut.
Aus Sicht der Gruppe ist ihr Sportunterricht – unabhängig von den Intentionen der Sportlehrer*innen, die hier nicht zugänglich sind – häufig so organisiert, dass er noch immer den institutionellen Rahmenbedingungen im Sinne der schulischen Logik folgt, gleichzeitig aber (insbesondere im Vergleich zu den anderen Fächern) ein außergewöhnlich hohes Maß an Selbstbestimmtheit und an Selbstgestaltungsmöglichkeiten für die Schüler*innen bietet. Aufseiten der Schüler*innenschaft haben dabei insbesondere die organisatorischen Entscheidungen der Lehrkraft – nämlich die Separation der Klasse nach sportspezifischen Interessen – Einfluss auf die Beteiligung der Schüler*innen am Unterricht: Wird die Wahl der Sportart oder zumindest die Umsetzung der Schüler*innenschaft freigestellt, so sind die einzelnen Gruppen auch zur (aktiven) Teilnahme bereit. Die Motive der Sportlehrkraft bzw. ihre Unterrichtsziele für eine derartige Differenzierung, wie etwa die physiologische Aktivierung aller Schüler*innen zu schaffen, werden in diesem Zusammenhang von den Gruppen nicht explizit thematisiert. Vielmehr zeigt die Art und Weise, wie über die Beteiligung am Unterricht gesprochen wird, dass 149
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bezüglich des Erreichens konkreter Zielstellungen keine Vorstrukturierungen von der Lehrkraft getroffen werden und damit auch das Handeln der Schüler*innen keiner evaluativ-bewertenden Logik ausgesetzt ist. Mit Blick auf das Fallbeispiel der Gruppe 3 decken sich in hohem Maß ihre Erfahrungen im schulischen und außerschulischen Sport: In beiden Kontexten können die sportspezifischen Inhalte meist frei gewählt werden. Nicht nur in der selbstorganisierten Freizeit, sondern auch im vereinssportlichen Kontext existiert diese Wahlfreiheit im Sportgeschehen: Am: Leichtathletik dürfen wir im Grunde entscheiden was wir machen. Weitsprung, Kugelwerfen, Kugelstoßen. Wir sind auch letztes Mal mitn Fahrrad zwei oder eine Stunde rumgefahren. Das hat Spaß gemacht! Y1: Mhm.
Am: Und bei DLRG machen wir halt nur Aufwärmen. So 20 RundenBahnen! Und danach machen wir manchmal Streckentauchen. Immer Verschiedenes!
Die Passung des schulischen Sports zum außerschulischen Sport ist in der Handlungslogik stimmig, da es in beiden Settings auf inhaltlicher Ebene um das Sich-Bewegen geht und, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Maß Vorgaben gegeben sind. Auch wenn hierbei Entweder-Oder-Entscheidungen zwischen Bewegungsformen, Spielen oder Sportarten zu treffen sind, bleiben den Gruppen noch Freiräume bei der Art und Weise der Durchführung, damit gleichen sich die sportiven Settings auch auf organisatorischer Ebene. Aus genau diesem Grund, dass der Sportunterricht eher mit der Logik des (freizeitlichen) Sports als mit der des Unterrichts assoziiert wird, wird die Sonderstellung des Fachs besonders hervorgehoben. Eine praktische Umsetzung dieses Typs im Sportunterricht findet vor allem in der Organisationsform des ‚freien Spiels‘ statt, bei der die Sportlehrkraft eher die Rolle des Organisators (Gruppeneinteilung und Vorbereitung der Sportspiele) einnimmt. Dieser ‚offene‘ Sportunterricht wird durchaus auch punktuell von erzieherischen Bemühungen der Sportlehrkraft begleitet. Zum Beispiel versucht ein Lehrer die Gruppe zum außerschulischen Vereinssport zu motivieren: Am: Ja der [Sportlehrer] wollt auch schon mal, dass wir einmal allein einen Verein-Verein gehen. Dass wir inner Freizeit nochmal was machen.
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Die mit dem Zitat angesprochene Hinführung der Jungen zum Vereinssport ist nicht an einzelne konkrete Unterrichtsinszenierungen gekoppelt, sondern stärker auf einer dem Unterricht übergeordneten schulischen Ebene an die Rolle der Lehrkraft bzw. an deren Bemühungen geknüpft. In der Diskussion mit der Gruppe wird nicht weiter thematisiert, wie dieses Bemühen aufgegangen ist. Grundsätzlich erscheint der Gruppe aber das Anliegen der Lehrer*innen berechtigt: Cm: Ehm die [Sportlehrer*innen] sind schon so drauf, dass jeder relativ viel Sport machen sollte, also auch macht. Weil ja halt ja Sport und Gesundheit halt gut ist.
An dem Transkript zeigt sich, dass die Gruppe über die Lehrer*innen mit pädagogischen Wirkungshoffnungen in Kontakt kommt. Auch teilt die Gruppe die ihnen zugetragenen positiven Wirkungspostulate. Eine konkrete Orientierung an der Sinnperspektive einer Gesundheitsförderung lässt sich aber für diese Gruppe im Kontext des Sportunterrichts und des Freizeitsports nicht identifizieren.
Bezüge zur Schultypologie und Anschlussstellen der Soziogenese Der autonomiebezogene Orientierungstyp geht bei den Gruppen 3 und 14 mit einer schulischen Orientierung an Entschulung einher. Seine Sinn- und Wissensstrukturen sind bislang eng an den Typ latenter Entschulung oder angepasster Beschulung gebunden. Der Typ greift stärker auf allgemein schulische und weniger auf fachspezifische Orientierungsschemata und -rahmen zurück. Zum Beispiel orientieren sich die Schüler*innengruppen kaum an verbindlichen, standardisierten Normen oder Regeln der Umsetzung bestimmter Bewegungsaufgaben. Im Fach Sport werden aber auch die allgemein schulischen Orientierungen meist nicht vollständig aktualisiert. So sind zum Beispiel die für Schule typischen Leistungsbezüge im Sinne einer Beurteilung oder Notengebung durch Lehrer*innen kaum zu finden. Die Genese der autonomiebezogenen Orientierung kann zwar vor allem auf die durch die Lehrkraft gewährte Offenheit der Handlungsbezüge im Unterricht zurückgeführt werden, es bleibt hier aber unklar, ob eine fachspezifische Ausrichtung mitspielt. Eine diesbezügliche Analyse könnte z. B. untersuchen, inwieweit die Offenheit der Handlungsbezüge mit der Wertigkeit des Fachs Sport im schulischen Fächerkanon korrespondiert und mit dem Status ‚Nebenfach‘ verbunden ist. Der autonomiebezogene Orientierungstyp steht bislang nicht in einer konstitutiven Verbindung zur Idee der Entschulung. Er weist prinzipiell Bezüge zu allen vier schulbezogenen Orientierungstypen aus dem gesamten Spektrum von Be- und Entschulung (vgl. Kap. 4) auf. Dies lässt sich plausibilisieren, wenn der Blick auf die Strukturen der 151
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Handlungspraxis im Fach Sport gerichtet wird. Unter Bezugnahme auf weitere Gruppen des Samples zeigt sich in der Rekonstruktion ihres Wissens zum Fach Sport ein starkes Spannungsfeld von Offenheit und Geschlossenheit der Handlungspraxis (vgl. hierzu die fallübergreifenden Gemeinsamkeiten in Kap. 5.3). Die Genese einer sportunterrichtlichen Orientierung an Autonomie kann einerseits als Antwort auf die Offenheit (Fallbeispiel), andererseits auch als Reaktion auf die Geschlossenheit gedacht werden. Der Orientierungstyp ist geschlechts- und weitestgehend schulformunspezifisch. Hinsichtlich seiner Soziogenese ist die außerschulische, meist eher informelle Sportsozialisation ein maßgeblicher Faktor. Die Erfahrungen aus dem außerschulischen Sport nehmen Einfluss auf die innere Ausgangslage (Bedürfnisse, Interessen etc.) und auf ihre handlungspraktische Ausdeutung im Sportunterricht. Erst eine ‚erfolgreiche‘ Nutzung der gegebenen Autonomie im Unterricht führt dazu, dass die Autonomie als eine erstrebenswerte Orientierung von den Gruppen stabilisiert wird. Der Fokus der Schülerhandlungen der Gruppe 3 liegt auf Selbstbestimmtheit im Sinne einer eigenen sportunterrichtlichen Gestaltung, sofern von der Lehrkraft gewährt. Die Enaktierung der autonomiebezogenen Orientierung erfolgt in diesem Fall weitgehend problemlos, da sich die im außerschulischen Sport generierten Wissensbestände auf den Unterricht übertragen lassen. Anders als bei den Gruppen des beziehungsorientierten Typs bleibt dabei aber die Enaktierung stärker an die situativ eingeräumten Realisationsmöglichkeiten durch Lehrer*innen und Mitschüler*innen gebunden. Die synergetische Passung zwischen schulischen und außerschulischen Strukturen wird hier durch das für den informellen Sport konstitutive Merkmal der Gestaltungs- und Deutungsoffenheit (Telschow, 2000) realisiert. Anders als beim leistungs- und entwicklungsbezogenen Orientierungstyp beziehen die Schüler*innengruppen den Sport im Sportunterricht nicht auf das Bild eines eng normierten und körperlich anstrengenden Wettkampfsports, eines spezifisch institutionalisierten Sports, der als ‚richtiger Sport‘ über allen anderen Sportvarianten steht und oft mit dem Vereinssport gleichgesetzt wird (Bindel, 2015). Die dort aus diesem Bild resultierenden inhaltlichen Engführungen in der Wahrnehmung und Bewertung des Sports im Sportunterricht teilen die Gruppen mit autonomiebezogener Orientierung nicht. Ihre Handlungsnormen sind weniger sportbezogen als vielmehr auf sie selbst als Subjekte gerichtet. Eine Orientierung an einer autonomen Sportpartizipation könnte im Sportunterricht daher z. B. auf den Umgang des Subjekts mit sportbezogenen Normalitätsanforderungen gerichtet sein. Der starke Fokus auf das Subjekt über die Präsentation seines Körpers im Kontext der Klassenöffentlichkeit könnte die Herausbildung von Formen einer Orientierung an Autonomie begünstigen, denn mit dieser Öffentlichkeit gewinnen Orientierungen am Schutz der psychosozialen Gesundheit und/oder
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Sicherung individueller Körperlichkeit an Bedeutung (Hunger & Böhlke, 2017). Diese Zusammenhänge bedürfen mit Blick auf z. B. ‚sportschwache‘ Schüler*innen vertiefender Untersuchungen hinsichtlich der Aktualisierung und auch Genese autonomiebezogener Orientierungen.
5.3.3 Leistungsbezogener Orientierungstyp Dieser Orientierungstyp fokussiert auf Leistung im Sportunterricht. Aus der Perspektive der Gruppen, die diesem Typ zugeordnet werden, ist Leistung das Produkt einer körperlichen Beteiligung am Unterricht und zugleich Ausdruck sportmotorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Leistungen werden dabei in Interaktion mit anderen gezeigt, als solche anerkannt bzw. gewertet und auch benotet. Eine spezifisch sportbezogene Konstruktion von Leistung findet z. B. durch den Einsatz der Prinzipien von Überbietung und Konkurrenz im Rahmen sportlicher Wettkämpfe ihren Ausdruck und findet sich dabei auch im Sportunterricht und den Orientierungen der Schüler*innen als eine Orientierung am sportlichen Erfolg wieder. Der leistungsbezogene Orientierungstyp wurde bei mehreren Gruppen des Samples rekonstruiert (Gruppen 1, 4, 7, 9, 13). Im Folgenden soll er über eine fallübergreifende Kurzbeschreibung noch näher in Bezug auf seine Wissensbestände und unterrichtliche Handlungspraxis bestimmt werden. Anschließend wird er über zwei unterschiedliche fallspezifische Orientierungsmuster präzisiert. Danach werden die Bezüge zur Schultypologie und Anschlussstellen seiner Soziogenese diskutiert.
Fallübergreifende Kurzbeschreibung des Orientierungstyps (Gruppen 1, 4, 7, 9, 13) Das für diesen Orientierungstyp im Mittelpunkt stehende Leistungsthema wird von den befragten Gruppen unterschiedlich hervorgebracht und bearbeitet. Hiermit einhergehend ergeben sich eine sport- und eine schulspezifische Variante des leistungsbezogenen Orientierungstyps: Die sportspezifische Variante lässt sich als Orientierungsmuster am sportlichen Erfolg (Gruppen 1 & 13) und körperlicher Beanspruchung (Gruppen 4 & 9) weiter ausdifferenzieren. Die schulspezifische Variante kann als Orientierungsmuster an schulischer Anstrengungsbereitschaft rekonstruiert werden (Gruppe 7). Die sport- und schulspezifischen Varianten enthalten auf unterschiedliche Art und Weise schulische und sportive Orientierungselemente und beruhen auf unterschiedlichen (z. T. auch antagonistischen) Passungen zwischen dem Sport in und außerhalb der Schule. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine Ausrichtung des Sportunterrichts an den Prinzipien des ‚richtigen‘ Sports fordern oder zumindest 153
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nicht infrage stellen. Gleichzeitig verbinden die Varianten die Devise ‚Wer wagt, gewinnt‘, wobei unter dem Aspekt des Gewinnens das Erreichen bestmöglicher Noten zu verstehen ist. Der Sportunterricht, auf den sich der leistungsbezogene Orientierungstyp bezieht, kommt durch die befragten Gruppen über eine Kritik am Verlust ‚effektiver‘ Bewegungszeit im Sportunterricht und/oder eine Thematisierung wettkampfsporttypischer Orientierungsschemata zum Ausdruck. Eine besondere Rolle spielt der mit dem Wettkampf verbundene Konkurrenzgedanke, der auch die Anerkennung von Unterrichtsleistungen an den Code von Sieg und Niederlage knüpft. Die unterrichtliche Leistungsmessung und -beurteilung durch die Lehrkraft erfolgt zudem häufig auf Basis von sportmotorischen Normwerten bzw. -tabellen, wie sich u. a. in Stellungnahmen zur Auswahl und Umsetzung von Sportarten dokumentiert. Die Schüler*innen agieren im Unterricht unter der Leitidee ‚höher – schneller – weiter‘, um diesen Leistungsanforderungen zu entsprechen. Die Handlungspraxis des Sportunterrichts wird von Gruppen, die dem leistungsbezogenen Orientierungstyp zugeordnet werden können, ergebnisbezogen wahrgenommen und bewertet. Der leistungsbezogene Orientierungstyp ähnelt in diesem Punkt dem entwicklungsbezogenen Orientierungstyp und unterscheidet sich diesbezüglich klar von den beziehungsbezogenen und autonomiebezogenen Orientierungstypen. Das Verhältnis zwischen den Gruppen von Schüler*innen des leistungsbezogenen Orientierungstyps und ihrem Sportunterricht kann insgesamt als pragmatisch eingestuft werden, da es primär auf das Erreichen leistungsbezogener Unterrichtsresultate fokussiert ist. Im Folgenden soll verdeutlicht werden, wie der leistungsbezogene Orientierungstyp in schulische und sportive Orientierungsmuster ausdifferenziert ist. Hierzu werden zwei Fallbeispiele mit ihren jeweiligen Orientierungsmustern vorgestellt. Eine zentrale Gemeinsamkeit (und zugleich der Unterschied zwischen beiden Fällen) liegt darin, dass in den Orientierungen der Gruppen sportive oder schulische Wissensbestände dominieren. Die beiden Orientierungsmuster rekurrieren allerdings auf zwei unterschiedliche Formen des Sportunterrichts, dessen Handlungspraxis vor dem Hintergrund des Dominanzverhältnisses sportiver oder schulischer Wissensbestände mit unterschiedlichen feldspezifischen Anforderungen einhergeht: Zum einen sind die feldspezifischen Anforderungen des Sportunterrichts am Sport ausgerichtet, was mit spezifisch schulischen Orientierungen einhergeht (Gruppe 7), zum anderen sind die feldspezifischen Anforderungen des Sportunterrichts an der Schule ausgerichtet, was mit spezifisch sportiven Orientierungen einhergeht (Gruppen 1 und 13). Schulisches Orientierungsmuster (Gruppe 7): Das Orientierungsmuster an schulischer Anstrengungsbereitschaft ist innerhalb des leistungsbezogenen Orientierungstyps durch eine proschulische Orientierung (überzeugte Beschulung) und fehlende
5.3 Sinngenetische Typologie
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Passung zwischen dem Sport innerhalb und außerhalb der Schule gekennzeichnet. Schulische Elemente wie Autorität der Lehrkraft, aktive Mitarbeit und ein Streben nach guten Noten dominieren das Orientierungsmuster. Die Passung zwischen den sportunterrichtlichen Orientierungen der Schüler*innen und den Anforderungsstrukturen des Sportunterrichts ist vor dem Hintergrund der klasseninternen Gruppeneinteilungsprozesse und der damit verbundenen Zuordnung zu höheren/ niedrigeren sportiven Unterrichtsleistungen pragmatisch darauf ausgerichtet, die schulische Anstrengungsbereitschaft im Sportunterricht zu verwirklichen und sie der Lehrkraft im Sinne einer eigenständigen Unterrichtsleistung zu präsentieren. Sportives Orientierungsmuster (Gruppen 1 und 13): Das Orientierungsmuster am sportlichen Erfolg ist innerhalb des leistungsbezogenen Orientierungstyps durch eine antischulische Orientierung (latente Entschulung) und ambivalente Passung zwischen dem Sport innerhalb und außerhalb der Schule gekennzeichnet. Sportive Elemente wie der Einsatz von Techniken, Regeln und Taktiken dominieren das Orientierungsmuster. Die Passung zwischen den sportunterrichtlichen Orientierungen der Schüler*innen und den Anforderungsstrukturen des Sportunterrichts ist pragmatisch darauf ausgerichtet, sportlichen Erfolg unter schulischen Umständen zu erreichen. Beide Orientierungsmuster eines leistungsbezogenen Orientierungstyps verbinden auf hierarchisierende Art schulische und sportive Wissenselemente, wobei diese Verbindung als Relationierung von Wissen aufgrund der z. T. starken Unterschiede der Wissensbestände in Anteilen stark spannungsvoll ist und auch eine Enaktierung der Orientierungen zu Konflikten führt, wie sich in den einzelnen Fallbeispielen zeigt.
