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German Pages 306 Year 2014
Markus Wiencke Kulturen der Gesundheit
Kultur und soziale Praxis
Markus Wiencke (Dr. phil.) ist Diplom-Psychologe und Ethnologe (M.A.) und lebt in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die soziale Dimension von Gesundheit, Konzepte und Praktiken sozialer Unterstützung, Migration, Integration sowie Stadt- und Raumforschung.
Markus Wiencke
Kulturen der Gesundheit Sinnerleben im Umgang mit psychischem Kranksein. Eine Anthropologie der Gesundheitsförderung
Zgl. Dissertation an der Freien Universität Berlin 2010 (D 188) Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort von Manfred Zaumseil | 7 Danksagung | 13 1 Einleitung | 15 1.1 Konkrete Gründe für die Auswahl der Untersuchungsorte | 17 1.2 Aufbau der Arbeit | 23
2 Entwicklung der Fragestellung | 27 2.1 Schizophrenie | 27 2.2 Recovery | 31 2.3 Setting | 37 2.4 Sinn und Bedeutung | 63 2.5 Fragestellung | 75
3 Methoden und Durchführung | 77 3.1 Begründung des qualitativen Zugangs | 77 3.2 Spezifische Anwendung der Methoden in den Settings | 79 3.3 Sampling-Strategien im Feld | 87 3.4 Allgemeine Informationen zu den Interviews | 91 3.5 Der spezifische Prozess der Theorieentwicklung | 99 3.6 Theoriebewertung | 105
4 Die Untersuchungsorte | 109 4.1 Der Candomblé- und Umbanda-Tempel sowie der Candomblé-Tempel | 109 4.2 Die psychosomatische Klinik mit ihrem Diskurs über Spiritualität | 121 4.3 Die Gemeindepsychiatrie für die Mapuche | 129
5 Gesundheitsförderung als soziales Geschehen | 139 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Wichtige Schritte im Erkenntnisprozess | 139 Strukturierung der Daten | 141 Soziales Geschehen | 146 Bedeutsamkeit | 189 Alltagsnähe | 213
6 Diskussion | 255 6.1 Überblick | 255 6.2 Individuelle und soziale Konstruktionsweisen psychischer Gesundheit und Krankheit | 255 6.3 Spannungsfeld zwischen subjektivem und objektivem Gesundheitsbegriff | 262 6.4 Verallgemeinerungsmöglichkeiten | 265
Schlussbemerkungen | 269 Glossar | 273 Literatur | 277
Vorwort von Manfred Zaumseil
Die fortschreitende Medikalisierung führt zu einer immer vollständigeren Übernahme von psychischem und körperlichem Leiden und der Aufrechterhaltung von Gesundheit in die medizinische Deutungs- und Interventionshoheit. Hierdurch werden zwar mächtige Einflussmöglichkeiten auf biologische Prozesse eröffnet, aber gesundheitliche Beeinträchtigungen werden aus ihrer sozialen Einbettung herausgelöst. Es kommt zu einer Abtrennung des individuellen Schicksals von sozialen und moralischen Ordnungen und spirituellen Ligaturen. Sinnstiftung wird zu einer individuellen Angelegenheit und Behandlung zur korrekten Anwendung von Techniken. Dies ist eine euroamerikanische Entwicklung, die andernorts in der Welt eher auf Unverständnis trifft und auch im euroamerikanischen Raum immer Gegenströmungen erzeugte. Markus Wiencke fahndete nach dem, was durch die Medikalisierung aus dem wissenschaftlichen Mainstream ausgeschlossen wurde. Er arbeitet die vor allem wissenschaftlichen Mechanismen dieses Ausschlusses heraus und findet methodische Zugänge, um das Ausgeschlossene sichtbar zu machen. So kann er die Bedeutung des sozialen und sinnbezogenen Umgangs mit dem zeigen, was bei uns als Kranksein der Einzelperson gilt. M. Wiencke hatte schon in seiner Analyse des Umgangs mit psychisch Kranken in spiritistischen Zentren in Brasilien (2006) gezeigt, dass Menschen, die in der westlichen Psychiatrie als psychisch krank gelten würden, in Zentren der Candomblé- und Umbanda-Religionen in Brasilien eine gänzlich andere als psychiatrische Einbindung erfuhren. Das ihnen zugeschriebene »spirituelle Problem« wurde eher in der sozialen und mit ihr verflochtenen spirituellen Welt ausgemacht und bearbeitet. Gesundheitsfördernd waren anscheinend Sinngebungsprozesse, rituelle Aufführungen, die an die Settings der spirituellen Zentren gebunden waren.
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In der vorliegenden Untersuchung ging es ihm darum, die individuumszentrierte Seh- und Umgangsweise von Gesundheit und Krankheit zu überschreiten. Er suchte nach pointierten weiteren Beispielen, mit denen er zeigen und theoretisch ausarbeiten konnte, wie das Gesundwerden und -bleiben in sozialen Setting- und kulturbezogenen Sinngebungsprozessen wurzelt. Auf diese Weise zeichnet er die Umrisse einer psychologischen Anthropologie der Gesundheitsförderung an Beispielen des Umgangs mit psychischem Kranksein. Er untersuchte sehr heterogene Settings, in denen versucht wird, Sinnstiftung im sozialen Kontext unter Einbeziehung spiritueller Aspekte zu praktizieren: Er reanalysiert die Daten aus der Untersuchung in Brasilien, untersucht eine psychosomatische Klinik in Deutschland und wählt das Beispiel der Bevölkerungsgruppe der Mapuche in Chile, deren traditionelles Verstehen von psychischer Krankheit und ein entsprechender Umgang in offenbar kultursensibler Weise durch einen ambulant arbeitenden gemeindepsychiatrischen Dienst unterstützt und ergänzt wird. Weltweit dürfte eine eher gemeinschaftsbezogene Konstruktion des Selbst und dessen Gesundung mit entsprechenden Praktiken einer starken Bindung an Ordnungen der moralisch-spirituellen Sphäre eher die Regel als die Ausnahme sein. Gleichwohl ist das vom Mainstream der Psychiatrie/Psychologie entworfene Bild vom Menschen und von seinen als individuelle Krankheiten gedachten »Störungen« und dessen Therapien ein anderes. M. Wiencke stellt nicht in Frage, dass dieser »westliche« Zugang ein erfolgreich zu beschreitender Weg ist. Er trifft auch im eigenen Denken auf erhebliche Probleme, Störungen anders zu denken als in der Person wurzelnd und deren Bearbeitung anders zu konzeptualisieren als die psychischen und biologischen Mechanismen des Individuums zu modifizieren. Es war nicht so einfach, theoretische Ansätze zu finden, die den theoretischen Hintergrund für die von ihm untersuchten Phänomene abgeben und seine Fragestellung fundieren könnten. Als Sozialwissenschaftler mit einer Doppelqualifikation in Ethnologie und Psychologie nimmt er eine sehr kritische und kreative Überprüfung sehr disparater sozialwissenschaftlicher Ansätze vor. Die Prüfung zeugt von einer großen theoretischen Breite und Reflektiertheit. M. Wiencke zeichnet die historische und kulturelle Situation nach, in der sich die gegenwärtige Schizophreniekonzeption zusammen mit einer bestimmten Auffassung von Subjektivität in Westeuropa herausbildete.
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Er geht dann auf die neuere »recovery«-Diskussion ein und die Frage, wie man mit »Schizophrenie« – der bei uns als beschädigt verstandenen Subjektivität – ein selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben leben kann. Er findet sowohl im »recovery-Konzept« als auch in der damit verknüpften Idee des »empowerment« Anknüpfungspunkte für eine sozial eingebettete Sinnstiftung, die er im Folgenden versucht, mit dem Begriff des Settings in Verbindung zu bringen. Mit R. Moos präzisiert er Settingmerkmale und geht in Anlehnung an den Sozialpsychologen Kelman der Frage nach, über welche Prozesse soziale Beeinflussung in Settings funktioniert. Das Konzept des kontextabhängigen Selbst von B. Hannover ermöglicht eine theoretische Brücke zwischen independenten und interdependenten Auffassungen der Person. M. Wiencke reflektiert sehr grundsätzliche Probleme des Verhältnisses von Person zum Kontext und von Kognition zur körperlichen Erfahrung, die in die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze aber auch in unterschiedliche Umgangsweisen mit den von ihm untersuchten Phänomenen eingelassen sind. Insbesondere ging es ihm darum, einen angemessenen Zugang zu rituellen und sozialen Handlungen und den damit verbundenen Lernerfahrungen zu finden. Hierbei geht es nach C. Wulf um mimetische Prozesse und kaum bewusste Vorgänge der Sinnvermittlung über den Gebrauch des Körpers, so dass soziale Strukturen praktisch einverleibt werden. Als letzten Schritt des theoretischen Durchgangs überprüft er die psychologischen Befunde und Ansätze, die dafür sprechen, dass Sinnstiftung gesundheitsförderlich ist. In der Coping-Literatur und der sog. Positiven Psychologie wird in den letzten Jahren – allerdings mit sehr stark kognitiver und individualistischer Ausrichtung – zunehmend nachgewiesen, dass Gesundheit bzw. Stressbewältigung mit Sinnstiftung korreliert. Es wurden eine ganze Reihe von Personeneigenschaften gefunden, die mit Gesundheitsmaßen zusammenhängen. M. Wiencke greift in diesem Zusammenhang das theoretisch etwas reichhaltigere Modell von Antonovsky auf. Bei den reinen Kontextmaßen, die mit Gesundheit korrelieren (wie social capital) vermisst er die Sinndimension. Er begründet überzeugend, warum er sich bei der Untersuchung Setting-bezogener Sinngebungsprozesse vor allem der teilnehmenden Beobachtung und verschiedener Interwieverfahren bedient. Er arbeitet damit ethnographisch und im Rahmen der Grounded Theory, wobei er die methodologischen Varianten und aktuellen Diskussionen bis hin zu den
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neueren Ansätzen berücksichtigt. Datengrundlage seiner Untersuchung waren umfangreiche Beobachtungsprotokolle, Feldnotizen, Forschungstagebücher und 72 transkribierte Interviews. Er befand sich einmal einen Monat und zweimal zwei Monate in den Forschungsfeldern. Besonders hervorzuheben ist die differenzierte Reflexion seiner eingenommenen und zugeschriebenen Rollen im Feld, die Bearbeitung der eigenen Involviertheit und der Balance zwischen Nähe und Distanz, die im Sinne von Devereux interpretativ genutzt wird. Die Teilnahme an Ritualen und performativen Praktiken (bei denen man auch seine eigene (M. W.s) Besessenheit von Geistern feststellte) war nicht immer leicht aufzuarbeiten. Er scheute auch nicht den Ernteeinsatz bei den Mapuche in Chile, der den Zugang zu den Leuten im Dorf erleichterte. Er legt differenziert Rechenschaft über das Sampling der Forschungsfelder und der Personen/Episoden im Feld ab. Selten findet man auch eine so gründliche Reflexion des Einflusses von Übersetzern auf die Qualität der Daten. Markus Wiencke führt dann sehr lebendig in die Untersuchungsorte ein und entfaltet im fünften Kapitel entlang der nun fertig wirkenden, aber tatsächlich bis zuletzt beim Schreiben noch weiter entwickelten Kategorien das, was er »geteiltes Sinnerleben« nennt. Das, was er als gesundheitsförderlich in den drei Settings identifiziert, steckt im dort aufgeführten sozialen Geschehen und realisiert sich in der emotionalen körperlich/sinnlich erlebten Teilnahme. Diese Unmittelbarkeit, die mehr oder weniger in die sakrale Dimension hineinreicht, verleiht dem geteilten Sinnerleben Bedeutsamkeit. Das Sinnerleben wird außerdem dadurch gesundheitsförderlich, dass es auf bestimmte Weise eine Nähe zum Alltag der Teilnehmer aufweist. Diese drei Bestimmungsstücke des geteilten Sinnerlebens (Soziales Geschehen, Bedeutsamkeit und Alltagsnähe) geben dann die Gliederung des Ergebnisteils ab, in dem das umfangreiche und anschaulich präsentierte Belegmaterial jeweils für die drei untersuchten Settings auf die theoretische Struktur abgebildet wird und diese auf plastische und überzeugende Weise glaubhaft macht. In der Diskussion wird die individuelle Konstruktionsmöglichkeit der sozialen Konstruktion von Gesundheit und Krankheit noch einmal pointiert gegenüber gestellt. Aussagekräftig und interessant ist der Nachweis, dass die Basis-Ingredienzien einer individuumszentrierten erfolgreichen Beziehung zwischen Therapeut und Klient (nach Grawe) gerade nicht auf das gesundheitsförderliche geteilte Sinnerleben passen. Es handelt sich
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hier offenbar um eine andere – eben soziale – Form der Wiederherstellung von Gesundheit. Die soziale Dimension von Gesundheit wurzelt mit dem entwickelten Modell des geteilten Sinnerlebens in kulturellen Settings mit ihren jeweils speziellen Ressourcen und Machtstrukturen. Auf dem Wege zu einer umfassenden Gesundheitswissenschaft, die von »individual« bis zu »public health« reicht, wäre die Positionierung innerhalb von sozialen Praktiken, Sinnwelten und moralischen Ordnungen ein zentraler Baustein, der in der Literatur unterrepräsentiert ist. Manfred Zaumseil
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Danksagung
Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Oktober 2010 am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Ich danke allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Untersuchung für ihre vertrauensvolle Kooperation. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Manfred Zaumseil vom Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie und Prof. Dr. Christoph Wulf am Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin für ihre umfassende Betreuung meiner Arbeit. Daneben danke ich Prof. Dr. Anna Auckenthaler und meinen Kolleginnen und Kollegen der beiden Doktoranden- und Doktorandinnen-Colloquien sowie Charlotte Trenk-Hinterberger, Ulrike Kluge und Ekkehard Schröder für die vielen spannenden und weiterführenden Diskussionen. Herzlichen Dank an Prof. Dr. Bettina Hannover und Prof. Dr. Jarg Bergold für die hilfreichen Hinweise. Jutta Reinisch, Henrike Ortmann, Christin May und Katrin Hennicke danke ich für Lektorat und Korrekturen. Unserem Sohn Leonard, meiner Frau Birgit Metzger, ihren Eltern Heidrun und Dr. Wolfram Metzger, meiner Schwester Carmen Wiencke sowie meinen Eltern Hans-Jürgen und Monika Wiencke danke ich für ihre Unterstützung. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V. danke ich für die finanzielle Förderung des Drucks.
1 Einleitung
Schwere psychische Krankheit erschüttert die Ziele und Bedeutungen, mit denen ein Mensch lebt (Kloos, 2004). Chronisch psychisch Kranke müssen mit großen Brüchen in ihren Biographien zurechtkommen, das Bemühen um Sinnfindung wird damit zu einem zentralen Problem (vgl. Estroff, 2004). Es spricht viel dafür, dass eine positive Sinnstiftung den Prozess der Recovery maßgeblich beeinflusst (vgl. Davidson, Sells, Sangster & O’Connell, 2005). In dieser Arbeit folge ich Wulffs (1992) Differenzierung zwischen Sinn und Bedeutung, wobei Sinn die subjektive Bezugnahme eines Menschen auf verallgemeinerte Bedeutungen darstellt. Eine Person, die in einer psychiatrischen Einrichtung die Diagnose ›Schizophrenie‹ erhält, bekommt als Referenzpunkt für ihre subjektiven »verrückten« Erfahrungen die allgemeinen Bedeutungen des Schizophrenie-Konzepts. Problematisch an dieser Bezugnahme ist, dass an das Konzept der Schizophrenie historisch Vorstellungen von Chronizität mit lebenslangem Defekt und schwerer Behinderung geknüpft wurden (Zaumseil, 2006a, S. 333-334). Für Estroff (1993) entsteht Chronizität durch »the temporal persistence of self-and-other-perceived dysfunction; continual contact with powerful others who diagnose and treat; gradual but forceful redefinition of identity by kin and close associates who observe, are affected by, or share debility: and accompanying loss of roles and identities that are other than illness-related.« (S. 259)
Die in diesem Zitat postulierte Fusion von Krankheit und Identität betont sehr stark den negativen Aspekt; bei vollständiger Fusion wäre man nur noch krank und keine Person mehr (Zaumseil, 1997, S. 158). Nimmt man hingegen zunächst einen Zusammenhang zwischen Chronizität und unterschiedlichen Arrangements zwischen einer Person und ihrer Um-
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welt an (Zaumseil, 1997), erscheint die bedrohliche Fusion von Identität und Krankheit als stark kontextabhängig (vgl. Wiencke, 2009a). Diese Gedanken bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Ich untersuche, inwiefern die Konzeptionen von und der Umgang mit Phänomenen, die sich dem Konstrukt der Schizophrenie zuordnen lassen, an einen spezifischen Kontext gebunden sind. Auf diese Weise sollen Antworten auf die Frage gefunden werden, unter welchen Kontextbedingungen sich ein Mensch mit der Diagnose Schizophrenie als Person behaupten und damit eine »positive« Sinnstiftung gelingen kann. Um diese Frage empirisch untersuchen zu können, habe ich den allgemeinen Begriff des Kontexts mit konkreten Settings spezifiziert. Besonders ergiebig erschien der Ansatz, soziokulturell stark differierende Settings zu untersuchen, da ich mir durch die Maximierung der Unterschiede einen breiteren Blick auf Setting-bezogene Sinngebungsprozesse erhoffte. Aus diesem Grund habe ich bewusst nicht nur soziokulturell stark voneinander abweichende Settings gewählt, sondern auch strukturell in hohem Maße variierende Settings. Dazu greife ich auf die Vorarbeiten meiner Diplomarbeit zurück, in der ich im August und September 2004 in Zentren der Religionen Candomblé und Umbanda untersucht habe, wie psychische Krankheit konzeptualisiert und wie mit psychisch Kranken umgegangen wird (Wiencke, 2009b). In der Dissertation wurde die Untersuchung mit teilnehmender Beobachtung (Spradley, 1980) und problemzentrierten Interviews (Witzel, 1989) auf die beiden soziokulturell stark differierenden Settings einer deutschen psychosomatischen Klinik, in der ein Diskurs über Spiritualität mit einbezogen wird, und einer Gemeindepsychiatrie in Chile ausgedehnt. Die Untersuchungen fanden jeweils für zwei Monate vor Ort statt, in Deutschland im Jahr 2006 und in Chile im Jahr 2007. Im Rahmen der Forschungsstrategie der Grounded Theory (vgl. Glaser & Strauss, 1998) habe ich ein heuristisches Modell entwickelt, das die notwendigen Bedingungen für eine »positive« Sinnstiftung bei Schizophrenie in den drei Settings beschreibt (vgl. Kapitel 5.1). Aus dem Modell wurde die zentrale These dieser Arbeit abgeleitet: Ein möglicher Weg Gesundheit zu konstruieren, ist, sie als ein emotionales, körperliches und soziales Geschehen zu begreifen. In dem im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Konzept des ›geteilten Sinnerlebens‹ wird Gesundheit in der physischen Umgebung eines Settings und gleichzeitig alltäglichen Vollzügen verankert. In alltagsnahen, mit anderen Personen geteilten Praktiken wird eine Wirklichkeit erzeugt, die für die teilneh-
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menden Personen gesundheitsfördernd sein kann. Damit bewegt sich das Konzept im Spannungsfeld zwischen einem subjektiven und objektiven Gesundheitsbegriff. Auf das Phänomen der Schizophrenie bezogen, lässt sich die These zuspitzen: Eine spezifische Form der Sinnstiftung kann bei Schizophrenie (und anderen schweren psychischen Störungen) gesundheitsfördernd sein. Die positive Sinnstiftung ist an die emotionale und körperliche Teilnahme am sozialen Geschehen spezifischer Settings geknüpft. Dabei ist unter ›gesundheitsfördernd‹ in erster Linie ein Zurechtkommen mit der Erkrankung im Alltag zu verstehen.
1.1 K ONKRE TE G RÜNDE FÜR DIE A USWAHL DER U NTERSUCHUNGSORTE Parallel zu meinem Studium der Psychologie habe ich auch Ethnologie studiert. Durch das Studium der Ethnologie erschienen mir viele psychologische Konzepte zunehmend universalistisch und kognitivistisch (z.B. die im zweiten Kapitel vorgestellten Konzepte von ›Selbstwirksamkeit‹, ›Optimismus‹ oder ›Kohärenzsinn‹). In besonderem Maße wurde ich mir meiner Voreingenommenheit während einer im Jahr 2001 durchgeführten Untersuchung mit Straßenkindern in Tansania bewusst (vgl. Wiencke, 2009c [2007]). Hier habe ich zum ersten Mal praktisch erfahren, welches Potential ein methodischer Zugang mit teilnehmender Beobachtung und qualitativen Interviews bietet. Denn anders als meine Vorannahmen nahelegten, verstanden sich die Kinder und Jugendlichen, die in der tansanischen Stadt Mwanza auf der Straße lebten, nicht (nur) als gesellschaftliche Opfer, sondern als eigenverantwortlich handelnde Subjekte. In den materiell sehr schwierigen und gewalttätigen Lebensumständen überraschten sie mich durch viel Kreativität und Selbstreflexion, die im Widerspruch zu westlichen Trauma-Konzepten standen. Durch meine Beschäftigung mit der Klinischen Kulturpsychologie bot sich die Möglichkeit, das in der Ethnologie Erlebte und Gelernte auch in der Psychologie weiterzuverfolgen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich hier auf die kulturellen Besonderheiten und die damit verbundenen spezifischen Bedeutungen und Kontexte. Man erforscht die kontextspezifischen Verständnisse und Umgangsweisen mit (psychischer) Gesundheit und Krankheit (vgl. Zaumseil, 2007, S. 101). Das Konstrukt der Schizophrenie
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weckte mein Interesse, weil Schizophrenie nach der epidemiologischen Datenlage zwar eine universelle Möglichkeit des Menschen ist, sich jedoch die psychosoziale Realität von Personen mit dieser Krankheit in Abhängigkeit von Kultur und Gesellschaft erheblich unterscheidet (Zaumseil & Leferink 1997, S. 7-8). Hier bot sich eine äußerst interessante Vermischung zwischen biologischen und kulturellen Faktoren, die zu sehr unterschiedlichen Umgangsweisen führen konnte.1 Zaumseil und Leferink (1997) verstehen Schizophrenie »phänomenologisch als ein eigentümliches psycho-soziales Anderssein einer Person und genetisch als eine komplexe biopsycho-soziale Reaktion und Antwort des Individuums auf verschiedene Arten von Belastung, Beeinträchtigung und Infragestellung, die ihrerseits psychische, soziale und körperliche Komponenten haben können« (S. 7). Mit dem Begriff der Antwort betonen die Autoren, »daß hier nicht ein Organismus reagiert, sondern eine Person involviert ist« (S. 7). Schizophrenie ist eine Interaktionswirklichkeit (vgl. Zaumseil, 2006a) und als solche nicht trennbar vom Kontext, in dem sie täglich erfahren, diagnostiziert und behandelt wird (vgl. Barrett, 1996). Es finden sich entsprechend viele Hinweise, dass die bessere Prognose, die der Schizophrenie in sogenannten Entwicklungsländern gegenüber Industrienationen gegeben werden kann, soziale und kulturelle Ursachen hat (Zaumseil, 2006a; Kleinman, 1988; Sartorius, Jablensky, Ernberg, Leff, Korten & Gulbinat, 1987; Waxler, 1977; Murphy & Raman, 1971). Dort genesen die Personen mit der Diagnose Schizophrenie häufig schneller und zeigen weniger chronifizierte Symptome als in Industrieländern. Hopper (2004) hat die Serie der weltweit durchgeführten WHOStudien zur Schizophrenie erneut analysiert und bestätigt, aber deutlich gemacht, dass vollkommen unklar ist, welchen Einfluss Kultur auf die Ergebnisse hat. Allerdings könnte nach einer Substudie, in der Familien in Dänemark und Indien miteinander verglichen wurden, der günstigere Verlauf für Schizophrenie in Indien mit den niedrigeren Werten für Expressed Emotion zusammenhängen (vgl. Jenkins, 1991). Für Waxler (1977) wird Schizophrenie in den Entwicklungsländern häufig als akutes Problem wahrgenommen. Entsprechend gebe es die soziale Erwartungshaltung, dass psychisch Kranke wieder gesund würden. In einer Studie wur1 | Für Horwitz (2003) setzen sich psychische Störungen immer aus kulturspezifischen und universalen Komponenten zusammen: »mental disorders are internal dysfunctions that a particular culture defines as inappropiate« (S. 12).
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de die öffentliche Bewertung psychisch kranker Personen auf Bali und in Tokio vergleichend untersucht. Ergebnis der Studie war, dass Menschen mit Schizophrenie auf Bali positiver bewertet wurden als in Tokio. Dies wurde zum einen mit der tendenziell geringeren Hospitalisierungsrate in Zusammenhang gebracht: Durch den häufigeren Umgang mit psychisch Kranken in der Öffentlichkeit scheinen Ängste reduziert zu werden und für die betroffenen Menschen kann ein gesundheitsfördernderes Umfeld entstehen. Zum anderen wurde auf Bali psychische Krankheit externen Faktoren wie spirituellen Kräften oder Schwarzer Magie zugeschrieben. Entsprechend sollten Ärzte nur den sichtbaren Teil der Krankheit behandeln, für den unsichtbaren Teil dagegen waren traditionelle Heiler zuständig (Kurihara, Kato, Sakamoto, Reverger & Kitamura, 2000). An diesen Erläuterungen zeigt sich, wie die kulturellen Interpretationen sowohl die soziale Reaktion auf die psychische Krankheit als auch die subjektive Erfahrung mit dieser formen (vgl. Link & Phelan, 1999; Peltzer, 1996; Jenkins, 1988). Zaumseil (2006a) zeigt in seiner Untersuchung zum alltäglichen Umgang mit Schizophrenie in Java die spezifische Weise, mit der dort das Verhältnis von Integration und gesellschaftlicher Exklusion psychisch Kranker geregelt ist. Er fand eine Art kontrollierende Fürsorge für schwerwiegend psychisch Kranke, die mehr oder weniger scharf in die psychiatrische Kategorie »Schizophrenie« fallen. Das in vivo-Konzept des ngemong strukturierte den familiären, nachbarschaftlichen und kommunalen Umgang mit psychisch Kranken, wobei deren emotionales Befinden berücksichtigt wurde. Das Konzept des ngemong überschnitt sich mit einem ausgeprägten Bemühen, die real stattfindende Stigmatisierung der psychisch Kranken und ihrer Familien zu verdecken und die psychisch Kranken nicht abschätzig zu behandeln. Sie wurden auch nicht für ihr Handeln verantwortlich gemacht. Dadurch wurde eine für alle Beteiligten sozial akzeptable Wirklichkeit erzeugt, in der niemand beschämt wird. Gemeinsam bemühten sich die Untersuchungsteilnehmenden – insbesondere die psychisch Kranken selbst – die Situation möglichst positiv darzustellen. Widersprüchliche Versionen der Wirklichkeit konnten nebeneinander bestehen bleiben. In vielen Fällen führte diese komplexe Form der kommunalen Problembewältigung tatsächlich zur Integration von psychisch Kranken in ihre Familien und Nachbarschaften. Wurden allerdings aggressive Handlungsweisen der Kranken als ngamuk identifiziert, kam es zu harten physischen Kontrollmaßnahmen in der Familie und Nachbarschaft oder auch zum Ausschluss, mit der Konsequenz z.B.
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eines Lebens auf der Straße. Wenn eine Familie über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, konnte es auch zur Einweisung der Angehörigen in die Psychiatrie kommen. Mit bestimmten Vorstellungen und Praktiken wird insofern eine kulturell spezifische Wirklichkeit im Umgang mit psychischem Kranksein geschaffen, die für psychisch Kranke sehr folgenreich ist (Zaumseil, 2006a). Vor diesem Hintergrund habe ich bei meiner Diplomarbeit in der Anderthalb-Millionen-Stadt Recife im Nordosten Brasiliens den Umgang mit »Schizophrenie« in Zentren der Religionen Candomblé und Umbanda untersucht (vgl. Wiencke, 2009b). Dabei hing die Wahl des Forschungsortes mit meiner Freundschaft zu einem amerikanischen Psychologen zusammen, über dessen Vermittlung ich relativ schnell die nötigen Kontakte herstellen konnte. In der Literatur fand ich Phänomene beschrieben, die an die Symptome des Krankheitskonstrukts »Schizophrenie« erinnerten, in den Religionen des Candomblé und der Umbanda allerdings kulturell stärker akzeptiert und nicht als außergewöhnlich empfunden wurden. Hier wurden derartige Phänomene mit dem Wirken von Geistern in Beziehung gesetzt. Ich habe herausgearbeitet, wie Schizophrenie als »spirituelles Problem« gilt und eine umfassende Umdeutung, Bearbeitung und soziale Unterstützung in den sozialen Settings der Glaubensgemeinschaften erfährt. Nach meiner Diplomarbeit beschäftigte mich die Frage: Was kann man aus dem, verglichen mit dem psychiatrischen Zugang, gänzlich anderen Umgang mit Schizophrenie hinsichtlich eines deutschen Kontexts lernen? In den Settings von Candomblé und Umbanda lag die Aufmerksamkeit nicht auf der individuellen Krankheit, sondern folgte einem interdependenten Verständnis, mit dem auch die Bezugnahme auf spirituelle Bedeutungswelten zusammenhing. Die Settings schienen besondere Ressourcen zu bieten, mit denen psychisch Kranke Sinn aus ihren Erfahrungen generieren konnten. Zu Beginn der Promotion arbeitete ich als Psychologe in einer Therapeutischen Wohngemeinschaft für Menschen mit der Diagnose Schizophrenie. Hier erlebte ich die Schwierigkeiten, die chronisch psychisch Kranke haben, mit den gravierenden Brüchen in ihrer Biographie zurechtzukommen. Dabei schienen die psychiatrische Praxis und das psychiatrische Krankheitsmodell wenige Anknüpfungspunkte zu bieten. Deswegen habe ich nach weiteren Settings gesucht, die interdependente und
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spirituelle2 Aspekte enthalten. In diesem Zusammenhang erschienen mir Settings besonders interessant, die versuchen, traditionelle Heilungspraktiken mit biomedizinischen Konzepten zu kombinieren. Die psychosomatische Klinik in Deutschland weckte aus verschiedenen Gründen mein Interesse: Es sollte zunächst auch ein Setting aus dem eigenen kulturellen Kontext untersucht werden. Der Fokus liegt hier auf Milieu- und Gruppentherapie, was einem interdependenten Verständnis des Menschen mit einer Einbettung in soziale Beziehungen nahekommt. Es werden darüber hinaus explizit spirituelle Aspekte miteinbezogen, pointiert ausgedrückt in dem Konzept der »spirituellen Krise« (vgl. Grof & Grof, 1990a), nach dem psychische Krankheit manchmal auch als nicht ganz gelungener spiritueller Entwicklungsschritt verstanden werden kann. Das Ergänzungsverhältnis der spirituellen Bedeutungswelt zur medizinischen Praxis mit ICD-10-Diagnosen zeigt sich auch in rituellen Praktiken, die – so mein erster Eindruck während einer Orientierung verschaffenden Hospitation – Parallelen zu traditionellen Ritualen wie aus dem Candomblé aufwiesen. Da ich in meiner Diplomarbeit bereits auf die transpersonale Psychologie und Psychotherapie (vgl. Walsh & Vaughan, 1985) als theoretischen Referenzrahmen aufmerksam wurde, war ich positiv überrascht, als ich entdeckte, dass die Klinik diesen Ansatz einbezog. Die Gemeindepsychiatrie in Chile erschien vielsprechend, weil hier eine zunächst konventionelle psychiatrische Einrichtung mit universalistischen Konzepten und Behandlungsmethoden offen für den Kontext zu 2 | Scharfetter (1992) definiert Spiritualität als »eine Haltung, eine Lebensführung der Pflege, Entwicklung, Entfaltung, Öffnung des eingeschränkten Alltagsbewusstseins hinaus über den Ego- und Personenbereich in einen individuumsüberschreitenden, transzendierenden, deshalb transpersonal genannten Bewusstseinsbereich« (S. 1). In der Definition der California State Psychological Association Task Force on Spirituality and Psychotherapy wird das Element des Vertrauens hervorgehoben: »It has been said that spirituality is the ›courage to look within and trust‹. What is seen and what is trusted appears to be a deep sense of belonging, of wholeness, of connectedness, and of the openness to the infinite.« (Zitiert nach Krippner & Welch, 1992, S. 5f.). In eine ähnliche Richtung argumentieren die Gemeindepsychologen Kloos und Moore (2000): »We view spirituality as being an aspect of human experience realized as awareness, belief, and sense of connection with others and the universe, material and non material« (S. 121).
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sein und sich dadurch selbst zu verändern schien. Hier bot sich die Möglichkeit zu untersuchen, wie der offensichtliche Nutzen der westlichen Psychiatrie kultursensibler angepasst werden konnte. Das Setting unterscheidet sich von den beiden anderen darin, dass die Patienten hier nicht ihre Alltagswelt zunächst einmalig für mehrere Wochen verlassen, um stationär behandelt zu werden – wie in der psychosomatischen Klinik –, noch regelmäßig für einige Stunden aus ihrem Alltag heraus das Setting aufsuchen – wie in den Candomblé- und Umbanda-Tempeln –, sondern in ihrer Alltagswelt bei ihren Familien bleiben. Denn das Setting ist hier als der Kontakt Patient-Psychiatrie definiert, der zu einem wesentlichen Teil in der familiären, interdependenten Umgebung der Patienten stattfindet. Viele Patienten sind Angehörige der größten indigenen Minderheit der Mapuche. Meine Vermutung war, nachdem ich von dem Setting das erste Mal gehört hatte, dass die Gemeinden aufgrund ihrer reziproken Struktur auch besondere Ressourcen im Umgang mit Schizophrenie bereitstellen könnten. Der Literatur hatte ich entnommen, dass im Verständnis und Umgang mit Krankheit bei den Mapuche die Bezugnahme auf eine spirituelle Bedeutungswelt eine wichtige Rolle spielt (z.B. Citarella, Conejeros, Espinossa, Jelves, Oyarce & Vidal, 2000). Außerdem fielen zwei weitere für mich interessante Dinge auf: Zum einen koexistieren die unterschiedlichen medizinischen Systeme der Mapuche-Heilerinnen und -Heiler (machis) und der Krankenhäuser und werden von den Nutzerinnen und Nutzern ergänzend aufgesucht (vgl. Arrue & Kalinsky, 1991 für Argentinien). Zum anderen passen sich auch die Mapuche-Heiler den modernen Bedingungen an und integrieren medizinische, katholische und chilenische Elemente zu einer hybriden Behandlungspraxis, die den zeitgemäßen Heilungsbedürfnissen entspricht (vgl. Bacigalupo, 2007). Erste Recherchen von Deutschland aus ergaben, dass die Psychiatrie die traditionellen Heilungspraktiken der Mapuche zu tolerieren schien. Ich vermutete, dass es für die Mapuche-Patienten und ihre Angehörigen nützlich sein könnte, auf die medikamentöse Behandlung zur Symptomkontrolle und auf die traditionellen Praktiken für die Sinngebung ergänzend zurückzugreifen.
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1.2 A UFBAU DER A RBEIT Die Arbeit gliedert sich in fünf übergeordnete Kapitel, die wiederum in Unterkapitel unterteilt sind. Nach dieser Einleitung wird im zweiten Kapitel die Fragestellung entwickelt. Bisher ist in der Literatur das Konzept des ›Settings‹, unter der Perspektive seiner potentiell gesundheitsfördernden Genese von Bedeutungen, noch nicht ausreichend ausgebildet. Aus diesem Grunde habe ich auf sehr unterschiedliche theoretische Perspektiven zurückgegriffen, um eine sinnvolle Theoriebasis zu erhalten. Der Aufbau des zweiten Kapitels folgt diesem Ablauf: Es wird jeweils eine Vorschau gegeben, warum ich eine bestimmte theoretische Perspektive darstelle, an welchem Punkt sie für meine Untersuchung relevant ist, und nach der Darstellung ziehe ich abschließend eine Bilanz, was sich daraus für die Untersuchung ableiten lässt, was ich für zutreffend und was ich aus welchen Gründen für einseitig und ergänzungsbedürftig halte. Im ersten Unterkapitel wird beschrieben, wie der schon immer vorhandene »Wahnsinn« zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Konzept der Schizophrenie zur Krankheit des individuumszentrierten Selbst wurde (vgl. Zaumseil, 2006a). Im zweiten Unterkapitel bildet das Recovery-Konzept den Ausgangspunkt, von dem aus die Fragestellung dieser Arbeit entwickelt wird: Aufgegriffen wird die Idee, dass Sinnstiftung im Alltag gesundheitsfördernd sein kann, weil sie ein »Zurechtkommen« mit den Symptomen ermöglichen kann. Allerdings problematisiere ich das der amerikanischen Variante des Recovery-Konzepts (vgl. Anthony, 1993) inhärente Krankheitsmodell und seine individuumszentrierte Perspektive. Denn bisher ist das Konzept der Sinngebung nicht ausreichend im jeweiligen Kontext verortet worden, die Möglichkeiten, die sich hier ergeben könnten, sind kaum erforscht. In dieser Arbeit wird eine interdependente Vorstellung von Recovery entwickelt, mittels derer versucht wird, den Dualismus zwischen Selbst und Kontext (vgl. Kloos, 2004) zu überwinden. Dazu sind zwei Richtungen einzuschlagen und dann zusammenzuführen, eine Exploration von ›Sinnstiftung‹ und eine von ›Setting‹. Deshalb wird in dem dritten Unterkapitel die hier benutzte Definition und Differenzierung von Sinn und Bedeutung erläutert. Darauf aufbauend, werden anschließend Ansätze aus der Stressforschung diskutiert, die in diesem Zusammenhang weiterführen. Insbesondere Antonovskys (1997) Salutogenese-Modell wird als wichtige heuristische Orientierung für diese Untersuchung vorgestellt. Allerdings bettet Antonovsky seine zentrale Hypothese, dass Sinnstiftung
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gesundheitsförderlich sei, zum einen nicht ausreichend in den Kontext ein, zum anderen orientiert sich das Salutogenese-Modell an einem Körper-Geist-Dualismus, der für das Recovery-Konzept als wenig nützlich erscheint. Das vierte Unterkapitel stellt deswegen im Rahmen einer Konzeptualisierung des Setting-Konzepts Möglichkeiten vor, die Dualismen ›Individuum‹ und ›Kontext‹ sowie ›Körper‹ und ›Geist‹ zu überwinden. Die nun im fünften Unterkapitel präsentierten Fragestellungen fassen zusammen, was in der zuvor diskutierten Literatur offen bleibt bzw. was sich gewinnbringend zusammenführen ließe. Das dritte Kapitel ist der methodischen Durchführung der Untersuchung gewidmet. Nach einer Begründung des qualitativen Zugangs diskutiert das zweite Unterkapitel meine spezifische Umsetzung der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Spradley, 1980) und der qualitativen Interviews (vgl. Witzel, 1982) in den konkreten Untersuchungssettings. An dieser Stelle werden auch insbesondere die Schwierigkeiten beschrieben, die ich als Forscher in der »Fremde« des Feldes hatte. Das dritte Unterkapitel verbindet dieses Anliegen stärker mit den Sampling-Strategien, die ich im Rahmen des heuristischen Modells der Grounded Theory (vgl. Glaser & Strauss, 1998 [1967]) benutzt habe, und stellt auch die Samples der Interviewpartnerinnen und -partner im Einzelnen vor. Das vierte Unterkapitel gibt allgemeine Informationen zu den Interviews. Der konkrete Weg zur Theorie ist das Thema des fünften Unterkapitels. Im Rahmen einer theoretischen Auseinandersetzung mit den differenten Positionen innerhalb des konzeptionell breiten Forschungsprogramms der Grounded Theory werde ich meinen eigenen Umgang mit der Forschungsstrategie darstellen und nachvollziehbar machen, wie ich eine Theorie aus den Daten heraus entwickelt habe. Diese wird im sechsten Unterkapitel anhand der Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung bewertet (vgl. Strübing, 2004; Steinke, 2003), ihr Geltungsrahmen und offen gebliebene Aspekte werden aufgezeigt. Das vierte Kapitel stellt die drei untersuchten Ansätze in der zeitlichen Reihenfolge der Forschungen vor: zunächst einen Candomblé- und Umbanda-Tempel sowie einen weiteren Candomblé-Tempel in Brasilien, dann die deutsche psychosomatische Klinik mit ihrer besonderen Einbeziehung eines Diskurses über Spiritualität und anschließend die Gemeindepsychiatrie in Chile. Beschreibungen aus meinen Beobachtungsprotokollen und Ausschnitte aus Interviews mit Mitarbeitern der Settings und Klienten beschreiben die Besonderheiten der Untersuchungsorte. Daneben gebe ich
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unter Rückgriff auf ausgewählte Literatur die notwendigen Hintergrundinformationen zu den Religionen Candomblé und Umbanda, zu den Mapuche, die in der Gemeindepsychiatrie behandelt werden, sowie zu dem spirituellen Ansatz der psychosomatischen Klinik. Den Kern der Arbeit bildet das fünfte Kapitel, in dem zunächst in einem einführenden Teil das entwickelte Modell von Gesundheit und Gesundheitsförderung vorgestellt wird. In den folgenden drei Unterkapiteln werden die Kategorien und ihre Zusammenhänge in einer perspektivischen Vielfalt aus dichten Beschreibungen aufgrund von Beobachtungsprotokollen und Interviewzitaten präsentiert – unterteilt nach den Untersuchungsorten Brasilien, Deutschland und Chile. Im sechsten Kapitel werde ich die zuvor dargestellten Untersuchungsergebnisse mit den im zweiten Kapitel erläuterten theoretischen Ansätzen in Beziehung setzen, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede diskutieren und dabei die Spezifik des hier vorgestellten Modells einer Gesundheitsförderung verdeutlichen. Das siebte Kapitel schließt die Arbeit mit einem Ausblick auf mögliche zukünftige Untersuchungen und Konsequenzen für die Praxis ab. Als achtes Kapitel erläutert ein Glossar die wichtigsten emischen3 Begriffe, gefolgt vom Literaturverzeichnis im neunten Kapitel.
3 | Unter emisch verstehe ich die eigene Perspektive der Untersuchungsteilnehmenden.
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2 Entwicklung der Fragestellung
2.1 S CHIZOPHRENIE Vor etwa 100 Jahren wurde der »Wahnsinn«, der immer schon existierte, in Westeuropa zur Schizophrenie mit bestimmten Bewertungen und Bedeutungen. Im westlichen Wissenschaftsverständnis werden Natur und Kultur häufig als Gegensätze gesehen, wobei der Körper der Natur zugerechnet wird. Entsprechend verknüpfen die biologischen Wurzeln des Modells der Schizophrenie den Wahnsinn mit der Natur des Menschen. Fatalerweise wurde mit der Schizophrenie historisch die Vorstellung von Chronizität mit lebenslangem Defekt und schwerer Behinderung verbunden. Im Umgang mit psychisch Kranken kam es in diesem Zusammenhang zu stigmatisierenden Praktiken, materialisiert in den Psychiatrien und eingelassen in kulturspezifischen Vorstellungen über psychisch Kranke (Zaumseil, 2006a, S. 333). Ich habe in einem Aufsatz die Zusammenhänge zwischen der modernen westlichen Gesellschaft – wie der Soziologe Georg Simmel sie beschreibt – und der Entstehung der Schizophrenie diskutiert (Wiencke, 2009d) und möchte die Argumentation hier erneut aufgreifen. Emil Kraepelin (1913) begründete mit seinem Konzept der dementia praecox das moderne Schizophrenieverständnis. Unter dementia praecox verstand Kraepelin eine »eigenartige Zerstörung des inneren Zusammenhangs der psychischen Persönlichkeit« (S. 668).1 Schizophrenie führt zum Herausfallen aus sozialen Bezügen und zum Verlassen der gemeinsamen Sprache 1 | Kraepelins Konzeption der dementia praecox von 1896 beinhaltete die Vorstellung einer fortschreitenden Verschlechterung des Zustandes der Betroffenen. Doch bereits 15 Jahre später machte Bleuler 1911 mit der Begriffseinführung der »Schizophrenien« im Plural deutlich, dass schizophrene Erkrankungen sehr unterschiedliche Verläufe
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und der geteilten Bedeutungen (Leferink, 1997a). Leferink sieht den Zusammenhang zwischen der Schizophrenie und der modernen Gesellschaft in der Konvergenz von Bedeutungsfeldern. In dieser Sichtweise braucht die Gesellschaft die Verrücktheit, um die entwurzelte, freigesetzte Subjektivität zu begreifen. Die moderne Gesellschaft trifft in der Verrücktheit auf sich selbst und erkennt ein Moment ihrer Verfassung.2 Schizophrenie kann insofern als Krankheit der in der westlichen Moderne entstandenen Subjektivität gelten und ist »zutiefst mit den Bedeutungen verknüpft, die heute Subjektivität ausmachen« (Zaumseil, 1997, S. 156). Es musste in der Moderne also zunächst das Konzept eines Subjekts entstehen, das durch Schizophrenie zerstört werden konnte, damit Schizophrenie als Krankheit gesellschaftlich anerkannt und als eigenes Phänomen dargestellt werden konnte (Leferink, 1997a). Georg Simmel konzipiert Subjektivität als Ergebnis der individuellen Zusammensetzung der fragmentarischen Wirklichkeit, die aus der inneren Wechselwirkung der Empfindungen, Erfahrungen und Vorstellungen entsteht. Subjektivität ist eine bestimmte Reorganisation von Erfahrungen und Erlebnissen, in der ständig neu wechselnde flüchtige und kontingente Eindrücke integriert werden. Sie hat ihren Bezug nur in der Komplexität und Differenziertheit des Ich (Biesenbach, 1988, S. 135). Biesenbach (1988) bezeichnet Simmels Individualitätskonzept als »Subjektivität ohne Substanz« (S. 137). Subjektivität verweist auf ein sich selbst immer wieder neu deutendes Subjekt. Identität wird so erst zum Problem, verweist nicht auf einen festen Kern, eine fixe Identität im Individuum. Es ist keine Instanz jenseits einer relationalen Beziehung denkbar. (S. 137)
In diesem Verständnis besteht die individuelle Subjektivität aus spezifischen Wechselwirkungen zwischen Beziehungen, die das Individuum als nehmen können; ein Verlauf in Episoden ist möglich und sogar die völlige Wiederherstellung des gesunden Zustands (Amering & Schmolke, 2007, S. 14). 2 | Michel Foucault (1973) versteht in seiner »Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft« Wahnsinn nicht als Naturphänomen, sondern als kulturelles Konstrukt, gestützt von einem System administrativer und medizinisch-psychiatrischer Praktiken. Insofern interessiert sich Foucault in seiner historischen Untersuchung des Wahnsinns nicht für eine Krankheit und ihre Behandlung, sondern für die Zusammenhänge von Freiheit und Kontrolle sowie von Wissen und Macht.
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soziales Wesen eingeht. Es ist aufgrund der Synthese von persönlichen und universal geteilten Eigenschaften einzigartig (Simmel, 1992). Das »Individuum« ist bei Simmel also ein relationales Konzept, es ist nur auf der Grundlage von Beziehungen beschreibbar. Mit seinem Handeln drückt das Individuum Beziehungen zu anderen Menschen aus (Jung, 1990). Mit den Bedingungen der Entwurzelung, Enttraditionalisierung und Subjektivierung wurde die Entstehung der Schizophrenie erst möglich (Leferink, 1997a). So finden sich auch Parallelen zwischen den Charakteristika der Schizophrenie mit ihren paradoxen Merkmalen von Produktivität und Defizit, Negativität und Positivität, Versklavung und Freiheit, geistiger Verarmung und Kreativität und Georg Simmels Beschreibung der Moderne. Auffälligerweise definiert Simmel (1998) die Moderne psychologisch: Denn das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unseres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind. (S. 152)
Die Bewohnerinnen und Bewohner der modernen Großstadt leben am Anfang des 20. Jahrhunderts auf neue Arten zusammen, die neue Verhaltensmuster und Erfahrungen mit sich bringen. Dabei sind die zunehmende Differenzierung und Fragmentierung des sozialen Lebens für Simmel die zentralen Elemente dieser neuen Lebensformen. Simmel certainly envisaged the fragmentation of both discourses and individuals, located in a past that ›comes down to us only in fragments‹, a past that ›can come to life and be interpreted only through the experiences of the immediate present‹. The experience of the immediate present is one of discontinuity, flux and fragmentation. (Frisby, 1992, S. 169; Simmel, 1894, S. 275)
Das individuelle Leben in der modernen Großstadt ist für Simmel (1999) durch sinnlose Beschleunigung, Beliebigkeit, Zersplitterung und Zerreißen des Sinnzusammenhangs gekennzeichnet. Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte
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der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren. (S. 116)
Das Subjekt reagiere mit Widerstand, denn es drohe »in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden« (S. 116). Die Großstädte seien die »eigentlichen Schauplätze dieser, über alles Persönliche hinauswachsenden Kultur« (S. 130). Sie böten eine solch »überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes, dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann« (S. 130). Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibe die Großstädter dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen und äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen (Simmel, 2001). Bedroht von Nivellierungsprozessen, suche die Großstadtpersönlichkeit einen Ausweg in einer verstärkten Betonung der Individualität und extremen Subjektivität. Die typische mit der Großstadt assoziierte Existenzform sei von Blasiertheit dominiert, der Abstumpfung der Sinne und des Unterschiedsempfindens. Die nervöse Persönlichkeit3 reagiere mit Distanz, einer »inneren Schranke zwischen den Menschen«, denn »das Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des großstädtischen Verkehrs wäre ohne jene psychologische Distanzierung einfach unerträglich« (Simmel, 2001, S. 542). Der Kult des nur flüchtig Präsenten schlage sich in der Gestaltung der Lebensstile nieder, deren wesentliche Funktion Simmel darin sieht, Distanz zwischen uns und den Dingen herzustellen. Das Subjekt wird in Simmels Beschreibungen im Spannungsfeld zwischen inneren und äußeren Räumen problematisiert, eine Kultur der Innerlichkeit tritt den versachtlichten Bedrohungen gegenüber. Hinsichtlich der Tendenz zu starrer Rationalität und Abstraktheit mit ihrer Entfremdung von den emotionalen und leiblichen Lebensgrundlagen gibt es Wechselbeziehungen zwischen der Moderne und der Schizophrenie (vgl. Sass, 1992). Für Simmel (2001) lässt sich die moderne Gesellschaft vor allem über eine gesteigerte Rationalität in Zusammenhang mit der Geldökonomie charakterisieren.
3 | Zu Beginn der Moderne taucht auch die Neurasthenie auf − als kulturelles Konstrukt und zugleich als Leidenserfahrung. Die vieldeutigen und unspezifischen Symptome Impotenz, Magen- und Darmbeschwerden, Herzflattern, Schlaflosigkeit, Angst- und Schwächezustände werden erst durch verbindende Interpretationen zur Nervosität (Radkau, 1998, S. 13).
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Die geistigen Funktionen, mit deren Hilfe sich die Neuzeit der Welt gegenüber abfindet und ihre inneren – individuellen und sozialen – Beziehungen regelt, kann man großenteils als rechnende bezeichnen. (Simmel, 2001, S. 498)
Der Verstandesherrschaft und der Geldökonomie ist ihre Objektivität in der Behandlung von Menschen und Dingen gemeinsam. Dabei benutzt der Verstand das Geld als Medium für seine Berechnungen (Simmel, 1984). Aus diesen Überlegungen zu den Parallelen zwischen der Entwicklung des Konzepts der Schizophrenie und den umfassenden Veränderungen im menschlichen Zusammenleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts ergeben sich als Konsequenz für meine Untersuchung deutliche Hinweise auf eine spezifische kulturabhängige Konstruktion des Phänomens der Verrücktheit, die ich nun in Bezug auf die Vorstellungen der Genesungsmöglichkeiten weiter differenzieren werde.
2.2 R ECOVERY4 Vor dem Hintergrund dieser »westlichen« Vorstellungen vom Selbst wurden nun unterschiedliche Konzeptionen davon entwickelt, was Schizophrenie als Krankheit bewirkt – als eigene Wesenheit gedacht, die mit dem Selbst der Betroffenen verwoben ist – und wie dieses individuumszentriert gedachte »Selbst« zu retten ist. So unterscheidet Estroff (1989) »ich habe Krankheiten« von »ich bin Krankheiten«, zu denen sie Schizophrenie zählt. Estroff (1989) schreibt: »Having schizophrenia (and other severe, persistent psychiatric disorders) includes not only the experience of profound cognitive and emotional upheaval; it also results in the transformation of self as known inwardly, and of person […] as known outwardly by others« (S. 40, zitiert nach Kloos, 2004, S. 4). In dieser individuumszentrierten Perspektive werden zwei Pole vertreten: einerseits werden die persönlichen Veränderungsprozesse bei den von Schizophrenie Betroffenen als Verlust des Selbstbewusstseins interpretiert (vgl. Andreasen, 1984). Auf der anderen Seite weisen Langzeitstudien darauf hin, dass psychotische Krankheiten sehr vielfältig verlaufen und das Bewusstsein, selbst aktiv zu handeln, erhalten bleiben könne (vgl. Häfner, 2005; Harrison et al., 2001). 4 | Der Abschnitt zur ›Recovery‹ orientiert sich zum Teil an Kloos (2004).
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Trotz grundlegender Veränderungen könnten Betroffene selbstbestimmt und aktiv ihr Leben sinnvoll gestalten: Schizophrenie erschüttere die Bedeutungen, die Menschen von sich und der Welt haben sowie die Ziele in ihrem Leben (Kloos, 2004; vgl. Estroff, 2004). Bei der Suche nach Bedeutungsmustern in der Krankheit müssten die Betroffenen ihren Erfahrungen einen Sinn geben und ihr Selbstbild und ihre Ziele neu definieren. Inwieweit ihnen das gelinge, habe entscheidenden Einfluss auf den Recovery-Prozess (vgl. Davidson et al., 2005). Das Konzept der Recovery wurde in Bezug auf psychische Erkrankung zuerst von Nutzern und ehemaligen Patienten im Bereich der psychiatrischen Rehabilitation artikuliert (Chamberlin, 1984; Deegan, 1988). Anthony (1993) definiert Recovery als a deeply personal, unique process of changing one’s attitudes, values, feelings, goals, skills, and/or roles. It is a way of living a satisfying, hopeful and contributing life even with limitations caused by illness. Recovery involves the development of new meaning and purpose in one’s life as one grows beyond catastrophic effects of mental illness. (S. 15)
Problematisch an diesem Konzept ist zum einen die Anerkennung des Krankheitsmodells durch die Annahme, die Sinnfindung finde mit der Krankheit statt. Denn es gibt überzeugende Hinweise darauf, dass der Verlust einer krankheitsunabhängigen Ich-Identität5 den Kern von Chro5 | Identität lässt sich psychologisch als das Bild verstehen, das eine Person von sich selbst hat (Zaumseil, 1997, S. 148). Damit ist Identität selbstkonstruiert, entsprechend kann nur der betreffende Mensch selbst über seine Identität Auskunft geben. Identität ist sowohl von Rolle, dem Bündel gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen in der Lebenswelt einer Person, als auch von Persönlichkeit, der Gesamtheit der psychischen Merkmale eines Menschen, zu unterscheiden. Denn Identität existiert als Selbstkonstruktion im Gegensatz zu Rolle und Persönlichkeit im Bewusstsein des Individuums und muss entsprechend dort erforscht werden. Dabei ist Identität ein relationaler Begriff, der z.B. darüber Auskunft gibt, wie jemand im Vergleich zu früher ist oder hier im Vergleich zu dort (Haußer, 1995, S. 3f.). Haußer definiert Identität als »die Einheit aus Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Kontrollüberzeugung eines Menschen, die er aus subjektiv bedeutsamen und betroffen machenden Erfahrungen über Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung und personale Kontrolle entwickelt und fortentwickelt und die ihn zur Verwirklichung von Selbstansprüchen, zur Realitätsprüfung
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nifizierung6 bildet. Die im Allgemeinen positiv verstandene »Krankheitseinsicht« könnte insofern ein schädlicher professioneller Beitrag zur Chronifizierung sein (Aderhold & Bock, 2000). Zum anderen wird auf individuelles Wachstum und individuelle Sinnkonstitutionen fokussiert, die den Kontext, in dem die betroffenen Individuen sich aufhalten und ihre Identität entwickeln, völlig ignorieren. Dabei lässt sich Chronifizierung als Teil verschiedener Arrangements mit der Umgebung und sich selbst sehen und somit als hochgradig abhängig von dem spezifischen Kontext, in dem sie stattfindet. Chronizität und Identität sind bei Personen mit der Diagnose »Schizophrenie« eng miteinander verknüpft (Zaumseil, 1997, S. 156; vgl. Zaumseil, 2006a; Charlin, 1996; Kleinman, 1988; Harding, 1987). Für meine Untersuchung gewinnbringend ist die dem Recovery-Konzept inhärente Idee eines »sinnvollen« Lebens mit der Diagnose Schizophrenie. Ausgehend von der Anerkennung des Krankheitsmodells verabschieden sich die Vertreter des Recovery-Ansatzes zwar von der Gleichsetzung von Recovery mit Heilung, betonen jedoch, dass die Betroffenen trotzdem Empowerment7 erleben, Sinn und Hoffnung finden und Beziehungen mit anderen Menschen aufbauen könnten (vgl. Warner, 2004; Jacobson & Greenley, 2001): Major recovery may occur without complete symptom relief. That is, a person may still experience major episodes of symptom exacerbation, yet have significantly restored task and role performance and/or removed significant opportunity barriers. From a recovery perspective, those successful outcomes may have led to the growth of new meaning and purpose in the person’s life. (Anthony, 1993, S. 16)
In dem Zitat klingt an, dass das Recovery-Konzept nicht nur auf die Krankheit selbst Bezug nimmt, sondern auf die gesamte soziale Dimension des und zur Selbstwertherstellung im Verhalten motivieren« (S. 66). Mit Heinz (2006) kann man sagen, dass Identität »in jedem präreflexiven Zugriff auf das Gedachte und Gefühlte« (S. 389) entsteht. Identität lässt sich als kontinuierlicher Konstruktionsprozess verstehen (Giddens, 1991), der im Austausch mit der sozialen und kulturellen Umwelt steht (Bruner, 1990). 6 | Chronisch bezeichnet die langsame Entwicklung einer Krankheit mit langwierigem und langsamem Verlauf (Amering & Schmolke, 2007, S. 15). 7 | Der Begriff des ›Empowerment‹ wird auf der nächsten Seite erklärt.
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psychischen Krankseins, das oft mit Stigmatisierungsprozessen einhergeht (Anthony, 1993, S. 15). Deswegen beziehe ich mich in dieser Arbeit auf das Recovery-Konzept, werde es aber als interdependent beschreiben. Dabei werde ich mich immer am emischen Verständnis von Heilung orientieren und damit die universalistische Position des Recovery-Konzepts inhaltlich unterschiedlich füllen. Die allgemeine Definition von Amering & Schmolke (2007) soll als Orientierung dienen: »Recovery als Entwicklung aus den Beschränkungen der Patientenrolle hin zu einem selbstbestimmten sinnerfüllten Leben« (S. 11). Denn diese Definition ist zum einen offen genug, um der soziokulturellen Vielfalt meiner Untersuchungssettings gerecht zu werden. Zum anderen ist hier nicht mehr die oben problematisierte Anerkennung des medizinischen Krankheitsmodells enthalten. Das mit dem Recovery-Gedanken verbundene Konzept des Empowerment wurde in der US-amerikanischen Community Psychology entwickelt. Für Rappaport (1981) bedeutet Empowerment »to enhance the possibilities for people to control their own lives« (S. 15). Für Zimmermann (2000) enthält das Konzept den grundlegenden Gedanken, dass viele Probleme mit der ungleichen Verteilung von Ressourcen bzw. einem ungleichen Zugang zu ihnen zusammenhängen. Hiermit ist die Erwartung verbunden, dass sich Menschen – wenn sie die Möglichkeit bekommen – aktiv für ihre Gesundheit einsetzen, wobei Professionelle dann eine kooperativ unterstützende Rolle einnehmen sollten. Zimmermann macht eine Unterscheidung zwischen dem Empowerment-Prozess und dem Empowerment-Ergebnis. Dieser Prozess kann auf drei Ebenen stattfinden: auf der Personenebene als Befähigung, auf der Organisationsebene als Partizipation und Teilung der Verantwortung sowie auf kommunaler Ebene als Zugang zu Ressourcen und Toleranz gegenüber Verschiedenheit. Die Ergebnisse sind dabei auf der individuellen Ebene wahrgenommene Kontrolle und partizipative Verhaltensweisen, auf der Organisationsebene effektive Konkurrenz um Ressourcen und Zusammenarbeit zwischen Organisationen sowie auf kommunaler Ebene z.B. pluralistische Führungsstrukturen oder Koalitionen von Organisationen. Riger (1993) kritisiert, dass Empowerment bisher in vielen Untersuchungen nur auf der individuellen Ebene untersucht worden sei. Hierin zeige sich das Problem, dass im Konzept des Empowerment das individualistische, mit dem männlichen Stereotyp assoziierte Durchsetzungsverhalten bevorzugt werde. In ihrer Kritik weist sie auch auf die Gefahr hin, die Partizipation z.B. von Nutzern in Gesundheitseinrichtungen mit Empowerment gleichzusetzen. Denn eine Beteiligung der
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Nutzer an Entscheidungsprozessen bedeute nicht unbedingt eine Veränderung bei der Verteilung von Ressourcen. Zaumseil (2006b, S. 42) weist auf die Wertorientierungen hin, die im Empowerment-Ansatz enthalten seien, wie Chancengleichheit, das Recht auf Selbstverwirklichung oder soziale Gerechtigkeit, die in vielen Teilen der Welt sehr unterschiedlich wahrgenommen würden. Im Ansatz des Empowerment ist die Diversität kultureller Kontexte zwar berücksichtigt, das Selbst und der Kontext werden jedoch klar getrennt. In dieser Arbeit werde ich die Möglichkeiten von Empowerment hingegen auf einer interdependenten Ebene betrachten, in der Selbst und Kontext untrennbar verbunden sind. Dabei wird aufgrund der soziokulturell sehr unterschiedlichen Untersuchungskontexte das universalistisch konzipierte Empowerment-Konzept kontextspezifisch betrachtet und relativiert. Der Aspekt der Sinnfindung wird von Vertretern des Recovery-Konzepts näher charakterisiert. Die kognitiven und emotionalen Schwierigkeiten bei psychotischen Krankheiten8 brächten Veränderungen in den täglichen Aktivitäten, sozialen Rollen und Beziehungen mit sich, die das Selbstbewusstsein stark erschüttern könnten. Deswegen sei es für Recovery und die persönliche Handlungsfähigkeit entscheidend, dass die Betroffenen sich selbst konstruktiv neu definieren würden (vgl. Weaver-Randall & Salem, 2005; Thomas, 1997).9 Diese Herausforderungen lassen sich im Rahmen des Recovery-Konzepts als Sinngebungs-Aufgaben verstehen, bei denen eine Person versucht, ihre Erfahrungen in ein Bedeutungsmuster einzuordnen.10 Der Begriff des ›Meaning Making‹ verweist auf ein Bündel an Aktivitäten und Konstrukten, mit dem sich beschreiben lässt, wie Individuen ihre Erfahrungen, sich selbst und ihre Beziehung zur Welt ver8 | Der Oberbegriff der ›Psychose‹ umfasst als Teilgruppe ›Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis‹ (vgl. WHO, 1993). 9 | Während des Recovery-Prozesses entwickelt sich ›Resilienz‹: Der Begriff bezeichnet dynamische psychische Widerstandskräfte, die mit einer konstruktiven Anpassung an schwierige Situationen verbunden sind. Diese dynamischen Schutzfaktoren (z.B. positives Selbstwertgefühl, positives Sozialverhalten und aktives Coping) können Menschen vor der Dekompensation bewahren (Amering & Schmolke, 2007, S. 11, 113f.). 10 | Ein Beispiel für eine erfolgreiche neue Bedeutungskonstruktion im Rahmen des Recovery-Prozesses ist die Stimmenhörer-Bewegung (Smith & Coleman, 2003).
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stehen; dazu gehören u.a. Identität, Selbst-Definitionen, mögliche Selbstbilder und Erzählungen des eigenen Lebens11 (Kloos, 2004). Damit wird schon deutlich, dass Meaning Making und Identitätsentwicklung eng zusammenhängen (vgl. Bruner, 1990). Doch nur wenige Studien zu Identität sind näher auf den Kontext eingegangen, in dem die Bedeutungsgebung stattfindet (vgl. Humphreys, 2000). Kloos (2004) kritisiert, dass nur wenig über die Einflüsse der Settings bekannt sei, die mit ihren Praktiken und Interaktionen bei den Teilnehmenden Bedeutung und Identität generieren. Variationen in den Settings könnten einen starken Einfluss auf die Selbstbeschreibungen und die Identität haben. Unter Verwendung von Methoden der qualitativen Sozialforschung hat Kloos zwei Meaning Making Settings miteinander verglichen: Eine konventionelle Rehabilitationseinrichtung wurde mit einer von Nutzerinnen und Nutzern betriebenen psychiatrischen Rehabilitationseinrichtung in Bezug auf Bedeutungsgebung und Rehabilitationserfolge verglichen. In der alternativen Rehabilitationseinrichtung wurde eine Bedeutungsgebung der Erkrankung vermittelt, die nicht medizinisch war. Die alternative Bedeutungsgebung war mit mehr Kontakten zur »nicht-kranken« Umgebung und erfolgreicherer Wiedereingliederung verbunden (vgl. Zaumseil, 2006b, S. 32). Die individuumszentrierte Perspektive wird hier aufgegeben, der Kontext übt erheblichen Einfluss auf das Selbst aus. Es zeigt sich, wie relevant es ist, Settings zu betrachten, in denen kollektiv eine alternative Sinnfindung zum
11 | Man kann hier gewinnbringend auf das Konzept der narrativen Identität rekurrieren (Ricœur, 1991). Narrative Identität lässt sich interpretieren als »die Einheit des Lebens einer Person, so wie sie erfahren und artikuliert wird in den Geschichten, die diese Erfahrung ausdrücken« (Widdershoven, 1993, S. 7; zitiert in Kraus, 2000, S. 159). Ein Erzähler stellt in seiner biographischen ›Erzählung‹ die vielen unterschiedlichen Ereignisse seines Lebens in einen geschlossenen Verweisungszusammenhang. Dabei ist seine Erzählung durch den sozialen Kontext beeinflusst, in den sie eingebettet ist. Ebenso entwickeln und verändern sich die narrativen Strukturen im Rahmen eines komplexen sozialen Prozesses. Die Handlungen anderer Personen sind in die Erzählung eingebunden (Gergen & Gergen, 1984). In dem Konzept der narrativen Identität ist auch die Offenheit und Unabgeschlossenheit des Sich-Erzählens enthalten. Kohärenz und Kontinuität müssen vom Erzähler immer wieder selbst erarbeitet werden. Die Qualitäten von Kohärenz sind entsprechend den Identitätsstrategien einer Person sehr unterschiedlich (Kraus, 2000, S. 160, 168, 169).
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psychiatrischen Krankheitsmodell möglich wird.12 Allerdings werden auch in dieser Studie die Einflüsse des Settings auf das Individuum weiterhin monadisch gedacht. Der Autor hält an einer Perspektive fest, in der Selbst und Kontext getrennt sind. Es spricht jedoch vieles dafür, dass der Kontext vielmehr einen Bestandteil des Selbst darstellt. Diese Perspektive eröffnet neue Möglichkeiten des Verständnisses von Recovery, die ich im Folgenden darlegen werde. Deswegen werde ich nun das Konzept des Settings explorieren und hierüber mit dem Konzept des Selbst in Bezug setzen.
2.3 S E T TING 2.3.1 Annäherung an eine Definition Ein Setting lässt sich als ein Raum fassen, in dem eine organisierte Begegnung zwischen Menschen stattfindet. Dabei ist es nützlich, auf Martina Löws (2001) relationale Konzeption von Raum zurückzugreifen: Der Raum ist hier in den Handlungskontext eingebunden und wird »auch als diskontinuierlich, konstituierbar und bewegt erfahren« (S. 266). So könnten sich an einem Ort verschiedene Räume herausbilden. Raum ist in dieser Konzeption also nicht länger mit einem Ort gleichzusetzen, sondern entsteht in einem komplexen Prozess aus der Anordnung der sozialen Güter und Menschen. Raum wird konstituiert als Synthese von sozialen Gütern, anderen Menschen und Orten in Vorstellungen, durch Wahrnehmungen und Erinnerungen, aber auch im Spacing durch Platzierung (Bauen, Vermessen, Errichten) jener Güter und Menschen an Orten in Relation zu anderen Gütern und Menschen. (S. 263)
Im Alltag werde der Raum vielfach über Routinen konstituiert. Räumliche Strukturen würden rekursiv über repetive Handlungen reproduziert und 12 | Interessante Meaning Making Settings der deutschen und schweizerischen Sozialpsychiatrie, in denen ich vielversprechende Bezugspunkte für meine Forschung sehe, bieten neben den Psychose-Seminaren (Hermann, Partenfelder, Raabe, Riedel & Ruszetzki, 2004; Bock, Deranders & Esterer, 2001), die gemeindepsychiatrische Einrichtung in Herne (Krisor, 2005) und die Soteria Bern (Ciompi, 2001).
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seien in Institutionen eingelagert: durch relationale Platzierungen und das Wiedererkennen bzw. Reproduzieren dieser Ordnungen und Anordnungen würden sie repetitiv wiederholt. Die Möglichkeiten, Räume zu konstituieren, würden somit von den symbolischen und materiellen Aspekten in einer Handlungssituation, dem Habitus der Handelnden, den strukturell organisierten Ein- und Ausschlüssen und den körperlichen Möglichkeiten abhängen (Löw, 2001).13 Ein weiterer Begriff, der sich zur Charakterisierung eines Settings eignet, ist der des sozialen Netzwerks. Lairaiter (2008) versteht ein soziales Netzwerk relational als »die Betrachtung und Analyse sozialer Beziehungen, Strukturen, Gruppen, Organisationen, Ereignisse etc. unter der Perspektive der gegenseitigen Verknüpfung ihrer Mitglieder und Beteiligten« (S. 5).14 Ich möchte beide Konzepte zusammenfassen und unter ›Setting‹ den Raum eines sozialen Netzwerks verstehen. Mit diesem Begriff möchte ich neben der Relationalität, Wechselwirkung und Dynamik auch die Verbindung von menschlichen Selbsten zu spezifischen physischen Umgebungen betonen. Zwei Begriffe, die eng mit dem Konzept des sozialen Netzwerks zusammenhängen, sind soziale Unterstützung und soziale Integration (Röhrle, 1994). Der Begriff der sozialen Integration bezieht sich auf die Einbezogenheit in ein soziales Netzwerk und umfasst damit die quantitativen und strukturellen Aspekte sozialer Beziehungen. Der Begriff der sozialen Unterstützung beschreibt hingegen die qualitativen und funktionalen Aspekte sozialer Beziehungen. Soziale Unterstützung stellt eine Interaktion zwischen mindestens zwei Personen dar, um einen problematischen Zustand zu verändern. Wenn sich objektiv nichts verändern lässt, kann sozia13 | In einer anderen Arbeit habe ich in diesem Zusammenhang untersucht, wie der urbane Raum von Straßenkindern in Tansania konstruiert wird (vgl. Wiencke, 2009c). 14 | In einem prozessualen Verständnis des Kohärenzbegriffs erlebt sich eine Person trotz unterschiedlichen Verhaltens und wechselnder Prinzipien als kohärent, wenn die gewählten Projekte und Prinzipien für sie selbst sinnvoll, verstehbar und bestimmbar sind. Soziale Netzwerke können das Kohärenzerleben unterstützen, wenn sie eine Person auch dann weiterhin wertschätzend akzeptieren, wenn diese ihr Verhalten und ihre Einstellungen deutlich verändert. Dabei können auch wechselhafte, sich selbst verändernde soziale Netzwerke positiven Einfluss auf das Kohärenzerleben haben (Straus, 2008).
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le Unterstützung auch dazu beitragen, dass die Person besser mit diesem Zustand zurechtkommt. Die soziale Unterstützung lässt sich weiter differenzieren: Wahrgenommene Unterstützung hängt mit den Erwartungen, Überzeugungen und Bewertungen einer Person zusammen, erhaltene Unterstützung mit der Registrierung und subjektiven Bewertung eines Geschehens, das bereits stattgefunden hat (Schwarzer, 2004, S. 176-179). Zukünftig Unterstützung zu erwarten, scheint eine stabile Persönlichkeitseigenschaft zu sein (Sarason, Levine, Basham & Sarason, 1983), die mit Optimismus verbunden ist (Schwarzer & Knoll, 2007, S. 244). Soziale Beziehungen können negative und positive Effekte auf den Verlauf psychischer Krankheit haben (vgl. Manz, 1994). Insofern muss die Qualität der sozialen Unterstützung differenziert betrachtet werden – bei Schizophrenie kann sie auch belastend sein (Zaumseil, 2006b, S. 34). In diesem Zusammenhang werde ich im fünften Kapitel darstellen, auf welche settingspezifische Art die Teilnehmenden jeweils soziale Unterstützung erhalten. Das abstrakte Konzept der sozialen Unterstützung wird auf diese Weise inhaltlich mit Bedeutungen gefüllt werden. Bisher habe ich die Definition eines Settings vorgeschlagen. Mit dem Begriff ›Raum eines sozialen Netzwerks‹ habe ich den formalen Rahmen abgesteckt, den ich in dieser Arbeit nutzen werde. Nun möchte ich im nächsten Kapitel das Setting nach innen weiter differenzieren.
2.3.2 Strukturelle Differenzierung eines Settings Zur qualitativen Differenzierung von Settings ist das universalistische Modell des amerikanischen Gemeindepsychologen Rudolf Moos hilfreich. Hier werden hypothetische Charakteristika von Settings in Bezug auf ihre mögliche Interaktion mit Personeneigenschaften betrachtet. Nach Moos (2002, 1984) führen bestimmte Charakteristika der Settings dazu, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihr Verhalten verändern. In seinem Modell, das aus fünf sogenannten »Panels« besteht, bringt die subjektive Wahrnehmung (Panel II) des Umweltsystems (Panel I) Erfahrung im Umgang mit Ressourcen und Stressoren hervor (Panel III). Diese beeinflussen das eigene Coping (Panel IV) und somit letztlich den Gesundheitsstatus (Panel V). Panel I ist das Umweltsystem, das aus relativ stabilen Bedingungen in spezifischen Lebensbereichen besteht, zu denen das soziale Klima und bestehende Stressoren und Ressourcen gehören. Panel II ist das personale System mit individuellen biogenetischen Eigenschaften und
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persönlichen Ressourcen wie kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten, Selbstvertrauen und sozialer Kompetenz, Optimismus und Extraversion, Verpflichtungen und Bestrebungen. Während Panel I sich auf andauernde Umweltaspekte bezieht, beinhaltet Panel III flüchtige Bedingungen wie neue Lebensereignisse und die Teilnahme an Interventions- und Behandlungsprogrammen. Panel I und Panel III beziehen sich insofern auf neue Kontexte, die Möglichkeiten zum Lernen und das Potential für persönliche Entwicklung oder Rückgang bieten. Panel III umfasst neben belastenden Lebenssituationen auch Ressourcen im sozialen Netzwerk. Alle drei Panels, I, II und III, beeinflussen die kognitiven Bewertungen und Bewältigungsfähigkeiten (Panel IV) und somit auch die Gesundheit und das Wohlbefinden eines Individuums (Panel V). Dabei sind diese Prozesse transaktional, wechselseitiges Feedback kann bei jedem Schritt stattfinden. Und Personen wählen und formen die sozialen Kontexte, von denen sie beeinflusst werden. Das Modell zeigt, dass sowohl stabile als auch flüchtige Lebenskontextfaktoren und persönliche Faktoren Determinanten für die Teilnahme an einer Intervention sind. Persönliche und kontextgebundene Faktoren wirken in Verbindung mit Bewältigungsfähigkeiten, um psychosoziales Funktionieren und Reifung zu beeinflussen, die wiederum als Ergebnisse dieses Prozesses auf der nächsten Entwicklungsstufe Teil des persönlichen Systems werden.15 15 | Antonovsky (1997, S. 59-63) sieht viele Parallelen zwischen seiner salutogenetischen Theorie und dem Modell von Rudolf Moos. So würden in seiner Lesart die Quellen für die SOC-Komponente der ›Bedeutsamkeit‹ viele Gemeinsamkeiten mit den Aspekten von Moos’ Konzept des ›sozialen Klimas‹ aufweisen, das bestimmte Arten von Lebenserfahrung begünstigt. Für Moos spielten die Aspekte der SOC-Komponente ›Verstehbarkeit‹ in seiner Konzeption der Dimensionen von Systemerhaltung und Systemveränderung eine wichtige Rolle. Denn Moos beschäftige sich mit dem Ausmaß, in dem die Umgebung zu Klarheit, Konsistenz und Organisation beiträgt. Außerdem interessiere ihn, zu welchem Grad das System für Veränderungen offen sei. Den größten Unterschied zwischen seinem und Moos’ Ansatz sieht Antonovsky in der Komponente der Handhabbarkeit. Für Antonovsky sei es ein Gefühl des Vertrauens, die Probleme im Leben bewältigen zu können. Moos betone in Bezug auf die Dimensionen der Zielorientierung die Aspekte der Autonomie und der Unabhängigkeit, übersehe jedoch die Möglichkeit der wechselseitigen Abhängigkeit und die Möglichkeit, dass man sich vertrauensvoll auf die Ressourcen anderer Personen verlassen könne.
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Unterschiedliche soziale Settings (wie Familien, psychotherapeutische Behandlungen und Selbsthilfegruppen) lassen sich im Hinblick auf die ›Qualität persönlicher Beziehungen‹, ›Richtung persönlichen Wachstums‹ sowie das ›Strukturniveau‹ mit ›Klarheit‹, ›Struktur‹ und ›Offenheit für Veränderung‹ konzeptualisieren (Moos, 2003b, 2002, 1994). Die drei Beziehungsdimensionen der Beteiligung, Gruppenkohäsion und Unterstützung beziehen sich auf das Ausmaß, in dem Menschen miteinander zu tun haben und sich unterstützen.16 Die drei Dimensionen der Richtung persönlichen Wachstums, Unabhängigkeit, Aufgabenerfüllung und Selbstentdeckung, beziehen sich auf die Ziele, auf die hin ein spezifisches Setting ausgerichtet ist (Moos, 1985, S. 366f.). Die Qualität interpersonaler Beziehungen beeinflusst, wie festgelegt Individuen auf ein Setting sind und wie viel Macht das Setting somit auf sie ausübt. Durch den Aspekt der Zielorientierung wird die Richtung individueller Motivation und Anstrengung kanalisiert: Eine Betonung der Unabhängigkeit erhöht die Selbst-Ausrichtung, eine Betonung der Aufgabendurchführung fördert die Entwicklung von Fähigkeiten und eine Betonung der Selbstentdeckung erhöht das Selbstverständnis. Der Fokus auf Systemerhaltung beeinflusst die Regelmäßigkeit und Vorhersagbarkeit des Verhaltens; in dem Setting wird bis zu einem gewissen Punkt mehr Kontrolle über die Teilnehmenden erlangt. Alle drei Bereiche stehen in Wechselwirkung miteinander. Ihr jeweiliger Einfluss hängt vom Kontext ab, in den sie eingebettet sind. Zeigen Familien, therapeutische Interventionsprogramme oder Selbsthilfegruppen hohe Kohäsion und Beteiligung, tendieren Individuen dazu, durchsetzungsstärker und selbstbewusster zu sein (Moos, 2002, 1994). Allerdings ist es auch wichtig, dass spezifische Ziele und eine angemessene Struktur angeboten werden (vgl. Moos, 2003a, 1997). Je intensiver, festgelegter und sozial integrierter ein Setting ist, desto größer ist sein potentieller Einfluss auf persönliche Faktoren.17 Homogene Settings beeinflussen tendenziell 16 | Relevant für meine Arbeit ist der in dem Aspekt der Qualität persönlicher Beziehungen enthaltene Gedanke der reziproken Unterstützung. Ich werde in der Ergebnisdarstellung Beispiele dafür bringen, dass psychisch Kranke in den Settings bzw. in ihrem Alltag nicht nur soziale Unterstützung erhalten, sondern auch selbst andere Personen unterstützen können. 17 | Argumentiert man mit dem Semantic-Procedural Interface (SPI)-Modell des Selbst (Hannover & Kühnen, 2002), bedeutet das, dass die in dem Setting aktivierten Selbstkonstrukte chronisch zugänglicher werden.