Fallbeispiel Gruppe 7: Orientierungsmuster an schulischer Anstrengungsbereitschaft Sportunterricht kann von jugendlichen Peergroups primär als Teil der Schule wahrgenommen werden. Eine Variante bzw. ein fallbezogenes Orientierungsmuster innerhalb des leistungsbezogenen Orientierungstyps schließt genau hier an. Die Leistungsansprüche der Schule und weniger die Leistungsansprüche des außerschulischen Sports sind Gegenstand dieses Orientierungsmusters. In dem Muster dominiert schulisches Wissen und mit ihm eine Orientierung an der schulischen Leistungsnorm der uneingeschränkten Anstrengungsbereitschaft. Diese Orientierung speist sich aus einer regelkonformen Teilnahme am Unterricht und zielt insbesondere auf das Zeigen einer aktiven Investition in die Hervorbringung und den Fortgang des seitens der Lehrkraft gewünschten Unterrichtsgeschehens ab. Zur Veranschaulichung dieses leistungsbezogenen Orientierungsmusters wird nun der Fall Gruppe 7 vorgestellt. Die Gruppe 7 besteht aus fünf Mädchen eines 155
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städtischen Gymnasiums im Alter von 12 bis 13 Jahren, die sich im Laufe der (Gymnasialschul-)Zeit gefunden haben. Außerschulisch sind sie sportlich vielseitig engagiert, bspw. in Zumba, Tennis oder Reiten. Im schulsportlichen Rahmen gefallen ihnen Sportarten wie Gymnastik, Tanzen oder Turnen. Das stark ausgeprägte Bildungsbewusstsein der Gruppe kommt in ihrem freizeitlichen Leseengagement, der Verwendung von Fremdwörtern („Germanistik“) oder in ihrer Diskussion über korrekte Rechtschreibung („sympathisch“) und in der hohen Relevanz von Schulbildung zur Geltung. Ihre ‚überzeugte Beschulung‘ dokumentiert sich dabei auch im Sportunterricht. Sie sehen den Sportunterricht als einen Teil der gesamten schulischen Bildung, wobei „alle Fächer wichtig“ sind. Über die Thematisierung sportlicher Leistungen wird in der Gruppendiskussion deutlich, dass die Gruppe im Sportunterricht eine hohe schulische Anstrengungsbereitschaft zeigt. Im Folgenden soll diese Anstrengungsbereitschaft näher beleuchtet werden. In Bezug auf den Sportunterricht ist besonders auffällig, dass sich alle Mädchen ausnahmslos als leistungsschwach einschätzen. Die negative Selbstwahrnehmung der Leistung im Sportunterricht wird dabei nicht auf ihr sportives Können allgemein rückgebunden, sondern auf die Inszenierung des Unterrichts zurückgeführt. Neben einem schulspezifischen Leistungsdruck, der für alle drei befragten Gruppen dieses Gymnasiums in Form einer starken Orientierung am Erreichen guter Noten charakteristisch ist, ist die negative Selbstwahrnehmung ein Resultat der Fremdeinschätzung des Sportlehrers, der sie nach Angaben der Schülerinnen stets in die leistungsschwächeren Gruppen einstuft. Grundsätzlich besteht für die Mädchen eine unterrichtliche Problematik darin, dass sie ihr sportliches Können nicht als schulische Leistung (im sozialen Vergleich mit ihren Mitschüler*innen) unter Beweis stellen können: Cw: Das waren glaub ich nur so paar Zentimeter und dann konnte man den nicht runterspielen, weil der ganz weit oben irgendwo war, weil man fa-manchmal sogar springen musste um diesen Ball noch zu bekommen. Und dann hab-hat man selbst musste man dann auch hohe Bälle spielen und dann trifft man aber die Decke.
In dem Zitat beschreibt Cw ausschnitthaft den Verlauf eines Badminton-Spiels im Sportunterricht, das als Wettkampf inszeniert ist. Cw und den anderen Mädchen ist diese Wettkampflogik dezidiert bewusst, insbesondere hinsichtlich der Konsequenzen im Kontext von Schule, da das Ergebnis des sportlichen Wettkampfs von der Lehrkraft genutzt und mit Folgen für den Fortgang des Unterrichts versehen
5.3 Sinngenetische Typologie
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wurde: Ihre Niederlage führte in diesem Beispiel zum Verbleib in der Gruppe leistungsschwächerer Schüler*innen. Das Zitat von Cw verdeutlicht exemplarisch, dass der Gruppe 7 im Sportunterricht die Herstellung guter Sportleistungen kaum gelingt. Für die Mädchen ist eine erfolgreiche Verwertung sportiver Leistungsvoraussetzungen bzw. ihre Inwertsetzung in Spielsiegen und guten Noten schwierig. Anders als die Schüler*innen des anderen fallspezifischen Musters dieses Orientierungstyps (vgl. Gruppe 1) profitieren sie nicht von ihren außerschulischen Sporterfahrungen im Unterricht und schaffen es auch nicht, ihre sportiven Kompetenzen durch Unterricht zu erweitern. Stattdessen erleben sie, dass sie ihr im außerschulischen Sport mögliches Leistungsvermögen nicht zeigen können und so auch nicht honoriert bekommen. Ungeachtet dessen oder gerade weil sie nicht mit sportlichen Leistungen ‚punkten‘ können, halten sie an anderen schulischen Normen und hier insbesondere an der uneingeschränkten Bereitschaft zur Anstrengung fest. Die uneingeschränkte Anstrengungsbereitschaft der Gruppe dokumentiert sich in einer hohen Investition in das Unterrichtsgeschehen trotz der abwertenden Positionierung als leistungsschwache Schülerinnen. Auch wenn sie die Leistungsherstellung im Sportunterricht als ungerecht empfinden, belegen sie die klasseninterne Einteilung der Lehrkraft in leistungsstarke und -schwächere Schüler*innen mit einem positiven Orientierungsschema. Die Gruppe zeigt eine hohe Anpassung an die gegebenen Verhältnisse zu ihrem bestmöglichen Nutzen. Dies wird durch die weiterführende Aussage der Schülerin belegt: Cw: Aber das find ich eigentlich ganz cool, weil man dann so in der-also ich find es jetzt nicht vielleicht nicht so toll, we-dass wir die Schlechteren sind, aber es ist einfach halt so und damit muss man sich auch irgendwie abfinden.
Y1: In Sport meinst du?
Cw: Ja. Aber ehm ich find das ganz cool, weil bei den schlechteren sind viele Freunde, also wir jetzt sind meistens bei den Schlechteren und dann muss man nicht mit den anderen, die so besser sind so irgendwas zusammen machen, weil ma-weil die einen sowieso ni-nichts machen lassen.
Die Mitglieder der Gruppe hinterfragen zwar, warum sie zu den Schlechteren der Klasse gehören, aber betonen zugleich das ‚Gute im Schlechten‘, nämlich das Sporttreiben mit den Freunden in der leistungsschwachen Gruppe. Auch hat das praktizierte Hinterfragen keine Auswirkungen auf ihre grundlegende Bewertung des Sportunterrichts. Der Verweis auf ein Sporttreiben mit Freunden verweist 157
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vielmehr auf ihr Bild von Sportunterricht. So fungiert der Sportunterricht in der Perspektive der Gruppe als ein kompensierendes Fach innerhalb ihres generellen schulischen Leistungsstrebens. Auch wenn im Sportunterricht nicht die für sie erstrebenswerten Noten erreicht werden können, weil sie nicht das entsprechende ‚sportliche Talent‘ attestiert bekommen, sehen sie den positiven Effekt der aktiven Bewegungszeit in einer Entlastung von Leistungsanforderungen bzw. vor allem auch als Vorbereitung für ein intensiveres kognitives Lernen in den anderen Fächern. Der Sportunterricht wird in seiner Form als u. a. Produzent von Gewinnern und Verlierern akzeptiert. Der hohe Leistungsbezug des Sportunterrichts in Form von z. B. wettkampfbezogener Leistungsfeststellung und auf sportlichen Erfolgen beruhender Notengebung wird von den Schülerinnen nicht infrage gestellt, auch wenn sie die Umsetzung durch die Lehrkraft teilweise als ungerecht kritisieren. Im Rahmen ihres schulischen Orientierungsrahmens einer überzeugten Beschulung zeigen die Mädchen, wie anpassungsfähig sie an den Sportunterricht sind. Sie entwickeln unter den gegebenen Bedingungen funktionale Orientierungen und teilweise auch Strategien zur pragmatischen Bewältigung negativer leistungsbezogener Zuschreibungen, damit der Sportunterricht kein Hindernis auf dem Weg zu einem guten Schulabschluss darstellt. Sie verfügen über ein Wissen, wie als ungerecht empfundene Leistungsgruppenzuordnungen einerseits im Sportunterricht für sie erträglich(er) sind und anderseits nicht ihre Rolle als Sportlerinnen in der Freizeit berühren. Hier beziehen sie auch implizites Wissen zu den schulischen Rahmenbedingungen des Fachs Sport ein, wie im Folgenden näher beschrieben wird. Auf Basis ihrer schulischen Leistungsorientierung wissen sie, dass das Fach Sport im hierarchisch strukturierten Fächerkanon durch seinen Status als Nebenfach tendenziell unwichtig für den schulischen Erfolg ist. Ihre Strategie der Relativierung von Leistungszuschreibungen im Sportunterricht ist damit vermutlich fachspezifisch. In diesem Sinne können sie ‚guten Gewissens‘ mit der Zuordnung zur „schlechteren Gruppe“ leben und auf die dort anwesenden Freundinnen rekurrieren. Ihre sportunterrichtliche Leistung bleibt ein negativer Ausrutscher und im Blick bleibt die Chancenseite, welche es ihnen sogar ermöglicht, den Fokus auf eine Verstärkung der schulischen Leistungen in den anderen Fächern zu lenken. Ob sie ‚schlechte‘ Leistungszuschreibungen in den Hauptfächern Mathematik oder Deutsch auch so einordnen würden, scheint angesichts ihrer ausgeprägten schulischen Leistungsorientierung durchaus fraglich.
Fallbeispiel Gruppe 1: Orientierungsmuster am sportlichen Erfolg Ein zweites Fallbeispiel zu dem leistungsbezogenen Orientierungstyp ist die Gruppe 1 einer städtisch gelegenen Hauptschule mit fünf männlichen Teilnehmern. Formal betrachtet steht diese hinsichtlich der Geschlechts- und Schulformzugehörigkeit im
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Kontrast zur Gruppe 7. Anders als Gruppe 7 wird diese Gruppe primär auf Basis sportspezifischen Orientierungswissens dem leistungsorientierten Typ zugeordnet und weniger unter Berücksichtigung einer schulischen Leistungsorientierung. Den Sportunterricht deutet die Gruppe unter Bezugnahme auf ihr Wissen zum außerschulischen Sport leistungsbezogen im Sinne einer Orientierung am sportlichen Erfolg, wie im Folgenden dargelegt wird. Zur Beschreibung der Gruppe 1 ist erwähnenswert, dass es sich um fünf aktive Fußballspieler handelt, von denen vier auch Vereinserfahrungen aufweisen. Fußball ist für die Heranwachsenden die zentrale Aktivität und auch für die Gruppenbildung das strukturierende Moment. Die Jungen treffen sich gemeinsam in ihrer Freizeit zum informellen Fußballspielen. Auch im Sportunterricht der Jungen wird häufig Fußball gespielt. Das Fußballspielen wird von den Jungen in insgesamt vier verschiedenen Kontexten des Sports praktiziert, nämlich im Sportunterricht, im außerunterrichtlichen Schulsport (Pausensport) und im vereinsbezogenen sowie informellen Freizeitsport. Mit Blick auf den Sportunterricht ergibt sich vor allem über das Fußballspiel für die Jungen ein zentraler Referenzpunkt zur Freizeit. Die Jungen versuchen, die Logik des Fußballspiels in der Freizeit auch im Unterricht aufrechtzuhalten bzw. als positiven Gegenhorizont zu übertragen. Die Enaktierung der damit verbundenen Wettkampf- bzw. Erfolgsorientierung des Freizeitsports bringt allerdings im Unterricht Konflikte mit sich, wie diese Teilpassage verdeutlicht: Y1: Läuft das in der Schule anders ab?
Am: Ja, Lehrer-A und so ähm wechseln immer (.) die Spieler nach ein/zwei Minuten. Em: Ja, weil wir nich so lange haben, am Ende. Also ähm Fußballverein, da hat man ja ein Team, macht man Übungen Y1: //mhm//
Em: ähm und dann gibt’s verschiedene Übungen und hier in der Schule mit Lehrer-A haben wir in Sport Bm: └Will man einfach nur gewinnen, ne.
Em: und da da sin- es gibt da ja auch Mädchen, die spielen ja nich so gerne Fußball, deswegen wechseln wir immer jeden nach einer Minute ab, damit jeder mal spielen darf. Das finde ich eigentlich irgendwie doof. Y1: Warum?
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Em: Weil ich ich bin aus unserer Klasse der Beste in Tor. Und dann kommt so’n Junge3 rein, dann (.) kassieren wir 10.000 Tore.