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inkongruente Individuen, sich in Richtung der Mehrheit zu verändern. Ein heterogenes Setting bietet mit seinen unterschiedlichen Einflüssen jeder Person eine größere Auswahl an Optionen. Individuen finden hier eher andere Personen mit ähnlichen Einstellungen und Werten, erleben aber weniger konsistenten Druck, sich in eine settingspezifische Richtung zu verändern (Moos, 2003a, S. 8; 1984, S. 19; 1979). Der Einfluss der Kontextfaktoren hängt z.T. vom kognitiven Status und von den Präferenzen der Person ab, auf die sie wirken. Personen, die internal orientiert sind und ein starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit haben, kommen tendenziell besser in flexibleren Settings zurecht. Für Individuen hingegen, die sich an Interdependenz und Anpassung orientieren, sind tendenziell sehr strukturierte Settings besser geeignet (Moos, 1997). Moos (2003a, S. 7) beschäftigt sich auch mit der Fragilität von Settings. Die Qualität und Konsistenz persönlicher Beziehungen formt typischerweise den langfristigen Einfluss sozialer Kontexte. Deswegen haben Familien oft einen lebenslangen Einfluss auf Menschen. Wenn Personen hingegen Behandlungssettings wieder verlassen, schwindet ihr Einfluss i.d.R. schnell, sie haben kaum nachhaltige Konsequenzen. Faktoren im Lebenskontext beeinflussen den Verlauf von Alkoholmissbrauch und Depression viel stärker als eine therapeutische Behandlung. Deswegen führen Behandlungen, die auf die Lebenskontexte der Patienten fokussieren, tendenziell zu besseren Ergebnissen. Selbsthilfegruppen verändern Menschen, indem sie ein integraler Teil ihres laufenden Lebenskontextes werden (Moos, 2003a, S. 7). Mit Moos’ Modell lässt sich ein Setting umfassend konzeptualisieren. Somit wird hier ein großer Mangel der oben referierten Recovery-Literatur behoben, der Kontext wird umfassend charakterisiert. Es wird deutlich, worin seine Macht und insbesondere auch seine Fragilität liegen. Moos zeigt auch, wie sich diese potentielle Fragilität, die jedes Setting hat, überwinden lässt. Das ist der wichtigste Aspekt seines Modells, auf den ich in der Ergebnisdarstellung wieder zurückkommen werde. Allerdings hat das Modell auch einige Mängel. Zunächst ist es vor allem auf die Beschreibung von Settingmerkmalen bezogen, sagt aber wenig über die individuellen Prozesse aus, die letztlich dazu führen, dass ein Individuum die Einflüsse eines Settings akzeptiert. Die individuumszentrierte Perspektive ist hier zwar aufgegeben, die Verbindung von Kontext und Selbst wird jedoch nicht konsequent zu Ende verfolgt. Die Perspektive geht hier vom Kontext aus, es wird aber nichts darüber ausgesagt, wie Individuen wiederum
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den Kontext beeinflussen. Drittens – und das betrifft die wesentliche Frage dieser Arbeit – erscheinen die Settings in diesem Modell als relativ bedeutungsarm. Es wird nichts darüber ausgesagt, was ein Setting an Bedeutungen vermitteln muss, damit es die Gesundheit fördern kann. Und es wird auch nicht beschrieben, wie dieser Vermittlungsprozess stattfindet. Um diese wesentlichen Mängel zu beheben, ist es notwendig, auf weitere Theorien zurückzugreifen. Kelman (2006) hat sich ausführlich mit sozialen Beeinflussungsprozessen auf Individuen beschäftigt. Demnach können auf eine Person in sozialen Gruppen oder Organisationen die drei Prozesse Compliance, Identifizierung und Internalisierung wirken, die jeweils unterschiedliche vorausgehende und nachfolgende Bedingungen haben. Compliance entsteht, wenn ein Individuum den Einfluss einer anderen Person oder Gruppe akzeptiert, um eine erwünschte Reaktion zu bekommen – entweder um eine bestimmte Belohnung bzw. Anerkennung zu erhalten oder um eine bestimmte Bestrafung bzw. Missbilligung zu vermeiden, die von der oder den anderen kontrolliert wird. Identifizierung entsteht, wenn eine Person den Einfluss einer anderen Person oder Gruppe von Personen akzeptiert, um eine befriedigende Beziehung zu dieser bzw. zu diesen zu erhalten oder aufzubauen. Die Beziehung kann auf Reziprozität basieren: Eine Person versucht, die Erwartungen des/der anderen in Bezug auf ihre Rolle zu erfüllen, die wiederum in einer reziproken Beziehung zur Rolle des/der anderen steht (oder die Erwartungen einer Gruppe, deren Mitglieder in einer reziproken Beziehung zueinander stehen). Alternativ kann die Beziehung auf Vorbild-Bildung basieren, bei der die Person indirekt versucht, die Rolle einer anderen oder Teile dieser Rolle anzunehmen, um wie diese andere Person oder um tatsächlich diese andere Person zu sein. Internalisierung entsteht, wenn ein Individuum den Einfluss einer anderen Person oder Gruppe akzeptiert, um Handlungen und Glaubensvorstellungen kongruent zu seinem eigenen Wertesystem zu erhalten. Werte-Kongruenz kann einerseits die Form kognitiver Konsistenz annehmen, bei der die Person das ausgelöste Verhalten als förderlich zur Maximierung ihrer eigenen Werte sieht, oder andererseits die Form affektiver Übereinstimmung, bei der die Person das herbeigeführte Verhalten als konsistent mit ihrem Selbstkonzept sieht. Jeder der drei Beeinflussungsprozesse ist durch ein unterschiedliches Set vorausgehender und nachfolgender Bedingungen gekennzeichnet. Bei den vorausgehenden Bedingungen bestimmen drei qualitative Merkmale der Beeinflussungssituation, welcher Prozess wahrscheinlich folgen wird.
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Mich interessiert hier nur der Prozess der Internalisierung, weil dieser eine Möglichkeit bietet, die Fragilität zu überwinden, von der Kontexte immer bedroht sind. Der Einfluss nimmt wahrscheinlich die Form von Internalisierung an, wenn das primäre Interesse der Person A in der Situation auf die Werte-Kongruenz ihres Verhaltens ausgerichtet ist, wenn die Macht der Person B weitgehend auf Glaubwürdigkeit basiert (z.B. Expertentum und Vertrauenswürdigkeit) und wenn die Beeinflussungstechniken dazu dienen, die Verfügbarkeit der Mittel von Person A zu reorganisieren (z.B. die Vorstellung, welche die Person A über ihre Möglichkeiten besitzt, die Umsetzung ihrer Werte zu maximieren). Der Prozess, der durch ein entsprechendes Set vorausgehender Bedingungen generiert wird, korrespondiert mit einem charakteristischen Muster an Gedanken und Gefühlen, die die Anpassung der Person A an das herbeigeführte Verhalten begleiten. Daneben sind die Unterschiede in den Bedingungen wichtig, unter denen sich das neu erworbene Verhalten wahrscheinlich manifestiert. Interessanterweise wird internalisiertes Verhalten unabhängig von der äußeren Quelle in das eigene Wertesystem der Person A integriert. Es tendiert dazu, sich dann zu manifestieren, wenn die Werte, auf denen es basiert, in der aktuellen Situation relevant sind. Aufgrund seines Wechselspiels mit anderen Teilen des Wertesystems der Person A tendiert internalisiertes Verhalten dazu, besonders idiosynkratisch, flexibel und komplex zu sein. Im Kontext eines besonderen sozialen Systems betrachtet, repräsentiert der Prozess eine Weise, auf welche die Person A die Anforderungen eines Systems erfüllt und darin ihre persönliche Integration aufrechterhält (vgl. Kelman & Hamilton, 1989). Internalisierung reflektiert eine Orientierung an den Werten eines Systems, die das Individuum persönlich teilt. Indem das Individuum den Einfluss des Internalisierungsprozesses akzeptiert und die geteilten Werte anerkennt, bewahrt es die Integrität seines persönlichen Wertesystems (Kelman, 2006). Mit diesem Modell wird verständlich, welche Prozesse in einem Setting dazu führen, dass ein Individuum sein Verhalten ändert. Der Aspekt der Internalisierung ist für diese Untersuchung am interessantesten. Denn in der Wertekongruenz ist die Möglichkeit enthalten, die potentielle Fragilität eines Settings zu überwinden. Ich werde in der Ergebnisdarstellung auf diesen Aspekt zurückkommen. Problematisch ist, dass der Einfluss des Settings auf das Individuum monadisch gedacht ist. Der Kontext wird hier nicht als Teil des Selbst gesehen. Es fehlt hier die aktive Komponente des Individuums.
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2.3.3 Das kontextabhängige Selbst Welchen Nutzen dieser Perspektivenwechsel bringen kann, zeigt die Theorie des kontextabhängigen Selbst von Bettina Hannover (2000). Das ›Selbst‹ wird demnach als multiple Gedächtnisstruktur aufgefasst, die die Gesamtheit des Wissens enthält, das ein Individuum im Laufe seines Lebens über die eigene Person speichert. Das Selbst ist strukturell multipel, weil die auf das Selbst bezogene Information um unterschiedliche Kontexte herum in Clustern repräsentiert ist. Da zu einem bestimmten Zeitpunkt nur auf einen Teil der Informationscluster zugegriffen wird, ist das Selbst prozedural flexibel. So können die Informationscluster nicht nur verschiedene, sondern sogar einander widersprechende Informationen über das Selbst enthalten, ohne dass dies eine Person selbst als Widerspruch wahrnimmt. Der soziale Kontext stellt die Aktivierungsquellen bereit, durch die unterschiedliche Selbstkonstrukte in das Arbeits-Selbst gelangen, von wo aus diese dann die Verarbeitung neu eintreffender Informationen lenken. Der Begriff des sozialen Kontextes umfasst Tätigkeiten, Erfahrungsbereiche, Zugehörigkeiten zu Gruppen, soziale Beziehungen oder auch persönliche Eigenschaften. Eine Person verhält sich im Ergebnis konsistent mit den in ihrem Arbeits-Selbst enthaltenen Selbstkonstrukten. Die Zugänglichkeit ist umso höher, je kürzer der zeitliche Abstand zur letzten Aktivierung ist und je häufiger auf ein Konstrukt bereits zurückgegriffen wurde. Mit jeder temporären Aktivierung erhöht sich somit die Dauer, in der ein Konstrukt zugänglich ist, gleichzeitig wird es chronisch zugänglicher. Durch den kontinuierlichen Fluss der kontextbedingten Aktivierungen entsteht mit der Zeit das Selbstkonzept. Dieses stellt die Gesamtheit aller Selbstkonstrukte dar, die sich in ihrer chronischen Zugänglichkeit intraindividuell und interindividuell unterscheiden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Selbstkonstrukt in der Zukunft aufgrund einer Kontextvariablen temporär ins Arbeits-Selbst geladen wird, erhöht sich mit seiner chronischen Zugänglichkeit über die Zeit (Hannover, 1997). Das Arbeits-Selbst enthält also neben den zuletzt durch den aktuellen Kontext aktivierten Selbstkonstrukten mit größter Wahrscheinlichkeit auch die schon häufig gebrauchten Konstrukte. Auf den Kontext bezogen bedeutet dies, dass häufig gegebene Kontexte über die Aktivierung chronisch zugänglichen Selbstwissens die Selbstsicht und das Verhalten einer Person stärker steuern als Kontexte, mit denen sie nur selten in Kontakt kommt (Hannover, 2000).
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Das ›Semantisch-Prozedurale Interface (SPI)-Modell‹ des Selbst beschreibt, auf welche Weise die Selbstkonstruktion einer Person ihr Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst (Kühnen & Hannover, 2003, S. 215f.; Hannover & Kühnen, 2002, S. 62-65). Auch im SPI-Modell wird das Selbst als Gedächtnisstruktur gesehen. Die Selbstkonstruktion nimmt über die relative kognitive Zugänglichkeit zu interdependentem und independentem Selbstwissen Einfluss auf die Erfahrungen einer Person. Abhängig von der Aktivierung durch den Kontext verwendet eine Person tendenziell independentes oder interdependentes Selbstwissen. Zwei interagierende Mechanismen werden dabei unterschieden. Der ›semantische Mechanismus‹ umfasst die verschiedenen inhaltlichen Bereiche: Independentes Selbstwissen verweist auf autonome semantische Selbstinhalte, also auf die kontextunabhängigen Fähigkeiten, Einstellungen und Eigenschaften einer Person. Interdependentes Selbstwissen bezieht sich hingegen auf soziale semantische Selbstinhalte, also auf Gruppenzugehörigkeiten und Beziehungen zu anderen Menschen wie auch sozialen Kontexten. Trifft neue Information ein, wird sie der situativen oder chronischen Zugänglichkeit gemäß eher an autonome oder eher an soziale Inhalte angehängt. Der ›prozedurale Mechanismus‹ verweist auf den Grad, in dem der Informationsverarbeitungsmodus kontextabhängig ist. Der Begriff des ›Kontextes‹ meint im umfassenden Sinne räumliche, zeitliche, kausale und normative Situationsfaktoren. Im kontextabhängigen Modus ist die Verarbeitung neuer Information tendenziell durch die von Situationsfaktoren hervorgerufene Varianz beeinflusst. Dagegen wird neue Information im kontextunabhängigen Modus tendenziell analytisch und detailorientiert kategorisiert und interpretiert. Typischerweise ist autonomes Selbstwissen mental in kontextunabhängigen Konzepten repräsentiert, soziales Selbstwissen hingegen in kontextabhängigen. Die Metapher des Interface beschreibt das Zusammenspiel zwischen dem semantischen und dem prozeduralen Mechanismus: Beide Mechanismen sind verbunden und können die Informationsverarbeitung gleichzeitig oder auch getrennt beeinflussen. Ist die Zugänglichkeit autonomen Selbstwissens erhöht, wird tendenziell der kontextunabhängige Verarbeitungsmodus aktiviert. Mit der erhöhten Zugänglichkeit sozialer Inhalte wird neue Information mit höherer Wahrscheinlichkeit kontextabhängig verarbeitet. Andererseits erhöht die kontextabhängige oder kontextunabhängige Verarbeitung auch die Zugänglichkeit zu den entsprechenden Selbstinhalten.
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Independentes und interdependentes Selbstwissen kann in einem Individuum entsprechend koexistieren und temporär aktiviert werden. Insofern kann sich eine Person in einer Situation als eher interdependent beschreiben, in einer anderen Situation hingegen als eher independent (Hannover & Kühnen, 2002). Das SPI-Modell ist inzwischen erweitert worden. Die erste Erweiterung bezieht sich auf die kognitiven Mechanismen, mit denen kontextunabhängige oder -abhängige Informationsverarbeitungstendenzen umgesetzt werden. Demnach begünstigt autonomes Selbstwissen, das ins Arbeitsgedächtnis geladen wird, die Anwendung von drei Kontrollfunktionen: erstens, dass selektiv auf aufgabenrelevante Information fokussiert wird, zweitens, dass irrelevante Information von der Verarbeitung ausgeschlossen wird und drittens, dass abwechselnd unterschiedliche Aufgaben bearbeitet werden können. Die Aktivierung sozialer Selbstinhalte sollte umgekehrt einen weiten Aufmerksamkeitsfokus zur Folge haben, so dass gleichzeitig aufgabenrelevante und -irrelevante Information verarbeitet und beim Wechseln zwischen verschiedenen Aufgaben kontextuelle Information berücksichtigt wird. Die zweite Erweiterung bezieht sich auf Annahmen über kontextabhängige motivationale Prozesse. Da das bisherige SPI-Modell sich nur darauf bezog, welche Konsequenzen es hat, wenn independentes oder interdependentes aktuelles Selbstwissen aktiviert wird, beziehen die Autoren nun – unter Bezugnahme auf das Konzept der possible selves (Markus & Nurius, 1986) – auch Annahmen über angestrebte mögliche Selbstbilder ein, die eher independent oder eher interdependent sind. Mit den ›angestrebten möglichen Selbstbildern‹ werden die im Selbstkonzept enthaltenen Wissensstrukturen mit den Repräsentationen bedeutsamer Ziele, Motive, Hoffnungen und Befürchtungen charakterisiert. Eine Person, bei der independentes Selbstwissen aktiviert wird, sollte dem Modell zufolge mit höherer Wahrscheinlichkeit auch nach einem independenten Selbst streben. Umgekehrt sollte eine Person, für die interdependentes Selbstwissen zugänglicher ist, eher ein soziales Selbst anstreben (Hannover, Pöhlmann, Springer & Roeder, 2005, S. 14f.). Nach den Annahmen des SPI-Modells verfügt jede Person (in jeder Kultur) über einen independenten und interdependenten Informationsverarbeitungsmechanismus, der kulturspezifisch aktiviert wird. We assume that the human ›mental toolbox‹ includes both ways of thinking about the self, as well as both ways of thinking in general – and this may be universally
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so. Members of different cultural backgrounds may, therefore, vary only in how likely they are to spontaneously make use of one tool or the other (i.e. to engage in one way of thinking or the other). (Hannover & Kühnen, 2004, S. 32)
Somit wird die universalistische Position in Frage gestellt, nach der die menschlichen kognitiven Prozesse kulturunabhängig sind und es nur auf inhaltlicher Ebene kulturelle Unterschiede gibt. Denn mit den Annahmen des SPI-Modells über die beiden Mechanismen der Informationsverarbeitung lassen sich kulturelle Unterschiede auch auf der prozessuralen Ebene kohärent erklären (Hannover & Kühnen, 2002). In der kognitivistischen Konzeption beim ›Semantic-Procedural Interface-Modell‹ des Selbst geht man von universellen psychologischen Gesetzen aus, die von Kontexten aktiviert und modifiziert werden. Die Annahme universeller Differenzen zwischen independenter und interdependenter Selbstkonstruktion spiegelt sich im methodischen Vorgehen, bei dem die zumeist studentischen Teilstichproben ein unterschiedliches Priming durchlaufen. Das Individuum bringt hier Soziales hervor und der Kontext aktiviert dann eine bestimmte Form der Informationsverarbeitung, das ist eine klare psychologische (individuumszentrierte) Vorstellung. Das SPIModell ist stark auf das individuelle Funktionieren bezogen und sagt wenig über die konkreten inhaltlichen Bedeutungen eines Kontextes aus (vgl. zur Kritik Zaumseil, 2006b, S. 11). Es werden keine konkreten Faktoren spezifischer Settings beschrieben; das Modell ist nicht wie bei Moos differenziert im Kontext verankert. Es bleibt unklar, wie ein Kontext beschaffen sein muss – z.B. hinsichtlich der zeitlichen Dauer oder der Intensität – damit Selbstinhalte aktiviert werden. Der Kontextbegriff ist wenig konturiert. Die Bewertungskriterien von Selbstwissen als independent oder interdependent könnten sich kulturspezifisch unterscheiden, insofern wäre es schwierig, die Grenzlinie zwischen beiden zu ziehen. Das Modell ist rein kognitiv aufgebaut, der Körper und mimetische Lernprozesse als Einflussfaktoren fehlen. Der Nutzen des Modells besteht für mich darin, dass es flexibel und dynamisch ist, je nach Kontext ist man gewissermaßen eine andere Person. Insofern kann ich aus der Interaktion der Teilnehmenden mit den Settings Rückschlüsse auf die Settings ziehen. So komme ich zu Aussagen über die Charakteristika der Settings. Für meine Betrachtung der Settings ist relevant, dass Individuen kontextabhängiges Selbstwissen in dem Ausmaß inkorporieren, in dem sie ihre soziale Ingroup wertschätzen und sich ihr zugehörig fühlen (Hannover,
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2002, S. 85). Ich werde im empirischen Teil zeigen, dass die drei untersuchten Settings tendenziell interdependentes Selbstwissen aktivieren.
2.3.4 Performanz und Mimesis In diesem Kapitel werde ich die Möglichkeiten untersuchen, die sich ergeben, wenn man die untersuchten Settings als ›Kulturen des Umgangs mit psychischer Krankheit‹ betrachtet. Denn durch diese Annahme kann man den Dualismus zwischen Individuum und Setting überwinden. Dazu werde ich zunächst den Kulturbegriff vorstellen, auf den ich mich in dieser Arbeit beziehe. Kultur wird in den neueren Debatten der Kultur- und Sozialwissenschaften nicht als abgeschlossene Entität verstanden, sondern als komplex, dynamisch und hybrid. Die kulturelle Komplexität umfasst intrakulturelle Vielschichtigkeit, permanente Aushandlungsprozesse und Polyphonie, kulturelle Dynamik bezeichnet Prozesshaftigkeit und Historizität, kulturelle Hybridität weist auf die Interaktion und Wechselwirkung zwischen Kulturen und kulturellen Identitäten hin, die ständig Mischformen entstehen lassen (Schlehe, 2006, S. 52). Kultur umfasst als Praxis neben kulturellen Äußerungen die Gestaltung des Alltags und seiner Beziehungen, Bedeutungsgebungen, Sinnstiftungen und deren Repräsentationen (Nadig, 2006, S. 68). Mit den Erläuterungen zum kontextabhängigen Selbst habe ich ein Modell vorgestellt, das aus einer psychologischen Perspektive eine Verbindung zwischen dem Selbst und der Kultur herstellt. In diesem Kapitel möchte ich mich der Verbindung stärker aus der Perspektive des kulturellen Kontextes nähern. Denn eine grundlegende Annahme dieser Arbeit ist, dass das Phänomen ›Schizophrenie‹ sozio-kulturell sehr unterschiedlich konstruiert werden kann. In Gergens (1994, S. 68) sozialkonstruktionistischer Auffassung ist eine Person in ihrem Erleben und Handeln vollständig durch die Kultur bestimmt. Theorien über intrapsychologische Prozesse werden aufgegeben zugunsten einer vollständig relationalen Perspektive. Das Individuum ist von Grund auf durch soziale Diskurse und kommunikative Prozesse konstituiert. Es wird als vollständig durch Beziehungen bestimmt verstanden (Gergen, 1996). In diesem Sinne tut sich nun die Möglichkeit auf, Identität nicht als einen Gegenstand anzusehen, nicht als einen persönlichen Besitz, etwas, das ›mir‹ gehört. Das Selbst ist nunmehr nichts als ein Knotenpunkt in der Verkettung von Bezie-
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hungen. Jeder Mensch lebt in einem Netzwerk von Beziehungen und wird in jeder von ihnen jeweils unterschiedlich definiert. (Gergen, 1990, S. 197)
Die Grundlage sämtlicher psychischer Konstrukte ist somit kein individuelles kognitives Konstruieren mehr, sondern eine bedeutungskonstitutive soziale Praxis (Gergen, 1994, S. 253). Bei der Darstellung der Funktionsweise der sozialen Praxis bezieht sich Gergen (1994) auf strukturalistischsemiotische Bedeutungstheorien, die ohne Intentionalität und die Handlungsfähigkeit des einzelnen Akteurs auskommen. Die einzelne handelnde Person löst sich bei Gergen im sozialen bzw. kulturellen Kontext auf. Damit verschwindet die Wechselwirkung zwischen Individuum und Kontext. In dieser Arbeit wird hingegen die Hypothese vertreten, dass es eine gesundheitsfördernde Wechselwirkung zwischen dem Individuum und dem Setting gibt, der ich mich deswegen über eine kulturpsychologische Kritik des sozialen Konstruktionismus nähern möchte. So weist Zielke (2006) auf Probleme hin, die Gergens Praxisbegriff mit sich bringt, denn Gergen werde seinem Anspruch, »Bedeutungen aus den apersonalen Strukturen sowohl des Textes als auch des Systems Sprache herauszulösen und sie im Prozeß menschlicher Beziehungen zu verorten«, nicht gerecht (Gergen 1994, S. 265; zitiert nach Zielke, 2006, S. 158). Für Gergen ergebe sich die Bedeutung einer Anschlusshandlung nur durch die Differenz zu anderen möglichen Anschlusshandlungen, die als nicht-intelligibel ausgeschlossen sind. Das, was ein- oder ausgeschlossen werde, sei durch soziale Konventionen bestimmt. Insofern würden in diesem Praxisbegriff die handelnden Personen als Partizipienten an der Praxis sowie die intersubjektive Beziehung zwischen Sprecher und Hörer fehlen. Und es fehle auch die Verankerung der sozialen Handlungspraxis in der materiellen Welt, die Partizipienten sprechend handelnd leiblich erfahren und in die sie handelnd eingreifen. Gergen gehe somit von einem »anonyme[n] Praxisbegriff« aus (Zielke, 2006, S. 159). Die Lernprozesse von Individuen, ihre Handlungsplanung sowie Selbst- und Fremdwahrnehmung existieren hier nicht mehr. An diesem Punkt führt für Zielke (2004) die Kulturpsychologie weiter. In der Erfassung kultureller Besonderheiten bei kognitiven Prozessen werden die impliziten Bedeutungen untersucht, die psychischen Phänomenen und Prozessen zugrunde liegen (Shweder & Sullivan, 1993). Das zentrale Konzept ist hierbei das der experience-near-concepts: Mit ihm wird untersucht, wie Bedeutungen innerhalb einer soziokulturell festgelegten Gruppe verteilt sind bzw. von Individuen oder
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Gruppen erlernt werden. Es geht also ausdrücklich um implizite Wissensbestände, in denen Erfahrung und darin involvierte kognitive Schemata weitgehend untrennbar verbunden sind. Während Shweder und Sullivan (1993) die Frage des methodischen Zugangs nicht ausreichend beantworten, weist Zielke (2004, S. 324) auf die Bedeutung ethnologischer Methoden hin. Für Zielke (2004, S. 324) birgt der Begriff der Repräsentation eine weitere Unklarheit. Denn nach Shweder und Sullivan sei nicht klar, wie sich zum einen implizite Repräsentationen von expliziten differenzieren lassen würden und zum anderen, ob der Begriff der Repräsentation überhaupt verwendet werden sollte. Dieser Punkt sei insbesondere vor dem Hintergrund relevant, dass Gergen jede Form von Repräsentation ablehne. Die Repräsentation des impliziten kulturellen Wissens liege zwischen einer individuellen, kognitiven Repräsentation und einer rein diskursiven Konstruktion von Wissen. Diese mittlere Position spiegelt sich auch in Straubs (1999) Handlungskonzept wider. Ebenso wie Gergen betont Straub, dass der sprachliche Kontext sprachlicher Ausdrücke oder Handlungen berücksichtigt werden müsse, um ihre Bedeutung zu verstehen. Der entscheidende Unterschied liegt für Zielke (2004) darin, dass Gergen nicht nur »das rational handelnde, autonome Subjekt, sondern jedes Subjekt zugunsten einer Theorie anonymer Strukturen und Prozesse« (S. 331) aufgibt. In Straubs (1999, zitiert nach Zielke, 2004, S. 332) Verständnis von sozialer Praxis, die Sinn und Bedeutung konstituiert, sei hingegen auch das »praktische[] Bewusstsein« mitgedacht, das Akteure zur Partizipation an dieser Praxis benötigen. Allerdings ist in der Kulturpsychologie bisher genauso wenig wie in der sozialkonstruktionistischen Richtung der Zusammenhang zwischen Leiblichkeit und Sinnbildung und somit »die Frage nach der Leibgebundenheit des kulturellen Handlungs- oder Umgangswissens« (Zielke, 2004, S. 334f.) ausreichend berücksichtigt worden. Ich schließe mich Zielke an und lehne den individuellen, kognitiven Repräsentationsbegriff ebenso ab wie Gergens rein diskursives Verständnis von Wissen. Insofern orientiere ich mich an der mittleren Konzeption mit Straubs Handlungskonzept. Zielkes Kritik entsprechend, wurde mir im Laufe des Forschungsprozesses jedoch zunehmend die Bedeutung des Körpers bei der Wechselwirkung zwischen Individuum und Setting bewusst (vgl. Kapitel 3.2). Ein weiterführender Ansatz, mit dem Selbst und Kultur auch mit dem Körper in Beziehung gesetzt werden, ist das methodologische Paradigma
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des Embodiment18. Körperliche Erfahrung dient im Ansatz des Embodiment als methodologischer Zugang zur Kultur und zum Selbst. Denn der Körper wird hier als das zentrale kulturelle Phänomen konzeptualisiert, »the body is not an object to be studied in relation to culture, but is to be considered as the subject of culture, or in other words as the existential ground of culture« (Csordas, 1990, S. 5). Csordas will die Prozesse verstehen, aus denen kulturelle Objekte entstehen, zu denen auch das Selbst gehört (Csordas, 1990, S. 39f.). Zur Ausarbeitung des Embodiment-Paradigmas greift Csordas (1990, S. 8-12) vor allem auf Merleau-Pontys (1976 [1945]) Konzept des Vorobjektiven und auf Bourdieus (1993 [1980], 1979 [1972]) Konzept des Habitus zurück. Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung dient Csordas dazu, den Prozess nachzuvollziehen, in dem Selbst und Kultur im Körper gleichzeitig entstehen. Für Merleau-Ponty existiert eine subjektive Erfahrungsebene, auf der Körper und Geist sowie Subjekt und Objekt nicht getrennt sind. Hierauf weist auch Csordas (1997) ausdrücklich hin: »That is, on the level of perception it is not legitimate to distinguish mind and body« (S. 9). Im natürlichen und vertrauten Umgang des Leibes19 mit der Welt entsteht ein vorobjektives, unreflektiertes Erkennen (Merleau-Ponty, 1966, S. 179f.). Durch seine leibliche Existenz ist der Mensch für Merleau-Ponty schon immer mit dem Sozialen verbunden, Subjektivität ist immer schon eine Intersubjektivität. Der eigene Leib und das eigene Bewusstsein erkennen ihre Übereinstimmung mit dem Leib und Bewusstsein eines anderen Menschen beim vertrauten Umgang mit der Welt (ebd., S. 405-414). Erst in der Hinwendung zur Welt wird sich der Leib als von ihr getrennt bewusst, im Prozess der Objektwerdung entstehen Selbst und Welt gleichzeitig. Das Selbst ist der sich seiner selbst bewusste Leib, der sich über das Andere der Welt erkennt (ebd., S. 167f., 176f.). Dabei ist die Wahrnehmung immer gerichtet und selbstverortend, 18 | Meine Darstellung und Interpretation des Embodiment-Ansatzes ist durch Platz (2006) beeinflusst. 19 | Der Begriff des Leibes wird in diesem Kapitel nur in Bezug auf Merleau-Ponty verwendet. Ansonsten benutze ich den Begriff des Körpers, um Assoziationen an die phänomenologische Philosophie zu vermeiden. Denn die Trennung in einen materiellen Körper und einen mit Bewusstsein assoziierten Leib führt zu einem problematischen Dualismus. Nützlicher ist es, kontextbezogen Differenzierungen wie die zwischen Geist und Körper, Bewusstsein und Seele oder Kultur und Natur zu betrachten (Michaels & Wulf, 2009, S. 9).
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als Wahrnehmungssubjekt antizipiert der Leib die Einheit eines Gegenstandes vor dessen Synthetisierung zum Objekt (vgl. Platz, 2006, S. 49). Vor jeder Objektivierung existiert diese Intentionalität als leiblicher Sinn, der eine Einheit zwischen den verschiedenen Sinnen, dem Selbst und der Welt herstellt (ebd., S. 164f.). Objektwerdung lässt sich als kontinuierlicher Veränderungsprozess verstehen, in dem das Selbst und die Welt bzw. die Kultur permanent neu konstituiert werden (ebd., S. 367f.). Somit sind die Wahrnehmung des Subjekts auf ein Objekt und der Prozess der Objektivierung auch unbestimmt (vgl. Platz, 2006, S. 50). Mit Merleau-Pontys Konzept des Vorobjektiven erhält Csordas ein Konzept, mit dem er die Ebene der vorobjektiven Erfahrung untersuchen und gleichzeitig argumentieren kann, dass die Erfahrung kulturell und sozial bedingt ist. Denn das Selbst entsteht erst durch das Erleben der sozialen Welt. An dieser Stelle verändert Csordas den Ansatz Merleau-Pontys allerdings. Denn Csordas (1990, S. 13-18) versteht den Prozess nicht als Objektivierung, sondern als Selbstobjektivierung. Für ihn wird, anders als bei Merleau-Ponty, ein abgelehnter oder verkannter Teil des Selbst (des sich seiner selbst bewussten Leibes) als kulturelles Objekt veräußerlicht (vgl. Platz, 2006, S. 82f.). Csordas (1990) ergänzt Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung um Bourdieus (1993) Konzept des Habitus zum Verstehen der sozialen Praxis. Mit dem Konzept des Habitus wird die Ebene der vorobjektiven Erfahrung bei Merleau-Ponty erfasst (Platz, 2006, S. 12). Der Habitus entwickelt sich aus den Erfahrungen, die soziale Akteure in einem bestimmten sozialen bzw. kulturellen Umfeld machen. Die objektiven sozialen Bedingungen werden im Prozess der Inkorporierung zu systematischen körperlichen Dispositionen, zum Habitus. Die Wahrnehmungs-, Beurteilungs-, Denk- und Handlungsschemata des Habitus werden in der Praxis unmittelbar mimetisch über Körperhaltungen und Gesten vermittelt. Bourdieu (1993) spricht von »Hexis« (S. 129), um die einverleibten Dispositionen zu bezeichnen, die durch eine spezifische Art der Körperhaltung, des Redens, Fühlens und Denkens charakterisiert sind. Mit den Schemata werden Erfahrungen wahrgenommen und eingeordnet, mit ihrer Hilfe können die sozialen Akteure auf eine Art handeln, die mit den objektiven Bedingungen übereinstimmt. Insofern erzeugt der Habitus als modus operandi der sozialen Praxis (ebd., S. 28) Handlungen, die die Regelmäßigkeiten reproduzieren, in denen er entstanden ist. Da diese Regelmäßigkeiten dem Habitus zugrunde liegen, mit dem sie wahrgenommen
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werden, erscheinen sie den sozialen Akteuren als unmittelbar und natürlich. Die Welt erhält die Bedeutungen, die den Grundlagen des Habitus entsprechend strukturiert sind. Der Habitus ist ein sozialer bzw. praktischer Sinn. Der sozial geprägte Körper weiß unmittelbar, wie zu handeln ist. Die sozialen Akteure können sich so in der sozialen Welt und in spezifischen Praxisfeldern zurechtfinden. Dazu gehört, dass der Glaube an die Voraussetzungen des sozialen Feldes in der sozialen Praxis und im Habitus implizit enthalten ist. Er zeigt sich in Akten des Anerkennens. Die Voraussetzungen werden im Feld permanent produziert und reproduziert, so wird das Bestehen des Feldes gesichert – Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von »illusio« (ebd., S. 123), »praktische[m] Glaube[n]« (ebd., S. 124) oder »doxa« (ebd., S. 125).20 Für Bourdieu werden die sinnlichen Erfahrungen des Subjekts mit der sozialen Welt über den Habitus inkorporiert. Dabei werden die objektiven sozialen Bedingungen in subjektive Konstruktionen umgeformt (vgl. Krais & Gebauer 2002). Insofern existiert ein individueller Auslegungsspielraum der sozialen Regeln; Bourdieu spricht von »regelhafte[n] Improvisationen« (ebd., S. 106). Der Habitus gibt die Möglichkeiten vor und setzt die Grenzen, innerhalb derer der Körper wahrnehmen und handeln kann, er bestimmt soziales Handeln aber nicht völlig, die soziale Praxis bleibt unbestimmt. Csordas (1990, S. 13-18; vgl. 1997) wendet die Konzepte des Vorobjektiven und des Habitus auf seine Untersuchung in einer Gemeinde des charismatischen Christentums an der US-amerikanischen Ostküste an. An dem folgenden Beispiel werde ich deutlich machen, was ich an dem Ansatz für gewinnbringend und was ich für ergänzungsbedürftig halte. Csordas schildert, wie die Teilnehmer eines Rituals spontan erleben, dass sich Dämonen in ihnen manifestieren, sie schreien dann, erbrechen sich oder wälzen sich auf dem Fußboden. In der körperlichen Synthese von Visualisierung, Affekt und Kinästhesie werden die Manifestationen konkret erlebt. Csordas spricht in Bezug auf die körperlichen Manifestationen der Dämonen von »multisensory imagery« (ebd., S. 13). Das Sakrale wird hier in der körperlichen Erfahrung konkretisiert. Die Tatsache, dass die Teilnehmenden die Manifestationen spontan und ohne vorgegebenen 20 | In dem Kapitel (3.2) zur Selbstreflexion werde ich auf eine »Sogwirkung« zu sprechen kommen, die ich in den Settings selbst erfahren habe. Es war auch für mich als Forscher schwierig, mich von den Akten des Anerkennens zu distanzieren.
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Inhalt erleben, verweist auf das vorobjektive Element des Prozesses. Der gemeinsame Habitus begrenzt jedoch die Möglichkeiten der Manifestationen. Denn die religiöse Erfahrung manifestiert sich in einer vom Habitus bestimmten Form, die andere verstehen können. Die Teilnehmenden erleben, dass sie einen Gedanken oder ein Verhalten oder ein Gefühl nicht mehr unter Kontrolle haben. Die Zuschreibung dieser Phänomene an Dämonen macht diese subjektiven Erfahrungen dann zu kulturellen Objekten. Doch der Prozess der Objektwerdung ist nicht exakt von der Kultur vorgegeben. Es ist z.B. unbestimmt, bis zu welchem Grad eine Person von einem bösen Geist beeinflusst ist. Auf der Ebene einer vorobjektiven Intersubjektivität zwischen den Teilnehmern und dem Heiler erahnt dieser empathisch den Dämon. Csordas versteht die Manifestationen der Dämonen als Beispiele für den leiblichen Prozess der Selbstobjektivierung. Mit der Manifestation des abgelehnten Gefühls, Gedankens oder Verhaltens in den leiblichen Bildern wird die Selbstobjektivierung zu einer Heilung. Das Sakrale ist zwar Objekt gewordener Teil des Selbst, wird jedoch als solcher nicht akzeptiert oder erkannt, sondern als etwas radikal anderes veräußerlicht und so zu einem Dämon. The demon does not cause the bad spirit or the anger but is constituted by the lack of control over these things. The sui generis nature of the sacred is defined not by the capacity to have such experiences, but by the human propensity to thematize them as radically other. (Csordas, 1990, S. 34)
Das Sakrale kann abgelehnt werden, wenn es die Gestalt eines Dämons annimmt, oder es kann angenommen werden wie bei Gott. Die Erfahrung Gottes ist somit eine körperliche – sensu Merleau-Ponty eine leibliche – Erfahrung des Selbst. Den Handelnden bleibt verborgen, dass sie die körperlichen Bilder als Dispositionen teilen, sie können nicht ihren Habitus als eigentliches Erzeugungsprinzip erkennen und schreiben die körperlichen Bilder fälschlich Gott zu. Csordas (1990) folgert daraus, dass körperliche Erfahrung die existentielle Bedingung von Kultur ist, »the lived body is an irreducible principle, the existential ground of culture and the sacred« (S. 23). Ich fasse die untersuchten Settings als Kulturen des Umgangs mit psychischer Krankheit auf. Vor diesem Hintergrund kann ich mit dem Ansatz des Embodiment besser die Prozesse verstehen, in denen die kulturellen (settingspezifischen) Bedeutungen in Bezug auf den Umgang mit psychischer Krankheit entstehen. Denn mit dem Rückgriff auf Merleau-Ponty
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und Bourdieu verschiebt sich der Blick von den wahrgenommenen Kategorien von psychischer Krankheit und Gesundheit mit ihrer Klassifizierung und Differenzierung hin zu den Wahrnehmungsprozessen, in deren Rahmen die Kategorien konstituiert werden (Csordas, 1990, S. 35f.). Csordas sieht im Paradigma des Embodiment als methodologische Hauptaufgabe, die Dualismen von Subjekt und Objekt aufzuheben. Doch inwieweit gelingt ihm das? Wichtige Kritikpunkte finden sich bei Platz (2006). Platz kritisiert, dass Csordas den Dualismus von Subjekt und Objekt nicht zusammenfallen lasse, sondern beide als ein und dasselbe verstehe. Dieser sehe zwar auch, dass am Ende des Prozesses die Dualität da sei. Allerdings seien Subjekt und Objekt nicht unterscheidbar, da für ihn das Objekt das Ergebnis der Selbstobjektivierung sei. Csordas berücksichtige nicht, dass der Körper Kultur nicht nur generiere, sondern vor allem selbst sei, wie es von Bourdieu betont werde. Daneben vernachlässige Csordas auch, dass Selbst und Objekt sich gegenseitig bedingen würden, wie Merleau-Ponty hervorhebt, dass das Selbst also nur objektiviert werde, wenn ein Objekt konstituiert werde. Am Beispiel des Sakralen lässt sich mit Platz die damit verbundene Problematik zeigen. Denn Csordas sieht das Sakrale durch die menschliche Neigung bestimmt, eine Erfahrung als radikal anders zu thematisieren. Csordas scheint das Sakrale somit auf das Selbst zu reduzieren. Doch das bedeutet, dass damit quasi alles als radikal anders, in diesem Fall als sakral, wahrgenommen werden kann. Kultur wird damit auf einen nicht erkannten oder verleugneten Teil des Selbst reduziert (Platz, 2006, S. 99f.). Trotzdem ist der Blick auf eine »radikale Andersheit« für meine Untersuchung gewinnbringend. Ich kann Csordas’ Auffassung des Sakralen als radikale Andersheit zwar nicht benutzen, um die »Kultur« der Settings zu erklären. Denn ich schließe mich Platz an, dass in dieser Konzeption das Objekt zu wenig berücksichtigt wird. Ich kann hiermit jedoch die »radikale Andersheit« der Schizophrenie besser verstehen. Ich werde im Ergebnisteil zeigen, dass die untersuchten Settings Möglichkeiten bieten, die »radikale Andersheit« der Schizophrenie zu einem kohärenten Bedeutungssystem in Bezug zu setzen. Dabei wird deutlich werden, dass diese Möglichkeiten wiederum mit Phänomenen zusammenhängen, die sich als Embodiment interpretieren lassen. Insbesondere zur Charakterisierung der Manifestationen von Geistern, wie sie in dem Candomblé- und Umbanda-Tempel stattfinden, eignet sich Csordas’ Verständnis des Sakralen. Ein weiterer Kritikpunkt, auf den Platz (2006, S. 100) hinweist, bezieht sich auf die Darstellung des Rituals. Csordas beschreibt den Heilungspro-
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zess in der Charismatischen Kirche als Schaffung eines sakralen Selbst. Dieser Wandel wird ermöglicht durch die Teilnahme an einem kohärenten Ritualsystem, in dem ein bestimmter Habitus geteilt wird (Csordas, 1997, S. 24). Indem hier der lebende Körper mit all seinen Sinnen in den Mittelpunkt gestellt wird, verschwinden die Dualismen von Kognition, Emotion und (rein materiellem) Körper. Mit diesem Ansatz lässt sich ein analytischer Zugang zur subjektiven Erfahrung der Aktivitäten in den untersuchten Settings bekommen. Allerdings bietet Csordas keine ausreichende Erklärung für die Mechanismen, mittels derer die Rituale funktionieren. Es wird nicht klar, wie der Körper in den Ritualen konkret geprägt wird. Deswegen werde ich nun Theorien zu Ritual und Mimesis vorstellen. Krais und Gebauer (2002) betonen die zentrale Rolle, die der Körper als »Speicher sozialer Erfahrung« (S. 75) für den Habitus besitzt. Der Habitus zeigt sich im Gebrauch des Körpers, in seiner Haltung und seinen Gesten. Ein weiterführender Zugang zum Verständnis körperlicher Gesten findet sich bei Christoph Wulf (1998). Gesten sind in sozialen Situationen ein Mittel der Sinngebung. Sie drücken Gefühle und Stimmungen aus, indem sie diese körperlich-symbolisch darstellen. Dabei sind die Gefühle und Stimmungen, die sich in den Gesten artikulieren, häufig weder den Personen vollständig bewusst, die die Gesten vollziehen, noch den Personen, die sie wahrnehmen und auf sie reagieren. »In dieser Wirkung unterhalb des Bewußtseins liegt ein wesentlicher Teil ihrer sozialen Bedeutung« (S. 249). Hier ist eine wichtige Eigenschaft von Gesten angedeutet: Sie lassen sich nur begrenzt sprachlich interpretieren. Es bleibt immer ein Rest, der nur körperlich, mimetisch erfahren werden kann (Wulf, 1998). Über die »Anähnlichung« (Wulf, 2005, S. 82) an die Gesten eines anderen Menschen lassen sich dessen spezifische Körperlichkeit und Gefühlswelt erfahren. Gestische Inszenierungen werden mimetisch inkorporiert. Gebauer und Wulf (1998a) diskutieren Mimesis im Hinblick auf Erkenntnisprozesse allgemein. Im Rückgriff auf Goodmans (1984) Theorie von verschiedenen Weisen der Welterzeugung und hieraus als Erkenntnis resultierenden Versionen der Welt machen sie deutlich: »Erkennen gleicher Muster ist eine Sache des Erfindens: Organisationsweisen werden nicht in der Welt gefunden, sondern in die Welt eingebaut« (S. 28, zitiert nach Flick, 2003, S. 160). Das zu Verstehende ist auf verschiedenen Ebenen etwas Konstruiertes und Dargestelltes. In dieser Hinsicht finden sich mimetische Prozesse in der Verarbeitung von Erfahrungen in der Alltagspraxis. Auch die biographische Erzählung des eigenen Lebens ist eine mi-
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metische Darstellung von Erfahrungen. Zum anderen bildet die Erzählung allgemein einen Rahmen, in dem Erfahrungen erlebt werden. Mimetische Prozesse erzeugen also Versionen der Welt, die verstanden und interpretiert werden können (Flick, 2003, S. 162). Insofern stellen mimetische Prozesse ein Prinzip dar, Handlungsweisen, Situationen und Ereignisse alltagssprachlich so darzustellen, dass sie für das Subjekt selbst und für andere Personen verständlich und kommunizierbar werden (S. 163). Mimesis bezieht sich somit auf die »Produktion einer symbolischen Welt« (Gebauer & Wulf, 1998a, S. 11). Der Mensch gleiche sich in mimetischen Prozessen der Welt an. Er könne durch Mimesis die Außenwelt in seine Innenwelt hineinholen und umgekehrt seine Innenwelt ausdrücken. Mimesis »stellt eine sonst nicht erreichbare Nähe zu den Objekten her und ist daher auch eine notwendige Bedingung von Verstehen« (Gebauer & Wulf, 1998a, S. 11). Mimesis umfasst nicht nur nachahmen, sondern auch sich ähnlich machen, zur Darstellung bringen, ausdrücken und vor-ahmen. Die mimetische Fähigkeit ist eine notwendige Bedingung gesellschaftlichen Lebens: Sie ist in annähernd allen Bereichen menschlichen Handelns, Sich-Vorstellens, Sprechens und Denkens von Bedeutung (Wulf, 1989, S. 83). Über mimetische Prozesse empfinden Menschen Ähnlichkeiten und stellen Korrespondenzen zu ihrer sozialen Umwelt her. »Im Erleben dieser Korrespondenzen erfahren Menschen Sinn« (Wulf, 2005, S. 73). Gebauer und Wulf (1998a) erläutern, dass Mimesis an eine Handlungspraxis gebunden ist; an Mimesis ist praktisches und meistens auch körperliches Wissen beteiligt. Mimesis lässt sich also verstehen als ein Tun von handelnden Menschen. Menschen lernen soziales Handeln, indem sie über den Gebrauch ihres Körpers in sozialen Situationen ein verkörpertes praktisches Wissen erwerben, das bestimmten Regeln folgt. So verhalten sich Menschen regelhaft, ohne dass die Regeln sozialen Verhaltens in ihrem Bewusstsein repräsentiert sind. Menschen verstehen soziale Handlungen, weil diese sich innerhalb eines symbolisch strukturierten Beziehungsnetzes vollziehen, das den körperlichen Inszenierungen und Aufführungen des sozialen Handelns ihre Bedeutung verleiht (Wulf, 2005, S. 8). Wulf und Zirfas (2001a, S. 339f.) gehen davon aus, dass rituelle Inszenierungen mehrdeutig sind, und weisen auf die Grenzen einer bloß funktionellen Interpretation des Performativen hin. Sozialen Inszenierungen würden ein Selbstzweck und eine eigene ästhetische und aufführende Qualität zukommen und sie hätten eine Ausdrucks- und Darstellungskomponente, die sich nicht auf
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die Erfüllung von Intentionen und Funktionen reduzieren lasse. Rituelle Inszenierungen würden sich in dem Wie ihrer Aufführung unterscheiden. Sie würden nicht nur Bedeutung (wie das Symbol) repräsentieren, sondern sie würden im Vollzug bei den Akteurinnen und Akteuren sowie den Zuschauenden Bedeutung generieren21 . Performatives Handeln vollziehe, was es bezeichne.22 Audehm und Zirfas (2001, S. 114-116) fassen unter dem performativen Stil inhaltliche und formale Elemente, die in rituellen Inszenierungen als Muster erarbeitet und aufgeführt würden. Durch sie werde geregelt, was von der rituellen Gemeinschaft wie bearbeitet werde. Im performativen Stil präsentiere sich die Gestaltung des gemeinsamen Erfahrungsraums und aus den Teilnehmenden werde eine Einheit erzeugt. Zu den wesentlichen inhaltlichen Elementen gehört zunächst die rituelle Szenerie, die als Gestaltung von Ort, Zeit und Requisiten den äußeren Rahmen der Vergemeinschaftungsprozesse bestimmt. Daneben sind es die Machtbeziehungen und die Ordnung in den rituellen Sequenzen, durch die die Zuschreibung von Aufgaben, Rollen und Identitäten geregelt wird. Indem Differenz und Einheit im Ritual bearbeitet werden, entsteht die Wirklichkeit der Gemeinschaft. Die formalen Elemente bilden vor allem die spielerischen, mimetischen und körperlichen Charakteristika der Interaktionen und Handlungsvollzüge. Rituale sind für die Teilnehmenden in erster Linie eine emotionale und kollektive Erfahrung und nicht ein intellektueller Austausch geteilter Bedeutungen. Die soziale Bedeutung von Ritualen basiert auf ihrer affektiven Bindung, die über die sinnlichen Prozesse des Sehens, Hörens, Tastens, Schmeckens und Riechens entsteht (Gebauer & Wulf, 1998b, S. 137). Die Teilnehmenden ahmen mit ihrem Handeln kulturelle Praktiken körperlich-sinnlich nach und gestalten sie dabei (Wulf, 2005, S. 86). Das Ritual kann den Teilnehmenden ermöglichen, dass sie eine besondere Intensität und Lust erleben, die sich als inneres Fließen, als »Flow-Erlebnis« (Csikszentmihalyi, 2000) charakterisieren lässt. Der Begriff des Flow bezeichnet einen dynamischen Zustand, der mit dem holistischen Gefühl des Aufgehens in einer Tätigkeit verbunden ist. Im Zustand des Flow folgen die 21 | Auch Keesing (1982, S. 185f.) weist darauf hin, dass Rituale Bedeutungen hervorrufen würden, die davon abhängen würden, wer die teilnehmenden Individuen seien, was sie erfahren hätten und was sie wüssten. 22 | Vgl. die Studien von Schieffelin (1985) und Harrell (1991).
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Handlungen in einer eigenen Logik aufeinander, für die es nicht erforderlich zu sein scheint, dass der Handelnde sie bewusst beeinflusst. Der Prozess des Handelns wird als »Fließen« von einem Augenblick zum nächsten erlebt. Vor dem Hintergrund des Handelns entsteht das Flow-Erlebnis intrapsychologisch, wenn eine Person ein Gleichgewicht zwischen ihren Fähigkeiten und ihren Handlungsmöglichkeiten wahrnimmt. Die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf einen begrenzten Bereich von Stimuli ermöglicht der handelnden Person, ihre Handlungen zu konzentrieren. So bekommt sie das Gefühl, dass sie ihre Umwelt potentiell kontrollieren kann. Handlung und Bewusstsein vereinigen sich im Flow-Erlebnis. Somit wird die dualistische Perspektive aufgelöst, die handelnde Person ist sich ihrer Handlung bewusst, aber nicht ihrer selbst; das Erlebnis an sich wirkt belohnend (Csikszentmihalyi, 2000, S. 61-76). Für das szenische Arrangement und die Kontinuität der szenischen Gestaltung von Ritualen ist dieses »Fließen« im Innern der Handelnden von zentraler Bedeutung. Das im ›Flow-Erlebnis‹ liegende Gefühl der Zufriedenheit stellt das Gefühl der Zusammengehörigkeit her, das sich in ritualisierten Handlungen in Gemeinschaften ergibt. Das Erlebnis des Fließens ermöglicht eine Anähnlichung der Handelnden aneinander und stiftet so die Gemeinschaft (Gebauer & Wulf, 1998b, S. 148). Nach Wulf (2005) ist es für die Wirksamkeit ritueller Aufführungen entscheidend, dass die mimetisch entstehenden Empfindungen und Gefühle nicht nur subjektiv wahrgenommen, sondern kollektiv erlebt werden. Denn über diesen kollektiven Charakter der Emotionen entfalte sich das Vermögen der Rituale, Gemeinschaft zu erzeugen. Die kollektiv akzeptierten Handlungs- und Verhaltensformen, die im Ritual inszeniert würden, würden darstellen, wie man gemeinschaftlich handeln könne. Aufgrund der in Ritualen enthaltenen Mimesis könnten sie auch dann wirken, wenn der einzelne Teilnehmer sich bewusst von den rituellen Aufführungen distanziere (Wulf, 2005, S. 52f.). Gebauer und Wulf (1998b, S. 155-157) erläutern, dass es für die Erzeugung von Zugehörigkeitsgefühlen in Ritualen auch möglich sein müsse, Gefühle des Widerstandes, also Gefühle der Differenz und Individualität auszudrücken und szenisch darzustellen. Auch so komme es zu Sinnerfahrungen, die identifikations- und identitätsfördernd seien. Für Audehm und Zirfas (2001) umfassen die Möglichkeiten der Differenzbearbeitung im Ritual »die Differenzgenerierung bzw. -konstituierung oder -konstatierung ebenso […] wie de[n] Versuch der Differenzaufhebung« (S. 46f.). An der dramatischen Darstellung der
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Differenzen seien auch die Zuschauer beteiligt. Dadurch, dass szenische Darstellungen wiederholt und somit wiedererkennbar würden, machten sie Identifizierung und mimetische Verkörperung möglich. Aus der Gesamtheit des rituellen Bedeutungsgefüges ließen sich Bedeutungen der Szenen, Symbole, Körperbewegungen und Gesten erschließen. Sie seien weder eine von der Sinndeutung der Handelnden unabhängige noch eine in ihr aufgehende Sinneinheit. Die Zuschauer würden über »die Anähnlichung an die szenische Gestaltung« rituelle Handlungen nachschaffen und bekämen darüber deren sinnliche Qualität und Bedeutung vermittelt (Wulf, 2001b, S. 331). Für Pierre Bourdieu werden die Wirkungen institutionell verankerter Rituale vor allem durch den körperlich-habituellen und szenisch-mimetischen Charakter rituellen Handelns bedingt. Hierbei werden Grenzen gezogen, Dispositionen erzeugt und Kompetenzen festgelegt. Die sich dabei vollziehenden Anerkennungsprozesse23 besitzen eine performative Qualität, die für die Bildung von Gemeinschaften konstitutiv ist (Wulf, 2001a, S. 8f.). In die sozialen Aufführungen, die in einem inszenierten Kontext stattfinden, sind performative sprachliche Äußerungen24 eingebettet (Wulf, 2005, S. 88f.). Nach Wulf (2005) erzielen hier die Akteure durch deklarative Äußerungen Wirkungen bei den anwesenden Zuschauenden. Damit diese Wirkungen tatsächlich erzielt würden, sei der gemeinsame Glaube der Akteure und Zuschauer an die Wirkungen der Äußerungen erforderlich. Für die Entstehung des Glaubens spiele die institutionelle Einbettung eine besondere Rolle, durch die die Äußerungen potentiell wiederholbar würden. Die tatsächliche Wiederholung der performativen Äußerungen erhöhe deren Wirkungen. Die Äußerungen würden eine sprachlich-soziale Praxis darstellen, in der ihre Wirkungen von dem sozialen und institutionellen Status der Akteure abhingen. Performative Äußerungen seien als Teil körperlicher Aufführungen selbst auch körperlich erzeugt. Die Art und Weise der körperlichen Aufführung sprachlicher 23 | Wie oben bereits beschrieben, werden die Voraussetzungen im Feld permanent produziert und reproduziert, so wird das Bestehen des Feldes gesichert (Bourdieu, 1993, S. 123-125). 24 | Austin (1985) bezeichnet in seiner Sprechakttheorie Äußerungen als performativ, die weder wahr noch falsch (also nicht konstativ), sondern selbstbezüglich und reflexiv sind. Sie sind häufig an einen institutionellen und rituellen Kontext gebunden.
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Äußerungen sei stark durch die Stimme, Mimik und Gestik der Akteure beeinflusst. Durch sie bekämen die Äußerungen eine Rahmung und die Akteure könnten sich selbst deuten. Diese körperlich stattfindende Rahmung beziehe sich auf die institutionelle Rahmung und gestalte diese auf eine spezifische, mit der Körperlichkeit der Akteure zusammenhängende Weise. Auch die körperliche Selbstdeutung der Akteure, die die sprachlichen Äußerungen begleite und physisch konstituiere, nehme die institutionelle Rahmung auf und gestalte sie körperlich aus (Wulf, 2005). Laut Wulf und Zirfas (2001b) werden durch performative Prozesse Machtstrukturen einverleibt. Die Welt werde als real und natürlich erlebt, »ohne daß die diesen Prozessen zugrunde liegenden Mechanismen und Schemata den einzelnen bewußt sind« (Wulf & Zirfas, 2001b, S. 112). Wulf (2005) betont, dass Institutionen und Organisationen mit Ritualen ihre Werte und Zielsetzungen in die Körper der Teilnehmenden am Ritual einschreiben würden (Wulf, 2005, S. 166). Das Individuum präsentiert nach Wulf und Zirfas (2001b) in der performativen Darstellung die Normen, von denen es unterworfen wird (Wulf & Zirfas, 2001b). Über körperliche Aufführungen werden sprachliche Formen, Interaktionsformen, räumliche Beziehungen und Schemata einverleibt. So entwickelt sich eine körperliche Geographie mit bestimmten Rollenzuschreibungen und Identitätskonstruktionen, die täglich neu inszeniert wird (vgl. Wulf & Zirfas, 2001). Abhängig von den Bewegungen des menschlichen Körpers wird so der Raum erfahren (Wulf, 2005, S. 98). In diesem Kapitel habe ich Modelle vorgestellt, in denen eine Verbindung von Selbst und Kultur konzeptualisiert wird. Nach einer kulturpsychologischen Kritik an Gergens Aufgabe des Selbstkonzepts habe ich mit der Erläuterung des Embodiment-Ansatzes den Körper mit Selbst und Kultur in Beziehung gesetzt. In dem Embodiment-Ansatz fehlt jedoch eine Erläuterung des Vermittlungsprozesses kultureller Bedeutungen; es bleibt auch offen, wie eine kulturelle Gemeinschaft konstituiert wird. Deswegen habe ich anschließend Theorien zu Ritual und Mimesis vorgestellt. Dabei benutze ich die Theorien unterschiedlich: Gergen und Zielke dienen meiner theoretischen Standortbestimmung; Csordas und vor allem Wulf benötige ich, um die Daten aufzubrechen und das in dieser Arbeit zu entwickelnde Modell theoretisch auszuarbeiten.
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2.4 S INN UND B EDEUTUNG Bisher habe ich die Problematik des Schizophrenie-Konstrukts unter Berücksichtigung des Recovery-Konzepts diskutiert und unterschiedliche Modelle zum Selbst, zu Mimesis und Performanz sowie zu Settings zusammengeführt, um die Möglichkeiten aufzuzeigen, die in einer Überwindung des Dualismus von Selbst und Kontext liegen. Zu Beginn hatte ich darauf hingewiesen, dass diese Möglichkeiten in Bezug auf Recovery bei Schizophrenie insbesondere mit einer positiven Sinnstiftung zusammenhängen könnten. Nun möchte ich den Begriff des Sinns explorieren und mit Gesundheit und Krankheit in Bezug setzen. Ich orientiere mich zunächst an Wulffs (1992) Differenzierung von Sinn und Bedeutung, die sich auf Leontjew bezieht. Für Leontjew (1973) sind Bedeutungen einer Kultur- bzw. Sprachgemeinschaft gemeinsame Gegenstands- oder Beziehungsbegriffe, die historisch entstanden und verallgemeinert sind. Demgegenüber ist Sinn die subjektive Perspektive eines Individuums auf diese Bedeutungen. Wulff präzisiert Sinn […] als dasjenige, was mich in einem gegebenen Augenblick und an einem gegebenen Ort dazu bringt, mich gattungs- und gesellschaftsgeschichtlich entstandenen verallgemeinerten Bedeutungen in einer bestimmten Art und Weise zuzuwenden. […] Ich nenne diese Art Sinn einen subjektiv-situativen Sinn, dasjenige, was mich, so wie ich jetzt und hier gerade bin, dazu bringt, etwas zu sagen, aus sich herauszugehen, etwas zu tun. Ein solcher subjektiv-situativer Sinn ist begrifflich noch unartikuliert und dementsprechend auch noch nicht an irgendwelche Wortvorstellungen gebunden. (S. 13f.)
Man kann Bedeutungen als empfänglich für einen möglichen subjektivsituativen Sinn ansehen. Und subjektiv-situativer Sinn kann sich normalerweise in allgemein verständlichen Bedeutungen artikulieren. Nur durch die Anerkennung dieser gegenseitigen Empfänglichkeit und Aufeinanderbezogenheit von Sinn und Bedeutung wird eine verbindliche mögliche Welt konstituiert, die alle Subjekte potentiell sinnhaft verstehen können. Nach Wulffs Hypothese ist in der Schizophrenie jedoch die wechselseitige Beziehung von subjektiv-situativem Sinn und verallgemeinerbaren, historisch entstandenen Bedeutungen verloren gegangen. Wulff führt aus, »daß in der schizophrenen Verrücktheit Sinnrealisierung nur mit der Unkenntlichmachung der Bedeutungen, an die Sinn sich heften will, einhergehen
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und Bedeutungsvergegenwärtigung umgekehrt zwangsläufig nur Sinnannullierung hervorrufen kann« (ebd., S. 16). Er führt aus, »daß die Verrücktheit eine negative, destruierende Dialektik zwischen Sinn und Bedeutung in Gang setzt, eben in Richtung auf ihre immer vollständigere gegenseitige Durchkreuzung und Annullierung« (ebd., S. 16f.). Daran anknüpfend ist es interessant, die Frage zu stellen, inwieweit die von mir betrachteten Settings eine kollektive Bedeutungsgebung bieten können, in der von Schizophrenie Betroffene trotz ihrer Verrückung Anknüpfungspunkte für eine subjektive Sinngebung finden. Mit anderen Worten: Inwieweit können die Settings trotz Schizophrenie die sinnbezogene Teilhabe an einer in verallgemeinerbaren Bedeutungen strukturierten Welt ermöglichen? Hiermit hängt die Frage zusammen, ob nicht für beide Seiten, also für Schizophrenie-Erfahrende und ihr Umfeld, Sinn hergestellt werden muss bzw. kann. Um sich einer Antwort zu nähern, ist es nützlich, sich mit einigen zentralen Theorien der Stressforschung auseinanderzusetzen. Denn zum einen haben die Annahmen der Stressforschung zur Interaktion zwischen einem Individuum und seiner Umwelt die klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie umfassend geprägt (vgl. Zaumseil, 2006b, S. 31). Zum anderen sind im Rahmen der Stressforschung Modelle zu den Zusammenhängen von Sinnstiftung und Gesundheit entwickelt und empirisch untersucht worden, die auch für meine Arbeit relevant sind. In meiner Diskussion der Modelle interessiert mich vor allem, inwieweit der Kontext Berücksichtigung findet.
2.4.1 Was kann an Sinnstiftung gesundheitsfördernd sein? Für Lazarus und Folkman (1984) basiert der Prozess der Stressbewältigung auf subjektiver Einschätzung und Wahrnehmung (»appraisal«) innerer und äußerer Anforderungen in Situationen, die Personen als belastend erleben – dabei spielen neben negativen auch positive Emotionen eine wichtige Rolle im Stressprozess (Folkman & Moskowitz, 2004). Bewältigung umfasst dann die Gedanken und Verhaltensweisen, die Personen benutzen, um diesen Anforderungen zu begegnen. Der Bewältigungsprozess ist insofern durch subjektive Repräsentationen von Umweltgrößen und eigenen Potentialen charakterisiert. Bei diesen subjektiven Repräsentationen könnten kulturelle Bedingungen zwar eine wichtige Rolle spielen, doch sie
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werden eher als Eigenschaft der Person gesehen oder im Sinne von Bruner (1990) ihrer Bedeutungshaltigkeit beraubt (Zaumseil, 2006b, S. 32).25 Allerdings wird in aktuellen Entwicklungen die Sinngebung (meaning making) als wichtiger Faktor der Stressbewältigung gesehen (Folkman und Moskowitz, 2004; Park & Folkman, 1997; Gottlieb & Gignac, 1996).26 Meaning-based coping bedeutet, dass Personen in schwierigen Situationen mittels kognitiver Strategien neue, angemessene Ziele formulieren, den Ereignissen einen Sinn geben und nützliche Aspekte erkennen (Folkman & Greer, 2000). Park und Folkman (1997) differenzieren zwischen einem globalen und einem situationalen Niveau des meaning making. Globales meaning making bezieht sich auf die Entstehung einer grundlegenden Orientierung mit einem langfristigen Glaubenssystem und einem Set an wertgeschätzten Zielen. Situationsspezifisches meaning making bezieht sich darauf, dass jemand in einem spezifischen Kontext oder einer spezifischen Situation einen Sinn findet, der kongruent mit der globalen Sinnstruktur dieser Person ist. In diesem Zusammenhang sind auch die Untersuchungen über religiöses und spirituelles Coping relevant, bei dem sich Wirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit nachweisen lassen (Seybold & Hill, 2001; Pargament, Koenig & Perez, 2000).27 Allerdings muss die Art des Glaubens genauer differenziert werden. Gläubige, die in einer strengen Glaubensgemeinschaft Furcht vor einem strengen Gott erleben, der sie für ihre Sünden bestrafen wird, haben tendenziell mehr Depressionen, Ängste und psychosomatische Störungen als nichtreligiöse Personen. Umgekehrt fand Pargament (1997) heraus, dass in einer Geborgenheit vermittelnden Glaubensgemeinschaft das Erleben eines freundlichen Gottes, der gegenüber menschlichen Schwächen nachsichtig ist, deutliche Auswirkungen auf das körperliche und psychische Wohlbefinden hat. In einer Studie mit Krebs-Patienten zeigten Brown und Ryan (2003), dass die Zunahme von Achtsamkeit mit einer Verringerung von Angst und Stimmungsstörungen einherging. Kabat-Zinn und 25 | Für den Pionier der kognitiven Psychologie, Jerome Bruner (1990, S. 33), sind Sinn bzw. Bedeutung (meaning) und die Prozesse und Transaktionen, die mit der Sinnkonstruktion zusammenhängen, das zentrale Konzept der Psychologie. 26 | Vgl. Mosher (2001) hinsichtlich der Wichtigkeit der Sinngebung bei der Besserung von Psychosen. 27 | Die von mir untersuchten Meaning Making Settings enthalten religiöse bzw. spirituelle Elemente.
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Skillings (1989; zitiert nach Shapiro, Schwartz & Santerre, 2005, S. 637) zeigten, dass während eines achtwöchigen, auf Achtsamkeit basierenden Stressreduktions-Programms bei Krankenhauspatienten das Kohärenzgefühl anstieg (Antonovsky, 1997). Die Patienten mit dem größten Anstieg des Kohärenzgefühls hatten gleichzeitig die höchste Symptomreduktion. Antonovsky (1979, 1997) versucht, mit seinem – im Rahmen der Stressforschung entwickelten – ›Salutogenese-Modell‹ die Frage zu klären, warum Menschen trotz Belastungen gesund bleiben bzw. wieder gesund werden. Nach dem Salutogenese-Modell stellen Gesundheit und Krankheit keine Dichotomie dar, sondern sind auf einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum angeordnet. Insofern konzentriert man sich nicht auf die Ätiologie einer bestimmten Krankheit, sondern versucht, die Krankheit im Kontext der gesamten Geschichte eines Menschen zu betrachten. Im Fokus steht die Suche nach den verschiedenen Faktoren, die die Bewegung zum Gesundheitsende des Kontinuums hin fördern. Da Stressoren als allgegenwärtig gesehen werden, können die Konsequenzen von Stressoren in Abhängigkeit vom Charakter des Stressors und der erfolgreichen Auflösung der Spannung auch gesund sein. Einen zentralen Stellenwert nimmt in diesem Modell das Kohärenzgefühl (sense of coherence) ein, definiert als: eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, daß 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; 3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen. (1997, S. 36)
Insofern stellt das Kohärenzgefühl (auch Kohärenzsinn oder Kohärenzerleben genannt) eine dispositionale Bewältigungsstrategie dar, die Menschen im Zusammenspiel mit sogenannten generalisierten Widerstandsressourcen widerstandsfähiger gegenüber Stressoren macht. Die generalisierten Widerstandsressourcen umfassen Intelligenz, Ich-Identität, Wissen, materiellen Wohlstand, Flexibilität und soziale Unterstützung. Ein ausgeprägtes Kohärenzgefühl fördert nach Antonovsky die Gesundheit, weil es dem Individuum ermöglicht, Ressourcen zu mobilisieren, um so Belastungen besser begegnen zu können. Antonovsky hat das Konzept des Kohärenzgefühls aus theoretischen Überlegungen mit den drei Subskalen
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Verstehbarkeit, Handhabbarkeit (auch Bewältigbarkeit) und Sinnhaftigkeit (auch Bedeutsamkeit) weiter ausdifferenziert. Dabei wies er allerdings darauf hin, dass die drei Subskalen untrennbar miteinander verflochten seien, was faktorenanalytisch bestätigt wurde (z.B. Sandell et al., 1998). Insofern scheint das Kohärenzgefühl ein eindimensionales Konstrukt zu sein (Schumacher, 2002). Verstehbarkeit bezieht sich auf das Ausmaß, in dem interne und externe Stimuli als geordnet, strukturiert, konsistent und entsprechend vorhersehbar oder zumindest erklärbar wahrgenommen werden. Handhabbarkeit umfasst das Ausmaß, in dem eine Person wahrnimmt, dass sie auf adäquate personale und soziale Ressourcen zugreifen kann, um Anforderungen zu bewältigen, die von den konfrontierenden Stimuli ausgehen. Die motivationale Komponente der Bedeutsamkeit bezieht sich auf das Ausmaß, in dem eine Person ihr Leben emotional als sinnvoll empfindet und die vom Leben gestellten Anforderungen zumindest zum Teil als Herausforderungen sieht, für die sich Investitionen und Engagement lohnen (Antonovsky, 1997, S. 34-36). Bedeutsamkeit sei am wichtigsten, denn durch ihr Engagement könne eine Person Verständnis und Ressourcen bekommen. Da das Ausmaß an Handhabbarkeit vom Verstehen abhänge, komme Verstehbarkeit an zweiter Stelle. Handhabbarkeit habe allerdings auch Einfluss auf die Bedeutsamkeit, denn wenn man nicht glaube, dass man Ressourcen zur Verfügung habe, sinke die Bedeutsamkeit und damit sänken auch die Coping-Bemühungen. Entscheidend sei also das Zusammenspiel der drei Komponenten (S. 38). Eine Person mit einem höheren Wert auf dem Sense of Coherence Scale-Kontinuum28 könne aus ihrem Repertoire generalisierter und spezifischer Widerstandsressourcen eine Coping-Strategie auswählen, die ihr geeignet erscheine, den Stressoren zu begegnen.29 Sie könne einer Aufgabe Sinn zusprechen. 28 | Antonovsky (1997) hat das Kohärenzgefühl in dem 29 Items umfassenden Orientation of Life Questionnaire operationalisiert, für den sich der Begriff Sense of Coherence Scale (SOC) durchgesetzt hat. 29 | Alexa Franke (2006) weist darauf hin, dass Antonovsky sich nur auf Ressourcen beziehe, die stress- und anforderungsorientiert seien. »Persönliche und soziale Ressourcen, die […] im Sinne positiver Gefühle, Motivationen und Bedürfnisbefriedigungen Entwicklungen ermöglichen – wie etwa die Fähigkeit, ein positives Lebensgefühl und Wohlbefinden herzustellen, Zielgerichtetheit, Selbstaktualisierungstendenz, Motivation zum Lernen und zur Weiterentwicklung« (S. 168), fehlten im Modell. Sie schlägt vor, das Salutogenese-Modell um Kog-
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Sie könne auch die Grenzen dessen, was ihr bedeutsam erscheine, flexibel variieren. Das heiße jedoch nicht, dass alles möglich sei. Denn Menschen gingen mit Stressoren innerhalb eines spezifischen kulturellen Kontexts um, der auch die potentiellen Strategien begrenze. Die tatsächliche Art des Verhaltens und der Ressourcen, die ausgewählt werden, um den Stressor zu bewältigen, ist immer durch die eigene Kultur geformt. Das Konzept mag transkulturell sein, aber seine konkrete Umsetzung wird stark variieren. […] Ebenso definiert die Kultur, welche Ressourcen angemessen und legitim in einer gegebenen Situation sind. Die Kultur setzt Grenzen; innerhalb dieser Grenzen ist das SOC ausschlaggebend. (Antonovsky, 1997, S. 137f.)
Das Kohärenzgefühl entwickelt sich auf der Basis konkreter Lebenserfahrungen in spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten (ebd., S. 95114). Dabei muss nicht die gesamte Welt als kohärent erscheinen, sondern entscheidend ist, dass bestimmte Lebensbereiche für eine Person bedeutsam, verstehbar und handhabbar sind (ebd., S. 39). Für Antonovsky ist die Entwicklung des Kohärenzgefühls mit dem Erwachsenenalter abgeschlossen, nur geringfügig könnten einschneidende Ereignisse geringe bzw. kurzfristige Veränderungen bringen. Doch schon diese geringfügigen und kurzfristigen Veränderungen des SOC können bedeutsam sein. Insofern ist es wichtig, Menschen in kritischen Situationen so zu unterstützen, dass ihr SOC-Wert sich nicht kurzfristig verringert. Dazu gehören alle therapeutischen Interventionen, die entscheidend dazu beitragen, dass Menschen konsistente und lang anhaltende Veränderungen in ihrer Lebenserfahrung erleben. »Noch mehr gilt dieser Punkt für die Situationen, in denen der Praktiker über eine lange Zeitspanne ein beträchtliches Ausmaß an Kontrolle über die Lebenssituation des Klienten hat« (Antonovsky, 1997, S. 119f.). Für Antonovsky ist der größte positive Einfluss auf das Kohärenzgefühl durch strukturelle und gesellschaftliche Maßnahmen zu erreichen, die dem Individuum Partizipation an sozial anerkannten Entscheidungsprozessen ermöglichen würden. Bengel, Strittmatter & Willmann (2001, S. 69) weisen jedoch darauf hin, dass noch nicht ausreichend geklärt sei, inwiefern das Kohärenzgefühl stabil bleibt. Antonovsky hat das Kohärenzgefühl auch auf Gruppen bezogen. In einer nitionen, Emotionen und Verhaltensweisen zu erweitern, die nicht nur als Puffer gegen Stress dienen, sondern aktiv gesundheits- und adaptionsfördernd sind.
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Gruppe mit einem hohen Wert auf dem SOC-Kontinuum nähmen die Mitglieder die Gruppe tendenziell übereinstimmend als Gemeinschaft wahr, in der die Welt verstehbar, handhabbar und bedeutsam sei. »Die Individuen mögen die Welt für sich persönlich als nicht kohärent erleben, obwohl sie darauf vertrauen, daß sie es für die Gemeinschaft ist« (Antonovsky, 1997, S. 157f.). Während Antonovsky selbst das Salutogenese-Modell auf körperliche Gesundheit reduzierte und mögliche Zusammenhänge zwischen Kohärenzgefühl und psychischer Gesundheit30 bzw. subjektivem Wohlbefinden31 kritisch bewertete, deuten viele Studien auf einen solchen Zusammenhang hin.32 Mit dem Anstieg des Kohärenzgefühls nimmt das Risiko für psychische Beschwerden ab. Es finden sich Korrelationen zwischen Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit und dem Kohärenzgefühl (Larsson & Kallenberg, 1996). Es gibt auch Hinweise auf Zusammenhänge zwischen dem Kohärenzgefühl und dem Ausmaß an wahrgenommenem Stress. Die Anpassung an eine schwierige Lebenssituation wie die Pflege eines Angehörigen scheint sich durch einen höheren Wert auf dem SOC-Kontinuum leichter bewältigen zu lassen (Rena, Moshe & Abraham, 1996). Hohe SOC-Werte korrelieren mit aktiven Bewältigungsstrategien (McSherry & Holm, 1994). Umgekehrt finden sich Korrelationen niedriger
30 | Das Konzept der psychischen Gesundheit drückt mehr aus als die Abwesenheit psychischer Störungen und Beeinträchtigungen, sondern bezeichnet das »intakte, psychisch voll funktionsfähige, anpassungs- und entwicklungsfähige Individuum« (Bastine, 1998, S. 162). Psychische Gesundheit und Krankheit werden allerdings als Kontinuum und prozessual verstanden; eine Person kann in den verschiedenen Bereichen ihres Lebens mehr oder weniger psychisch krank oder gesund sein. Dabei sind die Konzepte »gesund« und »krank« durch gesellschaftliche Normen beeinflusst. Außerdem vermischen sich körperliche und psychische Gesundheit (ebd., S. 162-164). 31 | Subjektives Wohlbefinden ist ein breites Konzept, das sich auf die kognitiven und affektiven Bewertungen bezieht, mit denen eine Person ihr Leben betrachtet. Dazu gehören emotionale Reaktionen auf Ereignisse und kognitive Beurteilungen der Zufriedenheit (Diener, Lucas & Oishi, 2005, S. 63). 32 | Andererseits fehlen empirische Hinweise auf den von Antonovsky formulierten direkten Einfluss des Kohärenzgefühls auf die körperliche Gesundheit (Bengel, Strittmatter & Willmann, 2001).
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SOC-Werte mit depressivem Bewältigungsverhalten (Becker, Bös, Opper, Woll & Wustmann, 1996) oder Resignation (Rimann & Udris, 1998). Bengel, Strittmatter & Willmann (2001) weisen darauf hin, dass viele Annahmen des Salutogenese-Modells wegen seiner Komplexität empirisch schwierig zu überprüfen sind. Das Modell bezieht sich auf Prozesse in zwei verschiedenen zeitlichen Hauptebenen, die unterschiedliche methodische Zugänge erfordern. Bei der Entstehung des Kohärenzgefühls in jungen Lebensjahren aus generalisierten Widerstandsressourcen, Lebenserfahrung und dem Ergebnis der Spannungsbewältigung spielen langfristige Prozesse eine Rolle. Auf den aktuellen Gesundheitszustand, der durch Stressoren, Kohärenzgefühl, generalisierte Widerstandsressourcen (andere als beim Entstehungsprozess), Spannungs- und Stresszustand erklärt wird, wirken hingegen kurz- bis mittelfristige Prozesse ein (Bengel, Strittmatter & Willmann, 2001). Das SOC-Konzept und die SOC-Skala sind wegen der formalen Struktur der Items und hoher negativer Korrelationen mit Skalen zur Messung von Ängstlichkeit, Depressivität, Neurotizismus oder negativer Affektivität kritisiert worden (Schmidt-Rathjens et al., 1997; Struempfer et al., 1998; Hannöver et al., 2004). Insofern wird in Frage gestellt, in welchem Maße das Kohärenzgefühl ein eigenständiges Konstrukt darstellt oder nur ein inverses Maß für negative Affektivität ist. Außerdem lässt es sich nicht klar gegenüber inhaltlich verwandten Konstrukten wie Optimismus, Hardiness, Resilienz, Kontrollüberzeugung oder Selbstwirksamkeitserwartung abgrenzen (Schumacher, 2002). Noack (1997) bezweifelt die übergeordnete und steuernde Funktion des Kohärenzgefühls und stellt es neben Konstrukte wie Selbstwirksamkeit oder Optimismus. Für Bandura (1977, 1997) ist das Verhalten einer Person durch ihre Erwartung an dessen Effizienz und Ergebnis bestimmt. Für eine Verhaltensveränderung ist nun die Überzeugung entscheidend, dass die Person spezifische Anforderungen durch eigenes kompetentes Handeln unter Kontrolle bringen kann. Diese Selbstwirksamkeitserwartung, die durch die Erfahrungen mit erfolgreich bewältigten Situationen entsteht, führt dazu, dass eine Person adäquate Bewältigungsstrategien entwickelt. Es wird zwischen der Komponente der Kompetenzerwartung unterschieden – dem Glauben, dass man selbst die Handlungen erfolgreich durchführen könne – und der Konsequenzerwartung – dem Glauben, dass diese Handlungen für das Erreichen eines bestimmten Ziels adäquat seien. Die Selbstwirksamkeitserwartung ist insofern ein entscheidender Motivationsaspekt für eine Verhaltensänderung.