Die Gruppe sieht für den Bereich des Fußballspielens den schulischen und außerschulischen Sport als zwei unterschiedliche Settings mit jeweils eigenen Logiken. Statt des Wettkämpfens und Übens, wie das die Jungen aus dem Fußballverein kennen, wird nun im Sportunterricht auch die Gleichberechtigung aller Schüler*innen hinsichtlich der Spielzeiten eingefordert („wechseln wir immer jeden nach einer Minute ab, damit jeder mal spielen darf“). Trotz einer vordergründigen Beibehaltung der Wettkampflogik unterscheidet sich der Sportunterricht damit in diesem Beispiel vom außerschulischen Sporttreiben in seiner Handlungslogik vor allem durch eine grundsätzlich andere Gruppenstruktur. So thematisiert die Jungengruppe die Heterogenität der Schüler*innenschaft im Sportunterricht in Bezug auf die beiden Dimensionen ‚sportartenspezifische Leistungsfähigkeit‘ und ‚Interesse am Fußball‘. Die unterschiedlichen Ansprüche gehen auf der Orientierungsebene mit Spannungen einer Relationierung von schulischem und sportivem Handlungswissen einher. Für die Gruppe 1 zeigt sich ein antagonistisches Passungsverhältnis vom außerschulischen zum schulischen Sporttreiben: Die Jungen übertragen ihre außerschulische Handlungslogik des Fußballs auf den Sportunterricht („Will man einfach nur gewinnen“), aber sie dürfen auf der Grundlage der bestehenden Unterrichtsregeln ihren Sport Fußball nicht wie gewollt praktizieren. Sie kritisieren die Regeln offen („Das finde ich eigentlich irgendwie doof.“) und widersetzen sich ihnen auch auf der Hinterbühne durch eine partielle Umdeutung bei der Regelanwendung. Spätestens hiermit wird deutlich, dass die Jungengruppe (auch) dem Sportunterricht eine geringe bis fehlende schulische Relevanz als Erziehungsort zuschreibt. Die eher antischulische Orientierung als Teil der sportunterrichtlichen Orientierung wird auch an einer anderen Stelle der Diskussion deutlich, als thematisiert wird, dass der Sportunterricht als Antwort auf mangelnde proschulische Orientierungen der Schüler*innen explizit erzieherisch ausgerichtet ist: Y2: Kann man denn auch aus dem Sportunterricht bei euch rausfliegen? Bm: Hmhm ((verneinend)) Dm: Doch!
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Cm: Du kannst also man kann, wenn du ähm Scheiße machst Strafrunden. Bm: abschreiben.
└Du
kannst
nur
so
musst
du
was
Cm: Strafrunden oder wenn du heftig machst, musst du ’n paar Liegestütze machen oder Sit-Ups. Dm: aussetzen ein bisschen.
└Oder
Em: Oder aussetzen.
Cm: └Oder ähm wenn du was ganz Heftiges machst, musst du deine also musst du dich umziehen oder deine Sachen holen und dann musst du schreiben Am: Ab- Text abschreiben. Cm: Ja.
Die hier erwähnten jeweiligen Sanktionen bei abweichendem Verhalten im Sportunterricht sind als festgelegte Regeln im Sportunterricht etabliert und der Jungengruppe als explizite schulische Orientierungsschemata allseits bekannt und als festgelegte Regeln im Sportunterricht etabliert. Die diversen spontan genannten Formen der sportunterrichtlichen Sanktionen verweisen auf ein spezifisches Set erzieherisch körperlich sanktionierender Einsatzmöglichkeiten bei zugleich breitem Spektrum an diesbezüglichen Unterrichtssituationen. Die starke erzieherische Ausrichtung89 des Unterrichts verweist auf das schulische Selbstverständnis im Sinne einer Erziehungsinstitution, aber zeigt auch, dass diesbezügliche Ansprüche primär als Reaktionen auf ein Verfehlen schulischer Handlungsnormen und damit als Umgang mit einer Art ‚Missstand‘ konzeptualisiert werden. Im Unterricht zu erziehende Subjekte sind nur diejenigen Schüler*innen, die aus dem Normkorsett ausbrechen, als solche identifiziert und bestraft werden. In den Strafen dokumentiert sich für den Sportunterricht ein körperbezogener Verhaltens- und Leistungskodex, der zudem maßgeblich durch die körperlichen Disziplinierungsmaßnahmen seitens der Sportlehrkraft bestärkt wird. Anhand der Strafen in Form von vorrangig ein89 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die geschilderten erzieherischen Maßnahmen – wie in diesem Beispiel die Liegestütze oder Sit-Ups – ausdrücklich fachspezifisch sind. Die Besonderheit, dass disziplinarische Handlungen häufig über (schüler*innenorientierte) Körperlichkeit ihren Ausdruck finden, ist in keinem anderen Fach in dieser Form zu finden. Eine weiterführende Einordnung dieses sonst in anderen Fächern vermutlich tabuisierten Themas erscheint lohnenswert, aber würde an dieser Stelle zu weit führen. 161
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geforderten Kraftübungen wird deutlich, dass die sportunterrichtliche Erziehung weniger auf die Einsicht der Schüler*innen, sondern auf das Sich-Einfügen in den Unterricht im Sinne seines störungsfreien Ablaufs ausgerichtet ist.
Bezüge zur Schultypologie und Anschlussstellen der Soziogenese Die leistungsbezogene Orientierung ist in stark ausgeprägter Weise eine dominante Orientierung im Sportunterricht des 7. Schuljahrs. Die Dominanz ist weniger darauf zurückzuführen, dass der leistungsbezogene Orientierungstyp in der SpOK-Studie besonders häufig bzw. bei mehreren Gruppen rekonstruiert werden konnte, sondern dass er mit seinen zwei verschiedenen Varianten eine innere Architektur aufweist, die relativ breit schulische und sportive Elemente aufzugreifen vermag und diese zudem pragmatisch vereinen kann. Des Weiteren kann er mit unterschiedlichen schulischen Orientierungen korrespondieren. Während sich die schulischen Orientierungen auf den sportunterrichtlichen Orientierungstyp auswirken dürften, ist bisher noch unklar, welchen Anteil sportunterrichtsbezogene Orientierungen an der Herausbildung pro- oder antischulischer Orientierungen haben. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Schultypologie (vgl. Kap. 4) wird mit den beiden Varianten des sportunterrichtsbezogenen Orientierungstyps deutlich, dass sie sowohl Formen der Entschulung als auch der Beschulung berücksichtigen, aber diese auch inhaltlich konträr wenden können. Das bedeutet, dass z. B. eine latente Entschulung im Sportunterricht auch in einer hohen Bereitschaft zu sportiven Leistungskonstruktionen zum Ausdruck kommen kann. In der sportspezifischen Variante des leistungsbezogenen Orientierungstyps wird z. B. eine leistungsbezogene Ausrichtung des Sports von den Gruppen 1 und 13 explizit bei der Lehrkraft eingefordert, weil sich ihr Sportunterricht an schulischen Prinzipien orientiert (z. B. gleichberechtigte Teilhabe aller Schüler*innen, Vermittlung von Sportarten). Die für den schulbezogenen Orientierungstyp der Entschulung charakteristische Negierung schulischer Leistungsansprüche (vgl. Kap. 4) findet sich im Fach Sport nicht in grundsätzlicher Art wieder. Stattdessen dokumentiert sie sich in dem Versuch, auch auf der Vorderbühne des Unterrichts sportive Prinzipien von Überbietung und Konkurrenz als unterrichtliche Handlungsmaßstäbe zu installieren. Dieses Beispiel verweist aus der Perspektive der befragten Schüler*innen auf die eingangs in Kapitel 5.3 beschriebenen fallübergreifenden Befunde, dass der Sportunterricht als konjunktiver Erfahrungsraum immer auch ein machtvolles Anwendungsfeld außerunterrichtlich erworbener Orientierungen ist, auch wenn diese nur bedingt von den Gruppen enaktierbar sind. Betrachtet man nun die Soziogenese der beiden Varianten des leistungsbezogenen Orientierungstyps, so lässt sich festhalten, dass neben den schulischen Orientierungen die außerschulische Sportsozialisation großen Einfluss auf die
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schulsportliche Wahrnehmung nehmen kann. Die Reduzierung des Sportunterrichts auf die Wettkampfdimension wird z. T. auch von der Lehrkraft zum Zweck der Leistungsmessung und schulischen Notengebung initiiert. Die unterrichtliche Konstruktion und Fokussierung auf sportliche Leistungen ergibt sich aus einer funktionalen Verbindung von Sport und Schule, die vor allem durch die Gleichsetzung der sportiven und schulischen Allokations- und Selektionsfunktionen hervorgerufen wird. Ein Grund für die Fokussierung der Gruppen auf Leistung ist, dass die Schüler*innen selbst in den leistungsbezogenen Sport sozialisiert wurden und/oder eine generell sehr hohe schulische Orientierung zeigen. Die Passung zwischen schulischem und außerschulischem Sport ist für die befragten Gruppen trotzdem entweder durch die starke Dominanz einer Orientierungsdimension nicht vorhanden oder antagonistisch, da die Leistung im Sportunterricht durch die Heterogenität der Bezugsgruppe oft nicht auf demselben Level des persönlich Möglichen wie im außerschulischen Sport sein kann, was zu Unzufriedenheit aufseiten der Schüler*innen führt. Der leistungsbezogene Orientierungstyp findet sich geschlechtsunabhängig an Gymnasien. An Hauptschulen ist er bislang auf eine Hervorbringung sportiver Leistungen zentriert und männlich konnotiert. Hier lässt sich die Soziogenese des leistungsbezogenen Orientierungstyps ähnlich wie die der Beziehungsorientierung als Reaktion auf gesellschaftliche Stigmatisierung der Hauptschulbildung erklären (vgl. Kap. 5.3.1). Schulsport könnte für die Schüler der Gruppen 1 und 13 eine der wenigen Möglichkeiten darstellen, Erfolgserlebnisse in der Schule zu generieren. Inwieweit jedoch die Genese der leistungsbezogenen Orientierung im Kontext des Sportunterrichts an Hauptschulen auf einer spezifischen Verschränkung von Sportivität und Männlichkeit basiert, muss weiterführend untersucht werden. Aus der Perspektive der befragten Schüler*innengruppen ist Leistung vor allem ein zentrales Thema im Sportunterricht an Gymnasien, was auch in einer anderen Studie bestätigt wird (Theis, 2010). Der für diese Schulform möglicherweise typische Leistungsdruck geht wohl auch am Sportunterricht nicht spurlos vorbei. Weitere mögliche Erklärungen für den starken schulischen Leistungsbezug sind einerseits die leistungsstärkeren Mitschüler*innen. Andererseits könnte er durch den familiären Druck innerhalb des bildungsnahen gymnasialen Milieus bedingt sein. Diese Erklärungsansätze begründen möglicherweise die Genese der schulischen Variante des leistungsbezogenen Orientierungstyps, bedürfen jedoch auch hier weiterer vertiefender Untersuchungen.
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5.3.4 Entwicklungsbezogener Orientierungstyp Dieser Orientierungstyp fokussiert auf die Entwicklung der Schüler*innen im Sinne einer Erweiterung oder Verbesserung von Bewegungskönnen und -wissen im Sportunterricht. Die Orientierung ist eingebettet in den positiven Gegenhorizont einer Aneignung von Sachverhalten zur Entwicklung der Persönlichkeit, wobei Entwicklung als ganzheitliche Entfaltung, als aufsteigender Fortschritt und/oder als nützliche Optimierung der Person verstanden wird. Der entwicklungsbezogene Orientierungstyp wurde bei mehreren Gruppen des Samples rekonstruiert (Gruppen 6, 8, 12). Im Folgenden soll er über eine fallübergreifende Kurzbeschreibung noch näher in Bezug auf seine Wissensbestände und unterrichtliche Handlungspraxis bestimmt werden. Anschließend wird er als fallspezifisches Orientierungsmuster präzisiert. Danach werden die Bezüge zur Schultypologie und Anschlussstellen seiner Soziogenese diskutiert.
Fallübergreifende Kurzbeschreibung des Orientierungstyps (Gruppen 6, 8, 12) Der Orientierungstyp lässt sich anhand von drei Kernfällen rekonstruieren (Gruppen 6, 8, 12), die in ihren fallspezifischen Orientierungsmustern alle gleichrangig schulische und sportive Orientierungselemente enthalten. Auf schulischer Ebene wird der Institution Schule im Sinne der überzeugten Beschulung ein hoher Stellenwert zugeschrieben. Diese von uns als gymnasialschul- und in Teilen auch mittelschichtsspezifisch einzuordnende Orientierung spiegelt sich auch in wesentlichen Grundzügen in der sportiven Orientierung wider (z. B. im hohen Stellenwert des Übens sportlicher Fertigkeiten), sodass der Sport im Sportunterricht insgesamt in einem harmonisch passenden Verhältnis zur schulischen Logik steht und der Sportunterricht insgesamt der schulischen Orientierung folgt. Die hier einzuordnenden Gruppen folgen der Devise ‚Hauptsache wir lernen hier (irgend-)etwas!‘ und verweisen damit auf eine Orientierung, in der der Sportunterricht keine Sonderstellung als Schulfach einnimmt. Beide Gruppen in den nun näher ausgeführten Fallbeispielen zeigen ein auf die Erweiterung von Bewegungskönnen und -wissen oder ein auf die Verbesserung von Bewegungskönnen und -wissen abzielendes sportunterrichtsbezogenes Orientierungsmuster.
Fallbeispiel Gruppe 8: Orientierungsmuster an der Erweiterung von Bewegungskönnen und -wissen Exemplarisch für diesen Orientierungstyp steht die Gruppe 8. Sie besteht aus vier Siebtklässlerinnen im Alter von 12 bis 13 Jahren, die ein städtisches Gymnasium
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besuchen. Seit der Gymnasialzeit verbringen sie schulisch wie außerschulisch viel Zeit miteinander. Die Mädchen initiieren selbstläufig immer wieder Themen, die im schulischen Kontext zu verorten sind. Dabei reichen die schulischen Gesprächsthemen von Sitzordnungen, über die letztendlich auch Freundschaften entstehen, über den Mehraufwand, den sie gerne für bessere Noten aufbringen, bis hin zur Ermöglichung persönlicher Entwicklungen durch anspruchsvolle Lernaufgaben. Die Mädchen zeigen ehrgeiziges Verhalten, welches klar über das schulische Bestreben nach guten Leistungen hinausgeht und sich durch seine inhaltliche Fokussierung auf Entwicklung auch vom leistungsbezogenen Orientierungstyp abhebt. Eine hohe Bedeutsamkeit des Lernens und ihrer Bereitschaft dazu zeichnet sich im schulbezogenen Diskussionsverlauf immer wieder ab. Diese Bedeutsamkeit wirkt orientierend für die Teilnahme am verpflichtenden Fachunterricht und umfasst auch alle anderen Schulangebote, wie die Teilnahme am Schulchor, der als Wahlkurs von einer Musikschule ausgerichtet wird: Aw: Ja. Und Dw und ich sind halt, also es gibt ja ähm hier in Musik, kann man ja wählen ob man auch in den Chor geht oder so und wir sind halt beide im Chor und dann
Y1:
Aw: Dw und ich.
└Wer jetzt?
Y1: └Ach ihr beide. //mhm//
Aw: //mhm//. Und ähm dann äh haben wir da halt auch Stimmbildung und also für mich war das jetzt so, äh irgendwie ab der Fünf ging das halt los und es war irgendwie so - hat sich so `n neuer Zweig aufgemacht, sag ich mal so, weil vorher hab ich mal kurz Geige gespielt, also ganz früher, aber sonst, also es hat fand ich halt auch interessant, es war irgendwie so neu, also irgendwie sonst sind ja SchulchorSchulchöre oft so, ja nicht so (.) professionell sa- will ich jetzt auch nicht, aber so Y1: was du meinst.
└Ich weiß,
Aw: einfach so so einfach nur so: „Komm, wir singen jetzt `nen Lied.“ Haha und so. Ja und ähm bei dem, ist es halt so, wir Mädchen:
└@
Aw: haben ja das Glück, dass es halt von der Musikschule ausgeht und dann ist es halt auch, macht’s mehr Spaß, ist es halt
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5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive auch irgendwie professioneller. Wir singen halt teilweise dreistimmig oder Kanon oder (.) sehr hoch oder was weiß ich. Und irgendwie das macht halt auch mehr Spaß, also man weiß halt auch, dass man mit Leuten was macht, die das auch können, also.