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Patienten mit Atemwegserkrankungen, die über eine hohe Kompetenzerwartung verfügten, konnten ihr Leben im Vergleich besser bewältigen (Kaplan, Atkins & Reinsch, 1984). In einer anderen Studie kamen Patienten mit koronaren Herzkrankheiten, die eine hohe Kompetenzerwartung hatten, besser mit ihrem Alltag zurecht (Ewart, Gillian, Kelemen, Manley & Kelemen, 1986). Die experimentelle Erhöhung der Kompetenzerwartung stärkte die Immunabwehr (Bandura, 1992). Antonovsky (1997, S. 67) stellt Bezüge zwischen den drei Komponenten des SOC-Konstrukts und den drei Bedingungen für wirksames Verhalten in Banduras (1977) Modell der Selbstwirksamkeit her. Er bezieht Bedeutsamkeit auf den Glauben, dass das beabsichtigte Ergebnis eines spezifischen Verhaltens einen Wert für einen selbst darstelle. Verstehbarkeit entspreche dem Glauben, dass das Verhalten auch zu dem beabsichtigten Ergebnis führe. Handhabbarkeit bezieht er auf den Glauben, das Verhalten mit Erfolg zeigen zu können. Bengel, Strittmatter & Willmann (2001, S. 55) weisen darauf hin, dass, auch wenn Antonovsky nicht zwischen Ergebnis- und Effizienzerwartung unterscheide, diese beiden Aspekte implizit in der Komponente der Handhabbarkeit enthalten seien – als Vertrauen darin, dass man auf die entsprechenden Ressourcen zurückgreifen könne, um Situationen zu bewältigen. Bandura (1997) konzipierte die Selbstwirksamkeitserwartungen zunächst als situationsabhängige Überzeugungen. Somit unterscheidet sich seine Theorie von Antonovskys Verständnis des SOC als stabiler Persönlichkeitseigenschaft. In neuen Ansätzen wird jedoch versucht, das Selbstwirksamkeitskonstrukt als allgemeine Persönlichkeitseigenschaft zu konzeptualisieren (Schwarzer, 1994, 1992). Generelle Selbstwirksamkeit umfasst ein breites und stabiles Gefühl von persönlicher Kompetenz, wirksam mit einer Vielfalt an stressvollen Situationen zurechtzukommen. Luszczynska, Gutiérrez-Doña & Schwarzer (2005) stimmen mit Bandura (1997) überein, dass für die Mehrheit der Anwendungen wahrgenommene Selbstwirksamkeit als situationsspezifisch konzeptualisiert werden sollte. In weniger spezifischen Kontexten könne generelle Selbstwirksamkeitserwartung allerdings einen breiteren Bereich menschlichen Verhaltens und Copings reflektieren. Die Autoren sehen Ähnlichkeiten zwischen genereller Selbstwirksamkeit und dem Hoffnungskonstrukt. Hoffnung umfasst die selbstreferentiellen, über-situationalen Überzeugungen, dass eine Person zielgerichtete Handlungen initiieren und fortsetzen wird (Snyder, 2002). Snyder et al. (1991) unterteilen Hoffnung in zwei Aspekte: in den Glauben
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einer Person, dass ein gewünschtes Ergebnis möglich ist, und in ihre Fähigkeit zu visualisieren, wie dieses Ergebnis möglich werden kann. »We define hope as goal-directed thinking in which the person utilizes pathways thinking (the perceived capacity to find routes to desired goals) and agency thinking (the requisite motivations to use those routes« (Snyder & Lopez, 2007, S. 189). Nur die Ziele, die für eine Person einen relevanten Wert haben, werden berücksichtigt. Sie variieren abhängig von der Schwierigkeit, sie zu erreichen. Es kann sich um kurz- oder langfristige Ziele handeln. Sie können zugangsorientiert (auf das Erreichen eines erwünschten Ereignisses hin) oder präventiv sein (auf das Stoppen eines unerwünschten Ereignisses ausgerichtet) (Snyder, Feldman, Taylor, Schroeder & Adams, 2000). Hoffnung wurde als gemeinsamer Faktor identifiziert, der positiven Veränderungen in Psychotherapien zugrunde liegt (Snyder, Ilardi, Michael & Cheavens, 2000). Als ein weiterer protektiver Faktor in der Stressbewältigung wird Optimismus gesehen. Scheier und Carver (1992) verstehen unter dispositionellem Optimismus die in der generalisierten Ergebniserwartung widergespiegelte subjektive Einschätzung, dass alles gut gehen werde. Auch in schwierigen Situationen werden tendenziell positive Ergebnisse erwartet. Wenn ein Ziel einen ausreichenden Wert darstellt, entwickelt eine Person die Erwartung, dieses Ziel zu erreichen (Carver & Scheier, 1999). Dem Konstrukt des dispositionellen Optimismus liegt ein Selbstregulationsmodell von Verhalten zugrunde (Scheier & Carver, 1990). Eine Person nimmt eine Diskrepanz zwischen ihrem momentanen Verhalten und ihren Verhaltenszielen wahr. Dies führt zu einem Analyseprozess über die Gründe der Diskrepanz und zu einer anschließenden Bewertung der Wahrscheinlichkeit einer Diskrepanzreduktion. Fällt die Ergebniserwartung positiv aus, vergrößert die Person ihre Anstrengungen, das Ziel zu erreichen. Eine negative Ergebniserwartung führt zur Reduktion der Anstrengungen oder zum völligen Abbruch. Als generalisierte Ergebniserwartung ist Zuversicht in diesem Modell insofern der beste Prädiktor von Verhalten. Bengel, Strittmatter & Willmann (2001, S. 57) weisen darauf hin, dass die Theorie des dispositionellen Optimismus wesentlich einfacher strukturiert sei als Antonovskys SOC-Konstrukt. Das SOC-Konstrukt sei auch viel stärker in den sozialen und kulturellen Kontext von Lebensbedingungen und die damit verbundenen Entwicklungsmöglichkeiten eingebettet (vgl. Antonovsky, 1997, S. 95114). Die generalisierte positive Ergebniserwartung sei inhaltlich identisch mit dem Aspekt der Handhabbarkeit. Daneben gebe es Überschneidungen
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mit dem Aspekt der Verstehbarkeit. Ein Unterschied sei jedoch, dass Personen mit einem hohen Wert auf dem SOC-Kontinuum in Antonovskys Verständnis nicht unbedingt häufig positive Ergebnisse erwarten würden. Der protektive Einfluss von dispositionellem Optimismus auf das psychische Wohlbefinden, die Lebenszufriedenheit, die körperliche Gesundheit, das Bewältigungsverhalten sowie präventive Verhaltensweisen in Bezug auf die Gesundheit wurde in Studien bestätigt (Chamberlain, Petrie & Azariah, 1992). Zunächst entwickelten Scheier und Carver (1985) den Life Orientation Test (LOT), um positive und negative Ergebniserwartungen zu messen. In der revidierten Version LOT-Revised (LOT-R) wurde der Index um Items bereinigt, die positive Korrelationen mit NeurotizismusMessinstrumenten aufwiesen (Scheier, Carver & Bridges, 1994). Höhere Werte auf dem LOT-R gehen einher mit einem leichteren Zurechtkommen mit AIDS und Krebs-Biopsien, besserer Recovery nach Herz-BypassOperationen und einer höheren Wahrscheinlichkeit der Behandlungsfortsetzung bei Alkoholmissbrauch (Carver & Scheier, 2002). Optimisten bevorzugen einen problemlösenden Ansatz im Umgang mit Stressoren (Scheier, Weintrab & Carver, 1986). Während Pessimisten in schwierigen Situationen sich eher vermeidend und verleugnend verhalten, versuchen Optimisten, positive Aspekte und einen Sinn in der Situation zu erkennen (Carver & Scheier, 2002). Anders als Pessimisten sehen Optimisten den Alltagsstress auch als Potential. In unkontrollierbaren Situationen akzeptieren Optimisten tendenziell ihre Notlage, während Pessimisten dazu tendieren, ihre Probleme zu verleugnen und sie so zu verschlimmern (Carver & Scheier, 1998). Optimisten zeigen tendenziell stärker gesundheitsförderndes Verhalten und versuchen, gesundheitsschädigendes Verhalten zu reduzieren (Steptoe, Wardle, Vinck, Tuomisto, Holte & Wichstrøm, 1994). Schütz, Hertel und Heindl (2004, S. 25) geben allerdings zu bedenken, dass viele Studien auch auf die negativen Seiten positiven Denkens hinwiesen. So deute die Untersuchung von Desharnais, Godin, Jobin, Valois & Ross (1990) darauf hin, dass Optimismus zu Passivität verleite. Risiken könnten unterschätzt und präventive Maßnahmen unterlassen werden. Bei Patienten, die nach einem Herzinfarkt befragt wurden, hielten Optimisten das Risiko eines erneuten Infarkts für geringer als Pessimisten. Schwarzer (1993) fordert deswegen, dass zwischen funktionalem und dysfunktionalem Optimismus unterschieden werden sollte. Mit den vorgestellten Modellen lässt sich die Frage »Was kann an Sinnstiftung gesundheitsfördernd sein?« theoretisch ausdifferenziert beant-
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worten. Denn man kann hiermit den Begriff der Sinnstiftung inhaltlich füllen (mit Kohärenzgefühl, Selbstwirksamkeit, Hoffnung oder Optimismus), was für die empirische Analyse sehr wertvoll ist. Insofern werde ich mich im empirischen Teil insbesondere auf Antonovskys Konzept des Kohärenzgefühls beziehen, um meine Daten analytisch aufzubrechen. Allerdings werden in allen Modellen persönliche Dispositionen als grundlegend für den Stressbewältigungsprozess gesehen, mehr oder weniger situationsabhängige subjektive Bewertungen stehen hier im Mittelpunkt, mögliche spezifische Zusammenhänge mit lokalen Besonderheiten werden noch nicht ausreichend berücksichtigt. Mit Hobfolls (2001) Theorie der Ressourcenerhaltung rückt hingegen der Zugang zu Ressourcen in spezifischen Kontexten in den Vordergrund. Der zentrale Aspekt des Stressprozesses ist der Verlust von Ressourcen, so dass im Bewältigungsprozess wiederum Ressourcen dazu benutzt werden, dem Ressourcenverlust zu begegnen. Zu Ressourcen zählt Hobfoll persönliche Charakteristika, Objekte, soziale Bedingungen und Energien wie Geld, Zeit und Wissen, die einen geschätzten Wert an sich darstellen bzw. geschätzt werden, weil sie den Erhalt oder Erwerb anderer Ressourcen begünstigen. Dabei werden einzelne Ressourcen kulturspezifisch nach der einfachen Dichotomie individualistisch und kollektivistisch unterschieden. Es wurde entsprechend ein multiaxiales Coping-Modell entwickelt, das auf der ersten Achse zwischen aktiven und passiven, auf der zweiten Achse zwischen prosozialen und antisozialen sowie auf der dritten Achse zwischen direkten und indirekten Coping-Strategien differenziert (Schwarzer, Starke & Buchwald, 2004). Schwarzer (2004) betont, dass sich das komplexe Phänomen der Krankheitsbewältigung nur durch das gleichzeitige Einbeziehen von sozialen und personalen Ressourcen und Ressourcendefiziten adäquat analysieren lasse. In der Entwicklung personaler und sozialer Ressourcen gebe es Interdependenzen, die in der Forschung zu beachten seien. Allerdings sei ein derartiger transaktionaler Ansatz noch längst nicht umgesetzt. Alle vorgestellten Konstrukte sind kognitiv konzipiert und haben den Anspruch, Verhalten über Situationen hinweg vorherzusagen. Über den Kontext wird relativ wenig ausgesagt. Im empirischen Teil werde ich die kognitive Komponente insbesondere bei dem Konstrukt des Kohärenzsinns um den mimetischen und performativen Aspekt des Körpers erweitern (vgl. Wulf, 2005) und sie an den Kontext binden (vgl. Hannover, 2000). Das Konzept des Meaning Making Settings könnte sich eignen, um soziale und personale Ressourcen bzw. Ressourcendefizite miteinander zu
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verbinden. Einerseits könnten die untersuchten Settings selbst Ressourcen wie soziale Unterstützung bereitstellen, auf die die Teilnehmenden zurückgreifen können. Andererseits könnte die Teilnahme an den Settings personale Ressourcen wie Selbstwirksamkeit, Optimismus, Hoffnung und Vertrauen bei den Teilnehmenden aktivieren (vgl. Snyder & Lopez, 2005; Auhagen, 2004). In der Vorstellung der Arbeit in der Gemeindepsychiatrie werde ich auch herausarbeiten, wie durch die gemeindepsychiatrische Arbeit die Mitglieder der Mapuche-Gemeinden dabei unterstützt werden, dem in der psychotischen Krise drohenden Ressourcenverlust zu begegnen (vgl. 5.3.3).
2.5 F R AGESTELLUNG Das Meaning Making Setting stellt in Bezug auf die geteilten Bedeutungen seiner Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine besondere Geschlossenheit her. Jedes Setting ist ein Meaning Making Setting, das heißt in jedem Setting findet eine Bedeutungsgebung statt, die sich allerdings in ihrer gesundheitsförderlichen Qualität sehr unterscheiden kann. Den Rahmen bildet die These von Antonovsky (1997, 1979), dass Konsistenz und Sinnstiftung gesundheitsfördernd seien. In dieser Perspektive untersuche ich unterschiedliche Wege der Sinngebung. Dabei wird zum einen gezeigt, dass in unterschiedlichen Settings stark mit Meaning Making gearbeitet wird. Insofern lassen sich Aussagen darüber treffen, worin die Strukturierungsleistung liegt; also inwieweit angesichts des bedrohlichen Chaos, das mit Schizophrenie verbunden ist, Sinn gestiftet wird. Ich werde zeigen, wie Bedeutung in den Settings konstruiert wird und wie darauf aufbauend Therapie stattfindet. Krankheit und Gesundheit sind in diesem Verständnis soziale Prozesse. Alle Settings beanspruchen, zur Gesundheitsförderung ihrer Klientinnen und Klienten beizutragen, und das auf sehr unterschiedliche Art. Einerseits interessiert mich, ob ich was das therapeutische Anliegen angeht, Gemeinsamkeiten herausfinden kann. Andererseits möchte ich zwischen den untersuchten Modellen von Sinnstiftung Differenzierungen vornehmen. Dabei muss auch berücksichtigt werden, von welchen Faktoren es abzuhängen scheint, dass Individuen die Settings als Ressource nutzen können. Unter »gesundheitsfördernd« wird in diesem Ansatz entsprechend dem oben referierten Recovery-Konzept in erster Li-
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nie ein Zurechtkommen mit den Symptomen der Erkrankung im Alltag verstanden, allerdings unter einer interdependenten Perspektive. Meine Fragen sind: • • • • • •
Was wird in den Settings in Bezug auf Schizophrenie bzw. auf chronische psychische Krankheit an Bedeutungen vermittelt? Wie verhält sich diese vermittelte Bedeutungswelt gegenüber anderen Bedeutungen in der Alltagswelt der Teilnehmenden? Welche settingspezifische Form der Sinnstiftung kann bei Schizophrenie bzw. chronischer psychischer Krankheit gesundheitsfördernd sein? Wie hängt die Sinnstiftung mit den in den Settings vermittelten Bedeutungen zusammen? Welche Gemeinsamkeiten kann ich hinsichtlich des therapeutischen Anliegens herausfinden? Welche Differenzierungen kann ich zwischen den unterschiedlichen Modellen von Sinnstiftung vornehmen?
3 Methoden und Durchführung
In diesem Kapitel werde ich begründen, warum ich ein qualitatives Forschungsdesign gewählt habe. Ich werde meine spezifische Anwendung der verwandten Methoden und die Besonderheiten und Schwierigkeiten, die ein qualitativer Zugang mit sich bringt, diskutieren. In diesem Zusammenhang werde ich in Verbindung mit einer Diskussion der verwandten Samplings-Strategien meine Position als Forscher in den drei Untersuchungsfeldern reflektieren. Anschließend werde ich den Prozess erläutern, in dessen Rahmen ich meine Thesen entwickelt habe, und sie mit den Gütekriterien qualitativer Forschung in Bezug setzen.
3.1 B EGRÜNDUNG DES QUALITATIVEN Z UGANGS Ich brauchte einen methodischen Zugang, mit dem sich einerseits die Settings erforschen ließen – schließlich wollte ich ein Tableau mit den Eigenschaften von Settings entwickeln – und zum anderen das Involviertsein der Teilnehmenden in die Aktivitäten der Settings (vgl. Hermann, 2005). Es gibt bisher kaum Arbeiten, die settingbezogene Sinngebungsprozesse in ihrer Bedeutung für die Bewältigung chronischer psychischer Krankheit in größerer Breite untersuchen (vgl. Kloos, 2004). Entsprechend meinem Vorverständnis unterstellte ich große Kontextabhängigkeit im Umgang mit den Phänomenen, die in der ICD zum Konstrukt der Schizophrenie zusammengefasst sind. Nun ist die Wissenschaft, die sich in besonderem Ausmaß mit kontextspezifischem Wissen und Handeln beschäftigt, die Ethnologie mit ihrem methodischen Zugang der teilnehmenden Beobachtung. Ich hatte in den besagten Forschungen in den brasilianischen Tempeln und mit Straßenkindern in Tansania die Möglichkeiten eines interdisziplinären Ansatzes aus Psychologie und Ethnologie, der die üblichen
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Grenzen der beiden Disziplinen transzendiert, bereits schätzen gelernt (vgl. Giri, 1998; Devereux, 1984; Sinha, 1984). Insofern entschied ich mich auch hier für den Zugang der teilnehmenden Beobachtung, um die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten in den spezifischen Kontexten zu untersuchen (vgl. Geertz, 1999; Smith, 1999). Da ich nicht ausreichend auf gesichertes theoretisches Wissen zurückgreifen konnte, bot sich ein qualitativer Forschungsansatz an, mit dem ich die Untersuchungsfelder umfassend explorieren konnte (vgl. Bergold, 2000). Ein quantitatives Forschungsdesign mit deduktiven Methoden eignet sich nicht zur Erforschung besonders unbekannter und neuer Forschungsfelder. Mit einem quantitativen Forschungsdesign müsste ich meinen Untersuchungsgegenstand vorab in einzelne Variablen zerlegen, mit dem qualitativen Zugang hingegen kann ich seine Komplexität und Ganzheit im Kontext der Settings zunächst bestehen lassen (Flick, 2002a, S. 16-20). Ich wollte mich den emischen Perspektiven der Teilnehmenden im Forschungsfeld möglichst offen nähern und die sozialen Prozesse und Zusammenhänge verstehen. Das Forschungsdesign sollte keine zuvor entwickelten Hypothesen testen, sondern neue Hypothesen aus dem Forschungsfeld heraus entwickeln. Dafür benötigte ich eine interpretative Methode (vgl. Geertz, 1999). Ich wollte die Settings nicht nur beschreiben, sondern über das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden auch Ansatzpunkte für Verallgemeinerungen finden. Dazu bot sich vor allem der theoriebildende Ansatz der Grounded Theory an. Glaser und Strauss (1998) haben diese Forschungsstrategie ursprünglich auch im Rahmen teilnehmender Beobachtung entwickelt. Strübing (2004, S. 38-40) führt den Wirklichkeitsbegriff der Grounded Theory in Strauss’ Variante auf den Pragmatismus zurück: Hiernach zeigt sich soziale Wirklichkeit, prozesshaft und multiperspektivisch strukturiert, im Handeln der Akteure. Das bedeutet für meinen Forschungsansatz, die Untersuchungsteilnehmenden als Akteure ihrer eigenen Wirklichkeitsdeutung zu begreifen und mich selbst als Forscher in die »Konstitution des Feldes als Wissensobjekt« (Strübing, 2004, S. 43) aktiv mit einzubeziehen. Unter Grounded Theory versteht man »jedoch eine Reihe unterschiedlicher Verfahren und Strategien, die zudem […] eine ganze Reihe von Modifikationen und Erweiterungen erfahren haben« (Kelle, 1997, S. 284; zitiert nach Hermann, 2005, S. 21). Ich werde im Folgenden erläutern, für welche Konzepte aus dem Spektrum der Grounded Theory ich mich entschieden habe.
3 M ETHODEN UND D URCHFÜHRUNG
3.2 S PE ZIFISCHE A NWENDUNG DER M E THODEN IN DEN S E T TINGS In der Forschung habe ich unterschiedliche qualitative Methoden miteinander verbunden und so unterschiedliche Perspektiven auf die Untersuchungsfelder gewonnen. Allgemein habe ich zwei Arten von empirischen Daten gewonnen, die unterschiedlichen Ebenen angehören. Das wesentliche Charakteristikum der teilnehmenden Beobachtung ist der Versuch, das Untersuchungsfeld aus der Perspektive des Teilnehmenden wahrzunehmen (vgl. Flick, 2002a, S. 206). Über die teilnehmende Beobachtung habe ich direkt Zugriff auf die Interaktionen der Teilnehmenden im Feld gehabt. Ich konnte so einen besonderen Zugang zu einer Ebene erreichen, die den Handelnden oft selbstverständlich erscheint. Dazu gehören die sozialen Interaktionen und impliziten Regeln, die informellen und versteckten Seiten, die z.B. in Ritualen besonders evident werden. Anders als im reflexiven Zugang der Interviews war ich hier selbst mit meinen Sinnen körperlich beteiligt, was ich in der Reflexion zu Nähe und Distanz näher erläutern werde. Über qualitative Interviews habe ich indirekt über die Repräsentationsebene der Interviewteilnehmenden Material über die in den Settings vermittelten Bedeutungswelten und ihr Verhältnis zur Außenwelt gewonnen. Ich wusste zu Beginn meiner Forschung relativ wenig über die Bedeutungswelten der Settings, und es war ja auch gerade meine Absicht, Neues zu entdecken und offen für Überraschungen zu sein. Dabei erwiesen sich die beiden relativ unstrukturierten Methoden als nützlich. Dadurch, dass meine Forschungen nur auf die Settings beschränkt waren, war der Kontext relativ abgegrenzt und überschaubar. Allerdings war es wichtig, permanent mein eigenes Involviertsein mit der Nähe-Distanz-Problematik zu reflektieren (siehe unten). Um meine Informanten verstehen zu können, musste ich meine Nähe kontrollieren und mich wieder distanzieren können (vgl. Fainzang, 2007). Mit dem Begriff des going native wird der Prozess bezeichnet, in dessen Verlauf die Außenperspektive sich auflöst zugunsten der Innenperspektive des Untersuchungsfeldes. In seiner negativen Ausprägung bedeutet going native den Verlust der kritischen Außenperspektive und die unreflektierte Übernahme der Sichtweisen im Feld. Positiv verstanden ermöglicht dieser Prozess ein zunehmendes Vertrautwerden und somit Einblicke, die nur durch Nähe möglich sind. Wichtig ist jedoch, dass hiermit ein umfassender Reflexionsprozess einhergeht, mit dem wieder Distanz gewonnen werden kann (Flick, 2002a, S. 210-212).
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Ich verstehe beide Methoden, die teilnehmende Beobachtung und die Interviews, als symbolische Interaktion, in der mir – wie auch den Beobachteten – Rollen zugeschrieben worden sind, die ich unten umfassend reflektieren werde (vgl. Hermanns, 2003; Potter & Wetherell, 1995; Blumer, 1973). Während ich im Kommunikationsprozess mit den Beobachteten einen Zugang zum Untersuchungsfeld gewann, wurde ich selbst immer mehr zum Teilnehmer (vgl. Flick, 2002a, S. 207). Im Laufe meiner Beobachtungen und Interviews wurde ich sensibler im Hinblick auf die Fragestellung. Ich musste meine subjektiven Vorstellungen und Annahmen immer wieder revidieren und die Untersuchungsinstrumente entsprechend modifizieren. Ich konnte so zunehmend gezielter beobachten und gezieltere Fragen stellen.
3.2.1 Teilnehmende Beobachtung Möglichst zeitnah im Anschluss an die Beobachtungen verfasste ich detaillierte Protokolle von den beobachteten Situationen, um »dichte Beschreibungen« (Geertz, 1999, S. 24) zu erhalten. Dabei habe ich mein eigenes emotionales Involviertsein sowie meine Beziehungskonstellationen zu den Personen im Feld mit protokolliert. Mit vorstrukturierten Beobachtungsbögen konnte ich in der zunehmenden Fokussierung der Beobachtung die Aspekte, die ich in der ersten Phase als relevant erkannt hatte, noch klarer erfassen (Flick, 2002a, S. 208). Ich habe offen beobachtet und mich auf die im fünften Kapitel beschriebenen therapeutischen Veranstaltungen konzentriert. Daneben habe ich jedoch in begrenztem Maße mit einigen Interviewpartnerinnen und -partnern auch außerhalb der Settings Zeit verbracht. Ein unentbehrlicher Begleiter während meines gesamten Forschungsprozesses, auch nach den Aufenthalten in den Settings, war mein Feldtagebuch: Meine Gefühle, Ängste und Schwierigkeiten im Feld, die Beziehungen zu Informanten, Verwirrungen und Ideen sind hier notiert (vgl. Flick, 2002a, S. 249f.; Spradley, 1979, S. 77).
3.2.2 Ethnographische Inter views Im Rahmen meiner teilnehmenden Beobachtung ergaben sich spontan erste Gespräche mit den Teilnehmenden in den Settings zu den dort vermittelten Bedeutungen und dem subjektiven Umgang damit. Diese Unterhaltungen lassen sich als ethnographische Interviews bezeichnen,
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in denen ich mein Forschungsvorhaben erläutere und erste Fragen zur Exploration meines Forschungsfeldes formuliere (Spradley, 1979, S. 58-60). Die ethnographischen Interviews schufen die Voraussetzungen für umfassendere Interviews.
3.2.3 Problemzentrierte Inter views Das ›problemzentrierte Interview‹ nach Witzel (1989, 1982) diente mir bei den ausführlichen Interviews zur Orientierung. Für Witzel ordnet sich seine Methode mit den drei zentralen Aspekten ›Problemzentrierung‹, ›Gegenstandsorientierung‹ und ›Prozessorientierung‹ in den Prozess der Theoriebildung der Grounded Theory ein (vgl. Flick, 2002a). Mit dem Aspekt der ›Problemzentrierung‹ wird zum einen die relevante Problemstellung der in den Settings vermittelten Bedeutungswelten erfasst. Dazu zählt auch mein theoretisches Vorwissen, mit dem ich ins Untersuchungsfeld gekommen bin. Zum anderen sind in dem Aspekt der ›Problemzentrierung‹ Strategien enthalten, die mich dabei unterstützten, trotz meiner Interpretation und der in den Fragen implizit enthaltenen Vorannahmen einen Zugang zur Problemsicht der Befragten zu erhalten. Analog zu Glasers und Strauss’ (1998) Konzept des theoretischen Sampling bedeuten die beiden anderen Aspekte ›Gegenstandsorientierung‹ und ›Prozessorientierung‹, dass die Teilelemente der Methode dem Untersuchungsgegenstand permanent angepasst werden müssen. Im konkreten Interviewverlauf gehört zur ›Prozessorientierung‹ der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses; basierend darauf werden Verstehens- und Interpretationsprozesse erst möglich.
3.2.4 Datenmaterial Das gewonnene empirische Datenmaterial (etwa 1200 Din-A4-Seiten) umfasst neben den Beobachtungsprotokollen, den Gedächtnisprotokollen der ethnographischen Interviews, dem Forschungstagebuch und den Postskripta zur Interviewsituation insbesondere die Transkriptionen von 72 problemzentrierten Interviews, die im übernächsten Kapitel näher charakterisiert werden.
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3.2.5 Reflexion der eingenommenen und zugeschriebenen Rollen Für Wolff (2003) ist Forschung eine Intervention in ein soziales System. Über die Beziehung zum und die Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand kommt man auch zu Aussagen über ihn (vgl. Nadig, 1997). Der interaktive Untersuchungskontext ist durch meine persönlichen Verhaltensweisen, die Verhaltensweisen der beobachteten und interviewten Personen, die spezifischen Situationen und Zeiten und durch meine Untersuchungsmethoden geprägt (Denzin, 1989, S. 22-24, 157f.). In meinen Untersuchungsfeldern habe ich bestimmte Rollen eingenommen bzw. von den Personen im Feld zugeschrieben bekommen. Es ist wichtig, sich die Rollen bewusst zu machen, da sie den Forschungsprozess auf eine jeweils bestimmte Art begrenzen, wie Flick (2002a) betont: »Von der Art dieser Rolle und Position hängt wesentlich ab, zu welchen Informationen der Forscher Zugang findet und zu welchen er ihm verwehrt wird« (S. 87). Die grundlegende Rollenzuweisung war in allen drei Untersuchungsorten im Wesentlichen gleich, die formelle Rolle des wissenschaftlichen Forschers. Daneben bekam ich informelle Rollen zugewiesen, die sich in den drei Settings unterschieden (vgl. Hahn, 2008). In den beiden Candomblé-Tempeln kam zu meiner Rolle des Forschers auch mein Status als Deutscher hinzu. Denn ich konnte – z.B. an den Reaktionen in meinem Hotel – selbst erleben, dass Candomblé in der weißen Bevölkerung oft als minderwertig und als Scharlatanerie gilt. Als Deutscher erschien ich vielen Tempelangehörigen wohl als weniger vorurteilsbeladen. Ein Medium aus dem Tempel des pai-de-santo beschreibt den Diskurs der Stereotypisierung: This is our main problem because it creates a kind of prejudices. That’s disturbing for us because you can go outside and ask a person, any person, and they, some will say that people here are crazy. They say clearly that we are crazy. But they do not have, they all do not have the knowledge about what really happens here. And what a kind of things we are doing here. (15. Interview)
Insofern könnte ich die Rolle des Vermittlers zugeschrieben bekommen haben, der – anders als viele Brasilianer – Einblicke in die Tempelaktivitäten bekommt und davon dann in Deutschland berichten kann. Der Zugang zum Feld fand in der psychosomatischen Klinik über die Rolle des »Forschungs-Praktikanten« statt. Meine institutionelle Rolle war
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hier insofern nicht klar definiert, und das bringt methodische Probleme mit sich. Denn ich war Praktikant und gleichzeitig Forscher. Ich habe mich in den Veranstaltungen den Patientinnen und Patienten als Praktikant (und Forscher) vorgestellt. Insofern war ich schon in dieser Funktion als teilnehmender Beobachter involviert und nicht nur als Forscher. Als Praktikant war ich Teil des Teams (wenn auch weniger als die anderen »normalen« Praktikanten), als Forscher hätte ich Distanz zum Team haben müssen, die so jedoch fehlte. Ich wurde von dem Klinik-Team sowohl als Praktikant wie auch als Forscher behandelt. In der Gemeindepsychiatrie wurden in informellen Gesprächen oft die Probleme thematisiert, die die Mapuche als indigene Minderheit haben, wie den Kampf um ihre Landrechte, die schwierige ökonomische Situation oder das Aussterben ihrer Sprache, Mapudungun. Mir wurde auch die Rolle des Sprachrohrs zugeschrieben; ich sollte mich aktiv für die Rechte der Mapuche einsetzen.
3.2.6 Reflexion von Nähe und Distanz Einerseits war ich Außenstehender, der in der Erforschung und Darstellung der Konzeption diese mit konstruiert hat. Diese Fremdheit war sehr wichtig, um Zusammenhänge zu erkennen, die bei zu großer Vertrautheit nicht gesehen werden (vgl. Hermann, 2005). Äußerlich war meine Präsenz als Forscher in den Candomblé-Tempeln und in der Gemeindepsychiatrie wegen meiner Rolle auffälliger als in der psychosomatischen Klinik. Andererseits war ich selbst Teilnehmer und als solcher habe ich aktiv an den prozesshaften Handlungs- und Interaktionssequenzen der Settings teilgenommen. Ich habe die Bedeutungen, Symbole und performativen Praktiken, welche die untersuchten Settings bestimmen, mit meinem Körper selbst erfahren. So habe ich den Sog erlebt – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung (in der Gemeindepsychiatrie am schwächsten) – die Dinge so wie im Feld zu sehen und mit zu praktizieren und bin mit dem Widerstand des Feldes konfrontiert worden, wenn ich mich dem entziehen wollte. Es war in unterschiedlichem Maße schwierig, mich von den in den Settings üblichen Bedeutungen und Praktiken wieder zu distanzieren und aufmerksam zu reflektieren. Denn die Distanzierung ging wegen meiner aktiven körperlichen Teilhabe über den rein kognitiven Akt hinaus (Zaumseil, 2007; vgl. Gronover, 2004; Laderman, 1994). Meine Angst war relevant, was mir in unterschiedlicher Qualität bewusst wurde (vgl. Devereux, 1984). Zwei Ängste wa-
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ren bei allen drei Untersuchungen grundlegend: zum einen die Angst, den Menschen im Feld ausgeliefert, von ihnen abhängig zu sein. Denn wenn ich nicht gut mit ihnen auskam, erhielt ich die nötigen Daten nicht. Und zum anderen die Angst, die das hier Erlebte in mir auslöste. Die Methode, die Devereux (1984) vorschlägt, um mit der Angst bei der Untersuchung umzugehen, ist, diese nicht zu verleugnen und damit unzugänglich zu machen (vgl. Malinowski, 2003), sondern sie als entscheidendes Datum zu verstehen. In den Candomblé- und Umbanda-Tempeln machen es die performativen Praktiken schwierig, das Erlebte distanziert zu betrachten. Das habe ich selbst erfahren, als mit mir das desobsessão-Ritual durchgeführt wurde. In diesem Augenblick habe ich »Angst vor dem Fremden« erlebt. Der Heilungserfolg steht hier mit dem eigenen Glauben in Zusammenhang. Der Erfolg der Untersuchung hing mit meinem »Mich-Einlassen« auf das Untersuchungsfeld zusammen. Als ich mich darauf »eingelassen« habe, musste ich mich auch in »meine Besessenheit« hineindenken. Das bedeutete, dass ich den Medien als Experten bzw. der Besessenheits-Konzeption eine gewisse Autorität mir gegenüber zugestehen musste. Das hat es andersherum schwieriger gemacht, ebendiese Autorität in den Interviews kritisch zu hinterfragen.1 Aufgrund meiner Teilnahme an den Veranstaltungen habe ich in der psychosomatischen Klinik einen emotionalen Zugang zu den Teilnehmenden erlangt. Viele Interviewpartnerinnen und -partner haben gesagt, dass sie vor allem aufgrund meiner aktiven Teilnahme zu einem Interview bereit gewesen seien. Nach einem gemeinsamen Singen kam z.B. eine Frau aus einer anderen therapeutischen Gruppe auf mich zu, in der ich am Vortag mein Forschungsvorhaben vorgestellt und von meiner Suche nach Interviewpartnern erzählt hatte. Sie fragte mich, ob ich immer noch Personen suche. Sie habe keine Lust mehr auf technische Interviews und Befragungen, aber sie habe bemerkt, wie »berührt« ich gewesen sei. Deswegen sei sie auch zu einem Interview mit mir bereit. Dass ich durch meine Teilnahme an den therapeutischen Veranstaltungen selbst »berührt« wurde, machte die Abgrenzung teilweise schwierig. Es gab Zeiten, in denen mein Innenleben stark um die Klinik kreiste. Insofern fiel es mir manchmal schwer, Distanz zum Untersuchungsgegenstand zu wahren. Die anfängliche Skepsis wich einem Gefühl der Verbundenheit mit der Gemeinschaft. Und meine Teilnahme spiegelte sich in den Reaktionen der 1 | Für eine ausführliche Reflexion, Wiencke, 2009b.
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Patienten wider. Als ich nach einer Sitzung mit holotropem Atmen2 mein Forschungsvorhaben vorstellte und sagte, dass ich Interviewpartner suche, kam neben drei weiteren Personen eine Frau auf mich zu, deren Kopf ich während der Atemgruppe für einige Minuten gehalten hatte, während eine andere Person ihre Hand gefasst hatte. Wenn ich erst nach dem einleitenden »Resonanzkreis«, bei dem sich alle Teilnehmenden in einem Kreis an den Händen halten, in Veranstaltungen kommen konnte – weil ich vor der Tür auf zu spät kommende Patienten wartete, die den »Resonanzkreis« nicht stören sollten –, hat es etwas Zeit gedauert, bis ich mich als Teil der Gemeinschaft gefühlt habe. Insofern habe ich selbst erfahren, wie umfassend der therapeutische Prozess hier auf alle Sinne wirkt. Mein täglicher Umgang mit der Mapuche-Familie, in deren Stadthaus ich gewohnt habe, und die regelmäßigen Besuche in ihrer Gemeinde auf dem Land waren wichtig, um eine Brücke zwischen der westlichen Psychiatrie mit ihren spezifischen Konzeptionen und Umgangsweisen mit psychischer Krankheit zu schlagen und der religiösen und alltäglichen Vorstellungswelt, aus der die Psychiatriepatienten kommen und in der sie leben. Als ich bei der Weizenernte mitgeholfen habe, verbesserte sich mein Zugang zum Feld, und ich bekam viel Unterstützung in meiner Forschung. Noch Wochen später wurde über meinen Ernteeinsatz gesprochen. Reziproke Unterstützung wie bei der Ernte hat eine große Wichtigkeit in den Gemeinden und festigt die Gemeinschaft, wie ein Interviewpartner erläutert3: Yes, it has a meaning of community, a meaning of belonging to the earth and making helpful bonds among the members of the community. The word is minga or mingakú, in which I help you and then you help me. As I was telling you before, there isn’t a material contact, as it would be a monetary remuneration. That doesn’t happen in the harvest, in the communities. This is a tie of mutual help and it has nothing to do with what is monetary or material. That’s what happens in the communities, there are ties of friendship and cooperation among the members of the communities. 2 | Die Atemgruppe orientiert sich am ›holotropen Atmen‹ von Stanislav Grof (1987), ist jedoch für die Patientinnen und Patienten dieser Klinik angepasst; z.B. ist der Atemprozess kürzer als in der Literatur beschrieben. 3 | Das Interview wurde auf Spanisch geführt und nachträglich von einer chilenischen Muttersprachlerin ins Englische übersetzt. Vgl. zu der Interviewführung Kapitel 3.4.
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Wenn mir Leute erzählt haben, dass sie krank seien, weil jemand anderes brujeria (Hexerei) gegen sie verübt habe, wurde für mich direkt deutlich, dass die Mapuche die Wirklichkeit anders wahrnehmen. Mir selbst erschienen die Erzählungen über Hexerei immer etwas unwirklich. Die Religion ist hier ein Teil der Alltagswelt. Damit hängen übernatürliche Erklärungen für Krankheitsphänomene zusammen. Und dazu gehört die Behandlung durch eine bzw. einen machi. Eine oder ein machi behandelt Krankheit mit Kräutern und spirituell (mit Beten und Zeremonien). Zum Heilungserfolg trägt sicherlich der große Respekt bei, den die machis in den Gemeinden genießen. Als ich zusammen mit zwei Männern einen machi in der Nachbargemeinde besuchte, wurde deutlich, wie viel Respekt die Mapuche vor den machis haben. Die beiden hatten sich formellere Kleidung angezogen und wirkten zurückhaltender. Ich wartete zunächst im Auto, bis ich einige Minuten später auch ins Haus geholt wurde. Der machi begrüßte mich freundlich, in den nächsten drei Stunden war es eine entspannte Atmosphäre. Er zeigte uns Bilder von einer nguillatunZeremonie4 und erzählte, dass er schon als Kind machi geworden sei. Er habe zur Initiation viel leiden müssen u.a. aufgrund von langen Fastenzeiten (auch ohne Wasser). Seine Mutter und Großmutter seien auch schon machis gewesen. Wir tranken Wein während des Gesprächs. Bevor wir den ersten Schluck nahmen, betete der machi für uns. Dabei tippte er die Finger einer Hand in das Weinglas und bat den Mapuche-Gott Nguenechén um einen guten Aufenthalt für mich in Chile und dankte für unseren Besuch. Ein Interviewpartner erläuterte die Bedeutung dieses Rituals. We do it in order to thank an entity or essence, which is nature, we give thanks to the mapuche God Nguenechén, and this entity can be said that is personified in earth and in the environment. Once it is personified a tie is created with the earth, a personal tie between the earth and the Mapuche, and this tight tie is what we give thanks for by means of an act of sharing with this deity or essence in the same way we share with any people from this side of existence or level of reality we live in this world, so we do the meaningful act of pouring wine to the ground. It is in that moment when with the first glass of wine that we drink we
4 | Das nguillatun ist die wichtigste religiöse Zeremonie der Mapuche, die während der Erntezeit stattfindet und in der für die Ernte gedankt wird (vgl. Pereda & Perrotta, 1994; Barreto, 1992).
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respectfully thank what the earth gives us and we ask for prosperity, that’s the meaning of this symbolic ritual.
Dann sang der machi ein religiöses Lied für uns auf Mapudungun. Später auf dem Rückweg betonten meine Begleiter, dass es gewöhnlich sehr schwierig sei, sich mit einem machi zu unterhalten. Wir hätten großes Glück gehabt, dass der machi so freundlich gewesen sei. Die machis seien abergläubisch und achteten auf die Zeichen in ihren Träumen, deshalb sei es schwer, mit ihnen ein Gespräch zu führen. Nach diesem Besuch öffneten sich für mich weitere Türen zur Lebenswelt der Mapuche: Ich konnte eine weitere machi und einen Kräuterheilkundigen interviewen und die Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinde, die ich regelmäßig besuchte, sprachen offener mit mir über ihre Vorstellungen von Wahnsinn und über ihre Erfahrungen mit Hexerei. Die Untersuchungsteilnehmenden und ich selbst wurden während des Forschungsprozesses durch den Kontext des Alltags beeinflusst. Das zeigte sich z.B. in den Mapuche-Gemeinden, wenn potentielle Interviewteilnehmende wegen der Ernte keine Zeit hatten oder Sorgen wegen der Wasserknappheit äußerten. Als ich nach meiner Rückkehr die Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial zunächst ruhen ließ und für eine Unternehmensberatung arbeitete, entstand neben der räumlichen eine weitere wichtige Distanz zum Untersuchungsgegenstand. Und überraschenderweise fand ich in der so ganz unterschiedlichen Welt des Managements Parallelen im performativen Vermittlungsprozess von Bedeutungen, die mich Strukturen im Datenmaterial klarer erkennen ließen.
3.3 S AMPLING -S TR ATEGIEN IM F ELD Ich habe mich am theoretischen Sampling orientiert. Aufgrund der Zirkularität von Datensammlung, Analyse und Theoriebildung muss man sein gesamtes Forschungsvorgehen und dessen einzelne Schritte permanent in Beziehung zueinander reflektieren (Flick, 2002a, S. 72). Ich werde in dem Kapitel zur Theorieentwicklung darauf zurückkommen, inwieweit ich die Zirkularität von Datenerhebung und Datenauswertung praktisch umgesetzt habe. An dieser Stelle möchte ich meine Sampling-Strategien zur Datenerhebung in den Settings reflektieren. Während der Forschung war ich immer wieder zu Flexibilität und Improvisation gezwungen. Strauss
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und Corbin (1996, S. 155f.) empfehlen eine Kombination aus gezieltem, systematischem5 und zufälligem Vorgehen beim Sampling. Inwieweit bin ich dieser Kombination gefolgt? Die Auswahl meiner Untersuchungsorte folgte einer gezielten Strategie. In Brasilien habe ich bewusst neben meinem Hauptuntersuchungsort einen weiteren Candomblé-Tempel, ein kardezistisches Zentrum und ein parapsychologisches Forschungsinstitut aufgesucht, um die entwickelten Kategorien weiter zu kontrastieren. Nach der Forschung in Brasilien habe ich gezielt nach weiteren Settings gesucht, mit denen sich ein heuristisches Modell zum Konzept des Meaning Making Settings entwickeln lässt. Um den Verallgemeinerungsgrad zu erhöhen, habe ich Personen aus soziokulturell stark voneinander abweichenden Settings sowie »verschiedene[r] Typen von Gruppen« – wie Patienten und Therapeuten – (Glaser & Strauss, 1998 [1967], S. 60) innerhalb der Settings teilnehmend beobachtet und interviewt.
3.3.1 Der Candomblé- und Umbanda-Tempel In dem Candomblé- und Umbanda-Tempel habe ich während der regelmäßig stattfindenden – unten beschriebenen – Veranstaltungen, die ich gezielt aufgesucht habe, systematisch gesampelt. Ich habe Behandler6 und Klienten angesprochen, und sie – wenn sie einverstanden waren –, zur Konzeption von und zum Umgang mit psychischer Krankheit interviewt. Ich interessierte mich für die soziale Repräsentation von psychischer Krankheit in diesem Setting; das systematische Sampling erschien mir in diesem Zusammenhang – auch gerade wegen meines geringen Vorwissens und meiner offenen Fragestellung – am vielversprechendsten. Ergänzt habe ich es dann später durch ein gezieltes Sampling mit erfahrenen Angehö5 | Beim gezielten Vorgehen wählt man bewusst die Orte, Personen oder andere Datenquellen aus. Man sucht gezielt nach vergleichenden Daten für bestimmte Kategorien und ihre Eigenschaften und Dimensionen. Beim systematischen Sampling hingegen sucht man nach Ereignissen, die auf beliebige Kategorien hindeuten und Vergleiche zwischen den Kategorien ermöglichen, um feinere Unterschiede zu erkennen. Bei den zufällig auftretenden Daten ist es wichtig, sie ihrer analytischen Relevanz entsprechend einzuordnen (Strauss & Corbin, 1996, S. 155f.). 6 | Die behandelnden Personen verstehen sich als Medien, in denen sich Geister inkorporieren. Im fünften Kapitel werden Beispiele für die Inkorporationen präsentiert.
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rigen des Tempels sowie eines weiteren Candomblé-Tempels, eines kardezistischen Zentrums und eines parapsychologischen Forschungsinstituts. Zufällig ergaben sich eher außerhalb der Settings ethnographische Interviews, die für mich vor allem das Spannungsverhältnis des Tempels zur Außenwelt erhellten. So wurde ich z.B. in meinem Hotel vor Candomblé gewarnt, da in dieser Religion auch »schwarze Magie« praktiziert werde.
3.3.2 Die psychosomatische Klinik mit ihrem Diskurs über Spiritualität In der psychosomatischen Klinik galten viele Personen mit der Diagnose Schizophrenie aus der Therapeuten-Perspektive – wegen ihres Eintauchens in den therapeutischen Prozess – nicht als interviewfähig und durften deshalb nicht befragt werden. Insofern war ich gezwungen, meinen ursprünglichen Plan zu ändern, nur Patienten und Patientinnen mit dieser Diagnose ins Sample zu nehmen. Nur zwei Interviewpartnerinnen mit der Diagnose Schizophrenie konnte ich hier gezielt sampeln. Ansonsten habe ich mich systematisch an den therapeutischen Veranstaltungen orientiert, an denen Personen mit der Diagnose Schizophrenie prinzipiell teilnehmen können. Um die Wechselwirkungen dieser Veranstaltungen mit den Teilnehmenden zu erschließen, erschienen mir neben meiner eigenen teilnehmenden Beobachtung generell Interviews mit teilnehmenden Patienten, auch mit anderen Diagnosen als Schizophrenie, nützlich. Der Kontakt mit meinen Interviewpartnern wurde dabei über die Therapeuten hergestellt. Entweder habe ich sie gefragt, ob ich bestimmte Patienten interviewen dürfe oder ich habe sie gefragt, ob sie potentielle Interviewpartnerinnen oder -partner vorschlagen könnten. Aufgrund meiner Doppelrolle als Praktikant und als Forscher war mein Status diffus. Denn ich war als Praktikant in den allgemeinen Praktikantenzyklus eingebunden, so dass ich mich mit den anderen Praktikantinnen und Praktikanten und den entsprechenden Therapeutinnen und Therapeuten hinsichtlich meiner Teilnahme an den Veranstaltungen absprechen musste. Aufgrund dieses Eingebundenseins in die formalen Klinikprozesse war mir z.B. keine Teilnahme an der täglichen Gruppentherapie mit Patientinnen und Patienten mit der Diagnose Schizophrenie möglich. Denn während meines Aufenthalts waren die entsprechenden Gruppen schon mit jeweils einem Praktikanten besetzt. Deswegen habe ich auf die Beobachtungen anderer Praktikantinnen und Praktikanten in den Therapiestunden zurückgegriffen. Gleichzeitig hatte ich
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den zwar auch offiziellen Status des Forschers, der sich jedoch mit der Rolle des Praktikanten vermischte. Aus meiner Sicht war das für die Forschung von Vorteil, da ich so zum einen sofort einen Zugang zum untersuchten Feld hatte und zum anderen durch das Erfüllen der üblichen PraktikantenAufgaben eine offizielle Rollenzuweisung bekam, auf deren Basis ich die Forschung aufbauen konnte. Die Klinikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter habe ich systematisch für die Interviews gesampelt. Wenn ich an therapeutischen Veranstaltungen teilgenommen habe, habe ich anschließend Interviews mit den entsprechenden Therapeutinnen und Therapeuten geführt. In der psychosomatischen Klinik konnte ich mich relativ frei bewegen und war für die Untersuchungsteilnehmenden täglich präsent. Das führte dazu, dass das Sampling manchmal auch zufällig war. Patienten und Therapeuten sprachen mich von sich aus an, dass sie sich gern von mir interviewen lassen würden, oder es ergaben sich spontan ethnographische Interviews.
3.3.3 Die Gemeindepsychiatrie In Chile gestaltete sich die Situation aufgrund der ambulanten Struktur des Settings anders. In dem Krankenhaus gab es im Vergleich zu den beiden anderen Settings kaum Interessantes zu entdecken: nur einige Büros, ein Wartezimmer und Besprechungsräume. Einige Patientinnen und Patienten aus der Stadt hielten sich hier täglich auf, andere Patienten kamen zur Medikamentenvergabe, zu ärztlichen Untersuchungen oder zur Psychoedukation. Allerdings sind die regelmäßigen Besuche aufgrund der strukturellen Situation – die Patienten vom Land hatten oft kaum Geld für die Busfahrkarte, um in die Klinik zu kommen – nur begrenzt möglich, wie ein Mitarbeiter der Psychiatrie erläutert: Because since they are living on the countryside they have problems moving here, for example it’s not uncommon that the patient doesn’t come because of the lack of money. They cannot pay for the bus, even though the bus is really cheap, but they are very poor people. That’s why they miss some of the dates.7
Psychotherapie wird nur sehr begrenzt angeboten. Für eine Therapeutin dient sie neben der emotionalen Unterstützung im Wesentlichen der Förderung der medizinischen Behandlung: 7 | Das Interview wurde auf Englisch geführt.
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Technically, she [die Therapeutin] does Gestalt’s therapy, but in reality she has limited to show the patients a before and after process so she can convince them to keep on taking the medicine. 8
Insofern war ich enttäuscht, als ich die Psychiatrie kennenlernte. Das Gefühl der Enttäuschung wich jedoch einem Gefühl steigenden Interesses, als ich das erste Mal mit zu den Patientinnen und Patienten in die Gemeinden gefahren bin. Denn nun wurde mir klar, dass die Psychiatrie nicht im Krankenhaus, sondern in erster Linie hier existierte. Ich hatte den Mitarbeitenden als Sampling-Profil die Diagnose ›Psychose‹ und ›Wohnen in einer Mapuche-Gemeinde‹ genannt. Diesem Profil gemäß wurden die in Frage kommenden Patientinnen und Patienten von den Mitarbeitenden ausgewählt. Ich bin dann mitgefahren, wenn diese Patienten ohnehin besucht werden sollten; manchmal habe ich sie auch in der Psychiatrie interviewt. Ich habe auch gezielt Patienten aus der Stadt interviewt, wenn sie in der Klinik vorbeischauten. Das gezielte Sampling habe ich auch auf die Klinikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter angewendet. Bei den Klinikmitarbeitenden waren die Sampling-Kriterien langjährige Erfahrungen mit dem gemeindepsychiatrischen Ansatz und kontinuierlicher Kontakt mit den Patienten. Um die spirituelle Welt der Mapuche besser zu verstehen, habe ich systematisch gesampelt: Ich habe drei erfahrene machis interviewt und Mitglieder der Gemeinde, die ich regelmäßig besucht habe. Neben den regelmäßigen Besuchen in dieser Gemeinde waren auch der Aufenthalt bei einem Kräuterheilkundigen einer anderen Gemeinde sowie meine Teilnahme an einer religiösen Feier (nguillatun) Teil der systematischen Sampling-Strategie. Zufällig ergaben sich immer wieder ethnographische Interviews und zwei problemzentrierte Interviews mit Angehörigen.
3.4 A LLGEMEINE I NFORMATIONEN ZU DEN I NTERVIE WS Vor allen Interviews waren die Interviewpartnerinnen und -partner über mein Forschungsvorhaben informiert, je nach Interviewsituation entweder zeitlich direkt davor oder schon einige Tage vorher. Sie konnten vor dem Interviewbeginn Fragen zur Forschung und zu meiner Person stellen. Ich 8 | Das Interview wurde auf Spanisch mit Übersetzer geführt. Die Übersetzung ins Englische erfolgte direkt während des Interviews. Vgl. hierzu Kapitel 3.4.
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habe ihnen die Datenschutzvereinbarung und den Ablauf des Interviews mit der Aufnahme durch ein Diktiergerät vorgestellt. Alle Interviews sind anhand eines offenen Interviewleitfadens geführt worden, der im Laufe des theoretischen Samplings verändert wurde. Insofern habe ich in den drei Settings unterschiedliche Leitfäden verwendet, die dann während des Aufenthalts im jeweiligen Setting modifiziert wurden. Am Ende des Interviews gab ich den Teilnehmenden die Möglichkeit, noch weitere, aus ihrer Sicht wichtige Aspekte zu ergänzen bzw. Anmerkungen zur Interviewsituation zu machen. Anschließend haben sie den Kurzfragebogen mit den statistischen Fragen beantwortet. Ich spreche selbst kein Portugiesisch und habe in Brasilien immer mit einem Übersetzer gearbeitet. Der brasilianische Übersetzer kannte meinen Hauptuntersuchungsort, den Candomblé- und Umbanda-Tempel, selbst seit vielen Jahren, da er bei mehreren Forschungsaufenthalten eines amerikanischen Psychologen hier übersetzt hatte. Er war katholisch und glaubte nicht an Candomblé oder Umbanda. Insofern konnte er sich weniger in die Aussagen der Interviewpartnerinnen und -partner hineindenken als ein Angehöriger dieser Religionen. In unserer Reflexion der Interviews erwies sich seine kritische Distanz allerdings auch als Vorteil. In Chile habe ich selbst einige Interviews auf Spanisch geführt, in den meisten Fällen jedoch auf einen Übersetzer zurückgegriffen. Es zeigte sich, dass meine Spanischkenntnisse insbesondere bei dem Spanisch, wie es die Mapuche auf dem Land sprechen, an ihre Grenzen stießen. Mein Übersetzer in Chile war ein Psychologie-Student, der im Rahmen seiner Abschlussarbeit ein Forschungspraktikum in der Gemeindepsychiatrie absolvierte. Er hatte selbst Interviews mit Mapuche-Patienten mit der Diagnose Schizophrenie zu ihrem Krankheitsverständnis durchgeführt. In seinem Ansatz war er stark psychoanalytisch beeinflusst. Er war selbst Chilene und in Bezug auf die Mapuche ein Außenstehender mit einem ausgesprochen großen Interesse an ihrer Lebenswelt. In den Interviews mit den Mitarbeitenden der Psychiatrie konnte er aufgrund seines mehrmonatigen Praktikums eine vertrauensvolle Basis fördern. Beide Übersetzer habe ich geschult, indem wir meine Fragestellung ausführlich diskutiert haben und vor den Interviews alle Fragen nacheinander durchgegangen sind, um ihre Bedeutungen zu klären. Die Übersetzer haben in ihrer englischen Übersetzung eine implizite Interpretation der portugiesischen bzw. spanischen Aussagen gegeben, die sie in der Situation des Interviews für angemessen hielten. Somit haben sie den Verlauf der Interviewführung beeinflusst (vgl. Kluge & Kassim, 2006). Manchmal kam es
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in den Interviews zu Missverständnissen zwischen den Übersetzern und mir, was Einfluss auf den Interviewverlauf hatte. Manchmal habe ich das Interview – u.U. suggestiv – in Richtung meiner Fragestellung gelenkt. Unsere unterschiedlichen emotionalen, körperlichen, symbolischen und kulturellen Ebenen – meine, die des Übersetzers und der Interviewpartnerinnen und -partner bzw. in der psychosomatischen Klinik nur meine und die der Interviewpartner – haben sich prozesshaft gemischt. So konnten neue Bedeutungen entstehen (vgl. Nadig, 2006, S. 72f.)9 . Hierbei spielten auch Genderaspekte und Altersunterschiede eine Rolle. Mein Übersetzer in Brasilien war als fast 60-jähriger Mann eher eine väterliche Figur. Der Übersetzer in Chile stand mit Ende 20 eher am Beginn seiner Karriere. Für die Repräsentation der Interviews standen Entscheidungen bei der Transkription an. Da ich selbst zwar spanische Sprachkenntnisse besitze, jedoch keine portugiesischen, sind die in Deutschland und Chile geführten Interviews komplett transkribiert worden, von den brasilianischen wurde nur der englische Teil verschriftlicht. Die in Brasilien und Deutschland entstandenen Interviews habe ich selbst transkribiert, die in Chile geführten Interviews eine chilenische Muttersprachlerin. Manchmal gab es leichte inhaltliche Unterschiede zwischen dem spanischen Originaltext und der englischen Übersetzung während des Interviews, die ich bei der Transkription – und der späteren Interpretation – berücksichtigt habe. Es gibt viele Möglichkeiten, ein Interview zu transkribieren, und das Transkript beeinflusst die Interpretation (vgl. Dittmar, 2004). Nach Breuer (1999) sind Transkripte »Angebote möglicher Lesarten von Interaktionsereignissen, Erlebensweisen der Situations-/Interaktionsbeteiligten wie auch der nachträglichen Rezipientinnen. Man könnte sie betrachten als Bemühung um die (Re-)Konstruktion eines ›Möglichkeitenraums‹ oder der ›latenten Sinnstrukturen‹, aus dem/denen Teilnehmerinnen und Teilnehmer/Rezipientinnen jeweils bestimmte Ausschnitte oder Versionen realisieren« (S. 246f.). Ich habe mich an Zaumseil und Leferink (1997, S. 26) orientiert und versucht, die Interviews so zu verschriftlichen, dass die Leserinnen und Leser der Texte den gleichen Eindruck bekommen wie die Hörerinnen und Hörer der Tonbandaufzeichnung. So sollte der künstliche und fremdartige Charakter vermieden werden, den exakt tran9 | Nadig (2006, S. 72f.) überträgt den psychoanalytischen Begriff des ›Übergangsraums‹, der auf Winnicott (1971) zurückgeht, auf die Begegnung zwischen Kulturen.
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skribierte Texte mit sich bringen können und der an sich schon pathologisierend wirken kann. Im fünften Kapitel präsentiere ich viele Interviewausschnitte, um meine Forschung intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten (Steinke, 1999). Dabei habe ich der Lesbarkeit halber auf die Präsentation des spanischen Originalzitats verzichtet. Durch die Nutzung einer dritten Sprache sind Verfälschungen möglich, zugleich ist aber durch diese erzwungene Reduktion die Konzentration auf das Wesentliche gefordert und die Haltung der jeweiligen Interviewpartnerinnen und -partner zeigt sich. Die Abkürzungen in den Zitaten der Kapitel vier und fünf bedeuten: I: Interviewer; IP: Interviewpartner/in; D: Dolmetscher. Ich habe mich grundsätzlich um eine größtmögliche Anonymisierung bemüht, um die Untersuchungsteilnehmenden zu schützen.
3.4.1 Brasilien Von August bis September 2004 führte ich in einem Candomblé- und Umbanda-Tempel, einem reinen Candomblé-Tempel, einem kardezistischen Zentrum und einem parapsychologischen Forschungsinstitut 18 Interviews mit 22 verschiedenen Personen im Alter von 13 bis 72 Jahren durch. Davon waren 12 Personen männlich und 10 weiblich.10 Die Interviewteilnehmenden wohnten in Recife bzw. in dessen Vororten. Sie waren unterschiedlicher sozialer Herkunft und gingen u.a. Tätigkeiten als Schüler, Schuldirektorin, Linguistik-Student, Ausbilderin für Krankenschwestern, Krankenschwester in der Psychiatrie, Psychiater, Ingenieur, pensionierter Bankkaufmann oder pensionierter Staatsanwalt nach. Die Interviews wurden immer in den Settings selbst durchgeführt, 15 in dem Candomblé- und Umbanda-Tempel, eines in dem anderen Candomblé-Tempel, eines in dem kardezistischen Zentrum und eines in dem Forschungsinstitut. Den pai-de-santo habe ich anschließend an das im fünften Kapitel beschriebene Umbanda-Ritual, die mãe-de-santo nach einem Candomblé-Ritual interviewt. Alle anderen Interviewpartnerinnen und -partner, außer dem kardezistischen Medium und den beiden Parapsychologen, habe ich während der Candomblé- oder Umbanda-Veranstaltungen (vgl. Kapitel 5) im Tempel interviewt. Ich habe sie um ein Interview gebeten und dann haben wir uns eine ruhigere Ecke im großen Saal des Tempels bzw. auf dem oberen Flur (vgl. Kapitel 4.1) gesucht. Insofern sind 10 | Ich beziehe mich auf Teile aus meiner Diplomarbeit (Wiencke, 2009b).
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die Interviews mit Menschen durchgeführt worden, die mit einem anderen Anliegen in den Tempel kamen und sich spontan zu den Interviews bereit erklärten. Während der Interviews waren wir von vielen anderen Menschen umgeben, die ebenfalls zu der entsprechenden Veranstaltung gekommen waren. Den räumlichen Hintergrund bildete die entsprechende rituelle Inszenierung. Insofern war es immer eine besondere Atmosphäre mit Musik, Festkleidung und der Präsenz der in den Medien inkorporierten Geister, in der die Interviews stattfanden. Ein Postskriptum zum dritten Interview soll das verdeutlichen. Die Frau kommt seit einigen Monaten regelmäßig in den Tempel. Das Interview findet zwischen 20.30 und 21.00 Uhr statt. Es ist ein Abend mit den pretas velhas bzw. pretos velhos, wie jeden Dienstag. Etwa 200 Leute sind hier, die meisten, um von den pretos velhos Rat zu bekommen. Die Frau wartet auf ihren Freund, der auch zu den pretos velhos geht. Sie selbst will nicht hin. Sie ist selbstbewusst und lebendig. Sie ist direkt von der Arbeit hierhergekommen. Sie schaut während des Interviews immer wieder nach unten (wir sitzen oben auf den Stühlen im Flur, von wo aus wir hinter den Vorhang auf die pretos velhos schauen können). Sie wirkt so, als ob sie es eilig hätte. Dadurch wird das Interview auch etwas unruhig. (August 2004)
Ein Interviewpartner sprach Englisch, alle anderen Interviewpartnerinnen und -partner Portugiesisch, so dass bei diesen der Übersetzer beteiligt war. Die Interviews dauerten jeweils zwischen 20 und 60 Minuten. Meine Interviewleitfäden boten insgesamt eine gute Orientierung für einen flüssigen Interviewverlauf, allerdings gab es immer wieder Stellen, an denen sich meine Fragen, zunächst für den Dolmetscher, als zu abstrakt erwiesen. So war es z.B. schwierig, sich dem emischen Verständnis des Selbst zu nähern. I: Yes. And how is the relationship between a human being and its surroundings? D: The relationship? What is the relationship? I: Yeah, or how is it? How would she describe it? D: How can a person behave itself according to? I don’t know, I don’t know how to ask. I: Well, how is the connection, let’s say, the connection between a human being, a person and its surroundings? How close are they connected? D: With the relationship?
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I: How close is this? I am connected to my surroundings, to other people, and to my whole surroundings, environments. How close is the connection? D: How, how it is? Can you repeat? I: How close is the relationship between a person and its environments? D: The minimum a person has 75 past lives. And they lived in different countries. And they had opportunity to make relationship with other people. They can have this opportunity to make new friends or not. (weibliches Medium)
An solchen Stellen zeigte sich, dass der Interviewleitfaden mit meinem abstrakten Vorverständnis nur eine Orientierung sein konnte, die während des Interviews neu gedeutet wurde. Im Rahmen des theoretischen Samplings habe ich die Leitfäden unter Berücksichtigung der emischen Konzeptionen verändert.
3.4.2 Deutschland In der deutschen psychosomatischen Klinik interviewte ich im Jahr 2006 über zwei Monate 27 Personen zwischen 24 und 65 Jahren, von denen 22 weiblich und 5 männlich waren. 13 von ihnen waren Patientinnen und Patienten mit den Diagnosen Schizophrenie (zwei), Depression (sechs), Borderline (zwei), PTBS (zwei) und schizotype Krankheit (eine). Die Berufe umfassten hier u.a. Architekt, Lehrerin, Industriekaufmann, Studentin, Bürokauffrau und Sozialpädagogin. Die 14 interviewten Klinikmitarbeitenden waren Therapeutinnen und Therapeuten, Krankenschwestern sowie Praktikantinnen und Praktikanten. Neben der Genderverteilung ist das hohe Bildungsniveau auffällig; zwölf Interviewpartnerinnen und -partner haben Abitur, zehn weitere einen Hochschulabschluss. Die Interviews sind hier immer in einem geschlossenen, ruhigen Raum durchgeführt worden, in dem ich mit den Interviewpartnerinnen und -partnern allein war. Die Mitarbeitenden der Klinik habe ich in der Regel in ihren Büros interviewt, die Patientinnen und Patienten in leeren Therapieräumen. Die Klinikmitarbeitenden habe ich angesprochen und wenn es zeitlich passte, haben wir ein Interview durchgeführt. Die Patienten sind zunächst über ihre Therapeuten gefragt worden. Insofern waren alle Interviewpartner auf unser Gespräch vorbereitet. Die Interviews waren zwischen 15 und 70 Minuten lang. Die Interviewleitfäden, die im Rahmen des theoretischen Samplings verändert wurden, boten eine gute Orientierung. Nach einem Interview habe ich mir z.B. notiert:
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Wir sitzen in einem ruhigen Raum. Der Interviewpartner wirkt relativ angespannt und steif; das scheint aber seine Art zu sein; er möchte das Interview wohl gewissenhaft gut machen; ich glaube, dass ich ihm sympathisch bin. Denn er schaut mir freundlich in die Augen. Ich empfinde das Interview als recht zäh, es wirkt auf mich wie eine Prüfungssituation. Ich habe das Gefühl, dass ich ihn teste und eher abfrage, als ein Gespräch zu führen. (2006)
In dem Postskriptum ist etwas angesprochen, das sich als »Gegenübertragung« interpretieren ließe (vgl. Devereux, 1984). Unsere biographischen Hintergründe waren ähnlicher als in Brasilien und Chile und dadurch war es auch schwieriger, innerlich Distanz zu wahren. Das hing auch damit zusammen, dass ich als Praktikant selbst in den Klinikalltag involviert war. Zum einen entstanden in den Interviews mit Patientinnen und Patienten manchmal Situationen, in denen ich als Vertreter der Klinik wahrgenommen wurde – z.B. schlug ein Interviewpartner vor, ein Rauchverbot auf dem gesamten Klinikgelände einzuführen. Zum anderen hatte die Teilnahme an den therapeutischen Veranstaltungen den Effekt, dass ich körperlich und sinnlich selbst in den Vermittlungsprozess der Bedeutungswelt des Settings involviert war. Und dadurch wurde es manchmal schwierig, diesen Vermittlungsprozess distanziert zu reflektieren, andererseits konnte ich so auch empathischer nachvollziehen, wovon die Interviewteilnehmenden sprachen. Das war in den Interviews mit den brasilianischen Medien sicherlich schwieriger.
3.4.3 Chile In der Gemeindepsychiatrie in Chile führte ich im Jahr 2007 über zwei Monate 27 Interviews mit 24 verschiedenen Personen zwischen 21 und 72 Jahren. 13 Personen waren männlich und 11 weiblich. Sechs Personen waren Patienten mit den Diagnosen Schizophrenie (fünf) und Bipolare Krankheit (eine). Von den vier Patienten auf dem Land gehörten bei zwei wiederum beide Elternteile zur ethnischen Gruppe der Mapuche, bei den beiden anderen war ein Elternteil Mapuche und das andere chilenisch. Die beiden Patienten in der Stadt waren chilenisch. Daneben interviewte ich zwei weibliche Angehörige von Patienten auf dem Lande, zwei männliche und eine weibliche machi, einen lawentuchefe (etwa »Kräuterheilkundigen«) sowie vier Männer aus einer Mapuche-Gemeinde (zu Mapuche-spezifischen Fragen). Die acht anderen Interviewpartnerinnen und -partner
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waren als Psychologen, Sozialarbeiterinnen und Krankenschwestern in der Psychiatrie tätig. Die Interviews, die zwischen 30 und 60 Minuten lang waren, sind in unterschiedlichen Kontexten geführt worden. Die Mitarbeitenden der Psychiatrie habe ich alle in ihren Büros interviewt. Einige Patienten sind in einem Besprechungszimmer interviewt worden. In diesen Fällen waren immer der oder die Interviewte mit dem Übersetzer und mir in einem geschlossenen, ruhigen Raum. Die kontrastierenden Interviews mit den machis11, dem Kräuterheiler und den anderen drei Mapuche-Gemeindemitgliedern sind in deren häuslichem Kontext geführt worden. In den sechs Interviews ohne Übersetzer konnte ich manchmal nicht ausreichend nachfragen, deswegen bevorzugte ich einen Übersetzer. Mit den anderen Patientinnen und Patienten habe ich in ihrer häuslichen Umgebung ein Interview durchgeführt. Hier waren dann ein Angehöriger oder auch mehrere Familienmitglieder dabei. Im Gegensatz zu der sachlich-nüchternen Atmosphäre der Interviews in der Psychiatrie bot die Umgebung für mich hier bedeutend mehr sinnliche Anregung, wie das Postskriptum zu einem Interview zeigt. Wir sitzen in der Küche und dem Wohnraum der Familie des Mannes. Die Luft ist rauchig, es riecht nach verbranntem Holz. Durch die Fenster kommt nur wenig Licht herein. Sein Onkel sitzt abseits am Herd und wirft zwischendurch Kommentare ein. Der Interviewpartner scheint über viele Fragen vorher noch nicht nachgedacht zu haben; insofern ist der Gesprächsverlauf manchmal stockend. Er wirkt auf mich aufgeregt, so, als könne er mich nicht ganz einordnen. Manchmal zittert er auch leicht. Mir kommt das Gespräch über brujeria in dem Holzhaus wie in einem Gespensterroman vor, es erscheint mir alles etwas unwirklich. (2007)
Die Interviewsituation ruft hier andere Reaktionen in mir hervor als die oben kurz geschilderte Situation aus der psychosomatischen Klinik. Während ich mich in der deutschen Klinik gewissermaßen wie ein Experte sehe, fühle ich mich hier eher aus meiner gewohnten Realität herausgehoben. Ich habe den Eindruck, dass der Interviewpartner mich nicht einordnen kann; er selbst und seine Erzählungen passen jedoch auch nicht in 11 | Ein machi ist auch im Krankenhaus, in dem er als machi arbeitet, interviewt worden.
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mein gewohntes Wirklichkeitsmodell (vgl. wieder zur Gegenübertragung: Devereux, 1984).
3.5 D ER SPE ZIFISCHE P ROZESS DER THEORIEENT WICKLUNG Die Zirkularität von Datenerhebung und Datenauswertung ist ein zentraler Aspekt der Theorieentwicklung. Allerdings habe ich den bei Glaser (1978) und bei Strauss und Corbin (1996) beschriebenen Idealprozess des permanenten Vergleichs praktisch nur begrenzt umgesetzt. Die Forschung in Brasilien war schon durchgeführt, als ich im Februar 2006 mit meiner Dissertation begann. Es folgte die Forschung in der psychosomatischen Klinik im Jahr 2006 und in der Gemeindepsychiatrie 2007. Truschkat, Kaiser & Reinartz (2005) halten ein Abweichen von dem bei Glaser (1978) oder Strauss und Corbin (1996) beschriebenen Vorgehen entsprechend der Forschungssituation für angemessen, solange in dem Prozess der Datenanalyse und Theorieentwicklung die »Spezifik des Forschungsgegenstandes« (Absatz 39) beachtet wird. Dazu ist notwendig, dass ich den Prozess der Theorieentwicklung in Bezug auf die Abweichungen reflektiere und logisch begründe. Um gegenstandsbegründete Kategorien zu entwickeln, ist es notwendig, theoretisch zu kodieren. Unter ›Kodieren‹ verstehen Strauss und Corbin (1996) »die Vorgehensweisen […], durch die die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozess, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden« (S. 39). Kodierung stellt einen permanenten Vergleich zwischen Phänomenen, Fällen und Begriffen dar, ununterbrochen werden Fragen an den Text formuliert. Dabei bleiben die den Daten zugeordneten Begriffe bzw. Kodes zunächst nahe am Text und werden zunehmend abstrakter. Ich schließe mich jedoch Anja Hermann (2005) in der Aussage an, dass es schwierig ist, den tatsächlichen Auswertungsprozess zu beschreiben. Die anfängliche Orientierung an dem paradigmatischen Modell, das Strauss und Corbin (1996) vorschlagen, um eine Kategorie (Phänomen) in Bezug auf die Bedingungen zu spezifizieren, die das Phänomen verursachen; den Kontext (ihren spezifischen Satz von Eigenschaften), in den das Phänomen eingebettet ist; die Handlungs- und interaktio-
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nalen Strategien, durch die es bewältigt, mit ihm umgegangen oder durch die es ausgeführt wird; und die Konsequenzen dieser Strategien (S. 76)
zu erfassen, erwies sich als problematisch. Denn hierdurch ging meine Datenauswertung in eine allzu schematische Richtung, die mir zunehmend den Daten aufgezwungen zu sein schien. Insbesondere die Suche nach klar zu identifizierenden Ursachen des Phänomens ›gesundheitsförderliche Prozesse im Setting bei Schizophrenie‹ erwies sich als unmöglich. Nützlich fand ich die Debatte zwischen Glaser (1992) und Strauss (1998; bzw. Strauss und Corbin, 1996), da mir durch die unterschiedlichen Positionen zentrale Punkte der Grounded Theory bewusst wurden. Ich teile Glasers (1992) Annahme nur begrenzt, dass sich die von Strauss und Corbin beschriebenen Sampling-Schritte offen, axial und selektiv von selbst im Prozess der Theorieentwicklung ergäben. Das Befolgen der einzelnen Kodier-Schritte bot oft eine nützliche Struktur, um mich in schwierigen Phasen aus der Verwirrung12 der Daten wieder zu lösen (vgl. Strauss & Corbin, 1996). Allerdings sollte man nach meiner Erfahrung dem Kodier-Schema nicht systematisch folgen: Offenes und axiales Kodieren wechselten sich ab, ebenso in einem zeitlich späteren Prozess axiales und selektives Kodieren. Zu Beginn habe ich im offenen Kodieren die Daten in ihre Sinneinheiten zerlegt und ihnen Begriffe, die Kodes, zugeordnet. Anschließend wurden die Kodes kategorisiert, indem ich sie um die in den Daten gefundenen Phänomene gruppiert habe, die für meine Fragestellung besonders relevant erschienen. Im nächsten Schritt wurden für jede Kategorie Eigenschaften benannt und dimensionalisiert – nach Intensität und Sequenz kontrastiert (häufig–selten; intensiv–weniger intensiv; stark–schwach). In Memos habe ich erste Hypothesen aufgestellt, wie hier während der Forschung in der psychosomatischen Klinik: Die Krankheitsdiagnose spielt in der Behandlung zwar eine wichtige Rolle, die Patienten verarbeiten in dieser Konzeption die Informationen z.B. psychotisch. Die Diagnose beeinflusst die Zuweisung zu einer Therapiegruppe. Entsprechend der Diagnose werden Medikamente vergeben. Die Ursachen für diese Krankheit sind jedoch sehr vielschichtig, und es kann auch eine spirituelle Krise oder 12 | Diese Phasen scheinen dem heuristischen Charakter der Grounded-TheoryMethode und dem stets vorläufigen Charakter der zu entwickelnden Theorie geschuldet zu sein (vgl. Muckel, 1996, S. 76).
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Sinnkrise dahinter liegen. Die individuellen Erfahrungen werden in größere Zusammenhänge, auch transpersonale, eingebettet. Die Gemeinschaft hilft bei der Heilung, bei der Konstitution der Gemeinschaft spielen bedeutungsgenerierende Rituale eine wichtige Rolle. Diese Rituale hängen mit Metaphern zusammen. Die Partizipation an der Gemeinschaft wird als heilend angesehen. Die Kranken werden aufgewertet: Sie sind Teil der Gemeinschaft, sie heilen also durch ihre Teilnahme selbst auch andere Patienten, z.B. bei »Heilkraft der Stimme« oder beim »Taketina«. (2006)
Soweit es möglich war, habe ich für die Kodes Begriffe der Interviewpartnerinnen und -partner benutzt. Ansonsten waren es meine eigenen Begriffe oder auch Konzepte aus der Literatur, die ich gemäß meiner theoretischen Sensibilität ausgewählt habe. Glaser (1992) und Strauss und Corbin (1996) unterscheiden sich in der Frage des Umgangs mit Verweisen. Während Strauss und Corbin dafür plädieren, jede mögliche Literatur von Anfang an zu benutzen, vertritt Glaser (1992) die Position, erst im späteren Kodierungsprozess, wenn schon eigene Kategorien aus dem Material heraus entwickelt wurden, die für das Forschungsfeld relevante Literatur zu verwenden. Er warnt davor, dass sonst die Gefahr einer deduktiven Ableitung aus den Hypothesen bestehe. Ich schließe mich Truschkat, Kaiser & Reinartz (2005) an, dass es aus pragmatischen Gründen sinnvoll ist, flexibel mit der theoretischen Sensibilität13 umzugehen. Ich habe ein bestimmtes biographisches Vorwissen mitgebracht. Durch die Forschung in Brasilien und insbesondere meine Tätigkeit in einer Therapeutischen Wohngemeinschaft für Menschen mit der Diagnose Schizophrenie im ersten Jahr der Promotion wurde ich sensibler hinsichtlich des Recovery-Prozesses. Neben diesen persönlichen und beruflichen Erfahrungen stellten auch die Sichtung der vorhandenen Literatur zur Sinngebung bei Schizophrenie und zur Konzeptualisierung eines Meaning Making Settings sowie der analytische Prozess selbst eine wichtige Quelle meiner theoretischen Sensibilität dar (vgl. Strauss, 1998). In Bezug auf die Literatur hatte ich mich im Rahmen meiner Diplomarbeit bereits umfassend mit den kulturellen Bedingungen psychischen Krankseins befasst. Ansonsten habe ich mich mit weiteren Literaturrecherchen zunächst zurückgehalten und allgemein 13 | »Theoretische Sensibilität bezieht sich auf die Fähigkeit, Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, die Fähigkeit zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen« (Strauss & Corbin, 1996, S. 25).
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versucht, im Sinne Glasers (1992) mein Vorwissen zu reflektieren und als Hintergrundwissen zu behandeln. Zu Beginn bin ich in der psychosomatischen Klinik einer breiten Fragestellung gefolgt, nämlich der Frage nach den Krankheitskonzeptionen und dem Umgang mit der Krankheit – unter Berücksichtigung sinngebender Elemente. Die Fragen sollten möglichst weit und offen das untersuchte Phänomen handlungs- und prozessorientiert erfassen (vgl. Strauss & Corbin, 1996). Meine Fragestellung war zu Beginn: Wie wird »psychische Krankheit« konzeptualisiert? Wie werden ihre Auffälligkeiten und Ursachen erklärt? Wie wird mit »psychischer Krankheit« bzw. den »psychisch Kranken« umgegangen? Welche Rolle spielt die Sinngebung? Im Laufe des Forschungsaufenthalts habe ich mich stärker fokussiert auf die therapeutischen Veranstaltungen und die vermittelten Konzepte des Settings. In der psychosomatischen Klinik wurde deutlich, dass der Vermittlungsprozess von Bedeutungen eng an Rituale geknüpft ist. Ich konnte selbst körperlich eine besondere Sogwirkung in den therapeutischen Veranstaltungen mit Großgruppen erfahren. Dazu ein Memo: In den Ritualen können ganz unterschiedliche biographische Hintergründe der Patientinnen und Patienten zusammenkommen. Das Setting scheint einerseits einen starken Einfluss auf die Teilnehmenden auszuüben, gleichzeitig jedoch auch offen für neue Bedeutungen zu sein. Sinnstiftung findet über den Körper statt. Das ist etwas Allgemeines, das für beide bisher untersuchten Settings gilt, und könnte damit ein Ansatzpunkt für eine allgemeine Theorie sein. (2006)
Nun begann ich, mich ausführlich mit Literatur zu Ritual und Embodiment zu beschäftigen (z.B. Wulf, 2005; Csordas, 1997; Bourdieu, 1993). So sind vorläufige Hypothesen über Beziehungen zwischen den Kategorien und ihren Eigenschaften entstanden. Als ich im Jahr 2007 nach Chile fuhr, war mein Blick schon auf die Aufhebung des Dualismus von Körper und Geist in szenischen Aufführungen gerichtet. Nun kam in Chile jedoch als auffälliger neuer Aspekt das Ergänzungsverhältnis unterschiedlicher, sich für mich auch widersprechender Erklärungsmodelle hinzu. Für die Gruppierung und Hierarchisierung der Kategorien und ihre Überprüfung an den Daten im Prozess des axialen und selektiven Kodierens war analytische Distanz zum Untersuchungsfeld notwendig. Neben den Pausen zwischen den Forschungen spielte auch die soziokulturelle
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Unterschiedlichkeit der Settings eine wichtige Rolle, weil durch die Differenzen auch die Gemeinsamkeiten deutlicher wurden. Es mussten keine weiteren Daten erhoben werden. In den bereits erhobenen Daten konnte ich vergleichen und so Kontrastdimensionen und Ähnlichkeiten entdecken. Es zeigte sich, dass die zu Beginn der Forschung erhobenen Daten genauso relevant waren wie die späteren weit mehr fokussierten (vgl. Truschkat, Kaiser & Reinartz, 2005, Absatz 47). Zurück in Deutschland stellte sich bald die Frage, inwieweit ich meine Daten verallgemeinern könnte. Wäre ich nur von den Daten ausgegangen, hätte ich die unterschiedlichen Bedeutungssysteme der Settings präsentieren können. So hätte ich zeigen können, wie Gesundheitsförderlichkeit bei psychischer Krankheit unterschiedlich konstruiert wird. Denn die Daten aus den drei sehr unterschiedlichen Settings waren sehr komplex, und es schien nicht möglich, zu Verallgemeinerungen zu kommen, ohne sehr grob zu vereinfachen. An dieser Stelle war die Orientierung an der Forschungsstrategie von Adele Clarke (2005) weiterführend, die sich wiederum auf Strauss bezieht. Anders als Strauss jedoch möchte Clarke nicht einen einzigen grundlegenden sozialen Prozess in den Daten identifizieren, sondern die Möglichkeit für multiple soziale Prozesse hinsichtlich eines Phänomens offen lassen. In Anlehnung an Geertz’ (1999) Methode der ›dichten Beschreibung‹ fordert Clarke dazu auf, ›dichte Analysen‹ von Situationen zu erstellen. Das theoretische Sampling dient dazu, eine möglichst große Vielfalt von Elementen, Beziehungen und Perspektiven mit all ihrer Heterogenität und Widersprüchlichkeit in der Situation abzubilden. Diskurse und die physische Umgebung, wozu auch Machtstrukturen gehören, gelten als konstitutiv für die Situation und werden entsprechend in die Analysen mit einbezogen. Durch dieses methodische Vorgehen wurden Setting-übergreifende Verallgemeinerungen möglich, die von den Daten ausgingen und in diesen verankert waren: Mir stand deskriptives Datenmaterial aus drei Bedeutungswelten zur Verfügung, in denen bei den teilnehmenden Personen auf unterschiedliche Art die Überzeugung entstand, dass ihre Gesundheit in den Bedeutungswelten positiv beeinflusst werde. Die sich in den Daten abbildenden Muster zwischen den bedeutungshaltigen Praktiken der Settings und den Überzeugungs-Veränderungen bei den Teilnehmenden ähnelten stark den Konzepten zur Gesundheitsförderung wie dispositionellem Optimismus (Scheier & Carver, 1992), Hoffnung (Snyder & Lopez, 2007), Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura, 1997) oder Ko-
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härenzsinn (Antonovsky, 1997). Zu diesen Konzepten gibt es umfassende empirische Untersuchungen (vgl. Kapitel 2.4.1). Allerdings thematisieren diese Konzepte die Gesundheitsförderlichkeit von kognitiven Prozessen in Personen. Im Gegensatz dazu fanden sich in meinen Daten viele Hinweise, dass in den Settings Gesundheitsförderlichkeit mit Prozessen in einem sozialen Geschehen zusammenhing. Diese Prozesse schienen an die Körperlichkeit der Teilnehmenden gebunden zu sein. Damit ähnelten die Phänomene in den Daten in vieler Hinsicht den Konzepten, die in der Literatur zu Ritual und Mimesis (z.B. Wulf, 2005; Csordas, 1997) beschrieben werden. Insofern hatte der Blick in die Literatur Anregungscharakter, um Phänomene erklären zu können, die sich in den Daten abzeichneten, deren Bedeutung ich aber noch nicht hinreichend erfassen konnte. Nach Strauss und Corbin (1996) ist es möglich, auch gemäß den theoretischen Vorannahmen zu sampeln (vgl. Truschkat, Kaiser & Reinartz, Absatz 33), was Glaser (1992) heftig kritisiert: Strauss looks for his paradigm in the data, and data collection in his method is not guided by the emergent, but by testing his logically deduced hypotheses in service of his paradigm. This is just conventional verificational methodology: logically deduce hypotheses and test them. This method is far cry from grounded theory which goes on what is emerging in the data as the theory is generated, and that is all. (Glaser, 1992, S. 103; zitiert nach Truschkat, Kaiser & Reinartz, Absatz 33)
Es ist sicherlich wichtig, Glasers Einwand ernst zu nehmen, um der Gefahr eines allzu deduktiven Vorgehens entgegenzuwirken. Allerdings halte ich seine Kritik zum einen für sehr überzogen – in meinen Augen bietet Strauss’ Ansatz viel Spielraum für Überraschungen – und zum anderen halte ich seine Empfehlung für praktisch unrealistisch. Trotz meines intensiven Bemühens ist das unten vorgestellte Modell nicht von selbst aus den Daten emergiert, wie Glaser nahelegt, sondern ich habe es meinen wechselnden Fokussierungen entsprechend aus den Daten heraus entwickelt. Auch Zaumseil (2007, S. 106) weist darauf hin, dass die Theorie nicht von selbst durch die sorgfältige Kodierung und adäquate Verwaltung und Organisation der Daten emergiert, sondern dass an entscheidenden Stellen Abduktionen, also kreative Neukonfigurationen, notwendig sind. Allerdings findet die Theorieentwicklung eben im permanenten Austausch mit der Wirklichkeit der Daten statt. Hierbei fließt schon Theorie mit ein, denn selbst die Identi-
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fizierung der im Feld verwendeten Begriffe geschieht auf Grundlage schon vorhandener theoretischer Konzepte (vgl. Strübing, 2004). Die Kategorien entstanden erst im Prozess des Schreibens. Denn hierbei fielen mir Ungereimtheiten und Spannungen zwischen den Kategorien und ihrer Beziehung zu dem Datenmaterial auf, so dass ich sie erneut redigieren musste. Über Monate verfolgte ich zum Beispiel die Hypothese, dass die Personen in meinen Untersuchungssettings kognitive »Strategien des Wechselns« zwischen den unterschiedlichen Erklärungsmodellen anwenden würden. Das Datenmaterial bestätigte diese Annahme aber nicht. Die Erklärungsmodelle schienen in einem grundlegenden Ergänzungsverhältnis zueinander zu stehen und durch die physische Präsenz einer Person im jeweiligen Kontext – sowohl der Settings als auch des Alltags – aktiviert zu werden. Nach Glaser und Strauss (1998) wird die Einbeziehung weiteren Datenmaterials abgebrochen, wenn keine weiteren Eigenschaften der jeweiligen Kategorie mehr entwickelt werden können, die Kategorie also »theoretisch gesättigt« ist (S. 69). Die Eigenschaften der hier entwickelten Kategorien beziehen sich auf Daten aus soziokulturell stark voneinander abweichenden Kontexten; bei ihrer Entwicklung musste daher eine große kulturelle Heterogenität berücksichtigt werden. Deswegen halte ich es für vermessen zu behaupten, dass die Einbeziehung weiterer Daten tatsächlich nichts Neues mehr mit sich bringen würde. Ich werde im fünften Kapitel ausführlich darstellen, wie sich die Kategorien als Struktur in den Daten abzeichneten, ohne dass sie vollständig theoretisch gesättigt wurden.
3.6 THEORIEBE WERTUNG In diesem Kapitel sollen die Stärken und Schwächen der entwickelten Kategorien diskutiert werden. Zur Überprüfung der empirischen Verankerung der Kategorien nennen Strauss und Corbin (1996, S. 218-220) sieben Punkte. •
Wurden die Konzepte gemäß der Grundsätze der Grounded Theory entwickelt? Ich habe mich innerhalb des konzeptuellen und methodischen Rahmens der Grounded Theory bewegt. In den vorherigen Abschnitten habe ich erläutert, wie flexibel ich mit dieser breit angelegten Forschungsstrategie umgegangen bin, auf welche Teile ich mich tat-
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sächlich bezogen habe und wo ich von den Vorgaben von Strauss und Corbin (1996) oder Glaser (1992) abgewichen bin. Wurden die Konzepte systematisch miteinander in Beziehung gesetzt? Ich werde im fünften Kapitel – auch anhand von Grafiken – die Beziehungen zwischen den ausgearbeiteten Kategorien klar aufzeigen. Existieren viele konzeptuelle Verknüpfungen? Besitzen die Kategorien konzeptuelle Dichte? Die entwickelten Kategorien werden im fünften Kapitel mit Interviewzitaten und dichten Beschreibungen meiner Feldbeobachtungen detailliert erläutert. So werden ihre Eigenschaften und Dimensionen empirisch herausgearbeitet und miteinander in Beziehung gesetzt. Enthält die entwickelte Theorie in ausreichendem Maß Variation? Ich habe bewusst soziokulturell stark divergierende Settings ausgewählt und innerhalb der Settings neben den Klientinnen und Klienten auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Institution mit in die Forschung einbezogen, um die Variation zu maximieren. Sind die breiteren Randbedingungen, die Einfluss auf das untersuchte Phänomen haben, in dessen Erklärung enthalten? Die breiteren Randbedingungen sind in dieser Arbeit die Bedeutungswelten der Settings und die Alltagswelten der Teilnehmenden. Sie sind ein zentraler Bestandteil des in dieser Arbeit entwickelten Konzepts der Gesundheitsförderung (vgl. Kapitel 5.2). Wurde der Prozessaspekt berücksichtigt? Durch meine aktive Teilnahme an den Veranstaltungen der Settings konnte ich selbst erfahren, wie in den Settings Bedeutungen vermittelt werden. Das hat sicherlich auch dazu beigetragen, die unten vorgestellten Kategorien prozessual zu konzeptualisieren. Zeitliche Veränderungsprozesse bei den Klientinnen und Klienten in Bezug auf den Genesungsprozess sind im Modell enthalten, allerdings empirisch nur mit Daten der Repräsentationsebene gesättigt. Ich konnte auf der Interaktionsebene selbst keinen Genesungsprozess beobachten. Hier wären zukünftig Längsschnittstudien zur positiven Beeinflussung von Chronifizierung gewinnversprechend. Inwiefern sind die theoretischen Befunde relevant? Das Bemühen um Sinnfindung ist bei chronisch psychisch Kranken, die mit gravierenden Brüchen in ihrer Biographie zurechtkommen müssen, ein zentrales Problem. Bisher gibt es allerdings kaum Arbeiten zu settingbezogenen Sinngebungsprozessen in ihrer Bedeutung für die Bewältigung chronischer psychischer Krankheit.
3 M ETHODEN UND D URCHFÜHRUNG
Ich möchte nun die Gütekriterien qualitativer Sozialforschung in Bezug zu meiner Arbeit setzen. Strauss und Corbin (1996) beziehen sich auf die Reliabilität der Ergebnisse: Durch den sich wiederholenden Überprüfungsprozess während der gesamten Theorieentwicklung soll eine vorläufige Verifizierbarkeit erreicht werden. Strübing (2004) erläutert, dass sich der Repräsentativitätsbegriff der Grounded Theory am besten als konzeptuelle Repräsentativität bezeichnen lässt. Es ist nicht von Interesse – wie in quantitativen Forschungsdesigns –, wie häufig ein bestimmtes Phänomen oder eine bestimmte Relation von Phänomenen zueinander auftritt, sondern welches die typischen Kontextkonstellationen sind, unter denen mit dem Auftreten eines bestimmten Phänomens zu rechnen ist. Diese Art der Repräsentativität habe ich durch das theoretische Sampling erreicht: Den Adhoc-Hypothesen der sich entwickelnden Theorie entsprechend, habe ich gezielt Daten erhoben, die Erkenntnisse über »psychisches Kranksein«, ihre Dimensionen und Ausprägungen, Ursachen, Bewältigungsstrategien und Konsequenzen in sehr unterschiedlichen sozialen Kontexten generieren. Hinsichtlich des klassischen Gütekriteriums der Objektivität als Unabhängigkeit der Ergebnisse von den Personen, welche die Datenerhebung und -interpretation durchführen, erläutert Strübing, dass die Datenerhebung in der qualitativen Forschung nicht objektivierend im Sinne von messend ist. »Gerade die in der grounded theory systematisch variierte Vielzahl möglicher Lesarten bildet das Ausgangsmaterial für diskursiv zu entwickelnde und wiederum empirisch zu überprüfende Theorieentwürfe« (ebd., S. 80). Die innere Validität als innere Widerspruchsfreiheit der Theorie und adäquate Repräsentation der sozialen Wirklichkeit wird durch den sich wiederholenden Überprüfungsprozess erreicht. Neben dem theoretischen Sampling zur Sicherung der externen Validität empfiehlt Strübing »eine möglichst detaillierte Dokumentation der im Verlauf der Mikrozyklen getroffenen Entscheidungen (sampling, Ad-hoc-Hypothesen, induktive/abduktive Schlüsse)« (ebd., S. 79). Hieran kann man mit Steinke (2003) anschließen, dass die intersubjektive Nachvollziehbarkeit die Grundlage für die eigene Bewertung der Ergebnisse durch den Leser darstellt. Dabei nimmt die Dokumentation des Forschungsprozesses einen zentralen Stellenwert ein. Ich habe deswegen mein Vorverständnis und meine konkrete Anwendung der Forschungsmethoden ausführlich reflektiert. In Kapitel vier und vor allem fünf werde ich umfangreiches
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empirisches Material (Interviewausschnitte14 und Ausschnitte aus Beobachtungsprotokollen) präsentieren. So sollen die untersuchten Settings möglichst plastisch vor den Augen des Lesers entstehen. Außerdem soll so der Konstruktionsprozess nachvollziehbar werden, in dem die abstrakten Kategorien und ihre Beziehungen zueinander aus den Daten entstanden sind. Auch während des Forschungsprozesses habe ich versucht, meine Entscheidungen intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten. Während der Forschungsaufenthalte habe ich meine vorläufigen Deutungen und Hypothesen den Teilnehmenden der Settings zurückgespiegelt und mit ihrer Wahrnehmung und Deutung des Forschungsfeldes verglichen. Das erwies sich auch gerade bei Randpersonen der Settings – wie anderen Praktikanten in der psychosomatischen Klinik – als nützlich, die sich selbst in einem Wechselprozess zwischen Nähe und Distanz gegenüber dem Setting befanden. Fast wöchentlich habe ich gemeinsam mit einer Doktorandin, die auch eine Fragestellung im Bereich der Klinischen Kulturpsychologie untersuchte und mit ähnlichen Fragen und Schwierigkeiten beschäftigt war, Auszüge des Datenmaterials kodiert und interpretiert. Daneben nahm ich regelmäßig an einem zweiwöchigen Doktoranden- und Doktorandinnencolloquien sowie an einem weiteren monatlich stattfindenden Doktorandenseminar teil. In den drei Austauschzirkeln habe ich aufgrund vieler anregender Diskussionen mit konstruktiver Kritik neue Perspektiven auf das Datenmaterial entwickeln können. Charmaz (1995, S. 32, S. 35) weist darauf hin, dass auch die entstandenen Kategorien die Interaktion zwischen dem Forscher und dem Untersuchungsfeld widerspiegeln. In der Interaktion sind die Daten entstanden und damit auch die Bedeutungen, die ich beobachtet und definiert habe (Charmaz, 1995, S. 32, S. 35). Die entwickelten Kategorien bieten eine heuristische Vorarbeit, um auch quantitativ gesundheitsfördernde Sinngebungsprozesse in therapeutischen Settings in größerer Breite betrachten zu können. Mit quantitativen Studien könnte man die gefundenen Verallgemeinerungen weiter absichern (vgl. Zaumseil, 2007, S. 101). Der Begriff ›therapeutisch‹ ist dabei bewusst weit gefasst und bezieht auch religiöse Settings wie Candomblé mit ein. Es ist denkbar, auch eine konventionelle Psychiatrie mit meinem Ansatz zu untersuchen sowie mit teilnehmender Beobachtung den Alltag der Betroffenen zu erforschen. 14 | Die ungekürzten Transkriptionen der gesamten Interviews konnten die Gutachter einsehen.
4 Die Untersuchungsorte
In diesem Kapitel stelle ich die drei untersuchten Settings anhand dichter Beschreibungen, die aus meinen Beobachtungsprotokollen entwickelt sind, sowie Ausschnitten aus Interviews mit Teilnehmenden vor. Das Ziel ist es, multiperspektivische Einblicke in die Struktur und die Konzeption der Settings zu gewähren. Dabei werden entsprechend der Forschungschronologie zunächst der Hauptuntersuchungsort in Brasilien, der Candomblé- und Umbanda-Tempel, sowie der vergleichend untersuchte Candomblé-Tempel vorgestellt. Darauf folgen die psychosomatische Klinik in Deutschland und die Gemeindepsychiatrie in Chile. Zu jedem Untersuchungsort werden Hintergrundinformationen aus der Literatur präsentiert.
4.1 D ER C ANDOMBLÉ - UND U MBANDA -TEMPEL SOWIE DER C ANDOMBLÉ -TEMPEL 4.1.1 Der Candomblé- und Umbanda-Tempel Der für mich wichtigste brasilianische Untersuchungsort1 existiert seit etwa 35 Jahren in einem der ärmeren Viertel der nordostbrasilianischen Großstadt Recife. Die Besonderheit des Tempels (terreiro) liegt darin, dass dort beide synkretistische Religionen Candomblé und Umbanda praktiziert werden. Die Personen, die hier als Medien für die Inkorporation der Geister arbeiten, sind also in beiden Religionen initiiert.
1 | Ich greife im Folgenden auf Vorarbeiten aus meiner Diplomarbeit zurück (Wiencke, 2009b).
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I: The people who work here, do they have initiations in Candomblé or in Umbanda? D: In both.
Die Tempelpraxis ist grundlegend durch die Persönlichkeit des leitenden pai-de-santo, bestimmt. In einem Interview erzählte der pai-de-santo (Jahrgang 1932) von seiner sozialen Verwandlung zu einem »Vater des Heiligen«. Er hatte eine leitende Funktion in einer Bank, als er im Alter von etwa 40 Jahren begann, Geister und orixás (Gottheiten) zu sehen, zu hören und zu inkorporieren. Bei einer Feier mit Bankdirektoren im Stadttheater zerriss er während seiner Rede mit wilden Armbewegungen sein Sakko und sein Hemd. Diese plötzliche Manifestation der Geister bewirkte einen öffentlichen Skandal. Er fühlte sich unwohl mit diesen Phänomenen und wehrte sich gegen die Aufforderung der Geister, selbst ein Heiler zu werden. Als jedoch mehrere schreckliche Vorhersagen der Geister wahr wurden, begann der pai-de-santo mit der Praxis des Handauflegens. Seine Klienten berichteten, dass sie eine positive Energie empfänden; viele nahmen auch eine Verbesserung ihrer physischen Befindlichkeit wahr. Das Tempelgebäude ist etwa 30 Meter lang und 20 Meter breit. Es besteht aus zwei Stockwerken mit Flachdach. Wenn man den Tempel betritt, soll man als Zeichen der Demut seine Schuhe ausziehen und seine Beine bedecken. Hinter der Eingangstür führt geradeaus eine Treppe in den ersten Stock. Man kann auch vor der Treppe links abbiegen und geht dann einige Stufen hinunter in einen etwa 80 Quadratmeter großen Raum. An seiner Außenwand befindet sich eine Reihe mit etwa 20 Statuen von exú und seinem weiblichen Gegenstück pomba gira in Menschengröße, zwei wichtigen Figuren aus dem Candomblé- und Umbanda-Pantheon, die unten noch ausführlicher vorgestellt werden. Die Darstellung von exú erinnert an einen Dandy, die von pomba gira an eine Prostituierte. Die vor den Figuren entzündeten Kerzen, die aufgestellten Früchte und Alkoholika, die weißen Bodenfliesen und die silbergrauen Wände lassen eine unheimliche Atmosphäre entstehen, sie erinnern an eine düstere Friedhofsgruft. Hinter diesem Raum liegt etwas höher ein großer Saal von etwa 250 Quadratmetern, der ebenfalls weiß gefliest ist. An der hinteren Wand befindet sich eine gemauerte Bühne, auf der bei den im fünften Kapitel vorgestellten Feiern die Musiker agieren. Rechts neben der Bühne stehen in Mauervorsprüngen mit den kleinen Statuen der caboclos und caboclas (Geister von Indianerinnen und Indianern) sowie der pretos velhos und pre-
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tas velhas (Geister von Sklavinnen und Sklaven) weitere Figuren aus dem Candomblé- und Umbanda-Pantheon. Die Statuen setzen sich an der anschließenden Wand fort bis zu einer großen Glasfront, hinter der man in einem separaten Raum Statuen der orixás, der Gottheiten, sehen kann. Anders als die anderen Figuren werden die orixás durch etwa zwei Meter große Abbilder sehr abstrakt dargestellt. Auf der anderen Seite des Saals führt eine Treppe zu den beiden großen Flure im ersten Stock, von denen man in den Saal schaut. Von den Fluren gehen weitere Räume ab: Behandlungszimmer, das Büro des pai-de-santo mit einer Glastür sowie zwei Kioske mit Snacks, Getränken, Kerzen und Heilmitteln. Auf den Fußböden der Flure symbolisieren Fliesen mit abgebildeten Kieselsteinen den Beginn der Evolution, die in der Sicht des pai-de-santo u.a. über den Diamanten, die Kaulquappe und den Affen zum Menschen führte. Hier stehen mehrere Reihen mit Plastikstühlen. Die beiden großen Flure fungieren zugleich als Tribüne und Warteraum für die Aktivitäten im Saal. Im fünften Kapitel werde ich diese Aktivitäten mit ihren bunten Inszenierungen von Lichtern, Musik und Kleidung detailliert beschreiben und zeigen, wie der Einfluss der spirituellen Welt auf das alltägliche Leben der Menschen förmlich greifbar wird. Mehrere hundert Personen kommen wöchentlich in den Tempel. Alle Personen, die mit unterschiedlichen Anliegen den Tempel aufsuchen, bezeichnet der pai-de-santo einheitlich mit einem neutralen Begriff. D: Consulentes. They call them consulentes. Means that they are coming here to get an advice.
Der pai-de-santo sieht seinen Tempel als (letzte) Instanz nach dem Krankenhausbesuch, wenn die westliche Medizin dort den Menschen nicht heilen konnte: I: And why are they going to the temple and not to a hospital or to the doctor? D: Because they go to hospitals and the hospital does not solve the problem. They are coming here. It’s the last chance.
Der letzte Satz »It’s the last chance.« betont die Dringlichkeit bzw. Verzweiflung, mit der die Klienten aus Sicht des pai-de-santo in seinen Tempel kommen.
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Im Tempel arbeiten mehrere hundert Medien. Die Behandlungen sind kostenlos, die Klienten geben Spenden. Die Aspekte der Wohltätigkeit und der Zufriedenheit werden in den Interviews betont, wie hier von einer Klientin: D: Very good, very good treatment. 35 years this centre and she 2 says that it’s very good because also the charity because they don’t charge money from the people ok?
Es werden Mitgliedskarten an die regelmäßigen Besucher des Tempels ausgegeben. Zur Zeit meines Aufenthalts soll es etwa 700 Mitglieder gegeben haben. Die Mitgliedschaft schließt das Aufsuchen anderer Tempel aus.3 D: If they are a member of this temple they cannot go to another one. They have to come only to this place. If you get married to two women you cannot give assistance to the two. You cannot please two masters. (weibliches Medium)
In dem Selbstverständnis des pai-de-santo hat der Aufenthalt in seinem Tempel positive Auswirkungen auf das Wohl einer Person, weil die Gefahren und negativen Einflüsse der Geister gebannt werden. D: He says that if the person goes to a place that is positive it is already healed. But if he goes to a negative place it is also everything is a problem again. I: Like this temple is a positive place? D: Yes. […] Who is here coming in, the bad spirits are tied. He [the pai-de-santo] has a security belt. When they pass it [der »Sicherheitsgürtel«] closes. (der pai-de-santo)
Die Aussage des pai-de-santo deutet also an, dass »Gesundheit« bzw. »Krankheit« mit einem bestimmten Umgang mit den Geistern zusammenhängen, auf den ich später eingehen werde. 2 | Aufgrund der Übersetzertätigkeit wechseln die Personalpronomen in den Interviewausschnitten. Ich gebe hier nur die englische Übersetzung wieder. 3 | In diesem Zusammenhang fehlen mir Informationen zu möglichen Ausschlussregeln, ob z.B. das Aufsuchen eines anderen Tempels zum Ausschluss aus diesem führen würde.
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4.1.2 Der Candomblé-Tempel Der andere Tempel (terreiro) der mãe-de-santo befindet sich in einem Vorort Recifes. Zum Kern dieses Candomblé-terreiro gehören über hundert Personen, die regelmäßig kommen. Insgesamt sind aber mehrere hundert Menschen Mitglieder der Gemeinde, die teilweise im Ausland leben. Es wird hier keine Umbanda angewandt. Die mãe-de-santo (Jahrgang 1947) arbeitet als Krankenschwester in einem psychiatrischen Krankenhaus. Ihr Ehemann arbeitet als Psychiater ebenfalls dort, worauf ich unten zurückkommen werde. Der Tempel liegt im Hinterhof des Wohnhauses der mãe-de-santo. Betritt man den Hof, liegt zur linken Seite eine kleine Steinhütte. In ihr findet man auf dem Fußboden neben Ziegenschädeln alkoholische Getränke in Gläsern, Opfer für exú und pomba gira (Trickster-Figuren), die den Tempel schützen. Das Tempelgebäude mit einer Grundfläche von etwa zwölf mal sechs Metern besteht aus drei Räumen unterschiedlicher Größe. Die Zeremonien finden hauptsächlich im mittleren Raum statt, der auch der größte ist. Einige Stühle und ein Tisch stehen an der hinteren Wand. Im rechten Raum befinden sich kleine Statuen der orixás auf dem Fußboden, neben denen mehrere Ziegenschädel liegen. Im linken Raum steht ein Altar mit kleinen Figuren der pretos velhos bzw. pretas velhas (Sklavengeister) und der caboclos bzw. caboclas (Geister von Indianern und Indianerinnen). Wie für den pai-de-santo, hat auch für die mãe-de-santo ein großer Teil der Patienten in der Psychiatrie spirituelle Probleme. D: She personally believes that 50 % of all psychiatric problems are spiritual problems. I: Yes. What does this mean? D: People have an inner spirituality if they, if they don’t treat it something may happen inside. She gave an example, she is saying you need a job and you may be ending begging on the streets.
Werden spirituelle Probleme nicht adäquat behandelt bzw. entwickelt sich eine Person nicht entsprechend spirituell, kann sie für die Interviewpartnerin offenbar aus dem sozialen System herausfallen. So erläutert die mãede-santo in einem Fallbeispiel, wie ein vermeintliches psychiatrisches Problem aufgrund ihrer Initiative in einem spirituellen Zentrum behandelt wurde.
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D: She has worked for the last 27 years related to psychiatry. […] She also had another, another person, a girl that arrived at hospital in the cops, cops car. She, but she could see that it was not a psychiatric, a psychiatric problem, but a spiritual one, and asked the social assistance not to take her to the psychiatric hospital. She took her in an ambulance to a spiritual centre. Not her own, but another one. And she was cured, she left the place cured.
In dem Zitat ist die Idee einer Veränderlichkeit bei spirituellen Problemen enthalten. Spirituelle Probleme scheinen für die Interviewpartnerin leichter zu lösen zu sein als psychiatrische.4 Für ihren Ehemann, der als Psychiater in derselben Psychiatrie arbeitet, stehen die psychiatrische und spirituelle Konzeption in einem wechselseitigen Ergänzungsverhältnis zueinander. D: Ah, he considers that the problems that they consider psychiatric may be seen in two different ways, in a psychiatric one, but also in the spiritual one. […] According to psychiatry, they have the diagnosis that defines those persons. The multiple, they have the multiple personality disorders and possession and trance disorders. It’s the way science defines those persons, but according to religion, according to religion, this is seen as the influence of a deceased person, a spirit of a deceased person. And if it is a spiritual problem things can be solved.
In dem Candomblé- und Umbanda-Tempel bzw. in dem Candomblé-Tempel findet sich ein sehr unterschiedlicher Umgang mit »psychischer Krankheit«, verglichen mit dem psychiatrischen Zugang. Psychische Krankheit wird hier als »spirituelles Problem« gesehen und erfährt entsprechend spezifische Interpretations- und Bearbeitungsprozesse in Bezugnahme auf die Welt der Geister.
4.1.3 Hintergrundinformationen aus der Literatur Zunächst wird die Religion des Candomblé kurz historisch eingeordnet, seine Praxis und sein Pantheon werden erläutert. Anschließend werde ich die Religion der Umbanda in den gleichen Aspekten vorstellen. 4 | Hier klingt die Idee an, dass die Diagnose als »spirituelles Problem« Hoffnung auf Verbesserung wecken könnte, worauf ich im Kapitel 5.3.1 ausführlich zurückkommen werde.
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Candomblé ist im Kontext des Kolonialismus und des Sklavenhandels entstanden. Man schätzt, dass ab der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 über vier Millionen Sklaven aus Afrika nach Brasilien verschleppt wurden, um im Nordosten der portugiesischen Kolonie auf Plantagen zu arbeiten. Der Begriff ›Candomblé‹ geht wahrscheinlich auf den Gemeinschaftstanz candombe zurück, der von den Sklaven auf den Kaffeeplantagen getanzt wurde (Krippner, 2000, S. 68f.). Candomblé lässt sich anhand der unterschiedlichen Herkunft der Sklaven differenzieren: Der bekannteste ist der Candomblé nagô-ketu der ethnischen Gruppe der Yoruba mit der Unterteilung efà/ijexá. Außerdem gibt es den Candomblé de egum, Xangô mit den Unterteilungen nagô/eba sowie den Batuque der Yoruba-Tradition. Weitere Richtungen sind der Candomblé jeje-mahin und Tambor de Mina der Ewe-Tradition sowie der Candomblé de Angola, der Candomblé de caboclo und die Cabula der Angola-Tradition (Scharf da Silva, 2004, S. 32). Mit den ethnischen Gruppen der Yoruba, Male, Jeje, Fula, Fons, Fanti und Ashanti kamen auch deren Vorstellungen über den obersten Gott Olorum und die ihm unterstehenden orixás5 (auch orishas) nach Brasilien. Auch wenn die orixás mächtig und erschreckend waren, konnte man doch mit ihnen sprechen, sie um Unterstützung bitten und mit Geschenken gütig stimmen. Der Glaube der Yoruba an die eine sichtbare (ayé) und an eine unsichtbare (orúm) Wirklichkeit wurde mit anderen afrikanischen Kosmologien geteilt. Dieses mythologische System mit seinen Ritualen strukturierte die Heilung und die spirituelle Entwicklung der daran teilhabenden Menschen (Krippner, 2000, S. 68). Den ersten Candomblé-Tempel gründeten drei aus der Sklaverei entlassene Frauen in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie wurden mãesde-santo (»Mütter des Heiligen«) genannt. Die Sklaven konnten ihre afrikanische Religion nur im Geheimen6 ausüben, denn bis 1889 war die katholische die einzige offiziell zugelassene Religion in Brasilien.7 Des-
5 | orixá | yorùbá: orìsá, abgeleitet von ori: Kopf; Bezeichnung für eine Gottheit (Scharf da Silva, 2004, S. 233) 6 | Für Johnson (2002, S. 17, 25) bezeichnet ›Geheimhaltung‹ einen diskursiven, rituellen, relationalen und sozialen Prozess der Grenzziehung. 7 | Es gab Massentaufen, bei denen die Sklaven jedoch nicht katechisiert wurden (Pantke, 1997, S. 45).
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wegen wurden die afrikanischen orixás unter dem Deckmantel der katholischen Heiligen verehrt (Krippner, 2000, S. 68). Candomblé ist heute, vom nordöstlichen Bundesstaat Bahia ausgehend, über die gesamte brasilianische Küstenregion verbreitet. In Bahias Hauptstadt Salvador gibt es mehrere tausend Candomblé-Häuser. In Brasiliens größter Stadt São Paulo zählte man im Jahr 1987 etwa 3000 Candomblé-Tempel. Jeder Tempel hat in der Regel mehrere hundert Mitglieder, neben Schwarzen inzwischen auch zunehmend Mestizen und Weiße (Sjqrslev, 1999). Meist sind die Tempel-Mitglieder getaufte Katholiken, ein kleiner Teil besteht auch aus Protestanten (Wafer, 1994, S. 15). Anders als in der katholischen Kirche formuliert keine zentrale Instanz eine Doktrin oder reguliert die Praktiken. Das Tempelleben ist stark durch die Persönlichkeit seines Leiters, des pai-de-santo (»Vater des Heiligen«), oder seiner Leiterin, der mãe-de-santo (»Mutter des Heiligen«), geprägt. Die pais-de-santo oder die mães-de-santo bilden die hauptsächliche Kommunikationslinie zwischen der materiellen menschlichen Welt und der spirituellen Welt der Gottheiten und Geister. Als wichtigste Lehrinnen und Lehrer der Novizen achten sie auf die Einhaltung der Regeln im Tempel (terreiro) und bewahren und vermehren so dessen Lebensenergie (axé) (Voeks, 2003, S. 64f., S. 81). Der Begriff axé bezeichnet die Lebenskraft oder auch die Weltordnung an sich. Axé ist überall in der Natur verbreitet; durch materielle und symbolische Elemente, lebende Wesen oder Gegenstände wird es übertragen. Doch axé gilt als ungleich verteilt – Blut soll z.B. besonders viel enthalten. Wenn in einem Tempel Blutopfer durchgeführt werden, wird in der emischen Vorstellung die Lebenskraft des geopferten Tieres auf die beteiligten Menschen übertragen. Vor allem durch Initiationen im Candomblé kann eine Person individuell axé sammeln und sich damit auch vor Krankheit schützen (Sjqrslev, 1999, S. 192). Aufgaben wie die Verwaltung, das Trommeln oder die Organisation der Tieropfer (axogun) werden von den filhas-de-santo (»Töchter des Heiligen«) oder den filhos-de-santo (»Söhne des Heiligen«) übernommen (Voeks, 2003, S. 65, 74). Das Lebensalter (wie in der brasilianischen Gesellschaft überhaupt) und das Initiationsalter verlangen besonderen Respekt. Die Mitglieder sollen den terreiro finanziell unterstützen (Minz, 1992, S. 56). Im Candomblé stehen die rituellen Handlungen als entscheidende Form der Kommunikation im Vordergrund (vgl. Johnson, 2002). Hier werden die spirituellen Wesen des Pantheons inkorporiert, die ich im Folgenden kurz vorstellen werde.
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Orixás (Gottheiten) Abhängig von der regionalen Gruppe, die sie zählt, existieren zwischen 14 und 23 Haupt-orixás und Dutzende von Neben-orixás. Davis (1996) spricht von mehr als 400 dieser Gottheiten. Die orixás repräsentieren die unterschiedlichen Bereiche der Natur und des moralischen Verhaltens. Als Vater der orixás ist Oxalá z.B. für die Initiation im Candomblé zuständig. Iemanjá wird mit dem Meer assoziiert, als Oxalás Ehefrau werden ihr außerdem mütterliche Eigenschaften zugeschrieben. Mit Ogum verbindet man Krieg und Metall. Als Oxossis Bereich gelten der Wald und die Jagd. Iansã wird als Herrscherin der Winde angesehen. Mit Oxum assoziiert man Flüsse und Seen, aber auch Fruchtbarkeit und Reichtum gelten als ihr Bereich (Becker, 1995, S. 358, 360, 366, 371; Johnson, 2002, S. 204f.). Aufgrund der oben kurz beschriebenen historischen Entwicklung kam es zu Verbindungen mit den katholischen Heiligen: Bei Oxalá gibt es eine Verbindung mit Jesus Christus, bei Iemanjá eine mit der Jungfrau Maria. Ogum ist mit dem Hl. Georg (São George), Oxossi mit dem Hl. Sebastian (São Sebastião), Iansã mit der Hl. Barbara (Santa Bárbara) und Oxum mit der Hl. Katarina (Santa Catarina) verbunden (Krippner, 2000, S. 68).
Exús und pomba giras (Trickster-Figuren) In jedem Tempel existieren exú und sein weibliches Gegenstück pomba gira.8 Exús wichtigste Funktion besteht in dem Prinzip der Deutungsunsicherheit, der Zweideutigkeiten (Gates, 1989). Damit zeigt exú Parallelen zu den Trickster-Figuren anderer amerikanischer und afrikanischer Mythen, die neben die Ordnung eine Unordnung stellen (vgl. Lévi-Strauss, 1975; Evans-Pritchard, 1967).9 Exú gilt als Vermittler zwischen den Menschen und den Göttern, ohne ihn gibt es keine Lebenskraft (axé). Exú ist ambivalent: Er steht einerseits für Konflikte, Gefahr, Unordnung und Bedrohung, andererseits aber auch für die dynamische Kraft, die das Leben erst ermöglicht, für die Bewegung des Körpers, des Denkens, des Sprechens und Kommunizierens, des Handelns und des sexuellen Erlebens. Exú ist der Herr der Wege: Wege, die eine Person weiterbringen und Wege, die sich kreuzen. Man muss ihn sehr rücksichtsvoll behandeln, denn mit sei8 | Nach Becker (1995, S. 126) und Wafer (1994 [1991], S. 16) wird jedem orixá ein bestimmter exú zugeordnet. 9 | Nach Bastide (1978) stellte exú für die Sklaven den Befreier und Feind der Sklavenbesitzer dar: Er tötete diese und trieb sie in den Wahnsinn.
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nem wütenden, gewalttätigen, gefährlichen und auch wachsamen Charakter ruft er Unglücksfälle, Streitereien und Missverständnisse hervor, aber auch hilfreiche Begegnungen. Im günstigen Fall beschützt er die Menschen sowie ihre Häuser, Städte und Tempel (Sjqrslev, 1999, S. 82, S. 181184; Wafer, 1994).
Erês (infantile Begleiter der Gottheiten) Die erês gelten als die infantilen Begleiter der orixás. Wie kleine Kinder sprechen sie mit hoher Stimme, erfinden neue Wörter, lispeln, machen grammatikalische Fehler, lutschen am Daumen und albern herum. Die sozialen Normen und Kontrollmechanismen sind im erê-Zustand aufgehoben, auch alte Damen springen z.B. wild herum oder rollen sich vergnügt über den Boden. Man behandelt die erês liebe- und humorvoll und erfüllt ihnen alle ihre Wünsche (Becker, 1995, S. 100-102; Minz, 1992, S. 45-47).
Espíritos (Geister bedeutender Verstorbener) und egums (Totengeister) In den Candomblé-Tempeln inkorporieren die Medien aufgrund von Kardecismo-Einflüssen auch die Geister bedeutender verstorbener Personen, die espíritos (Minz, 1992, S. 50). Es kommt auch vor, dass Totengeister, die egums, Menschen gegen deren Willen in Besitz nehmen. Im Candomblé existiert die Vorstellung einer individuellen diesseitigen und einer ursprünglichen, gemeinschaftlichen Existenz im Jenseits. Manchmal gelangen Menschen nach ihrem Tod nicht in diese jenseitige Welt, schweben hilflos umher und mischen sich als egums in das Leben der Menschen ein (Sjqrslev, 1999, S. 320). Anders als häufig in der Literatur beschrieben (z.B. Wafer, 1994), werden an meinem hauptsächlichen Untersuchungsort keine Tiere geopfert; laut dem pai-de-santo benötigen die orixás keine Blutopfer mehr. Veränderte Bewusstseinszustände werden hier vor allem über Trommeln und Tanzen initiiert, psychoaktive Substanzen werden nicht benutzt. Der paide-santo ist auch als Umbanda-Priester ausgebildet. Häufig werden auch Umbanda-Zeremonien in seinem Tempel abgehalten. So werden auch Klienten angezogen, die gegen Aspekte jeweils einer der beiden Religionen Vorbehalte haben.
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Die Umbanda10 ist Anfang des 20. Jahrhunderts in Rio de Janeiro und São Paulo aus den verschiedenen Formen des Candomblé hervorgegangen. In dem anschließenden synkretistischen Prozess mit den Elementen europäischer und indigener Glaubensrichtungen entwickelte sie sich zu einer eigenständigen Religion. Zu den Einflüssen gehören neben der Heiligenverehrung und den Moralvorstellungen des Volkskatholizismus, dem Kardezismus und den Vorstellungen und Zeichen der jüdischen Kabbala auch orientalische Elemente wie die Geister der ciganas (›Zigeunerinnen‹) (Scharf da Silva, 2004, S. 56). In São Paulo wurden im Jahr 1987 etwa 45000 Umbanda-Zentren gezählt (Sjqrslev, 1999, S. 10). Dachorganisationen repräsentieren die Umbanda nach außen und vereinigen die Gläubigen durch ihre Registrierung. Doch wie im Candomblé existiert keine universale Lehre; die einzelnen Zentren (tendas), meist in privaten Wohnräumen untergebracht, bilden ihren eigenen religiösen Raum. Um Leiter oder Leiterin einer solchen tenda zu werden, müssen keine universalen Regeln eingehalten oder zertifizierte Fähigkeiten nachgewiesen werden. Mit dem Tod des Leiters oder der Leiterin endet oft die jeweils ausgeübte Praxis (Scharf da Silva, 2004, S. 58, 113). Figge (1980, S. 35) erläutert, dass vor allem 11 orixás in der Umbanda relevant seien. Stärker noch als im Candomblé werden die orixás hier nicht mehr als Naturgewalten gesehen, sondern mit moralischen Eigenschaften assoziiert (Scharf da Silva, 2004, S. 158). Im Mittelpunkt steht exú. Man muss sich mit exú gut stellen, denn ein unzufriedener exú kann großen Schaden anrichten, ein zufriedener hingegen große Unterstützung im Leben bieten (Figge, 1973, S. 39, 49-52). Neben dem Glauben an die Inkorporation von Geistern spielt in der Umbanda die Fluidallehre eine zentrale Rolle: Nach dieser existieren zwei spirituelle, nicht-individuelle Energieformen, eine positive und eine negative, die einander nicht ausschließen. Positive oder negative Energie wird durch Gottheiten, Geister, natürliche Lebewesen, materielle Gegenstände, Handlungen und Gedanken übertragen. Mit der Inkorporation ändert sich entsprechend auch das Energieniveau, beispielsweise steigt mit fehlenden positiven Einflüssen der relative Anteil negativer Energie bei einer Person. Krankheit steht in
10 | Der Begriff ›Umbanda‹ (etwa »Heilkunst«) entstammt ursprünglich der Region des heutigen Angola (Kubik, 1991, S. 160).
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Zusammenhang mit einem Mangel an positiver und einem Überschuss an negativer Energie (ebd., S. 57-61). Wenn man in den Kultort, die tenda, kommt, sieht man einen Altar (congá). Auf mehreren Ebenen stehen bunte Statuen von katholischen Heiligen, am Stock gehenden Schwarzen (pretos velhos bzw. pretas velhas) und bogenschießenden Indianern und Indianerinnen (caboclos bzw. caboclas). Neben ihnen findet man Blumen, Kerzen, Ketten, Zigarren und viele weitere Gegenstände (Figge, 1973). Bei den in der Regel wöchentlich stattfindenden Seelsorge-Sitzungen (sessão de caridade) inkorporieren die Medien die pretos velhos bzw. pretas velhas und die caboclos bzw. caboclas. Anders als im Candomblé stellt die Sprache bzw. das Gespräch die wesentliche Verbindung zwischen den Menschen und den Geistern her: Die Besucher setzen sich direkt vor das Medium und sprechen mit den inkorporierten Geistern. Die Geister unterstützen die Ratsuchenden bei emotionalen und sozialen Alltagsproblemen wie Partnersuche oder Arbeitslosigkeit und bei Heilungsprozessen von Krankheiten (vgl. Scharf da Silva, 2004, S. 58f.). Für die aktiven Umbandisten finden auch Feste zu Ehren einzelner Gottheiten und Sitzungen zur medialen Entwicklung statt (Figge, 1973, S. 6987).
Caboclos/caboclas (Indianergeister) Die männlichen caboclos bzw. die weiblichen caboclas spiegeln in der Umbanda eine Idealvorstellung über die Zeit vor der Kolonialisierung wider. Sie treten meistens selbstsicher, stolz, stark und aufrichtig auf (Figge, 1973, S. 46f.). Entsprechend dem romantisierenden Bild des »edlen Wilden« mit den stereotypen Assoziationen von Reinheit und Unbezähmbarkeit gelten sie als wild und naturnah (Sjqrslev, 1999, S. 179).
Pretos velhos/pretas velhas (Ahnengeister verstorbener Sklaven) Die männlichen pretos velhos bzw. die weiblichen pretas velhas (»alte Schwarze«) sind die Geister verstorbener Kultleiterinnen und -leiter. Als aus Afrika stammende brasilianische Sklaven werden sie mit besonderer Weisheit verbunden. Sie sprechen einen unverständlichen Dialekt, durch ihr hohes Alter und die harte Arbeit auf den Plantagen der Weißen gehen sie gebückt. Sie verhalten sich unterwürfig, bescheiden und freundlich (Figge, 1973, S. 44f.; vgl. Johnson, 2002, S. 52). Häufig fordern sie die Rat-
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suchenden auf, für die katholischen Heiligen Kerzen anzuzünden (Scharf da Silva, 2004, S. 167).11 Eine wesentliche Aufgabe der pretos velhos und caboclos sind rituelle Handlungen zur Energieübertragung, die sogenannten passes. Hierzu streichen die inkorporierten Geister über die Handinnenflächen der Medien am Körper des Klienten entlang und befreien ihn so von negativen Energien (Figge, 1973, S. 112f.). Candomblé und Umbanda sind eng miteinander verwandt, wie sich in den hybriden Formen des Candombanda oder des Umbandomblé zeigt (Scharf da Silva, 2004, S. 15). Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern sowie in Europa und den USA kommen diese beiden Religionen vor (Brown, 1994, S. 2f.).
4.2 D IE PSYCHOSOMATISCHE K LINIK MIT IHREM D ISKURS ÜBER S PIRITUALITÄT Die psychosomatische Klinik besteht seit etwa 20 Jahren. Sie gehört zu einer Gruppe von Kliniken zur Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen.12 Die Klinik hat etwa 100 Betten. Im Durchschnitt bleiben die Patientinnen und Patienten etwa sechs bis acht Wochen, wobei in Absprache mit ihren Bezugstherapeuten auch kürzere und längere Aufenthalte möglich sind. Sie kommen mit ICD-10 Diagnosen aus dem gesamten Bereich psychosomatischer und psychischer Störungen in die Klinik – u.a. Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, BorderlineStörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen oder Zustände nach akuten Psychosen. Etwa drei Prozent der Patientinnen und Patienten haben eine Diagnose aus der Gruppe der Psychosen. In der Regel kommen sehr motivierte
11 | Auch im Candomblé sind die caboclos bzw. caboclas und pretos velhos bzw. pretas velhas relevant, in der Umbanda sind sie jedoch ungleich bedeutsamer (vgl. Sjqrslev, 1999). 12 | An den im nächsten Kapitel beschriebenen therapeutischen Veranstaltungen nehmen z.T. auch Patientinnen und Patienten aus den anderen Kliniken der Klinik-Gruppe teil. Insofern haben etwa 10 von 400 Patientinnen und Patienten der Klinik-Gruppe eine Diagnose aus dem Kreis der Psychosen.
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Patientinnen und Patienten. Dabei wird bei der Auswahl der Patientinnen und Patienten ihre psychische Stabilität berücksichtigt. Die psychosomatische Klinik ist, am Stadtrand gelegen, von waldigen Hügeln, Feldern und einem Park umgeben. Die Klinik besteht aus mehreren, meistens runden Gebäuden, die zu einem großen Teil aus Holz gebaut sind, was für mich eine warme, freundliche Atmosphäre schafft. Die vielen Fenster machen die Räume hell. Zwischen den Gebäuden sind Gärten angelegt, auch sind viele Dächer begrünt. In den Gärten befinden sich meditative Bereiche. Für die Inneneinrichtung wurde viel helles Holz verwendet. Zum Behandlungskonzept gehört auch die vollwertige Küche mit größtenteils ökologisch angebauten Lebensmitteln. Ein Patient nennt als Begründung für die Wahl der Klinik diese vielfältigen Aspekte. IP: Ich hatte den Eindruck, als ich das gelesen hatte, dass ich hier gut aufgehoben bin und dass die Leute sich hier auch wirklich, dass sich die Leute wirklich meiner Sache annehmen hier. Das war einfach mein Eindruck, nach dem, was ich auch so gelesen hab und gehört hab. Und wie viele Einrichtungen es gibt, wo die Leute eigentlich schlimmer rauskommen, als sie rein gekommen sind. Das war einfach auch von den Räumlichkeiten her, mit den ökologischen Aspekten, die hier berücksichtigt werden, auch das Essen halt, das hat mich sofort angesprochen.
In der Klinik gibt es ein dichtes Therapieangebot. Dabei ist zu berücksichtigen, dass akute Psychosen hier nicht behandelt werden können.13 Für die Patientinnen und Patienten wird in Kooperation mit dem zuständigen Arzt oder Diplom-Psychologen jeweils ein individueller Behandlungsplan erarbeitet. Wichtige, sich ergänzende Ansätze liegen in den Bereichen der psychopharmakologischen Behandlung, der psychotherapeutischen Gruppentherapie und Einzelgespräche, der störungsspezifischen psychoedukativen Gruppen, der Körper- und Bewegungstherapie, der kreativen Therapien, der Soziotherapie, der therapeutischen Gemeinschaft und der Meditation. 13 | Allerdings wurden in den Anfangsjahren auch Patientinnen und Patienten mit akuten Psychosen in der Klinik über mehrere Monate stationär behandelt. Inzwischen werden aber nur noch die genannten kurzen Zeiträume von den Versicherungen finanziert, so dass eine größere Stabilität der Patienten notwendig ist. Das Behandlungskonzept war also – unter der Voraussetzung der entsprechenden zeitlichen Dauer – auch für akute Psychosen angelegt.
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Ich greife im Folgenden einige Ansätze heraus, die mir für meine Untersuchung besonders relevant erscheinen. Das zentrale Angebot, auch für Patientinnen und Patienten mit der Diagnose Psychose, ist die dreimal wöchentlich stattfindende 100-minütige Psychotherapie in der „Kerngruppe“. Diese besteht aus acht Patienten und wird von dem zuständigen Arzt bzw. der zuständigen Ärztin und einem weiteren Therapeuten geleitet. Dazu kommen allgemeine Veranstaltungen, an denen i.d.R. alle Patienten teilnehmen – wie das »Forum« (vgl. Kapitel 5.4.2), sowie spezifischere Veranstaltungen, zu denen ebenso wie bei der Therapiegruppe die Zuweisung durch die Diagnose beeinflusst ist. Wöchentlich gibt es als allgemeines Angebot eine etwa zweistündige Veranstaltung, das »Plenum«, in dem sich die weggehenden Patienten verabschieden und die neu angekommenen vorstellen (vgl. Kapitel 5.5.2). Wichtige spezifische Veranstaltungen sind »Taketina« oder »Heilkraft der Stimme« (vgl. Kapitel 5.3.2 und 5.4.2). Andere Angebote sind Malen, die Kochgruppe, Garten- oder Projektarbeit wie Holzarbeiten, das Im-Wasser-Gehalten-Werden, Massage und Meditation. Die Patientinnen und Patienten übernehmen auch Aufgaben wie die Verwaltung der Bibliothek, das schwarze Brett oder das Amt des Patientensprechers. In einer »Entlassung-Vorbereitungsgruppe« werden praktische Fragen zur Berufs- und Wohnungssituation, zur finanziellen Lage und zur weiteren Behandlung besprochen. Die Zusammenarbeit der Klinik mit ambulanten therapeutischen Einrichtungen nach dem stationären Aufenthalt, die mögliche Teilnahme an Ehemaligen-Gruppen von Patientinnen und Patienten sowie die Möglichkeit, als Besucher in die Klinik zurückzukehren, könnten wichtig für die Herstellung von Kontinuität sein. Ein Kriterium, das in dieser Beschreibung allen therapeutischen Angeboten zugrunde liegt, ist die Gruppenbezogenheit als Besonderheit der Klinik. In den Aussagen einer Therapeutin finden sich Hinweise, dass die Gruppe eine wichtige Ressource14 darstellt. IP: Ich denke, auch in unserer Klinik, wir haben ja auch ein Gruppensetting, überwiegend in Gruppenarbeit, und es ist für viele – gerade in meiner Gruppe – sehr schwierig, das auszuhalten, in der Gruppe zu sein, und für manche ist es ein zu großer Schritt. Und dennoch ist es enorm wichtig, weil es gerade bei diesen Patienten um Kontakt- und Beziehungsstörungen geht. So dass es – so schwierig es für sie ist – auch da eine große Chance ist, in diesem Gruppenkontext, und 14 | Zum Konzept der ›Ressource‹ vgl. Hobfoll (2001).
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auch das, was wir hier Therapeutische Gemeinschaft nennen, was hier auch eine besondere Qualität hat, was ich auch immer wieder höre von den Patienten und auch erlebe, dass schon in dieser Therapeutischen Gemeinschaft eine Bereitschaft ist, im Großen und Ganzen zumindest eine Bereitschaft ist, den anderen so zu nehmen, wie er ist. Und das ist eine der grundlegenden und wichtigsten Erfahrungen, die diese Patienten machen können: Es gibt jemanden, der mich so nimmt, wie ich bin. Und nicht nur, dass ich dann akzeptiert werde, wenn ich Leistung erbringe oder wenn ich mich zur Verfügung stelle oder wenn ich eine Rolle einnehme, oder wie auch immer, sondern wirklich diese grundlegende Erfahrung zu machen: Ich werde so angenommen, wie ich bin.
Für die Interviewpartnerin stellen Kontakt- und Beziehungsstörungen bei vielen Patientinnen und Patienten zentrale Gründe für die Relevanz der Gruppenbezogenheit dar. Für die umfassende Wirkung der Gruppe und das hiermit verbundene Erleben von Akzeptanz werden in den folgenden Kapiteln viele Beispiele präsentiert. Daneben spielt in der Behandlung ein spiritueller Diskurs eine relevante Rolle, wie eine andere Therapeutin beschreibt: IP: Dass diese Dimension, diese spirituelle Dimension mit eingeladen wird. Und ich glaube, dass die meisten Therapeuten, die hier arbeiten, das irgendwie auf ihre ganz eigene Art und Weise tun. Und dass es die Klinik einfach sowieso grundsätzlich tut. […] sondern, ne, im Gegenteil, die ist schon wie installiert. I: Die spirituelle Dimension? IP: Ja, genau, die ist wie installiert, vorinstalliert, ja, das Feld ist offen dafür, aber dann braucht’s aber immer wieder in jeder, in jedem Kontakt auch mit dem Patienten es dann aber auch immer wieder, es auch zu tun. Den Raum auch da wieder aufzumachen dafür.
Innerhalb des spirituellen Diskurses scheinen unterschiedliche therapeutische Methoden zu existieren, wie eine weitere Therapeutin beschreibt: IP: Und das ist vielleicht auch, was die Klinik ausmacht, dass sie sagt, sie bezieht dieses Konzept oder diese Idee von Spiritualität mit ein und ist gleichzeitig auch sehr offen. […] Und so erleb’s ich’s auch, dass da wirklich jetzt von den Therapeuten und Ärzten da jeder auch seinen unterschiedlichen Zugang hat und es gibt sicher so Dinge, die sich auch berühren. […] wir beziehen uns auf was Größeres und da gibt’s sicher auch einzelne Punkte, da berührt sich’s sicher auch.
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Innerhalb der Bedeutungsvielfalt im spirituellen Diskurs, die sich in der Methodik zu spiegeln scheint, sieht die Interviewpartnerin auch Überschneidungen, auf die ich im fünften Kapitel zurückkommen werde. Die Existenz eines spirituellen Diskurses in der Klinik scheint für viele Patienten ein wichtiger Aspekt zu sein, sich gerade für diese Klinik zu entscheiden, wie zum Beispiel bei dieser Patientin. IP: Also, es gibt sehr viele, glaube ich, schon auch sehr gute Kliniken. Ich hab mir auch schon einige angeguckt, auch meine Ärztin, die mich quasi eingewiesen hat, hat mir mehrere Vorschläge gemacht. Und ich hab mir dann die Beschreibung angeguckt und durchgelesen, was bei vielen durchklingt, ist, dass es sehr methodisch ist. […] Und was mir halt hier jetzt gefallen hat, ist halt dieses ganzheitliche Menschenbild, dass Spiritualität Platz hat, dass sie irgendwie ’ne andere Art haben zu arbeiten. Ja, man kann’s nicht erklären, das ist so ein, doch anderes Konzept, das mich einfach persönlich angesprochen hat, weil ich das Gefühl hatte, da könnte ich mich einlassen. […] Und daher habe ich mir schon was gesucht, was mich wirklich persönlich, also da hab ich wirklich ein gutes Gefühl.
Sie grenzt die »ganzheitliche« Klinik explizit von Kliniken ab, die sehr »methodisch« sind. Im fünften Kapitel werden detailliert Merkmale herausgearbeitet, die die Patientin »persönlich angesprochen« haben könnten. Die konzeptionelle Offenheit und Breite des spirituellen Bedeutungssystems könnte ermöglichen, dass hieran Personen mit ganz unterschiedlichem religiösen Hintergrund anknüpfen können. Eine andere Patientin findet hier eine Übereinstimmung mit etwas, das sie kennt, und auch die Möglichkeit, unterschiedliche Formen von Spiritualität zu erfahren. IP: Das Spirituelle ist für mich hier, dass ich den Eindruck hab, dass hinter allem, dass die meisten, die hier arbeiten, wirklich etwas Größeres, Höheres hinter allem sehen. Das geben die nicht preis. […] Und es ist auch gut, dass sie das bedeckt halten, weil jeder sich den Raum selber suchen kann. Aber dass es etwas Größeres, Höheres gibt, was uns trägt und hält, ist, was ich in Meditationen mitkrieg’. Und bei meiner Haupt-Therapeutin auch ganz deutlich. Und das ist nicht, das ist kein Zufall, dass ich bei ihr bin, weil das für mich schon wichtig ist. Ja, das wiedergefunden zu haben. Das ist für mich Spiritualität. Manche nennen das Gott. Ich hab am Anfang dann auch wieder mir son’ paar christliche Symbole zugelegt hier. Ich war auch mal in einer christlichen Messe, wo ich merk’, das
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stimmt nicht mehr ganz für mich. Ich hab das in der Atemgruppe15 mit der, der schamanischen Musik. Ich merk’, ich hab ’nen ganz dollen Bezug zur indianischen Kultur. Wenn ich auf der Erde lieg’, total […] fühl’ ich mich total getragen also. Das ist, ich hab da ’ne andere Art Spiritualität.
Im Einleitungsteil habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Konzepts der spirituellen Krise in der Klinik meine Entscheidung für diese Einrichtung beeinflusst hatte. Allerdings spielt die Konzeptualisierung scheinbar psychischer Störungen als spirituelle Krisen auf den ersten Blick nur sehr begrenzt eine Rolle. Denn für eine Therapeutin sind die »reinen spirituellen Krisen« sehr selten. IP: Die reinen spirituellen Krisen sehe ich hier ganz, ganz selten. Weniger als ein Prozent. Also, wirklich Menschen, die deswegen hierher kommen. Ich hatte jetzt eine Frau, die aus dem Orden austreten wollte, wo ich jetzt sagen würde, »ja«, da war wirklich die Frage: »Wie diene ich Gott am besten?« 16
Die Mischformen zwischen einer spirituellen Krise und einer psychischen Störung finden sich zwar häufiger, sind aber immer noch marginal. I: Und wie ist es mit den Mischformen, also, dass eine spirituelle Krise einhergeht mit psychischer Krankheit? Wie oft kommt das vor? IP: Na ja, das sind relativ viele hier […], also, ich würde sagen, bis zu zehn Prozent unserer Patienten.
Trotz seines marginalen Auftretens ist es jedoch interessant, das Konzept der spirituellen Krise differenzierter zu betrachten, weil sich hier ein bestimmtes Selbstverständnis der Klinikmitarbeitenden zeigt. Denn mit diesem Konzept scheint sich zum einen eine Möglichkeit aufzutun, in psychischen Störungen ein Entwicklungspotential zu sehen. Zum anderen lässt sich mit dem Konzept der spirituellen Krise pointiert die konzeptionelle und praktische Koexistenz und auch Wechselbeziehung von Spiritualität 15 | Die Atemgruppe gilt im Klinik-Diskurs für Patientinnen und Patienten mit den Diagnosen Psychose oder dissoziative Störung als nicht geeignet. Deswegen habe ich diese Veranstaltung in dieser Arbeit nicht dargestellt. 16 | Vgl. die unter 4.2.1 vorgestellte Definition einer »spirituellen Krise« nach Grof und Grof (1990a).
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und einem medizinischen Verständnis von psychischen Störungen erläutern. In den Worten einer Therapeutin klingt das so: I: Und was ist eine spirituelle Krise und wie sind da die Zusammenhänge mit psychischer Störung? IP: Ich glaube, es kann sehr ähnlich aussehen wie ’ne psychische Störung oder ’ne psychische Erkrankung. Einer der wesentlichen Unterschiede ist sicherlich, dass man von ’ner spirituellen Krise hauptsächlich zumindest dann sprechen sollte, wenn ein Mensch einen ganz intensiven inneren spirituellen, religiösen, wie man das auch nennen will, Weg gegangen ist, intensiv darauf gegangen ist und dann über die intensive Wegerfahrung in eine Krise gerät. […] Wenn jemand ihn intensiv geht und dann psychische Symptome auftreten, die auch einer psychischen Störung gleichen, dann würde ich anfangen zu fragen, was genau liegt jetzt da vor. Von der Behandlung her, glaube ich, muss es nicht einmal einen riesengroßen Unterschied machen, ob’s ein psychisches Störungsbild ist oder ’ne spirituelle Krise, mit der Ausnahme, dass, wenn ein Mensch wirklich in einer spirituellen Krise ist, ist es wichtig, dass der Begleiter selbst um den spirituellen Weg weiß, den kennt, selber auch Gefahrenmomente dieses Weges an sich erlebt hat und aus diesem Verständnis heraus begleiten kann. Aber ich glaub’, was ganz typisch ist, das sehen wir hier in X. ständig, ist, dass das Mischbilder sind, dass es die reine spirituelle Krise wahrscheinlich nur ganz selten gibt, dass ein intensiver innerer oder spiritueller Weg ganz oft psychische Themen, lang verschüttet gegangen, an die Oberfläche bringt. Und in diesem intensiven inneren Wandlungsweg auch psychische Themen wie mit bewegt werden wollen und das dann die Aufgabe auch einer Psychotherapie oder einer Begleitung einer spirituellen Krise ist.
Menschen mit spirituellen Anliegen finden neben der grundsätzlichen Haltung der Klinik-Mitarbeitenden und der Beeinflussung der therapeutischen Praxis durch Spiritualität auch spezielle Angebote, wie es eine Therapeutin beschreibt. I: Und gibt’s da jetzt Unterschiede bei der Behandlung von psychischer Krankheit ohne diesen spirituellen Aspekt bzw. von diesen Mischformen? Werden die Patienten dann anders behandelt? IP: Ja, also, hier werden sie anders behandelt, weil sie ja zum Teil sogar die Gruppe wählen können, wo die Spiritualität im Vordergrund steht; dass sie eben auch diese Indikationsgruppe »spirituelle Krisen« wählen können und dass sie auch die Sprechstunde für religiöse und spirituelle Fragen nutzen können. Und
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ja auch jetzt eine Seelsorgerin haben, die Ansprechpartnerin für diese Themen sein kann, wenn sie mit einem christlichen Hintergrund groß geworden sind. Also, ich glaube, wir bieten relativ viele Dialogmöglichkeiten und viele Ansprech-Varianten, das zu explorieren. Und wir bieten ja auch den Meditationsweg an, also, dass man jeden Tag meditieren kann, morgens und abends.
Relevante Besonderheiten des Settings liegen in der Gruppenbezogenheit und der Existenz eines spirituellen Diskurses. Spiritualität scheint zum einen, ebenso wie die Gruppe, eine Ressource für den Umgang mit psychischen Störungen zu bieten, zum anderen scheinen psychische Störungen z.T. mit spirituellen Fragen und Praktiken zusammenzuhängen. Deswegen ist es wohl für die Patientinnen und Patienten wichtig, dass hier ein spiritueller Diskurs eine relevante Rolle spielt.
4.2.1 Hintergrundinformationen aus der Literatur Die transpersonale Psychologie und Psychotherapie wurde in der Tradition von James und Jung gegen Ende der 60er Jahre in den USA aufgebaut (vgl. Walsh & Vaughan, 1985). Sie entstand innerhalb der Humanistischen Psychologie als Erweiterung der humanistischen Hervorhebung der Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung um Spiritualität und transzendentale Bedürfnisse (Grof, 1985). Grof (1987) versteht unter transpersonalen Erfahrungen »die erlebensmäßige Ausdehnung oder Erweiterung des Bewusstseins über die gewöhnlichen Grenzen des KörperIch sowie über die Beschränkungen von Raum und Zeit« (S. 64). Neben Anthony Sutich (1969) war der zentrale Vertreter der Transpersonalen Psychologie Abraham Maslow (1978), der in einer Untersuchung mit Menschen, die spontane mystische Zustände hatten, sogenannte »Gipfelerlebnisse«, erläuterte, dass solche Zustände nicht pathologisch, sondern über dem Normalen stehend seien und mit einer Tendenz zur Selbstverwirklichung einhergingen. Daneben hat der Psychoanalytiker Assagioli (1992) mit seinem Modell der Psychosynthese die Entwicklung der Transpersonalen Psychologie maßgeblich beeinflusst. Für ihn waren viele Phänomene, die in der psychiatrischen Konzeption als psycho-pathologische Manifestationen verstanden wurden, die Begleiterscheinungen einer spirituellen Öffnung. Auch für Grof und Grof (1990a) sind »viele ungewohnte Geisteszustände, selbst solche, die dramatisch sind und psychotische Ausmaße annehmen, nicht notwendigerweise Symptome für Krankheit im medizi-
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nischen Sinne« (S. 23). Die Autoren sehen derartige Zustände als »Krisen in der Evolution des Bewußtseins, als ›spirituelle Krisen‹, die mit den Zuständen vergleichbar sind, die in den verschiedenen mystischen Traditionen der Welt beschrieben werden« (ebd., S. 23). Pathologische Etikettierungen und unterdrückende Maßnahmen wie die Symptomkontrolle durch Medikation können für Grof und Grof das positive Potential des Prozesses verringern. »Es ist unbedingt notwendig, dass sie die Vorstellung aufgeben, krank zu sein, und erkennen, daß ihre Krise heilsam ist« (Grof & Grof, 1990b, S. 228). Aufgrund der pathologischen Etikettierung bleibe das persönliche Wachstumspotential, das in einer spirituellen Krise stecke, größtenteils unberücksichtigt (Krippner & Welch, 1992, S. 212; Grof & Grof, 1990b, S. 228).17
4.3 D IE G EMEINDEPSYCHIATRIE FÜR DIE M APUCHE Der gemeindepsychiatrische Ansatz wurde in einer chilenischen Kleinstadt das erste Mal Anfang der 70er Jahre praktiziert, als die Patientinnen und Patienten wieder in das gesellschaftliche Leben integriert werden sollten. Sie waren bisher in einem großen Gebäude aus Holz, das seit den 40er Jahren als psychiatrisches Asyl diente, isoliert untergebracht. Nun wurde den Patientinnen und Patienten erlaubt, im großen Garten des Asyl-Geländes Gemüse anzubauen und anschließend auf dem Markt zu verkaufen. Sie durften das psychiatrische Asyl für Ausflüge verlassen und ansatzweise wurde versucht, sie in ihre Familien zu reintegrieren. Neue Patientinnen und Patienten wurden möglichst nicht mehr hospitalisiert. Die gemeindepsychiatrische Reform wurde mit Pinochets Putsch allerdings sofort wieder rückgängig gemacht und Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie wieder im Asyl, von der gesellschaftlichen Außenwelt weitgehend isoliert, interniert. Erst Anfang der 90er Jahre wurde an die 20 Jahre zuvor unternommenen Reformversuche angeknüpft und das psychiatrische Asyl erneut durch eine gemeindepsychiatrische Versorgung ersetzt. Nun wurden Patientinnen und Patienten auch wieder in ihre 17 | Nach der ICD-10 und dem DSM-IV ist eine Zusatzdiagnose möglich: eines religiösen oder spirituellen Problems bei Glaubensproblematiken (DSM-IV: V62.89) oder eines Trance- oder Besessenheitszustandes (nach ICD 10: F44.3) (American Psychiatric Association, 1998; WHO, 1993).
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Gemeinden zurückgeschickt. Das Gebäude des ehemaligen Asyls diente dann ab Mitte der 90er Jahre bis zu seiner endgültigen Schließung im Jahre 2002 nur noch als Altersheim für die alten Patientinnen und Patienten, die nicht mehr woanders wohnen konnten (einige Patienten lebten somit mehr als 30 Jahre im Asyl). Es wurde eine ambulante psychiatrische Versorgung aufgebaut; hierfür ist die Voraussetzung eine grundlegende Stabilität der Patienten. Wenn Patientinnen und Patienten mit schweren psychotischen Krisen stationär behandelt werden müssen, werden sie in ein angrenzendes Krankenhaus eingewiesen. Müssen sie länger als einen Monat stationär behandelt werden, werden sie in die konventionelle Psychiatrie der nächsten Großstadt gebracht, wie ein Mitarbeiter erläutert. IP: They would be usually healed in uphill [gemeint ist das Krankenhaus, zu dem die Gemeindepsychiatrie gehört], but if the crisis is very strong or the person, for example, last week we had a patient who was trying to kill herself. They are taken to X. because in X. they have a bigger facility, and they have the electric treatments. […] people are bent to the beds if they are in a psychosis […] no, uphill they are not tied to beds or something like that, but in X. there is a place where they can be like that if it is necessary because X. is more old-fashioned. They don’t look for the community style or attention that is implemented here.
Die ambulante Psychiatrie ist relativ klein; das Gebäude besteht aus einem Gang, von dem verschiedene Zimmer abgehen. An dem einen Ende befinden sich die Büros der Psychologen, der Psychiaterin, der Sozialarbeiterinnen, der Sekretärin und der Krankenschwestern. In der Mitte des Ganges gibt es ein Wartezimmer mit etwa 10 Stühlen für die Patienten. Daneben liegen weitere Räume für Behandlungen. Insgesamt werden etwa 700 Patientinnen und Patienten in der Gemeindepsychiatrie versorgt; es wird in der Psychiatrie nach ICD-10 diagnostiziert. 127 Patienten haben die Diagnose ›Schizophrenie‹. 67 von diesen Patienten mit der Diagnose ›Schizophrenie‹ gehören der ethnischen Gruppe der Mapuche an. Das Setting ist für mich der physische Kontakt zwischen den Mitarbeitern der Psychiatrie und den Patientinnen und Patienten bzw. ihren Angehörigen, der zum einen in den beschriebenen Gebäuden der Psychiatrie stattfindet, zum anderen vor allem im familiären Alltag der Patienten. Die Kernarbeit liegt in der Versorgung der Patientinnen und Patienten in ihren Familien, hier werden sie von den Sozialarbeiterinnen besucht
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und medizinisch versorgt. Eine Sozialarbeiterin weist darauf hin, wie die soziale Diagnose die psychiatrische beeinflussen könne, indem die Probleme sozial eingebettet würden. D: I usually go to the countryside and do social-economical evaluations and also work with family and social diagnosis. I: Ah, ›social diagnosis‹. What does this mean? D: It consists of history and anamnesis it’s called, then there is identification of the stress agents, the strengths and weaknesses of the family to identify the problem. I: How is this social diagnosis related to the psychiatric one? D: Sometimes the social diagnosis questions the psychiatric diagnosis because it shows things that cannot be seen in the hospital. I: What, for example? Could you describe it? D: For example, in the case of few years ago there was a young man with a schizophrenia diagnosis. First process, and the social economical report that Señora X. was asked to do showed that there was domestic violence for over twenty years in the man’s family and the psychiatrist said that reading the report she had doubts about her own diagnosis. Eventually it was schizophrenia, but it was important that she realized that the social context could give more information of the reality of the patient.
Durch die Hausbesuche kann aus Sicht einer Krankenschwester ein besonderes Vertrauensverhältnis entstehen. D: People are more trusting in their houses, they are more welcome, for example, you can gain a bit more information going to them because in here people only talk as much as they need. In their homes they are more receptive, […] I sense that it creates another kind of environment and the feelings, more like community feelings.
Außerdem kommen die Patientinnen und Patienten zu den medikamentösen Behandlungen in die Psychiatrie, wie ein Mitarbeiter erläutert. IP: […] They usually only come for the drugs. And then they go back home, and the service, the psychiatry service sends the social assistant to provide as much help as possible.
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Die Patientinnen und Patienten bekommen in dem psychiatrischen Gebäude Medikamente und Psychoedukation zum Umgang mit der Medikation; begrenzt wird auch Psychotherapie angeboten, wie eine Therapeutin beschreibt. I: Besides giving medication, what do you as a psychologist do with them? D: […] I basically do work in emotional support of the patient and I also try very hard to discover all the patient’s needs, the patient’s conflicts and try to work with the patient trying to solve and also to rank the importance of these problems, conflicts or needs and help them with them.
In der Psychiatrie werden zwei Patientengruppen behandelt, die auf unterschiedliche Weise mit Schizophrenie zurechtkommen müssen: Patienten, die auf dem Land leben, und Patienten in der Stadt, wie eine Sozialarbeiterin erläutert: D: I make a distinction between the urban patients and the countryside patients. The urban patients usually lose their jobs and their development stops and they are usually doing nothing during the day, and they are very young usually. And on the other hand, the countryside patients are usually integrated in the job.
Einige Patienten, die in der Stadt leben, kommen oft in die Psychiatrie. Sie schauen z.T. jeden Tag hier vorbei und halten sich hier auf. Mitarbeiter erklärten, dass für viele Stadtpatientinnen und -patienten die Psychiatrie wie eine informelle Tagesklinik sei. Eine Sozialarbeiterin spricht die Relevanz der familiären Integration der Mapuche-Patienten auf dem Land im Gegensatz zur Stadt an. Hiermit scheint die Aktivierung spezifischer Ressourcen im Umgang mit Schizophrenie zusammenzuhängen, auf die ich in den folgenden Kapiteln zurückkommen werde. D: I have seen that each case is different to the other, but in general, we could say that in the countryside the patient is more accepted, the family is more resigned, resignation, a better resignation to dealing and coping with the patient. […] I think that is because people in the countryside are more united and tend to understand better the situation with an ill relative, while in the cities the family is very embarrassed, they feel ashamed about having an ill person in their group, they live thinking about what the other people would say about them.
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Die Mapuche-Patientinnen und -Patienten leben in verschiedenen Gemeinden im Umkreis um die Kleinstadt. Sie wohnen in den Familien wie die anderen Familienmitglieder. Die Häuser sind aus Holz und etwa 20 bis 40 Quadratmeter groß. Je nach Familiengröße gibt es zwei oder drei dieser kleinen Häuser. Gedeckt sind sie mit Wellblech, selten mit Ziegeln. Im Haus befinden sich eine Kochstelle mit Herd und ein Tisch mit Stühlen. Dies ist der Koch-, Ess- und Aufenthaltsraum. Oft steht hier nun auch ein Fernseher, denn die Gemeinden haben in den letzten Jahren Strom bekommen. Geschlafen wird oft im anderen Haus. Der Fußboden in den Häusern besteht je nach Wohlstand aus Holz, Beton oder Fliesen. Es gibt relativ wenig Privatsphäre. Wasser kommt aus Brunnen, die jetzt mit Elektropumpen betrieben werden. Die Häuser liegen vereinzelt in den Feldern. Der Abstand zu den Nachbarn ist unterschiedlich groß, in der Regel beträgt er einige hundert Meter. Die Felder sind relativ klein, mit Bäumen und Zäunen dazwischen. Eine Kern-Familie besitzt etwa zwischen 2 und 11 Hektar. Viele Gemeindebewohnerinnen und -bewohner sind miteinander verwandt, Geschwister oder Cousins und Cousinen. Die Größe der Gemeinden variiert zwischen etwa 30 und 200 Haushalten mit einigen hundert bis zu mehreren tausend Bewohnern. Katzen, Hunde, Hühner, Schweine laufen um die Häuser herum. Daneben haben die Haushalte einige Kühe. Auf den Feldern werden Weizen, Lupinen und etwas Hafer angebaut. Die Busse fahren aus den Gemeinden, die wir besuchen, nur ein oder zwei Mal täglich in die Stadt mit der Psychiatrie. Obwohl die Fahrkarte nur etwa 300 Pesos (etwa 50 Cent) kostet, haben die Patientinnen und Patienten manchmal kein Geld dafür. Dann kommen sie nicht zu den Untersuchungen in die Psychiatrie (z.B. wegen weißer Blutkörperchen bei Leponex). Die Besonderheit des Ansatzes in der Behandlung ergibt sich daraus, dass die psychiatrische Medizin in die Mapuche-Gemeinden gebracht wird, wie eine Sozialarbeiterin schildert. D: The main intercultural factor in my job is that I have to apply the western medicine in the communities. So I have to go to the countryside, I have to learn the traditions and the things that they usually do. So I can move myself in there and help the hospital medicine to reach these people in order to that I need to know these people and understand them.
Wenn Patientinnen und Patienten parallel zur schulmedizinischen Behandlung eine oder einen machi (Mapuche-Heiler/in) aufsuchen möchten,
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wird dies von dem psychiatrischen Team respektiert. Dabei sollte die schulmedizinische Behandlung fortgesetzt werden, wie eine andere Sozialarbeiterin schildert. I: What are, well, the intercultural aspects of your work? D: I think it would be the respect and the acceptance to the treatment that the patients choose to use, but we always make a lot of effort to convince the patient to continue with the psychiatric medication, but we don’t prevent them going to healers or to other traditional systems or maybe religious systems, we always try to keep them in the medication.18
Es ist typisch, dass Menschen auf dem Land zuerst zu den machis gehen und danach mit der Psychiatrie in Kontakt kommen. Die machis schicken ihre Klienten zur Behandlung ihrer psychotischen Symptome auch in die Psychiatrie; die medizinische Behandlung gilt als schneller, wie eine Krankenschwester beschreibt: D: A big percentage of the patients have already gone to a machi, who are alternative cultural options, and many of them have been told by the machi or the cultural agent that their sickness is a medical sickness, they are sent by them to the hospital. But in general, most of them still choose the traditional options. I: In general the machis, they don’t cope with psychotic symptoms? D: I have seen the machis give them waters and special treatments besides asking the patients to go to the hospital in parallel. Like in an effort to complement or try to attack by two ways the same disease, and also I have seen that many patients choose to come to the hospital because they want a faster system to be healed. But in general, usually the cultural agent tells the person to come to the hospital.
Die Behandlung bei den machis ist allerdings teuer, während die staatliche Krankenhaus-Behandlung für die Mapuche kostenlos ist.19 18 | Es wird noch deutlich werden, wie die moderne psychiatrische Medizin die traditionellen Heilmethoden legitimiert (vgl. Behrend & Luig, 1999). Denn der Erfolg im Umgang mit den Symptomen wird von den Patienten und ihren Angehörigen nicht nur auf die Medikamente, sondern auch auf die Behandlungen durch die machis zurückgeführt. 19 | Schon Faron (1989, S. 324) weist auf die hohen Kosten einer Behandlung durch eine/n machi hin.
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Der Begriff der Interkulturalität bezieht sich auf die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern der Psychiatrie mit einem chilenischen Hintergrund und den Patienten, die einen Mapuche-Hintergrund haben, wie ein Therapeut zusammenfasst. D: The communication with the patients is intercultural but the treatment wouldn’t be […], but the communication is very important because we are inside an intercultural environment, an intercultural community. So the dialogue and the communication is very intercultural.
Für Schlehe (2006) zeichnet sich interkulturelle Kommunikation dadurch aus, »dass mindestens einer der Akteure die Kompetenz besitzt, sich partiell der Kodes des Anderen zu bedienen und sich entsprechend auszudrücken und zu verhalten« (S. 52). Inwieweit kann die Gemeindepsychiatrie diesem Anspruch gerecht werden? In der Aussage einer Sozialarbeiterin wird zunächst deutlich, dass ihre Kommunikation mit den Mapuche-Patienten eine Besonderheit aufweist. I: Do you communicate in a different way with the Mapuche people than with the Chilean people? D: I think I talk to them the same way, as I would talk to anyone, but I do give them more time, because I want to make sure that they understand me and I understand them, because I realize we don’t talk the same language. We have to talk my language because I don’t know their language, and I am very aware that they are talking in their second language, and that’s why I have to take more time, to make sure that I can give them the right attention.
Sie spricht an, dass das gegenseitige Verstehen aufgrund der sprachlichen Probleme mehr Zeit brauche. Ich werde in den nächsten Kapiteln mehrere dichte Beschreibungen von Begegnungen mit den Mapuche-Patienten präsentieren, so dass die Spezifik der Interaktion deutlich wird. Hierbei wird auch an Beispielen erläutert werden, inwieweit die Psychiatrie eine unterstützende Rolle für die Patientinnen und Patienten auf dem Land spielt, wie sie von einer anderen Sozialarbeiterin angesprochen wird. D: They continue to work, but the first reaction of the family is to put them aside and think that they need to rest. But with education we teach them that it is wor-
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se for the patients to be left without activity, so we enforce, we encourage that they are introduced again in their works.
Die Interviewpartnerin beschreibt, dass die Psychiatrie Psychoedukation in Bezug auf das soziale Zusammenleben anbietet: die Familien würden dazu angehalten, die Patienten in die gewohnten Arbeiten und Aktivitäten zu reintegrieren. Die Gemeindepsychiatrie ist durch zwei wesentliche Charakteristika gekennzeichnet. Erstens gehören viele Patientinnen und Patienten der ethnischen Gruppe der Mapuche an. Und zweitens leben sie weiterhin in ihrem gewohnten familiären Umfeld, wo sie von den Mitarbeitenden der Psychiatrie zur Versorgung aufgesucht werden.
4.3.1 Hintergrundinformationen aus der Literatur Bei der Volkszählung 1992 erklärte etwa eine Million der über 14 Jahre alten Befragten20, dass sie zur ethnischen Gruppe der Mapuche gehörten. Etwa die Hälfte von ihnen lebt in Städten, etwa ein Viertel auf dem Lande in der Araukanie, dem alten Mapuche-Gebiet in der achten, neunten und zehnten Region Chiles (Schindler, 1998, S. 71). Der Ausdruck ›Mapuche‹ ist die Eigenbezeichnung dieser Ethnie: Che bedeutet Mensch und mapu Land oder Gebiet, so dass sich Mapuche mit »Menschen dieses Landes« übersetzen lässt (Schindler, 1990, S. 12). Die kleinen Familienhöfe reichen heute nicht mehr aus, um die Familien ausreichend zu versorgen. Die Mapuche sind als Konsumenten industriell gefertigter Güter und Verkäufer landwirtschaftlicher Rohstoffe Teil der Marktökonomie geworden (vgl. Sznajder, 2003). Aufgrund der allgemeinen Landknappheit und der niedrigen Produktivität der Viehwirtschaft sind die ökonomischen Ressourcen gering. Junge Erwachsene können nicht länger in die Gemeindewirtschaft mit einbezogen werden und gehen zum Geldverdienen in die Städte. Allerdings bieten die Reziprozität und die Kooperationsregeln in den Gemeinden trotz der schwierigen ökonomischen Bedingungen weiterhin wichtige Ressourcen. Die einzelnen Nuklearfamilien als grundlegende ökonomische Einheiten unterstützen sich reziprok und stellen so das ökonomische Überleben der Gemeinden sicher (Kradolfer, 2003). Der 20 | Bei einer Bevölkerungszahl in Chile von etwa 14 Millionen Menschen (Schindler, 1998, S. 71).
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ökonomische Aspekt ist Teil des Alltagslebens in den Gemeinschaften und eng mit dem sozialen, kulturellen und politischen Leben der Mapuche verbunden (Coordinación de Organizaciones Mapuche, 2003). Das Konzept der Gemeinde (»comunidad«) hat für die Mapuche eine sehr positive Konnotation. Zwar wurde in der Pinochet-Ära ab 1979 der kollektive Grundbesitz parzelliert, so dass die in der Zeit der Reservate entstandenen comunidades ihre rechtliche und materielle Form einbüßten, als kulturell-politisches Konzept bestehen sie jedoch weiter. Die comunidades sind autonome territoriale Organisationen mit eigenen traditionellen und auch modern ausgebildeten Autoritäten (Kaltmeier, 2004, S. 300f.). Die lonco (in der wörtlichen Übersetzung »Kopf«) als wichtigste traditionelle Autoritäten in den comunidades haben ihre politischen Aufgaben heute zwar zumeist an moderne Institutionen abgegeben, sie nehmen aber i.d.R. noch immer eine wichtige kulturelle Position ein (ebd., S. 312).
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5 Gesundheitsförderung als soziales Geschehen
Dieses Einführungskapitel stellt das entwickelte Konzept von Gesundheit und Gesundheitsförderung in Form eines in den Daten verankerten Modells differenziert dar. Anschließend wird in drei weiteren Unterkapiteln das Modell anhand umfangreichen empirischen Materials theoretisch ausgearbeitet. Zu Beginn werde ich einige Schlüsselsituationen meines Erkenntnisprozesses verdeutlichen.
5.1 W ICHTIGE S CHRIT TE IM E RKENNTNISPROZESS In den drei Settings erschienen mir die sozialen Praktiken einerseits sehr unterschiedlich, andererseits schien es grundlegende Ähnlichkeiten zu geben, die ich allerdings zu Beginn meiner Forschung noch nicht klar fassen konnte. Um diese Phänomene klarer strukturieren zu können, fand ich die Literatur zu Ritual und Mimesis aus der Sozialen und Historischen Anthropologie hilfreich. Nützlich war der Ansatz von Wulf und Zirfas (2001a), nach dem die vermittelten Bedeutungen erst im rituellen Vermittlungsprozess entstehen. So erhielt ich einen Ansatzpunkt, um die Heterogenität und Widersprüchlichkeit, die in den Interviews hinsichtlich der Wirksamkeit der Rituale beschrieben wurden, erklären zu können. Denn in den Interviews gab es oft Hinweise, dass situationsabhängig mit den performativen Praktiken gesundheitsförderliche Bedeutungen verknüpft wurden. Wulf und Zirfas weisen darauf hin, dass sich performative Inszenierungen in dem »Wie« ihrer Aufführung unterscheiden würden. Mit dem Ansatz eines unterscheidbaren »Wie« erhielt ich einen Anhaltspunkt für Setting-übergreifende Verallgemeinerungen, die aus den empirischen
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Daten heraus entwickelt werden konnten. Um die Qualität der szenischkörperlichen Aufführungen zunächst grob zu unterscheiden, habe ich mich bei meiner Interpretation an den inhaltlichen und formalen Elementen der »Stile des Performativen« orientiert. Audehm und Zirfas (2001) zählen zu den inhaltlichen Komponenten den Umgang mit Macht und dem Sakralen sowie ästhetische Aspekte wie Rhythmus, Musik, Kleidung. Die formalen Elemente umfassen körperliche, mimetische und spielerische Aspekte (vgl. Kapitel 2.3.4). In den Interviews fanden sich immer wieder Hinweise, dass die performativen Praktiken als intensiv und bedeutsam erlebt wurden und die Überzeugungen bzw. Einstellungen der an ihnen Teilnehmenden hinsichtlich ihrer Erkrankung beeinflussten. Insofern habe ich wissenschaftliche Konzepte wie Selbstwirksamkeit (Bandura, 1997), dispositionellen Optimismus (Scheier & Carver, 1992), Hoffnung (Snyder & Lopez, 2007), meaning making (Folkman & Moskowitz, 2004) oder bestimmte Formen des religiösen Copings (Pargament, Koenig & Perez, 2000) daraufhin untersucht, ob ich in ihnen weiterführende Erklärungen finden konnte. Diese Konzepte untersuchen Korrelationen zwischen Überzeugungen und Einstellungen bzw. allgemeineren Orientierungen einer Person und der Abwesenheit von Krankheit (vgl. Kapitel 2.4.1). Im Unterschied hierzu legten meine empirischen Daten allerdings nahe, dass die Untersuchungsteilnehmenden sehr viel mehr als die Abwesenheit von Krankheit beschrieben. In einem weiteren Konzept der Gesundheitsförderung, dem des Kohärenzsinns, wird Gesundheit hingegen positiv und entwicklungsorientiert definiert. Mit Antonovskys (1979, 1997) salutogenetischem Modell erhielt ich eine heuristische Orientierung, um besser nachzuvollziehen, warum die performativen Praktiken von den Teilnehmenden als so intensiv und bedeutsam erlebt wurden. Das Erleben der Teilnehmenden – also auch mein eigenes Erleben – schien in der Teilnahme an den sozialen Praktiken auf eine ganz bestimmte Weise geordnet zu werden, die mit den Bedeutungen dieser Praktiken zusammenhing. Es verdichteten sich die Hinweise, dass die Untersuchungsteilnehmenden Gesundheit als ein soziales Geschehen erleben, an dem emotionale und körperliche Prozesse in einem erheblichen Ausmaß beteiligt sind (vgl. Kapitel 5.2 bis 5.4). In dem folgenden Zitat aus dem Interview mit einer Patientin der psychosomatischen Klinik findet sich ein Beispiel dafür, dass in den Settings Gesundheit als ein Geschehen erlebt wird, das sich nicht auf das Individuum reduzieren lässt.