Konkret auf den Sportunterricht bezogen äußert sich die Erweiterung von Bewegungskönnen und -wissen in der Lernwilligkeit der Mädchen, indem sie körperliche Beanspruchung fordern und vorhandenes Fachwissen über Sport (auch zu freizeitlichen Sportkontexten) vertiefen wollen. Die Mädchen begrüßen bspw. ein „anspruchsvolleres Aufwärmtraining“, wie sie es unter der aktuellen Sportlehrkraft erfahren, da sie sich danach „wacher und aufgewärmter“ fühlen. Durch den exemplarischen Verweis auf das Aufwärmen wird bereits angesprochen, dass das Fach Sport für die Mädchen mit sporttypischen Abläufen verknüpft ist. Gleichzeitig rahmen sie das anspruchsvolle Aufwärmtraining auch als „ganz normale[n] Sportunterricht einfach“; es sei „jetzt nichts Besonderes oder so“. Damit werden am Sport ausgerichtete Ablaufmuster auch für den Sportunterricht als typisch eingeordnet. Innerhalb der sportunterrichtlichen Orientierungen dieser Gruppe nimmt gerade der außerschulische Vereinssport mit seinen genormten Handlungsabläufen und Regeln einen zentralen Bezugspunkt ein, wie u. a. dieses Zitat illustriert: Cw: Ja. Und äh dann soll- durften wir nur flach schießen und das war halt irgendwie `n bisschen langweilig. Äh weil wir einfach nicht hoch schießen durften und dann war das kein Tor, obwohl das eigentlich `n Tor wäre. Und dann war ich schon `n bisschen frustriert @ Aw: Sie ist ja auch so `ne Fußballkennerin deswegen. @
Cw wünscht sich offensichtlich einen Sportunterricht, der auf inhaltlicher Ebene auch das anbietet, was in außerschulischen Kontexten aus sportmotorischer Sicht gefordert wird. Für die Mädchengruppe ist der traditionelle Vereinssport mit seinen diversen sportbezogenen Orientierungsschemata ein positiver Gegenhorizont des erlebten Sportunterrichts. Sie sind unzufrieden darüber, dass der Schulsport nicht ihren vereinssportlich gesammelten Erfahrungen bzw. dem ‚richtigen Sport‘ entspricht. Den Mädchen ist dabei durchaus bewusst, in welchem jeweiligen Rahmen sie agieren. Sie differenzieren deutlich zwischen schulischen und außerschulischen Kontexten des Sports bzw. zwischen Kontexten, in denen sie ihre Leistung unter
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Beweis stellen müssen (in der Schule) und Kontexten (in der Freizeit), in denen sie ohne Leistungsdruck ihr Können unter Beweis stellen dürfen: Cw: Ich find auch irgendwie beim Sportunterricht, da versucht man alles gut zu machen, weil man weiß man bekommt nachher `ne Note dafür. Man ist natürlich stolz, wenn man `ne gute Note hat aber wenn (.) ja und wenn man das is in der
Aw:
└Man is einfach freier so
Aw:
└Ja.
Cw: Freizeit macht, da bekommt man keine Note dafür un- dann is es auch nich schlimm, wenn man dann einmal `nen schschlechten Tag hat. Spiegelt sich das nich irgendwie irgendwo auf `n Blatt Papier wieder und deswegen is es einfach `n Ausgleich, wenn man Cw: viel lernt oder so, dann is es `n guter Ausgleich (
)
Im Zitat dokumentiert sich die Einordnung des Sportunterrichts in die schulische Orientierung einer überzeugten Beschulung. Im fallvergleichenden Gegensatz zu den Orientierungen anderer Schüler*innengruppen wird dem Sportunterricht kein Sonderstatus innerhalb schulischer Angebote gegeben. Vielmehr stellt er neben den anderen Fächern einen (weiteren) Lernort dar, in dem die Mädchen aufgrund der Notengebung ebenfalls unter Leistungsdruck stehen, dieser aber ohne Weiteres akzeptiert und den Leistungsansprüchen nach bestem Können im Dienste der persönlichen Weiterentwicklung entsprochen wird. Dadurch, dass dem Sportunterricht keine Sonderstellung zugeschrieben wird, wird er vor dem Hintergrund einer überzeugten Beschulung wie jeder andere Fachunterricht als Vermittlungsinstanz von Inhalten begriffen. Die von allen Gruppenmitgliedern geteilte Orientierung in Bezug auf den Sportunterricht zeichnet sich zudem dadurch aus, dass die Schüler*innen ihn als ein Angebot zur Vermittlung von Sportarten begreifen, wie u. a. folgendes Zitat illustriert: Aw: Wir haben dafür in der siebten Volleyball gemacht und das ( ) das war richtig gut! […] Aw: Und nich nur so: „das geht so, das geht so, das geht so“ Bw: └Und so Taktiken haben wir halt auch gemacht. Und das is halt Cw: Ja. (.) Wie man sich am besten stellt und so
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5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
Aw: Ja.
Bw: └und dann wollten wir auch äh `nen großes Spiel machen und dann haben wir versucht das Netz aufzubauen, weil so `n großes Volleyballnetz, aber dann haben wir das nicht Aw:
└Hat nicht funktioniert.
Cw:
Bw: hinbekommen und dann konnten wir das nicht machen. Aber trotzdem hat`s halt Spaß gemacht, weil die Lehrerin ähm die hat mit uns halt einfach ähm uns beigebracht wie das funktioniert also und dann auch Taktiken, also wie man so spielt, Techniken,
└Und Techniken.
Bw: ähm wie man sich aufstellt, wie das is, wie das is und das is dann halt schon interessant. Und eine die dann halt nicht mitmachen konnte, weil sie, ich weiß gar nicht, Bänderriss hatte? Cw: Bänderriss hatte (
).
Bw: └Ja, Bänderriss. Und dann hat sie halt auch noch ein Referat über Volleyball gehalten ähm und das war halt auch dann interessant, weil dann man hat noch so `n bisschen sachliche Informationen bekommen, also Cw:
└Die Geschichte.
Bw: Ja, die Geschichte und dann war das halt sehr interessant auch mal im Sportunterricht, das war halt früher nicht, also Aw: └Das war halt (.) das war halt insgesamt `n gutes Thema, also ist gut bearbeitet worden.
Bw:
└Ja.
Die Gruppe schreibt dem Sportunterricht den Zweck einer Verbesserung von sportmotorischen Fähig- und sportartspezifischen Fertigkeiten zu und legitimiert diesen indirekt als einen Auftrag von Schule, die Lehrkraft wird z. B. für ihre Vermittlungsbemühungen gelobt und nicht kritisch hinterfragt. Für die Gruppe stellen die Technik- und Taktikvermittlung ebenso wie der theoretische Input in Form des Referats ein insgesamt attraktives Lernangebot dar, wobei sie auch deutlich macht, dass diese Art von ‚ganzheitlichem‘, da mehrere Aspekte ansprechenden, Sportunterricht eher die Ausnahme als die Regel darstellt und solcher Art Unterricht
5.3 Sinngenetische Typologie
169
wiederum in der fünften und sechsten Klasse (am Beispiel der Sportart Fußball exemplifiziert) noch seltener vorkam als aktuell in der siebten Klasse. Insgesamt wird deutlich, dass der Orientierungsrahmen der Gruppe 8 auf gesamtschulischer und auf sportunterrichtlicher Ebene den Entwicklungsprozess der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Fokus rückt. Die Mädchen fordern von der Schule und dem Sportunterricht z. B. explizit anspruchsvolle Lernaufgaben, was als Thematisierung dieser Entwicklungsorientierung und als Beleg für eine harmonische Passung zur überzeugten Beschulung interpretiert werden kann. Auch betonen sie, dass sie sich neuen Herausforderungen gerne stellen. Diese damit angesprochene Verschränkung von Entwicklungs- und Leistungsorientierung betrifft auch die Freizeit, in der die Mädchen kontinuierlich jeweils eigenen Sportaktivitäten in Form von „Hobbys“ nachgehen. Diese sportiven Hobbys der Mädchen (vgl. ausführlich Zander, 2016) sind innerhalb des Vereinssports verortet, der durch seine Kontinuität der Beschäftigung mit einer Sache sowie seinen Leistungsbezug nicht nur eine die Genese einer freizeitbezogenen Entwicklungsorientierung erklären, sondern auch ihre sportunterrichtsbezogene Verwirklichung begünstigen kann.
Fallbeispiel Gruppe 12: Orientierungsmuster an der Verbesserung von Bewegungskönnen und -wissen Das fallspezifische Orientierungsmuster an der Verbesserung von Bewegungskönnen und -wissen im Sportunterricht kann bei der Gruppe 12 rekonstruiert werden, die im Kapitel 4 zu den schulbezogenen Orientierungen bereits als Fallbeispiel für die Rekonstruktion des Orientierungstyps der überzeugten Beschulung verwendet wurde, sodass an dieser Stelle diese Gruppe nur knapp beschrieben wird. Die Gruppe 12 besteht aus zwei Schülerinnen und zwei Schülern im Alter von 12 bis 13 Jahren, die ein mittelstädtisches Gymnasium besuchen. Gemeinsame Aktivitäten in der Vierergruppe finden vor allem in der Schule statt. Die zwei Schülerinnen Cw und Dw sind zudem „ziemlich gut befreundet“ und machen auch „außerhalb der Schule öfters mal was zusammen“. Ähnlich wie Gruppe 8 zeigt dieser Fall, wie schulische Orientierungen im Sportunterricht einen handlungsleitenden Stellenwert implizieren. Beim entwicklungsbezogenen Orientierungstyp dominiert die schulische Orientierung, die im Fall der Gruppe 12 auch im Sportunterricht zum Ausdruck kommt, z. B. in der unhinterfragten Akzeptanz der Ziel- und Leistungsorientierung von Schule und der hohen Lernbereitschaft. Gleichzeitig sei darauf hingewiesen, dass dies zwar auch in dem Orientierungsmuster der Gruppe 8 an Erweiterung von Bewegungskönnen und -wissen die Regel darstellt, aber sich für die Schüler*innen der Gruppe 12 die Bedeutungen und Relevanzen der schulischen Orientierung stärker auch 169
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5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
auf schulsportlicher Ebene zeigen. Sportunterricht wird primär ausgehend von der Institution Schule eingeordnet und – anders als in Gruppe 8 – weniger stark durch die Bezugnahme auf (positive oder negative) Gegenhorizonte des Sports in der Freizeit gesehen. Da beide Gruppen auf unterschiedliche Bezugssysteme zur Einordnung des Sportunterrichts zurückgreifen, erleben sie die Aufgabe des Sportunterrichts auch anders akzentuiert. Während in der Gruppe 8 das entwicklungsbezogene Orientierungsmuster auf die Erweiterung des Könnens und Wissens im Sinne einer breiten Aufstellung in diversen Bereichen des Sports ausgerichtet ist, liegt der Fokus des Orientierungsmusters in der Gruppe 12 auf der Verbesserung des bestehenden Könnens und Wissens, was mehr als eine Art Spezialisierung im Rahmen von Übungs- und Trainingsprozessen in einzelnen Sportarten zu verstehen ist. Neben dem Üben von Techniken einzelner Sportarten und dem Training der Ausdauer für Sponsorenläufe werden von der Gruppe jedoch auch in der Diskussion persönlichkeitsbildende Aspekte wie die Entwicklung von Rhythmusgefühl oder Fairness angesprochen. Insgesamt haben die Schüler*innen der Gruppe 12 einen Zweck von Sportunterricht vor Augen, der die Verbesserung des Bewegungskönnens und -wissens forciert, indem „Themen“ bearbeitet und daraus resultierend schlussendlich Kompetenzen entwickelt werden. Das Orientierungsmuster an der Verbesserung ist darüber hinaus maßgeblich mit dem positiven Gegenhorizont der Anwendung von zu übenden bzw. zu trainierenden Kompetenzen verbunden: Dw: Ja, aber das Sportfest ist jetzt leider auch ausgefallen Cw: ʟWeil unser Sportplatz kaputt ist. Y1: Ohh.
Dw: Das war dann auch ein bisschen doof, weil wir da richtig viel trainiert haben.
Die im Unterricht erworbenen Kompetenzen lassen sich aus Perspektive der Gruppe zudem auch in Teilen vom schulischen auf den außerschulischen Sportbereich übertragen. Einen Transfer sieht die Gruppe vor allem für Kompetenzen in bestimmten Sportarten bzw. Techniken, die sich im privat organisierten Sport verorten lassen und die dort zu einer Verbesserung des „miteinander“ Spielens beitragen können, wie dieses Zitat illustrieren soll:
5.3 Sinngenetische Typologie
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Am: Wir hatten einmal das Thema Badminton und ähm am Sonntag bin ich- geh ich manchmal mit ein paar Freunden äh zum äh zu einer Sporthalle kann man sagen und da spielen wir dann auch miteinander und da hat-hat äh hat der Badmintonunterricht ein bisschen geholfen.
Bm: Ja, ich fand auch, dass zum Beispiel ähm wir hatten jetzt ist noch gar nicht so lange her Volleyball gespielt im Sportunterricht. Und im Freibad ist halt auch so´n Volleyballfeld, so´n Sandvolleyballfeld und ja dann spielen wir da halt auch sehr oft und ich würd sagen, dass es halt auch mehr und bessere Ballwechsel dann gibt, wenn man da ein bisschen geübt ist durch den Sportunterricht.
Am Beispiel des Zitats kann verdeutlicht werden, was u. a. mit der Orientierung an Verbesserung gemeint ist und wie sich diese Orientierung für die Gruppe auch auf handlungspraktischer Ebene enaktieren lässt. In diesem Zusammenhang werden z. T. auch weitere eher implizit enthaltene Bedeutungen innerhalb des Orientierungsmusters an der Verbesserung von Können und Wissen sichtbar. So ist eine Verbesserung aus Sicht der Gruppe mit dem Gedanken des Fortschritts assoziiert, der im Kontext einer unmittelbaren Sichtbarkeit und Nützlichkeit eigener Kompetenzen steht. Zudem wird in der Transfer-Thematik sichtbar, wie positiv das Verhältnis der Gruppe 12 zum Sport in Schule und Freizeit besetzt ist, wobei sie den schulischen und außerschulischen Sport – anders als Gruppe 8 – nicht als zwei voneinander isolierte Bereiche sieht. Insgesamt ist das Orientierungsmuster an der Verbesserung von Bewegungskönnen und -wissen bei der Gruppe 12 von der Vorstellung geprägt, dass den Schüler*innen das im Unterricht erworbene Können und Wissen bewusst zugänglich ist und schulisch wie außerschulisch angewendet werden kann. Die kollektiv geteilte Vorstellung von der Idee einer Verbesserung und ihrer unterrichtlichen Umsetzung speist sich primär aus der schulischen Orientierung einer überzeugten Beschulung. Die Verbesserung im Sport hat damit ihren Ausgangspunkt weniger in defizitären Zuschreibungen, sondern basiert auf der schulischen Leitidee des Fortschritts in Form einer Optimierung des bereits Vorhandenen. Diese Optimierung wird darüber hinaus durch das Erleben ‚gelungener‘ Verbesserung verstärkt, sofern ‚erfolgreiche‘ Anwendungsbedingungen der Kompetenzen im Sportunterricht oder im Freizeitsport gegeben sind. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das fallspezifische Orientierungsmuster an der Verbesserung durch seinen Fokus auf eine ‚erfolgreiche‘ Anwendung von Kompetenzen zugleich auf eine adressat*innenorientierte Unterrichtsgestaltung im Sinne einer harmonisch-anschlussfähigen 171
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Passung zwischen Unterrichtsangeboten und sportbezogenen Vorerfahrungen der Schüler*innen angewiesen ist. Für die Gruppe 12 ist der Bezug zu ihren sportbezogenen Vorerfahrungen harmonisch und eingeordnet in eine hohe schulische Lernbereitschaft. Ein Lernen im Sportunterricht bereitet der Gruppe 12 im Vergleich zu anderen Fächern besonders „großen Spaß“, da es gleichsam immer auch zu einer Wiederholung und Verstärkung des Kompetenzerlebens führt.