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IP: […] auch so Rituale […] wo […] jeder Einzelne sich auch was wünschen kann und er dann getragen wird in diesem Sinne von dieser Gemeinschaft. Also das finde ich sehr, sehr berührend. Da, also das spüre ich auch so richtig, dieses, das, was gemeinschaftlich irgendwie trägt. Das ist wirklich als Energie im Raum, finde ich. […] diese Verbundenheit schafft einfach ’ne sehr starke Kraft. Also, der Resonanzkreis oder wenn alle zusammen zum Beispiel tönen. Das ist einfach sehr starke Energie, die man da aufnehmen kann oder abgeben kann, je nachdem.1
Die Interviewpartnerin spricht zwar in der Ich-Form, die Metaphern2 , die sie verwendet, deuten jedoch auf ein soziales Geschehen hin, das sie sehr berührt. Mit Formulierungen wie »Energie im Raum« oder »diese Verbundenheit schafft einfach ’ne sehr starke Kraft« weist sie sprachlich über die eigene Person hinaus, der Raum ist etwas mit anderen Menschen Geteiltes. Über ihre Aussage erhält man die subjektive Repräsentation des gemeinschaftlichen Getragen-Seins. Es fiel mir selbst sehr schwer, diesen Hinweisen zu folgen und Gesundheit nicht individuell zu denken. Meine gewohnten Denkmuster schienen dieser Annahme entgegenzustehen (vgl. Kapitel 6).
5.2 S TRUK TURIERUNG DER D ATEN Ich möchte die in den Daten gefundene Struktur nun schon an dieser Stelle darstellen. Denn aus meiner Sicht lässt sich die stets notwendige Kombination zwischen einer verständlichen Präsentation der in den Daten gefundenen Muster hinsichtlich einer Gesundheitsförderung und einer für den Leser und die Leserin möglichen Nachvollziehbarkeit meines Erkenntnisprozesses am besten erreichen, wenn ich im Aufbau der folgenden Ka-
1 | Die konkreten Wörter, auf die ich mich in meinen Interpretationen beziehe, sind hier und in den folgenden Interviewausschnitten kursiv markiert. 2 | Eine Metapher liegt nach Schmitt (2003) dann vor, wenn ein Wort/eine Redewendung in einem strengen Sinn in dem für die Sprechäußerung relevanten Kontext mehr als nur wörtliche Bedeutung hat und die wörtliche Bedeutung einem prägnanten Bedeutungsbereich (Quellbereich) entstammt, jedoch auf einen zweiten, oft abstrakteren Bereich (Zielbereich) übertragen wird (Absatz 14).
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pitel dieser Struktur folge. Die folgende Grafik3 gibt hierzu zunächst einen visuellen Überblick. Abbildung 1: Geteiltes Sinnerleben
Die Grafik zeigt auf drei Ebenen die Differenzierungen des gefundenen Konzepts der Gesundheitsförderung. Die drei Farben spiegeln die drei Ebenen wider, nicht die drei Settings. ›Geteiltes Sinnerleben‹ ist das entwickelte Konzept von Gesundheit und Gesundheitsförderung, dass sich in die drei Komponenten ›soziales Geschehen‹, ›Bedeutsamkeit‹ und ›Alltagsnähe‹ unterteilen lässt. Es ähnelt einerseits Antonovskys Konzept des Kohärenzsinns, andererseits gibt es grundlegende Unterschiede. Das Konzept des Kohärenzsinns ist als Persönlichkeitseigenschaft individuumszentriert und kognitivistisch konstruiert. In dieser Arbeit wird die Besonderheit von Gesundheitsförderung in der Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und dem sozialen Geschehen in den physischen Umgebungen des Settings und des Alltags gesehen, an dem das Individuum emotional und körperlich teilnimmt. Deswegen spreche ich von einem ›geteilten Sinnerleben‹, ein Phänomen, das in den performativen Praktiken der Settings produziert wird (in der Grafik die obere Ebene). In den Settings nimmt eine Person körperlich an bedeutungshaltigen Praktiken teil – man könnte sie als szenisch-körperliche Aufführungen bezeichnen –, die sich in dem »Wie« ihrer Aufführung unterscheiden: Auf unterschiedliche Art, mit unterschiedlichen Performanz-Stilen, werden in den Aufführungen soziale Bedeutungswelten produziert. Was ihre Beson3 | Für die technische Erstellung der Grafiken danke ich Birgit Metzger.
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derheit ausmacht, welche zentralen Bedeutungen sie für die an ihren Produktionsprozessen beteiligten Personen enthalten, beschreibt die nächste Ebene der Grafik. Die Person erlebt sich als Teil eines sozialen Geschehens, in dem eine gesundheitsbezogene Sinnstiftung4 durch performative Praktiken ständig neu inszeniert wird (diesen Aspekt zeigt die Grafik als ›soziales Geschehen‹). Immer wieder finden sich in diesem Zusammenhang Formulierungen, dass im sozialen Geschehen Phänomene erzeugt werden, die für das Sinnerleben notwendig sind. Der erste Aspekt ist, dass das soziale Geschehen auf eine settingspezifische Weise geordnet ist: In den szenisch-körperlichen Inszenierungen wird sehr anschaulich die Bedeutungswelt des Settings repräsentiert. So erfährt das Individuum eine spezifische Ordnung von Bedeutungen, in die es sein Leiden einordnen kann. Das kann zu einem subjektiven Verstehen des Leidens führen. Den zweiten Aspekt beschreibt der Begriff ›flexibel‹: Die teilnehmenden Individuen erleben plastisch in den sozialen Inszenierungen die fließenden Übergänge zwischen den Gegenständen der sozialen Bedeutungswelt des Settings. In den performativen Inszenierungen wird die Bewegung der Bedeutungswelt ständig vorgeführt. So erscheint die soziale Bedeutungswelt – und damit auch ihre Krankheit – den Teilnehmenden als Beziehungsnetz, das man flexibel handhaben und beeinflussen kann. Den dritten Aspekt fasst das Adjektiv ›partizipativ‹ zusammen: Ein Individuum erlebt in den sozialen Praktiken, dass es partizipativ über Ressourcen im Setting verfügen kann, zu denen z.B. soziale Unterstützung gehört. Wenn alle drei Aspekte zusammenkommen, erlebt sich der einzelne Teilnehmende als Teil des sozialen Geschehens. Auf diese Weise kann ein Individuum zu der Überzeugung gelangen, dass sich bei ihm selbst die gleiche Wirkung einstellt, wie in der im sozialen Geschehen vermittelten sozialen Bedeutungswelt dargestellt – dass es also gesundheitsförderlich ist, an den sozialen Praktiken teilzunehmen. Gesundheit ist somit ein soziales Phänomen.
4 | An dieser Stelle bin ich von Erich Wulff (1992) beeinflusst und seiner im zweiten Kapitel erläuterten Differenzierung zwischen Sinn und Bedeutung.
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In den Daten gibt es zahlreiche Aussagen, dass eine Person, wenn sie emotional und körperlich an den performativen Praktiken teilnimmt, oft intensive sinnliche Erfahrungen macht. Diese können eine Qualität haben, bei der man das soziale Geschehen als in sakrale Zusammenhänge eingebunden erlebt. So kann die Person zu der Überzeugung kommen, dass ihr Engagement in diesem sozialen Geschehen, als dessen Teil sie sich erlebt, bedeutsam ist (das verstehe ich unter ›Bedeutsamkeit‹ in der Grafik). In diesem Zusammenhang legen die Daten nahe, dass in den performativen Praktiken der Settings die Defizite im Alltag der Teilnehmenden auf eine zu ihrem Alltag passende Weise angegangen werden. Die Teilnehmenden erleben das soziale Geschehen im Setting sehr intensiv emotional und körperlich. Gleichzeitig nehmen sie wahr, dass dieses soziale Geschehen auch in der sozialen Bedeutungswelt ihres Alltags verankert ist. Eine Person kann nicht nur im Setting, sondern auch im Alltag5 – also 5 | Der Begriff des ›Alltags‹ bezeichnet Gewöhnlichkeit und Berechenbarkeit mit bestimmten Handlungsroutinen und einer typischen Aufgabenstruktur. Entsprechend ist alltägliches Verhalten durch eine »mühelose[] Eingespieltheit der Interaktions- und Umgangsformen« charakterisiert (Matthes & Schütze, 1973, S. 20). Da man sich bewusst ist, dass sich Tätigkeiten und Ereignisse wiederholen, bilden sich reziproke Erwartungshaltungen an Interaktionspartner heraus. Im Alltag existiert eine relativ invariante Zeitstruktur mit einer festen zeitlichen Ordnung und bestimmten Ablaufmustern sowie eine relativ invariante räumliche Struktur mit bestimmten Wegen, die man täglich zurücklegt. Das ›Alltagsbewusstsein‹ kennzeichnet die Verteilung von Aufmerksamkeit als gebunden oder frei flottierend. Matthes und Schütze (1973) verstehen unter ›Alltagswissen‹ das, »was sich die Gesellschaftsmitglieder gegenseitig als selbstverständlichen und sicheren Wissensbestand unterstellen müssen, um überhaupt interagieren zu können« (S. 20). Mit seinen Typisierungsschemata, Gewohnheitsvorstellungen, typischen Erklärungsmustern und Erwartungen dient das Alltagswissen zur täglichen Orientierung in der Welt; auf seiner Basis wird gesellschaftliche Wirklichkeit erfahrbar (Matthes & Schütze, 1973, S. 16). Der ›Alltag‹ umfasst die gesamte Bedeutungswelt, die eine Person umgibt, und ihr alltägliches Lebensgefühl. Somit sind persönliche Bedeutungen und Bedeutsamkeiten im alltäglichen Leben begründet. In der symbolischen Interaktion ist der Alltag durch eine Umgangssprache gekennzeichnet, abgegrenzt von Fach- oder Hochsprachen. Jenseits einer unteren Grenze liegen Mikrohandlungen oder Prozesse wie Träume, die zu unbedeutend oder zu abwegig sind, um in der alltäglichen Kommunikation behandelt zu werden. Jen-
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innerhalb ihrer Familie und gewohnten Lebensumstände – mit ihrer Erkrankung zurechtkommen (in der Grafik ›Alltagsnähe‹). Eine grundsätzliche Gemeinsamkeit der drei untersuchten Settings ist die Bezugnahme auf einen spirituellen Diskurs, der inhaltlich allerdings sehr unterschiedlich ist. Gemeinsam ist der Bezug auf überindividuelle »geistige« Kräfte6. Ein spiritueller Diskurs kann im Setting und/oder im Alltag existieren. In der psychosomatischen Klinik ist ein spiritueller Diskurs in das therapeutische Angebot integriert. In den Candomblé- und Umbanda-Settings ist ein spirituelles Bedeutungssystem vorherrschend. In der Gemeindepsychiatrie existiert das medizinische Bedeutungssystem direkt in der Alltagswelt der Patienten und scheint dabei eine ergänzende Rolle zur gewohnten spirituellen Bedeutungswelt des Alltags zu spielen (das Spirituelle ist also hier in der Alltagswelt): Denn einerseits kommen die »verrückten« Personen erst mit der Psychiatrie in Kontakt, wenn das spirituelle Alltagsbedeutungssystem mit den Mapuche-Heilern (machis) nicht mehr ausreicht. Andererseits revitalisieren die gemeindepsychiatrischen Interventionen auch die traditionellen Erklärungsmodelle. Der in den drei Settings enthaltene spirituelle Diskurs scheint sich fördernd auf eine Übereinstimmung zwischen den Settings und der Alltagswelt der partizipierenden Individuen auszuwirken. Ich werde nun für jedes Setting erläutern, wie das Konzept des ›geteilten Sinnerlebens‹ aus der Analyse der Daten entstanden ist und was es als Konzept der Gesundheitsförderung im Einzelnen ausmacht. Die Unterteilung in drei folgende Kapitel folgt dabei den drei Aspekten ›soziales Geschehen‹, ›Bedeutsamkeit‹ und ›Alltagsnähe‹, die zusammenkommen müssen, damit Gesundheitsförderung möglich wird. Als integrierendes Konzept der in den drei Kapiteln vorgestellten Bereiche ergibt sich das ›geteilte Sinnerleben‹. Die Kapitel sind immer gleich aufgebaut: Nach einem einführenden Text werden die Settings nacheinander jeweils einzeln vorgestellt – zunächst der Candomblé- und Umbanda-Tempel, dann die psyseits einer oberen Grenze liegen nicht-alltägliche und außergewöhnliche Ereignisse wie Feste, Krisen, Katastrophen und Wahnsinn (Leferink, 1997b, S. 85-87). 6 | Die Gemeindepsychologen Kloos und Moore (2000) definieren Spiritualität folgendermaßen: »We view spirituality as being an aspect of human experience realized as awareness, belief, and sense of connection with others and the universe, material and non material« (S. 121).
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chosomatische Klinik mit ihrem spirituellen Diskurs und anschließend die Gemeindepsychiatrie. Hierzu werden für jedes Setting anhand von Beobachtungsprotokollen erstellte dichte Beschreibungen ausgewählter Inszenierungen sowie Interviewzitate präsentiert, die die Kategorien aus unterschiedlichen emischen Perspektiven beleuchten.
5.3 S OZIALES G ESCHEHEN In den Daten gibt es zahlreiche Aussagen, dass eine gesundheitsfördernde Sinnstiftung nur dann gelingen kann, wenn sie nicht individuell willkürlich stattfindet, sondern in das soziale Geschehen eingebettet und mit den anderen Teilnehmenden geteilt ist. Diesen Aspekt von Gesundheitsförderung habe ich entsprechend ›soziales Geschehen‹ genannt. Die folgende Grafik ordnet den Aspekt feiner aufgeschlüsselt noch einmal in das zu Beginn des fünften Kapitels vorgestellte Modell ein. Abbildung 2: Soziales Geschehen
Im sozialen Geschehen wird für die Person eine sinnhafte Ordnung gestiftet, in der repräsentiert ist, dass die Teilnahme an den sozialen Praktiken gesundheitsförderlich sei. In den drei Settings habe ich aus unterschiedlichen Perspektiven erlebt, dass das soziale Geschehen hier geordnet und gleichzeitig flexibel handhabbar ist und bestimmte Ressourcen zur Verfügung stellt. Die Settings unterscheiden sich in dem »Wie« des sozialen Geschehens, das ich nun vorstellen werde.
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5.3.1 Der Candomblé- und Umbanda-Tempel Als Einstieg in den Candomblé- und Umbanda-Kontext habe ich eine »dichte« Beschreibung einer Behandlung aus der Tradition der Umbanda gewählt. Eine etwa 35-jährige Frau ist in Begleitung ihres Ehemannes gekommen. Sie erzählt, dass sie nicht schlafen könne und überall am Körper Schmerzen habe. Sie sei niedergeschlagen, habe Suizidgedanken und weine oft. Anschließend beschreibt der pai-de-santo mittels eines astrologischen Computerprogramms, auf welche Weise vorige Leben der Klientin ihr jetziges Leben beeinflussen. Die Klientin erhält diese Daten zum Mitnehmen. Anschließend setzen sich der pai-de-santo und eine Assistentin im Schneidersitz auf den Fußboden. Die Klientin setzt sich dem pai-de-santo gegenüber. Der pai-de-santo ist für eine halbe Minute ruhig, dann fangen seine Arme an zu zittern: Er wird zum Medium. Die inkorporierte pomba gira ruft über das Medium »Tscha, tscha, tscha!« und nennt ihren Namen: pomba gira Játeve Mulher. Unter anderem ist die Klientin also von diesem Geist besessen. Die pomba gira und die im Folgenden inkorporierten Geister lachen durch den pai-de-santo häufig wie irre. Manchmal werden die Bewegungen und Zuckungen der Geister im Medium sehr stark, so dass die Assistentin die inkorporierten Wesen beruhigen muss. Nun beginnt ein Gespräch zwischen den Geistern und der Klientin. Sie soll die Fragen der inkorporierten exús und pomba giras aufrichtig beantworten, da diese sich möglicherweise irren oder die Anwesenden absichtlich verwirren könnten. Pomba gira Játeve Mulher fragt: »Mag deine Schwiegermutter dich?« – »Ja.« Daraufhin fragt der Geist: »Du hast einen Sohn?« – »Ja.« Und anschließend: »Der Junge gibt oft an?« – »Ja.« Der Geist erläutert weiter: »Euer Sohn war in einem früheren Leben Wissenschaftler, er wird in Europa studieren. Er ist voller Licht.« Mit dem Geist exú Caveíra setzt sich der Dialog aus Fragen und Antworten fort: Eine Frau, die den Sohn begehrte, habe ein catimbó (»Schwarze Magie«) gegen dessen Freundin gerichtet, doch stattdessen habe es der Mutter Schaden zugefügt. Nun setzt sich der Ehemann nach Aufforderung neben seine Frau und hält bis zum Ende der Behandlung ihre Hand. Mit ausladenden Armbewegungen trennt der exú durch das Medium die Verbindungen zum catimbó. Anschließend greift der exú Caveíra mit der rechten Hand des pai-de-santo die rechte Hand der Klientin und verschließt nacheinander mit ausladenden
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Gesten der Arme und Hände die Chakren7: Kopf, Augen, Kehle, Nacken, Herz, Leber, unterer Rücken, Basis der Wirbelsäule, Füße, Hände. Dabei lässt der inkorporierte Geist bei jedem Chakra die Hand der Klientin wieder los. Die Frau soll sich währenddessen auf die jeweiligen Körperteile sowie damit assoziierte Eigenschaften oder Personen konzentrieren. Es erscheinen dann weitere Geister, die jeweils das catimbó trennen und den Körper der Frau verschließen, um sie vor schädlichen Wesen zu schützen (fechar-o-corpo). Bei jeder neuen Manifestation bewegen sich in ausdrucksvollen Gesten die Arme des pai-de-santo, sein ganzer Körper zittert stark, seine Mimik ist intensiv. Die inkorporierten Geister nennen ihren Namen, stellen Fragen an das Ehepaar und machen oft unangenehme, direkte und obszöne Bemerkungen. Die Assistentin notiert ihre Namen und relevanten Aussagen. Pomba gira das Almas (pomba gira »der Seelen«) hebt hervor, dass die Heilung der Klientin von ihren Gedanken und ihrem Vertrauen abhinge. Exú Molambo (exú »Lumpen«) fühlt Probleme in ihren Knochen. Der Geist ergreift daher ihre Hand, um alles Schlechte in ihr zu beseitigen. Pomba gira Maria Molambo (pomba gira »Maria Lumpen«) erklärt, sie habe der Klientin den Wunsch eingegeben, zu sterben und Suizid zu begehen. Exú Morcego (exú »Fledermaus«) erläutert, dass das Essen der Frau zwar gut schmecke, sie es aber wegen des catimbó (Schwarzer Magie) trotzdem nicht esse. Pomba gira Maria Navalha (pomba gira »Maria Rasiermesser«) spricht den Satz: »Ich schneide dich. Dein Glück ist, dass deine Mutter für dich betet. Ich werde deinen Körper verschließen.« Derselbe Geist fordert die Klientin auf, an arme Kinder sieben Brote und sieben Liter Milch zu verschenken. Dann trennt der Geist die Verbindungen zum catimbó und verschließt den Körper der Klientin. Nach etwa 30 Minuten ist die Behandlung beendet. Mit der oberen Szenenbeschreibung lässt sich erläutern, inwieweit das soziale Geschehen geordnet ist und so Verstehen möglich wird. Die Frau kommt mit einem unspezifischen Leiden in den Tempel, das in ihrem Alltag Verwirrung stiftet. Hier nimmt sie nun an dem Umbanda-Ritual teil,
7 | Für den pai-de-santo stellt der menschliche Körper ein spirituelles Energiesystem mit zehn hauptsächlichen und vielen kleineren Energiezentren dar. Die zehn Haupt-Energiezentren, die in Anlehnung an die östliche Philosophie als Chakren bezeichnet werden, reflektieren die Präsenz der orixás sowie exús und pomba giras. Das Modell ist aber nicht repräsentativ für Candomblé und Umbanda.
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in dem ihr ein allgemeines Erklärungsmodell geboten wird, in das sie auch ihr individuelles Leiden einordnen kann. Mit Audehm und Zirfas (2001) kann man davon sprechen, dass das Ritual einerseits einer formalisierten Ordnung und Regelhaftigkeit folgt und andererseits Spielraum für individuelle Varianz bietet. Ich möchte nun zeigen, wie im Rahmen dieser Dialektik der Prozess des Verstehens auf performative Weise möglich wird. Zu Beginn des Rituals wird das moderne Element des Computers mit einbezogen. Für mich bietet diese Stelle einen Hinweis auf den Umgang mit Macht. Man kann spekulieren, dass hiermit im Sinne von Kelman (2006) Expertise demonstriert und somit die Glaubwürdigkeit erhöht wird. Es folgt nun die Einordnung des unspezifischen Leidens in die soziale Repräsentation der Besessenheit, unter der in dem Tempel eine große Vielfalt an Beschwerden gefasst wird (vgl. Wiencke, 2009b, 2009e). Sowohl die Ordnung und Regelhaftigkeit als auch die individuelle Varianz hängen mit der Bezugnahme auf die Welt der Geister zusammen. Der paide-santo inkorporiert die Geister, von denen die Klientin besessen ist. IP: Or then one of our mediums, they incorporate this spirit so that we can talk. I: They incorporate the same spirit? IP: Yeah, the spirit who is causing the problems, who is the main cause of problems.
Durch die Inkorporation ergibt sich für den Interviewpartner, selbst ein Medium, die Möglichkeit des Gesprächs: Die Geister führen im oberen Ritual über das Medium einen Dialog mit der Patientin. Dabei ist der Ablauf des Inkorporierens sowie des Auftretens der inkorporierten Geister situationsübergreifend gleich. In jedem Behandlungsritual, das ich beobachtet habe, saßen sich das Medium und die Klienten gegenüber, das Leiden wurde immer auf Schwarze Magie und daraus resultierende Besessenheit zurückgeführt und das Auftreten der Geister mit ihrem »irren« Lachen war grundsätzlich gleich. Diese grundlegende Regelhaftigkeit bietet den Hintergrund, vor dem nun die situative Anpassung stattfindet. Denn die spezifische inhaltliche Füllung der sozialen Repräsentation der Besessenheit sowie ihrer Ursache, der sozialen Repräsentation des catimbó, erfolgt im Zusammenspiel mit der Klientin. Fragen und Antworten werden performativ in die religiöse Struktur der Umbanda eingefügt. Mit Wulf und Zirfas (2001a) kann man insofern davon sprechen, dass die allgemeinen
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Bedeutungen der Umbanda-Welt in der performativen Aufführung bei den beteiligten Akteuren auf eine individuelle Art generiert werden. Indem die allgemeinen Repräsentationen im Dialog der individuellen Situation der Klientin angepasst werden, entsteht für diese die Möglichkeit, eine Ursache für ihr Leiden zu erkennen. Die im Medium manifestierten Geister finden durch ihre Fragen zusammen mit den Antworten der Klientin den Auftraggeber der bösen Tat im Umfeld der Klientin. Die Schilderung des catimbó liefert ein Interpretationsschema für die individuellen Erfahrungen und bringt sie in Übereinstimmung mit den im Setting existierenden sozialen Repräsentationen. Es wird erwartet, dass die Geister auch die Unwahrheit sagen können. Insofern bekommt die Klientin im Gespräch mit den Geistern über das Medium einen gewissen partizipativen Spielraum zugesprochen. Grundsätzlich ist das Machtverhältnis jedoch ungleich verteilt: Die Klientin kann den Aussagen der inkorporierten Geister nur innerhalb des partizipativen Spielraums widersprechen. Dabei erscheint sie selbst aufgrund ihres Leidens verunsichert. Die ludischen, körperlichen und mimetischen Elemente spielen eine entscheidende Rolle – z.B. wenn die im Medium inkorporierten Geister lachen oder in farbenreichen Bildern und mittels körperlicher Bewegungen den Hintergrund der Beschwerden schildern. Mit dem Konzept des Mediums lösen sich die Grenzen zwischen Innen und Außen auf: Der pai-de-santo inkorporiert im Ritual dieselben Geister, die die Probleme der Patientin verursachen. Mit diesen spricht die Klientin nun über das Medium. Es ist nicht mehr zu bestimmen, wo die Geister sind, ob sie sich außerhalb oder innerhalb eines Menschen befinden.8 Mit diesem Gedanken möchte ich auf den zweiten Aspekt zu sprechen kommen, der das soziale Geschehen charakterisiert, und erläutern, inwieweit flexibel mit der sozialen Bedeutungswelt umgegangen wird. An dem oberen Interviewzitat habe ich gezeigt, dass in der emischen Perspektive der pai-de-santo dieselben Geister inkorporiert, unter denen die besessene Klientin leidet. Was ist dann der Unterschied zwischen Besessenheit und Inkorporation?
8 | Mit Behrend und Luig (1999) kann man sagen, dass Geister in einem komplexen Prozess reziproker Interpretationen produziert werden, an dem die Geister, ihre Medien, die Interpretierenden und das Publikum teilnehmen.
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IP: Well, incorporation is something that you do when you want. And the obsession is something that is with you, but you don’t want. It brings you some evil. Sometimes you can incorporate the obsessor, ok? […] the obsessor, we say is like an evil spirit that’s around us. […] When you, when you, when you incorporate, we sometimes change our habits. The way we speak, the way we act. Something has, has to change for the incorporation to be clear. So that you can see the incorporation, and the obsessor is there. But you don’t need to incorporate the obsessor to know that there is an obsessor with you. And can you understand the difference? I: Yes. IP: Because the incorporation, the incorporation is like an ability with you. An ability you have. And the obsessor is, is a kind of a spirit. We can say that we have good spirits and bad spirits. We have good spirits and bad spirits and the obsessor is a bad spirit. And we can incorporate the obsessor and then it is just a normal one, a normal spirit, just this. (männliches Medium)
Der Interviewpartner, der als Medium im Tempel arbeitet, differenziert Besessenheit und Inkorporation anhand des Kriteriums des eigenen Willens: inkorporieren sei etwas, was man tue, wenn man es wolle; Besessenheit hingegen begleite eine Person entgegen ihrem eigenen Willen. Der Interviewpartner erläutert dann die Verbindung zwischen beiden – wie sie auch in dem oben geschilderten Ritual deutlich wird: der böse Geist der Besessenheit könne inkorporiert werden. Hierdurch scheint sich der böse Geist zu verändern, wenn ihn ein Medium inkorporiert, sei er nur ein »normaler Geist«. Plastisch ändere sich der körperliche Ausdruck des Mediums, wenn der Geist inkorporiert wird. Wenn der böse Geist anscheinend zum Alltag gehört und jemanden in Besitz nehmen und auch inkorporiert werden kann, scheint es so zu sein, dass man Flexibilität erleben kann. Derselbe Interviewpartner fasst die vorgeführte Flexibilität mit dem Begriff des Austauschs zusammen. IP: […] It’s like an exchange. You have to exchange things. […] It’s like a way, we are like a tool, instruments of communication between the spirits and the ones who are in need of help. And through this communication we gain things, too, we develop ourselves. You see? So it’s an exchange. We are like tools, instruments of help.
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Plastisch werden in dem Umbanda-Ritual die fließenden Übergänge zwischen den sozialen Repräsentationen der Besessenheit und der Inkorporation vorgeführt, die Welt erscheint als beweglich und im Ritual beeinflussbar. In diesem Zusammenhang spricht der Interviewpartner an, dass sich die Medien in der Kommunikation mit den Geistern und den Klienten selbst entwickeln würden. Mit diesem Gedanken leite ich zum dritten Aspekt über, der das soziale Geschehen charakterisiert, der Frage, inwieweit die Teilnehmenden im Tempel partizipativ über Ressourcen verfügen können. In der Interaktion mit den Geistern scheinen Ressourcen zur Strukturierung individuellen Leidens enthalten zu sein, die ich nun im Einzelnen herausarbeiten werde. I: So somehow you treat the obsession and not the person? IP: I don’t know if it’s to doctrinate, is it correct? You understand? I: Yes, I think so. IP: To doctrinate, doctrination, we call doctrination, we try to talk to this spirit, try to convince him that he, the spirit is wrong. We try to show that something is wrong, is not right to stay here anymore. It is a spirit and so go to the right place and then when the person gets rid of this spirit we then can treat the person.
Derselbe Interviewpartner beschreibt, wie die Medien während des oben beschriebenen Rituals Kontakt mit dem Geist aufnehmen und ihn belehren, die von ihm in Besitz genommene Person in Ruhe zu lassen. Da im oberen Fallbeispiel das Leiden der Klientin auf die Geister zurückgeführt wird, kann man aus diesen Interviewaussagen schließen, dass das Leiden als getrennt von der Person wahrgenommen wird. In der emischen Perspektive können die Geister an den »richtigen Ort« gebracht werden. Der pai-de-santo beschreibt den Vorgang als Gefangennahme der Geister: D: He says that the spirit is loosed, chained, so in a tie. You know to tie? To tie is this. Tied, chained with the chains. Prison, ok, in prison. How do you say? Is prisoner, there is only this prisoner, in a chain really tied.
Die besessene Person ist einerseits eine Gefangene der Geister, die sie in Besitz genommen haben, andererseits aber werden die Geister von dem Medium ebenfalls gefangen genommen. Dann eröffnet sich die Möglichkeit, die Person zu behandeln.
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IP: […] We try to talk to the person because they need to talk. We need to talk with this person. We need to make these people sure that they have the control. They cannot lose the control over the situation because the spirit cannot take your place. They cannot control us. We have to make, it’s like a deal. We have to make a deal. It’s a balance, if I want and it wants. Ok, but it cannot be that it’s stronger and I will be weak. No, we are equal. It has to act in harmony. And those people are not in harmony and we have to make these people to clear, show that they have the control. They cannot lose the control.
Der Interviewpartner kommt hier auf seine oben zitierte Differenzierung von Besessenheit und Inkorporation über das Kriterium des eigenen Willens zurück und konkretisiert sie mit dem Begriff der Kontrolle. Ein Ungleichgewicht zwischen der Stärke eines Geistes und der einer Person äußert sich für ihn in einem Kontrollverlust. Wenn man vor diesem Hintergrund Besessenheit als Kontrollverlust interpretiert, kann man das oben beschriebene Umbanda-Ritual als Versuch ansehen, die subjektiv wahrgenommene Kontrolle einer Person über Situationen wieder zu erhöhen. Bandura (1997) differenziert das Konstrukt der Selbstwirksamkeitserwartung in die Komponente der Kompetenzerwartung – des Glaubens, dass man selbst die Handlungen erfolgreich durchführen könne – und der Konsequenzerwartung – des Glaubens, dass diese Handlungen zum Erreichen eines bestimmten Ziels beitragen können. Für mich sind beide Komponenten in dem oberen Zitat bzw. in dem geschilderten Ritual enthalten. Man könnte sagen, dass die eigene Kontrollerwartung gegenüber den Geistern im Umbanda-Ritual gestärkt wird. Der grundlegende Unterschied zu Banduras Modell ist dabei, dass die soziale Dimension in der Situation entscheidendes Gewicht erhält. Wulf und Zirfas (2001a) weisen darauf hin, dass performatives Handeln das vollzieht, was es bezeichnet. Das bedeutet für die obere Szene, dass die Phänomene, die man als Ressourcen bezeichnen kann, im Ritual entstehen: Mit der Charakterisierung des Leidens als Folge des catimbó wird gleichzeitig die Möglichkeit der Einflussnahme eröffnet.9 Über die körperlichen und mimetischen Elemente – wie das Anfassen an den Händen – wird die Diagnose mit der Lösung von der Krankheit verbunden. Die Klientin bekommt im Ritual die Möglichkeit, sich von ihrem Leiden zu distanzieren und mit ihm sinnlich-körperlich in einen Dialog zu treten. Über die Zuschreibung auf die Geister9 | Vgl. Lienhardt, 1961.
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welt ergibt sich die Möglichkeit, dass die Verbindungen zu den Ursachen des Leidens, den bösen Geistern, getrennt werden. Geister können krank machen und gleichzeitig auch heilen. Hier zeigt sich wieder die flexible Handhabung der Bedeutungswelt. In der Bezugnahme auf die Geister erscheinen die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit als fließend. Dabei wird der Ehemann körperlich und mimetisch mit einbezogen, indem er aufgefordert wird, sich neben seine Frau zu setzen und ihre Hand zu halten. Durch den Gesprächsverlauf, der durch den pai-de-santo gesteuert wird, wird für die Beteiligten erkennbar, dass das Leiden in das familiäre Umfeld der Patientin eingebettet ist. Ein Interviewpartner sieht in familiären Problemen den Nährboden für die Inbesitznahme durch Geister: IP: […] you can have a problem in your house and this, it helps, it makes it easy for the spirit to obsess you. And the causes, the effects can, there are a lot of causes and effects. (Männliches Medium)
Die Aussage eines anderen Interviewpartners, der ebenfalls als Medium tätig ist, weist darauf hin, dass im emischen Verständnis Heilung bedeutet, dass die schädigenden Geister die Betroffenen wieder verlassen: D: They are going to take out the spirit that is doing this. And with the treatment he is going to, to be well.
Und in dem Ritual wird vermittelt, dass genau dies sei möglich, wie sich die Aussage eines weiblichen Mediums interpretieren lässt: D: We try to, it’s only thoughts, I am sick, I am sick. Everything is going to be bad, negative thoughts. And we try to develop, take care so that he is disobsessed of the obsession. No one goes out obsessed from here. I: So every obsession can be healed? D: Yes.
In den Interviews wird Erkrankung als grundsätzlich beeinflussbar gesehen. Für die Interviewpartnerin ist Krankheit bzw. Besessenheit durch negative Gedanken charakterisiert. Man kann unter Bezugnahme auf die Literatur zu den Konstrukten der Hoffnung (Snyder et al., 1991) und Optimismus (Scheier & Carver, 1992) interpretieren, dass das Umbanda-Ritual
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eine optimistische Einstellung und »Hoffnung« als Ressourcen fördert. Snyder et al. (1991) differenzieren Hoffnung in den Glauben einer Person, dass ein gewünschtes Ergebnis möglich ist, und in ihre Fähigkeit zu visualisieren, wie dieses Ergebnis möglich werden kann. In den Interviews wurde betont, dass es für den Genesungsprozess notwendig sei, an den Erfolg der rituellen Behandlung auch tatsächlich zu glauben. I: And if you don’t have faith you can still be cured? D: No, you have to believe. (Klientin)
Die rituelle Inszenierung scheint diesen Glauben und damit die Aussicht auf Heilung zu fördern. Dabei finden sich Hinweise, dass sich auch die Anwesenheit vertrauter Familienangehöriger förderlich auf diesen Glauben auswirkt. Für Scheier und Carver (1992) bezeichnet das Konstrukt des dispositionellen Optimismus die in der generalisierten Ergebniserwartung widergespiegelte subjektive Einschätzung, dass alles gut gehen werde. Auch in schwierigen Situationen werden tendenziell positive Ergebnisse erwartet. Diese Haltung findet sich in den Interviews wieder, allerdings nicht in Form einer Persönlichkeitseigenschaft, sondern in einer relationalen Perspektive. I: And what changes through the treatments in the temple? Through the rituals we have just seen? What changes in the person? D: It depends on the faith. If you have trust, if you trust it’s fast. […] I: So the bad spirit leaves the person? D: In the same time, in the same hour. (Der pai-de-santo)
Eine positive Grundeinstellung, dass die »psychische Krankheit« etwas Getrenntes ist und die betroffene Person auch wieder unverändert verlassen kann, hängt mit der Bezugnahme auf die Welt der Geister zusammen. Ich ging in meiner Forschung davon aus, dass eine psychische Krankheit eine Persönlichkeitsveränderung ist. Doch für den pai-de-santo verändert sich durch die »Krankheit« nichts in der Person. Der Geist kommt und kann auch wieder gehen. Die Möglichkeit, dass im Umbanda-Ritual eine optimistische Einstellung gefördert und Hoffnung geweckt werden kann, hängt damit zusammen, dass die Beteiligten im Tempel flexibel zwischen den sozialen Re-
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präsentationen von Gesundheit und Krankheit wechseln, wie nun gezeigt werden soll. In den Interviews wurden die Probleme von Personen in der Psychiatrie, wie im oberen Umbanda-Ritual auch, von der Ursache ausgehend diagnostiziert. IP: […] when I went to Recife in our downtown there is a psychiatric hospital, and there we can feel that I think almost 50 or 60 % are just suffering from mental problem. And – I: You mean spiritual problems? IP: Spiritual, spiritual – I: They are obsessed? IP: They are obsessed, they are just suffering from spiritual causes then, and our society sees them as crazy. […] You can see that some people act like crazy people, but they are not crazy because the cause is different.
So beschreibt ein männliches Medium, dass sich zwar etwa 50 bis 60 % der Psychiatrie-Patienten wie verrückte Personen verhielten, sie jedoch nicht verrückt seien, da die Ursache ihres Verhaltens spirituell sei. Der paide-santo setzt einen höheren Prozentsatz an und differenziert die spirituellen Probleme in die beiden sozialen Repräsentationen ›nicht-entwickeltes Medium‹ und ›Opfer von Schwarzer Magie‹ (catimbó). D: He said that in the psychiatries, these hospitals, 90 % are mental cases. He said that 50 % of them are mediums. I: Yes. D: And they do not develop and they get crazy. It is 40 % catimbó. […] I: Ah through catimbó you can get crazy, too? D: Yes, yes.
Ich habe bereits beschrieben, wie sich in der emischen Perspektive beide Probleme lösen lassen, indem man mit den Geistern in Kontakt tritt, die als Verursacher der Probleme gelten. Aus Sicht der beiden Interviewpartner sollten die betroffenen Personen nicht in der Psychiatrie behandelt werden. In diesen Zitaten ist im Rückschluss aber ebenso der Gedanke enthalten, dass es in den Psychiatrien auch Menschen mit nicht-spirituellen Problemen gibt:
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I: And non-spiritual causes are drugs or sickness of the body? IP: Yes, sickness of the body in general. Drugs, alcohol, people who, the difference we make is the, if the symptoms are, last too long we sometimes consider not a spiritual problem at all, but a mental problem.
Die nicht-spirituellen Ursachen für Verrücktheit beschreibt das zuvor zitierte männliche Medium allgemein als körperliche Krankheit, Drogen und Alkohol. Als eine Möglichkeit der Differenzierung nennt der Interviewpartner die Dauer der Symptome. Seine Aussage, dass sich die Symptome bei spirituellen Ursachen weniger lange zeigen würden, stellt für mich einen Hinweis dar, dass mit der Umdeutung der Krankheits-Kategorie zu der eines spirituellen Problems eine optimistische Einstellung gefördert wird. Hiermit hängt die flexible Handhabung der Bedeutungswelt zusammen, die einen Wechsel zwischen den sozialen Repräsentationen ermöglicht. Die Klienten, die den Tempel aufsuchen, werden entsprechend der sozialen Repräsentation der spirituellen Probleme klassifiziert. IP: Yes, that’s right, and the percentage, the number of people, the great number of people, who, the main causes, sorry, the main causes is our mediunity. Ok around 80 %, 80 % of the people who come here looking for some help are […] mediunity problems, are not very well […] or are not developed mediunity.
Für denselben Interviewpartner hat ein großer Teil der Personen, die den Tempel aufsuchen, die mediale Begabung nicht ausreichend entwickelt. Die Ursache einer nicht entwickelten medialen Begabung kann sich u.a. in psychiatrischer Erkrankung äußern. Diese vorausgesetzte mediale Begabung kann offenbar im Tempel entwickelt werden, wie eine Interviewpartnerin ausführt: D: We don’t say that they are with a mental disorder. We say that they are with accumulated energy. They do need to develop their mediunity to receive the entities, incorporate, and to finish with the negative energy to be healed. I: And if these people that have mental disorders are here and they are not a medium they are obsessed then? You don’t say that they are crazy, but do you say that they are obsessed? D: Sometimes yes, we never say crazy. But most of the time it’s not obsessed, it’s the mediunity that needs treated, treatment. Mediunity that needs treatment. I: And so you help these people to develop?
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D: Yes we have classes. We give orientation, we have works for disobsession. The mediums learn how to protect themselves. Meetings on Wednesday, only for mediunity developments. (Weibliches Medium)
Die Umdeutung von psychischer Krankheit als nicht ausreichend entwickelte mediale Begabung eröffnet die Möglichkeit, sich als Medium zu entfalten; dieser Prozess kann dann nach Auffassung der Interviewpartnerin zur Heilung führen. Hierzu bekommen die Personen, denen das mediale Entwicklungsdefizit zugeschrieben wird, die Ressource einer umfassenden Struktur geboten, in die sie integriert werden. Neben Ausbildungsklassen gehören hierzu auch Rituale zur Aufhebung der Besessenheit wie das oben beschriebene, bei denen Medien sich im aktiven Umgang mit den Geistern üben. Für den Umgang mit spirituellen Problemen existiert ein umfassendes strukturelles Integrationsangebot, mit dem also individuelles Leiden verstanden werden kann. Die Möglichkeit, sich als Medium zu entwickeln, steht dabei mit den sozialen Repräsentationen der Besessenheit bzw. des catimbó in Zusammenhang. Und in dieser Differenzierung wirken nun komplexe Zuschreibungsprozesse von Bedeutungen auf die als Medien identifizierten Personen, mit denen sie ihre Erfahrungen in einen Kontext stellen, der eine entwicklungsorientierte Qualität hat. Zwischen den sozialen Repräsentationen und den mit ihnen verbundenen Erfahrungen – z.B. der Erfahrung der oben geschilderten rituellen Inszenierung – gibt es fließende Grenzen. IP: Even the mediums, even the ones who are developing for a long time they can get obsessed because it depends on your development. Because our state is in relation to our state of mind, of humour, it’s not something that is separated. If you get angry, if you have too many problems it creates some complications, so it influences it. (Männliches Medium)
Ich habe oben den Aspekt der Kontrolle als Differenzierungskriterium zwischen Besessenheit und Inkorporation herausgearbeitet. Hierbei wurde ein notwendiges Gleichgewicht zwischen einer Person und den Geistern angesprochen. Ich möchte hier noch einen moralischen Aspekt ergänzen, den derselbe Interviewpartner in diesem Zusammenhang anspricht. IP: […] But we can, we can incorporate a bad spirit, we have to, but we have to be prepared, developed. Because some people think that we only receive, we only
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incorporate good spirits. We incorporate bad spirits, but their purpose is different. When we incorporate a bad spirit, we try to doctrinate, to convince the spirit that he is in the wrong place and he is doing wrong things. But when we incorporate a good spirit is to develop ourselves, and sometimes to do something good, someone, to help someone, to give some advice.
Es wird zwischen schlechten und guten Geistern differenziert: Die Medien scheinen an der moralischen Entwicklung der inkorporierten schlechten Geister zu arbeiten. Umgekehrt würden die guten Geister Medien bei ihrer eigenen Entwicklung unterstützen bzw. anderen Menschen helfen. Das Fördern einer optimistischen Grundeinstellung und das Wecken von Hoffnung scheinen insofern mit einer moralischen Vorstellung verknüpft zu sein. Eine Interviewpartnerin charakterisiert entsprechend die Entwicklung zum Medium als Entwicklung von Nächstenliebe, in deren Verlauf man Gott näherkomme. I: Yes. Can everybody become a medium? D: She says that everybody can be a medium and you have to work the charity that you have inside you to be later more close to God. (Weibliches Medium)
Dabei geht sie grundsätzlich davon aus, dass jeder Mensch sich entsprechend entwickeln kann. In dem oben geschilderten Umbanda-Ritual scheint damit die Hoffnung auf eine positive spirituelle Entwicklung als Ressource aktiviert zu werden, die wiederum mit der plastisch inszenierten Flexibilität zwischen Gesundheit und Krankheit zusammenhängt. Denn man kann Besessenheit in dieser Perspektive als Aufforderung zur spirituellen Entwicklung auffassen, wie sich der Aussage einer anderen Interviewpartnerin entnehmen lässt: D: We all have mediunity. I: Yes. D: You need to develop. I: And the persons that are possessed they develop it? D: Yes. (Weibliches Medium)
Genesung wird in diesem Kontext nur durch eine Veränderung der Beziehung zur Geisterwelt möglich, der hierbei wiederum eine umfassende Unterstützung zugeschrieben wird. Wenn eine Person, wie im oben ge-
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schilderten Fall, in den Tempel kommt, wird ihr Leiden auf performative Weise religiös strukturiert, was eine Entlastung von den individuellen Leidenserfahrungen mit sich bringen kann. Zu Beginn habe ich herausgearbeitet, wie in einem sinnlich-körperlichen Austausch zwischen Klientin, Ehemann, Geist und Medium eine Diagnose aufgrund bestimmter sozialer Repräsentationen von Besessenheit, Medium, Schwarzer Magie und Geistern performativ entsteht. Diese sozialen Repräsentationen zeichnen sich durch fließende Grenzen zwischen den Polen ›spirituelle‹ oder ›nicht-spirituelle Probleme‹ aus. Die Bedeutungen von Besessenheit, Medium, Geistern und catimbó scheinen von den rituellen Inszenierungen nicht trennbar zu sein. Die ästhetische Qualität des Rituals trägt zu seiner Glaubhaftigkeit bei. Nach der Diagnose lösen die inkorporierten Geister performativ die Verbindungen zur Ursache des Leidens.
5.3.2 Die psychosomatische Klinik mit ihrem Diskurs über Spiritualität Eine Leitfrage meiner gesamten Arbeit ist die Frage, wie es möglich ist, im Alltag mit einer Psychose zurechtzukommen. Insofern wurde ich neugierig, als eine Interviewpartnerin in der psychosomatischen Klinik Hinweise gab, wie sie dem bedrohlichen Chaos der Psychose begegnen könne. IP: Und ich merk’, je mehr ich die Zusammenhänge versteh’, also, jetzt nicht nur die Zusammenhänge mit der Krankheit, also, auch aber nicht nur, auch so andere Zusammenhänge besser versteh’ und mehr Verständnis hab, wie was funktioniert, desto weniger Angst hab ich auch. Viel Angst hab ich nur vor etwas, was mir unbekannt ist, was ich nicht greifen kann, das macht mir unheimliche Angst. Und das ist halt in ’ner psychotischen Phase extrem. Und ich glaub’, da ist auch Aufklärung ganz wichtig, also jetzt nicht nur über die Krankheit, sondern auch über Zusammenhänge und da hilft mir die Psychotherapie, da hilft Körperarbeit, da helfen Rhythmus und Musik.
Die Interviewpartnerin betont, dass die Verringerung ihrer wahrgenommenen Angst sich zum einen auf das Verstehen der Zusammenhänge in Bezug auf ihre Krankheit beziehe und zum anderen »auch so andere Zusammenhänge« umfasse, die sie nicht weiter spezifiziert. Ich werde nun erläutern, auf welche Weise das soziale Geschehen im Setting anschaulich
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geordnet ist und das psychotische Chaos strukturiert wird. Die Interviewpartnerin gibt selbst einen weiteren Hinweis: IP: […] Durch die Psychose lern’ ich einfach, aber was heißt lern’ ich einfach, muss, um gut leben zu können, ich einfach verschiedene Dinge lernen. Und ich glaub’, die tun mir ganz gut und ich fühl’ mich auch besser als – bevor die Krankheit ausgebrochen ist, war ich sehr starr, hab mich sehr zurückgezogen. Und diese Sachen bin ich dabei wieder, was heißt wieder zu lernen, eigentlich erst mal zu lernen: Wie geht das, wie mach’ ich Kontakt und solche Sachen.
Ihrer Aussage folgend, habe ich in dem anschließend präsentierten Material danach gesucht, inwieweit das Verstehen mit dem »In-Kontakt-Treten« zusammenhängt. Im ersten Interviewausschnitt verbindet dieselbe Interviewpartnerin ihre Strukturierungsleistung mit den Kontexten der ›Psychotherapie‹ und der ›Körperarbeit‹. Entsprechend konzentriere ich mich nun auf die Untersuchung dieser Kontexte. Ich beginne mit einem Beispiel aus der Psychotherapie. Die Szene in der »Kerngruppe« ist aus der Sicht einer Praktikantin geschildert, die die Situation ohne direkte Beteiligung beobachtet hat. Und bei der Frau Y diese Woche war das eben so, die hat nicht so viel rausbekommen, die war total im Widerstand, hat auch nicht viel sagen können, aber dafür im Kreis, ist im Kreis, also am Anfang war so ein bisschen Stagnation und dann plötzlich hat eine Patientin mal den Mund aufgemacht und gesagt: »Hej, mich macht das jetzt richtig sauer, deine Haltung.« Und das hat ganz viel in Bewegung gebracht in der Gruppe. Da kam so richtig Durchatmen in der Gruppe und so, »hej, ja genau so fühl’ ich mich jetzt auch, und ich find’, das ist total spannungsgeladen jetzt hier.« Und dann passiert so eine Art, wird so eine Art Gruppendynamik geschaffen, ja, dass die Therapeutin gar nicht mehr so viel sagt, dass die nur noch so ein bisschen den Rahmen hält und die Patienten unter sich sprechen und das ist so eine Art Pingpong. Ja, und das ist dann ganz interessant, so ’ne Gruppendynamik zu beobachten, wie sich da was kreiert und wie da Themen bearbeitet werden können. Obwohl die Frau ganz wenig gearbeitet hat, hat die Gruppe ihr ihre Themen ganz stark gespiegelt. Und dann kam’s halt dazu, es war halt so wichtig auch der ganze Gruppenprozess, dass die Therapeutinnen den nicht unterbrechen wollten, d.h. in dieser Gruppenstunde hat nur eine Person gearbeitet. Aber im Grunde genommen haben auch die ganzen anderen Gruppenmitglieder mitgearbeitet, weil es auch Themen für sie waren.
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Die Beschreibung beginnt mit der Charakterisierung einer Patientin, die in der Gruppentherapiesitzung »im Kreis« ist, d.h. deren Anliegen an diesem Tag im Vordergrund steht. In dieser Situation, die die Interviewpartnerin als »Stagnation« wahrgenommen hat, sei nun eine andere Patientin mit der Frau »im Kreis« verbal in Interaktion getreten. Der anschließend zitierte Satz: »Hej, ja, genau so fühl‹ ich mich jetzt auch, und ich find‹, das ist total spannungsgeladen jetzt hier«, weist über eine Kritik an der einzelnen Patientin hinaus auf eine Wahrnehmung der Situation in der gesamten Gruppe. Unter Rückgriff auf die Stile des Performativen (Audehm & Zirfas, 2001) kann man den Kreis als normative Rahmung bezeichnen. An dieser Stelle wird auch der Umgang mit Macht sichtbar: Die Interviewpartnerin weist darauf hin, dass die Therapeutin »den Rahmen hält«; sie ist also präsent, greift jedoch nicht aktiv ein, die Patienten sprechen in der Gruppensitzung »unter sich«. Die Interviewpartnerin charakterisiert diesen Prozess als »eine Art Pingpong«. Dieses Bild weckt mehrere Assoziationen. Beim Pingpong hat man klare Regeln, man spielt mit genormten Schlägern auf einer genormten Platte, doch innerhalb dieses normativen Rahmens gibt es einen großen Spielraum mit der Möglichkeit des Unerwarteten: Man kann kontern, einen Topspin spielen, den Ball anschneiden, blocken, kein Schlag ist letztlich wie der andere. Auf diese Art scheint die Interviewpartnerin das In-Kontakt-Treten der Patientin »im Kreis« mit den anderen Personen im Raum erlebt zu haben. Sie spricht von einer »Gruppendynamik«, bei der sich »da was kreiert« hat, was auch den Gedanken einer Eigendynamik des Prozesses enthält. Dabei gibt es für die Interviewpartnerin einen Referenzpunkt – wie beim Pingpong vielleicht den Ball –, es können »da Themen bearbeitet werden«. Diese Bearbeitung von Themen wird als Wechselwirkungsprozess auf mehreren Ebenen charakterisiert: In dem Satz: »Obwohl die Frau ganz wenig gearbeitet hat, hat die Gruppe ihr ihre Themen ganz stark gespiegelt«, wird ein Ungleichgewicht zwischen der Aktivität der Frau und der äußeren Wahrnehmung ihrer Themen angesprochen. Für mich ist hier ein Hinweis auf das Verstehen von Zusammenhängen enthalten, für das die Wechselwirkung mit der Gruppe notwendig ist: Wenn man in einen Spiegel schaut, sieht man sich selbst aus einer anderen Perspektive, man erkennt Dinge, die man ohne den Spiegel nicht sieht. Zum Abschluss erweitert die Interviewpartnerin gewissermaßen den Begriff des ›Spiegels‹. Die Rolle der Gruppe ging in ihrer Sicht über die Funktion des Spiegels hinaus, die Gruppenmitglieder waren selbst auch Teil des therapeutischen Prozesses, sie haben sich
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in ihrer Spiegelfunktion wechselseitig therapiert. Für die Möglichkeit des Verstehens scheint die Offenheit der sozialen Bedeutungen für den subjektiven Lebensweg relevant zu sein, worin auch eine wahrgenommene Nähe zum Alltag der Bedeutungswelt des Settings enthalten ist, wie eine Patientin erläutert: IP: […] Also ich sag’ mal, wenn ich jetzt in einem christlichen Haus wär’, würde mir gesagt, irgendwie, würde mir das erklärt anhand eines Glaubenssystems und genau das finde ich hier so gut, dass es da letztendlich nicht eine Antwort drauf gibt, sondern dass ich hier auf meinem Weg unterstützt werde, meinen Sinn und mein Leben zu leben und kein festgefahrenes Glaubenssystem mir übergestülpt wird. […] Also das ist so ’ne ganz weite Offenheit dafür, dass das sein darf, und die Entscheidung liegt aber bei mir, was ich damit mach’.
In anderen Interviewausschnitten finden sich in diesem Zusammenhang Hinweise, dass es für das subjektive Verstehen auch relevant ist, dass man körperlich an den Gruppenprozessen beteiligt ist: IP: Also, heute Morgen war so eine Situation, das fand ich irgendwie, also, das war ’ne Kleinigkeit eigentlich, aber irgendwie hab ich da richtig drüber nachgedacht. Da mussten wir irgendwie wieder tanzen und irgendwie war ich ziemlich genervt und hatte auch keine Lust, groß zu tanzen und muss auch irgendwie offensichtlich auch ziemlich traurig ausgesehen haben. Es war irgendwie letzten Endes für mich, also, ich hatte da eben ein bisschen rumgestanden, na, gut, hast eben keinen Bock und plötzlich hat mich, irgendeine Mit-Patientin guckt mich nur an und sagt: »och«, und kam einfach und hat mich umarmt. Also, sie hat mich einfach in den Arm genommen, und dann war es gut, also, das war wirklich, also ich hätt’ nie gesagt zu irgendeinem: »nimm mich mal einer in den Arm«; ja, ich hätte dieses Bedürfnis überhaupt nicht verspürt. Aber das war dann, als sie es einfach gemacht hat, da hab ich so gemerkt, das war dann genau das, was ich in dem Moment brauchte. Und das gestehe ich mir überhaupt nicht zu. Ich nehm’s nicht wahr ganz oft, ja, in der Kerngruppe jetzt schon, also, da, also bei Vertrauten, das geht dann gut. Aber ich hab sonst meistens den Impuls, dass ich wirklich die Leute irgendwie in den Arm nehmen oder, und das war wirklich, und das sind so Sachen, die mir im Gedächtnis bleiben. Einfach aus dem Moment, das so zu nehmen und scheinbar schein’ ich da ja doch ein Signal auszusenden, ich weiß es nicht, und hier kann man’s eben.
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Die Interviewpartnerin beschreibt zunächst ihre ablehnende Haltung gegenüber der Aufforderung zum Tanzen in einer therapeutischen Veranstaltung. Mit den Worten »muss auch irgendwie offensichtlich auch ziemlich traurig ausgesehen haben« wechselt sie in die Außenperspektive, wahrscheinlich um das anschließend beschriebene Handeln einer anderen Patientin, die sie nicht kennt – »irgendeine Mit-Patientin« – zu erklären. Diese Patientin habe sie angeschaut und dann umarmt. Hier beschreibt die Interviewpartnerin nun eine Diskrepanz zwischen der Innenund Außenperspektive. Denn sie habe »sonst meistens den Impuls, dass ich wirklich die Leute irgendwie in den Arm nehmen [will]«. In dieser Situation geschieht nun etwas für sie Ungewohntes, das sie mit dem letzten Satz »und scheinbar schein’ ich da ja doch ein Signal auszusenden, ich weiß es nicht, und hier kann man’s eben« dem spezifischen Klinikkontext zuschreibt: sie wird durch die körperliche Handlung des Umarmens der anderen Patientin – eine Handlung, die sie selbst zu tun gewohnt ist –, auf ihr Bedürfnis aufmerksam gemacht, umarmt zu werden. Mit ihrer anschließenden Relativierung: »Ich nehm’s nicht wahr ganz oft, ja, in der Kerngruppe jetzt schon, also da, also, bei Vertrauten, das geht dann gut«, weist sie auf den Aspekt der Vertrautheit bzw. der Nähe hin, der in dieser Interaktion enthalten und der für diese Interaktion Voraussetzung ist. Nur bei vertrauten Personen bemerkt die Interviewpartnerin ihr Bedürfnis und traut sich, es auszuleben. Ich habe diese Charakterisierungen als Hinweise genommen, dass hier ein Phänomen angesprochen wird, das in den Bereich von Mimesis fällt (vgl. Kapitel 2.3.4). Im zweiten Kapitel habe ich erörtert, dass Mimesis »eine sonst nicht erreichbare Nähe zu den Objekten herstellt und […] daher auch eine notwendige Bedingung von Verstehen« ist (Gebauer & Wulf, 1998a, S. 11). Mimesis umfasst nicht nur nachahmen, sondern auch sich ähnlich machen, zur Darstellung bringen, ausdrücken und »vor-ahmen«. Die andere Patientin ahmt ihr Bedürfnis, umarmt zu werden, gewissermaßen vor, indem sie eine Handlung ausführt, zu der die Interviewpartnerin ansonsten selbst einen »Impuls« hat – das Bedürfnis selbst zu umarmen. Reziprok nimmt die Interviewpartnerin so ihre Gefühlswelt selbst wahr, sie »versteht« ihr zuvor mit den Worten »ich hatte da eben ein bisschen rumgestanden, na, gut, hast eben keinen Bock« geschildertes Erleben. Sie beschreibt das Erlebnis mit den Worten »Einfach aus dem Moment, das so zu nehmen und scheinbar schein’ ich da ja doch ein Signal auszusenden.« Der Satz »und das sind so Sachen, die mir im
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Gedächtnis bleiben« weist auf eine mögliche Anschlussfähigkeit an den Alltag hin, auf die ich im entsprechenden Kapitel zurückkomme. Bisher habe ich gezeigt, wie für ein subjektives Verstehen des eigenen Leidens die Aspekte des Gruppenbezugs, der Offenheit sozial geteilter Bedeutungen sowie der in einer szenisch-körperlichen Aufführung erlebten Vorahmung des Bedürfnisses einer anderen Personen relevant sind. Die Bedeutung der Gruppe als Ressource für das subjektive Verstehen von Zusammenhängen wurde bisher berücksichtigt, aber noch nicht ausreichend differenziert. Im oberen Zitat wird eine Situation beschrieben, in der die Interviewpartnerin in der mimetischen Interaktion ihre Gefühlswelt verstehen kann. Anhand der dichten Beschreibung von Körperarbeit mit Rhythmus und Musik werde ich nun zeigen, inwieweit das soziale Geschehen auch durch die beiden Aspekte der flexiblen Handhabung der Bedeutungswelt und der partizipativen Verfügung über Ressourcen charakterisiert ist. In dem großen Saal der Klinik sind etwa 40 bis 50 Personen zum »Taketina« versammelt, sie sitzen auf Meditationskissen oder gefalteten Decken. Zunächst sitzen alle im Kreis und halten sich an den Händen. Der Therapeut bezeichnet diesen Kreis als »Resonanzkreis«. Einige Minuten herrscht Stille. Dann sagen alle Patientinnen und Patienten mit einem Wort, wie sie sich hier fühlen, z.B. »müde«, »aufgeregt«, »traurig«, »angespannt«, »entspannt« oder »neugierig«. Die neuen Teilnehmenden stellen sich mit ihrem Namen vor. Danach kommen alle vor der Fensterseite zusammen und der Therapeut spricht über Afrika-Klischees: Das deutsche Bild sei, dass die Menschen dort mehr Rhythmusgefühl als die Menschen hier hätten. Doch alle Menschen hätten einen Rhythmus 24 Stunden am Tag in sich. Der Co-Therapeut simuliert mit seinem Mund nun den Herzrhythmus. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bewegen auf der Silbe »ga« die linke Hand nach außen, bei der Silbe »ma« die linke Hand wieder nach innen. Danach machen sie das Gleiche mit der rechten Hand. Stimme und Hände werden also synchron benutzt. Nach einigen weiteren Aufwärmübungen finden sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer im großen Kreis zusammen und halten sich im Stehen an den Händen. Der Therapeut drückt die Hand seines Nachbarn, der die Hand seines Nachbarn usw., so dass der Impuls herumgeht. Wenn der Impuls bei jemandem ist, gibt dieser ihn mit dem Wort »go« weiter. Dann kommen auch Impulse aus der anderen Richtung, die mit einem »uiii« weitergegeben werden. Nach einigen Minuten geht der Therapeut mit einem Berimbau
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in die Mitte des Kreises. Der Musikbogen Berimbau besteht aus einem gebogenen Holzstock, an dessen oberem und unterem Ende ein Draht befestigt ist. Am unteren Drittel des Bogens ist ein aufgeschnittener, ausgehöhlter Kürbis über Saite und Bogen befestigt, der als Resonanzkörper dient. Nun werden einige Vorübungen gemacht: erst den linken Fuß vor und zurück bewegen, dann abwechselnd den linken und den rechten Fuß vor und zurück bewegen, dann den rechten Fuß vor bewegen und links zur Seite. Dann singt der Therapeut den Rhythmus, zunächst »ga-ma-la«. Die Patientinnen und Patienten singen mit und machen auf jede Silbe abwechselnd einen Schritt mit dem rechten oder linken Bein. Nun kommt noch das gleichzeitige Klatschen der Hände hinzu. Dabei trommelt der Co-Therapeut auf einer großen Trommel, die er sich umgebunden hat. An seinen Füßen bewegt er umgeschnallte Rasseln. Nun bewegen sich die Teilnehmenden im Uhrzeigersinn. Der Therapeut sagt, dass es in Ordnung sei, aus dem Rhythmus herauszufallen und dann wieder hereinzukommen; so lerne man, dass man immer wieder hereinkomme, wenn man herausfalle. Etwa 15 Leute gehen vom Außenkreis in die Mitte und bilden dort einen Innenkreis. Es gibt also zwei Kreise, die sich im Uhrzeigersinn bewegen. Die beiden Musiker stehen zwischen den beiden Kreisen. Es werden verschiedene Silben gesungen. Die Füße werden in der oben beschriebenen Schrittfolge gesetzt, wobei der rechte Fuß immer zuerst zur linken Seite gesetzt wird, so dass die Kreisbewegung entsteht. Nun wird die Musik schneller, so dass immer mehr Patientinnen und Patienten – wie vom Therapeuten erwartet – den Rhythmus nicht mehr halten können. Ich selbst kann die Schritte schon längst nicht mehr einhalten. Zwei Männer hinter mir orientieren sich zuerst an mir, merken dann aber, dass ich auch völlig aus dem Rhythmus gefallen bin. Nach einiger Zeit wird die Musik wieder langsamer und nach Aufforderung des Therapeuten gehen die Teilnehmenden aus dem Innenkreis in den äußeren Kreis zurück. Die Patientinnen und Patienten machen weiterhin den Dreiecksschritt. Wer sich nicht mehr im Kreis bewegen möchte, soll sich in die Mitte legen und sich nicht außerhalb des Kreises aufhalten. Der Therapeut hat in seiner Einführung erläutert, dass die Teilnehmenden hier das »Feld« auf eine andere Art spüren könnten. Nach und nach legen sich nun Teilnehmende in der Mitte auf den Boden, meistens in Rückenlage auf die Decken. Am Schluss stehen nur noch die beiden Therapeuten, eine Patientin, die sich eine Rassel genommen hat, und ich. Der Therapeut hat vor der Veranstaltung erklärt, dass die Praktikanten sich auch in die Mitte, in das »Feld«, legen könnten.
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Zwei Praktikanten sollten aber immer im Kreis bleiben, um »das Feld zu halten«. Zum Abschluss setzen sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einem großen Kreis zusammen. Die Teilnehmenden, die heute zum letzten Mal da sind, verabschieden sich. Zwei Frauen äußern ihre Frustration, weil sie nicht im Rhythmus bleiben konnten. Eine der beiden sagt, es seien ihr hier zu viele Menschen. Sie wolle sich lieber zurückziehen, deswegen habe sie sich in den Innenkreis gelegt. Der Therapeut erwidert, dass es auch möglich sei, als Alternative zum Rückzug weiter zu versuchen, in den Rhythmus zurückzukommen. Den Abschluss bildet wie zu Beginn der durch die gehaltenen Hände gebildete Kreis. Nach einiger Zeit der Stille drücken die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kurz die Hände ihrer Nachbarinnen und Nachbarn. In der Szene fällt auf, dass die Veranstaltung in der spezifischen räumlichen Anordnung des Kreises beginnt und endet, in den einzelne Patienten während der Veranstaltung hineintreten und in dem sie ihr Anliegen vortragen. Unter Rückgriff auf die Stile des Performativen (Audehm & Zirfas, 2001) kann man den Kreis als normative Rahmung bezeichnen. Neben dem inhaltlichen Stilelement der Differenzbearbeitung wird an dieser Stelle auch der inhaltliche Aspekt des Umgangs mit Macht sichtbar: Der Therapeut nimmt eine Sonderstellung ein, er spielt das Instrument, er gibt den Takt an. In dieser Machtposition eröffnet er jedoch den Teilnehmenden individuelle Möglichkeiten, denn er sagt, dass es in Ordnung sei, aus dem Rhythmus herauszufallen. Explizit spricht der Therapeut individuelle Differenzen an, indem er sagt, dass man sich ab einem bestimmten Zeitpunkt in den Innenkreis auf den Boden legen könne und dass jeder den Rhythmus auf eine andere Art spüre. Wenn ich meine Nachbarn im Kreis an den Händen gehalten und mit ihnen gemeinsam zur Musik getanzt habe, habe ich erlebt, wie wir uns einander anähnelten und zu einer gemeinsamen Bewegung fanden. Ich wurde ein Teil der sich bewegenden Gruppe, meine Sinne öffneten sich, um selbst möglichst synchron dieselben motorischen Bewegungen wie die Menschen um mich herum zu machen. Es wurde schwierig für mich, innere Distanz zum Geschehen zu bewahren, es entstand gewissermaßen ein Sog mitzumachen. Hierzu trugen die permanent rezitierten Silben »ga-ma-la« bei, die bei mir Assoziationen an die sakrale Atmosphäre eines Gottesdienstes hervorriefen (vgl. Otto, 2004). Ich habe es als schwierig empfunden, im Rhythmus zu bleiben, und war frustriert, wenn ich herausfiel, und erleichtert, wenn ich wieder hineinkam. Diese beschriebenen Aspekte bilden den notwendigen
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rituellen Rahmen, damit die im Folgenden erläuterten Ressourcen wirksam werden können. Ich war neugierig, in den Interviews mehr darüber zu erfahren, wie andere Teilnehmende die Auseinandersetzung mit dem Rhythmus erlebten. IP: Und ich bin völlig begeistert, das ist ’ne neue Erfahrung, es kann auch gut gehen, und sehr lange sogar. Man kann wirklich da sehr viel experimentieren. So von mal Kind sein, mal groß sein, mal tragen lassen, mal getragen werden, mal selber tragen, das sind aber so Gefühlsgeschichten, und mal, das, was für mich momentan jetzt wichtig ist, Grenzen auszuprobieren. Zu sagen, nicht nur »jetzt reicht’s«, sondern »oh, jetzt kann ich ja mal«. Und das so auch zu verschieben, dass es nicht immer bis zum Ende gehen muss, wo ich dann zusammenklappe.
Die Patientin erlebt, dass sie »sehr viel experimentieren« kann, inhaltlich bezieht sie sich auf die »Gefühlsgeschichten«, »von mal Kind sein, mal groß sein, mal tragen lassen, mal getragen werden, mal selber tragen.« Mit den Dichotomien ›klein‹ und ›groß‹ bzw. ›passiv‹ und ›aktiv‹ scheint sie den von ihr erlebten Wechsel zwischen Selbst- und Fremdbestimmtheit zu charakterisieren; einen Wechsel, den ich selbst auch erlebt habe, wenn ich Teil der Gruppendynamik wurde und gleichzeitig versuchte, mich dem Sog zu entziehen. Sie beschreibt dann, wie sie mit ihrer eigenen Belastbarkeit experimentiert, sich weder allem entzieht noch bis zum Zusammenbruch weitermacht. Damit weist sie auf einen flexiblen Umgang mit den im sozialen Geschehen der Gruppe vermittelten Bedeutungen hin. Hierfür scheint es wichtig zu sein, dass die Interviewpartnerin in der Gruppe soziale Unterstützung erhält, worauf Worte wie »mal tragen lassen« hinweisen. Hierfür sprechen auch weitere Beobachtungen wie die Szene aus dem im nächsten Kapitel ausführlicher dargestellten »Forum«. Eine Frau geht in die Mitte und erzählt, sie habe in ihrer Jugend nach dem Tod ihrer Mutter den Haushalt allein organisieren müssen. Nach drei Jahren sei sie dann zusammengebrochen. Sie möchte »getragen werden«. Also kommen etwa 20 andere Patientinnen und Patienten in die Mitte und tragen sie in eine Decke gehüllt durch den Saal. Der Therapeut sagt, dass sie nun »Energie« bekomme. Anschließend reiben die Patientinnen und Patienten im Außenkreis wieder ihre Hände aneinander und halten sie dann mit offenen Handflächen nach innen. Die Frau in der Mitte hält ihre offenen Handflächen zum Außenkreis.
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In der Szene wird der Wunsch der Patientin, »getragen zu werden«, von der Gruppe der anderen Patienten und Patientinnen körperlich umgesetzt. Ebenso wird der Gedanke, dass sie von den anderen Patienten »Energie« bekomme, mit den körperlichen Gesten des Händereibens und Ausstreckens dargestellt. Die soziale Unterstützung wird in der Gemeinschaft gewissermaßen auf eine leicht verständliche Art körperlich und mimetisch inszeniert (vgl. z.B. Wulf, 2005) und damit auch konkret gegeben. In dem Zitat weiter oben schilderte die Interviewpartnerin Zusammenhänge zwischen ihrem Erleben von »Gefühlsgeschichten« und dem Kontext des »Taketina«. Auch in anderen Interviews werden Wechselwirkungen zwischen der performativen Inszenierung des Taketina und eigenen emotionalen und körperlichen Prozessen beschrieben. I: Warum? Also, was passiert da mit Ihnen, was gefällt Ihnen da so daran? IP: Na, das ist ja so dynamische Körpertherapie und ich komm’, ich komm’ da mit meinen emotionalen Blockaden in Berührung. Je nachdem, was er auch für Vorübungen macht, vor dem eigentlichen »Taketina«, da komm’ ich viel mit dem Kind in Berührung, beim »Taketina«, mit Loslösen und so. Das find’ ich gut, weil ich die Hemmungen davor, mich einfach mal so bewegen, die Angst davor, da fühle ich mich geerdet, gerade hier in dem Bereich, das tut mir immer hier gut, alles.
Der Patient beschreibt, wie er im »Taketina« mit seinen »emotionalen Blockaden in Berührung« kommt. Wie in dem Ausschnitt zuvor, wird auch hier der Begriff ›Kind‹ zur Charakterisierung von Gefühlen benutzt, zu denen im »Taketina« offensichtlich eine Verbindung entsteht. Die »emotionalen Blockaden« scheinen sich für den Interviewpartner im »Taketina« zu lösen, was er wiederum mit der Überwindung von »Hemmungen« bzw. »Angst«, sich »einfach mal so [zu] bewegen«, in Zusammenhang bringt. Der Zusatz »da fühle ich mich geerdet« lässt sich als Ergebnis von Wechselwirkungen interpretieren: Er kann seine Angst überwinden, weil er sich »geerdet« fühlt, und er fühlt sich gerade deshalb »geerdet«, weil sich seine »emotionalen Blockaden« lösen. Indem er an dem sozialen Geschehen teilnimmt, in dem die Welt um ihn herum ständig in Bewegung ist, erscheinen ihm auch seine emotionalen Probleme als beweglich und beeinflussbar. Eine andere Interviewpartnerin benutzt den ähnlichen Begriff des »Loslassens« im Kontext einer anderen szenisch-körperlichen Aufführung.
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IP: Ja, je nachdem, was, also, ich komm’ ja grad’ von »Heilkraft der Stimme« und da ging’s ja auch ums Loslassen, auch um dieses Fließen und ins große Meer und, also, ich merke so, wo ich sagen kann, einfach ’ne körperliche Entspannung und auch so, aha, es ist alles in Ordnung, also, dass ich auch das, was ich dann, die Anteile, die ich in mir ablehne, dass ich die auf einmal so integrieren kann und so, das entspann’ dich jetzt mal, also, und das Wirken, und grade dieses Wort »Fließen« jetzt, um ein Beispiel zu nehmen, das wird, das spür’ ich, glaub’ ich, direkt körperlich, wenn mir das so jemand sagt.
Die Patientin schildert, wie sie in »Heilkraft der Stimme« eine »körperliche Entspannung« erlebt. Die »körperliche Entspannung« äußert sich bei ihr in dem Gefühl »es ist alles in Ordnung«, was für sie inhaltlich bedeutet, dass sie, »die Anteile, die ich in mir ablehne, dass ich die auf einmal so integrieren kann«. Zuvor charakterisiert die Interviewpartnerin die Veranstaltung mit dem Satz: »da ging’s ja auch ums Loslassen, auch um dieses Fließen und ins große Meer.« Man könnte sagen, dass so, wie ein Fluss in ein Meer fließt und sich mit dem Meereswasser vermischt, die Interviewpartnerin auch das Erleben der »körperlichen Entspannung« mit dem Größeren des gemeinschaftlichen Singens assoziiert. Körperlichkeit, Kognition und Emotion lassen sich hier nicht voneinander trennen und stehen mit dem Kontext einer menschlichen Gruppe in Wechselwirkung, die gemeinsam eine Aktivität ausübt – hier das Singen. Die Interviewpartnerin erlebt hier, dass sich die soziale Bedeutungswelt flexibel handhaben lässt. Das führt bei ihr zu der Wahrnehmung, auch eigene abgelehnte Selbstinhalte flexibel handhaben und integrieren zu können. Ich habe dieses Kapitel mit der Exploration der im ersten Interviewzitat verwendeten Worte »Verstehen von Zusammenhängen« begonnen. Man kann nun interpretieren, dass die Interviewpartnerin des ersten Ausschnitts hiermit meinen könnte, dass sie Wechselwirkungen zwischen ihrem eigenen Erleben und den Kontexten, in denen sie sich befindet, wahrnimmt. Mit dem SPI-Modell (Hannover & Kühnen, 2002) kann man schließen, dass Kontexte wie »Taketina« und »Heilkraft der Stimme« Selbstinhalte aktivieren, die hier eine bestimmte Orientierung aufweisen: Sie sind ressourcenorientiert. In einem anderen Interviewzitat findet sich eine weiterführende Differenzierung der Wechselwirkung zwischen dem eigenen Erleben und dem Kontext.
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IP: […] ich stoß’ dann drauf, durch des, was ich hier an Nahrung bekomm’ durch die Klinik, sei’s des gute Essen, sei’s die Gestaltung von der Mitte oder die Räumlichkeiten sind schön gestaltet, die Menschen, die Begegnungen, die Gespräche. Ja, dann plötzlich krieg’ ich ’nen inneren Impuls, das ist dann mein Raum. Der Impuls entsteht in mir und dann mach’ ich mich plötzlich auf, obwohl ich vorher noch gar nichts davon wusste. Also, mein Bewusstsein nährt sich von dem, was, was ich hier an Angeboten hab’ und wahrnehme, ein neues Bewusstsein, ein anderes.
Die Patientin differenziert mit den Worten »sei’s des gute Essen, sei’s die Gestaltung von der Mitte oder die Räumlichkeiten sind schön gestaltet, die Menschen, die Begegnungen, die Gespräche« unterschiedliche Kontexte in der Klinik, denen gemeinsam ist, dass sie bei ihr »’nen inneren Impuls« auslösen. In der Erweiterung des SPI-Modells (Hannover, Pöhlmann, Springer & Roeder, 2005, vgl. Kapitel 2.3.3) werden Annahmen über kontextabhängige motivationale Prozesse miteinbezogen. Entsprechend habe ich den Satz: »Der Impuls entsteht in mir und dann mach’ ich mich plötzlich auf, obwohl ich vorher noch gar nichts davon wusste« bzw. die Worte »ein neues Bewusstsein, ein anderes« als Hinweis genommen, dass hier eine Möglichkeitsorientierung angesprochen ist. Die Interviewpartnerin charakterisiert den »inneren Impuls« mit den Worten »das ist dann mein Raum.« Diese Formulierung weist auf ein soziales Geschehen hin, auf ein Erleben, das mit anderen Personen geteilt wird. Der ›Raum‹ als Erlebnisort spielt im Klinik-Diskurs eine wichtige Rolle und wurde in den Interviews entsprechend oft thematisiert. Die Interviewpartnerin, mit deren Zitat ich dieses Kapitel begonnen habe, konnotiert ›Raum‹ mit der Erfahrung, selbst integriert zu sein. IP: Das verbind’ ich mit Sicherheit, mit Geborgensein, da sein können.
Diese Art des Erlebens unterscheidet sich erheblich von der Ausgrenzung, mit der sie zuvor ihre Psychose charakterisiert hat. IP: Also, wenn ich das Wort Psychose hör’ und denk’ ’ne Psychose, was heißt das dann? Es ist wie ein Rausfallen aus der Gesellschaft, ein Anderssein, ein Nichtteilnehmen-Können, Nicht-verstanden-Werden.
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In diesem Zusammenhang ist es relevant, dass in den Interviews auch die Fragilität des als ›Raum‹ charakterisierten Phänomens angesprochen wurde – und dass er auch nicht immer als emotionales Ereignis zustande kommt. IP: Dass alles Platz hat, dass alles rein darf, wenn er [Anmerkung des Autors: gemeint ist ›der Raum‹] gelingt, dass alles Platz hat, dass alles rein darf.
Von welchen Kriterien hängt die Fragilität des ›Raums‹ dann ab? Mit einem Interviewausschnitt, in dem eine Szene aus einer Gruppensitzung beschrieben wird, lässt sich der ›Raum‹ als sozialer Prozess beschreiben. IP: […] zwei Patientinnen, die wirklich beide noch Anliegen hatten, und beide, bei beiden ging’s, glaub’ ich, um ihren Platz und Grenze, also sehr persönliche existenzielle Sachen, so. Eigenen Raum zu haben, Platz zu haben und dann blieb nur wenig Zeit, und es wär’ halt, ’ne Entscheidung hätte getroffen werden müssen, wer jetzt die Zeit nimmt, weil vielleicht ist nicht mehr Zeit für beide. Und daraus kam es dann, dass die ganze Gruppe eigentlich, wie halt sich Spannung aufgebaut hat, weil, es war ’ne riesengroße Spannung in dem Raum: »Fällt jetzt halt einfach einer ’ne Entscheidung, ist ja egal, Hauptsache, es kommt jemand dran.« Und keine von den beiden wollte sagen: »Ich möchte aber.« Und das war halt ein sehr interessanter Prozess, wie dann, wie dann beide quasi dabei waren, die ganze Gruppe irgendwie total fertig war, richtig gespannt war, alle mussten auf Toilette und so, der Druck war halt sehr groß. So dass dann niemand von den beiden zum Schluss dran gekommen ist nur als Anliegen, aber die ganze Gruppe die Spannung die ganze Zeit gehalten hat und somit auch dieses Thema der eigenen Grenzen, den eigenen Raum nehmen, auch mit bearbeitet wurde, aber dann eben von allen halt. […] I: Was haben dann die Therapeuten gemacht? IP: Nicht die Entscheidung für die Patienten getroffen. I: Haben die dann moderiert? IP: Was können sie noch gesagt haben? Moderiert auf jeden Fall, aber eben bedingt, eben eher drauf, bewusst drauf aufmerksam gemacht, was eben grade abläuft, dass hier Spannung existiert und dass man das im ganzen Raum merkt. Und dass halt wirklich hohe Energie grad’ herrscht und dass damit halt grad’ alle mit involviert sind und nicht nur die beiden. Also, sie haben das eben sehr offen dargelegt, was jetzt gerade ist, um jetzt eben auch klar zu machen, was passiert denn jetzt gerade. (Praktikantin)
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Die Interviewpartnerin beschreibt, wie zwei gleichberechtigte Ansprüche auftreten und es infolgedessen zu Spannungsübertragungen kommt. Die Anliegen der beiden Patientinnen werden als »ihren Platz und [ihre] Grenze, also sehr persönliche existenzielle Sachen, so. Eigenen Raum zu haben, Platz zu haben« charakterisiert. Die Interviewpartnerin sieht in der nicht getroffenen Entscheidung den Grund für die von ihr wahrgenommene Spannung. Der Satz: »sie haben das eben sehr offen dargelegt, was jetzt grade ist, um jetzt eben auch klar zu machen, was passiert denn jetzt gerade«, weist darauf hin, dass die Therapeutinnen das Verstehen der Teilnehmenden fördern, also durch Benennen emotionales Geschehen ins Bewusstsein rufen, klassifizieren – und damit die Sicht der anderen Personen färben – und kognitiv nachvollziehbar werden lassen. Zuvor schlussfolgert die Interviewpartnerin, dass »aber die ganze Gruppe die Spannung die ganze Zeit gehalten hat und somit auch dieses Thema der eigenen Grenzen, den eigenen Raum nehmen, auch mit bearbeitet wurde, aber dann eben von allen halt.« Indem alle Teilnehmenden das zunächst individuell vorgetragene Thema des ›eigenen Raumes bzw. der Grenzen‹ selbst in einer interdependenten Situation erleben, werden sie dazu gezwungen, Spannung baut sich ja auf, das Thema – gefördert durch die Therapeutinnen – auf eine sinnlich-körperliche Art zu verstehen. Der in der einführenden Grafik mit der Formulierung ›geordnet‹ bezeichnete Aspekt wurde in diesem Setting mit den Attributen der Offenheit der sozialen Bedeutungen für den subjektiven Lebensweg und dem mimetischen Aspekt des Vorahmens charakterisiert. Im Hinblick auf die in der Grafik unter ›partizipativ‹ gefasste Rubrik wurde auf die erlebte soziale Unterstützung verwiesen, die im Gruppensetting körperlich erfahrbar wird. Daneben wurde erläutert, wie in der gemeinschaftlichen Aktivität das eigene Erleben an den Kontext gebunden ist. Indem der soziale Kontext als flexibel handhabbar erlebt wird, werden auch die eigenen Emotionen als flexibel wahrgenommen, auch problematische Anteile im Leben als beeinflussbar erfahren.
5.3.3 Die Gemeindepsychiatrie für die Mapuche Auf welche Weise ist in der Gemeindepsychiatrie das soziale Geschehen geordnet? Die Idee, dass durch eine anschauliche Ordnung der Bedeutungswelt Verstehen möglich wird, ist in dem Zitat eines Psychologen enthalten.
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Denn für ihn ermöglichen die gemeindepsychiatrischen Hausbesuche den Patientinnen und Patienten, ihre Behandlung besser zu verstehen, als wenn sie im Krankenhaus wären. D: Basically, the patients have a better chance of understanding the treatment that the hospital offers them. They can understand it through the home visits that are performed by the staff. The patients – because of the distances from their homes to the hospital – usually arrive late and they don’t have enough time to receive a complete attention regarding explanations and the understanding of the treatment. And in exchange the communitary style with the home visits, it includes enough time to help a better understanding in the patients.
Dabei nennt der Interviewpartner auch den Grund, warum die Patienten die Behandlung besser verstehen: Die ausreichende Zeit im Rahmen der Hausbesuche ermöglicht eine umfassende Zuwendung (»complete attention«). Der zeitliche Aspekt der Zuwendung, der mit dem räumlichen Aspekt der Hausbesuche untrennbar verbunden ist, weist darauf hin, dass Verstehen ein Prozess ist. Um subjektives Verstehen mit der sozialen Bedeutungswelt des gemeindepsychiatrischen Settings in Beziehung zu setzen, möchte ich eine dichte Beschreibung präsentieren, die ich aus Beobachtungsprotokollen von einem Besuch in den Gemeinden gebildet habe. Von der Psychiatrie holt uns ein Fahrer im Pick-up ab. Neben der Sozialarbeiterin fährt eine medizinische Assistentin wegen der Medikamentenversorgung mit. Ein Praktikant fährt als Übersetzer für mich ebenfalls mit. Der Fahrer im weißen Kittel bleibt immer im oder beim Wagen. Die Sozialarbeiterin trägt ein Schild mit ihrem Namen, ihrem Foto und ihrer Funktion in der Psychiatrie. Die medizinische Assistentin trägt Alltagskleidung. Auf dem Auto steht »Salud mental«. Bei unseren Patientenbesuchen stellt die Sozialarbeiterin allen Patientinnen und Patienten Fragen nach ihrem Befinden. Wir halten uns zwischen 10 und 30 Minuten bei ihnen auf. Die Sozialarbeiterin steigt immer zuerst aus und fragt die Patienten und ihre Angehörigen, ob der Praktikant und ich auch hinzukommen dürfen. Der Patient kommt zuerst nicht aus dem Holzhaus heraus, in dem er ein Fahrrad repariert. Deshalb sprechen wir zuerst mit seinen Eltern. Sein Vater redet kurz mit der Sozialarbeiterin, dann geht er mit einem Hackwerkzeug aufs Feld. Anschließend spricht die Sozialarbeiterin für einige Minuten mit der Mutter. Sie fragt auch nach der allgemeinen Situation
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in der Familie und sagt, der junge Mann könne natürlich auch in dem Holzhaus bleiben, wenn er nicht herauskommen wolle. Das Anwesen besteht aus zwei rechtwinklig zueinander stehenden etwa 25 Quadratmetern großen Holzhäusern und einem weiteren Holzhaus. Daneben liegt ein abgezäunter Garten, in dem Schweine und Hühner herumlaufen. Wie immer gibt es mehrere Hunde und Katzen. Die Mutter geht in das Haus und spricht mit ihrem Sohn, etwa fünf Minuten später kommt er heraus: ein kräftiger junger Mann in T-Shirt und Jeans, mit einer Baseball-Mütze auf dem Kopf. Er begrüßt uns alle freundlich, wirkt etwas schüchtern. Die Sozialarbeiterin fragt ihn, wie es ihm gehe, wie er schlafe, ob er Stimmen höre oder Bilder sehe. Er erklärt, dass er nur nachts Stimmen höre und merkwürdige Dinge um sich herum wahrnehme. Die Sozialarbeiterin fragt nach, wo die Stimmen seien, und er sagt, nicht in seinem Kopf, sondern außerhalb. Die Bilder sehe er nicht tagsüber. Er habe auch Kopfschmerzen. Es wird auch gefragt, ob der Patient regelmäßig seine Medikamente nehme. Er tut es nicht immer. Die Sozialarbeiterin sagt, dass das in Ordnung sei, solange er seinen Zustand beobachte und darauf achte, die Medikamente zu nehmen, wenn psychotische Symptome aufträten. Als die Sozialarbeiterin fragt, ob wir einige Tage später zu einem Interview wiederkommen könnten, meint er, dass er bei der Ernte helfen müsse und nicht da sein werde. Die Sozialarbeiterin trägt zwar ebenso wie die medizinisch-technische Assistentin Alltagskleidung, ihr Schild mit ihrer Berufsbezeichnung grenzt sie aber ab. Die »Requisiten«, der weiße Kittel des Fahrers und die Aufschrift »Salud mental« auf dem Auto, fungieren bei den Hausbesuchen als Rahmen. Wie zeigt sich nun die »ausreichende Zeit« bzw. die Zuwendung, von der der Psychologe im oberen Zitat spricht? Auffällig ist, dass in der Interaktion zwischen der Sozialarbeiterin und den Patienten bzw. deren Angehörigen die Distanz aufgehoben wird. Dadurch dass der Übersetzer und ich erst später hinzukommen, stehen wir mit dem Fahrer als weitere Gruppe entfernt. In dieser besonderen Anordnung unserer Körper im Raum wird deutlich, wie sehr die Sozialarbeiterin darauf achtet, dass die Patienten und ihre Familien mitbestimmen können. Die Familienangehörigen sind bei den Patientenbesuchen immer dabei und werden mit einbezogen. So geht die Mutter ins Haus und spricht mit ihrem Sohn, der sein Fahrrad repariert. Aufgrund dieser Einbeziehung der Familienangehörigen interpretiere ich die Situation als interdependent. Als Einstieg in das Gespräch fragt die Sozialarbeiterin den Patienten nach seinem Be-
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finden. Am nächsten Schritt lässt sich betrachten, wie »Verstehen« hier in Bezug auf die Medikamenteneinnahme als dialogischer Prozess funktioniert. Dieser besteht einerseits aus einem Dialog über die Phänomene, die von der Sozialarbeiterin als psychotische Symptome interpretiert werden, und andererseits daraus, dass die Sozialarbeiterin dem Patienten Wertschätzung entgegenbringt und ihm Selbstbestimmung zugesteht. Es liegt dann in der Eigenverantwortung des Patienten bzw. seiner Angehörigen, beim Auftreten von Phänomenen, die er und seine Familienmitglieder als »psychotische Symptome« zu interpretieren gelernt haben, dann auch tatsächlich die Medikamente einzunehmen. Somit ergibt sich auch die Möglichkeit, dass Patientinnen und Patienten trotz psychotischer Symptome keine Medikamente einnehmen. Wie sieht dann der Prozess des Verstehens aus? Mit einer weiteren »dichten Beschreibung« möchte ich mich einer Antwort annähern. Wir besuchen eine Patientin, die seit einem Jahr keine Medikamente mehr eingenommen hat. Ihre Eltern haben die Psychiatrie informiert, dass der Umgang mit ihrer Tochter immer schwieriger werde, und sie Unterstützung bräuchten. Die Sozialarbeiterin benutzt mir gegenüber den Begriff der »Krise« zur Charakterisierung dieser Situation. Während der Fahrer, die medizinische Assistentin und ich im Auto bleiben, gehen der Praktikant und die Sozialarbeiterin zum Haus der Familie. Die Sozialarbeiterin versucht, die Patientin und ihre Familie zu überzeugen, die Medikamenteneinnahme fortzusetzen. Später höre ich in einem Gespräch zwischen der Sozialarbeiterin und einem Psychologen, dass es für sie nicht wichtig sei, ob die Patientin sich einer machi-Behandlung oder eine psychiatrischen unterziehe. Wichtig sei nur, dass sie überhaupt konsequent an einer Behandlung teilnehme. Bisher folgt die Patientin weder der psychiatrischen Behandlung noch der eines machi, eines Mapuche-Heilers. Mit der Krise der Patientin erhält die Medikamenteneinnahme für die am Gespräch Beteiligten erst eine besondere Relevanz. Die Aussage der Sozialarbeiterin, wichtig sei nur, dass die Patientin einer Behandlung folge, weist darauf hin, dass die Interessen der Familie berücksichtigt werden. Doch in diesem Fall hatte die Familie kein Interesse an einer Behandlung durch einen machi, so dass es der Sozialarbeiterin ein Anliegen war, die Patientin zur Medikamenteneinnahme zu bewegen. Ich habe sie später in einem Gespräch auf diese Situation angesprochen.
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I: In which sense is it important that the patients and their families understand that the patients have a mental disorder and believe in this psychiatric diagnosis? D: By itself it has no benefit, but through a psycho-education process we can reach responsibility for the medication so the person will continue taking the medicine. […] They are complementary, but the medication must go first because there cannot be a psycho-education or a social work if the patients fear the first symptoms, and medication allows them to be reached by the psychosocial work.
Für die Sozialarbeiterin erbringt die Akzeptanz des medizinischen Krankheitsmodells an sich noch keinen Nutzen für die Patienten und ihre Familien. Der Nutzen entsteht für die Interviewpartnerin erst über einen Prozess der Psychoedukation, in dessen Verlauf die Patienten Verantwortung für die Medikation übernähmen, was wiederum dazu führe, dass sie die Medikamente auch tatsächlich einnehmen würden. Ihre Aussage passt zu der ersten geschilderten Szene, in der sie die Verantwortung hinsichtlich der Medikamenteneinnahme dem Patienten überlässt. Sie weist im Interview jedoch darauf hin, dass die Medikamenteneinnahme dem Prozess der Psychoedukation vorausgehen müsse, da die Angst der Patienten vor den Symptomen ansonsten der Psychoedukation entgegenstehe. Erst die Medikamente würden es ermöglichen, dass die Patienten überhaupt durch die »psychosoziale Arbeit« erreicht werden könnten. Insofern stellt sie in ihrer Aussage eine Nähe her zwischen der Medikamenteneinnahme und der Psychoedukation. Beide scheinen im Wechselspiel zu einem subjektiven Verstehen zu führen. Dabei stellt die Krise einen besonderen Referenzpunkt her, vor dessen Hintergrund man auch den Prozess des Verstehens interpretieren muss. Denn die Eltern hatten mit der Psychiatrie Kontakt aufgenommen, da sie sich im weiteren Zusammenleben mit ihrer Tochter überfordert fühlten. Vor diesem Hintergrund bekommt die Einnahme der Medikamente eine besondere Relevanz, da die Krise das gewohnte familiäre Zusammenleben gefährdet. D: Sometime there has been a patient who has been seven months hospitalized because she was running away from home, refusing treatment, wouldn’t take medicine, and the psychiatrist after seeing that she was in risk decided to keep her in the hospital until creating the conscious of a disease, until she was able to take the […] treatment which requires the blood test.
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Die Krankenschwester beschreibt, wie eine Patientin, die eine Medikamenteneinnahme ablehnte, gegen ihren Willen hospitalisiert wurde. Sie begründet die Hospitalisierung mit dem Weglaufen der Patientin von ihrer Familie und dem Verweigern der Medikamenteneinnahme. Die Interviewpartnerin stellt dann einen Zusammenhang zwischen einem Veränderungsprozess bei der Patientin und dem Verlassen des Krankenhauses her. Denn die Patientin habe so lange im Krankenhaus bleiben müssen, bis bei ihr ein »Krankheitsbewusstsein« geschaffen worden sei. Mit diesem entstandenen »Krankheitsbewusstsein« verbindet die Interviewpartnerin dann auch die Behandlung der Patientin, in deren Rahmen Bluttests erforderlich sind. Man kann die Worte »creating the conscious of a disease« als Synonym für die vom Psychologen verwendeten Begriffe »understanding the treatment« auffassen. Damit habe ich bisher mehrere Aspekte eines Verstehens aufgezeigt. Erstens wird Verstehen mit der Übernahme von Eigenverantwortung durch die Patienten bzw. ihre Familien für die Einnahme von Medikamenten verbunden. Denn in der oberen Szene bat die Familie die Sozialarbeiterin zu kommen, als sich die Tochter in einer Krise befand. Die Sozialarbeiterin arbeitete wiederum an der Einnahme der Medikamente. Und zweitens ist hier eben die interdependente Situation der Familie angesprochen. Die Familienangehörigen sind immer dabei, wenn die Mitarbeiter der Psychiatrie die Patienten besuchen. Und im Zitat der Krankenschwester findet sich ein Hinweis, dass das »running away from home« ein Grund für die Hospitalisierung der Patientin war; später konnte sie mit der Medikamenteneinnahme wieder zu ihrer Familie zurückkehren. Dazwischen lag für die Interviewpartnerin das »creating the conscious of a disease«, das »Verstehen der Krankheit«. In den Interviews mit den Patienten bzw. ihren Angehörigen habe ich die Frage exploriert, was denn ein »Verstehen der Krankheit« für sie inhaltlich bedeute. Dabei bin ich auf ein Phänomen gestoßen, das sich im Kontext des zweiten Aspekts verorten lässt, der das soziale Geschehen charakterisiert, der ›flexiblen Handhabung der Bedeutungswelt‹. Um dieses Phänomen zu erläutern, bietet es sich an, auf die psychotische Krise zurückzukommen, da sie den Zugang zur Psychiatrie darstellt. D: The explanation she has is that with the diagnosis people don’t have any stigmatization, they even are nicer because they know he’s ill. So they feel not sorry, but they care for him. They are worried about him being well, they want him to be
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fine, and I asked about why the change, and she says that before the diagnosis he made a lot of noise, he used to march, like the military. He was screaming that the earth was coming to an end, the world was ending, and he also would walk until very late, so that was annoying for the neighbours. And when the diagnosis came and their medical attention also, he stopped marching, he stopped making noises.
Die Mutter eines jungen Mannes mit der Diagnose Schizophrenie beschreibt Veränderungen in der Beziehung zwischen ihrem Sohn und den Nachbarn. Ihr Sohn habe, laut apokalyptische Prophezeiungen schreiend, die Nachbarn belästigt. Mit der psychiatrischen Behandlung hätten seine Belästigungen aufgehört. Die anderen Personen würden sich nun um ihren Sohn kümmern, auch, weil sie nun wüssten, dass er krank sei. Sowohl bei der Mutter als auch bei den Nachbarn hat also ein Veränderungsprozess in den Zuschreibungen stattgefunden, doch es ist bisher noch unklar, was die Zuschreibungsprozesse in diesem Kontext inhaltlich umfassen. Die Interviewpartnerin gibt weitere Hinweise auf die Vorstellungen der Nachbarn. D: But the neighbours think he is cured and like he’s big and strong. They treat him like if he was never sick. So they treat him, because they are very sure that he’s cured. I: Ah, so they really think that he’s cured? D: Yes, exactly, because they see him acting normal. I: Do they know that he is taking pills? IP: Sí, saben.
Die Interviewpartnerin beschreibt – anscheinend im Widerspruch zu ihrer vorigen Aussage, nach der ihr Sohn für die Nachbarn krank sei –, dass die Nachbarn ihren Sohn für gesund halten und sich ihm gegenüber so verhalten würden, als ob er nie krank gewesen wäre. Gleichzeitig wüssten sie jedoch, dass er Tabletten einnehme. Die Tabletteneinnahme des jungen Mannes scheint insofern bei den Nachbarn zum einen zu bewirken, dass sie sich freundlicher ihm gegenüber verhalten und sich um ihn kümmern, zum anderen, dass sie ihn so behandeln, als ob er »nie krank gewesen« wäre. Als Begründung wird angeführt, dass sie sähen, wie er sich äußerlich normal verhalte. Man kann hieraus auf ein Wissensdefizit zwischen mir als westlichem Psychologen mit meinem Fachwissen über
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Schizophrenie und ihre medikamentöse Behandlung und der MapucheGemeinde schließen. Für sie ist das Problem gelöst, weil sie der junge Mann nicht mehr mit seinen nächtlichen Ausfällen belästigt. Sie wissen aber nicht – anders als ich –, dass Schizophrenie nicht einfach über Tabletten heilbar ist und dass vermutlich die Symptome wiederkommen, wenn der Patient die Medikamente absetzt. Entsprechend scheint sich hinter dem Satz: »they even are nicer because they know he’s ill«, etwas anderes zu verbergen, als ich selbst erwartet habe. Denn der anschließende Satz: »the neighbours think he is cured and like he’s big and strong. They treat him like if he was never sick«, beschreibt eine flexible Handhabung der psychiatrischen Behandlung aufgrund eines Wissensdefizits, die zu einem konsistenten Umgang mit dem jungen Mann führt: Die Beteiligten scheinen den jungen Mann, obwohl er ein Patient der Psychiatrie ist und Medikamente einnimmt, wie andere (gesunde) Personen zu behandeln. Die Mutter führte ihre Einschätzung hinsichtlich des Gesundheitszustandes ihres Sohnes weiter aus: D: She thinks he’s healthier with the medications on, but he’s still sick because he hasn’t still recovered entirely, he’s not like before. And she thinks he will be improving. […] I: What do you think, how long would this take? D: He’s been taking pills since May, she thinks that maybe three more months and he will be normal.
Die Interviewpartnerin meint vermutlich, dass ihr Sohn die Medikamente nur noch drei Monate einnehmen muss und dann »gesund« ist und sie absetzen kann. Von ihr wird die Einnahme der Medikamente eher mit Gesundheit als mit Krankheit verbunden, ja, die Medikamenteneinnahme verwandelt Krankheit in Gesundheit. Ihr scheint aber nicht klar zu sein, dass ihr Sohn die Medikamente vielleicht lebenslang einnehmen muss. Damit beruht ihre Vorstellung von Gesundheit auf einem Wissensdefizit. Wie schätzt der junge Mann selbst seinen Gesundheitszustand ein? I: Now, do you know what sickness you have? IP: No, no. I: But you went to the hospital, I think? IP: Sí, sí. I: And what did the doctors tell you when you were there?
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D: That I had to stay in the hospital. I: How long did you stay there? D: One week, but twice. I: And what did the doctors do when you were there? D: Injections, they give him medicine.
Der Interviewpartner weiß nicht, welche »Krankheit« er hat. Er erzählt, dass er zweimal in das Krankenhaus gekommen sei und dort den Anweisungen der Ärzte gemäß jeweils eine Woche geblieben sei. Meine Frage nach der Interaktion mit den Ärzten beantwortet er nur im Hinblick auf die erhaltenen Spritzen, andere Aspekte scheinen ihm nicht bewusst zu sein. Ich habe diese Aussage als Hinweis genommen, dass die Medikamente für die Einschätzung seines Gesundheitszustandes das entscheidende Kriterium sein könnten und weiter in diese Richtung gefragt. Auf meine Frage, was bei einem Abbruch der Medikamenteneinnahme passiere, antwortet er, dass er sich wahrscheinlich »krank fühlen würde«: D: Probably I would feel sick. I have never stopped taking the medication.
Er scheint sich in diesem Moment also nicht krank zu fühlen – obwohl er Medikamente einnimmt. D: Now I’m fine, before I was bad. I: Yes, so you’re healthy because of the medicine, is that the idea? IP: Sí, sí.
Das »before« scheint sich auf die Zeit vor der Einnahme der Medikamente zu beziehen. Insofern beschreibt er sich gegenwärtig als nicht krank und ordnet die Krankheit einer vergangenen Lebensphase zu. Die Veränderung sieht er in der Einnahme der Medikamente begründet, ihnen schreibt er seinen gegenwärtigen »guten« Zustand zu. In dem Interview mit seiner Mutter war mir aufgefallen, dass sie mit der Einnahme der Medikamente einen zeitlich begrenzten Prozess, bis ihr Sohn »wieder normal« sei, verbindet. Deswegen habe ich auch ihren Sohn darauf angesprochen, auf wie lange er die Dauer der Medikamenteneinnahme einschätzt. I: And what do you think, how long do you have to take the medicine? D: About one or two years.
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I: So do you think that like it’s a process? That the medicine is curing you now? E: […] Yes.
Der junge Mann sieht sein Gesundwerden als einen Prozess, den er mit der Einnahme der Medikamente verbindet. Er glaubt, dass er die Medikamente noch ein oder zwei Jahre nehmen müsse und sie ihn allmählich heilen würden. Auf meine Frage nach seinen Ängsten antwortet er: D: He’s worried that the disease may come back.
Gleichzeitig mit den Vorstellungen, dass er aufgrund der Medikamenteneinnahme gesund sei bzw. durch die Medikamente in einem zeitlichen Prozess dauerhaft von der Krankheit geheilt werde, existiert in ihm die Idee, dass die Krankheit wiederkehren kann. Auch aus dieser Aussage kann man einerseits wieder rückschließen, dass er sich im Augenblick des Gesprächs nicht als »krank« sieht; andererseits aber auch, dass er vielleicht doch ahnt, dass seine »Gesundheit« von der dauerhaften Einnahme der Medikamente abhängt. Der Interviewpartner scheint aufgrund eines Wissensdefizits flexibel mit den psychiatrischen Kategorien umzugehen. Dieser flexible Umgang führt zu einer konsistenten Wahrnehmung einer Person mit der Diagnose Schizophrenie, sowohl bei ihr selbst als auch in ihrem Umfeld. Ihre psychiatrische Medikation wird folgerichtig mit Gesundheit verbunden. Im Zusammenhang der Handhabung psychiatrischer Kategorien bin ich auch auf eine flexible Handhabung unterschiedlicher Erklärungsmodelle gestoßen. Ich habe einen anderen Interviewpartner gefragt, wie er sich gesundheitlich fühlt. D: […] I feel completely normal. I: And when you stop taking the medication? What do you think does happen then? D: I think I would continue to be okay. I: Ah okay, do you think that you are healthy? D: I feel healthy, but I keep on taking the medication.
Bei dem Interviewpartner findet sich in einer anderen Variante dasselbe Phänomen beschrieben wie bei dem anderen jungen Mann und seiner Mutter. Er fühlt sich »völlig normal«, nimmt aber weiterhin die Medikamente. Dabei glaubt er, dass er auch gesund bleiben würde, wenn er die
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Medikamenteneinnahme abbrechen würde. Der für mich vorhandene Widerspruch zwischen der Medikamenteneinnahme aufgrund der Diagnose Schizophrenie und der Idee von ›gesund sein‹ ist für den Interviewpartner offensichtlich keiner, weil er nicht wie ich als westlicher Psychologe über das entsprechende Wissen bezüglich des Krankheitsbilds der Schizophrenie und der Zusammenhänge zur Medikation verfügt. Die Medikamente haben in diesem Kontext ganz andere Bedeutungen und Zuschreibungen als in meinem Verständnis. Ich habe von einer anderen Variante gesprochen, weil dieser Interviewpartner, anders als der zuvor erwähnte glaubt, dass er auch bei Abbruch der Medikation gesund bleiben würde. Warum nimmt er aber dann weiterhin die Medikamente? I: And why are you taking the medicine now? D: Because I’m obedient with the doctors.
Als Begründung für sein Handeln führt der Interviewpartner zunächst seinen Gehorsam gegenüber den Ärzten an. Ich habe auch in anderen Interviews nach den Gründen für die Medikamenteneinnahme gefragt. Ein anderer Patient erzählt in diesem Zusammenhang, dass er schon einmal die Medikation abgebrochen habe und in eine Krise geraten sei. D: I come here because I am sick of schizophrenia since I was 18 years old. I started coming here and taking some medications but I thought the psychiatrist was wrong with the medication because I didn’t heal and I stopped taking the medication for about two months and I had a big crisis. And then I came back and they changed the medication and the size of the medication and the number of pills.
Und nun beginnt eine Episode, in der sich eine flexible Handhabung unterschiedlicher Erklärungsmodelle zeigt. Zunächst benutzt der junge Mann als Grund für seinen Kontakt mit der Psychiatrie den Begriff der Schizophrenie; er spricht von »I am sick of schizophrenia«, nimmt also den westlichen Krankheitsbegriff an (vgl. Estroff, 1989 und meine Diskussion des Krankheitsbegriffs in Kapitel 2.2). Der Interviewpartner beschreibt, wie er die Medikation des Psychiaters in Frage gestellt habe, da er nicht gesund geworden sei. Doch nach Abbruch der Medikamenteneinnahme sei es zwei Monate später zu einer schweren Krise gekommen. Er sei dann ins Krankenhaus zurückgekommen und medikamentös neu eingestellt wor-
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den. Setzt man diese Stelle mit seinem Zitat zuvor in Bezug, dann kann man schließen, dass er sich mit der neuen Medikation nun gut fühlt und sie deswegen weiterhin einnimmt. Ich frage nun weiter nach, welche Bedeutungen er selbst mit dem Begriff der Schizophrenie verbindet. I: Schizophrenia is the term the people here, the doctors, are using and they gave you this diagnosis. But what does this mean for you personally, how do you call it yourself? D: I think maybe they are bad spirits, evil spirits, or maybe some demons or […]. But the doctors say it’s my brain. And some people told me that I should go to a machi or some cultural medico for example or some expert in waters and plants but I only want to go to a doctor and I trust also in the bible.
Nun führt der Interviewpartner unterschiedliche Erklärungen zusammen. Er selbst denke, dass es sich vielleicht um »böse Geister« handele oder vielleicht um Dämonen. Seine Annahme stellt er jedoch gleich im Anschluss mit der zitierten Aussage der Ärzte in Frage, dass Schizophrenie mit seinem Gehirn zusammenhänge. Dann führt er weitere Personen an, die ihn beeinflussen wollten: diese hätten ihm gesagt, dass er zu einer oder einem machi bzw. zu einem anderen Heiler gehen solle. Diesen Vorschlag lehnt er aber ab, er wolle nur zu einem Arzt gehen. Hier stellte sich für mich die Frage nach dem Warum, denn schließlich hatte er zuvor gesagt, dass er selbst an böse Geister glaube. Insofern läge es nahe, auch eine oder einen machi aufzusuchen. D: He is evangelic, that would be protestant. He does believe in the Mapuche culture, but he thinks that the machi is a devil worker, demon worker and if you go to a machi you will be healed, but you will go to hell when you die because the evangelics say that. And he does believe in the evil eye and the witchcraft from the Mapuche, but they are all from the devil.
Der Interviewpartner beschreibt ein Spannungsverhältnis zwischen seiner Kirchenzugehörigkeit und den Behandlungspraktiken der machis. Er glaubt an den gesundheitlichen Erfolg einer Behandlung durch eine bzw. einen machi. Doch moralisch habe dieser Besuch die Konsequenz, dass er bei seinem Tod in die Hölle komme. Als Beleg für diese Annahmen bezieht er sich auf die Lehren der evangelischen Kirche. Zusammenfassend schließt er, dass er an den »bösen Blick« und die »Hexerei« der Mapuche
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glaube, doch er führt sie auf den kirchlichen Teufel zurück. Einen möglichen Ausweg aus diesem moralischen Widerspruch zwischen Kirche und machi bietet für ihn die Psychiatrie: I: What do you think, can they [the spirits] leave again? D: I think maybe with time but one must believe a lot to make this kind of change, and it also is said by a special doctor, someone who knows about these things, some kind of special psychiatrist who could help him cast out the spirits.
Ein spezieller Psychiater kann für den Interviewpartner den machi ersetzen und neben seinem Glauben, der wiederum mit seiner Kirchenzugehörigkeit zusammenhängen könnte, zu seiner Heilung beitragen. Das Interviewzitat begann mit seiner Aussage »I come here because I am sick of schizophrenia since I was 18 years old.« Nach meinen Fragen, wie er den Begriff der Schizophrenie verstehe, zeigte sich, dass für ihn zusätzlich zum Erklärungsmodell der Ärzte, demzufolge es sich um eine Krankheit des Gehirns handele, auch moralische Vorstellungen der Kirche koexistieren, die wiederum mit Mapuche-Vorstellungen von bösen Geistern und magischen Behandlungen durch die machis verwoben sind. Mit diesen unterschiedlichen Erklärungsmodellen geht der Interviewpartner flexibel um und verbindet Elemente aus den unterschiedlichen Bedeutungswelten ›Kirche‹, ›Hexerei‹ und ›Psychiatrie‹ miteinander. An dieser Stelle möchte ich auf den dritten Aspekt der Kategorie des ›sozialen Geschehens‹ zu sprechen kommen, der »partizipativen Verfügung über Ressourcen«. Am Fallbeispiel des jungen Mannes mit der Diagnose Schizophrenie und seiner Mutter habe ich erläutert, wie aufgrund eines Wissensdefizits eine konsistente Wahrnehmung stattfindet. Dabei ist die Wichtigkeit der Familie zwar implizit enthalten, jedoch noch nicht wirklich klar herausgearbeitet. Das möchte ich nun anhand eines Zitats aus dem Interview mit einer etwa 55-jährigen Frau tun, die seit etwa 30 Jahren wegen Schizophrenie mit Medikamenten behandelt wird. I: Yes, and how important is your family to you? Or to live here in the countryside in the community, how important is this for you? D: It’s very important for me. I live here waiting for my son to come back, and I clean and take care of my husband. And I think it’s very important for me that my family congratulates me and they are very happy for me being healthy.
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Auch in diesem Zitat fällt die Konsistenz im Wahrnehmungsprozess auf. Die Interviewpartnerin beschreibt am Ende des Abschnitts, dass ihre Familie ihr dazu gratuliere, dass sie »gesund« sei. Zuvor schildert sie sich in die familiären Alltagstätigkeiten eingebunden, sie macht sauber und sorgt für ihren (fast blinden) Ehemann. Die Patientin betont, wie wichtig es für sie ist, dass ihre Familie sich über ihre Gesundheit freut. Sie scheint ihre Familie insofern als relevante Ressource wahrzunehmen. Welche konkrete Rolle spielt nun die Psychiatrie? Ich habe das Setting der Gemeindepsychiatrie als den Kontakt zwischen der Psychiatrie und den Patienten bei diesen zu Hause definiert. Zu Beginn des Kapitels habe ich deutlich gemacht, dass der Kontakt sich auch auf die Familie erstreckt, da die Familienmitglieder bei den Besuchen der Sozialarbeiterin immer dabei sind. Zum anderen habe ich den Zusammenhang zwischen der psychotischen Krise und der Gefährdung des gewohnten familiären Zusammenlebens untersucht. In diesem Zusammenhang habe ich angedeutet, dass die Psychiatrie dazu beiträgt, dass Personen mit psychotischen Phänomenen weiterhin in ihren Familien bzw. Gemeinden leben können; ein Gedanke, den ich nun vertiefen werde. D: The communities usually integrate and accept the persons after they have been educated about their symptoms because the patients’ crises are usually quite violent or they reject the community support, their help. Communities are often scared, worried or just resent the patient’s rejection, and the communities get aside, they isolate the person, but after the hospital team goes and explains the situation to the community, the community changes dramatically. I: You’re talking about the Mapuche communities? D: Yes, and they embrace the patients and support them. I: So, the psychiatric diagnosis is very good for the integration? D: Yes, definitely the psychiatric diagnosis helps the community to understand why this person has been aggressive, why the person has behaved in a different manner, for example, leaving her children or her husband et cetera, and the other factor which is very important is that the communities trust in us.
Die Sozialarbeiterin beschreibt hier einen Veränderungsprozess, der auch schon in dem oben zitierten Interview mit der Mutter angesprochen wurde. Mit der psychiatrischen Diagnose trete eine Veränderung in der Interaktion zwischen einer als psychotisch identifizierten Person und den anderen Gemeindemitgliedern ein. Zunächst seien die psychotischen Patienten
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in einer Krise gewalttätig und würden die von der Gemeinde angebotene Unterstützung ablehnen. Im Gegenzug isoliere die Gemeinde die psychotische Person. Die Isolation werde jedoch mit der psychiatrischen Diagnose wieder aufgehoben und die Unterstützung durch die Gemeinde wieder aufgenommen. Als Gründe führt die Interviewpartnerin zum einen an, dass die Gemeinde das Verhalten der Person mit der psychiatrischen Diagnose besser verstehe, zum anderen, dass die Gemeinde Vertrauen in die Psychiatrie setze. In dem oberen Interviewausschnitt zur Koexistenz hat der Interviewpartner ebenfalls den Begriff des ›Vertrauens‹ verwendet. Man könnte aus dem Satz: »I only want to go to a doctor and I trust also in the bible«, aufgrund des »also« schließen, dass er nicht nur in das Evangelium, sondern auch in die Ärzte sein Vertrauen setzt. Auch in anderen Interviews mit den Patientinnen und Patienten finden sich Hinweise auf ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Sozialarbeiterinnen. D: She is a friend who comes for help and guidance for my improvements and my healing process, but mostly a friend.
Die Patientin bezeichnet die Sozialarbeiterin als Freundin. Für Endress (2002) können durch Vertrauen stabile Interaktionsordnungen als Rahmenbedingungen für soziales Handeln aufgebaut werden. In dem vorigen Zitat weist die Sozialarbeiterin mit dem Satz: »communities are often scared, worried or just resent the patient’s rejection«, auf die tiefe Erschütterung der zwischenmenschlichen Beziehungen hin, die eine psychotische Krise mit sich bringen kann. Und mit dem Einfluss der Psychiatrie ändere sich das dramatisch. Die Psychiatrie scheint die durch die psychotische Krise gefährdete Stabilität in den Familien und Gemeinden wieder zu festigen. Als ich eine Krankenschwester nach den Veränderungen frage, die die Diagnose Schizophrenie mit sich bringt, spricht sie noch einen weiteren Aspekt an. D: Earlier she said also that this, that the family changes when they are educated, when they are told that the new drugs work very well, and they hope to gain a normal life again.
Die Interviewpartnerin erläutert, dass im Rahmen der Edukation über die Medikamente die Hoffnung in den Familien geweckt werde, wieder ein »normales« Leben (wie vor der Erkrankung) zu führen. Ich hatte im Theo-
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rieteil mit Snyder et al. (1991) Hoffnung in zwei Aspekte unterteilt: in den Glauben einer Person, dass ein gewünschtes Ergebnis möglich ist, und in ihre Fähigkeit zu visualisieren, wie dieses Ergebnis möglich werden kann. Im Kontext der Mapuche-Gemeinden scheint Hoffnung anders als in der Konzeption von Snyder et al. eine interdependente Komponente zu enthalten, da der Patient nicht getrennt von seiner Familie behandelt wird. Als ich oben den flexiblen Umgang mit der sozialen Bedeutungswelt erläutert habe, zeigte sich, dass die Patienten und ihr Umfeld mit der Medikamenteneinnahme ein Nicht-Kranksein verbinden. Vor diesem Hintergrund kann man interpretieren, dass der Glaube, das gewünschte Ergebnis des Nicht-Krankseins sei möglich, ebenso wie die Fähigkeit, ihn zu visualisieren, mit der Medikamenteneinnahme verbunden ist. Die in dem oberen Zitat angesprochene Veränderung in den Familien im Rahmen der psychiatrischen Behandlung schildert die Sozialarbeiterin, die in dem vorigen Zitat auf die Erschütterung in den Gemeinden durch eine psychotische Krise hingewiesen hatte, konkreter: D: But on the countryside I have seen that the whole family interacts as a community even the very long distance relatives interact with the patient and treat him like a regular person. So this gives the patient a very strong support, a social support, because the patient is never isolated.
Mit den Worten »the whole family interacts as a community« betont die Interviewpartnerin die einheitliche Interaktion aller Angehörigen mit dem »kranken« Familienmitglied. Der Zusammenhalt spiegelt sich auch in der Beobachtung wider, dass der Patient von der Familie nicht als »Kranker«, sondern als gewöhnliche Person behandelt wird. Aus diesen beiden miteinander zusammenhängenden Aspekten schließt die Interviewpartnerin, dass der Patient eine sehr große soziale Unterstützung erhält. Ich habe in der Einleitung unter Bezug auf Hobfolls (2001) Theorie der Ressourcenerhaltung den Zugang zu Ressourcen in spezifischen Kontexten in den Vordergrund gestellt. Der zentrale Aspekt in der Entstehung von Stress ist der Verlust von Ressourcen, so dass im Bewältigungsprozess Ressourcen dazu benutzt werden, diesem Ressourcenverlust zu begegnen. Man kann in diesem Sinne das obere Zitat so interpretieren, dass eine psychotische Krise den Verlust einer Ressource mit sich bringen kann, und zwar der sozialen Unterstützung in den Mapuche-Gemeinden. Denn wie oben beschrieben, wird die angebotene Unterstützung der Gemeinde von der in einer psycho-
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tischen Krise befindlichen Person zurückgewiesen, was in einem Wechselwirkungsprozess zu deren Isolation führen kann. An dieser Stelle scheint die Psychiatrie anzusetzen und die Ressource der sozialen Unterstützung durch die Gemeinde – und, wenn man das vorige Zitat hinzunimmt, durch die Familie – zu reaktivieren. Denn der Fokus der Psychiatrie liegt auf den Gemeinden und Familien und nicht auf den einzelnen Patientinnen und Patienten. Auch die zuvor erläuterten Aspekte ›Vertrauen‹ und ›Hoffnung‹ kann man mit Hobfoll (2001) als Ressourcen interpretieren. Alle drei Ressourcen lassen sich als relational ansehen: Sie liegen in der Beziehung zwischen dem Patienten bzw. ihm und seiner Familie und seiner Gemeinde auf der einen und der Psychiatrie auf der anderen Seite.
5.4 B EDEUTSAMKEIT Als ein Aspekt des hier vorgeschlagenen Konzepts der Gesundheitsförderung wurde oben der Begriff der ›Bedeutsamkeit‹ eingeführt. Die folgende Grafik ordnet diesen Aspekt noch einmal in das oben erläuterte Modell ein. Abbildung 3: Bedeutsamkeit
Mein Material legt nahe, dass die sinnliche Teilnahme – oft durch die Gestaltung der Umgebung noch zusätzlich angeregt – als sehr intensiv erlebt wird. In diesem Zusammenhang spielen sakrale Elemente eine relevante Rolle: Es gibt zahlreiche Aussagen, in denen das soziale Geschehen subjektiv als in sakrale Zusammenhänge eingebettet erlebt wird. Mit der Intensität des sinnlichen Erlebens und dem Erleben des Eingebundenseins in sakrale Zusammenhänge geht die Erfahrung einher, dass es bedeutsam
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ist, sich im sozialen Geschehen zu engagieren. Dabei müssen die sozialen Praktiken grundsätzlich alltagsnah sein, damit sie gesundheitsförderlich sind. Ich werde nun, ausgehend von den empirischen Daten der Interviews und Beobachtungsprotokolle, für jedes Setting die unterschiedlichen Qualitäten erläutern, mit denen das eigene sinnliche Engagement im sozialen Geschehen als bedeutsam erlebt wird. Ich beginne mit dem Candomblé- und Umbanda-Tempel, in dem die Präsenz der Geister eine zentrale Rolle spielt.
5.4.1 Der Candomblé- und Umbanda-Tempel Den Einstieg in die Darstellung des Aspekts der ›Bedeutsamkeit‹ suche ich über zwei ›dichte Beschreibungen‹ von Candomblé-Feiern im Tempel des pai-de-santo. In diesen Beschreibungen zeigen sich die beiden Voraussetzungen dafür, dass die engagierte Teilhabe am sozialen Geschehen als bedeutsam erlebt wird: ein intensives sinnlich-körperliches Erleben sowie die Zuschreibung sakraler Zusammenhänge. Bei den Candomblé-Feiern, die mehrmals monatlich stattfinden, inkorporieren sich die orixás (Götter)10, exús und pomba giras (Trickster-Figuren) und die erês (Kindergeister) in die Medien, die im Saal tanzen. Oben auf den Fluren klatscht und tanzt dabei immer eine Menge an Zuschauern. Der pai-de-santo betet zu Beginn der Veranstaltungen das Vaterunser, welches alle anwesenden Personen mitbeten. Nach dem Gebet stellen sich alle Medien in einer Reihe auf, küssen seine Hand und der pai-de-santo küsst die ihren. Bei einer Feier, an der ich teilnehme, stehen eine exú- und eine pomba-gira-Statue am Eingang des Saales. Vor den menschengroßen Figuren tanzen etwa 120 Medien und singen Candomblé- und Umbanda10 | Die inkorporierten orixás werden mit unterstützenden Eigenschaften in Verbindung gebracht, wie eine Interviewpartnerin erläutert: I: Can mediums incorporate orixás, too? D: Yes. She says that yes, they can because they are the strength of nature. […] Love, prosperity, peace, the orixás are this. Life, healing, survival, justice, balance, sensibility. I: Does every human being have one or several orixás that protect him? D: We need all of them. Every person has a special one to protect him or her. (Weibliches Medium)
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Lieder, begleitet von mehreren Trommlern und Sängern. Etwa 70 weitere Personen auf den oberen Fluren singen mit, klatschen und tanzen. In vielen Medien manifestieren sich in den nächsten Stunden exú und pomba gira. Einige Körper zucken nur leicht, andere tanzen mit ausladenden Bewegungen, drehen sich, fallen zu Boden; zum Teil wirken die Bewegungen wie epileptische Anfälle auf mich. Auch in einigen Zuschauenden inkorporieren sich die Geister, wie in einer jungen Frau neben mir: Ihr Körper beginnt sich wild zu drehen, deshalb räumen ihre Verwandten schnell einige Stühle zur Seite. Als sie fällt, fange ich sie auf, damit ihr Kopf nicht gegen die Wand schlägt. Später kommt eine andere Frau aufgeregt zum pai-de-santo, weil pomba gira sich in ihrer elfjährigen Tochter manifestiert hat. Doch der pai-de-santo beruhigt die Mutter, sie solle unbesorgt sein. Ich möchte ein weiteres Fest vorstellen, bei dem andere Wesen inkorporiert werden. Medien mit einer besonderen Begabung können mãe- bzw. pai-de-santo werden. Mit einer dreitägigen Zeremonie werden sie in diese Funktion initiiert. Ich möchte an dieser Stelle den Ablauf des zweiten Tages beschreiben: Mehrere Helfer führen den in der neuen mãe-de-santo inkorporierten orixá in den Saal. Ihr schönes Kleid entspricht der inkorporierten Gottheit. Um sie herum tanzen nun die etwa 80 anwesenden Medien ganz in Weiß gekleidet, die nach und nach alle denselben orixá inkorporieren. Nach einiger Zeit bringen die Helfer die in der neuen mãe-de-santo inkorporierte Gottheit in den Raum für die orixás, wo sie den menschlichen Körper wieder verlässt. Dieser Ablauf wiederholt sich jeweils mit den bedeutendsten orixás. In einigen Zuschauenden inkorporieren sich ebenfalls die Gottheiten, so fällt eine Frau neben mir plötzlich mit dem Gesicht auf den Fußboden, ohne sich zu verletzen. Als Omulu erscheint, der Haupt-orixá des paide-santo, machen alle Medien der im Tempelleiter inkorporierten Gottheit ihre Aufwartung: Sie küssen dazu die Hand des pai-de-santo und dieser küsst ihre Hände. Zum Abschluss der Zeremonie manifestieren sich die Kindergeister, die erês. Alle Medien albern nun herum, wälzen sich ausgelassen auf dem Fußboden, lachen und kreischen fröhlich. Einige Medien haben sich Schnuller-Ketten umgehängt, viele essen schmatzend Schokoladenbonbons. Die spielerischen Elemente der Musik mit dem gemeinsamen Singen und Tanzen sowie die besondere Kleidung – mit der auch kosmologische Bedeutungen assoziiert sind – zeigen den festlichen Charakter der beiden Veranstaltungen, den auch der pai-de-santo betont:
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D: Candomblé is a prayer. You want to enjoy, to dance, to make parties and to bring gifts. This is Candomblé. […] He said that we work and on Sunday we dance and we pray in order to recharge the batteries. I: Is this our life energy? D: Yeah, yeah, energy.
Die theaterartigen Darstellungen hatten eine besondere ästhetische Qualität, die meine Sinne angesprochen hat. Es hat Spaß gemacht, mitzuklatschen und dabei den singenden und tanzenden Menschen um mich herum zuzuhören und zuzusehen. Mein Körper fing quasi von selbst an, sich im Rhythmus mitzubewegen, und ich habe mich in der Situation »zu Hause« gefühlt. Ich habe Gefühle der Zugehörigkeit mit den feiernden Menschen um mich herum erlebt. Vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrung deute ich das gemeinsame Singen und Klatschen als Aufhebung der Differenz zwischen den Teilnehmenden. Es entsteht fast eine Figur, die Teilnehmenden werden eins. Zu dem Tanz, dem Gesang, dem rhythmischen Klatschen und dem Küssen der Hände tritt das sukzessive Inkorporieren hinzu. In der zunehmenden Inkorporierung findet eine zunehmende Vereinheitlichung statt, die aber auch Freiraum für Differenzen lässt. Die Manifestationen von exú und pomba gira drücken sich über die unterschiedlichen Körper der Medien auch unterschiedlich aus. Von den Zuschauern inkorporieren auch immer wieder einzelne Personen, was die Sogwirkung des Geschehens besonders deutlich macht und gleichzeitig auch auf Freiräume hinweist. Denn das Handeln der Teilnehmenden bleibt grundsätzlich unbestimmt (vgl. Bourdieu, 1993): Man kann nicht genau vorhersagen, was beim einzelnen Teilnehmer der oben beschriebenen Rituale passieren wird. Innerhalb eines vorgegebenen strukturellen Rahmens können die Medien und auch das Publikum experimentieren und spielerisch neue Verhaltensweisen erkunden. Das wird besonders deutlich beim Erscheinen der Kindergeister: Die spielerischen Elemente ermöglichen hier ein Verhalten, das sonst nicht denkbar ist, wie das Saugen erwachsener Personen an Schnullerketten. Innerhalb des kollektiven Rahmens der Geister-Inkorporationen wird gemeinsam gespielt, was für mich ein wichtiges emisches Stilelement darstellt. Es funktioniert nur innerhalb spezifischer Machtbeziehungen: Die Medien küssen nacheinander die Hand des pai-de-santo. Er sticht als Individuum heraus, da er die einzige Person ist, der alle die Hand küssen. Doch so, wie ihm Wertschätzung bekundet wird, gibt er sie auch zurück, indem er auch die Hände der
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anderen küsst. In seiner Funktion als Oberhaupt des Tempels kann er den Erfahrungen anderer Personen eine sakrale Bedeutung zusprechen.11 In den Interviews haben Medien beschrieben, wie sie ihren Körper einem Geist zur Verfügung stellen.12 I: How do you feel during an incorporation? D: It depends on the entity. […] very hot, very strong entity, we cannot see, we do not listen well. Iemanjá cold spirit, more quiet. (Weibliches Medium)
Die Interviewpartnerin schildert ungewöhnliche körperliche Erfahrungen: eine Einschränkung ihres Hör- und Sehvermögens sowie starke Schwankungen in ihrem körperlichen Temperaturempfinden von sehr heiß bis kalt. Diese Veränderungen bzw. Einschränkungen ihres körperlichen Empfindens schreibt sie den inkorporierten Wesen wie der orixá Iemanjá zu. Insofern wird ihr eigenes Erleben durch die sozialen Repräsentationen der Candomblé- und Umbanda-Kosmologie strukturiert, worauf ich im Kapitel zur Alltagsnähe zurückkommen werde. Die körperlichen Veränderungen und die Veränderungen des Bewusstseins kann man als Erfahren des »radikal Anderen« interpretieren, wie es Csordas (1990) als charakteristisch für das Konstrukt des ›Embodiment‹ beschreibt. Denn das oben zitierte weibliche Medium bezieht sich in seiner Beschreibung der Manifestationen auf die inkorporierte Entität. Während die obige Interviewpartnerin die Veränderungen ihrer körperlichen Empfindungen beschreibt, spricht ein anderes weibliches Medium die Gefühls-Ebene an.
11 | Vgl. hierzu Csordas (1990, S. 34) und das Fallbeispiel im Kapitel zum ›sozialen Geschehen‹, in dem der pai-de-santo das Leiden einer Klientin als »Besessenheit« interpretiert. 12 | Kramer (1984) nimmt Bezug auf Lienhardts (1961) Theorie der »passiones«: Passiones sind das Gegenteil von Handlungen, die Inversion von Handlungen, das Gehandelt-Werden durch andere. Bestimmte Erfahrungen, Ereignisse oder Dinge, die eine Person beeindrucken, erscheinen der Person als passiones, als Macht von außen, und das kann dann von der besessenen Person als Geist eingeordnet werden. Allerdings erlaubt die Dialektik der Besessenheitskulte den Besessenen auch, wieder Herr über sich selbst zu werden (Behrend & Luig, 1999).
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I: How do you feel during the incorporation? D: Strange, something strange happens. And it changes from person to person. It can be happiness or unhappiness, loneliness, one of the three.
Es sei individuell unterschiedlich – also nicht auf die soziale Repräsentation des inkorporierten Geistes bezogen –, ob man Glück, Unglück oder Einsamkeit erlebe. Dabei betont die Interviewpartnerin jedoch die grundsätzliche Fremdheit des Erlebens. Dieselbe Interviewpartnerin spricht auch die Ebene des Bewusstseins an. D: She said that when the entity comes all the mediums are almost in consciousness, but not completely in consciousness.
Mit dem Inkorporieren der Geister verändere sich das Bewusstsein der Medien, es werde eingeschränkt. Ein männliches Medium beschreibt Einschränkungen im Wahrnehmungsbereich: D: He says that when he incorporates he sees for example, he sees you, but he cannot define who you are. Who is that person. I: How do I look for example? D: He sees you in the same way, but he does not know who you are. It can be even his best friend, but he does not know.
Der Interviewpartner schildert umfassende Beeinträchtigungen in seinen Gedächtnisleistungen und Wahrnehmungsprozessen. Man kann diese Aussagen als Hinweis nehmen, dass Medien während des Inkorporierens ihre Umgebung auf eine radikal andere bzw. fremde Art wahrnehmen. Ein anderes männliches Medium beschreibt die wahrgenommene Fremdheit im Hinblick auf die körperliche Ebene. D: How do you feel incorporated? He says that the heart begins to flutter, something different, something different in your body. You are only going to do what he wants, not what you want.
Der Interviewpartner nimmt während der Inkorporationen ein Anderssein in seinem Körper wahr, das sich an seinem erlebten Herzflattern zeigt. Für ihn findet eine vollständige Abgabe der Kontrolle über sich selbst an den
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inkorporierten Geist statt. In das Erleben des »radikal Anderen« während der Inkorporationen scheinen Psyche und Körper zusammen einbezogen zu sein. Das Sakrale wird im Inkorporieren der Geister sinnlich-körperlich erlebt. Man kann unter Bezugnahme auf Csordas (1990) davon sprechen, dass bei den Manifestationen der Geister das »sakrale Selbst« entsteht. Dabei scheint insbesondere der kollektive Aspekt des gemeinsamen Inkorporierens in der Gruppe mit den geschilderten mimetischen Aspekten sehr wichtig zu sein. Mit diesem Stil wird hier Gemeinschaft generiert, von der das Sakrale nicht zu trennen ist. Die sozialen Repräsentationen des Candomblé bestimmen, wie die Geister erlebt werden und sich im Verhalten der Medien zeigen. Anders als von Csordas (1990) thematisiert, bleibt in den Candomblé-Ritualen das kulturelle Objekt, die sozialen Repräsentationen der Geister, erhalten. Denn jeder Geist hat sein allgemein bekanntes Erscheinungsbild, das vorgibt, auf welche Art er sich im Medium verkörpert. Es kann also nicht jede beliebige Erfahrung des Selbst als radikal anders thematisiert werden, wie es Csordas’ Konzeption des Sakralen nahelegt und wie ich es im zweiten Kapitel bereits kritisiert habe. Der größte Teil des Publikums (der nicht inkorporiert) bekommt durch Musik, Kostüme und die performativen Aufführungen eine suggestive Atmosphäre geboten, in der die Sinne geöffnet werden. In der gemeinsamen körperlichen Bewegung werden Gefühle der Zugehörigkeit erzeugt. Die Teilnehmenden erleben ihre Aktivität im sozialen Geschehen als bedeutsam.
5.4.2 Die psychosomatische Klinik mit ihrem Diskurs über Spiritualität Wie kommen die Patienten in der psychosomatischen Klinik dazu, ihr Engagement in den therapeutischen Gruppen-Veranstaltungen als bedeutsam zu sehen? Einen Einstieg in die Antwort suche ich über die anhand von Beobachtungsprotokollen angefertigte dichte Beschreibung eines gemeinsamen Singens. Etwa 60 bis 70 Personen sitzen bei »Heilkraft der Stimme« im großen Saal auf Matten. Nach einer kurzen Einführung, in der die Therapeutin u.a. erklärt, dass jeder darauf achten solle, was er brauche, wird Musik von der Stereoanlage mit einem einfachen Text und Instrumentenbegleitung gespielt. Ein Lied ist beispielsweise: »Tief in meinem Inneren ist Kraft, ist Liebe, ist Licht, das erwacht.« Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer
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singen im Stehen und bewegen sich dabei tanzend im Saal. Einige Teilnehmende laufen singend durch das Zimmer. Wenige Patientinnen und Patienten weinen, Mit-Patienten nehmen die Weinenden manchmal in den Arm und trösten sie. Teilweise tanzen Patientinnen und Patienten zu zweit oder zu dritt. Dann stellen sich – von der Therapeutin angeleitet – etwa 40 Patienten in zwei Reihen gegenüber auf, die Hände über den Köpfen zusammenhaltend. Die hinteren Patienten laufen nun hintereinander, wobei sie jeweils die Hand des oder der Vorderen halten, durch das Spalier nach vorn durch und stellen sich dort wieder ins Spalier. Danach stellen sich etwa 40 Patientinnen und Patienten, einander an den Händen fassend, in einem Kreis auf. Etwa 20 weitere Patienten bilden einen kleineren Kreis. Die restlichen Patienten tanzen allein oder zu zweit weiter. Wenige sitzen am Rand und weinen, getröstet von anderen Patienten. Kurze Zeit später singen sie wieder mit. Nach etwa einer Stunde setzen sich alle Patienten – nach der Aufforderung durch die Therapeutin – auf die Matten, beenden das Singen und hören für etwa 10 Minuten der Meditationsmusik zu. Zum Abschluss fassen sich alle Teilnehmenden an den Händen und bilden so einen großen Kreis. Mit Audehm und Zirfas (2001) lassen sich in der Szene Prozesse der spielerischen Anähnlichung identifizieren. Ich habe selbst wahrgenommen, wie die vielen Stimmen im gemeinsamen Singen zunehmend synchroner wurden. Hinzu kommen die körperlichen Berührungen, die Teilnehmenden gleichen ihre Gesten denen ihrer Nachbarn an, sie werden ihnen körperlich ähnlich. Individuelle Unterschiede in den körperlichen Gesten lösen sich im gemeinschaftlichen Singen tendenziell auf. In der Szene ähneln sich die Teilnehmenden einander an, wenn sie sich ins Spalier stellen, und werden so zu einem neuen Körper, der mit einer Stimme singt. Dabei bleiben individuelle Freiräume erhalten: Ewa 20 Patienten bilden einen separaten Kreis, einige Patienten singen allein. Spielerisch inszenieren sich hier die Tanzenden in unterschiedlichen Formen singend im Raum. Dabei habe ich mich während meines Mitsingens besonders zufrieden gefühlt, in mein Tagebuch habe ich z.B. geschrieben: »Es ist heute sehr beeindruckend. Ich empfinde ein großes Verbundenheitsgefühl mit den singenden Menschen um mich herum. Dabei ist es eine leichte Stimmung, ich fühle mich gut.« Als ich das Lied: »Tief in meinem Inneren ist Kraft, ist Liebe, ist Licht, das erwacht«, mitgesungen habe, habe ich die besungene Liebe und Kraft selbst spontan erlebt. Die gesungenen Worte schienen ihre Bedeutung auf eine sinnliche Art im gemeinsamen Singen
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zu entfalten. Aufgrund dieser Erfahrungen habe ich andere Teilnehmende nach ihren Erfahrungen gefragt. IP: Ich würd’ erst mal sagen, das spür’ ich erst mal so, und in Form von Schwingungen, also durch das eigene Singen und die anderen Stimmen, die mich also, das find’ ich so, das schwingt so durch den eigenen Körper durch, so. Diese Klangwellen kann man körperlich spüren, und das würd’ ich vielleicht als das Feld begreifen, so was löst vielleicht im Eigenen Blockaden, vielleicht kann man’s so sagen. Und ich find’, das kann man körperlich spüren und vielleicht, auch wenn’s ich’s nicht so intensiv in dem Moment spür’, dass ich einfach hinterher sagen kann, auf einmal fühl’ ich mich irgendwie gut, also ich fühl’ mich entspannter, gelöst, ruhig, die Wirkung auch hinterher sozusagen.
Die Patientin führt die Entstehung der »Klangwellen«, die sie zuvor auch als »Form von Schwingungen« bezeichnet, auf »das eigene Singen und die anderen Stimmen« zurück. Insofern ist sie mit ihrer eigenen Stimme selbst ein Teil des Feldes, dessen Wirkung sie gleichzeitig spürt. Über den Begriff der »Klangwellen« bzw. »Schwingungen« verbindet sie sich selbst, ihr »eigene[s] Singen« mit den Menschen um sich herum, den »anderen Stimmen«. Die Verbindung läuft über ihren Körper, »das schwingt so durch den eigenen Körper durch«. Anschließend beschreibt sie eine emotionale Wirkung, die sie darauf zurückführt, dass mit den »Schwingungen« bei ihr »vielleicht im Eigenen Blockaden [ge]löst« worden seien. Die Trennung zwischen den Handelnden und ihren Handlungen scheinen hier tendenziell im sozialen Geschehen aufgehoben zu werden, tendenziell gehen die Teilnehmenden in der Tätigkeit des Singens auf. Ich habe im zweiten Kapitel das Konzept des Flow (Csikszentmihalyi, 2000) als einen Prozess charakterisiert, bei dem die Handlungen nach einer eigenen Logik aufeinanderfolgen, für die es nicht erforderlich ist, dass der Handelnde sie bewusst beeinflusst. Der Prozess des Handelns wird als »Fließen« von einem Augenblick zum nächsten erlebt. Die beschriebenen Phänomene in meinen Daten weisen Ähnlichkeiten mit Csikszentmihalyis Konzeption auf, allerdings unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Punkt: Die Interdependenz scheint sehr wichtig zu sein; man singt selbst in der Gruppe und besingt so die anderen, von denen man wiederum besungen wird. Eine Patientin beschreibt dieses Phänomen und die Schaffung eines Dritten, eines alle umgebenden Klangkörpers im Raum:
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IP: […] es ist ja alles irgendwie begrenzt vorher. Und ’ne Begrenzung ist, für mich zumindest, was Wohltuendes und etwas Bergendes und etwas Schützendes, in dem auch was passieren kann. […] und in Heilkraft ist so der ganze Raum ausgefüllt. Und oberhalb passiert Bewegung und passiert Singen oder Schweigen oder Weinen. […] Was, das von hier nach dort geht. Das ist ein ständiges Fließen auch mit einem ständigen Austausch, auch für den ganzen Raum, auch ohne dass es irgendwie zentriert wird.
Ich habe oben beschrieben, wie die Veranstaltung durch eine Therapeutin eingeleitet und auf eine formalisierte und normative Weise mit einem Kreis beendet wird. Der regelhafte Ablauf der Veranstaltung scheint für die Interviewpartnerin notwendig zu sein. Für mich beschreibt sie anschließend die Aufhebung einer Trennung zwischen sich selbst und dem Außen, mit dem sie im Austausch steht; Zentrierungspunkte verschwinden, sie erlebt in der körperlichen Aktivität des Singens und Zuhörens ein »Fließen«. Im sozialen Prozess ähneln sich die Teilnehmenden singend einander an. Ich möchte nun mit einer weiteren dichten Beschreibung einer therapeutischen Veranstaltung erläutern, wie es im Rahmen der rituellen Inszenierung dazu kommt, dass daran teilnehmende Personen das soziale Geschehen als sehr sinnlich erleben und ihm dabei sakrale Dimensionen zuschreiben. In dem wöchentlich stattfindenden »Forum« kommen alle etwa hundert Patientinnen und Patienten der Klinik im großen Saal zusammen. Dieser ist neuneckig angelegt, also relativ rund, was für mich eine schützende Atmosphäre schafft. Die Patientinnen und Patienten setzen sich auf dunkelblaue oder cremefarbene, auf Matten verteilte Sitzkissen oder Decken in einem Kreis entlang der Wände. Sie sitzen in ihren therapeutischen »Kerngruppen« nebeneinander zusammen. Die Veranstaltung kann bis zu zwei Stunden dauern. Ich habe aus verschiedenen Foren mit zwei unterschiedlichen Therapeuten prägnante Szenen herausgegriffen. Zunächst halten sich alle Patientinnen und Patienten – nach der entsprechenden Aufforderung des Therapeuten – an den Händen und bilden so einen Kreis. Der Therapeut fordert sie in dieser Szene auf, für ein paar Minuten die Augen zu schließen. Er sagt, dass es bei den nordamerikanischen Indianern üblich sei, »Kräfte« anzurufen. Sie seien zwar Mitteleuropäer mit anderen Glaubensvorstellungen, aber vielleicht hätten auch sie den Glauben an »Kräfte«, Erinnerungen oder Objekte, die sie nun anrufen und um
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Unterstützung bitten könnten. Dann erkundigt sich der Therapeut bei den Patienten nach der Gestaltung der »Mitte«. Hiermit ist eine Fläche von etwa einem Quadratmeter im Zentrum des Saales gemeint, die besonders dekoriert ist. Die Gestalterin erklärt, dass sie mit den großen weißen Kieselsteinen etwas habe legen wollen, das nach außen strahle: es sei ein Auge geworden; an seinen beiden Enden stehen brennende Kerzen. Nun lädt der Therapeut alle Patienten dazu ein, die »Mitte« zu betreten. Die Personen, die in die »Mitte« gehen, nennen ihren Namen, ihr Alter und tragen dann ihr Anliegen vor. Ein Mann betritt den Innenraum. Er sagt, dass ihm seine Arbeit keinen Spaß mache, er sei nur der Diener seines Chefs. Er erzählt von seinem autoritären Vater. Er wolle lernen, »Nein!« dazu zu sagen und »Ja!« zum Leben. Er stellt sich dann hin und schreit ein lautes »Nein!«. Er geht nun im Kreis entlang und schreit das »Nein!« noch drei weitere Male mit Blick zum Außenkreis. Einige Patienten im Außenkreis halten sich die Ohren zu, weil er sehr laut ruft. Danach wiederholt er diese Handlung mit »Ja!«. Als er mit seinem Ritual fertig ist, fragt ihn der Therapeut, ob er noch einen Schritt weiter gehen wolle. Auf sein »Ja!« fragt der Therapeut nach einem starken Mann. Ein großer Mann steht auf und stellt sich nach Anweisung des Therapeuten hinter den Patienten und symbolisiert so dessen Vater. Er legt eine Hand auf die Schulter des vor ihm Stehenden. Der vordere Mann spricht nun einen Satz, den der Therapeut ihm vorspricht. Danach sagt der Therapeut, dass der Mann nun noch »Energie« bekomme. Anschließend reiben die Patientinnen und Patienten im Außenkreis ihre Hände aneinander und halten sie dann mit offenen Handflächen nach innen. Der Mann im Zentrum hält seine offenen Handflächen zum Außenkreis. Als Nächstes geht eine Frau in den Innenkreis. Ihre Mutter habe ihr als Kind eine strenge Diät verordnet, obwohl sie damals gar nicht dick gewesen sei. Sie habe von ihr und anderen Personen in ihrer Umgebung immer das Gefühl vermittelt bekommen, nicht in Ordnung zu sein. Deswegen wünsche sie sich jetzt, hochgehoben und gehalten zu werden. Etwa 15 Männer und Frauen kommen daraufhin zu ihr, heben sie Töne summend hoch und halten sie so für einige Minuten. Anschließend reiben die Patientinnen und Patienten im Außenkreis wieder ihre Hände aneinander und halten sie dann mit offenen Handflächen nach innen. Die Frau im Zentrum hält ihre offenen Handflächen zum Außenkreis. Der Therapeut achtet immer auf genügend zeitlichen Abstand zwischen den Patientinnen und Patienten in der »Mitte«. Er sagt zu den Teilnehmenden, dass sich ihr Bewusstseinsraum wieder leeren solle, um für die nächste
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Person offen zu sein. Ein anderes Mal geht eine Frau zaghaft, nur etwa zwei Meter weit in das Zentrum. Sie spricht mit belegter Stimme. Sie fühle sich nicht als Teil der Gemeinschaft. Sie erhalte von anderen Patientinnen und Patienten die Rückmeldung, sie sei arrogant, laufe arrogant durch den Speisesaal. In »Heilkraft der Stimme« sitze sie abseits und der Platz neben ihr bleibe leer, weil sie den Ruf habe, dass sie allein gelassen werden wolle. Sie will nach diesen Sätzen zurück auf ihren Platz gehen, sie wolle auch keine »Energie« bekommen. Der Therapeut erwidert, dass sie es kaum verhindern könne, »Energie« zu erhalten. Außerdem solle sie es ausprobieren und selbst bestimmen, wie weit sich ihr Leute nähern dürften. Etwa 20 andere Patientinnen und Patienten stehen nun – ohne weitere Aufforderung des Therapeuten – auf und gehen von drei Seiten auf sie zu. Der Therapeut stoppt sie und sagt, dass sie langsamer gehen und zwischendurch immer wieder stehen bleiben sollten. Zur Frau in der Mitte sagt er, sie könne nun beobachten, wie die anderen mit ihr in Kontakt träten, sie also doch ein Teil der Gemeinschaft sei. Und sie könne selbst bestimmen, wie viel Nähe sie wolle. Die Leute nähern sich ihr auf etwa drei Meter, als die Frau sie stoppt. Der Therapeut erklärt, sie könne nun spüren, wie es sich anfühle. Die Frau nickt und bleibt in dieser Position stehen. Nun reiben die Patientinnen und Patienten im Außenkreis wieder ihre Hände aneinander und halten sie dann mit offenen Handflächen nach innen. Die Frau in der »Mitte« hält ihre offenen Handflächen zum Außenkreis. Ein Mann betritt die Mitte und erzählt von seinen Schwierigkeiten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Er möchte den Außenkreis abschreiten und jedem Menschen, bei dem er den entsprechenden Impuls verspürt, die Hand geben. Während er das tut, schaut er den Personen im Außenkreis in die Augen. Oft legen beide Beteiligten die andere Hand auf die gedrückte Hand. Als der Mann wieder im Außenkreis sitzt, reiben die Patientinnen und Patienten im Außenkreis wieder ihre Hände aneinander und halten sie dann mit offenen Handflächen in seine Richtung. Der Mann hält seine offenen Handflächen nach oben. Nach jedem Ritual hebt der Therapeut kurz hervor, was er als besonders kraftvoll erlebt hat bzw. wünscht den jeweiligen Patienten im Zentrum etwas. Zum Abschluss fordert er dazu auf, die Augen erneut für einige Minuten zu schließen. Falls man »Kräfte« oder »Erinnerungen« oder anderes zur Unterstützung gerufen habe, könne man sich nun bei ihnen bedanken. Und das Schließen der Augen mit seiner Innenschau diene auch dazu, das eben Erlebte hier im Raum zu lassen. Anschließend fordert
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der Therapeut die Patienten dazu auf, sich mit geschlossenen Augen an den Händen zu fassen. Alle Teilnehmenden, einschließlich der Mitarbeitenden der Klinik, bilden somit zum Abschluss einen Kreis. Alle Personen sitzen auf dem Fußboden, was eine Atmosphäre der Nähe, des Informellen und der Ungezwungenheit schafft. Dadurch, dass sie in einem großen Kreis sitzen, müssen sie sich körperlich tendenziell einander zuwenden. Insofern erscheint die räumliche Anordnung als vorwiegend interdependent. Jede Woche folgt die Veranstaltung denselben Regeln mit wiederholten Requisiten wie der Sitzordnung oder der Gestaltung der »Mitte«. In das Zentrum gehen dann einzelne Patienten hinein. Man könnte von einer Bühne sprechen, die sie betreten und auf der sie sich über die Nennung ihres Namens und Alters sowie das Erzählen ihrer Biographie individualisieren. Hierauf antworten dann der Therapeut in seinem Sonderstatus und die Gruppe der anderen Patienten. Was mit Worten umschrieben ist, wird körperlich dargestellt. So stellt sich ein großer Mann hinter den anderen, um dessen Vater zu verkörpern. Man kann hieraus schließen, dass über Mimesis der Zugang zum Vater eröffnet wird; die körperliche Darstellung scheint mit emotionalen Erinnerungen verbunden zu werden. Eine Frau wünscht sich Rückhalt und bekommt ihn körperlich von den anderen. Hier wird eine sinnliche Erfahrung geschaffen, in der ihren Bedürfnissen entsprochen wird. Bei der Frau, die nur zaghaft in die Mitte geht, wird die Nähe durch die anderen Patienten körperlich dargestellt. Der Mann, der von seinen Kontaktschwierigkeiten erzählt, bekommt hier die Möglichkeit, spielerisch und körperlich Kontakt aufzunehmen. Auch, wenn nach jeder Person in der Mitte die anderen Patienten im Außenkreis ihre Hände aneinander reiben, wird körperlich eine Beziehung zwischen den Teilnehmenden hergestellt. Hinweise auf eine besondere Intensität im Erleben fand ich in meiner eigenen Teilnahme. Nach einer Veranstaltung habe ich z.B. in meinem Tagebuch notiert: »Mich berühren die Geschichten der Patienten in der Mitte. Das ist manchmal sehr anstrengend.« Auch, wenn ich die teilnehmenden Patienten nach ihrem Erleben gefragt habe, fanden sich derartige Hinweise. IP: Ja, es bekommt schon ’ne Dichte, also, je mehr Menschen in der Mitte sind, irgendwann ist dann ’ne ganz schöne Dichte da, also, wo ich sagen würde, hinterher muss man wirklich die Fenster aufreißen und lüften, um diese – das ist schon ganz schön geballte Energie. So am Anfang ist das schon noch so ein ganz
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freier Raum und dann ist da schon ganz schön viel drinne. Insofern wird er dichter, würd’ ich sagen, der Raum wird nicht kleiner, aber es ist mehr drinne.
Aus der von der Interviewpartnerin beschriebenen Steigerung von einem »noch so […] ganz freie[n] Raum« zu Beginn der Veranstaltung zu »ganz schön viel drinne« am Ende schließe ich, dass sie eine zunehmende Intensität erlebt. Mit einem Ausschnitt aus einem Interview mit einer anderen Patientin wird eine differenziertere Interpretation möglich. IP: Also, es kommt ganz drauf an, also, manchmal finde ich diesen Resonanzkreis, oder wenn jetzt, also, diese Geschichte, wenn die Leute sagen, bitte stellt euch hinter mich, und wenn das auch Leute sind, die ich kenne und ich da irgendwie einen Bezug zu hab’, also, als meine Patin gegangen ist, die ist letzte Woche gegangen und die wollte das auch haben, das ist schon, da hab ich echt das Gefühl, da könnte man echt ein Spiegelei drauf braten, so einfach vom physischen Kontakt her. Also, es wird total heiß und jetzt nicht nur, weil man sich irgendwie so festhält und irgendwie jetzt schwitzt, sondern da ist einfach, ich weiß jetzt auch nicht, was es jetzt ist, aber das erleb’ ich schon als sehr – ja, es berührt mich irgendwie. Und halt dieses Singen, ja, also, wenn da einer anstimmt und dann einfach die ganze Gruppe sich so zusammenfindet, das find’ ich schon sehr kraftvoll.
Die Interviewpartnerin greift aus der Veranstaltung differenzierend eine Szene heraus, in der sie zu der Person im Zentrum einen Bezug hatte. Als sie sich mit anderen Patienten hinter ihre »Patin« – neuen Patienten wird jeweils ein älterer Patient als einführende Unterstützung zugeordnet – gestellt habe, habe sie die Situation als intensiv erlebt. Das Phänomen, das sie mit »es wird total heiß« charakterisiert, umfasst für sie mehr als die körperliche Berührung. Sie kann es zwar nicht konkret benennen, umreißt es aber mit den Worten: »das erleb’ ich schon als sehr – ja, es berührt mich irgendwie« und abschließend mit »das find’ ich schon sehr kraftvoll.« Meines Erachtens schildert die Interviewpartnerin hier ein sinnliches Erleben, dessen Intensität zu einem bedeutenden Teil in der sozialen Dimension begründet ist: Es scheint für die Intensität des Erlebens relevant zu sein, dass die Gruppe sich hinter die Patientin stellt und gemeinsam singt. Eine Therapeutin spricht ebenfalls mögliche Zusammenhänge zwischen der Intensität im Erleben und der interdependenten Situation an, als ich sie nach der Bedeutung der Gruppe für die Therapie frage.
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IP: Ja, ich glaube, dass wir den gar nicht erst entstehen lassen müssen. Ich glaube, dieser kollektive Raum ist immer da, es ist nur so, wie bewusst darf der da sein. Und ich glaube, dass wir ihn sehr bewusst machen, dass wir an dieser Ebene ganz bewusst andocken und anschließen und sie immer wieder in den Vordergrund holen. Sie ist immer da, egal, ob wir zusammen sind. Dann tauschen sich unsere Wesen auch aus auf einer Ebene. Wenn wir das aber sehr viel mit Worten oder mit irgendwelchen anderen Dingen überlagern, ist uns diese Ebene nicht so bewusst und durch unser Innehalten und die Versprachlichung dieser Qualitäten, die wir da auf diesem Seelengrund finden, erlauben wir, dass das, was an Persönlichkeits-Schutzschild – in meinen Begriffen – dem vorgelagert ist, erlauben wir, dass das schmilzt. Und dann sehen wir uns auf einmal als Wesen im Wesen gespiegelt, und das ist eine wunderschöne Erfahrung. Also, das ist eine Erfahrung, die ist – manche sagen, da wird’s heilig, da wird’s intim, da wird’s wirklich berührend, da geschieht etwas Wesentliches, und da kann Heilung beginnen und da beginnt sie zwischen Menschen.
Die Interviewpartnerin spricht von einem »kollektive[n] Raum«, auf den in der Klinik »ganz bewusst« Bezug genommen werde und beschreibt in diesem Zusammenhang eine intensive Art des Kontakts zwischen Menschen in der Klinik. Anschließend finden sich Hinweise auf ein vorsprachliches Phänomen, das man mit Merleau-Ponty (1966) als »vorobjektiv« bezeichnen könnte. Man kann dann schließen, dass die Erfahrung der zuvor zitierten Patientin, die diese unscharf mit »es wird total« charakterisiert, für sie so schwer zu benennen ist, weil sie sich als »vorobjektives« Phänomen der Sprache entzieht. Dabei scheinen die anderen Menschen für die Erfahrung notwendig zu sein, dass man sich »auf einmal als Wesen im Wesen gespiegelt« erlebt. Die Interviewpartnerin benutzt hier zur näheren Charakterisierung, wie die Patientin zuvor, den Begriff »berührend« – ein Wort, das im Alltagsgebrauch zum einen mit körperlichen Sinneserfahrungen verbunden ist und zum anderen nun mit den Begriffen »intim« und »heilig« in einen Zusammenhang gestellt wird. Miteinander geteilte Gefühle, miteinander geteiltes Leid verleihen dem Kontext eine besondere Macht. In diesem Rahmen wird Differenz bearbeitet und ein spezifischer Aspekt der Beziehung zwischen den Teilnehmenden körperlich inszeniert. In der ersten beschriebenen Veranstaltung des gemeinsamen Singens steht der Aspekt des Anähnlichens in einer interdependenten Situation im Vordergrund. In der zweiten beschriebenen Veranstaltung sind einzelne Personen, die aus der Gruppe heraus in die Mitte
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treten, als Individuum greifbar und zwischen ihnen und der Gruppe entsteht eine Beziehung mit besonderer Intensität. Hier sind insofern stärker die Aspekte der Differenzbearbeitung und der spezifischen Relationalität zwischen einzelnen Teilnehmenden betont. Die einleitende sprachliche Äußerung, »höhere Kräfte« anzurufen, weist auf Machtbeziehungen hin. Der Therapeut als Vertreter der Institution hat hier eine besondere Rolle, er kann als einziger Sprecher zu Beginn der Veranstaltung normative Aussagen treffen. Austin (1985) bezeichnet Aussagen als performativ, die vollziehen, was sie bezeichnen. Die Sätze des Therapeuten könnten in dem kollektiven Inszenieren mit Bedeutungen aufgeladen werden, die mit der sinnlichen Qualität zusammenhängen. Die Teilnehmenden scheinen die Aufforderung des Therapeuten mit ihren Körpern mimetisch umzusetzen. Zum Abschluss kommt der Therapeut erneut auf die »höheren Kräfte« zu sprechen und fordert dazu auf, sich von diesen zu verabschieden. In diesem Zusammenhang setzt er zwei »Räume« miteinander in Beziehung: mit dem Schauen in den »Innenraum« könnten die Erlebnisse der Veranstaltung in dem äußeren »Raum« bleiben. In dem Interview mit einer Patientin, die an der Veranstaltung teilgenommen hat, werden die Zusammenhänge weiter erläutert. IP: Also, Heilung passiert natürlich auch äußerlich auf körperlicher Ebene, auch emotionaler Ebene, jetzt nicht nur in diesem ganzen spirituellen Raum. Aber für mich ist schon wesentlich, diesen inneren Raum damit zu füllen, um an dieses Wesentliche zu kommen. Um da auch, um da auch wirklich so einen ganz tiefen Prozess anzuregen, also, nicht nur jetzt in Anführungszeichen jetzt körperlich oder geistig oder seelisch, sondern wirklich ohne dieses ganz tiefe Eintauchen kann ich’s mir nicht vorstellen.
Die Patientin differenziert und bewertet mehrere Ebenen, auf denen für sie »Heilung passiert«. Sie beginnt mit einer »körperliche[n] Ebene«, die als »äußerlich« charakterisiert wird. Anschließend erwähnt sie eine »emotionale […] Ebene«, die sie anscheinend als weniger »äußerlich« wahrnimmt. Der Satz »nicht nur in diesem ganzen spirituellen Raum« verweist schon darauf, dass die dritte »spirituelle Ebene« für sie als »wesentlich« gilt. Sie lässt offen, was sie unter »spirituell« versteht. An dieser Stelle grenzt sie erneut die für sie offensichtlich oberflächlichen körperlichen und emotionalen Ebenen – wofür hier wahrscheinlich die Adjektive »geistig oder see-
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lisch« synonym verwendet werden – von dem »spirituellen Raum« ab, mit dem »dieses ganz tiefe Eintauchen« für sie möglich wird. Ich habe das von dem Therapeuten genannte »Einladen höherer Kräfte« als einen möglichen Aspekt des von der Interviewpartnerin genannten »spirituellen Raum[es]« angesehen. Vor diesem Hintergrund fiel mir auf, dass in einem Interview eine Therapeutin auf meine Frage nach der Bedeutung des Begriffes »Raum« das »Einladen höherer Kräfte« mit der Beschreibung von »sinnlichen« Erfahrungen in Beziehung gesetzt hatte. I: Was heißt Raum genau? IP: Das ist so, es hat was damit zu tun, dass ich mich nicht total nur auf das konzentriere, was derjenige jetzt sagt. Also, ich schau’ nicht jedes Wort genau an und guck’ nur da drauf, welches Wort und genau was da jetzt gefallen ist, sondern ich guck’ da so, dass ich mit meinem ganzen Wesen auch da bin. Auch mit meinen ganzen Sinnen da bin. Dass ich höre, dass ich rieche, dass ich schmecke, dass ich atmosphärisch wahrnehme, dass ich die Gruppe wahrnehme. Dass ich alles an demjenigen wahrnehme, ja, nicht nur das, was er sagt, sondern auch, wie er sich bewegt, wie er, wann er schluckt, was ich sehe, was ich fühle, also, dass ich mich so wahrnehmen lasse mit all meinen Sinnen, also, das macht schon mal ’nen Raum auf. Dass ich sämtliche Wahrnehmungskanäle benutze und auch, dass ich noch was anderes einlade dazu. Ja, also, wie ’ne Kraft, die mich auf meinem Weg zu meinem höchsten Wohl begleitet und die auch den Patienten auf seinem Weg zu seinem höchsten Wohl begleitet. Und, also, wie dass ich auch den Raum aufmache, Kräfte einlade, die diesen Prozess unterstützen. Das sag’ ich auch, also, wenn wir Resonanzkreis machen, also, dann ist das auch genau, darum geht’s auch, uns zu verbinden mit der Erde, mit dem Himmel und dann dieses mit so ’nem freundlichen »Aha«, also, dieses »Aha«, mit diesem »Aha« drauf schauen, was ist jetzt gerade und dann noch einzuladen wie Kräfte und Schutzengel, die sie selber kennen oder die auch selber so kommen, um diesen Raum auch so zu halten.
Die Therapeutin spricht im zweiten Teil des Ausschnitts den »Resonanzkreis« an, der zeitlich den im ersten Abschnitt geschilderten Erfahrungen vorausgeht. Sie scheint nicht nur eine heilsame Situation für die Patienten aufzubauen, sondern selbst an die Existenz höherer Mächte zu glauben, die in den Therapieprozess eingreifen können. Der »Resonanzkreis« stellt eine interdependente Situation dar, da sich alle Teilnehmenden an den Händen halten und über den Kreis jeder mit jedem anderen verbunden
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ist. Auch im ersten Abschnitt beschreibt die Therapeutin mit dem Satz, »dass ich atmosphärisch wahrnehme, dass ich die Gruppe wahrnehme« die Interaktion als interdependent. Sie charakterisiert ihren Kontakt zum jeweiligen Patienten als sehr sinnlichen Wahrnehmungsprozess, den sie in den Kontext einbettet. Ihre Worte klingen, als würde sie sich fast aufgeben, sie lässt sich gewissermaßen im sozialen Geschehen wahrnehmen. In den beschriebenen Veranstaltungen scheinen intensive sinnliche Erfahrungen gemacht zu werden, denen sakrale Dimensionen zugeschrieben werden. Ich habe im zweiten Kapitel erläutert, wie Csordas (1990) das Sakrale in der körperlichen Erfahrung konkretisiert sieht. Stärker als bei Csordas wird in den Interviews innerhalb der psychosomatischen Klinik jedoch die Relationalität dieser Erfahrung betont. Das Sakrale als Erleben des »radikal Anderen«, wie es Csordas beschreibt, erscheint hier weniger »radikal anders«, sondern scheint vielmehr als Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen erlebt zu werden. Dabei kommt man zu der Annahme, an einem bedeutsamen sozialen Geschehen intensiv beteiligt zu sein.