Bezüge zur Schultypologie und Anschlussstellen der Soziogenese Eine Entwicklungsförderung von Personen im Sportunterricht durch Praktiken des Lernens, Trainierens oder auch Übens ist aus Sicht der befragten Gruppen trotz entsprechender Orientierung nicht immer gesichert, wie insbesondere das fallspezifische Orientierungsmuster an der Erweiterung von Bewegungskönnen und -wissen zeigt. Der entwicklungsbezogene Orientierungstyp kann daher unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Schultypologie als Versuch der Fortschreibung einer überzeugten Beschulung gelten. Die Orientierung an einer überzeugten Beschulung trifft bei ihrer Enaktierung nicht immer auf kohärente feldspezifische Anforderungen, was im Sportunterricht zu einer fachspezifischen Ausdeutung der schulischen Orientierung in Form der entwicklungsbezogenen Orientierung führt, die mit ihren fallspezifischen Fokussierungen auf eine Orientierung an Erweiterung oder an Verbesserung von Bewegungskönnen und -wissen als eine Verkürzung schulischer Ansprüche gelesen werden kann. Die Relationierung der schulischen Orientierungen mit den sportunterrichtlichen Anforderungsstrukturen zeigt neben punktuell diskrepanten Passungen jedoch vor allem, wie positiv die befragten Gruppen entwicklungsförderlichen Unterrichtsformen gegenüberstehen, auch wenn sie selbst kaum hinreichend entwicklungsförderliche Erfahrungen im Sportunterricht gemacht haben. Die hohe Wertschätzung des Sportunterrichts als ein Raum für Entwicklung der Persönlichkeit wird dabei nicht nur in Bezugnahme auf den Typ der überzeugten Beschulung verständlich, sondern wegen einer die Lebensführung insgesamt umfassenden Grundorientierung. Diese Grundorientierung – wie sie auch im beziehungsbezogenen Orientierungstyp in anderer inhaltlicher Ausprägung erkennbar ist – betrifft das Handeln in allen Lebensbereichen. Für die Gruppen mit entwicklungsbezogener Orientierung zeigt sich die Grundorientierung in einer stark zweck-rationalen Betrachtung des (eigenen) Handelns. Schulische und freizeitliche Aktivitäten sind an den Imperativen des Fortschritts und der Optimierung ausgerichtet und neu aufzunehmende Aktivitäten werden im Wesentlichen unhinterfragt diesbezüglich auf den Prüfstand gestellt. Der entwicklungsbezogene Orientierungstyp mit dieser Grundorientierung wurde bislang nur bei gymnasialen Gruppen identifiziert. In seiner Soziogenese lässt er sich durch seine Bezugnahme auf Fortschritt und Optimierung als ein mittelschichttypisches Phänomen deuten
5.4 Zwischenfazit
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und in den Kontext familiärer Sozialisation stellen. Insbesondere der Alltag von Familien aus der nichtakademischen Mittelschicht ist in allen Lebensbereichen durch derartige Handlungsimperative gekennzeichnet, da sie sich beständig mit der Gefahr eines gesellschaftlichen Abstiegs konfrontiert sehen (Reckwitz, 2019). Hohe Bildungsaffinitäten bzw. ausgeprägte Bildungsambitionen dürften in der familiären Sozialisation für die Soziogenese besagter Grundorientierung zentral sein, wobei der familiäre Kontext in dieser Studie nur ansatzweise im Blickfeld stand. Die von den gymnasialen Gruppen besuchten Einzelschulen (ein elitäres städtisch gelegenes Mädchengymnasium und ein kleinstädtisches Profilklassengymnasium) verweisen hier exemplarisch auf eine mittelschichtspezifische Verortung mit entsprechenden gesellschaftlichen Abstieg verhindernden Investitionen in die Bildungskarriere der Kinder. Ein (bildungsmilieuspezifischer) familiärer Einfluss auf die Grundorientierung zeigt sich auch in ihrer schulischen und sportunterrichtlichen Reichweite, da sie die Parallelisierung der schulischen und sportbezogenen Relevanzen und damit eine Basis für die Homologie der schulischen und sportunterrichtlichen Orientierungen schafft. Die Unterstützungsleistungen der Eltern – finanziell, emotional und/oder zeitlich – bieten den befragten Jugendlichen einen Rahmen für das erfolgreiche Durchlaufen der Schullaufbahn bei gleichzeitiger Ausübung außerunterrichtlicher und außerschulischer (hier vor allem: sportlicher und musikalischer) Aktivitäten mit verpflichtendem Charakter. Die mehr oder weniger erfolgreiche Enaktierung der Grundorientierung sorgt für eine harmonische Passung schulischer Angebote zu auch außerschulischen Aktivitäten und führt umgekehrt dazu, dass die Schüler*innen ihrem Handeln in verschiedenen, hier gleichermaßen schulischen (inklusive sportunterrichtlichen) wie außerschulischen Settings stets einen homologen Sinn zuschreiben können.
5.4 Zwischenfazit 5.4 Zwischenfazit
Über einen kollektivzentrierten Zugang wurden Perspektiven jugendlicher Peergroups auf den Sportunterricht mit dem Gruppendiskussionsverfahren erhoben und mithilfe der dokumentarischen Methode hinsichtlich der von Gruppen geteilten Sinn- und Wissensordnungen ausgewertet. Die im Beitrag dargelegte Typologie liefert in diesem Zusammenhang eine erste abstrakte Systematisierung sportunterrichtsbezogener Orientierungen von Schüler*innengruppen des 7. Schuljahrs. Mit den vier rekonstruierten Typen der sportunterrichtlichen Orientierung an Beziehung, Autonomie, Leistung und Entwicklung wurden spezifische Sichtweisen jugendlicher Peergroups auf Sportunterricht generiert, die teils handlungsleitenden Charakter 173
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5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
haben und damit auch Auskunft über die jeweils typspezifischen Herstellungs- und Vollzugsweisen von Sportunterricht geben können. Für die (sportpädagogische) Schüler*innenforschung kann eine solche wissenssoziologische Typologie als Ergänzung tendenziell psychologischer Perspektiven verstanden werden, die Schüler*innen primär als rational-handelnde Individuen konzeptualisieren und über einen individuumszentrierten Zugang untersuchen. Diese psychologischen Perspektiven sind mit Blick auf den normativen und empirischen Forschungsstand zum Sportunterricht fest etabliert (vgl. z. B. Aschebrock & Stibbe, 2013; Balz, Bräutigam, Miethling & Wolters, 2011). Auch wenn innerhalb dieser Perspektiven durchaus Begriffe wie Beziehung, Autonomie, Leistung und Entwicklung kursieren, werden sie im Rahmen der SpOK-Studie unter Bezugnahme auf die Orientierungskategorie wissenssoziologisch ausgedeutet. Die Typologie verweist also stets auf gruppenspezifische und gruppenübergreifende Sinn- und Wissensstrukturen, die nicht ohne Weiteres auf die individuelle Ebene zu übertragen sind, aber hierdurch gerade einen die gängige Perspektive ergänzenden Wert erhalten. Die dokumentarische Methode erhebt zudem den Anspruch, die Anbindung der Gruppen an größere soziale Kollektive zu erfassen (z. B. Schulformen, Bildungsmilieus etc.), jedoch wurde diese Dimension bisher nur in Ansätzen im Rahmen der soziogenetischen Auswertung bearbeitet. Werden die bislang vorliegenden Ansätze zusammengefasst, dann ist der beziehungsbezogene Orientierungstyp hauptschulspezifisch, der autonomiebezogene und der leistungsbezogene Orientierungstyp (bisher) schulformunspezifisch und der entwicklungsbezogene Orientierungstyp gymnasialschulspezifisch. Hinsichtlich der Geschlechtsspezifität sind vor allem der beziehungsbezogene und der entwicklungsbezogene Orientierungstyp von Schülerinnengruppen geprägt, während der autonomiebezogene und leistungsbezogene Orientierungstyp tendenziell geschlechtsunspezifisch bzw. mit unterschiedlichen Ausprägungen vertreten sind. Unabhängig von den Anschlussstellen zur Ausschärfung der Soziogenese der Orientierungen liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags in einer sinngenetischen Typologie, die neben einer ersten Systematisierung kollektiver Orientierungen einen inhaltlichen Ausgangspunkt für eine in Teilen interdisziplinäre Verschränkung von Ergebnissen einer wissenssoziologisch inspirierten Sportunterrichts-, Schul- und Jugendforschung anbietet. Die vier sportunterrichtlichen Orientierungstypen verweisen bereits in ihrer Begrifflichkeit (Beziehung, Autonomie, Leistung und Entwicklung) auf eine grundlegend auf die Lebensführung allgemein bezogene Ausrichtung, die tendenziell kontextübergreifend gilt, jedoch unterschiedlich aktualisiert und in ihrer Enaktierung auch an feldspezifischen Widerständen und andersartigen Orientierungen gebrochen unterschiedlich in Erscheinung tritt. In zukünftigen Studien könnte eine Relationierung von (sportiven) Kontexten mithilfe der Typologie entlang einzel-
5.4 Zwischenfazit
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ner Orientierungstypen systematisch durchgeführt werden. Erste Schritte einer Relationierung schulischen und sportiven Wissens wurden bereits eingeleitet und sollen in ihren Ergebnissen hier noch einmal dargelegt werden. Mit Blick auf die einzelnen Typen und die herausgearbeiteten Befunde wird für den Sportunterricht u. a. deutlich, wie stark er mit schulischen und sportiven Wissenselementen verbunden ist und wie diese Elemente näher bestimmt werden können. Hinsichtlich der vier identifizierten sportunterrichtlichen Orientierungstypen kann der Schule und dem (Freizeit-)Sport in drei der vier Typen (autonomie-, leistungs- und entwicklungsbezogene Orientierungstypen) hohe Relevanz zugesprochen werden. Lediglich im beziehungsbezogenen Orientierungstyp erhalten die Elemente Sport und Schule eine niedrige Relevanz. Diese Relevanzminderung geht mit einer Relativierung von Schule und Sport einher sowie mit der Ausrichtung auf ein drittes Element: der Peergroup bzw. einzelner Peergroups aus dem Kontext der Mitschüler*innen. Der beziehungsbezogene Orientierungstyp hat also anstatt schulischer und sportiver Elemente die Peergroup als dominanten Bezugspunkt. Die autonomie-, leistungs- und entwicklungsbezogenen Typen haben hingegen gemeinsam, dass Schule und Sport Teil der Orientierung sind, dieser allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Im autonomiebezogenen Typ wird die Schule in ihrem normativen Auftrag individuell ausgedeutet und dem schulischen wie außerschulischen Sport eine tendenziell mittlere Relevanz zugesprochen. Im leistungs- und im entwicklungsbezogenen Typ ist eine proschulische Orientierung zu erkennen, wobei der Sportunterricht im entwicklungsbezogenen Typ der schulischen Logik des Lernens folgt und im leistungsbezogenen Typ sporttypische Prinzipien (z. B. das Prinzip von Sieg/Niederlage oder von Rekordorientierung) dominieren. In diesem Zusammenhang ist u. a. auffällig, dass aus der Pluralität der Sportkultur einzelne Elemente für bestimmte Gruppen eine dominante Stellung erlangen, wobei gerade der leistungsbezogene Orientierungstyp zeigt, wie selbstverständlich und legitim der Sportunterricht Prinzipien des Wettkampfsports (re-)produziert. Während sportives Wissen im Sportunterricht eher offenkundig ist, erscheinen schulische Elemente mehr versteckt. Unter Bezugnahme und in Abgrenzung von anderen Schulfächern wird der Sportunterricht von den befragten Peergroups als Sonderfach konstruiert, in dem typisch schulische Prinzipien eine andere Stellung einnehmen. Die vier Orientierungstypen verweisen darauf, dass im Bereich des handlungsleitenden Wissens ein enges Verständnis von Sportunterricht als schulischer Lernort für alle befragten Schüler*innen des 7. Schuljahrs mit Blick auf den beziehungs-, autonomie- und leistungsbezogenen Typ nicht greift. Mit Ausnahme vom entwicklungsbezogenen Typ können die unterrichtlichen Ausprägungen der anderen drei Orientierungsmuster als Relativierung oder Negierung genuin schulischer Lernansprüche gedeutet werden. Drei der vier Orientierungsmuster 175
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fokussieren auf sport- und beziehungsbezogene Relevanzen sportunterrichtlichen Handelns. Auch wenn erste Erklärungen hierzu im Beitrag geliefert werden, gilt es, die konkreten ursächlichen Mechanismen in Zukunft weiter zu erforschen und dabei besonders auch die Soziogenese der Orientierungen (u. a. in Bezug auf Geschlechts- und Schulformzugehörigkeit) näher zu erfassen. Die bis hierhin vollzogene Einordnung der sinngenetischen Typologie zum Sportunterricht macht deutlich, dass sportunterrichtsbezogene Orientierungen als fachspezifische Orientierungen eng an freizeitsportliche Orientierungen gebunden sind. Auch verdeutlicht die Einordnung der Typologie, dass die sportunterrichtlichen Orientierungen im engen sinn- und soziogenetischen Zusammenhang zur Institution Schule und diesbezüglichen Orientierungen stehen. Das Verhältnis von Fach- und Schulorientierung soll im Folgenden vertieft werden. Hierzu werden die vier bereits im Beitrag ausführlich dargelegten sportunterrichtsbezogenen Orientierungstypen noch einmal mit den vier schulbezogenen Orientierungstypen einer offensiven Entschulung, latenten Entschulung, angepassten Beschulung und überzeugten Beschulung (vgl. Kap. 4) vergleichend betrachtet. Setzt man diese schulischen mit den sportunterrichtlichen Orientierungstypen in Verbindung, so ist eine Tendenz zu Parallelen zwischen den einzelnen Typen der beiden Typologien erkennbar, die auf dreifache Weise sichtbar wird: Erstens findet sich eine antischulische Haltung einerseits im Typ der offensiven und latenten Entschulung, anderseits auch im beziehungsbezogenen und autonomiebezogenen Typ. Sowohl im allgemein schulischen Rahmen wie auch im sportunterrichtlichen Kontext gehen aus den beschriebenen jeweiligen Orientierungen Relevanzen für die Schüler*innen hervor, die jenseits der proschulischen Seite liegen. Schultypische Strukturen und Regeln werden negiert oder aktiv umgangen, stattdessen dominieren freizeit- und peerorientierte Relevanzen. Die Typen angepasste und überzeugte Beschulung sowie die leistungsbezogenen und entwicklungsbezogenen Orientierungstypen verbindet in beiden Kontexten hingegen die proschulische Orientierung, bei der schulische Lernangebote positiv wahr- und gerne angenommen werden. Darüber hinaus ist bei allen Typen (offensive Entschulung/beziehungsbezogener Orientierungstyp bis hin zur überzeugten Beschulung/ entwicklungsbezogener Orientierungstyp) eine zunehmende Bedeutsamkeit des Lernens (von kurzfristig und gegenwartsorientierten bis hin zu langfristig und zukunftsorientierten Lern- und Bildungsprozessen) erkennbar. Zweitens kann das Kriterium der Schulrelevanz (bzw. Nicht-Relevanz) als Grundlage für sportunterrichtliche Differenzierungen gedeutet werden. Die Perspektive vieler Gruppen auf ihren Sportunterricht folgt der Einordnung der Relevanz (bzw. Nicht-Relevanz) von Schule. Diese Beobachtung trifft auf alle Orientierungstypen zu, wobei die Einordnung durch den Sportunterricht aufgrund der Fachspezifik zu