5.4.3 Die Gemeindepsychiatrie für die Mapuche Wenn ich mit der Sozialarbeiterin mit dem Pick-up über die staubigen Straßen zwischen den Hügeln zu den Patienten fuhr, schimmerten manchmal die Blätter der Eukalyptusbäume in der hellen Mittagssonne silbern, und die Hintergrundgeräusche des Wagens störten unsere Gespräche. Doch gerade in dieser Kombination stimmte mich das besondere sinnliche Erleben ein auf die Begegnung mit den Patienten, die ich nun mit zwei dichten, aus Beobachtungsprotokollen angefertigten Beschreibungen vorstelle. Der erste Patient ist Mitte 30. Wir fahren mit dem Auto am Haus vorbei, vor dem seine Mutter und sein Bruder stehen, zum Stall, vor dem er die Schweine füttert. Die Sozialarbeiterin steigt aus und begrüßt ihn. Sie küssen einander auf die Wangen. Die Mutter ist wohl Anfang 70. Sie sieht sehr alt aus, wirkt schüchtern und ängstlich, was die Sozialarbeiterin später auch bestätigt. Die Sozialarbeiterin spricht mit dem Patienten, fragt ihn, wie er schlafe, ob er psychotische Symptome wie Stimmenhören oder Tagträume bzw. Halluzinationen erlebe. Er sagt, es gehe ihm gut, und macht Scherze. Dann geht die medizinische Assistentin mit ihm in das hintere der beiden Häuser und gibt ihm eine Spritze mit einem Neuroleptikum. Währenddessen spricht die Sozialarbeiterin mit der Mutter und fragt sie, wie ihr Sohn sich derzeit verhalte. Sie erkundigt sich auch nach ihrem Be-
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finden. Die Mutter hat Bluthochdruck. Auch der Bruder wird kurz gefragt, wie es ihm geht und wie sich das Leben mit dem Patienten gestaltet. Das Haus der nächsten Patientin ist zur Straßenseite hin mit Wellblech verkleidet, zur Gartenseite besteht es aus Holz. Neben der Küche befindet sich ein separater Wohnraum mit Tisch, Sesseln und einem Fernseher. Wie überall steigt die Sozialarbeiterin zuerst aus und fragt, ob wir anderen auch willkommen seien. Der Ehemann der 53-jährigen Patientin sowie ihre Tochter und deren 5-jähriger Sohn sind auch da. Wir setzen uns ins Wohnzimmer und der Mann, der Seh- und Hörprobleme hat, bietet uns Apfelsaft an. Inzwischen erzählt die Tochter von ihren eigenen emotionalen Problemen. Die Patientin holt eifrig Saft und Gläser. Sie erzählt, dass sie vor etwa 30 Jahren psychotisch geworden sei: Damals habe sie mit ihrer Tochter verwirrt ihre Familie verlassen und sei zu Fuß Richtung Santiago gegangen; später sei sie nicht mehr psychotisch gewesen. Die Sozialarbeiterin fragt den fast blinden und schwerhörigen Ehemann nach seiner Gesundheit. Er soll seine Augen und Ohren behandeln lassen. Sie erkundigt sich bei ihm auch nach dem Befinden seiner Frau. Auch die Patientin selbst fragt sie. Die Familie scheint sich zu freuen, dass die Sozialarbeiterin da ist. Als wir sie ein anderes Mal wieder besuchen, arbeitet die Patientin mit ihrem Mann gerade daran, das Stromkabel vom Haus zur Elektropumpe des Brunnens zu reparieren, der etwa 100 Meter vom Haus entfernt ist. Die Sozialarbeiterin und ich gehen über die Felder zu ihnen hinunter und helfen dabei, einen Holzmast, auf dem das Kabel liegt, zu befestigen. Die Sozialarbeiterin küsst den Patienten der ersten Szene auf die Wangen und tritt somit auf eine körperliche Art mit ihm in Kontakt. Diese Art der Begrüßung ist in Chile zwischen Frauen und Männern üblich. Insofern stellt die Sozialarbeiterin hier eine mimetische Beziehung zu allgemeinen gesellschaftlichen Umgangsformen zwischen Frauen und Männern her. Der eigentliche – psychiatrische – Grund des Besuches, das Abfragen der Symptome und das Spritzen des Neuroleptikums, ist in den familiären Alltag eingebettet. Dabei erscheint das Spritzen nicht nur als medizinisch notwendig, sondern auch als Teil der Inszenierung. In einer körperlichen Handlung tritt hier die medizinisch-technische Assistentin mit dem Patienten in Kontakt, und zwar im Haus des Patienten und privat, allein mit ihm, ohne die anderen Anwesenden, was Respekt vor seiner Privatsphäre impliziert. Der Patient lockert die Frage nach seinem Gesundheitszustand mit fröhlichen Scherzen auf.
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Man kann an dieser Stelle schon vermuten, dass der psychiatrische Kontakt dadurch, dass er in einer Umgebung stattfindet, in der die Patienten und ihre Angehörigen in ihrer vertrauten familiären Interaktion bzw. bei ihren handwerklichen und bäuerlichen Tätigkeiten permanent sinnliche Erfahrungen machen, selbst mit sinnlichen Bedeutungen verknüpft ist. Einen weiteren Hinweis bietet die zweite Szene bei der älteren Patientin: Die Sozialarbeiterin und ich helfen dem Ehepaar dabei, den Holzmast zu befestigen. Hier wird körperlich eine wichtige Bedeutung vermittelt: Die Sozialarbeiterin greift das konkrete Bedürfnis bzw. die körperliche Tätigkeit der Patientin und ihres Angehörigen auf und unterstützt beide hierbei auf eine sinnlich-körperliche Art. Weitere Anzeichen finden sich in der Szene im Wohnzimmer, die ich als freundschaftlich und sehr angenehm empfand. Uns wurde Apfelsaft angeboten, auch die Tochter und das Enkelkind beteiligten sich am Gespräch, es wurde gescherzt und viel gelacht. Diese Art des Umgangs schien mir ein Zeichen für eine besonders intime Beziehung zwischen der Patientin und der Sozialarbeiterin zu sein. Daher fragte ich im Gespräch mit dieser Patientin genauer nach. I: Which importance does this relationship to the ambulance hospital have for you? Like the visits from señora Y. D: It’s everything for me, it’s my whole life, and my whole life is trusted to the hospital. And the visits of the Miss Y. are very important because we are honored and we feel very happy when she comes. And we wish we could give something in return for her because we’re very grateful and we would like to give her a reward for the help she has given to us and to make her come more often. And when she doesn’t come we really miss her.
Die Sätze: »it’s everything for me« und »it’s my whole life«, weisen darauf hin, dass die Interviewpartnerin ihr Leben als untrennbar mit der Psychiatrie verbunden sieht. Sie schulde ihr ganzes Leben dem Krankenhaus. Als sie dann auf die Besuche der Sozialarbeiterin zu sprechen kommt, wechselt sie von der ersten Person Singular in die des Plurals. Die Interviewpartnerin sieht nicht nur sich selbst, sondern ihre ganze Familie in Beziehung zur Psychiatrie. Für mich weist die in den verwendeten Begriffen enthaltene Totalität (wie »my whole life«) darauf hin, dass die Patientin ihre Beziehung zur Sozialarbeiterin als bedeutsam empfindet. Dabei liefert die Verwendung der ersten Person Plural einen Hinweis auf eine interdependente Selbstkonstruktion der Interviewpartnerin, was zur
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oberen Szenenbeschreibung passt. Denn die Sozialarbeiterin bezieht bei ihrem Besuch alle Familienmitglieder mit ein, auch die Tochter und der Ehemann werden nach ihrem Wohlbefinden gefragt. Als Vertreterin des Krankenhauses könnte ihr eine besondere Kompetenz in Bezug auf gesundheitliche Fragen zugeschrieben werden. Ich selbst habe die Sozialarbeiterin als lebendig und interessiert am Leben ihrer Klienten erlebt. Sie scheint ihre Arbeit mit großer Freude auszuüben. Sie kommt schon seit vielen Jahren regelmäßig in diese Familie und kennt ihre Situation sehr gut. Das Gespräch mit der Familie findet in einer die Sinne anregenden Atmosphäre statt – man trinkt etwas zusammen, die Luft ist erfüllt von den Gerüchen und Geräuschen eines Bauernhofes, man berührt die gemütliche Sitzgarnitur. Der Kontakt mit der Sozialarbeiterin wirkt nicht wie eine professionelle Einrichtung, sondern wie der Besuch einer vertrauten Person. Hierzu passt auch, dass die Patienten, wenn das psychiatrische Team kommt, oft mit körperlichen Tätigkeiten beschäftigt sind, Schweine füttern oder auch einen Holzmast befestigen; in den Interviews finden sich viele Hinweise auf einen mit Tätigkeiten ausgefüllten Alltag: I: Yes, what is a day like for you? What are you doing on a usual day? D: I wake up I, I clean the place, I start fire and then I make lunch, later I look for things that need to be taken care of, for example there’s always something that needs to be cleaned. And that’s it basically, but later I have to take care of the cows and to take them there, and take them back so they can eat, and I have to take care of him because he’s weak and he’s short-sighted.
Die Patientin aus der zweiten Beschreibung schildert ihren Tagesablauf: sie wache auf, mache sauber, koche und kümmere sich um die Kühe. Zusammen mit dem Satz: »there’s always something that needs to be cleaned«, weist diese Beschreibung darauf hin, dass sie permanente Anforderungen im Haushalt wahrnimmt, die sie dann entsprechend erfüllt. Hinzu kommt ihre Aussage, dass sie sich um ihren »schwachen« und »kurzsichtigen« Ehemann kümmern müsse. Sie scheint sich selbst als in die familiäre Tätigkeiten eingebunden und auch hierfür »gebraucht« zu fühlen. Die von ihr genannten Tätigkeiten sind an körperliche Handlungen geknüpft. Ich bin diesem Gedanken in anderen Interviews weiter nachgegangen. I: If you go to the city do you miss the life here, the community? When you go to the hospital, for example, do you miss the community or the nature here?
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D: Yes, he only wants to return here, he mostly misses the house, but he also likes the earth, the land. I: Yes, why do you like it? What feelings do you have? D: He feels at ease, he feels resting, he feels fine sitting in the grass.
Der Patient schildert, dass er bei seinen Aufenthalten in der nächsten Stadt seine gewohnte ländliche Umwelt vermisse. Wenn man das Bild des Im-Gras-Sitzens als pars pro toto für sein Leben auf dem Land nimmt, könnte man hieraus schließen, dass er hier eine Passung zwischen seinen Bedürfnissen und seiner Umwelt schildert. Für mich weisen seine Begriffe »behaglich« oder »ruhend« auf ein Gefühl der Zufriedenheit hin. Der Interviewpartner schildert mit »dem Sitzen im Gras« eine qualitativ andere körperliche Erfahrung als die Interviewpartnerin zuvor mit der Beschreibung ihrer Tätigkeiten im Haushalt. Beiden Ausschnitten gemeinsam ist, dass der Körper mit seinen Sinnen an den beschriebenen Handlungen beteiligt ist. Beide Interviewpartner scheinen ihre Beteiligung an der ländlichen Alltagswelt als bedeutsam zu empfinden. Beide Zitate beziehen sich nicht direkt auf den Kontakt zur Psychiatrie. Allerdings kann man aus den oberen Beschreibungen schließen, dass die Psychiatrie gewissermaßen in die hier beschriebenen Situationen hineintritt, wenn sie die Patienten und ihre Familien aufsucht. Hierfür spricht, dass wir bei unseren Besuchen die Patienten und ihre Familien in der Regel bei körperlichen Tätigkeiten antreffen. Die Mitarbeiter der Psychiatrie sind in den szenisch-körperlichen Aufführungen insofern an dem sozialen Geschehen beteiligt, das die Patienten als bedeutsam wahrnehmen. Bisher habe ich beschrieben, dass sich in den Beschreibungen aus meinen Beobachtungsprotokollen und den Interviewzitaten Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen sinnlichen, körperlichen Tätigkeiten und Gefühlen der zufriedenen Übereinstimmung mit der Umwelt finden. Daneben fanden sich bei Besuchen bzw. in den Interviews auch Hinweise, dass sakrale Elemente dann Einlass erhielten, wenn die Patienten sie in das Setting hineinbringen. Sie haben also nichts direkt mit dem Behandlungskonzept zu tun, werden jedoch von der Psychiatrie integriert. Als wir z.B. eine etwa 55-jährige Patientin aufsuchten, kniete sie nieder und betete mit lauter und eindringlicher Stimme das Vaterunser. Auch als sie uns Äpfel anbot, sprach sie dabei von der »Liebe Gottes«, sie lief mit ausladenden Armbewegungen durch das Zimmer und rezitierte christliche Verse, manchmal blickte sie zur Zimmerdecke und bekreuzigte sich. Die So-
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zialarbeiterin fragte nach möglichen psychotischen Symptomen, was die Patientin jedoch verneinte. Später erzählte die Sozialarbeiterin, dass die Patientin einer Pfingstkirche angehöre und dass dies auch ihre Wahrnehmung der bei ihr diagnostizierten Schizophrenie stark beeinflusse. Aufgrund derartiger Erlebnisse habe ich in den Interviews auch nach der Religion gefragt. Dabei zeigte sich, dass die Teilnehmenden einen Glauben an eine sakrale Dimension mit der psychiatrischen Behandlung verbanden. D: She feels that the machi’s medicines are helpful, but she gives more importance to the psychiatric medication, she has liked, she has enjoyed visiting the machi. […] I was asking if she has a strong belief in the Catholic church now and then back when the symptoms started, and yes, it was very strong and she was participating in the mass and she believes in the machi but she was some kind of doubtful when she went there for the first time, but she doesn’t, it’s a mystery to her why the medicines work, but she feels that the medicines have improved her mood and allow her to do things and she never lost her faith in God and she always thought that God would take her out of the asylum in X.
Die Patientin nimmt zunächst eine Abstufung vor, sie sieht die Heilmittel der machi als hilfreich an und mochte die Besuche bei der Heilerin, schreibt der psychiatrischen Medikation jedoch eine höhere Wirksamkeit zu. Sie beschreibt ihre Zweifel beim ersten Aufsuchen der machi, doch deren Medizin habe ihre Gemütsverfassung verbessert. Daneben betont sie die Stärke ihres katholischen Glaubens und ihre Teilnahme an den Gottesdiensten zu Beginn ihrer psychotischen Krise, denen sie eine große Bedeutung zuzuschreiben scheint, worauf auch die Worte »she never lost her faith in God« hinweisen. Gott sollte sie aus der geschlossenen Psychiatrie herausholen; die psychiatrische Behandlung scheint für sie nur in Verbindung mit Gott heilsam zu sein. Noch deutlicher wird die Verbindung zwischen dem Glauben an Gott und der Akzeptanz der psychiatrischen Behandlung in dem Zitat einer Frau, die das Sorgerecht für ihre Nichte mit der Diagnose Schizophrenie hat. I: You are in the Catholic church, you believe in the old Mapuche traditions and your niece is under medical treatment in the psychiatric hospital? Is it possible to have all these different believes or does this cause conflicts for you? D: She integrates the three of them through the concept of God. God helps her, God’s desire is to bring the medicine of the psychiatrist and she can go to the
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Mapuche ceremonies and pray in her own language, but she trusts that all these three areas can complement each other because it’s the will of God.
Die Interviewpartnerin stellt ihren Glauben an Gott als integrierendes Element vor, mit dem sie ihre Teilnahme an den katholischen Gottesdiensten und an den Mapuche-Zeremonien – die ihr wohl näher stehen, wie die Worte »pray in her own language« andeuten – sowie die psychiatrische Medizin verbinden kann. Die psychiatrische Behandlung ihrer Nichte interpretiert sie als »Gottes Wunsch«. Man kann hieraus schließen, dass »Gott« bzw. eine spirituelle Dimension für sie auch im Setting präsent ist und die Interaktion zwischen den Patienten und Psychiatriemitarbeitenden beeinflusst. Hierfür spricht die Aussage eines Patienten13 . D: […] He thinks they are inside his body, the bad spirits, but he is not sure, he doesn’t know, but maybe in the chest and the devil and the evil spirits are inside of him.
Der Interviewpartner spricht auf meine Frage hin, wie er sich das Phänomen vorstellt, das als Schizophrenie bezeichnet wird, von »bösen Geistern«. Diese Aussage bietet einen Hinweis auf die Existenz spiritueller Bedeutungen im Setting, die den Kontakt zwischen den Patienten und der Psychiatrie zu beeinflussen scheinen. Dabei könnte man spekulativ aus der Aussage schließen, dass der Interviewpartner hier mit dem Begriff der »bösen Geister« ein Phänomen charakterisiert, das er als »radikal anders«, getrennt von sich, wahrnimmt. In dieser spekulativen Interpretation würden die »bösen Geister« dann Parallelen zu Csordas’ (1990) Konzeption des Sakralen aufweisen, sie wären gewissermaßen das Ergebnis eines Prozesses der Selbstobjektivierung. In der Gemeindepsychiatrie leben die Patientinnen und Patienten in ihren gewohnten familiären Lebensumständen. Das psychiatrische Anliegen wird sinnlich-körperlich in einen ›freundschaftlichen‹ Besuch eingebettet, der die gesamte Familie bzw. auch die Alltagstätigkeiten mit einbezieht. Als unterschiedliche Ebenen wurden die körperliche Inszenierung über die Kleidung, die handwerklichen Tätigkeiten – als Teil des Alltags, an 13 | Auch eine Sozialarbeiterin hat mir erzählt, dass sie an die Existenz des »Bösen« glaube und den Vorstellungen der Mapuche entsprechend viel Akzeptanz entgegenbringe.
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dem die Psychiatrie teilnimmt –, die körperliche Berührung bei der Begrüßung sowie die sinnliche Atmosphäre herausgearbeitet. Die Erkrankung der Patienten und ihre Behandlung werden gewissermaßen sinnlich mit der Alltagswelt verbunden, sie erscheinen ebenso als Teil des Alltags wie auch der Blutdruck der Mutter oder die Schwerhörigkeit des Ehemannes.
5.5 A LLTAGSNÄHE In den beiden vorigen Kapiteln habe ich erläutert, inwiefern die beiden Kategorien ›Bedeutsamkeit‹ und ›soziales Geschehen‹ bereits eine Alltagsnähe enthalten. Ansonsten würden die szenisch-körperlichen Aufführungen subjektiv nicht überzeugen. Dennoch möchte ich dem zentralen Gedanken, dass die performativen Praktiken der Settings anschlussfähig an die Alltagswelt der Teilnehmenden sind, ein Kapitel widmen. Denn zum einen muss die Wirksamkeit therapeutischer Settings14 auch immer im Kontext ihrer Fragilität gesehen werden (Moos, 2003a). Zum anderen gibt es in den Daten zahlreiche Aussagen, dass die Gesundheitsförderung daran geknüpft ist, dass eine Person mit ihrer Erkrankung im Alltag zurechtkommt. Hierauf bezieht sich die Kategorie der ›Alltagsnähe‹. Die folgende Grafik stellt sie visuell in den Kontext des zu Beginn des fünften Kapitels vorgestellten Modells. Abbildung 4: Alltagsnähe
14 | Auch der Candomblé- und Umbanda-Tempel wird in meinem Verständnis zu einem therapeutischen Setting, wenn er zu einem therapeutischen Zweck in Anspruch genommen wird.
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Das Bauen von Brücken zum Alltag im sozialen Geschehen (in der Grafik ›Angehen von Defiziten‹) erscheint als notwendig, damit sich der Gesundheitszustand der Teilnehmenden im Setting und im Alltag verbessern kann (in der Grafik beschreibt dieses Phänomen der Begriff ›kontextübergreifend‹). Die Brücken selbst, die Äußerungen über sie in den dichten Beschreibungen meiner Beobachtungsprotokolle und Interviews, sollen nun ausführlicher zitiert werden.
5.5.1 Der Candomblé- und Umbanda-Tempel In diesem Kapitel wird die Alltagsnähe des Candomblé- und UmbandaTempels erläutert. Während meiner Aufenthalte im Candomblé- und Umbanda-Tempel des pai-de-santo fiel mir auf, dass dieser ein »soziales Zentrum« darstellt, was sich besonders gut anhand zweier dichter Beschreibungen aus dem Kontext der Umbanda zeigen lässt. Bei den wöchentlich stattfindenden Veranstaltungen mit den pretos velhos bzw. pretas velhas (Sklavengeistern) wird das hintere Viertel des Saales mit einem Vorhang abgetrennt, so dass sich ein intimerer kleiner Raum ergibt. Hinter diesem Vorhang sitzen etwa zehn Medien auf dem Fußboden, rechts und links neben ihnen sitzt jeweils ein Helfer oder eine Helferin. Alle Mitarbeitenden des Tempels sind heute ganz in Weiß gekleidet. Vor dem Vorhang sind die etwa hundert Plastikstühle von ratsuchenden Menschen (consulentes) besetzt. Sie müssen sich für 10 Real einen Mitgliedsausweis kaufen, der monatlich weitere 15 Real kostet, und erhalten am Eingang eine Wartenummer. Vor der Eröffnung der Beratungssitzung wird in einer Schüssel eine süße Speise angeboten. Jede anwesende Person greift mit ihrer rechten Hand in die Schüssel und isst ein wenig von der klebrigen Masse. Die Speise gilt als heilig und soll zu materiellem Wohlstand verhelfen. Als sich die Geister in den Medien inkorporieren, vibrieren deren Körper oft stark, manchmal zucken ihre Arme und Schultern. Sie werden dann von den Helfenden beruhigt. Vor jedem Medium sitzt eine ratsuchende Person, der inkorporierte Geist hält ihre Hand. Die Geister stellen Fragen zum Alltag, kommentieren die Antworten und geben Rat bei Problemen im Beruf, in der Liebe oder in der Familie. Die Helfenden übersetzen bei Kommunikationsproblemen.
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Ebenfalls wöchentlich, an einem anderen Abend, inkorporieren sich die caboclos bzw. caboclas (Indianergeister) sowie ciganas, die Geister verstorbener Zigeunerinnen. Die Veranstaltung beginnt, indem sich alle Mitarbeitenden des Tempels im Kreis auf den Fußboden setzen und gemeinsam das Vaterunser beten. Auch die über hundert anwesenden consulentes beten laut mit. Heute sind alle im Tempel arbeitenden Personen ganz in Rot gekleidet. Die rote Jacke und Hose des pai-de-santo sind zusätzlich mit Gold bestickt. In kleinen, orientalisch anmutenden, runden Zelten sitzen jeweils ein Medium, zwei Mitarbeitende und eine ratsuchende Person auf Plastikstühlen. Auf der Bühne im hinteren Teil des Saals sitzen sieben weitere Medien einzeln an Tischen, in denen sich die ciganas manifestieren. Sie sind wegen der Statuen katholischer Heiliger auf der Bühne vom Saal aus kaum zu sehen. Beruhigende Meditationsmusik erklingt, bunte Lampen erzeugen schummriges Licht, während die consulentes mit der richtigen Wartenummer zu den Geistern gebracht werden. Die beiden Szenen illustrieren, wie der Tempel Lebenshilfe anbietet. Es gibt eine große Bandbreite alltagsnaher Themen. Man kann regelmäßig in den Tempel kommen und erhält hier praktische Ratschläge. Zum Beispiel riet mir eine cigana, weniger offen über meine Lebenspläne und vor allem meine finanzielle Situation zu sprechen. Denn zu viel Offenheit sei schädlich für mich. Man bringt den Geistern anschließend für die Beratung relativ einfache Opfer. Ich sollte in einer katholischen Kirche eine Kerze entzünden und beten. Zur praktischen Lebenshilfe passt die örtliche Nähe des Tempels: Das Setting ist fast ein Bestandteil des Alltags. Insofern ist die Trennung zwischen dem Tempelbesuch und dem Alltag diffus bzw. es gibt viele Überlappungen. So hat zum Beispiel, bevor das im vorigen Kapitel beschriebene Candomblé-Fest begann, der Favorit des pai-de-santo für die kommende Wahl des Stadtparlaments eine kurze Werbe-Rede gehalten. In dem Tempel können Menschen, die mit unterschiedlichen Anliegen kommen, integriert werden. Dabei haben die Besucher und die Medien einen unterschiedlichen sozialen Hintergrund. Hauptsächlich kommen relativ arme Leute hierher. Doch es sind auch Akademiker und Angehörige der Mittelschicht dabei. Ich habe den pai-de-santo gefragt, wer den Tempel besuche: I: Who is coming to the temple? D: All people that need help. I: And what kind of –
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D: Sentimental problems, professional, financial problems and physis, ok like sickness. Four kind of people that is coming here.
Die Personen, die den Tempel aufsuchen, werden über ein Defizit charakterisiert. Sie würden aufgrund von Problemen in unterschiedlichen Bereichen ihres Alltags Hilfe benötigen. In den Daten finden sich immer wieder Hinweise, dass viele Klienten im Tempel erleben, dass ihre Defizite aus dem Alltag hier auf eine zu ihrem Alltag passende Weise angegangen werden. Zu den oben beschriebenen Sitzungen mit den Beratungen kommen oft mehrere Familienangehörige. Auch in den von mir beobachteten Ritualen zur Aufhebung einer Besessenheit waren immer außer den Bittstellern Familienangehörige anwesend. In den Interviews wurde die Einbeziehung der Familienangehörigen damit begründet, dass die Probleme der Klientinnen und Klienten nicht von ihren familiären Beziehungen zu trennen seien. IP: Because most of the people who come here, their families are in trouble, have problems. (Männliches Medium)
Derselbe Interviewpartner betont die Notwendigkeit, bei der Behandlung die gesamte Familie mit einzubeziehen. IP: Because it won’t work if you take one, like you have, you have a puzzle, you take a piece. And then you clean it and the rest is dirty, you put it there, it will be ugly.
An dieser Aussage wird deutlich, dass durch die Einbeziehung der Familienmitglieder Defizite angegangen werden können, die mit der Familie zusammenhängen. Umgekehrt kann man schließen, dass die Einbeziehung der Familienmitglieder dabei gleichzeitig zur Alltagsnähe beiträgt, wie es das interdependente Bild des »Puzzle« mit der bildlichen Gegenüberstellung des »gereinigten Puzzle-Teils« und der »verschmutzten« übrigen Teile illustriert. Als ich selbst bei der Beratung war, hat der cigana-Geist mich aufgefordert, ein desobsessão-Ritual durchzuführen, wie ich es im ersten Kapitel beschrieben habe. Ich war zwar physisch allein dort, doch in den Äußerungen der Geister war meine Familie ebenfalls als wichtiges Thema präsent.
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Als ich selbst mit dem desobsessão-Ritual behandelt wurde, fühlte ich mich auf eine ungewohnte Weise beteiligt, weil in der Inszenierung Wesen, die mir völlig fremd erschienen, sich in dem Medium verkörperten und mir durch dieses nun sagten, dass ich von ihnen besessen sei, das Fremde in gewisser Weise also in mir sei. Es könnte sein, dass die spezifische Beteiligung, die in den Ritualen unter Einbeziehung der Geister entsteht, es ermöglicht, Defizite in den sozialen Beziehungen des Alltags auf eine für den jeweiligen Klienten passende Weise anzugehen. Die Mitarbeitenden des Tempels vermitteln in diesem Zusammenhang eine bestimmte Art von Wissen über den Umgang mit ›psychischem Kranksein‹ an die betroffenen Familien. I: And who cares for the crazy people here in the temple? D: […] coordinators. I: And at home the families when they are leaving? D: Yes, but they give instructions to the family. (Pai-de-santo)
Die Art des vermittelten Wissens hängt mit der Bezugnahme auf die Welt der Geister zusammen. In den beschriebenen Umbanda-Sitzungen sind es in der emischen Perspektive die Geister, die über die Medien performativ mit den Klienten interagieren, wie es ein männliches Medium beschreibt: IP: Because you have the medium, the client, and you have the third agent. That is the spirit. Always helping us to qualify some questions, to solve some problems (laughing).
Entsprechend wird ›psychisches Kranksein‹ als »spirituelles Problem« interpretiert, das sich auf die Einflüsse von Geistern zurückführen lässt. I: You know in psychiatric hospitals there are people one calls crazy. D: Are people that did not develop the spirits. And if they did not develop the spirits make crazy, make you crazy. (Männliches Medium)
Ein anderer Interviewpartner scheint ein spirituelles Problem als weniger gravierend anzusehen als ›Verrücktheit‹. Für ihn führt ein Defizit an Wissen über die »spirituellen« Ursachen zur Benennung ›verrückt‹. In dem Candomblé- und Umbanda-Tempel findet ein – verglichen mit dem psychiatrischen Modell – gänzlich anderer Umgang mit Verrücktheit statt.
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Häufig können Menschen mit psychiatrischen Diagnosen entweder mit der Diagnose der ›Besessenheit‹ als Klienten von den Medien behandelt werden. Oder sie können selbst potentielle Medien sein, die im Tempel eine Umdeutung ihrer nach psychiatrischen Kriterien ›psychotischen Symptome‹ erleben. Verrücktheit wird als Interaktion mit den Geistern interpretiert und entsprechend integriert (vgl. Wiencke, 2009b). Ich habe beschrieben, wie erstens die Familienangehörigen einer Hilfe suchenden Person über die Vermittlung eines spezifischen »spirituellen« Wissens, das sich auf den Umgang mit der betreffenden Person bezieht, mit einbezogen werden. Zweitens habe ich die Bezugnahme auf die Welt der Geister auf zwei Ebenen geschildert: Zunächst wird ein Problem mittels der Bedeutungswelt der Geister interpretiert und anschließend wird ebenfalls aus der Bedeutungswelt der Geister eine Lösung für das Problem geboten. Nun möchte ich in einem Fallbeispiel moralische Aspekte als dritten inhaltlichen Bedeutungsbereich ergänzen, die mit der Candombléund Umbanda-Kosmologie verbunden sind. In diesem Zusammenhang werde ich auch die zweite Komponente der ›Alltagsnähe‹ erläutern, nämlich die kontextübergreifende Gesundheitsförderung. Hierfür ist es notwendig, dass die erste Voraussetzung erfüllt ist und man erfährt, dass die jeweiligen Alltagsdefizite passend angegangen werden. Medien kommen häufig aufgrund einer Krise mit einem Tempel in Kontakt. So auch der 41-jährige Amaro15 , der seit über 20 Jahren als Medium im Tempel des pai-de-santo tätig ist. Amaro fiel, als er 15 oder 16 Jahre alt war, häufig in Ohnmacht. Versuchte er mit anderen Personen über seine Probleme zu sprechen, begann er zu weinen oder wurde wieder ohnmächtig. Ein zentraler Gedanke war, dass Autos über seine Füße rollen sollten. In dem Krankenhaus, in das ihn seine Mutter mehrmals brachte, konnte er nicht ausreichend behandelt werden. So bestanden seine Probleme weiterhin, als er mit dem Plan einer Schauspielkarriere nach Sâo Paulo zog. Dieser Plan ließ sich nicht sofort umsetzen und Amaro arbeitete in einem Laden. Während dieser Zeit trieb ihn der Traum eines tiefen Sprungs auf das Dach des Geschäftsgebäudes, von dem er dann auch tatsächlich sprang. Er wurde mit mehreren Knochenbrüchen in ein Krankenhaus gebracht. Hier arbeitete eine Krankenschwester, die ihm riet, sich in einem Candomblé-Tempel spirituell zu entwickeln. Er wollte sich aber zu diesem Zeitpunkt einer derartigen Religion noch nicht anvertrauen. 15 | Der Name ist ein von mir gewähltes Pseudonym.
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D: A nurse, and a nurse in São Paulo told him: »You have to go to a, to a more spiritual temple to develop yourself.« But at that time he did not want to dedicate himself to a religion that is so complicated.
Aber seine Probleme blieben unverändert bestehen und Amaro nahm schließlich doch den Rat an und suchte ein terreiro auf. D: Your orixá can take you to a temple. […] It’s like an angel that takes care of you […], your protector.
Im Rückblick scheint es Amaro, dass erst die Orientierung an der spirituellen Welt ihm das passende Angehen seiner Probleme ermöglichte. Obwohl Amaro den orixás (Göttern) Opfergaben darbrachte, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand dramatisch. Er konnte nicht einmal mehr sprechen. Man kann interpretieren, dass seine Defizite hier nicht für ihn passend angegangen wurden. Deswegen wechselte er den Tempel. In dem neuen Tempel durchlief er bestimmte Initiationsriten u.a. schlief er in einer besonderen Körperhaltung für drei Tage im Tempel und trug für eine bestimmte Zeit nur weiße Kleidung. In dem terreiro wurde auch Schwarze Magie praktiziert: Amaro sollte bei einem catimbó helfen, mit dem die Mutter einer jungen Frau getötet werden sollte, die mit ihrem Stiefvater eine Liebesbeziehung eingehen wollte. Aber Amaro lehnte dieses Ansinnen ab und wechselte zum jetzigen Tempel. D: But that temple it was doing black magic, to do the evil, to do the bad to the people. He did not like. He left this temple and he came here, to this place. […] He does not accept to do bad against anyone. I asked him, »but could you do the bad things if you wanted so?« He says no because my saints were not educated to this. He said, he said for example that in the other temple the pai-de-santo wanted him to do the bad against a lady. There was a girl that wanted to kill the mother in order to stay with the step-father, but he did not accept.
Der Interviewpartner verbindet die moralische Komponente mit der spirituellen Dimension und legitimiert hierüber im Rückblick sein damaliges Handeln: Seine orixás waren für böse Taten nicht ausgebildet. Aufgrund der fehlenden moralischen Übereinstimmung kam es nicht dazu, dass seine Probleme auf eine ihm angemessene Art angegangen wurden, so dass Amaro auch diesen Tempel wieder verließ.
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Der jetzige pai-de-santo entfernte zunächst das catimbó, das der »böse« pai-de-santo gegen Amaro praktiziert hatte. Der pai-de-santo erklärte Amaro, dass er ein Medium sei. Um gesund zu werden, müsse er sich spirituell entwickeln. Zur symbolischen Initiation in seinen neuen Lebensabschnitt zerstörte er einen aus Lehm geformten Kopf von pomba gira. Er schnitt sich seine Haare ab und trug für 90 Tage nur weiße Kleidung, verzichtete auf Geschlechtsverkehr, Alkohol, Tabak und Fleisch. Wie alle neuen Medien besuchte er die wöchentlichen Seminare: Dort werden Fragen zum Tempel, zu Candomblé und Umbanda sowie konkreter zu der Entwicklung als Medium beantwortet. Außerdem wird geklärt, welche spezifischen medialen Fähigkeiten die jeweilige Person besitzt. IP: Because we, we have the mediums who can see, some others people can hear. Some, like some can incorporate, for example. (Anderes männliches Medium)
Die Initiationsriten scheinen eine Übergangsphase zu bilden, in der sich Übereinstimmungen zwischen den Medien und den Aktivitäten bzw. dem Weltbild des Tempels entwickeln. In der gezielten Interaktion mit den Geistern lernen die potentiellen Medien mit extremen Erfahrungen umzugehen. Entsprechend schreibt Amaro seinen Genesungsprozess der Entwicklung als Medium zu. I: So do you think it’s very important for your life that you are developing as a medium? D: He thinks that if today he did not have developed he would have died. He had a wish that the cars could run over his feet when he was a young. One day he jumped from a tree.
Mit der Entwicklung zum Medium wurde Amaro in eine klare Struktur und Hierarchie eingegliedert, mit denen er die extremen Erfahrungen – hier als Manifestationen der Geister gedeutet – ebenfalls strukturieren und in sein Leben integrieren konnte. Mit der Bezugnahme auf die Geisterwelt wurde sein Leiden relational im Rahmen der Candomblé- und UmbandaKosmologien interpretiert. Und auf der interaktionalen Ebene fand über die mediale Entwicklung Integration in das Tempelleben statt: Man wies ihm hier als Medium Funktionen zu, die ihm halfen und mit denen er gleichzeitig andere Personen unterstützen konnte. Amaro erhielt einer-
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seits die Anerkennung und emotionale Zuwendung der Gemeinschaft und trug andererseits selbst dazu bei, die Gruppenkohäsion und emotionale Zufriedenheit der Gemeinschaft zu erhöhen, wie ich es oben in einigen Beispielen von Ritualen beschrieben habe. Es gab kollektive Erwartungen der Außenstehenden hinsichtlich der Art, in welcher sich die inkorporierten Wesen mit bestimmten körperlichen Gesten und Haltungen äußern, so dass die vorher unkontrolliert auftretenden Zustände in Richtung dieser Erwartungen geordnet wurden. In diesem Rahmen lernte Amaro, sich auf derartige Zustände, hier als Manifestationen der »Geister« gedeutet, vorzubereiten und damit in einem kontrollierten Rahmen umzugehen. Das Tempel-Setting ermöglicht radikale Identitätsveränderungen, die aber nicht willkürlich, sondern auf eine bestimmte Art gerichtet sind. Der Tempel hat eine bestimmte Struktur, in die sich jedes Medium mit einer bestimmten Position und Aufgabe einfügen muss. Das hierarchische Gefälle besteht sowohl zwischen den Medien und den Besessenen16 als auch zwischen den Medien. In den Interviews wurde die Struktur des Tempels mit dem Konzept der ›Familie‹ charakterisiert. D: In Candomblé it has to be a family. (Mãe-de-santo)
Die Bezeichnungen pai oder mãe machen die Parallelen im Aufbau des terreiro zur Familie deutlich. Auf anderen Hierarchieebenen finden sich die Söhne (filhos-de-santo), die Töchter (filhas-de-santo) sowie die Brüder (irmãos-de-santo) und Schwestern (irmãs-de-santo). Anders als in der leiblichen Familie des Alltags können hier Defizite wie psychische Krankheit aber auf eine besondere Weise zur spirituellen Entwicklung genutzt werden. In der Entwicklung zum Medium kann man in der »spirituellen Familienhierarchie« aufsteigen. Über die äußere Struktur können die Medien ihre persönlichen Erfahrungen in die kollektive Bedeutungswelt der Geister-Manifestationen einordnen. Hier erhalten sie soziale Unter-
16 | Die Hierarchie wird jedoch auch etwas eingeschränkt: Denn die Besessenen bzw. die Ratsuchenden partizipieren selbst auch am Entstehungsprozess der Diagnose. In der emischen Perspektive lügen die exus und pomba giras sowie unreife Geister manchmal oder irren sich. Vor diesem Hintergrund können Klienten auch widersprechen und eine andere Meinung als die in den Medien inkorporierten Geister vertreten.
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stützung, deren Qualität durch die eigenen Lebensumstände wie die Beziehung zur eigenen Familie und den spezifischen Tempel beeinflusst ist. Wenn man mehr Wissen über den richtigen Umgang mit anderen Menschen und den Geistern und Gottheiten erwirbt, kann man sich entsprechend gesundheitsförderlicher verhalten. I: How can you protect yourself against obsession? D: We that have, we that have knowledge we have our defence. We can pray, respect, to respect the, the rules, charity, to do charity, bad thoughts is very bad to you. We should think positively, not to attract the negativity. (Weibliches Medium)
In dem oberen Fallbeispiel habe ich die Zuschreibung auf die Geisterwelt als bedeutungsgenerierende Basis des Genesungsprozesses herausgearbeitet. Die spirituelle Entwicklung bzw. die Entwicklung zum Medium im Tempel ermöglicht eine Strukturierung angesichts des bedrohlichen Chaos, das mit psychischer Krankheit verbunden ist. In der Entwicklung zum Medium findet eine Integration in die hierarchische Tempelstruktur statt, die ich als »spirituelle Familie« beschrieben habe. Die Praktiken im Tempel bieten vielfältige alltagsnahe Anknüpfungspunkte, um psychisches Kranksein auf eine performative Weise in das Leben zu integrieren. Strukturierung und Integration im bedeutungsgenerierenden Bezug auf die Geisterwelt, schutzbietendes Wissen und soziale Unterstützung sind relevante Merkmale, denen im Tempel eine gesundheitsförderliche Wirkung zugeschrieben wird. Mit einem zweiten Fallbeispiel möchte ich noch stärker die Brücken vom Tempel zum Alltag herausarbeiten. Sergio17 (22 Jahre) inkorporierte – in der Deutung des Tempel-Kontextes – zum ersten Mal mit 18 Jahren gänzlich unvorbereitet. Er saß verzweifelt mit einem Freund in seinem Auto vor dem Krankenhaus, in das seine Mutter mit einem Schlaganfall eingeliefert worden war. Hier geschahen nun seltsame Dinge mit ihm, für ihn völlig unbegreiflich. IP: Well, actually I had a problem. I had a problem, my mother was at hospital. She was having a stroke. She was suffering from a stroke. And I was outside the hospital with a friend of mine and I was sitting in a car. And suddenly strange things started to happen to me. And I didn’t know what exactly was happening. 17 | Auch dieser Name ist ein von mir gewähltes Pseudonym.
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Strange things, I was talking weird things that, things like that. […] And then I was inside the car, I was jumping inside of the car, I was screaming, I scratched myself. I was a kind of crazy; it was like crazy that time. You, if every, everybody that was passing by near the car was able to hear they thought I was going crazy like in total despairs.
Der Zugang zum Candomblé und zur Umbanda kam über den Freund zustande, er telefonierte mit dem pai-de-santo, seinem Nachbarn. Dieser kam und drückte mit seinem Finger kräftig auf eine Stelle hinter Sergios Ohr. Damit verschwanden die Phänomene sofort. Der pai-de-santo brachte die beiden in sein Privathaus und beendete ein catimbó (Schwarze Magie), wie der Interviewpartner erläutert: IP: I was okay, and he took us to his home. And he finished with the work. You know work, services? I: Yes. IP: The kind of, bad things that people do for us. I: Like catimbó? IP: Yes, you know catimbó? I: Yes. IP: Yes, catimbó (laughing). That’s it. Someone has done it to me, and my mother took it, and it reached my mother first, and then all of this happened. I: And did he say that you are obsessed, too? IP: My mother was. And I at that time, I didn’t realize that I was a medium. And as I was a medium, but I didn’t know at that time that I was able to connect. I received bad things like to make incorporation, incorporate everything. Everything came on me, but I didn’t know what to do because it was my first time. I had never been in a place like this. I had never been in a situation like that. […] I: So you were not obsessed by a spirit, but you were incorporating spirits? IP: Yes, I learned how to – I: No, but I mean in this situation or before when, you said that in your mother – IP: No, I incorporated at that time.
An dieser Stelle nimmt Sergio eine genaue Differenzierung des Kontexts vor: Die Schwarze Magie sei gegen ihn gerichtet gewesen, aber sie habe seine Mutter getroffen und zu deren Schlaganfall geführt. Dann habe er die Geister, von denen seine Mutter besessen gewesen sei, unvorbereitet inkorporiert. Er selbst sei also nicht besessen gewesen, sondern empfäng-
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lich für die obsessão (Besessenheit) seiner Mutter. Da er niemals zuvor eine derartige Situation erlebt habe, habe er nicht gewusst, wie er sich habe verhalten müssen. Trotz der – ihn anscheinend überzeugenden – Diagnose der Schwarzen Magie (catimbó) verwendet Sergio den medizinischen Begriff »stroke«. Sergio begründet anschließend seinen Perspektivenwechsel mit der Krise und der damit verbundenen Entwicklung zum Medium. IP: Because when before I came here I used to be very materialistic, a materialistic person. I saw the crazy people were on the streets. And I called them crazy. My way of living or dealing with certain situations like in a moment that I am angry I used to act in another way that today is different. In nowadays I can be more peaceful. You know, I can handle things easily with some patience. I can think better some situations because when you believe this here, this religion we try, we start to see that, to notice that, to realize that most of our problems are caused by ourselves. Not the spirits. Most of our problems are caused by us. We look for our actions, our attitude is that sometimes creates a problem. When you live here you see that our actions are very important. And we use, we start to act like this in our daily life. We act better. Some, nowadays I can be very, I can handle things easily because I have a very different view from what I used to have some four years ago. Because all of the problems I faced I started to see life from another point of view. But I know that it has, it’s a rich point of view.
Die Attribution auf die Welt der Geister und die Entwicklung zum Medium geht für Sergio einher mit der Einsicht in die Eigenverantwortung für viele seiner Probleme. Die zuvor beschriebene Besessenheit und unfreiwillige Inkorporation werden insofern mit dem eigenen Handeln und der eigenen Haltung in Beziehung gesetzt – prägnant in dem Satz ausgedrückt: »Most of our problems are caused by us.« Die unterschiedlichen Perspektiven auf Phänomene als Schlaganfall, Verrücktheit, Besessenheit oder Inkorporation ergänzen sich in ihrer flexiblen Handhabung zu einem stimmigen Sinngefüge. Im Rückblick greift Sergio zur Erklärung seiner Genesung auf Erklärungsmodelle aus unterschiedlichen Kontexten zurück. Der Tempel ist für seine Klienten örtlich nah, was sich z.B. in Sergios Geschichte daran zeigt, dass der pai-de-santo relativ schnell zum Krankenhaus kommt. So können die Probleme alltagsnah behandelt werden.
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5.5.2 Die psychosomatische Klinik mit ihrem Diskurs über Spiritualität Den Einstieg in die Erläuterung des Aspekts der ›Alltagsnähe‹ suche ich für die psychosomatische Klinik über die dichte Beschreibung einer Veranstaltung, in der der Übergang vom Alltag in das Setting und dann vom Setting zurück in den Alltag thematisiert wird. Das »Plenum« gibt quasi den ersten prägenden Eindruck der Besonderheit der Klinik. Besucher und Besucherinnen der Klinik bekommen die Möglichkeit, der Verabschiedung und Vorstellung der neuen Patienten beizuwohnen. Es folgen nun prägnante Szenen aus mehreren Sitzungen: Das wöchentlich stattfindende »Plenum« beginnt mit der kurzen Vorstellung der anwesenden Mitarbeitenden, der Praktikantinnen und Praktikanten und der etwa 10 Besucherinnen und Besucher. Jede der beiden Abteilungen hat ihr eigenes »Plenum«. Deshalb ist die Hälfte aller Patientinnen und Patienten anwesend, etwa 50 Personen. Sie sitzen in ihren therapeutischen »Kerngruppen« zusammen. Der leitende Therapeut sagt, alle sollten für einige Minuten einen »Resonanzkreis« bilden, die Augen schließen und nach innen schauen. Alle Teilnehmenden, die in einem großen Kreis entlang der Wände auf Kissen oder Decken, die auf Matten liegen, sitzen, fassen sich für einige Minuten an die Hände. Die Patientinnen und Patienten, die die Klinik verlassen, sitzen in einem inneren Kreis auf Meditationskissen und wenden damit den anderen den Rücken zu. Vor ihnen liegen persönliche Gegenstände. Jede/r sich verabschiedende Patient/in lässt ein selbst ausgesuchtes Lied vom CD-Spieler spielen und erzählt währenddessen, um den inneren Kreis herum schreitend, von den in der Klinik gemachten Erfahrungen und mit welchen Gefühlen sie/er jetzt geht. Eine Frau erzählt, dass sie mit dem Klinikaufenthalt gelernt habe, das Steuer nun wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sie bedankt sich bei den Therapeuten, ihrer »Kerngruppe« und der »Therapeutischen Gemeinschaft«, die viel Schutz gegeben habe. Sie habe noch einen langen Weg vor sich, aber »aufrecht, in königlicher Haltung« wünsche sie »alles Liebe«. Anschließend läuft das Lied: »Don’t worry, be happy.« Eine andere Frau sagt, dass es für sie bei ihrer Ankunft unvorstellbar gewesen sei, dankbar zu sein. Sie habe lange gebraucht, um in der Klinik anzukommen. Dann sei es Schlag auf Schlag gegangen. Sie habe wieder Vertrauen in ihre berufliche Zukunft gefasst und glaube, dass emotionale Beziehungen ein
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Stück weit möglich seien. Sie sei dankbar und habe Mitgefühl. Eine dritte Frau liest eine Geschichte vor und sagt anschließend: »Dank an alle.« Ein Mann sagt, dass er völlig erschöpft angekommen sei. Er habe hier Liebe wiederentdeckt, er habe Vertrauen, Angenommensein und den Schutz der Gemeinschaft erfahren. Er bedankt sich bei den Therapeuten und der »Therapeutischen Gemeinschaft«. Nach den Abschiedsworten des letzten Patienten oder der letzten Patientin fassen die gehenden Patientinnen und Patienten einander an den Händen und bilden so einen Kreis. Dann gehen sie hintereinander an den Patienten des Außenkreises vorbei und verabschieden sich bei jedem Teilnehmenden durch Winken oder Händeschütteln. Anschließend fordern sie alle auf, ein von ihnen ausgesuchtes Lied mit ihnen zu tanzen. Danach setzen sich die neuen Patientinnen und Patienten in den Innenkreis, auch die anderen Personen im Außenkreis sitzen nun wieder. Die neu angekommenen Patienten nennen ihren Namen, ihre familiären Verhältnisse, ihren Beruf und den Grund, warum sie in der Klinik sind. Außerdem beschreiben sie als Vision in wenigen Worten, wie sie nach ihrem Klinikaufenthalt durch das imaginäre Tor der Klinik gehen möchten, z.B. »aufrecht, lächelnd, tanzend« oder als »Schmetterling, aber mit beiden Füßen auf dem Boden« oder »mit Klarheit und Lebensfreude«. Dabei stellen sie ihren Gang durch das imaginäre Tor auch körperlich dar. Der leitende Therapeut sagt, dass dieses Bild sie in den nächsten Wochen begleiten könne; es habe Kraft, was auch wissenschaftlich erwiesen sei. Ich möchte nun einige Beispiele dafür anführen, wie sich neue Patientinnen und Patienten vorstellen. Als Erstes erzählt eine Frau, dass sie an einer Psychose erkrankt sei. Sie lebe allein und sei nun berentet. Ihr Wunsch sei es, ein gutes Leben zu führen. Sie wünsche sich, durch ihren Klinikaufenthalt mehr Stabilität, Kraft und Mut zu bekommen. Eine weitere Frau sagt weinend, dass sie das Vertrauen in sich und die Welt verloren habe. Sie wünscht sich, in der Klinik das Vertrauen zu erlangen, dass sie für sich selbst sorgen könne. Bei der Darstellung des Bildes öffnet sie ihre Arme. Eine andere Frau sagt, dass sie seit 10 Jahren wegen Psychosen medikamentös eingestellt sei. Ihr Beruf koste sie viel Kraft, so dass sie nun Erschöpfungszustände habe und das Thema Psychose wieder für sie präsent sei. Als alleinerziehende Mutter habe sie keine Unterstützung. Sie wünscht sich, eine Kraftquelle und tiefes klares Wissen in sich selbst zu finden. Sie beschreibt das Bild, dass sie mutig und klar in Kontakt mit sich selbst voranschreite.
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Eine mehrfache Mutter beschreibt, wie sie ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werde und nun nur noch herumschreie. Sie sei schon einmal in der Klinik gewesen. Bei diesem ersten Aufenthalt habe sie Lust und Freude wiederentdeckt. Die »Werkzeuge« von damals fruchteten jedoch nicht mehr. In ihrer Vision kann sie ihre Empfindsamkeit steuern. In dem Bild steht ein Adler mutig und achtsam am Boden und kann auch fliegen. Eine Frau, die mit Depressionen in die Klinik kommt, beschreibt, dass sie ihren Beruf wegen der Familie aufgegeben habe. In ihrer Vision hat sie eine innere Leichtigkeit und Spaß am Leben. Einmal geht eine junge Frau nach der Verabschiedung hinaus. Sie sollte sich heute vorstellen, sagt aber später, sie habe große Angst davor wegen der Menschenmenge. Eine Mitarbeiterin überzeugt sie, wieder in den großen Saal zurückzukehren. Nach ihrer Vorstellung betont der Therapeut, dass es wichtig für sie sei, dass sie sich nun auch in der »Therapeutischen Gemeinschaft« verankert habe. Der Therapeut schildert nach der Vorstellungsrunde, dass die Therapeutinnen und Therapeuten nur Begleiter des Heilungsprozesses seien. Die wesentliche Arbeit für die Heilung müssten die Patientinnen und Patienten selbst leisten. Doch es gebe neben den Patienten und Therapeuten als dritte Kraft die Kraft der Gnade. Gnade ermögliche Heilung, Heilung geschehe als Geschenk. Zum Abschluss stehen die neuen Patientinnen und Patienten im Innenkreis auf, drehen sich nach außen und halten beide Hände mit den Handflächen nach außen mit halb ausgestreckten Armen hoch. Die Patienten des Außenkreises sind nun ebenfalls aufgestanden und reiben ihre Hände aneinander. Dann strecken sie die Hände mit erhobenen, offenen Handflächen Richtung Innenkreis, um den neuen Patientinnen und Patienten »Energie« zu geben. Danach gehen diese rückwärts nach außen und reihen sich in den inzwischen durch die gefassten Hände gebildeten Kreis ein. Für einige Minuten wird der Kreis – entsprechend der anfangs gemachten Aufforderung des Therapeuten – mit geschlossenen Augen gehalten. In der »dichten Beschreibung« fiel mir auf, dass es Unterschiede zwischen beiden Patientengruppen gibt: Die neu angekommenen Patienten beschreiben zum einen Defizite in ihrem Alltag, zum anderen den Wunsch, diese Defizite zu beheben. Die sich verabschiedenden Patienten beschreiben hingegen wahrgenommene Veränderungsprozesse von sehr ähnlichen Alltagsdefiziten und verbinden die Veränderung mit dem Klinikaufenthalt. Aus diesen Unterschieden zwischen beiden Patientengrup-
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pen habe ich geschlossen, dass die Patienten wahrnehmen, dass während ihres Klinikaufenthalts die Defizite ihres Alltags behandelt werden. Die Patienten, die in die Klinik kommen, verlassen für mehrere Wochen ihren Alltag. Die Bedeutungswelten des Alltags und der Klinik sind – anders als in den beiden anderen Settings – räumlich voneinander getrennt. Welche Relevanz könnte diese räumliche Abgeschiedenheit dafür haben, dass das Angehen der Defizite als passend erlebt wird? IP: Ich hab einfach gemerkt, dass ich mich innerhalb meiner Familie, […], irgendwie ja so aufgelöst hab oder so klein geworden bin und ich, den Raum hab ich mir jetzt grade so geschaffen, indem ich mir einfach so gesagt hab, stopp, Grenze, und ich bin jetzt hier, also ich brauch’ einen sehr großen Abstand und Raum oder einen großen Abstand, um jetzt so das Gefühl zu, um mich überhaupt wieder selbst mal zu spüren und zu spüren, was willst du eigentlich und wie fühlst du dich eigentlich.
Die Patientin beschreibt, wie sie aus einem Defizit heraus – sie habe sich in ihrem Familienalltag selbst nicht mehr gespürt – die Klinik aufgesucht hat. In diesem Zusammenhang schildert sie die räumliche Trennung von ihrer Familie als notwendig, um ihre eigenen Gefühle und Wünsche zu erkennen. Im Folgenden beschreibt dieselbe Interviewpartnerin ausführlicher die von ihr wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Defiziten im Alltag und der Situation in der Klinik. IP: […] also, ich hab so das Gefühl, ich hab eigentlich meine Seele inner ganz, ganz kleinen Kiste eingesperrt, also aufgrund dieses Funktionierens. Und ich merk’ das schon, also, an dem ersten Tag, wo ich schon in der Gruppe war, da hat man ja Raum auf einmal was zu sagen. Und ich fiel sofort, also ich brech’ sofort in Tränen aus, und dass es ganz schön ist, da merk’ ich, ich hab Raum und ich, hier kann ich das, hier darf ich jetzt in Tränen ausbrechen, also so ein bisschen so ein Gefühl von innerer Luft kriegen, mehr atmen können. Und, also, das find’ ich sehr schön, den Raum zu bekommen, weil ich ein Mensch bin, der es eher schwer hat, auch im Außen und im Innen mir überhaupt Raum zu nehmen, und bin dann immer eher so rücksichtsvoll und guck’, dass es, dass die anderen genug Platz haben.
Die Interviewpartnerin schildert mit den Worten: »meine Seele in ’ner ganz, ganz kleinen Kiste eingesperrt, also aufgrund dieses Funktionierens«, Ge-
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fühle von Enge und Zwang, mit denen sie in die Klinik gekommen ist. Im letzten Satz wird der Begriff des ›Funktionierens‹ inhaltlich gefüllt; sie schildert, dass sie in übertriebenem Maße Rücksicht auf die Interessen anderer Personen nehme und dabei ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässige. Dabei benutzt sie den Begriff des ›Raumes‹, der auch schon zuvor der Charakterisierung ihres Erlebens in der Klinik dient und dessen soziale Dimension an anderer Stelle erläutert wurde. Die zeitliche Einordnung »an dem ersten Tag« unterstreicht die Differenz zwischen diesen Erfahrungen und denen ihres Alltags: hier habe sie nun »Raum etwas zu sagen«. Sie erfährt dieses Phänomen körperlich als »in Tränen ausbrechen dürfen« und »innere[ ] Luft kriegen, mehr atmen können«. Ihrer Schwierigkeit, sich im Alltag »Raum zu nehmen«, stellt sie den in der Klinik schon gebotenen Raum gegenüber, hier muss sie sich ihn gar nicht selbst nehmen, er ist schon da. Auch in den oben geschilderten Verabschiedungen fällt auf, dass die angesprochenen Veränderungen zweimal mit den Worten »Schutz der Gemeinschaft« in Beziehung gesetzt werden. Ich habe oben beschrieben, wie eine junge Frau den Saal zunächst verlässt und dann für ihre Vorstellung zurückgeholt wird. In dem anschließenden Satz des Therapeuten, dass es wichtig sei, sich in der therapeutischen Gemeinschaft zu verankern, wird ebenfalls die Relevanz der Gruppe betont. Zum anderen fällt die Einbeziehung des Körpers auf, besonders deutlich, wenn die neuen Patienten körperlich darstellen, wie sie die Klinik wieder verlassen möchten. Zuvor erzählen sie öffentlich die intimen Gründe, deretwegen sie in die Klinik gekommen sind. Es ist eine prägnante Situation, sie symbolisiert die Grenze zwischen dem Alltag und der neuen Situation des Settings. Entsprechend bin ich davon ausgegangen, dass sich Unterschiede und mögliche Übergange zwischen beiden Bedeutungswelten hier besonders deutlich zeigen müssten, und habe Patientinnen und Patienten gefragt, wie sie die Situation erlebt haben. IP: Ich hab mich hingestellt an diesem komischen Plenum, der Therapeut hat an sich nur gesagt, so einen Satz, was man hier erreichen will. Und ich stell’ mich hin, ja und so und ich hab MS. Und ich hab dann gedacht, bin ich beknackt. Ich erzähl’ das, ich erzähl’ das schon, wenn sich’s ergibt, aber ich kam mir vor, als hätt’ ich mir’s irgendwie mit Graffiti auf die Stirn gesprüht. […] Aber ja, es war, es war dann auch okay, und so was kann hier einfach sein, und das ist auch nicht schlimm, und das ist okay. Und wenn irgendjemand anders da so was macht, ist es dann auch okay. Und wenn’s nicht mehr okay ist, kann man ja selber sagen,
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ich kann nicht mehr, und dann kommt irgendjemand anders. Also, das merkt man schon, dass es prägt.
Die Patientin erlebt die Situation als stimmig, sie kann mit ihrer Krankheit »einfach [so] sein«. In diesem Zusammenhang thematisiert sie die Relevanz der Gruppe um sie herum. Es gibt ein gleichberechtigtes Miteinander, das die eigenen Grenzen und die der anderen respektiert. Mit dem Zusatz: »Also, das merkt man schon, dass es prägt«, weist die Interviewpartnerin auf einen Veränderungsprozess hin, den sie wahrnimmt und den sie anscheinend in solchen Erfahrungen begründet sieht. In diesem Zusammenhang scheint es wichtig zu sein, dass die Patienten eine Ähnlichkeit zwischen sich selbst und den anderen Patienten wahrnehmen, wie es eine andere Patientin thematisiert. IP: […] Man reflektiert, man spricht, allein dass man Menschen trifft, die aus ähnlichen Gründen hier sind, d.h. dieses Gefühl von »Ich muss mich dafür schämen, wie ich bin oder ich bin komisch oder ich bin anders«, das hat man hier gar nicht. Und man ist hier so aufgehoben auch mit seinen Problemen, also, das ist so ’ne Erfahrung, hier wird man eben angenommen, so wie man eben ist. Und das ist ’ne ganz andere Art als die, die man oft leider draußen erfährt, sag’ ich mal.
Die Interviewpartnerin beschreibt hier Erfahrungen, die sich als wahrgenommene Passung zwischen ihren Bedürfnissen und dem Setting interpretieren lassen. Im Setting erfährt sie die Probleme ihres Alltags auf eine andere Art als im Alltag. Diese Art nimmt sie im Gegensatz zum Alltag als wertschätzend und der eigenen Situation ähnlich wahr. Bisher habe ich emische Merkmale auf der Seite des Settings herausgearbeitet: die räumliche Trennung vom Alltag, das Erleben wechselseitiger Wertschätzung in der Gruppe und die wahrgenommene Ähnlichkeit mit den anderen Patienten. In diesem Zusammenhang fällt die Einbeziehung des Körpers auf, die relevant zu sein scheint, damit das Angehen von Defiziten subjektiv als passend erlebt wird. Nun möchte ich untersuchen, was auf der Seite der Patienten grundsätzlich notwendig ist, damit das Setting der Klinik für sie passt. I: Gut, warum sind Sie hier in die Klinik gekommen? IP: Ja, weil ich eine sehr schwere Psychose hatte, die über sechs Monate ging. Und die Möglichkeiten in X das zu behandeln, sehr begrenzt waren. Und ich kenn’
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die Klinik hier schon, ich war hier schon mal vor acht Jahren und deshalb hatte ich mich entschieden, wieder hierher zu gehen. Eigentlich war das so keine Frage, also, ich hab ziemlich viel Wind gemacht, um wieder hierher zu kommen. Hat auch 12 Monate gedauert.
In den Interviews wurde deutlich, dass die Patienten motiviert sind und sich in der Regel gezielt diese Klinik aussuchen. Die Patientin ist sich sicher, an diesen Ort zu wollen und zeigt viel Einsatz, um einen Klinikplatz zu bekommen. Ein anderes Merkmal hängt hiermit zusammen. IP: […] Eher es passiert alles zu seiner Zeit am richtigen Ort. […] So, und die Frage ist: Wie weit lasse ich mich drauf ein? […] Und es war immer der Wunsch hierher zu kommen und jetzt kann ich sagen, jetzt bin ich gesund genug, um mich darauf einzulassen. Also nicht krank genug, sondern überhaupt gesund genug, um das überhaupt an mich ranzulassen.
Am Ende des Ausschnitts spricht eine andere Patientin mit den Worten »jetzt bin ich gesund genug, um mich darauf einzulassen« den Bezug zwischen ihrer Wahrnehmung der Situation und den Anforderungen der Klinik an. Man kann hieraus schließen, dass die Patienten eine bestimmte psychische Stabilität mitbringen müssen, damit das Setting für sie überhaupt passen kann. Ich habe in der Vorstellung des Settings im vierten Kapitel bereits vorweggenommen, dass Menschen in akuten Psychosen hier nicht behandelt werden können. Für die Interviewpartnerin ist nun der Zeitpunkt gekommen, sie ist »gesund genug« und kann sich ihren Wunsch erfüllen, in die Klinik zu kommen. Die Patienten kommen oft gezielt in diese Klinik. Bisher habe ich erläutert, dass viele Patienten im sozialen Geschehen der Klinik erleben, dass hier ihre Defizite im Alltag auf eine zu ihrem Alltag passende Weise angegangen werden. Nun möchte ich genauer die gesundheitsförderlichen Brücken von der Klinik zum Alltag der Patienten untersuchen. Hierzu kehre ich zur oberen Beschreibung zurück. Nachdem die neuen Patientinnen und Patienten sich vorgestellt hatten, beschrieb der Therapeut den Begriff der »Heilung« als Wechselwirkungsprozess zwischen den Patienten als aktiv Handelnden, den Therapeuten als Begleitern und »der Gnade«, die Heilung als »Geschenk« ermögliche. Ich habe in den Interviews daraufhin die Patienten gefragt, welche Erfahrungen in der Klinik sie mit den Begriffen »Heilung« und »Gnade« verbinden würden. Eine
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Patientin mit der Diagnose Schizophrenie definiert ihre eigene »Heilung« auf eine Art, bei der es Ähnlichkeiten zu dem in der Einleitung diskutierten Konzept des »Recovery« nach Amering und Schmolke (2007) gibt. IP: Das ist für mich Heilung, ja. […] Also, das ist einfach ein ziemlich, ein klares Sortieren, ein Bescheid-Wissen, ’ne gewisse Struktur und ein Mich-Spüren und nach außen gehen, also auch so ein Wechsel und Zulassen-Können, auch jetzt die Krankheit ein Stück weit, auch die Symptome, einfach beobachten, zulassen und gucken, wann das kritisch wird. Das ist ja einfach so ein Gefühl von GanzSein, von Da-Sein. Oder da sein können. I: Wie erleben Sie das in X? Ist es auch so, wie Sie es jetzt beschrieben haben, oder gibt’s hier noch irgendwas anderes? IP: Also, das ist mit Sicherheit ein Ort, an dem man da sein kann auch mit der Erkrankung und so und wo man ist, wo man viel probieren kann, wo man sich ausprobieren kann und wo ein sicherer Rahmen geschaffen ist. Und ich denk’, da können auch ein Stück weit alte Wunden heilen. Mit Sicherheit man kann neue Erfahrungen machen, und es kann ein Stück heilen.
Die Symptome einer Schizophrenie müssen für die Interviewpartnerin nicht verschwinden, wichtiger ist das »Gefühl von Ganz-Sein, von Da-Sein. Oder da sein können«. Sie definiert Heilung als ein Akzeptieren – ein Gefühl, das ihr durch die Klinik ermöglicht wird. In dem geschützten Setting kann sie experimentieren und neue Erfahrungen sammeln. Welche weitere Spezifik weist der Kontext der Klinik in Bezug auf das Phänomen auf, das die Interviewteilnehmenden als »Heilung« bezeichnen? IP: […] Heilung passiert einfach ganz subtil durch diese Atmosphäre, diese liebevolle Atmosphäre, dieses Vertrauen, diese ganz behutsame Begleitung und dieses Immer-wieder-Schauen: Stimmt das jetzt noch und kann die Psyche da jetzt noch mit? […] Ja, ich kann’s gar nicht, ich möcht’s auch nicht differenzieren. Eher es passiert alles zu seiner Zeit am richtigen Ort.
In diesem Abschnitt ist eine Wechselbeziehung zwischen der Behandlung in der Klinik und der individuellen psychischen Stabilität bzw. den persönlichen Grenzen angesprochen: Eine andere Interviewpartnerin erlebt, dass die Therapeuten darauf achten, ob die Behandlung zu ihrer gegenwärtigen psychischen Stabilität passt. Neben den Therapeuten wurde die Gruppe
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der anderen Patienten in den Interviews als relevant für die eigene »Heilung« eingestuft. IP: […] Das Gefühl von eingebunden sein, also nicht alleine damit zu stehen, das macht schon ganz viel, macht ja auch Mut dann, sich zu öffnen, und irgendwie heilt das. […] Es gibt ja auch die Momente, wo man dann so das Gefühl hat, man gehört gar nicht dazu. Die gibt’s hier ja auch, also, für mich aber, ich glaub’ auch für viele andere, und das ist dann natürlich sehr schmerzhaft, so dieses: »Oh, den anderen geht’s allen gut, die gehören alle zusammen und ich gehör’ nicht richtig dazu«, aber durch diese Wahrnehmung kann man dann ja auch wieder gucken, ich mach’ wieder einen Schritt auf die anderen zu und fühl’ mich dann auch dazu-, und auf einmal fühlt man sich so besser, dazugehörig, und das ist erst mal grundsätzlich einfach ’ne gute Grundlage.
Eine andere Patientin nimmt das Gefühl des Eingebundenseins gewissermaßen als Basis wahr. Auf der Grundlage dieses Gefühls habe sie den Mut, sich zu öffnen, was dann zu einer Heilung führe. Allerdings beschreibt sie auch Unterbrechungen dieses Zugehörigkeitsgefühls. Diese Momente erlebt sie als »sehr schmerzhaft«. Doch kann genau diese Erfahrung dazu führen, dass sie auf die anderen Patienten aktiv zugeht. Für mich wird hier die Interdependenz des Heilungsprozesses, die subjektiv wahrgenommene Eingebundenheit in die Gruppe, sehr deutlich. Nun bleibt noch der Begriff der ›Gnade‹ zu klären, der im emischen Verständnis für die Heilung offensichtlich eine wichtige Rolle spielt. In den Interviews wurde mit diesem Begriff etwas Unbestimmtes, Überindividuelles verbunden. IP: Ich würd’s nicht als Gnade bezeichnen, also, ich hab damit Schwierigkeiten. Für mich isses eher dieses Bewusstsein von ’ner höheren Kraft. I: Okay, aber auf jeden Fall kommt was Drittes noch dazu? IP: Auf jeden Fall. Das erleb’ ich hier auch ganz stark. Deshalb bin ich auch hier. Dass ich wirklich das Gefühl hab, die Therapeuten begeben sich zu mir auf eine Ebene und letztendlich ist es ’ne gemeinsame, ein gemeinsames Zulassen dieser dritten Kraft.
Die Patientin lehnt den Begriff der Gnade zwar ab, wählt jedoch mit den Worten »Bewusstsein von ’ner höheren Kraft« nur eine andere Bezeichnung für den dritten, aus ihrer Sicht für Heilung notwendigen Faktor. Sie
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beschreibt ein Gefühl der Übereinstimmung zwischen sich und den Therapeuten, in dessen Rahmen es zu einem »gemeinsame[n] Zulassen dieser dritten Kraft« komme. In anderen Interviews wurde der Begriff der Gnade konkreter auf therapeutische Inhalte bezogen. IP: In diesem Geschehen-Lassen und vielleicht gerade in dem Leermachen, also dann ist es kein Absichtsvolles mehr: »Ich will jetzt hier mein Vater-Thema bearbeiten, und dann geht’s mir besser«, sondern das ist genau der Punkt zu sagen: »Ich weiß nicht, was jetzt für mich in der nächsten Sitzung passiert, aber das, was dran ist, ist dran und dann wird es, also, es wird geschehen«, in so ein Gefühl zu kommen, und das loslassen und nicht dran festhalten, dass ich meine Probleme selber definiere, sondern es passieren offenbar Dinge von ganz alleine. Das ist vielleicht die Gnade.
Für eine andere Patientin bedeutet ›Gnade‹, dass sie Vertrauen in die Situation entwickelt. Insofern finden sich auch hier wieder Hinweise auf Parallelen zu Antonovskys Konzeption des Kohärenzgefühls, allerdings im Unterschied zu Antonovskys individuumszentriertem Ansatz auf ein soziales Geschehen bezogen. Die bisher herausgearbeiteten Merkmale beziehen sich alle auf den Kontext der Klinik. Mit Moos (2003a) stellt sich jedoch die Frage nach der Fragilität dieses Kontexts. Als ich an der oben beschriebenen Veranstaltung teilgenommen habe, fiel mir die Griffigkeit der Sprache auf. Wenn in der oben beschriebenen Szene die sich verabschiedenden Patienten persönliche Veränderungsprozesse mit dem Klinikaufenthalt verbinden, benutzen sie alltagsnahe Begriffe wie »das Steuer nun wieder selbst in die Hand zu nehmen«. Auch die neuen Patienten verwenden plastische Bilder wie »eine Kraftquelle in sich selbst zu finden«. Jeder Teilnehmende scheint mit diesen Wendungen etwas anfangen zu können, da sie alltagsnah sind. Wenn man die Begriffe als ›Sprachspiele‹ sensu Wittgenstein (1984) interpretiert, kann man sie als Referenz auf eine spezifische Tätigkeit oder Lebensform ansehen.18 Ich bin dieser Idee dann in den Interviews weiter nachgegangen, wie hier mit einer Therapeutin. 18 | »Wir können uns auch denken, dass der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte […] eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen. Ich will diese Spiele ›Sprachspiele‹ nennen […] Und man könnte die Vorgänge des Benennens der Steine und des Nachdenkens des vorgesagten Wortes
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IP: Also, also, gerade das mit dem »Boden unter den Füßen«, also das die Erde unter den Füßen und den Himmel über dem Kopf Spüren, hab ich so das Gefühl, ist es auch wie was ganz Konkretes, also, wie was ganz – wirklich so was, das auch wie alltäglich wird, ja. Oder »sich nähren«, also, dass man das auch versteht, dass das jetzt nicht nur irgendwelche Hirngespinste sind, die wir da jetzt machen, sondern dass es wirklich auch mit Nahrung so wie Brot und Wasser, so Grundnahrungsmittel, auch z.B. Nähe und Kontakt, dass das nämlich genauso nährt wie ’ne Suppe oder so. Also, dass da dieses ganz Konkrete spürbar wird. Und dass es nicht wie irgendwas in der Luft Schwebendes ist, sondern es geht wirklich darum, meine Füße auf der Erde zu spüren. Und vielleicht gehen sie auch nachher raus und machen ’nen Spaziergang und spüren das auch.
Indem die Therapeutin Begriffe wie »Boden unter den Füßen« oder »sich nähren« verwendet, stellt sie bei ihren Patienten eine Beziehung zu deren Alltag her; implizit werden Nähe und Kontakt mit Nahrung verglichen. Für die Interviewpartnerin können die Patienten in der Klinik den zwischenmenschlichen Kontakt – lebensnotwendig wie leibliche Nahrung – in der Klinik konkret erleben. Mit dem letzten Satz: »Und vielleicht gehen sie auch nachher raus und machen ’nen Spaziergang und spüren das«, deutet sie die Hoffnung an, dass ihre Patienten den Kontakt ganz konkret körperlich spüren, sowohl den gegenständlichen Waldboden wie auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Begriffe wie »Boden unter den Füßen« oder »nähren« werden aus dem Alltag genommen und im Klinikkontext genutzt; »positiv« aufgeladen können sie dann wieder in den Alltag übernommen werden. Ich habe diese Hypothese anhand von anderem Interviewmaterial weiter untersucht. I: Ja. Sie waren ja schon mal vor zehn Jahren hier in X. Was haben Sie von dem, was Sie damals gelernt haben, in Ihr Alltagsleben integriert, was Ihnen dann auch geholfen hat, mit der Psychose zurechtzukommen? IP: Also, es waren viele Sachen. Das kann ich jetzt gar nicht so genau sagen, an was ich mich erinnere. Es ist wichtig, wie mach’ ich Kontakt zu Menschen, wie auch Sprachspiele nennen. […] Ich werde auch das Ganze: die Sprache und die Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen.« (Wittgenstein, 1984, S. 241). Sprachspiele sind für Wittgenstein eine Lebensform: »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« (1984, S. 250).
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merk’ ich, dass ich willkommen bin, wo ist meine Grenze, wann kann ich die Grenze aufmachen, wann muss ich sie schließen, wann zieh’ ich mich zurück, wann ist es Zeit auszuruhen. Ich hab hier ein Gefühl von Geborgenheit und Getragenheit, von Getragen-Werden. Das kann ich auch behalten, das kann ich festmachen an Musik, wenn ich das jetzt mal als Beispiel nehme. Man findet sie ja überall, man findet in jedem Lied, in jedem findet man Rhythmus, also, das sind wie so Anker, also, man bekommt hier Anker gezeigt, die man benutzen kann, und die kann man draußen auswerfen. Und das hilft mir einfach, ja, auch bei mir zu bleiben. Ja, ich hab’ das Gefühl, ich hab’ hier vor zehn Jahren ein Handwerkszeug in die Hand bekommen, mit dem ich gut hab’ arbeiten können. Es hat mich zwar nicht vor weiteren psychotischen Schüben bewahrt, aber es war so, dass ich kurze Aufenthalte hatte. Und es war so, dass ich die gut überstanden hab’ und mich schnell wieder erholt hab’ und mich relativ schnell an die Sachen erinnert hab’, die ich hier mitbekommen hab’, um einfach wieder weiterzuleben. Und das find’ ich einfach gut. I: Was waren das für Sachen, an die Sie sich dann erinnert haben, die Sie von hier mitgenommen haben? IP: Ja, schon das, dieses Getragen-Sein und dieses Gesehen-Werden, das sind so viele Sachen. Mir fällt jetzt nichts mehr ein, muss ich noch ein bisschen überlegen.
Die Patientin fasst in ihrem Rückblick über die vergangenen zehn Jahre die Aspekte aus der Klinik zusammen, die für sie im Alltag relevant waren. Wie bereits die Therapeutin formuliert hatte, wird hier auch aus der Patientenperspektive deutlich, »dass das jetzt nicht nur irgendwelche Hirngespinste sind, die wir da jetzt machen«, sondern dass die Patientin konkretes, praktisches »Handwerkszeug in die Hand bekommen« hat. Zwar hat sich offenbar auch nach dem Klinikaufenthalt die Krankheit in Schüben manifestiert, jedoch scheint die Patientin sich relativ schnell wieder erholt zu haben, was sie auf den Klinikaufenthalt zurückführt. Sie konnte Erfahrungen aus der Klinik in ihren Alltag übernehmen und praktisch nutzen, wie sie am Beispiel von Musik erläutert. Wenn man beim Beispiel der Musik bleiben möchte, bietet es sich an, gedanklich zur Beschreibung des »Taketina« zurückzukehren. Bei »Taketina« werden mit dem Rhythmus konkrete Erfahrungen in der Gemeinschaft wie das hier erwähnte »Gefühl von Getragen-Werden« verknüpft, die dann später im Alltag durch Rhythmen wieder aktiviert werden können.
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Mit Hannover und Kühnen (2002) kann man argumentieren, dass die Alltagskontexte Selbstinhalte aktivieren, die mit den zuvor gemachten positiven Erfahrungen in der Klinik verbunden sind. Amering & Schmolke (2007) definieren Recovery »als Entwicklung aus den Beschränkungen der Patientenrolle hin zu einem selbstbestimmten sinnerfüllten Leben« (S. 11). In dem oberen Ausschnitt ist in meiner Interpretation dieser Gedanke enthalten, wenn die Interviewpartnerin sagt: »um einfach wieder weiterzuleben. Und das find’ ich einfach gut.« Auch in anderen Interviews wird dieser Aspekt angesprochen: IP: […] Also, das war das, was ich in den Psychiatrien einfach einen Alptraum fand, diese Entmündigung. Und, ich meine, ich konnte schon wirklich nur das machen, was für mich gut war, und manche Sachen wollt’ ich hartnäckig durchsetzen. Aber ich hab auch gesehen, wie Menschen da dran zu knabbern hatten, die gar nicht dieses Rückgrat hatten. Und da muss ich sagen, das ist ein Fundament, was ich von hier bekommen habe. Von meinem ersten Aufenthalt, also, da war ich vier Monate hier, und da haben sie so ’ne Grundrestauration gemacht. Das dann erst im Laufe der Jahre sichtbar geworden ist, und es hat auch zwei Jahre gebraucht, um ’ne Manifestierung zu finden.
Eine andere Patientin sieht ihre Stärke in ihrem ersten Aufenthalt in der Klinik begründet. Die in diesem Zusammenhang verwendeten bautechnischen Begriffe »Fundament« und »Grundrestauration« betonen, dass es sich um grundlegende Veränderungen handelt. Im Rückblick kam es nach zwei Jahren zu einer »Manifestierung«, man kann interpretieren: zu bestimmten Verhaltensmustern, die sie offensichtlich positiv bewertet. Ein Beispiel für ein solches Muster scheint der selbstbestimmte Umgang mit den Psychiatrien zu sein. Die psychosomatische Klinik ist auf eine andere Art alltagsnah als der örtlich präsente Candomblé- und Umbanda-Tempel oder die gemeindenahe Psychiatrie in Chile: Das Bild des Ankers stellt plastisch dar, wie die positiv konnotierten sinnlich-körperlichen Erfahrungen des Klinikaufenthalts die potentielle Fragilität therapeutischer Settings überwinden können. Die psychosomatische Klinik wirft »Anker« in den Alltag der Teilnehmenden und stellt Anker her, die diese auswerfen können. So können sie die in der Klinik erworbenen Hilfsmittel selbst in ihrem Alltag nutzen.
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5.5.3 Die Gemeindepsychiatrie für die Mapuche Den Einstieg in die Darstellung der Arbeit der Gemeindepsychiatrie suche ich wieder über eine dichte Beschreibung von zwei Kontakten zwischen der Sozialarbeiterin und Patienten bzw. ihren Familienangehörigen, auf die ich anschließend mit Interviewzitaten Bezug nehme. Hiermit werde ich zunächst untersuchen, inwieweit die Patienten in der Gemeindepsychiatrie erleben, dass ihre Defizite im Alltag auf eine zu ihrem Alltag passende Weise angegangen werden. Hierzu gehört auch die Herausarbeitung der sozialen Dimension, die dieses Erlebnis besitzt. Der Patient ist 39 Jahre alt. Er hat vor einigen Jahren sein Wohnhaus angezündet und kam daraufhin zunächst ins Gefängnis. Dann hat ein Psychiater bei ihm Schizophrenie diagnostiziert und er kam in die Psychiatrie. Die beiden Häuser sind von einem Zaun umgeben, im Garten laufen einige Hunde herum. Das eine Haus ist etwa 20 Quadratmeter groß und ganz aus Holz, auch der Fußboden. Der Herd wird mit Holz geheizt. Er befindet sich rechts neben der Tür. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch mit Stühlen drum herum. Das andere Haus ist ganz aus Wellblech gebaut. Die Sozialarbeiterin erkundigt sich nach der Gesundheit der 74-jährigen Mutter. Sie hatte Bluthochdruck und Herzprobleme, außerdem ist sie von einer Mücke ins Auge gestochen worden, was eine Schwellung der gesamten Gesichtshälfte zur Folge hatte. Die Sozialarbeiterin hatte sich darum gekümmert, dass sie medizinisch versorgt wurde. Der Sohn hütet die Kühe. Obwohl wir vorher an ihm vorbeigefahren sind, kommt er nicht zum Haus. Als wir wieder fahren, stoppen wir auf dem Weg. Er antwortet nur knapp auf die Fragen der Sozialarbeiterin nach seinem Befinden. Offensichtlich hat er keine Lust, mit ihr über seine Krankheit zu reden. Der nächste Patient sitzt neben seinem Bruder, der gerade sein Fahrrad repariert, als wir kommen. Die beiden Jugendlichen leben mit ihrer Mutter allein. Das Haus besteht aus einer kleinen Küche von etwa 10 Quadratmetern mit einem Holzofen und einem kleinen Tisch mit drei Stühlen, und zwei Schlafräumen nebenan, von denen jeder etwa 6 Quadratmeter hat. Wie überall fällt auf, wie nah die Menschen hier zusammenleben. Es gibt wenig Privatsphäre. Zuerst redet die Sozialarbeiterin etwa zehn Minuten mit der Mutter. Sie fragt auch nach der allgemeinen Situation. Die 64-jährige Frau klagt über Wassermangel in der Gegend. Es wird auch darüber gesprochen, wie es ihrem 21-jährigen Sohn (dem Patienten) geht. Als sich die Sozialarbeiterin dann dem Patienten zuwendet, der etwa 10 Meter
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neben dem Haus sitzt, wo die Mutter steht, ist dieser recht wortkarg. Seine Mutter beklagt sich, dass er nicht so richtig mithelfe. Dabei ist sie unsicher, ob es mit der Krankheit zusammenhänge, und er deshalb vielleicht nicht arbeiten könne. Doch die Sozialarbeiterin sagt daraufhin, dass er faul sei und alle Arbeiten, die anfallen, leisten könne. Bei einem anderen Besuch fährt der junge Mann bei unserer Ankunft gerade auf einem Wagen mit zwei Ochsen davor. Er will zuerst seine Arbeit erledigen, bevor er Zeit für uns hat. In beiden Beschreibungen fällt – wie bei den anderen Beschreibungen in den Kapiteln zuvor ja auch – die Einbeziehung der Familienangehörigen auf. Im ersten Beispiel erkundigt sich die Sozialarbeiterin nach der Gesundheit der Mutter, um deren medizinische Versorgung sie sich nach dem Mückenstich gekümmert hat. Insofern wird hier ein gesundheitliches Defizit angegangen, das aber gerade nicht direkt mit dem Patienten zu tun hat. Im zweiten Beispiel fragt die Sozialarbeiterin die andere Mutter auch nach der allgemeinen Situation in der Familie. Ich habe derartige Beobachtungen als Hinweis genommen, dass die Psychiatrie bedeutend mehr bieten kann als nur die medizinische Versorgung der Patienten, und in den Interviews nach einer umfassenderen Bedeutung der Psychiatrie für die familiäre Situation gefragt. D: We are very grateful, I’m very grateful for the hospital’s help because for example they raised my children, they gave us the food to feed them, they treated me with my pregnancy. And we were very poor, so I don’t know what I could have done for them if the hospital didn’t help. And the injections are very important, and they also give health treatments because I have a high blood pressure. […] So they keep me stabilized, they keep me healthy and I appreciate that very much.