5.4 Zwischenfazit
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leichten inhaltlichen Verschiebungen von schulischer Relevanz führt. Auch die in der Schultypologie dominierenden schulformspezifischen und in geringerem Ausmaß auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede finden sich in den kollektiven Orientierungen des Sportunterrichts wieder. Schul- und sportunterrichtsbezogene Orientierungen sind also mit strukturidentischen Seinslagen verbunden, deren differenzerzeugende Kraft in zukünftigen Studien, z. B. in den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen schulischen Feldern, näher zu untersuchen wäre. Drittens stehen fast alle Fälle bzw. Gruppen in ambivalenten Passungen zum Sportunterricht. Das heißt: Sportive Orientierungen (und in Teilen damit auch schulische Orientierungen) werden gerade nicht bruch- und übergangslos im Sportunterricht fortgesetzt. Die rekonstruierten Orientierungen zum Sportunterricht stehen häufig in einem soziogenetischen Zusammenhang mit außerunterrichtlichen und außerschulischen Feldern. Der heterogenen Einflussnahme dieser Faktoren (wie z. B. außerschulische Sporterfahrungen mit Peers und/oder der Familie) kann ein gruppenübergreifend standardisiertes Unterrichtsangebot kein passendes Orientierungsangebot entgegensetzen. In der Folge entwickeln die Schüler*innen ein Handlungswissen für den Umgang mit ihrer Orientierung, das ihnen ermöglicht, im Klassenkontext heterogener Orientierungen auch widersprüchliche Situationen möglichst unbeschadet im Sinne der Beibehaltung ihrer Orientierung zu überstehen. Wie eingangs bereits angedeutet (vgl. Kap. 5.1), kristallisiert sich entlang der dargelegten Fallanalysen die Bedeutsamkeit des 7. Schuljahrs im Sinne des schulischen Gesamtkontextes als ein Ankommen der befragten Schüler*innengruppen an ihrer weiterführenden Schule heraus, was letztendlich zur Genese und Transformation schulformspezifischer Orientierungen führt, die auch maßgeblich auf die Wahrnehmung und Bewertung des Sportunterrichts Einfluss nehmen. Auch wenn Fragen nach der Beständigkeit und dem Wandel von Orientierungen noch an anderer Stelle des Sammelbands über Längsschnittvergleiche vertieft beantwortet werden (vgl. Kap. 8), zeigen die vier im Beitrag dargelegten sportunterrichtsbezogenen Orientierungstypen zum 7. Schuljahr bereits auf, wie über mehrere Schuljahre hinweg insbesondere (außerschulische) Sporterfahrungen in den Sportunterricht transferiert und vor dem Hintergrund eines impliziten und expliziten Wissens zur Schule schulformspezifisch für die Handlungspraxis genutzt werden. Das Fach Sport ist im 7. Schuljahr schulformspezifisch geprägt, wobei es die Unterschiede des Sportunterrichts in Sekundarstufe I generell in der Sportdidaktik noch stärker zu reflektieren gilt (Neuber & Kaundinya, 2010). Das Kapitel ‚Erfahrungsraum Sportunterricht‘ abschließend wird im Folgenden pointiert auf ausgewählte Erkenntnisse der Sportunterrichtsforschung Bezug genommen. Es sei vorweggenommen, dass unsere Ergebnisse aus einer kollektiven 177
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Perspektive von Schüler*innengruppen einerseits die bestehenden Erkenntnisse bestätigen, andererseits aber auch punktuell irritieren können. In der SpOK-Studie zeigt sich in drei von vier rekonstruierten Typen eine Sonderstellung des Sportunterrichts im Fächerkanon. Die explizite Gegenüberstellung der befragten Peergroups von Schulunterricht allgemein zum kontrastierenden Gegenhorizont des Sportunterrichts wird auch in anderen Studien herausgestellt (vgl. insbesondere Schierz & Serwe-Pandrick, 2018; Serwe-Pandrick & Gruschka, 2016). Unsere Ergebnisse verweisen damit auf die aktuell in der Sportdidaktik diskutierte Frage des schulischen Status des Schulfachs Sport und der damit einhergehenden Debatte darum, wie viel Schullogik bzw. Schulunterricht der Sport im Sportunterricht tatsächlich benötigt oder eben noch verträgt. Während in der normativen Sportdidaktik über mögliche Alleinstellungsmerkmale des Fachs Sport diskutiert wird – wie z. B. über die Legitimation des Merkmals körperlicher Bewegung von Schüler*innen im Unterricht –, zeigen die Ergebnisse der SpOK-Studie, wie unterschiedlich bereits der bestehende Sportunterricht aus der Perspektive jugendlicher Peergroups wahrgenommen und ko-konstruiert wird. Das Fach Sport und damit auch die Handlungspraxis unterscheidet sich stark zwischen Gruppen von Schüler*innen, was bislang nur auf individueller Ebene von der Schüler*innenforschung bestätigt wurde. So haben Miethling und Krieger (2004) in ihrer Studie sehr systematisch im Hinblick auf u. a. Relevanzen, Themen und Strategien die Polarisierung rekonstruiert in der Perspektive von Schüler*innen auf ihren sportunterrichtlichen Alltag. Die herausgestellten Ambivalenzen lassen sich auch in unseren Typen deutlich wiedererkennen. Die Ergebnisse der SpOK-Studie zeigen anhand der vier identifizierten Orientierungstypen, dass schulische und sportive Wissensbestände in sehr unterschiedlichen Anteilen und mit unterschiedlicher Gewichtung in der sportunterrichtlichen Handlungspraxis enthalten sind. Auch die Wahrnehmung und Bewertung des Fachs ist dabei aus Sicht von Schüler*innengruppen das Produkt von schulischen und sportiven Einflussfaktoren. Während die Ergebnisse der SPRINT-Studie darauf verweisen, dass „ältere Schüler […] vor allem die kompensatorische Wirkung des Sports im ‚kognitiven‘ Schulalltag (schätzen)“ (Süßenbach & Schmidt, 2006, S. 249), was zum einen die bereits erwähnte Sonderstellung des Fachs Sport und damit die Seite seiner schulischen Positionierung stärkt, sehen wir zum anderen auf Basis unserer Ergebnisse, wie der Sportunterricht das Zusammenspiel von schulischen und sportiven Wissenselementen zu einer Spielfläche für die Enaktierung beziehungs-, autonomie- und leistungsbezogener Orientierungen wird. Dieses Zusammenspiel von Wissensbeständen ist ein besonders vielschichtiges und komplexes, da allein mit Blick auf die Perspektive jugendlicher Peergroups Schule und Sport nicht einheitlich gedeutet werden.
5.4 Zwischenfazit
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5 Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine rekonstruktive Perspektive
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5.4 Zwischenfazit
181
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181
6
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive Ulrike Burrmann Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive
6.1 Einleitung 6.1 Einleitung
Das Fach Sport zählt zu den Lieblingsfächern vieler Schüler*innen, und sowohl Sportlehrkräfte als auch der Schulsport werden insgesamt sehr positiv eingeschätzt (zsfd. Bräutigam, 2011). Allerdings wird mit wenigen Ausnahmen (Hummel, Erdtel & Adler, 2004) übereinstimmend festgestellt, dass die Zufriedenheit mit dem Sportunterricht u. a. mit Geschlecht, Schulform und Leistungsniveau der Schüler*innen variiert (zfsd. Cárcamo, 2012) und mit zunehmender Klassenstufe abnimmt (Gerlach, Kussin, Brandl-Bredenbeck & Brettschneider, 2006). In einer Sekundäranalyse der SPRINT-Daten aus dem Jahr 2002 weisen immerhin über ein Viertel der Siebt- und Neuntklässler Motivationsdefizite und negative Einstellungen zum Sportunterricht auf, wobei v. a. Schulform- und Geschlechterunterschiede sichtbar werden (Burrmann, 2015). Die Befunde stimmen mit bislang vorliegenden Befunden überein (vgl. Kleindienst-Cachay, 2007; Frohn, 2007; Schmidt, 2006), wonach im Bereich eines weitgehend ,traditionell‘ orientierten Schulsports ähnliche Exklusionsprozesse ablaufen wie in anderen schulischen Fächern. Demnach scheint der Sportunterricht eher an den Bedürfnissen und Interessen sportaffiner Schülergruppen (z. B. Jungen) anzuschließen (Gerlach et al., 2006; Mutz & Burrmann, 2014). Studien zeigen aber auch, dass eine bewusste (heterogenitätssensible) Ausgestaltung des Schulsports eine gleichberechtigte Partizipation der Schüler*innen im Sportunterricht fördern kann (Gieß-Stüber, 1993; Grimminger, 2011; Van Acker, Carreiro da Costa, De Bourdeaudhuij, Cardon & Haerens, 2010). Unterschiede zeigen sich aber auch zwischen den Schulformen, wobei v. a. Differenzen zwischen Hauptschulen und Gymnasien im Fokus stehen. Gerlach et al. (2006) stellen fest, dass Hauptschüler*innen im Vergleich zu Gymnasialschüler*innen dreifach benachteiligt sind, denn sie erhalten den geringsten Umfang an Sportunterricht, werden häufiger von fachfremden Lehrkräften unter© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Zander und J. Thiele (Hrsg.), Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Lebenswelt, Sport – Gesellschaft – Kultur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31348-7_6
183
184
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive
richtet und sie treiben seltener außerschulischen Sport (vgl. auch Frohn, 2007). Zudem wird (auch) im Sportunterricht von ethnisch konnotierten Grenzlinien von Lehrkräften und Schüler*innen berichtet (zsfd. Frohn & Grimminger, 2011). Aus dem bisherigen Forschungsstand lässt sich plausibilisieren, dass der Sportunterricht immer dann verstärkt mit negativen Einstellungen einhergeht, wenn individuelle und familiär vermittelte Voraussetzungen und Orientierungen zum Sport einerseits und die Inhalte und Anforderungen des Sportunterrichts andererseits divergieren (Zander, 2015). Empirische Studien belegen, dass Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen und einem höheren sozioökonomischen Status den Kindern bessere Bewegungsräume und Sportmaterialien zur Verfügung stellen, selbst stärker in den Sport involviert sind und ihren Kindern eher Unterstützung geben als Eltern mit niedrigen Schulabschlüssen und einem geringen sozioökonomischen Status (Burrmann, 2005; Hayoz, 2017).90 Mädchen und Jungen aus bildungsnahen Elternhäusern treiben in der Freizeit häufiger Sport und verfügen dadurch über mehr sportliche Vorerfahrungen als Altersgleiche aus eher bildungsfernen Elternhäusern (zsfd. Cachay & Thiel, 2008; Mess & Woll, 2012).91 Die in der Herkunftsfamilie (und außerschulischen Institutionen) angeeigneten sportbezogenen Orientierungen und Voraussetzungen treffen nun in der Schule auf schulische bzw. schulsportliche Anforderungen. Während bei einigen Schüler*innen die sportlichen Vorerfahrungen und Erwartungen gut zum Curriculum passen und damit die sportlichen Interessen und Fähigkeiten quasi bruchlos weitergeführt werden können, kommt es bei anderen zu Irritationen, Spannungen und Unsicherheiten (Burrmann & Mutz, 2016; vgl. auch Zander, 2018). Kinder, die in einer sportinteressierten Herkunftsfamilie aufwachsen (Eltern sind sportlich aktiv, Sportgeräte sind im Haushalt vorhanden), erleben weniger Ängste und Sorgen als Altersgleiche aus Elternhäusern, die mit Sport wenig am Hut haben (Burrmann & Mutz, 2016). In den Regressionsanalysen weisen religiös erzogene Mädchen und Jungen mit türkischer Herkunft im Vergleich zu anderen Altersgleichen erhöhte Werte in der Besorgnis und Aufgeregtheit im Sportunterricht auf. Angenommen wird, dass muslimische Jungen verstärkt mit Angst reagieren, weil sie befürchten, den Leistungserwartungen sozial relevanter Bezugspersonen 90 Jungen scheinen sich dem Sport „unabhängiger“ vom Einfluss der Herkunftsfamilie zuzuwenden, als das bei den Mädchen der Fall ist, deren Sportbeteiligung stärker durch das Elternhaus beeinflusst zu sein scheint. Demzufolge setzen sich offenbar auch die sozialen Ungleichheiten der Elterngeneration bei den Sportengagements der Jungen nicht so prägnant durch wie bei den Mädchen (Burrmann, 2005; Mutz & Burrmann, 2015). 91 Zeitreihendaten deuten zudem darauf hin, dass sich der Zusammenhang zwischen Bildungshintergrund der Eltern bzw. Schulform und Sportvereinsmitgliedschaft des Kindes in den letzten 35 Jahren in Deutschland nicht abgeschwächt hat (Burrmann, Seyda, Heim & Konowalczyk, 2016).
6.1 Einleitung
185
nicht gerecht zu werden, während „religiöse muslimische Mädchen eher deshalb besorgt sind, weil sie im Schulsport die Gebote der Geschlechtertrennung oder Berührungsverbote nicht uneingeschränkt befolgen können“ (Burrmann & Mutz, 2016, S. 113). Bestimmte Handlungsbefähigungsmuster werden in der Schule offenbar bevorzugt und andere eher sanktioniert (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau & Groh-Samberg, 2004; Becker, 2007; Wenzel, 2011, vgl. bereits Kapitel 2).92 Wahrgenommene emotionale Unterstützung und eine individuelle Bezugsnormorientierung der Sportlehrkräfte korrelieren indes mit positiven Erfahrungen im Unterricht, verringerter Leistungsangst und erhöhter Motivation (Conzelmann, Schmidt & Valkanover, 2011; Cox, Duncheon & Mc David, 2009; Cox & Williams, 2008; Krug & Kuhlmann, 2004; Niederkofler, Herrmann, Seiler & Gerlach, 2015; Oswald, Valkanover & Conzelmann, 2013). Auf die Bedeutung einer gelungenen Klassenführung und eines positiv wahrgenommenen Unterrichtsklimas für die Motivation und das Wohlbefinden der Schüler*innen im Sportunterricht weisen u. a. die Ergebnisse von Hemsooth (2014) hin. Auf der Grundlage aktueller Daten wird in diesem Kapitel zum einen die Frage verfolgt, wie Schüler*innen ihren Sportunterricht erleben und inwieweit das Erleben von sportbezogenen Vorerfahrungen, die u. a. in der Herkunftsfamilie vermittelt werden, abhängen. Der bisherige Forschungsstand legt folgende Annahmen nahe: 1. Der Zugang zum Gymnasium hängt (nach wie vor) vom Bildungshintergrund der Eltern ab. Kinder, deren Eltern über hohe Bildungs- und Berufsabschlüsse verfügen, dürften häufiger ein Gymnasium besuchen, während Kinder aus Elternhäusern mit geringeren Bildungs- und Berufsabschlüssen verstärkt zur Hauptschule gehen. 2. Gymnasialschüler*innen dürften im Vergleich zu Hauptschüler*innen über mehr sportbezogene Orientierungen und Vorerfahrungen verfügen, die sie in den Sportunterricht einbringen können. 3. Der Sportunterricht gehört zwar zu den Lieblingsfächern vieler Schüler*innen, es gibt aber auch Schüler*innengruppen, die dem Sportunterricht skeptischer gegenüberstehen (Gerlach et al., 2006; Frohn, 2007; Burrmann, 2015). Angenommen wird, dass Mädchen und Hauptschülerinnen überproportional häufig in den Schüler*innengruppen vertreten sind, die dem Sportunterricht eher distanziert gegenüberstehen.