Die Patientin sieht ihre medikamentöse Behandlung als Teil der umfassenden »Hilfe« des Krankenhauses. Dabei fällt auch hier die Einbeziehung der Familie auf, dieses Mal aus der anderen Perspektive: Die Patientin erhielt als Mutter Nahrung für ihre Kinder. Der Satz bietet einen Hinweis auf ein (finanzielles) Defizit, das angegangen wird. Vor allem der Satz: »they raised my children«, weist auf eine enge Verbindung zwischen der Arbeit der Psychiatrie und dem familiären Leben der Patientin hin. So lässt sich die im ersten Satz angesprochene Dankbarkeit der Patientin, die sie am Ende mit »I appreciate that very much« wieder aufgreift, als
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Hinweis darauf interpretieren, dass die Behandlung des Krankenhauses zu den Bedürfnissen der Patientin passt. In diesem Kontext enthält für mich der zusammenfassende Satz: »So they keep me stabilized, they keep me healthy«, zwei Aspekte. Erstens schreibt die Interviewpartnerin ihre Gesundheit mit den Worten »they keep« den Handlungen des Krankenhauses zu. Zweitens scheinen diese gesundheitsfördernden Handlungen für sie neben den »Spritzen« auch in der zuvor genannten Hilfe für ihre Kinder zu bestehen. In der emischen Perspektive gehört somit zur eigenen Gesundheit die familiäre Situation dazu. Ich möchte die Rolle des Krankenhauses genauer betrachten. In der zweiten oberen Beschreibung beklagt sich die Mutter, dass ihr Sohn sie nicht genügend unterstütze, wobei sie unsicher ist, ob dieses Verhalten vielleicht mit seiner Krankheit zusammenhängt. In ihrer Aussage ist implizit der Wunsch enthalten, ihr Sohn möge ihr helfen. Diesem Wunsch entsprechend sagt die Sozialarbeiterin der Mutter, dass der Sohn faul sei und alle anfallenden Arbeiten erledigen könne. Die Mutter benötigt die Unterstützung ihres Sohnes, die sie durch die Krankheit bedroht sieht. Die Sozialarbeiterin wiederum bietet mit dem Satz, der junge Mann sei faul, die Möglichkeit zur Unterstützung an. Indem die Sozialarbeiterin ausschließt, dass die Krankheit der Grund sei und er deshalb geschont werden müsse, entbindet sie die Mutter von der Pflicht, Rücksicht zu nehmen und hilft ihr. Sie greift damit regulierend in das Familienleben ein, aber – um ein funktionierendes Familienleben zu ermöglichen – gerade nicht auf der Seite des Patienten, sondern auf der Gegenseite. Grundsätzlich nimmt die Mutter die Tätigkeiten ihres Sohnes als Unterstützung wahr. I: What is your son doing during the day, on a normal day? D: He helps her carrying things, working, for example today he brought wood with some animals he bought from a friend, and sometimes he brings bags of potatoes that he collects. So he helps her during the day.
Vor dem Hintergrund der Beschreibung und dieses Zitates schließe ich, dass der gemeindepsychiatrische Ansatz zum gesamten Familienleben passt und dieses stützt, nicht nur den einzelnen Patienten. Indem – auch »gegen« seine Interessen (vordergründig faul) – das Familienleben gestärkt wird, ermöglicht man ihm langfristig ein »gesundes« Alltagsleben. Die Psychiatrie bietet nicht nur direkte, sondern auch indirekte Hilfe über die Stabilisierung des Umfelds.
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Hiermit möchte ich nun dazu überleiten, dass das soziale Geschehen im Setting kontextübergreifend gesundheitsfördernd sein kann, sofern die Patienten und ihre Angehörigen ihre Alltagsdefizite als passend behandelt erleben. Bei meinen Beobachtungen in den Gemeinden wurde deutlich, dass im Kontakt zwischen der Psychiatrie und den Patienten bzw. ihren Familien auch Faktoren präsent sind, die man einem spirituellen Diskurs zuordnen kann. Trotz der Behandlung durch die Psychiatrie waren Vorstellungen von Hexerei als Ursache von Krankheiten in der Alltagskommunikation präsent. Hinzu kam, dass meine Gesprächspartner unterschiedlichen Kirchen angehörten. Die katholische Kirche wurde als tendenziell tolerant gegenüber den Mapuche-Heilern beschrieben, viele Pfingstkirchen schienen ihren Angehörigen das Aufsuchen von machis jedoch zu verbieten. In den ersten Interviews schilderten Mitarbeiter der Psychiatrie viele Mapuche-Patienten und ihre Angehörigen als verwirrt aufgrund der offensichtlich widersprüchlichen Erklärungs- und Behandlungsmodelle für ihre Krankheit. Ich konnte der Idee einer Verwirrung zwar kognitiv zustimmen, erlebte die Patienten und ihre Familien in ihren Alltagstätigkeiten jedoch nicht als verwirrt. Ein Anhaltspunkt, wie es sich mit den Wechselwirkungen verhalten könnte, ergab sich in einem späteren Interview mit einer Sozialarbeiterin: D: She doesn’t think that there is confusion, she thinks it’s more like a cultural explanation of the disease, but the solution for the symptoms is provided by them and the psychiatric approach.
Die Interviewpartnerin differenziert zwischen »einer kulturellen Erklärung der Krankheit« und »der psychiatrischen Behandlung der Symptome«. In dieser Interpretation könnte die Psychiatrie mit der »Lösung für die Symptome« ein Defizit im Alltagskontext angehen19 . Hierfür spricht der Fall des in der zweiten oberen Beschreibung vorgestellten jungen Mannes, der bei seiner Mutter wohnt. Vor der Behandlung durch die Psychiatrie hat er nämlich eine machi aufgesucht.
19 | Die Psychiatrie steht mit ihrem Erklärungsmodell jedoch grundsätzlich in Konkurrenz zu den Modellen der machi. Inwieweit die Modelle sich in die Quere kommen könnten, werde ich am Ende dieses Kapitels diskutieren.
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I: What happened there? When you were there? D: There was a ritual with medicines. I: Can you describe it, what you did? D: He said that he was placed at the door of the machi house, he was blessed with waters and there were some canelos and other woods from trees, and there was a machitun 20, a ceremony where the machi played the kultrung 21, the drum she wears, and she was running inside the house, dancing outside the house, and it lasted about four or five months. I: Four or five months she was doing the machitun? D: No, his residence in the place, but there were many ceremonies. […] He thinks it helped, and he was improving with every machitun they made. I: Ah ok, but why did you go to the hospital then after? D: He says he believed in the machi before the treatment and during the treatment and he thinks he says, he was healed for two or three months after the machi released him. And then he started again with the illness, and the mother went to the doctor. […] The father forced him to take the bus and took him to the hospital. 20 | Nach Faron (1989) führt ein/e machi nur ein machitun durch, um sehr ernsthafte Krankheiten zu heilen. Faron beschreibt ein machitun folgendermaßen: »The machi enters a state of trance, during which possession occurs if she is successful, only in order to cure the most serious illnesses. Whether there is possession or not, her rhythmic incantations and drum-beating always have some autohypnotic effect and lend a mysterious, otherworldly air to her performance. Using herbal remedies (lawen), massaging affected parts of the body, sucking those parts where invisible venomous darts have entered, and spraying water over the body are also important features of a curing ceremony (machitun). Most cures are first attempted by essentially medicinal means, overtly magical cures being resorted to when herbal concoctions appear to have no remedial effect.« (S. 324) 21 | Es handelt sich hierbei um eine Trommel; Schindler (1990) beschreibt sie genauer: »Der Körper des Instruments besteht aus einer Holzschüssel. Das Fell wird durch eine Verschnürung aus Lederriemen oder Roßhaarzöpfen gespannt. Sie führt zu einem Ring auf der Rückseite, der aus einer Liane oder einem Lederstreifen besteht. […] Auf das Fell dieser Trommel ist häufig ein gleichseitiges Kreuz gemalt, das den Kreis in vier Quadranten teilt. Von den Enden der Kreuzarme laufen parallele Linien zum Rand, die Quadranten sind überdies durch weitere Zeichen geschmückt.« (S. 174)
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Der Patient beschreibt die fünf Monate dauernden Heilungszeremonien. Dabei schreibt er rückblickend – nach der medikamentösen Behandlung durch die Psychiatrie – den Praktiken der machi eine Wirkung auf seine Gesundheit zu, er spricht sogar davon, dass er für zwei bzw. drei Monate geheilt gewesen sei. Doch dann sei die Krankheit zurückgekehrt. Deswegen sei seine Mutter zum Arzt gegangen und sein Vater habe ihn dann gezwungen, in das Krankenhaus zu fahren. Das ist seine sehr pragmatische Herangehensweise, nachdem die eine Behandlung nicht anhaltend gewirkt hat, wird die andere Behandlung ausprobiert. Man kann annehmen, dass die Psychiatrie, wie es die Sozialarbeiterin oben schildert, eine »Lösung für die Symptome« geboten hat. Diese Annahme wird durch die Aussage eines machi gestützt. I: Is it possible to have both Mapuche and psychiatric treatments? D: It depends on the case, especially depends on how serious is the strength, how advanced is stated the schizophrenia. If the patient is very advanced, is very deteriorated there could be a parallel treatment with the western medications, with the drugs, but once the person is stabilized they should stop taking them. They should stop taking the drugs and continue only with the plants and the praying and the traditional things.
Der machi differenziert unterschiedliche Stadien von Schizophrenie. Im Falle eines fortgeschrittenen Stadiums sollte parallel zu seiner Behandlung eine psychiatrische Medikation bis zu einer erfolgreichen Stabilisierung erfolgen. Er schätzt die psychiatrischen Medikamente unter der Bedingung einer »fortgeschrittenen Schizophrenie« als nützliche Ergänzung zu seiner Behandlung ein. Das hier möglicherweise angesprochene Defizit einer ineffizienten eigenen Behandlung existiert für den machi nur unter bestimmten Bedingungen. Er lehnt eine grundsätzliche parallele Behandlung durch die miteinander konkurrierenden Methoden ab. Für ihn kommt die psychiatrische Behandlung nur im Notfall in Frage, er sieht sie nicht als gleichberechtigt an. Nach der Stabilisierung sollten die psychiatrischen Medikamente wieder abgesetzt werden – in seinem Verständnis ist Schizophrenie anscheinend grundsätzlich heilbar. Dieser letzte Satz deutet darauf hin, dass eine Übereinstimmung zwischen dem psychiatrischen Angebot und den Bedürfnissen der Patienten auch davon abhängen könnte, inwieweit die Psychiatrie sich in den Kontext der »traditionellen« Behandlungspraktiken und Erklärungsmodelle einordnet. Vor diesem Hintergrund könnte
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die grundlegende Wertschätzung vieler Psychiatriemitarbeitenden gegenüber den machis relevant sein, auf die ich im vierten Kapitel in der Vorstellung des Settings hingewiesen habe. Ich bin deshalb der Frage nach möglichen positiven Wechselwirkungen zwischen Behandlungen durch die machis und der psychiatrischen Behandlung weiter nachgegangen. D: She recalls a patient who being a Chilean visited the machi, and she believed that the machi could read her signs from her urine sample, and that made her very happy and she happily drunk the waters, the medicines of the machi, but she also kept on going with the psychiatric medicine. So in that case the machi intervention is good because the person can cope with the treatment, with the medical treatment in a better shape.
Die Psychologin beschreibt, wie eine (chilenische) Patientin parallel zur psychiatrischen Behandlung einen machi aufsuchte. Die Interviewpartnerin schätzt die ergänzende machi-Behandlung als gewinnbringend für die psychiatrische ein, weil die Patientin durch jene »sehr glücklich« geworden sei und sich somit für die psychiatrische Behandlung in einer besseren Verfassung befunden habe. Die Wechselwirkung zwischen den beiden Kontexten kann also dazu führen, dass ein Patient eine Verbesserung seiner Gesundheit erlebt. Wieso hat dann aber der junge Mann aus dem oberen Zitat, obwohl doch die Psychiatrie-Mitarbeitenden die machi-Behandlung wertschätzen, diese nicht fortgesetzt? D: About a year ago she found out that she wasn’t allowed to go to the Mapuche ceremonies so she stopped going. Now she only goes to the church.
Seine Mutter, die den Kontakt mit dem Krankenhaus aufnahm, beschreibt den Einfluss eines dritten Kontexts auf die von ihr wahrgenommene Genesung ihres Sohnes: die Kirche habe die Teilnahme an Mapuche-Zeremonien verboten, deswegen gehe sie nun nur noch in die Kirche. Dieses Phänomen erleben die Mitarbeitenden der Psychiatrie häufig. D: She thinks the church, the evangelic, protestant church especially, has been very important in this, like an influence in this situation of the illness because many times they find out that a patient was having good results with a machi, and a part of the family supports the machi treatment, and another part of the family is evangelic, protestant, and they reject the machi treatment, and they are
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making pressure to stop seeing the machi, and that creates more confusion and more conflicts inside the community.
Eine Sozialarbeiterin schildert, wie der kirchliche Einfluss zu konkurrierenden Interessengruppen innerhalb der Familie eines Patienten führt, der sich in der Behandlung durch eine/n machi befindet. Während ein Teil der Familie die machi-Behandlung unterstütze, übe ein anderer Teil aufgrund seiner Kirchenzugehörigkeit Druck aus, die machi-Behandlung zu beenden. In dem Satz: »a patient was having good results with a machi«, zeigt sich eine wertschätzende Haltung, sie schreibt der machi-Behandlung eine Wirksamkeit zu. Vor diesem Hintergrund macht der Satz: »the evangelic, protestant church especially, has been very important in this, like an influence in this situation of the illness«, deutlich, dass sie den Einfluss der Kirche als negativ für die Genesung bewertet. Sie spricht am Ende von »mehr Verwirrung« und »mehr Konflikten« in den Gemeinden. Inwieweit zeigt sich ihre Einschätzung eines negativen Einflusses der Kirche auf die Genesung an dem zuvor besprochenen Fallbeispiel? I: Did the priest give an explanation to your son? Did he treat him? D: Ah yes, the priest told her if they believed in God, God would heal him. So the priest came here to give him blessings, and finally the son asked to be baptized. And in that moment he started to heal.
Die Mutter verbindet mit der Taufe ihres Sohnes den Beginn eines Heilungsprozesses. Ich habe ihren Sohn darauf angesprochen, inwieweit er selbst einen Heilungsprozess mit der Kirche verknüpft. D: He believes more in the priest than in the Mapuche tradition, he says it’s the same grade or level of belief in the medical approach and the protestant approach. I: How did the priest help you? D: He says that the priest cured him with prayers. I: Oh ok, so you say that the machi cured you, the hospital and the priest, too. So it’s actually three different systems that cured you? D: It was like in December, the priest helped him, he was already taking medicine, and he thinks that the prayers of the whole group cured him. I: Oh so, I understand that all three treatments helped you? D: Yes.
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Die Abstufung in der zugeschriebenen Wirksamkeit hinsichtlich des Kontexts der machi-Behandlung einerseits und der kirchlichen und psychiatrischen Kontexte andererseits könnte damit zusammenhängen, dass sich die kirchliche und die psychiatrische Behandlung zeitlich überschneiden. Mit Hannover und Kühnen (2002) lässt sich schließen, dass das in diesen beiden Kontexten aktivierte Selbstwissen für den Interviewpartner temporär zugänglich und aufgrund der Gleichzeitigkeit eng miteinander verbunden ist. Ich kann aufgrund meines Datenmaterials keine Aussage treffen in Bezug auf die von der Sozialarbeiterin angesprochene Zunahme von »Verwirrung« und »Konflikten« auf der Ebene der Gemeinde. Nun möchte ich weiter erläutern, inwieweit eine Verbesserung der Gesundheit kontextübergreifend möglich wird. Anders als in der Einschätzung der Sozialarbeiterin, dass der Einfluss der protestantischen Kirchen negativ für den Genesungsprozess sei, finden sich in dem oberen Fallbeispiel eher Hinweise, dass der Einfluss der Kirche auf eine positive Weise in die vorhandenen Vorstellungen von Heilung integriert wird. Denn für den jungen Mann bleibt trotz des kirchlichen Verbots auch die machi-Behandlung wirksam. Doch während die Psychiatrie sich von der Kirche abgrenzt und die machi-Behandlung befürwortet, stellt der Interviewpartner über seine Wirksamkeitseinschätzung die Psychiatrie und die Kirche in eine größere Nähe. Außerdem kam er erst, nachdem die Kirchenvertreter ihm die Teilnahme an der machi-Behandlung verboten hatten, mit der Psychiatrie in Kontakt. Das legt die Vermutung nahe, dass die Kirche auch für die Anschlussfähigkeit der Psychiatrie an die alltäglichen Bedürfnisse der Patienten und ihren Familien eine wichtige Rolle spielt. Dieser Vermutung möchte ich nun anhand eines weiteren Fallbeispiels von einem 25-jährigen Mapuche-Patienten folgen. Hier werde ich sehr detailliert interpretieren, um die Wechselwirkungen zwischen den angesprochenen Kontexten und seinem Zurechtkommen mit seinem Leiden herauszuarbeiten. I: How did you get into contact with the psychiatric hospital? What happened? D: I was so desperate, so anxious that I went to the emergency room of the hospital. I: Why? Why did you feel anxiety or despair? D: Because of the loneliness I had, I used to think that it was witchcraft. But it turned out that it wasn’t witchcraft, it was a disease. I: What are the differences? How can you realize if it is a disease or witchcraft?
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D: It was in the hospital that I was told that what was happening to me was a mental disease. And in the country field we usually think first of an evil because people make witchcraft here in the countryside. So we always think of that first, but in the hospital they told me it wasn’t this.
Der Interviewpartner führt mit den Begriffen »desperate« und »anxious«, die seine Verzweiflung und Angst beschreiben, zunächst die Gründe an, warum er mit der Psychiatrie in Kontakt gekommen ist. Vor dem Psychiatrieaufenthalt hatte er das Modell der Hexerei als Erklärung für sein Leiden angenommen, wie der Satz: »I used to think that it was witchcraft«, nahelegt. Nun verschiebt sich seine Perspektive von dem subjektiven »I« in dem Satz »But it turned out […]« zur unpersönlichen Passiv-Form des »it«, mit der eine allgemeine Tatsache benannt wird. Die Fortsetzung der Passiv-Form in Verbindung mit der ersten Person Singular, »I«, in dem Satz: »I was told that what was happening to me was a mental disease«, weist darauf hin, dass er sich hier allein sieht und allein als passiven Empfänger von Urteilen. Das anschließende »we« in Bezug auf die Hexerei weist demgegenüber darauf hin, dass er sich im Kontext seiner Gemeinde wahrnimmt. Mit Hannover und Kühnen (2002) kann man argumentieren, dass die Diagnose der Hexerei Teil seines chronisch zugänglichen Selbstwissens ist, wie das Wort »usually« nahelegt. Sein Leiden wird mit der Diagnose der »witchcraft« gewissermaßen normalisiert, denn er spricht von einer Gruppe, die gewöhnlich auf dem Land so denkt, nicht von sich als Individuum. Dann leitet das »but« den divergenten Kontext der Psychiatrie ein: Die erste Person, erneut verbunden mit der Passiv-Form »they told me it wasn’t«, wiederholt die Charakterisierung seines Verhältnisses zur Psychiatrie als passiv. Die Diagnose einer ›psychischen Krankheit‹ ist anders als »witchcraft« nicht Teil seines gebräuchlichen Bedeutungssystems, das er mit anderen auf dem Land teilt. I: What changed for you personally when they told you that it wasn’t witchcraft but a disease? D: I didn’t agree at first but I was convinced when they told me that the disease was inherited by the family and I saw my mother’s condition. I: Yes, and do you think, too, that it’s inherited? Or do you think that there are other causes, too? D: I believe it is inherited by the family because I have seen some other people who have said so. And I also think that it can be caused by witchcraft.
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I: So it’s both, you think that it’s inherited and that someone used witchcraft against your family or against you? D: Both things at the same time.
Der Interviewpartner widerspricht zunächst den Ärzten. Doch dann verbindet er die erneut in der Passiv-Form wiedergegebene Erklärung der Psychiater mit seinen eigenen Beobachtungen in Bezug auf seine Mutter. Das Schizophrenie-Konzept wird über die Bezugnahme auf seine Mutter für ihn nachvollziehbar. Das Erklärungsmodell der Psychiatrie, die erklärt, sein Leiden sei eine erbliche Krankheit, koexistiert zu dem Erklärungsmodell der Hexerei, mit dem er aufgewachsen ist. Der Satz: »I was convinced when they told me that the disease was inherited by the family and I saw my mother’s condition«, weist darauf hin, dass beide Erklärungsmodelle in Wechselwirkung zueinander stehen. Zur Interpretation der Wechselwirkungsprozesse bietet sich wieder das SPI-Modell an (Hannover & Kühnen, 2002). Demnach wäre das psychiatrische Erklärungsmodell temporär, das Erklärungsmodell der Hexerei chronisch zugängliches Selbstwissen, beide Modelle würden vom Kontext in unterschiedlichem Ausmaß aktiviert. Im folgenden Abschnitt tritt das kirchliche Erklärungsmodell hinzu. I: If someone makes witchcraft against you, what will happen to you? D: I’ve heard about people who have been victims of witchcraft, and they have tried to kill themselves and have done other things. Suddenly they felt ill and they lived all their lives with suffer. I: Yes, and did you visit a machi before you went to the hospital? D: I wanted to get healthy, I wanted to improve my health and my family wanted to take me to a machi while my fellow church companions, the brothers, wanted me to go to the psychiatric hospital because I am evangelic also, protestant, and the church wanted me to go to the hospital. I: Yes. D: So I needed to make a choice, but only I wanted to get better.
Der Interviewpartner charakterisiert die möglichen Folgen von Hexerei als sehr gefährlich, Suizid bzw. lebenslanges Leiden seien möglich. Wichtiger als die Richtigkeit eines Erklärungsmodells ist für ihn der Wunsch, gesund zu werden. Für die konkurrierenden Interessengruppen seiner Familie und der Kirche scheint es relevanter als für ihn zu sein, welchem Behandlungsmodell er folgt. Hier zeigt sich die Komplexität der Beziehun-
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gen zwischen den drei bedeutungshaltigen Kontexten Psychiatrie, Kirche und machi. Denn die Kirche möchte nicht, dass er zum machi geht, und bringt ihn mit der Psychiatrie in Kontakt. Im nächsten Abschnitt erläutert der Interviewpartner jedoch Prozesse, die sich als Revitalisierung der machi-Praxis durch die psychiatrische Behandlung interpretieren lassen. I: You didn’t go to the machi? D: His family wanted him to go to the machi, and he never actually went to see the machi, but the uncle took some urine’s sample and took it to the machi, and the machi sent some waters to use as medicine, but this happened on a Saturday. And on Monday the same week, the brothers took him to the psychiatric hospital, and the psychiatrists started giving him some medication, so he spent like three months taking both medications until the machi started to charge more for the same waters […], and he stopped taking the waters. I: What did the water do? What did the water do or the machi? D: Yes, it was also helpful.
Der Interviewpartner schildert, er selbst sei gar nicht persönlich beim machi gewesen, der Kontakt sei über seinen Onkel gelaufen. Fast zeitgleich bringen ihn seine Kirchenbrüder in die Psychiatrie. Für drei Monate koexistieren beide Behandlungen, bis er die machi-Behandlung abbricht. Als Grund für den Abbruch führt er die höheren Kosten an. Der Interviewpartner schreibt die Verbesserung seiner Gesundheit sowohl den psychiatrischen Medikamenten als auch der Medizin des machi zu. Im Rahmen der psychiatrischen Behandlung scheint demnach auch die Behandlung des machi revitalisiert zu werden. I: You know the word for the state when someone has made witchcraft to you? There’s a Mapuche name for the state in which you are? D: Calcuto is like the poison, a magic poison. […] He says that suddenly someone puts something into your meal. The doctors don’t know this, but the machi knows the problem if your food is poisoned. He also explains that he maybe would get healthy again if he was poisoned; or maybe not because it is said that you feel as if you must die. You want to talk about it, but something stops you from inside, and finally the problem disappears. He was bewitched, but he has never been poisoned. […] and he says his mother was poisoned.
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Das Konzept des »calcuto«, des »magic poison«, legt nahe, dass das Phänomen, das in der Psychiatrie unter »Schizophrenie« gefasst wird, hier nicht als Persönlichkeitsdefekt, sondern eher als interdependent und außerhalb der Person gesehen wird. An dieser Stelle differenziert der Interviewpartner zwischen sich selbst und seiner Mutter; seine Mutter sei vergiftet worden, er jedoch nicht. Er glaubt jedoch, dass er selbst auch verhext sei. Ich habe oben interpretiert, wie er das psychiatrische Krankheitsmodell akzeptieren kann, indem die Annahme der Vererbung und seine eigene Wahrnehmung der Situation seiner Mutter zusammengeführt werden. Nimmt man diesen Abschnitt zur Interpretation hinzu, würde das bedeuten, dass er die Situation seiner Mutter, auch wenn er die Annahme der Vererbung akzeptiert, gleichzeitig weiterhin im gewohnten Kontext der Hexerei betrachtet. Orientiert man sich weiterhin an Hannover und Kühnen (2002), kann man interpretieren, dass die Differenzierung damit zusammenhängt, dass das psychiatrische Wissen in Bezug auf sich selbst für ihn in diesem Zusammenhang situativ zugänglicher ist als hinsichtlich seiner Mutter. In dem folgenden Abschnitt erläutert er genauer die Geschichte seiner Mutter und grenzt sie weiter vom psychiatrischen Krankheitsmodell ab. I: Your mother was poisoned? D: Yes. I: Ah, because of this she got sick? D: She got worse because she was victim of this poison, this magic poison. She was taken to a not full machi, a half machi, a machi that worked for the evil also, that made evil works and good works also. Traditionally the machi does good. So this half machi made her worse. I: So because of this poison your mother got what now is called by the doctors »schizophrenia«? D: The mother has been diagnosed with the psychosis and mental disability. […] And it’s really a mixture of the poison and bad treatment by the machi.
Der Interviewpartner beschreibt, wie seine Mutter aufgrund einer »magischen Vergiftung« zu einem »bösen« machi in die Behandlung gegangen sei, der ihren Gesundheitszustand weiter verschlechtert habe. Die Bezeichnung »a half machi« und die Aussage: »Traditionally the machi does good«, lassen sich als Hinweis nehmen, dass er die grundsätzliche gesundheitsförderliche Wirksamkeit einer machi-Behandlung nicht in Frage stellen will. Anschließend distanziert er sich von den Aussagen der Ärzte, die sei-
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ne Mutter als psychotisch diagnostiziert haben. Das Leiden seiner Mutter ist für ihn das Ergebnis aus der Wechselwirkung zwischen der »magischen Vergiftung« und der schlechten Behandlung durch den machi. Auf dieser vordergründigen Ebene stimmen also seine Vorstellungen nicht mit den Annahmen der Psychiatrie überein. Allerdings habe ich oben bereits erläutert, dass die Krankheit seiner Mutter gleichzeitig eine entscheidende Bedeutung dafür besitzt, dass er über das medizinische Konzept der Vererbung für sich selbst die Diagnose der Schizophrenie akzeptiert. Ich frage ihn deswegen nun erneut nach diesem Zusammenhang. I: Yes, but if your mother got sick because of witchcraft, how could you inherit this? D: I asked him and he said that the mother was affected by the poison, and she then was healed from this poison after nine months. Or seven months, but she gave her identity documents to the machi. And that was used to make her a bigger evil, a big witchcraft. Because they think that if you own possessions or photographs you can do something bigger and the identity documents is a very important thing. And the witchcraft was very big because the machi wanted his mother to marry a relative of the machi. And because she said no, the machi made a big witchcraft against the mother. And he also said that the doctors’ version of the illness was that she was retarded, but he believes more, because he knows about the machi story.
Als Antwort auf meine Frage nach der Vererbung differenziert der Interviewpartner den Gesundheitsverlauf seiner Mutter, denn sie sei von der »magischen Vergiftung« sieben oder neuen Monate später geheilt worden. Im Rückblick – nach den psychiatrischen Diagnosen für seine Mutter und sich selbst – sieht er seine Mutter ab einem bestimmten Zeitpunkt als geheilt an. Doch dann richtet derselbe machi, der sie von der Vergiftung geheilt hat, sogar noch eine größere Hexerei gegen sie, damit sie einen seiner Verwandten heiratet. Die Möglichkeit, auf unterschiedliche Erklärungsmodelle zurückgreifen zu können, werde ich im nächsten Abschnitt noch weiter herausarbeiten. I: And how could you inherit this sickness of your mother? D: Oh, yes, about that he said, at the beginning, that’s the doctors’ theory. I: Ah, ok, you don’t believe in this. […]
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D: There were two psychiatrists who told me that she had a mental illness, and at the beginning I believed only in witchcraft, but now I could not say in which one I believe most. I believe in both equally.
Einerseits distanziert er sich im Hinblick auf seine Mutter von der Annahme einer psychischen Störung. Anderseits scheint es mit der Idee der Vererbbarkeit auch möglich zu werden, das Leiden seiner Mutter als psychische Krankheit zu erklären. In dieser wechselseitigen Ergänzungsfunktion des psychiatrischen Erklärungsmodells und des Erklärungsmodells der Hexerei könnte eine Möglichkeit zur Gesundheitsverbesserung liegen. Unter Rückgriff auf Hannover und Kühnen (2002) könnte man wieder argumentieren, dass zu dem chronisch zugänglichen Selbstwissen der Hexerei nun das psychiatrische Erklärungsmodell im Kontext der Psychiatrie hinzu tritt – zwei Psychiater erklären ihm, dass seine Mutter psychisch krank sei. Es wäre in diesem Verständnis temporär zugängliches Selbstwissen, und in meiner Interpretation wäre es für den Prozess der Gesundheitsverbesserung auch wichtig, dass das Selbstwissen kontextabhängig in unterschiedlicher Qualität aktiviert wird. Denn damit bleibt immer noch Raum für die Aktivierung des anderen Erklärungsmodells der Hexerei, durch das wiederum eine Distanzierung von dem Krankheitsmodell möglich wird. Eine weitere Quelle für Bedeutungen stellt das kirchliche Modell dar. I: Yes, and what does the church say? D: The brothers think there are devils, it’s affected by demons. I: Do you believe in this, too? D: Yes, because witchcraft is eventually a work of the devil.
Der Interviewpartner glaubt, dass Hexerei auch auf den Teufel zurückführbar sei. Beide Erklärungsmodelle scheinen leicht kompatibel zu sein. Gleichzeitig lehnt die Kirche die Behandlung durch einen machi ab und schickt den Interviewpartner in die Psychiatrie. Insofern scheint die Kirche eine Brücke zwischen der psychiatrischen und der alltäglichen Bedeutungswelt des Interviewpartners darzustellen. I: Ah, ok, so it’s possible for you to live with all these three different things without a problem, without conflicts for you?
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D: It doesn’t cause me any conflicts. I have seen that the traditional, the religious explanations are very important for me, I think they are very right. But the doctors have studied all of their lives. They have studied a lot, so I cannot talk against them because they know much more than me.
Der Interviewpartner ist in den Kontexten in verschiedene Bedeutungswelten eingebunden und scheint die Bedeutungssysteme entsprechend kontextabhängig unterschiedlich zu verwenden.22 So bezieht er sich an dieser Stelle auf die Expertise der Mediziner. Er sieht sich nicht als berechtigt, ihre Erklärungen in Frage zu stellen, sie wüssten viel mehr als er. Ich habe oben jedoch erläutert, dass er sich in Bezug auf die psychiatrische Diagnose seiner Mutter sehr wohl von dem Fachwissen der Ärzte abgrenzt. Umgekehrt kann man annehmen, dass die Bezugnahme auf das psychiatrische Erklärungsmodell ihm eine Distanzierung von den Vorstellungen der Hexerei ermöglicht, die er – wie oben beschrieben – als sehr gefährlich empfindet. Das zeigt sich auch, als ich ihn auf die Möglichkeit einer Verhexung anspreche. I: I mean, are you still bewitched or it’s gone the witchcraft? D: He thinks it disappeared. I: How? Why? D: He said that he never knew for sure if it was an evil or if it was a mental disease. But since he’s feeling ok, probably it’s gone.
Der Interviewpartner weiß nicht sicher, ob er »verhext« war oder eine »psychische Krankheit« hatte. Er schließt aber aus seinem aktuellen Gesundheitszustand, dass das Phänomen, das er nicht sicher benennen kann, wahrscheinlich wieder verschwunden ist. Aus der kontextabhängigen Aktivierung der unterschiedlichen Bedeutungswelten scheinen sich für ihn gesundheitsförderliche Wechselwirkungen zu ergeben. Die Bedeutungswelten scheinen sich wechselseitig zu ergänzen: In der individuellen Bezugnahme des Patienten, die ich in Anlehnung an Wulff (1992) als Sinnstiftung bezeichne, können sie sich zu einem kohärenten Muster er-
22 | Vgl. zur wechselseitigen Ergänzungsfunktion dieser drei unterschiedlichen Erklärungsmodelle in Argentinien auch Kalinsky, Carrasco, Arrue & Witteman, 1994.
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gänzen, in dem ein gesundheitsförderliches Potential liegt (vgl. Wiencke, 2009a). Ich habe in diesem Kapitel beschrieben, wie die Gemeindepsychiatrie, definiert als der Kontakt zwischen Psychiatrie und Patientinnen und Patienten, örtlich direkt in deren Alltagswelt existiert. Insofern ist die Trennung zwischen dem Setting und dem Alltag diffus bzw. es gibt viele Überlappungen. In der Alltagswelt nimmt die Gemeindepsychiatrie vielfältige Funktionen wahr wie die medikamentöse Versorgung, gesundheitliche Behandlung der Familienangehörigen, finanzielle Unterstützung der Kinder oder praktische Hilfe bei den anfallenden Arbeiten. Mit Moos (2003a) lässt sich argumentieren, dass sich hieraus eine besondere Qualität der Beziehungen ergibt, mit der eine Anschlussfähigkeit des psychiatrischen Settings an den Alltag der Patienten verbunden ist. In der Alltagswelt der Patienten ist das psychiatrische Erklärungsmodell eines unter mehreren, die sich wechselseitig ergänzen. Dabei scheint sich die Psychiatrie auf eine gesundheitsförderliche Weise in die übrigen Erklärungsmuster der Kirche und Hexerei einzufügen.
6 Diskussion
6.1 Ü BERBLICK In dieser Arbeit habe ich drei bestimmte Settings untersucht. Diesen ist gemeinsam, dass in ihnen auf eine intensive Art Bedeutungen generiert werden, die psychische Krankheit und Gesundheit in sozialen Beziehungen verorten. Das in dieser Arbeit entwickelte Konzept von Gesundheit und ihrer Förderung ist also in Settings entstanden, die ich bewusst ausgewählt habe, weil in ihnen die Idee der Gemeinschaft zentral ist. Hätte ich dieselbe Untersuchung in einem stärker individuumsbezogenen Setting durchgeführt, wäre ich möglicherweise zu ganz anderen Ergebnissen gekommen. Offensichtlich lässt sich psychische Gesundheit individuell oder sozial konstruieren. Im ersten Teil dieses Kapitels werde ich beide Konstruktionsweisen aufeinander beziehen, um die Spezifik meines Untersuchungsansatzes zu verdeutlichen. Im zweiten Teil werde ich vor diesem Hintergrund den in dieser Arbeit vertretenen sozialen Begriff von Gesundheit im Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Objektivität verorten. Schließlich werde ich im dritten Teil diskutieren, inwieweit sich die Ergebnisse dieser Arbeit verallgemeinern lassen.
6.2 I NDIVIDUELLE UND SOZIALE K ONSTRUK TIONSWEISEN PSYCHISCHER G ESUNDHEIT UND K R ANKHEIT In der westlichen Welt dominiert die an der Medizin orientierte Vorstellung, dass eine Gesundheitsstörung eine Störung des psychischen und/oder biologischen Funktionierens sei. In dieser individualistischen Konstruktionsweise sind die Gesundheitsmaßstäbe folgerichtig auf das Individuum bezogen. Im zweiten Kapitel habe ich einige Modelle der
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individuellen Gesundheitsförderung vorgestellt: Bei den Ansätzen der Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura, 1997), des dispositionellen Optimismus (Scheier & Carver, 1992), der Hoffnung (Snyder & Lopez, 2007), des Meaning Making (Folkman & Moskowitz, 2004) oder bestimmten Formen des religiösen Copings (Pargament, Koenig & Perez, 2000) werden Korrelationen zwischen individuellen Überzeugungen bzw. Einstellungen und der Abwesenheit von Krankheiten bestimmt. Mit einer empirisch gut anwendbaren Skala soll das Konstrukt gemessen werden, wobei möglichst objektive Werte für Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit verwendet werden. Für Antonovsky (1997) ist Gesundheit mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit wird im Salutogenese-Modell positiv und entwicklungsorientiert gefasst; anhand eines am Individuum ausgerichteten Fragebogens wird das Konstrukt des Kohärenzsinns objektiviert. Psychische Krankheit wird in der individualistischen Perspektive so konstruiert, dass sie in der Dyade von Arzt bzw. Therapeut und Patient mit einem Medikament bzw. einer therapeutischen Technik behandelt werden kann. Dieser Behandlungsansatz ist in der westlichen Welt sehr erfolgreich, wie u.a. Grawe (2000, 2005) für die Psychotherapie gezeigt hat. Grawe geht von fünf unspezifischen Wirkfaktoren aus, die allen Therapien gemeinsam sind. Der Wirkfaktor der Ressourcenaktivierung bezieht sich darauf, dass Therapeuten Fähigkeiten und motivationale Bereitschaften der Patienten als positive Ressourcen nutzen, während der Wirkfaktor der Problemaktualisierung sich darauf bezieht, dass Therapeuten es den Patienten ermöglichen, die Probleme, die in der Therapie verändert werden sollen, unmittelbar zu erfahren. Hiermit hängt der Wirkfaktor der Problembewältigung zusammen: Mit erprobten problemspezifischen Maßnahmen unterstützen die Therapeuten den Patienten aktiv dabei, positive Bewältigungserfahrungen im Umgang mit seinen Problemen zu machen. Der Wirkfaktor der motivationalen Klärung bezieht sich darauf, dass Therapeuten mit den entsprechenden Maßnahmen darauf einwirken, dass Patienten sich der Bedingungen ihres problematischen Erlebens und Verhaltens klarer bewusst werden. Als fünfter Wirkfaktor ist schließlich die Therapiebeziehung für den Therapieerfolg wichtig. In diesem Modell bleibt der therapeutische Kontext weitgehend unberücksichtigt, mögliche soziale Aspekte der Gesundheit sind ausgeklammert. Die therapeutischen Merkmale werden in erster Linie an die PatientTherapeut-Dyade gebunden. Es werden zwar auch Gruppensettings mit einbezogen, allerdings behält der Therapeut auch hier seine zentrale Posi-
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tion. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun Grawes Wirkfaktoren als Abgrenzungsfolie verwenden, um die Spezifik meiner Untersuchung zu diskutieren, deren Ziel es ja gerade war, den spezifischen Kontext bewusst zu machen. Von vornherein habe ich, im Unterschied zu Grawe, Settings ausgewählt, in denen psychische Krankheit in soziale Kontexte eingebettet wird, und nach möglichen gesundheitsförderlichen Setting-Aspekten gesucht. Ich musste also zu anderen Ergebnissen kommen, da ich Settings ausgewählt habe, in denen die Patient-Therapeut-Dyade kaum relevant ist. Bei Grawe bezieht sich der Wirkfaktor der Ressourcenorientierung auf die Eigenschaften, die der Patient mitbringen sollte. Dieser Wirkfaktor lässt sich nicht auf meine Arbeit übertragen, denn in dieser Arbeit bieten im Gegenteil die therapeutischen Settings Ressourcen, die Patienten unter Umständen für sich nutzen können; dabei stellt die Anschlussfähigkeit an den Alltag einen notwendigen Bestandteil einer gelungenen Ressourcennutzung dar. In dem Candomblé- und Umbanda-Tempel aktiviert die Diagnose ›spirituelle Probleme‹ in der Einbettung in die Candomblé- und Umbanda-Kosmologie eine besondere Form der sozialen Unterstützung, die unter Bezugnahme auf die Präsenz der Geister stattfindet. Das sinnliche Erleben kann sich durch den mimetischen Bezug zur Candomblé- und Umbanda-Kosmologie zu einer Intensität steigern, die von den Teilnehmenden als ›radikal anders‹ (Csordas, 1990, S. 34) erlebt wird, wie ich es im Kapitel zur ›Bedeutsamkeit‹ beschrieben habe. Folgt man Csordas’ Argumentation, so werden hier Teile des Selbst in dem kollektiven Rahmen der Candomblé- und Umbanda-Kosmologie objektiviert. In der kontinuierlichen Bezugnahme auf die Geisterwelt können die Leidenserfahrungen in eine kollektive Struktur integriert werden. Für die Entwicklung zum Medium und die damit einhergehende Integration in die komplexe TempelStruktur ist jedoch sicherlich eine relativ große psychische Stabilität notwendig. Deshalb spricht vieles dafür, dass psychisch instabilere Personen tendenziell die Diagnose der Besessenheit bekommen. Sofern sie nicht gewalttätig werden, können sie dann zumindest regelmäßig den Tempel aufsuchen und die vielfältigen Angebote der Beratung, Behandlung und des gemeinsamen Feierns nutzen. In der psychosomatischen Klinik werden im Rahmen der rituellen Inszenierung unterstützende Erlebnisse mit der Gemeinschaft verbunden. In der Differenzbearbeitung in der Gemeinschaft werden Ressourcen aktiviert, die mit dem individuellen mimetischen Bezug zur Gemeinschaft zusammenhängen. In dem sinnlichen Erleben, in der rituellen Bezugnahme
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auf das »Andere« der Gemeinschaft können Teilnehmende die Situation als »heilig« erleben. Gefühle der Lust und des Leids werden geteilt und gemeinsam erlebt. Das Erleben von Zugehörigkeitsgefühlen zur Gemeinschaft, welches die Erfahrungen des »Heiligen« einschließt, kann einen wichtigen Beitrag zur Anschlussfähigkeit an den Alltag leisten. Sollten Personen während ihres Aufenthalts manisch werden, beginnt ein Aushandlungsprozess; wird ein bestimmter Toleranzbereich überschritten, müssen die Patienten die Klinik wieder verlassen, sie können jedoch nach Abklingen der Manie zurückkehren. Eine relativ große psychische Stabilität ist für den Klinikaufenthalt notwendig. In der Klinik hat nur ein kleinerer Teil der Patienten die Diagnose Psychose. Die Klinik arbeitet mit ambulanten Versorgungseinrichtungen zusammen; es existieren Ehemaligengruppen, und die Klinik kann besucht werden, wodurch auch eine physische Präsenz der Klinik im Alltag bestehen bleiben kann. Die Gemeindepsychiatrie stabilisiert durch die Behandlung der Symptome die durch die Krankheit bedrohten familiären Strukturen und fördert so die grundsätzlich in den Mapuche-Familien vorhandene soziale Unterstützung. Auch die anderen Familienmitglieder werden medizinisch versorgt. Die im Setting vorhandenen spirituellen Elemente werden von Seiten der Psychiatrie im Alltag belassen. Sie koexistieren mit den psychiatrischen Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit. Die lebensweltliche Einbettung ermöglicht den Patienten und ihren Angehörigen die Handhabung unterschiedlicher Bedeutungswelten, die zueinander anschlussfähig sind. Ich habe oben beschrieben, dass die chilenische Gemeindepsychiatrie im Fall akuter Psychosen zunächst an die Grenzen ihrer Anschlussfähigkeit gerät. Wird ein bestimmter Toleranzraum überschritten, werden die Patienten konventionell stationär behandelt. Anschließend kehren sie nach der stationären Stabilisierung in ihren Alltag mit der gemeindepsychiatrischen Versorgung zurück. Hier steht die konventionelle stationäre Psychiatrie ergänzend zur Seite, über die übliche alltagsnahe Versorgung erscheint auch sie als anschlussfähig. Dem mit der Psychose drohenden Ressourcenverlust scheint man so begegnen zu können (vgl. Hobfoll, 2001). Allerdings gibt es aus Sicht vieler Psychiatrie-Mitarbeiter große Unterschiede zwischen den Mapuche-Patienten auf dem Land und den nicht-indigenen Patienten in der Stadt. Bei den Stadt-Patienten scheinen in bedeutend geringerem Maße Ressourcen aktiviert zu werden, oft scheint der mit der Psychose einhergehende Ressourcenverlust nicht verhindert werden zu können.
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Der Aspekt der Problemaktualisierung bezieht sich bei Grawe auf die individuellen Probleme des Patienten bzw. der Patientin, die in der therapeutischen Situation ins Hier und Jetzt geholt und somit erlebbar werden. In den untersuchten Settings ist das Bewusstmachen von Problemen im Unterschied dazu an eine soziale Dimension gebunden. In den Candomblé- und Umbanda-Tempeln werden die Probleme durch Inkorporation der Geister präsent und so erlebt. In dem beschriebenen Umbanda-Ritual verkörpert das Medium die Probleme des Klienten, die als Interferenz von Geistern interpretiert werden. Entsprechend geben die sozialen Repräsentationen der Geister den Interpretationsrahmen vor, innerhalb dessen die individuellen Probleme erlebt werden und sich im Verhalten der Medien äußern. In der psychosomatischen Klinik scheinen die Gruppensettings mit ihren szenisch dargestellten körperlichen Aufführungen einen wesentlichen Teil dazu beizutragen, dass den Teilnehmenden ihre Alltagsprobleme bewusst werden. Die Probleme werden somit in der Aktualisierung an die soziale Situation in der Gruppe gebunden, in der z.B. gemeinsam gesungen oder getanzt wird. In der Gemeindepsychiatrie sind die Probleme der Patienten aktuell und präsent und werden in der Interaktion zwischen Psychiatrie-Mitarbeitenden und -Patienten sowie ihren Angehörigen thematisiert – beispielsweise wenn eine Mutter unsicher ist, ob ihr Sohn, der die Diagnose Schizophrenie erhalten hat, arbeiten kann, und die Sozialarbeiterin, die ihn hier erlebt, erklärt, dass er lediglich faul sei und für alle Arbeiten eingesetzt werden könne. Die therapeutische Situation kann hier nicht vom sozialen Leben der Patientinnen und Patienten getrennt werden. Im Unterschied zu Grawes drittem Wirkfaktor der Problembewältigung zielen in den untersuchten Settings die Behandlungspraktiken auf den Kontext ab, in den die mit der Krankheit zusammenhängenden Gefühle eingebettet sind, und vernachlässigen die Unterschiede, die zwischen den Krankheitssymptomen bestehen. Die Klientinnen und Klienten können den Candomblé- und Umbanda-Tempel regelmäßig aufsuchen und die vielfältigen Angebote der Beratung, der Behandlung und des Feierns nutzen oder selbst Funktionen als Medien im Tempel einnehmen. Das Zusammenspiel der Diagnose ›spirituelle Probleme‹ mit der Einbettung in die kollektive Struktur des Tempels erweist sich als eine besondere Form der sozialen Unterstützung unter Bezugnahme auf die Präsenz der Geister. In diesem Zusammenhang ist es relevant, dass die Familienmitglieder oft an den Umbanda-Behandlungen und den Candomblé-Feiern teilnehmen. In der psychosomatischen Klinik können die Patienten in ri-
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tuellen Inszenierungen die basale Erfahrung machen, Teil überindividueller Bedeutungs-Zusammenhänge zu sein. Sie können erleben, dass auch ungewöhnliche und schwierige Erfahrungen in der Gruppe akzeptiert werden. In der Gemeindepsychiatrie findet die psychiatrische Versorgung direkt im familiären Alltag der Patientinnen und Patienten statt; die gesamte Familie wird von der Psychiatrie unterstützt. Die Psychiatrie scheint sich auf eine ergänzende Weise in das Alltagsleben einzufügen, das durch die psychische Krankheit bedroht ist: Mit dem Zugang zu den psychiatrischen Ressourcen werden Zugänge zu den Ressourcen des Alltags erschlossen. Für Grawe umfasst der Faktor der ›motivationalen Klärung‹ die Einsicht eines Klienten in die Bedingungen, die seine Probleme verursachen bzw. aufrechterhalten. In den drei untersuchten Settings sind die Klärungsprozesse hingegen nicht an die Therapeut-Patient-Dyade, sondern an die Gruppensituation gebunden. Entsprechend werden die ursächlichen Bedingungen der Probleme im sozialen Kontext verankert, im sinnlichen Erleben innerhalb von sozialen Beziehungen. Im Candomblé- und Umbanda-Tempel werden die Ursachen des individuellen Leidens über die Diagnose der Schwarzen Magie (catimbó) in die sozialen Beziehungen des Alltags eingebettet. Es handelt sich um Personen aus dem eigenen Umfeld, denen im Gespräch zwischen betroffener Person, Geistern, Medium und Familienangehörigen die böse Tat zugeschrieben wird. So scheinen soziale Konflikte aus dem Alltag aufgegriffen und entsprechende Lösungen angeboten zu werden. Mit Kelman (2006) könnte man sagen, dass eine Wertekongruenz im Gespräch aufgebaut wird. Dies funktioniert, weil der Glaube an Schwarze Magie grundsätzlich in den grundlegenden Werten des Alltagsumfelds der Klienten verankert ist, die im UmbandaRitual und seiner Konstruktion der Schwarzen Magie wiederum bestätigt werden (vgl. die Arbeit von Evans-Pritchard zu den Azande 1988). Man könnte deshalb die Patienten der drei Settings nicht beliebig austauschen. In der räumlichen Abgeschiedenheit und der klaren Struktur der psychosomatischen Klinik kristallisieren sich die zentralen Probleme des Alltags klarer heraus. Dabei läuft der Klärungsprozess vor allem indirekt über Austauschprozesse in den therapeutischen Gruppen ab, die nur teilweise durch die Therapeuten gelenkt werden. Dadurch bieten sich Lösungen im Austausch zwischen Individuum und Gemeinschaft. Man nimmt sinnlich an den Gruppenprozessen teil, mit der eigenen körperlichen Präsenz unterstützt man die anderen und erhält selbst Unterstützung, auf eine indirekte, in das soziale Geschehen eingebettete Weise. In der Gemeinde-
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psychiatrie bleiben die Patientinnen und Patienten in ihren alltäglichen Lebensumständen. Das psychiatrische Anliegen wird auf sinnliche Art Teil eines »freundschaftlichen« Besuchs, der sich auf die gesamte Familie mit ihren Alltagstätigkeiten bezieht. Die Erkrankung der Patienten und ihre Behandlung werden sinnlich mit der Alltagswelt verknüpft, sie gehören ebenso zum Alltag wie die Befindlichkeiten der Familienangehörigen und werden nicht als persönliches Defizit der Patienten gesehen. Der Faktor der Therapiebeziehung lässt sich nicht mehr an einzelnen Personen festmachen. Die Macht des Kontextes ist in allen drei Settings stark und beeinflusst individuelles Verhalten; individuelle Aspekte verschwinden zum großen Teil im sozialen Geschehen. Nicht ein Fachmann stellt die Gesundheit wieder her, sondern das Leben in einer Gemeinschaft kann eine gesundheitsfördernde Wirkung haben.1 Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung in zwei Arten, psychische Gesundheit und Krankheit zu konstruieren, kann man die Frage stellen, welche Art in welchen Fällen die nützlichere hinsichtlich einer Gesundheitsverbesserung ist. Ich habe im zweiten Kapitel erläutert, inwiefern die individualistische Konstruktion der Schizophrenie als Krankheit der Person problematisch werden und dem Genesungsprozess entgegenstehen kann. Hierfür sprechen auch die im ersten Kapitel vorgestellten Studien, nach denen Schizophrenie in den sogenannten Entwicklungsländern einen positiveren Verlauf nimmt (Zaumseil, 2006a; Hopper, 2004; Jenkins, 1991; Sartorius, Jablensky, Ernberg, Leff, Korten & Gulbinat, 1987; Kleinman, 1988; Waxler, 1977; Murphy & Raman, 1971). Bei der akuten psychotischen Krise scheinen die Annahme eines biologischen Prozesses und die Gabe eines Medikamentes hingegen sehr nützlich zu sein, wie es auch meine Daten aus der chilenischen Gemeindepsychiatrie nahelegen. Im Präventions- und Rehabilitationsbereich zielt man auf die Veränderungen der Lebensbedingungen ab (vgl. Klein-Lange, Schwartz & Sperling, 2003; Walter, Schwartz, Robra, Schmidt & Kuhlmey, 2003), wodurch das 1 | Die Perspektive, dass Arbeit in der Gemeinschaft gesundheitsförderlich sei, hatte auch für die historische Entwicklung der Psychiatrie eine wichtige Bedeutung (Schott & Tölle, 2006, S. 435ff.). So entwickelte sich im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der christlichen Tradition die ›moralische Therapie‹: In Anlehnung an das bürgerliche Familienideal lebten und arbeiteten Patienten und Betreuer gemeinsam unter einem Dach (Porter, 2005; vgl. Leibbrand & Wettley, 2005).
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soziale Modell relevant wird. Denn es reicht nicht aus, individuelle Einstellungen und Überzeugungen zu verändern; bedeutend wirksamer ist eine gemeinsame, gesellschaftsbezogene Anstrengung, seinen Lebensstil und die alltäglichen Kontextbedingungen gesundheitsförderlicher zu gestalten. Entsprechend werden in den Programmen von New Public Health die als gesundheitsförderlich angesehenen Interventionsmaßnahmen grundlegend in die Lebenswelt eingebettet (vgl. Rosenbrock, 2002). Effiziente Gesundheitsförderung lässt sich dadurch nicht länger am Individuum festmachen. Vor diesem Hintergrund ist meine Untersuchung relevant, weil sie die Überzeugungen von Personen in soziale und kulturelle Kontexte einbettet, sie also in konkreten physischen Umgebungen und alltäglichen Vollzügen, sprich: ihrem Lebensstil verortet. Mit dem hier vorgestellten Modell bzw. den empirischen Daten aus den Untersuchungssettings lassen sich Zusammenhänge herstellen zwischen Änderungen des individuellen Lebensstils und Veränderungen der Kontextbedingungen. Individuelle Lebensstile sind in diesem Modell immer auf soziale Bedeutungssysteme bezogen.
6.3 S PANNUNGSFELD Z WISCHEN SUBJEK TIVEM UND OBJEK TIVEM G ESUNDHEITSBEGRIFF Einerseits habe ich mich bei der Darstellung der Untersuchungsergebnisse im Spannungsfeld zwischen einem individuellen und sozialen Blick auf Gesundheit und ihre Förderung bewegt, andererseits tat sich ein weiteres Spannungsfeld auf, das zwischen einem subjektiven und objektiven Gesundheitsbegriff liegt. Beide Spannungsfelder stehen zwar im Zusammenhang miteinander, die jeweiligen Akzentuierungen lassen sich jedoch sehr unterschiedlich miteinander verknüpfen. Man kann ›subjektiv‹ und ›objektiv‹ erneut als unterschiedliche Arten auffassen, psychische Gesundheit zu konstruieren. Einerseits habe ich dargestellt, inwiefern Personen unterschiedliche Settings subjektiv als gesundheitsrelevant erleben. Problematisch daran ist, dass Menschen sich zwar gesund fühlen, jedoch im medizinischen Sinne immer noch krank sein können. Ich kann nicht empirisch nachweisen, dass die Maßnahmen der Settings zu objektiv geringerem Auftreten von Krankheiten führen. Andererseits verortet das Konzept des ›geteilten Sinnerlebens‹ die mögliche gesundheitliche Verbesserung in objektiven, physischen Kontexten und berücksichtigt, inwiefern die Teil-
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nehmenden in den Settings Zugang zu tatsächlich vorhandenen Ressourcen erhalten – und bietet damit zumindest einen indirekten Nachweis der Wirkung. Die Ottawa-Charta der WHO (1986) bietet einen Ansatz, wie die beiden Spannungsfelder ›individuell‹ und ›sozial‹ sowie ›subjektiv‹ und ›objektiv‹ aufgelöst werden können, weshalb ich die Charta als Referenzpunkt für die weitere Diskussion verwenden möchte. Nach der Charta soll Gesundheitsförderung den Menschen mehr Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglichen und sie dadurch befähigen, ihre Gesundheit zu stärken (vgl. Zaumseil, 2006b, S. 30). Dabei bezieht sich die Charta auf das subjektive Wohlbefinden zur Erfassung von Gesundheit (vgl. Trojan & Legewie, 2008, S. 20). Gleichzeitig enthält die Charta zumindest implizit eine objektive Dimension zur Charakterisierung von Gesundheit, denn als Grundlage der Gesundheitsförderung gilt das Schaffen unterstützender alltäglicher Umweltbedingungen: In lokalen Settings sollen gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen gefördert werden, in denen Bürger und Patienten ihre Umgebung aktiv mitgestalten (Empowerment) und ihre persönlichen und gemeinschaftlichen Kompetenzen stärken (Enablement) (vgl. Zaumseil, 2006b, S. 30f.). Mit dem Bezug auf einen sozialräumlichen Setting-Ansatz wie gesundheitsförderliche Städte, Betriebe, Schulen oder Krankenhäuser wird Gesundheitsförderung in einer objektiven, physischen Umgebung verankert. Allerdings bleibt die Definition des Setting-Begriffs vage (vgl. Trojan & Legewie, 2008, S. 112), und damit fehlt eine explizite Charakterisierung der Beziehung zwischen dem subjektiven Erleben von Personen und den wechselnden objektiven Kontexten, in denen sie sich bewegen. Die Untersuchung dieser Wechselbeziehungen bildete hingegen den Schwerpunkt meiner Arbeit. Diese Ungenauigkeiten spiegeln sich in der unklaren Konzeptualisierung von Empowerment und Enablement wider. Bei beiden Konzepten wird die grundsätzlich soziale Perspektive auf Gesundheit, die die Charta vertritt, nicht konsequent zu Ende verfolgt. Im Konzept des Empowerment sind implizit westlich geprägte Wertorientierungen enthalten, die nicht ausreichend thematisiert werden. Riger (1993) kritisiert, dass in der Untersuchung des Empowerment-Konzepts das individualistische, mit dem männlichen Stereotyp verbundene Durchsetzungsverhalten favorisiert werde. In dieser Arbeit wurde Empowerment hingegen an die Zugehörigkeit zu Gruppen und zu ihren kulturell geprägten Wertesystemen geknüpft. Als
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theoretischer Referenzrahmen dient der Charta Antonovskys (1997) salutogenetisches Modell. Problematisch ist daran, dass das Konzept des Kohärenzsinns als individuumsbezogene Persönlichkeitseigenschaft gefasst ist und damit im Widerspruch zum grundlegend sozialen Gesundheitsbegriff der Charta steht. Trotz dieser theoretischen Referenz weist der Ansatz des Enablement jedoch über diese starre Annahme einer Persönlichkeitseigenschaft hinaus und bezieht sich auf prozessorientiertes Handlungswissen (vgl. Trojan & Legewie, 2008, S. 90). Deswegen sehe ich in diesem Konzept einen vielversprechenden Ausgangspunkt für Verallgemeinerungen, auf die ich im Folgenden und letzten Teil dieses Kapitels zurückkommen werde. Zuvor möchte ich auf die in den beiden Konzepten enthaltenen Spannungen zwischen ›subjektiv‹ und ›objektiv‹ zu sprechen kommen. Wenn man Empowerment untersucht, besteht die Gefahr, aus der subjektiven Beteiligung von Nutzern an Entscheidungsprozessen auf den tatsächlichen Zugang zu objektiv vorhandenen Ressourcen zu schließen (vgl. Riger, 1993). Unter dem Konzept des Enablement lassen sich sehr unterschiedliche persönlich oder gemeinschaftlich zurechenbare Kompetenzen fassen. In Modellen zur Erfassung individueller Kompetenzen wie Kohärenzsinn (Antonovsky, 1997) oder Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura, 1997) werden subjektive Überzeugungen mit möglichst objektiven Maßen für Gesundheit verbunden. In der aktuellen Forschung wird der Schwerpunkt hingegen auf sozial-strukturelle Ungleichheiten und bevölkerungsbezogene Merkmale wie das Sozialkapital gelegt (Kickbusch, 2003, S. 184). Putnam (1995) definiert ›social capital‹ als »features of social organisation such as networks, norms, and social trust that facilitate coordination and cooperation for mutual benefit« (S. 67). Weiterführend ist die Differenzierung in ›structural‹ und ›cognitive social capital‹, denn hiermit werden die subjektiven und objektiven Anteile des Konzepts deutlich. ›Structural social capital‹ umfasst mit der Zugehörigkeit zu Gruppen, der Beteiligung an bürgerrechtlichen Aktivitäten und der Unterstützung von Individuen in der Gemeinde objektive Merkmale. Zu ›cognitive social capital‹ gehören mit Vertrauen, sozialer Harmonie, wahrgenommener Fairness und Zugehörigkeitsgefühl eher subjektive Komponenten. Beide Dimensionen lassen sich sowohl auf der individuellen Ebene als auch auf der gemeindebezogenen Ebene untersuchen (Dudwick, Kuehnast, Jones & Woolcock, 2006). De Silva, Huttly, Harpham & Kenward (2007) untersuchen Korrelationen zwischen beiden Dimensionen und ›common mental disorders‹ bei jungen, ökonomisch armen Müttern aus Peru, Äthiopien, Vietnam und dem indi-
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schen Bundesstaat Andhra Pradesh. Individuelles kognitives soziales Kapital hängt in allen vier Ländern mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit für ›common mental disorders‹ zusammen. Die Ergebnisse für strukturelles soziales Kapital sind heterogener, einige Aspekte gehen kulturspezifisch auch mit erhöhten Wahrscheinlichkeiten für ›common mental disorders‹ einher. Hieraus schlussfolgern die Autoren, dass ›structural social capital‹ eher kontext-spezifische und ›cognitive social capital‹ eher universale Wirkungen zu haben scheint. Anders als in den individuellen Konzepten der Gesundheitsförderung wird in dem Modell des Sozialkapitals der Erwerb von Kompetenzen an den Zugang zu objektiven Ressourcen in sozialen Kontexten gebunden, wie ich es auch in dieser Arbeit getan habe. Von dieser Überlegung ausgehend werde ich nun abschließend diskutieren, inwiefern sich die in dieser Untersuchung vorgestellten Perspektiven auf psychische Krankheit und Gesundheit verallgemeinern lassen.2
6.4 V ER ALLGEMEINERUNGSMÖGLICHKEITEN Ich habe das hier vorgestellte Konzept des ›geteilten Sinnerlebens‹ in drei Bereichen untersucht: als soziales Phänomen, hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit sowie in Bezug auf seine Alltagsbezogenheit. Die folgende Grafik gibt noch einmal einen Überblick: Abbildung 5: Geteiltes Sinnerleben
2 | Vgl. zu den Möglichkeiten und Grenzen von Verallgemeinerungen die Diskussion im ›Forum: Qualitative Sozialforschung‹ z.B. Mayring, 2007 oder Metcalfe, 2005.
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Die unterschiedlichen qualitativen Ausformungen dieser drei Bereiche wurden für jedes Setting dargestellt. Vor dem Hintergrund des zuvor eröffneten Spannungsfeldes zwischen einem individuellen und sozialen bzw. subjektiven und objektiven Gesundheitsbegriffs möchte ich im Folgenden diskutieren, inwieweit die vorgestellten kulturspezifischen Ausformungen dieser drei Aspekte auch Hinweise auf universale Prozessaspekte in der Verarbeitung psychischen Krankseins liefern können. Im zweiten Kapitel habe ich in der Diskussion von Recovery als eines zentralen Problems, das chronische psychische Krankheit mit sich bringt, die Brüche in den Biographien der Betroffenen hervorgehoben: Die Lebensziele einer Person, die Bedeutungen, die sie sich selbst und der Welt zuschreibt, werden durch die psychische Krankheit stark erschüttert (Kloos, 2004). Deswegen stellt sich die Frage, auf welche Weise es möglich wird, mit ebendiesen Brüchen zurechtzukommen, ein Phänomen, das sich als »positive« Sinnstiftung bezeichnen lässt. Ich habe in dieser Arbeit untersucht, unter welchen Bedingungen eine solche positive Sinnstiftung möglich wird. Nützlich war zunächst die Orientierung an Wulffs (1992) Charakterisierung von Sinn als subjektive Perspektive einer Person auf verallgemeinerte Bedeutungen. So gesehen ordnet eine Person, die in der gemeindepsychiatrischen Einrichtung die Diagnose Schizophrenie bekommt, ihre subjektiven »verrückten« Erfahrungen in die allgemeinen Bedeutungen des Schizophrenie-Konzepts ein. In dem Candomblé- und Umbanda-Tempel ordnet eine Person ihre Erfahrungen hingegen in die allgemeinen Bedeutungen des Konzepts der ›spirituellen Probleme‹ ein. Ich habe diese Einordnungsprozesse nicht als einen individuellen kognitiven Akt vorgestellt, sondern als ein sinnliches Erleben in einem sozialen Geschehen. In der Gemeindepsychiatrie wird nicht dasselbe Konzept von Schizophrenie vermittelt wie etwa in einer Berliner Psychiatrie, sondern im Kontakt mit den Mapuche-Patienten und ihren Angehörigen entstehen emische Bedeutungen von Schizophrenie, die an die zwischenmenschlich geteilten, sinnlichen Erlebnisse geknüpft sind. Das ist ein wichtiger Punkt: »Positive Sinnstiftung« wird in dieser Arbeit als der Erwerb von Handlungswissen verstanden. Mit dem Erwerb von Handlungswissen ist der Zugang zu Ressourcen verknüpft. Mit Hobfoll (2001) kann man argumentieren, dass therapeutische Settings soziale Unterstützung bereitstellen müssen, mit deren Hilfe dem Ressourcenverlust durch die psychische Krankheit begegnet werden kann. Der Zugang zu Ressourcen scheint jedoch nicht hinreichend für die Genesung zu
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sein. Es finden sich beispielsweise Hinweise, dass es für viele Patienten in Deutschland sehr schwierig ist, in einen Alltag jenseits der psychiatrischen Versorgungsangebote zurückzukehren; häufig scheinen sie abhängig vom weiteren psychosozialen Versorgungsnetz aus Tagesklinik, ambulanter Behandlung und/oder therapeutischen Wohngemeinschaften zu bleiben (Flick, 2002b, S. 12). Das würde bedeuten, dass diese Patienten über das psychiatrische Versorgungssystem zwar Zugang zu Ressourcen erhalten, die sehr hilfreich sein können, die jedoch gleichzeitig mit dem (versteckten) Ressourcenverlust eines gewohnten Alltags einhergehen. Deswegen scheint es notwendig zu sein, dass die therapeutischen Maßnahmen einer gesundheitsfördernden Einrichtung an den Alltag ihrer Teilnehmenden gebunden sind; sie sollten gewissermaßen selbstreflexiv sein, indem sie die Teilnehmenden mit einem Handlungswissen versehen, das Zugang zu Ressourcen im konkreten physischen Alltag ermöglicht. Brücken zwischen den Settings und dem Alltag der Teilnehmenden müssen entstehen, damit die therapeutischen Maßnahmen nachhaltig wirken (vgl. zur potentiellen Fragilität therapeutischer Settings: Moos, 2003a). Der kontextübergreifende Anteil meines Modells des ›geteilten Sinnerlebens‹ weist Parallelen auf zum Konzept des ›cognitive social capital‹ mit seinen spezifischen Merkmalen Vertrauen, soziale Harmonie, wahrgenommener Fairness und Zugehörigkeitsgefühl. Allerdings ist der kontextübergreifende Anteil hier nicht kognitiv, sondern mimetisch (vgl. Wulf, 2005). Csordas (1994, 1990) formuliert das Paradigma des ›Embodiment‹ als Kontinuum von Person und Körper sowie von Individuum und sozialer Gruppe. Problematisch ist an Csordas’ Konzeption die Auflösung des kulturellen Objekts. Ich habe für die drei Settings gezeigt, wie gerade die Wechselwirkung zwischen den sinnlich wahrnehmenden, teilnehmenden Subjekten und den objektiven Bedeutungen zu ihrer gesundheitsförderlichen Wirkung beiträgt. Im sozialen Geschehen, in den performativen Praktiken lösen sich die Grenzen zwischen Person und Körper, Individuum und sozialer Gruppe, Individuum und physischem Setting auf; sie fallen aber nicht zusammen, wie es Csordas formuliert. Die drei Settings lassen sich als Kulturen verstehen, mittels derer auf eine sinnliche Art Bedeutungsstrukturen vermittelt werden, die auf eine komplementäre Weise die Bedeutungsstrukturen aus dem Alltag der Teilnehmenden zu stabilisieren scheinen. Die Phänomene, die in dieser Arbeit als ›sakral‹ bezeichnet wurden, sind Erfahrungen des Eingebunden-Seins in geteilte Bedeutungssysteme. Es wurden intensive sinnliche Erfahrungen in sozialen Aktivi-
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täten beschrieben, die einen ›heiligen Charakter‹ erhalten. Das heißt, die ›heiligen Phänomene‹ sind keine ›privaten‹ Erfahrungen, sondern zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie auf kollektive Bedeutungsstrukturen bezogen sind. Die Spezifik des in den Settings erworbenen praktischen Wissens liegt darin, dass es sowohl an das soziale Geschehen im Setting als auch an die Alltagskontexte der Teilnehmenden angebunden ist. ›Geteiltes Sinnerleben‹ ist damit der emotional-körperliche Erwerb kollektiver Bedeutungen, die entlastende Orientierung im Alltag bieten.
Schlussbemerkungen
In dieser Arbeit wurden soziale und kulturelle Kontexte als wichtige Ressource für die Gesundheitsförderung vorgestellt. Die Kontexte wurden über den Zugang des ›Settings‹ erfasst, verstanden als Wechselbeziehung zwischen materiellen Gegebenheiten, Diskursen und der emotional-körperlichen Teilnahme eines Individuums am sozialen Geschehen. Den drei untersuchten Settings ist gemeinsam, dass sie erstens Phänomene aufweisen, die sich dem Konstrukt der Schizophrenie zuordnen lassen, dass zweitens in ihnen die menschliche Gemeinschaft eine zentrale Rolle spielt und dass drittens in der therapeutischen Behandlung spirituelle Dimensionen relevant sind. Gleichzeitig sind die Settings jedoch in sehr unterschiedliche lokale Wertsysteme eingebettet. In diesem »Spannungsfeld der Kulturen« (van Eeuwijk & Obrist, 2006, S. 8) zeichnete sich das in dieser Arbeit vorgeschlagene Konzept des ›geteilten Sinnerlebens‹ in den empirischen Daten ab. Seine Spezifik habe ich in der These zusammengefasst, dass bei Schizophrenie (und anderen schweren psychischen Störungen) eine spezifische Form der Sinnstiftung gesundheitsfördernd sein kann. Diese »positive« Sinnstiftung ist daran gebunden, dass eine Person emotional und körperlich am sozialen Geschehen bestimmter Settings teilnimmt. ›Gesundheitsfördernd‹ bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem, dass ein Mensch mit seiner Erkrankung im Alltag zurechtkommt, was – abhängig vom Kontext – etwas sehr Unterschiedliches heißen kann. In dieser Arbeit habe ich methodisch zwar auf psychische Gesundheit fokussiert, in den Daten fanden sich jedoch immer wieder Hinweise auf die Unmöglichkeit der Trennung von psychischer und körperlicher Gesundheit. Aus diesem Grund habe ich die spezifische These erweitert, indem ich die Bindung an ein emotionales, körperliches und soziales Geschehen als ein mögliches Konzept von ›Gesundheit‹ vorgeschlagen habe. In diesem breiteren Verständnis verortet das hier entwickelte Konzept des ›geteilten
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Sinnerlebens‹ Gesundheitsförderung in der physischen Umgebung eines Settings und zugleich in alltäglichen Vollzügen. Die Wechselwirkung zwischen objektiven Gegebenheiten und der subjektiven Teilnahme an alltagsnahen, mit anderen Personen geteilten Praktiken kann eine gesundheitliche Verbesserung ermöglichen. Mein Ansatz steht im Gegensatz zur Hauptströmung der heutigen Psychologie: Diese setzt weitgehend voraus, dass psychische Störungen kulturunabhängig auftreten und behandelbar sind. Entsprechend werden in dem dominanten Forschungsprogramm der Cross-Cultural Psychology mit experimentellen Methoden große Stichproben aus unterschiedlichen Ländern miteinander verglichen, um universal gültige psychologische Gesetzmäßigkeiten zu belegen (Poortinga, 1977; Berry, Poortinga, Segall & Dasen, 1992). Die Mehrdimensionalität und Verwobenheit kultureller Praktiken und Bedeutungen in den betrachteten Kulturen und individuellen Biographien (vgl. Schlehe, 2006) wird nicht ausreichend berücksichtigt. Zukünftige Forschung sollte daher m.E. bei der Theoriebildung, den Erkenntnissen aus Ethnologie und Kulturwissenschaften folgend, kulturelle Faktoren und kulturelle Differenz als mögliche Einflussgröße des menschlichen Zusammenlebens mehr berücksichtigen. In den Untersuchungsansätzen der Gemeindepsychologie (Röhrle, 2005; Duffy & Wong, 2000; Keupp, 1997) und der Kulturpsychologie (z.B. Zielke, 2004; Shweder & Sullivan, 1993) bzw. der Klinischen Kulturpsychologie (Zaumseil, 2007) geschieht dies bereits. In der Ethnologie werden psychologische Erklärungsmodelle aufgegriffen und auf konkrete Kontexte übertragen. Stärker als die Gefahr einer unreflektierten Verwendung dieser Konzepte scheinen mir dabei die Chancen zu sein, zentrale Begriffe wie Stress, Vulnerabilität, Resilienz oder Emotion im interdisziplinären Austausch theoretisch weiter zu fundieren und ihre Praxisrelevanz kontextspezifisch zu überprüfen (z.B. Röttger-Rössler & Markowitsch, 2009; Obrist, 2006; Röttger-Rössler, 2004). Denn ethnologische Studien sensibilisieren für die kulturelle Bedingtheit philosophischer und psychologischer Grundannahmen wie der westlichen Geist-Körper-Dichotomie oder des Konzeptes einzelner, dauerhafter Persönlichkeiten (vgl. Kleinman, 1996). In vielen Teilen der Welt erscheinen die Grenzen zwischen Person und Körper sowie zwischen Individuum und sozialer Gruppe als fließend, wie es auch Csordas (1997, 1990) im Paradigma des Embodiment formuliert. Gesundheit und Krankheit stehen oft im Kontext religiöser Erklärungsmodelle und ritueller Heilungsversuche (z.B. Hörbst, 2008; Otten, 2006; Whyte, 1989), die da-
S CHLUSSBEMERKUNGEN
von ausgehen, dass Menschen durch die Einflüsse von Hexerei und Geistern krank werden können (z.B. Behrend & Luig, 1999; Evans-Pritchard, 1988). Vor diesem Hintergrund müssen globale Diskurse von Krankheit und Gesundheit immer im Kontext interkultureller Dynamiken gesehen werden. Konzepte wie Selbstbestimmtheit und der Zugang zu Ressourcen, die in der Ottawa-Charta (WHO, 1986) als notwendig für eine gesunde menschliche Entwicklung gelten, werden lokal sehr unterschiedlich interpretiert (vgl. Robertson, 1998). Medizinische Settings interagieren in der globalisierten Alltagswelt ihrer Nutzer und lassen lokal neue Bedeutungen im Hinblick auf Gesund- und Kranksein entstehen, wie es Ferzacca (2001) in der indonesischen Stadt Yogyakarta hinsichtlich chronischer körperlicher Erkrankungen untersucht hat. Der spezifische Kontext, in den ein Medizinsystem eingebettet ist, beeinflusst als sozialer Prozess die Identitätskonstruktionen der teilnehmenden Personen. Krankheit repräsentiert für Ferzacca, über die Somatisierung von psycho-sozialem Stress hinausweisend, im alltäglichen sozialen Beziehungsnetz auch das Spannungsfeld globaler und lokaler Gesundheitsdiskurse (vgl. Wiencke, 2009f.). Mein methodischer Zugang entspricht nicht der medizinisch-naturwissenschaftlichen Herangehensweise. Man könnte jedoch das Konzept des ›geteilten Sinnerlebens‹ – mit den drei vorgestellten Bereichen ›soziales Geschehen‹, ›Bedeutsamkeit‹ und ›Alltagsbezogenheit‹ – auch nutzen, um den Komplex geteilter Bedeutungen und Praktiken eines Settings an quantitativ messbare Gesundheitsindikatoren zu binden. Auch die theoretische Perspektive ließe sich erweitern: Das Konzept des ›geteilten Sinnerlebens‹ könnte als Orientierung dienen, um beispielsweise Kliniken der chirurgischen Onkologie oder der Herzchirurgie sowohl qualitativ als auch quantitativ zu evaluieren. Hermann (2005) beschreibt eine Spezialklinik für Sarkom-Erkrankungen, Zaumseil (2007) eine Herzchirurgie mit anschließendem Aufenthalt in einer Reha-Klinik als vom Alltag abgekoppelte Welt. Zaumseil (2007) charakterisiert diese Herzchirurgie mit den Sätzen: »Typisch für dieses Setting erschien mir die Abwesenheit jeglichen Bewusstseins für die kulturelle Spezifik dessen, was dort geschieht. Es ist die Abwesenheit jeglicher Selbstreflexivität« (S. 102). Über rationale medizinische Techniken wird ein ›Arrangement der Hoffnung‹ (Hermann, 2005) zwischen Ärzten und Patienten geschaffen, in dem die Bedrohung durch den Tod zwar verschwindet – allerdings um den Preis erheblicher emotionaler Belastung für die Patienten und ihre Angehörigen. In dieser Arbeit wurde hingegen beschrieben, wie über die Brücken zum Alltag sowohl das
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Setting als auch der Alltag selbst auf eine sinnlich-körperliche Art reflektiert werden können. Daher wäre eine relevante Frage für Forschung und Praxis, ob und inwiefern sich der individuelle Umgang z.B. mit Herz- oder Krebserkrankungen ändern würde, wenn die medizinischen Praktiken alltagsnäher gestaltet würden.
Glossar
brujeria | Spanisch: Hexerei Der Glaube an Hexerei ist in den MapucheGemeinden weit verbreitet. Es wird angenommen, dass es Personen gibt, die gegen Bezahlung anderen Menschen auf magische Art Schaden zufügen (vgl. Faron, 1989, S. 335). caboclos/caboclas | tupi: kari´boka: von Weißen abstammend, Halbblutindianer/innen Im Candomblé und vor allem in der Umbanda kultivierte Indianergeister (Scharf da Silva, 2004, S. 229) Candomblé | bantu: »ein Ort, an dem getanzt wird« In Brasilien entstandene synkretistische Religionsform; sie geht auf die unterschiedlichen Glaubensvorstellungen der afrikanischen Sklaven sowie katholische Einflüsse zurück (Sjørslev, 1999, S. 593). catimbó
Schwarze Magie
desobsessão erê
Ritual, das zur Aufhebung von Besessenheit dient.
Kindlicher Begleiter der orixás (Wafer, 1994, S. 198)
exú | aus dem yorúbà: hier »ésù«: Trickster-Figur Im Candomblé ist exú ein orixá. In der Umbanda existiert eine Gruppe von exús, die als Geister gelten und auf menschliche Bitte Gutes oder Schlechtes bewirken können (Scharf da Silva 2004, S. 158-163). Fechar-o-corpo Am Ende des Rituals zur Aufhebung von Besessenheit wird der Körper eines Klienten zum Schutz vor negativen Geistern verschlossen.
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Kardezismus (brasilianisches Portugiesisch: Kardecismo) Allan Kardec begründete diese Variante des Spiritismus Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich. In Brasilien erlangte der Kardezismus in der Folge eine große Bedeutung (Wafer, 1994, S. 199). machi Heiler/in der Mapuche. Die Mehrheit der machi sind Frauen. Traditionell waren sie die zentrale moralische Instanz in den Gemeinden (Faron, 1989, S. 324). mãe-de-santo | brasilianisches Portugiesisch: Mutter des Heiligen Als ranghöchste weibliche Person in der religiösen Hierarchie des Candomblé und der Umbanda initiiert die mãe-de-santo die Angehörigen ihres terreiro und fördert ihr spirituelles Leben (Scharf da Silva, 2004, S. 233). manifestada Verkörperung der Geister und Götter in den Medien obsessão Besessenheit bzw. Inbesitznahme durch einen Geist, die bei der betroffenen Person zu Problemen führt. orixá | yorùbá: orìsá, abgeleitet von ori: Kopf Bezeichnung für eine Gottheit (Scharf da Silva, 2004, S. 233) pomba gira | aus dem Kimbundu: »pambuanjila«: Kreuzweg Weibliche Entsprechung von exú (Scharf da Silva, 2004, S. 233) pai-de-santo Männliche Entsprechung der mãe-de-santo (Scharf da Silva, 2004, S. 233) pretos velhos/pretas velhas | brasilianisch: Alte Schwarze Ahnengeister von Schwarzafrikaner/innen, die als Sklav/innen während der Kolonialzeit in Brasilien lebten (Scharf da Silva, 2004, S. 234). Resonanzkreis In der psychosomatischen Klinik werden viele Veranstaltungen eröffnet und abgeschlossen, indem sich alle Teilnehmenden in einem Kreis an den Händen halten. terreiro | brasilianisches Portugiesisch: Gelände, freier Platz Im Candomblé ist dies der sozioreligiöse Raum, in dem die afrobrasilianischen
G LOSSAR
Gottheiten bzw. Geister kultiviert werden. Auch Personen, die nicht in den Kult initiiert sind, können das terreiro mit ihren Anliegen aufsuchen (Scharf da Silva 2004, S. 234). Der Begriff bezeichnet manchmal auch die Kulthäuser der Umbanda (Sjørslev, 1999, S. 598). Umbanda | umbundu, kimbundu: Medizin, Heilkunst Im Zentrum dieser synkretistischen brasilianischen Religion stehen die Inkorporationen von Geistern brasilianischer Randgruppen wie den caboclos/caboclas und den pretos velhos/pretas velhas (Scharf da Silva, 2004, S. 234).
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Gabriele Cappai, Shingo Shimada, Jürgen Straub (Hg.) Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns 2010, 304 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-793-6
Claudia Schirrmeister Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur 2010, 230 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1563-0
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Kultur und soziale Praxis Anne C. Uhlig Ethnographie der Gehörlosen Kultur – Kommunikation – Gemeinschaft Oktober 2011, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1793-1
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Kultur und soziale Praxis Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Rassismus bildet Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft 2010, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1456-5
Nesrin Z. Calagan Türkische Presse in Deutschland Der deutsch-türkische Medienmarkt und seine Produzenten
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