92 Innerhalb der Schule können sich vorhandene Unterschiede weiter verstärken, z. B. durch sozial und ethnisch selektive Erwartungs-, Wertschätzungs- und Belohnungsstrukturen in der Schule oder eine ungünstige Passung zwischen sozialem und kulturellem Habitus von unteren Sozialschichten und Minoritäten und schulischen Verhaltensnormen und Sprachcodes (Maaz, Baumert & Trautwein, 2010; Ditton, 2007). 185
186
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive
Die gleichberechtigte Teilhabe aller Schüler*innen am (Schul-)Sport mit dem Ziel, die Bewegungs-, Spiel und Sportkultur zu erschließen, stellt jedoch nur einen Teil des Doppelauftrags dar. Ein weiterer Auftrag liegt in der individuellen Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport (vgl. u. a. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2014). Längsschnitt- oder Interventionsstudien im Schulsport sind nach wie vor rar. Conzelmann et al. (2011) konnten in ihrer Interventionsstudie positivere Entwicklungsverläufe der Interventionsgruppen, im Vergleich zu den Kontrollgruppen, in Bezug auf die soziale Selbstwirksamkeitserfahrung und auf das Selbstkonzept der sozialen Akzeptanz aufzeigen. Ängstliche Kinder der Interventionsgruppe entwickelten über die Zeit positivere Ausprägungen im Körperselbstwert und sportbezogenen Fähigkeitskonzept als ängstliche Kinder der Kontrollgruppe. Zudem gelang es, vor allem Kindern, die sich in ihren sportlichen Fähigkeiten unterschätzten, zu einem positiv getönten realistischeren, leistungsbezogenen physischen Selbstkonzept zu verhelfen. Auf der Grundlage der Daten wird zum anderen analysiert, inwieweit der Sportunterricht ein Sporttreiben in der Freizeit befördert und zur Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts der Schüler*innen sowie zum Wohlbefinden in der Schule beiträgt. Erwartet wird, dass Schüler*innen, die den Sportunterricht positiv erleben im Vergleich zu Altersgleichen, die dies nicht tun, 4. sich eher außerhalb der Schule sportlich betätigen, 5. über positivere Selbstkonzeptmerkmale verfügen, 6. sich in der Schule eher wohlfühlen. Bisherige Befunde legen allerdings auch nahe, dass weitere relevante Drittvariablen (sozialstrukturelle Merkmale, Freizeitaktivitäten, Merkmale des Elternhauses) in die Analysen einzubeziehen sind. Aufgrund des querschnittlichen Designs der quantitativen Studie lassen sich allerdings keine Kausalannahmen testen.
6.2
Zum methodischen Vorgehen
6.2
Zum methodischen Vorgehen
Im Herbst 2015 wurden 180 Schüler*innen der siebten Klassenstufe aus je vier Gymnasial- und Hauptschulklassen in NRW schriftlich im Klassenzimmer befragt. Darunter befanden sich 45 Schüler*innen, die an den Gruppendiskussionen (qualitative Teilstudie) teilnahmen. Letztere füllten zudem einen Kurzfragebogen aus, der zusätzliche Fragen zum sozialen Hintergrund der Familie und einige Fragen zu den (sportlichen) Freizeitaktivitäten enthielt.
6.2 Zum methodischen Vorgehen
187
Die Schüler*innen waren zum Zeitpunkt der Erhebung im Durchschnitt 13–19 Jahre alt (SD = 0.93; Min = 11, Max = 16). Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern (50.6 % Jungen, 49.4 % Mädchen) und der Schulform (50.6 % Gymnasialschüler*innen, 49.4 % Hauptschüler*innen) ist zwar annähernd ausgeglichen, differenzierte Analysen zeigen jedoch, dass Mädchen im Gymnasium und Jungen in den Hauptschulen überrepräsentiert sind. Wird der Sprachgebrauch in der Familie als Indikator für den Migrationshintergrund der Befragten herangezogen, wird sichtbar, dass in den Gymnasien Mädchen ohne Migrationshintergrund und in den Hauptschulen Jungen mit Migrationshintergrund die jeweils größte Schülergruppe darstellen (vgl. Tab. 1). Insgesamt weisen 42 % der Befragten einen Migrationshintergrund auf.93 Tab. 1
Sozialstrukturelle Zusammensetzung der Klassen, differenziert nach Schulform. Angaben in Prozent.
Gymnasium Hauptschule
Jungen mit MH 14 (7) 39 (37)
Klassenzusammensetzung Jungen Mädchen ohne MH mit MH 28 (20) 15 (33) 20 (13) 25 (33)
Mädchen ohne MH 43 (40) 16 (17)
Anmerkung: MH = Migrationshintergrund, erfasst über den Sprachgebrauch in der Familie. Die Prozentwerte in den Klammern beziehen sich auf die Teilgruppe der Diskussionsteilnehmer*innen.94
Im Fragebogen wurde neben den o. g. sozialstrukturellen Merkmalen (Geschlecht, Alter, Sprachgebrauch in der Familie und mit Freunden, Schulform) nach dem Erleben der Schüler*innen im Sportunterricht, nach den außerunterrichtlichen Sportengagements (z. B. Mitgliedschaft in einem Sportverein, Teilnahme an einer Schulsport-Arbeitsgemeinschaft, zeitlicher Umfang des Sporttreibens in verschiedenen Sportkontexten, subjektive Relevanz der Sportkontexte) und nach psychosozialen 93 Als Migrant*innen werden Befragte bezeichnet, die (auch) oder ausschließlich eine andere Sprache als Deutsch sprechen. In der Teilstichprobe der Gruppendiskussionsteilnehmer*innen korreliert der Sprachgebrauch mit dem eigenen Herkunftsland oder deren der Eltern mit rs = .82, p < .001. 94 In der qualitativen Teilstichprobe ging es v. a. um Schüler*innen mit Migrationshintergrund, wenngleich die Diskussionen in ,natürlichen‘ Peersgruppen stattfinden sollten. Wie der Tabelle 1 entnommen werden kann, sind insbesondere Jungen mit Migrationshintergrund in Gymnasien unterrepräsentiert. In den Gruppendiskussionen konnte diese Gruppe noch seltener einbezogen werden. 187
188
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive
Merkmalen (z. B. Facetten des Selbstkonzepts, Wohlbefinden in der Schule) gefragt. Zurückgegriffen wurde auf Items bzw. Skalen aus der letzten durchgeführten repräsentativen Schulsporterhebung in Deutschland (Sprint-Studie; vgl. Gerlach et al., 2006).95 Entsprechende Beispiele und deskriptive Kennwerte finden sich in Tabelle 2. Vorab sei bereits auf einige Begrenzungen der quantitativen Teilstudie hingewiesen. Die Stichprobe wurde nicht repräsentativ gezogen, so dass die Befunde nicht verallgemeinert werden können. Sie können jedoch die Daten der qualitativen Teilstudie ergänzen und Fragestellungen aufzeigen, die auf der Grundlage der qualitativen Daten weiterverfolgt werden können. Zu diesem Zweck werden an geeigneter Stelle Angaben gemacht, ob und inwieweit sich die Gruppendiskussionsteilnehmer*innen von den anderen Befragten unterscheiden. Aufgrund dessen, dass die standardisierte Befragung nur zum ersten Messzeitpunkt stattfand, können Kausalzusammenhänge höchstens aufgrund theoretischer Vorüberlegungen plausibilisiert, nicht aber geprüft werden. Das betrifft v. a. die Hypothesen vier bis sechs. Einige Skalen wurden aufgrund geringer Reliabilitätswerte nicht in die weiteren Analysen einbezogen. Dennoch sind die Cronbachs-Alpha Werte weiterer Skalen (Einschätzung der sportlichen Erfahrungen, Aufgabenorientierung, Präferenz für kooperative Lernformen) ebenfalls als kritisch einzuschätzen. Dies ist bei der Ergebnisinterpretation zu berücksichtigen. Tab. 2
Skalen mit Itembeispielen und deskriptiven Kennwerten.
Skala Erleben des Sportunterrichts Wohlbefinden im Sportunterricht a 2 Items Fachspezifisches Interesse a 5 Items Anstrengungsbereitschaft im Sportunterricht a 2 Items Sportunterrichtliches Fähigkeitsselbstkonzept a 6 Items
Itembeispiel
Deskriptive Kennwerte
Ich gehe gern zum Sportunterricht. Im Sportunterricht merke ich gar nicht, wie die Zeit vergeht. Im Sportunterricht versuche ich mich immer anzustrengen.
M = 3.25; SD = 0.85 Cronbachs-α = .88 M = 3.11; SD = 0.55 Cronbachs-α = .63 M = 3.09; SD = 0.75 Cronbachs-α = .63
Ich lerne sehr schnell neue Übungen im Sportunterricht.
M = 2.87; SD = 0.65 Cronbachs-α = .81
95 Skalen, die in der vorliegenden Untersuchung Reliabilitäten von Cronbachs-Alpha < .40 aufwiesen (z. B. Furcht vor Misserfolg, Depressivität, Selbstkonzept gleichgeschlechtliche Peers), wurden für weiterführende Analysen nicht einbezogen.
6.2 Zum methodischen Vorgehen
Skala Hoffnung auf Erfolg a 3 Items Aufgabenorientierung a 2 Items Präferenz für kooperative Lernformen a 3 Items subjektive Relevanz des Sportunterrichts b 1 Item ,Passung‘ schulischer und außerschulischer Sport Einschätzung der sportlichen Vorerfahrung a 3 Items Freizeittransfer a 3 Items Psychosoziale Merkmale Wohlbefinden in der Schule a 2 Items Selbstwertgefühl a 5 Items Körperselbstwert a 3 Items Selbstkonzept Aussehen a 3 Items Selbstkonzept Ausdauer a 3 Items Selbstkonzept Sprint a 3 Items Selbstkonzept Koordination a 3 Items Soziales Selbstkonzept gegengeschlechtliche Peers a 6 Items
189
Itembeispiel Bei einer schweren Übung im Sportunterricht ist mein Interesse schnell geweckt. Ich fühle mich im Sportunterricht zufrieden, wenn ich etwas Neues lerne. Im Sportunterricht arbeite ich gerne mit anderen zusammen.
Deskriptive Kennwerte M = 2.79; SD = 0.76 Cronbachs-α = .74
Der Sortunterricht in der Schule ist für mich … nicht wichtig bis sehr wichtig.
M = 3.85; SD = 1.08
Ich kann im Sportunterricht viel von meinem sportlichen Können und Wissen nutzen. Was ich im Sportunterricht gelernt habe, hilft mir in meiner Freizeit.
M = 3.19; SD = 0.54 Cronbachs-α = .41
M = 2.91; SD = 0.73 Cronbachs-α = .52 M = 3.07; SD = 0.66 Cronbachs-α = .57
M = 2.77; SD = 0.69 Cronbachs-α = .58
Ich bin gern in der Schule.
M = 2.49; SD = 0.79 Cronbachs-α = .80 Insgesamt bin ich mit mir sehr M = 3.11; SD = 0.64 zufrieden. Cronbachs-α = .84 Ich mag meinen Körper so wie M = 3.14; SD = 0.83 er ist. Cronbachs-α = .87 Ich sehe gut aus. M = 2.89; SD = 0.87 Cronbachs-α = .77 Im Vergleich zu anderen kann M = 2.88; SD = 0.72 ich längere Strecken ohne Pause Cronbachs-α = .74 laufen. Über eine kurze Strecke bin ich M = 2.99; SD = 0.70; sehr schnell. Cronbachs-α = .53 M = 3.01; SD = 0.67; Ich kann gut balancieren. Cronbachs-α = .52 M = 2.81; SD = 0.72; Ich bin bei Mädchen (Jungen) Cronbachs-α = .67/.68 sehr beliebt.
Anmerkungen: a) 4-stufige Antwortskala von „stimmt nicht“ bis „stimmt genau“, b) 5-stufig von „nicht wichtig“ bis „sehr wichtig“.
189
190
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive
6.3 Ergebnisse 6.3 Ergebnisse
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Teilhabe am Sport(-Unterricht) Die – seit der PISA-Studie 2000 – wieder ins Bewusstsein gerückte Tatsache, dass elterliche Bildungsniveaus und Erwerbskarrieren die Bildungsgänge der Kinder maßgeblich mitdefinieren (Baumert, Klieme, Neubrand, Prenzel, Schiefele, Schneider, Stanat, Tillmann & Weiß, 2001), wird durch vorliegende Befunde nach wie vor bestätigt. Der Zugang zur Schulform korreliert mit der sozioökonomischen Stellung der Eltern. Kinder, deren Eltern einen Beruf ausüben, der hohe Qualifikationen voraussetzt, mit Weisungsbefugnissen verbunden ist und nicht-manuelle Tätigkeiten beinhaltet (= geringe Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klasse (EPG); vgl. Brauns, Steinmann & Haun, 2000), besuchen häufiger ein Gymnasium als Altersgleiche, deren elterliche Berufstätigkeit einer höheren EGP Klasse zuzuordnen ist (rS (69) = .63, p < .01).96 Unsere Befunde deuten zudem darauf hin, dass eine derartige intergenerationale Vererbung nicht auf den Bildungsbereich beschränkt bleibt, sondern dass auch im Freizeitbereich die über die Herkunftsfamilie vermittelten sozialen Ungleichheiten durchschlagen, wenngleich nur wenige Indikatoren erhoben wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder einen Sportverein besuchen, steigt mit der beruflichen Qualifikation ihrer Eltern. Der Korrelationskoeffizient zwischen EGP Klasse der Eltern und Sportvereinsmitgliedschaft der Kinder liegt bei rS (35) = -.33, p < .10. Umgekehrt sinkt die Wahrscheinlichkeit dieser Kinder was die Teilnahme an einer Schulsport-Arbeitsgemeinschaft betrifft (rS (33) = .50, p < .01). Der Besuch einer bestimmten Schulform erleichtert oder erschwert wiederum den Zugang zum Sport, wobei v. a. das organisierte Sporttreiben mit der Position der Herkunftsfamilie im sozialen Raum variiert. Hauptschüler*innen sind seltener Mitglied in einem Sportverein, jedoch häufiger in einer Schulsport-Arbeitsgemeinschaft aktiv als Gymnasialschüler*innen (vgl. Tab. 3). Zugleich berichten Erstere von weniger sportlichen Vorerfahrungen, die sie in den Sportunterricht einbringen können (vgl. bereits Burrmann & Zander, 2017). 96 Umfangreiche soziodemographische Angaben konnten leider nicht erhoben werden. Über die Diskussionsteilnehmer*innen konnten durch differenziertere Abfragen Plausibilitätsprüfungen zum Migrationshintergrund vorgenommen und zusätzliche Informationen zum sozialen Hintergrund der Eltern erhoben werden. Die sozioökonomische Stellung der Eltern (4-stufig) orientiert sich an den EPG Klassen. Unterschieden wird zwischen Angestellten und Beamten in leitender Stellung und hohen Entscheidungsbefugnissen (=1), Selbstständige und Angestellte mit begrenzten Entscheidungsbefugnissen (=2), (Fach-)Arbeiter (=3), unqualifizierte und nicht arbeitende Personen (=4). Die Ergebnisse weichen von den Befunden in Burrmann und Zander (2017) ab, da eine größere Stichprobe codiert werden konnte.
6.3 Ergebnisse Tab. 3
191
Sportliche (Vor-)Erfahrungen in der Freizeit. Angaben in Prozent.
sportliche Vorerfahrung1 Mitglied Sportverein J J o. M M J J o. M M o. MH MH MH o. MH MH MH MH MH Gymnasium 83 72 46 50 75 76 54 66 Hauptschule 43 56 52 31 32 22 14 21
Mitglied Schulsport-AG J J M M MH o. MH MH o. MH 8 8 25 8 90 61 44 29
Anmerkung: 1Zusammenfassung der Antworten „stimmt“ und „stimmt genau“. MH = Migrationshintergrund, M = Mädchen, J = Jungen
Zum Erleben des Sportunterrichts Inwieweit der Schulsport ungleiche Voraussetzungen in den sportbezogenen Orientierungen und Kompetenzen der Schüler*innen zumindest teilweise kompensieren kann oder vorhandene Unterschiede weiter vergrößert werden, ist eine offene Frage. Auffällig ist, dass alle Skalenmittelwerte zum Erleben des Sportunterrichts (vgl. Tab. 2) mit M > 2.00 im positiven Bereich liegen. Zwei Drittel aller Schüler*innen finden den Sportunterricht wichtig oder sogar sehr wichtig. Die Mehrzahl der Schüler*innen fühlt sich wohl (60 %), weist ein hohes fachspezifisches Interesse (56 %) und eine hohe Anstrengungsbereitschaft (49 %) auf.97 Im Folgenden wird analysiert, inwieweit sich verschiedene Schüler*innentypen identifizieren lassen. Um vorschnelle Reifizierungen zu vermeiden, werden in einem ersten Schritt Clusteranalysen durchgeführt. Im Unterschied zu variablenorientierten Auswertungsansätzen machen Clusteranalysen intraindividuelle Unterschiede in der Einschätzung verschiedener Merkmale des Sportunterrichts sichtbar und bündeln Gruppen von Schüler*innen mit ähnlichen Konfigurationen. Eingesetzt wird ein nichthierarchisches Verfahren, welches von einer vorgegebenen Clusterzahl ausgeht und versucht, durch Verschieben einzelner Objekte bzw. Merkmalsträger zwischen den Clustern das Klassifikationsresultat nach festgelegten Kriterien zu optimieren. Einbezogen werden acht Skalen (vgl. Tab. 2): Interesse, Anstrengungsbereitschaft, Aufgabenorientierung, Hoffnung auf Erfolg, Präferenz für kooperative Lernformen, sportunterrichtliches Fähigkeitsselbstkonzept, Wohlbefinden im Sportunterricht sowie die subjektive Relevanz des Sportunterrichts. Die Variablen werden zunächst z-transformiert, so dass der Mittelwert bei 0 und die Standardabweichung bei 1 liegt. Abweichungen vom Mittelwert, die größer/kleiner als 0.40 standardisierte Einheiten sind, werden als interpretationswürdig erachtet (Lüdtke, 1990; Sudeck, Lehnert & Conzelmann, 2011; vgl. auch Burrmann, 2015).
97 Prozentanteil der Schüler*innen, deren Skalenmittelwert zwischen 3 und 4 liegt. 191
192
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive
Vier Cluster können ermittelt werden:98 48 % der Schüler*innen sind dem Cluster „Zufriedene“ zuzuordnen . Der Sportunterricht wird als ausgesprochen wichtig erachtet (M = 0 .72) . Mit Ausnahme der Präferenz für kooperative Lernformen liegen alle Werte 0 .5 SD über M (vgl . Abb . 1) . 28 % der Schüler*innen lassen sich im Cluster „kooperativ Lernende“ verorten . Mit zwei Ausnahmen liegen alle Werte im Durchschnittsbereich (+/- 0 .16 SD) . Die Schüler*innen weisen dem Sportunterricht keine besondere Bedeutung zu (M = -0 .81) . Sie präferieren aber kooperative Lernformen (M = 0 .57) . 18 % der Schüler*innen finden sich im Cluster „Unzufriedene“ wieder . Mit einer Ausnahme liegen alle Werte 0 .5 SD unter M . Mit zehn Schüler*innen (6 %) stellen die „Negativ Eingestellten“ die kleinste Gruppe dar . Alle Werte liegen mit M = -1 .11 (Präferenz für kooperative Lernformen) bis M = -2 .35 (Wohlbefinden im Sportunterricht) weit unter dem Durchschnitt . Es ergeben sich mit Chi² (3, 173) = 4 .38, p > .05 keine signifi kanten Unterschiede in der Clusterzugehörigkeit zwischen Schüler*innen, die an der qualitativen
Abb.Abb. 1 Schüler*innentypen zum Erleben des Sportunterrichts (z-Werte)(z-Werte). 1: Schüler*innentypen zum Erleben des Sportunterrichts
Teilstudie teilgenommen haben und jenen, die nicht einbezogen wurden . Die p < .05 für das Geschlecht und mit Chi² (3, 174) = 12.67, p jeweiligen Mitglieder der ,natürlichen‘ Peergroups lassen sich zwar selten nur in 98 Im Anschluss wurden mittels Diskriminanzanalyse diejenigen Variablen identifiziert, die maßgeblich am Zustandekommen der Clusterlösung beteiligt sind, und es wurde die Zuordnungsrate der Objekte zu den Clustern bestimmt (Bortz, 2005) . Knapp 97 % der Fälle konnten richtig zugeordnet werden .
6.3 Ergebnisse
193
ein und demselben Cluster verorten . Von wenigen Ausnahmen abgesehen, erleben alle Peers der jeweiligen Gruppe den Sportunterricht aber eher positiv (Zufriedene bzw . kooperativ Lernende) oder negativ (Negativ Eingestellte, Unzufriedene) . Sie erleben den Sportunterricht also in ähnlicher Weise . In einem zweiten Schritt wird geprüft, ob die Clusterzugehörigkeit mit sozialstrukturellen Merkmalen variiert . Signifi kante Unterschiede in der Clusterzugehörigkeit ergeben sich mit Chi² (3, 174) = 8 .66, p < .05 für das Geschlecht und mit Chi² (3, 174) = 12 .67, p < .01 für die Schulform (vgl . Tab . 4), nicht aber für den Migrationshintergrund (operationalisiert über den Sprachgebrauch in der Familie) . In Abbildung 2 ist die Clusterzugehörigkeit in Abhängigkeit von den sozialstrukturellen Merkmalskombinationen wiedergegeben . Hauptschülerinnen mit und ohne Migrationshintergrund lassen sich überproportional häufig den „Unzufriedenen“ und „Negativ Eingestellten“ zuordnen, während v . a . Hauptschüler mit Migrationshintergrund im Cluster „Zufriedene“ zu finden sind . Die Gymnasialschüler*innen weisen ein homogeneres Bild auf, hier überwiegen in allen Subgruppen die „Zufriedenen“ und „Kooperativ Lernenden“ . Überproportional viele Hauptschülerinnen ohne Migrationshintergrund nehmen ihren Sportunterricht negativ wahr, während viele Gymnasialschüler mit und ohne Migrationshintergrund ihren Sportunterricht positiv erleben . Entsprechende Unterschiede zwischen diesen Gruppen zeigen sich auch in den variablenorientierten Analysen, v . a . in Bezug auf die Skalen Hoff nung auf Erfolg, Aufgabenorientierung sowie sportunterrichtliches Fähigkeitskonzept . Tab. 4
Clusterzugehörigkeit differenziert nach sozialstrukturellen Merkmalen . (Zeilen-)Prozent
gesamt Geschlecht* Junge Mädchen Schulform* Gymnasium Hauptschule Sprachgebrauch deutsch beide andere
Negativ Eingestellte 6
Unzufriedene
Zufriedene
18
Kooperativ Lernende 28
1 11
17 21
27 26
55 42
2 10
17 21
37 15
44 54
7 2 8
23 14 14
30 24 22
40 60 56
48
Anmerkung: Signifi kante Unterschiede mittels Chi²-Tests,*p < .05 . 193
192
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive
Vier Cluster können ermittelt werden:98 48 % der Schüler*innen sind dem Cluster „Zufriedene“ zuzuordnen . Der Sportunterricht wird als ausgesprochen wichtig erachtet (M = 0 .72) . Mit Ausnahme der Präferenz für kooperative Lernformen liegen alle Werte 0 .5 SD über M (vgl . Abb . 1) . 28 % der Schüler*innen lassen sich im Cluster „kooperativ Lernende“ verorten . Mit zwei Ausnahmen liegen alle Werte im Durchschnittsbereich (+/- 0 .16 SD) . Die Schüler*innen weisen dem Sportunterricht keine besondere Bedeutung zu (M = -0 .81) . Sie präferieren aber kooperative Lernformen (M = 0 .57) . 18 % der Schüler*innen finden sich im Cluster „Unzufriedene“ wieder . Mit einer Ausnahme liegen alle Werte 0 .5 SD unter M . Mit zehn Schüler*innen (6 %) stellen die „Negativ Eingestellten“ die kleinste Gruppe dar . Alle Werte liegen mit M = -1 .11 (Präferenz für kooperative Lernformen) bis M = -2 .35 (Wohlbefinden im Sportunterricht) weit unter dem Durchschnitt . Es ergeben sich mit Chi² (3, 173) = 4 .38, p > .05 keine signifi kanten Unterschiede in der Clusterzugehörigkeit zwischen Schüler*innen, die an der qualitativen
Abb. 1
Schüler*innentypen zum Erleben des Sportunterrichts (z-Werte) -
Teilstudie teilgenommen haben und jenen, die nicht einbezogen wurden . Die p < .05 für das Geschlecht und mit Chi² (3, 174) = 12.67, p jeweiligen Mitglieder der ,natürlichen‘ Peergroups lassen sich zwar selten nur in 98 Im Anschluss wurden mittels Diskriminanzanalyse diejenigen Variablen identifiziert, die maßgeblich am Zustandekommen der Clusterlösung beteiligt sind, und es wurde die Zuordnungsrate der Objekte zu den Clustern bestimmt (Bortz, 2005) . Knapp 97 % der Fälle konnten richtig zugeordnet werden .
sgeschöpft‘. 195
6.3 Ergebnisse
Abb. 3: 3Sportnotenspektrum (letztes nachClusterzugehörigkeit Clusterzugehörigkeit. Abb. Sportnotenspektrum (letztesZeugnis), Zeugnis),differenziert differenziert nach
Tab. 5
Außerschulisches Sporttreiben, differenziert nach Clusterzugehörigkeit . Mittelwerte und Standardabweichungen
Negativ Eingestellte Unzufriedene Kooperativ Lernende Zufriedene Post-hoc Vergleiche
Relevanz Vereinssport* a, b M SD 2 .88 1 .72 2 .81 1 .73 3 .86 1 .34 3 .86 1 .50 2 & 3, 4
Relevanz Sport Freizeit-Transfer* a, b außerhalb Verein* a, b M SD M SD 3 .10 0 .88 1 .73 0 .58 3 .56 1 .32 2 .40 0 .72 3 .57 0 .83 2 .89 0 .44 3 .96 0 .88 3 .00 0 .61 keine 1 & 2; 1, 2 & 3, 4
Anmerkungen: Normalverteilung verletzt, aber die Schiefe- und Wölbungskoeffi zienten liegen unter den kritischen Werten von | >2 | bzw . | >7 |, so dass keine substanzielle Verletzung der Normalverteilungsannahme vorliegt (West, Finch & Curran, 1995); einfaktorielle Varianzanalysen: *p < .05; a) auch nach Alpha-Fehlerkorrektur (p < .016) signifi kante Unterschiede; b) Varianzhomogenität verletzt, daher Posthoc-Vergleiche nach Tamhane .
p Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive
196 Posthoc-
70
48
50 40
33
Sportverein
27
30 20
22
Sport-AG
11
10 0
59
56
60
0 Negativ Eingestellte
Unzufriedene
Zufriedene
Kooperativ Lernende
-AG, differenziert nach Abb. 4 Sportvereinsmitgliedschaft und Teilnahme an einer Sport-AG, differenziert nach Clusterzugehörigkeit
Ein freudvolles Erleben im Sportunterricht geht zudem einher mit positiven selbstbezogenen Kognitionen, v. a. was das Körperselbstwertgefühl und das eigene Aussehen betrifft. Unterschiede in den Facetten des Selbstkonzepts bestehen v. a. zwischen den negativ Eingestellten bzw. Unzufriedenen und den Zufriedenen (vgl. Tab. 5 und 6). Entsprechend des hierarchischen Selbstkonzeptmodells von Shavelson, Hubner und Stanton (1976) wird das Selbstwertgefühl aus (untergeordneten) Facetten des akademischen und nicht akademischen Selbstkonzepts gespeist. Bewegung, Spiel und Sport (in der Schule) könnte zunächst physische Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen, welche zur Selbsteinschätzung sportlicher Kompetenz führen und schließlich weitere Merkmale des physischen Selbstkonzepts, als auch das übergeordnete Selbstwertgefühl beeinflussen könnte (Sonstroem & Morgan, 1989; vgl. auch Sohnsmeyer & Heim, 2015). Mittels linearer Regressionsmodelle wird daher geprüft, welche Prädiktoren zur Vorhersage des Selbstwertgefühls relevant sind, wobei neben untergeordneten Facetten des Selbstkonzepts, die Cluster zum Erleben des Sportunterrichts sowie sozialstrukturelle Merkmale (Geschlecht und Schulform)99 einbezogen werden. Wie in Tabelle 7 ersichtlich, lässt sich ein positives 99 Durch Einbeziehung des Sprachgebrauchs in der Familie (als Indikator für den Migrationshintergrund des Kindes) erhöht sich die Varianzaufklärung nicht. Im Gegenteil R²
6.3 Ergebnisse Tab. 6
197
Selbstkonzeptfacetten differenziert nach Clusterzugehörigkeit. Mittelwerte und Standardabweichungen Selbstwert- Körperselbst- Aussehen* a Ausdauer* a gefühl* a, b wert* a, b M SD M SD M SD M SD
Negativ Eingestellte Unzufriedene Kooperativ Lernende Zufriedene Post-hoc Vergleiche
Sprint* a, b M
SD
Koordination* a M SD
2.44
0.86
2.00
1.08
1.80
0.92
1.63
0.53
2.10
0.42
1.77
0.59
2.84
0.77
2.87
0.90
2.63
0.90
2.42
0.65
2.78
0.71
2.83
0.66
3.08
0.53
3.19
0.63
2.82
0.81
2.85
0.61
2.95
0.50
3.10
0.47
3.32 0.53 2&4
3.35 0.74 1 & 3, 4
3.17 0.73 1 & 3,4; 2&4
3.24 0.53 alle
3.26 0.62 1 & 2,3,4; 2 & 1,4
3.24 0.53 1 & 2,3,4; 2 & 1,4
Anmerkungen: Normalverteilung verletzt, aber die Schiefe- und Wölbungskoeffizienten liegen unter den kritischen Werten von | >2 | bzw. | >7 |, so dass keine substanzielle Verletzung der Normalverteilungsannahme vorliegt (West, Finch & Curran, 1995); einfaktorielle Varianzanalysen: *p < .05; a) auch nach Alpha-Fehlerkorrektur (p < .008) signifikante Unterschiede; b) Varianzhomogenität verletzt, daher Posthoc-Vergleiche nach Tamhane.
Selbstwertgefühl v. a. vorhersagen durch ein positives Körperselbstwertgefühl und positive Selbsteinschätzungen zum eigenen Erscheinungsbild/Aussehen. Im ersten Modell zeigen sich Unterschiede zwischen den Clustern zugunsten der zufriedenen Schüler*innen. Diese Unterschiede verschwinden, wenn Facetten des Selbstkonzepts einbezogen werden, wobei diese – wie in Tabelle 6 gezeigt werden konnte – durchaus mit der Clusterzugehörigkeit variieren. Zudem trägt die Schulform signifikant zur Vorhersage des Selbstwertgefühls bei. Gymnasialschüler*innen weisen höhere Werte auf als Hauptschüler*innen. 49 % der Varianz können durch die Prädiktoren aufgeklärt werden.
sinkt u. a. aufgrund der Korrelation zwischen Schulform und Migrationshintergrund. Da beide Prädiktoren nicht signifikant werden, verbleibt nur ein Merkmal in den Regressionsanalysen (Tab. 7 und 8). 197
198 Tab. 7
Erfahrungsraum Sportunterricht – Eine quantitative Perspektive Prädiktoren zur Vorhersage des Selbstwertgefühls. Lineare Regressionsanalyse. Selbstwertgefühl (1-4) Model I Modell II Model III
Erleben des Sportunterrichts – Clusterzugehörigkeit (Referenzgruppe: Zufriedene) Negativ Eingestellte Unzufriedene Kooperativ Lernende Facetten des Selbstkonzepts Ausdauer Schnelligkeit Koordination Aussehen Körperselbstwert Kontrollvariablen Geschlecht (Referenzgruppe: weiblich) Schulform (Referenzgruppe: Gymnasium) Model fit (korr. R²)
-.32*** -.30*** -.17*
.14
-.03 -.10 -.06
-.02 -.09 -.03
.12 -.04 -.01 .35*** .33***
.13 -.03 -.00 .33*** .36***
.47
-.00 .13* .48
Anmerkungen: Standardisierte Regressionskoeffizienten (Beta). Signifikanzniveau: *p