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German Pages 248 Year 2014
Christine Dissmann Die Gestaltung der Leere
Christine Dissmann (Dr.-Ing.) arbeitet freiberuflich als Architektin, Stadtforscherin und Autorin. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf Konstruktion, Wahrnehmung und Vermittlung städtischer Wirklichkeit.
Christine Dissmann
Die Gestaltung der Leere Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit
Die Arbeit wurde als Doktorarbeit an der Technischen Universität Cottbus eingereicht, Lehrstuhl Theorie der Architektur. Betreuung: Prof. Dr. E. Führ
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I N H AL T
Einführung Fragestellungen Methodik Einordnung in den Forschungskontext
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Theoretische Betrachtungen zum Phänomen der Leere Erste Annäherungen Ordnung und Leere Raum und Leere Wandel und Leere Arten der Leere Materielle Leere Immaterielle Leere Leere im Kontext konkreter Raumsituationen Die Zelle Das Prinzip White Cube Gebaute und ungebaute Leere Das Verschwinden von Orten Alleinsein und Einsamkeit Die Leere als dramaturgisches Moment Die dichotomen Lesarten von Leere
19 19 21 25 30 31 33 39 42 43 46 52 59 63 65 68
Die urbane Brache Unbebaute Räume in der Stadt Urbane Leere als Folge von Umbrüchen Perspektiven der Stadtentwicklung Veränderung des Stadtraumes durch Brachen Die Morphologie der leeren Stadt Gesellschaftliche Implikationen der leeren Stadt Das Bild der leeren Stadt Deutungsmuster der Brachenleere Der Euphemismus der Politik
71 71 73 76 81 81 95 111 116 117
Der Pragmatismus der Wohnungswirtschaft Der Katastrophismus der Medien Überflüssige Menschen in überflüssigen Räumen Die Abenteuerrhetorik der Planungsdisziplinen
118 119 121 122
Die Gestaltung der Leere Strategien der Ausgliederung Grenzmanöver Die Herstellung von Unsichtbarkeit Vernichtung von Leere Rückholen und Wiedereingliedern Füllen Anverwandlung Abwarten und Liegenlassen Wartestrategien Entwürfe und Projekte zur Stilllegung von Gebäuden Das Dornröschenprinzip Der ideelle Gehalt des Dornröschenprinzips Umsetzbarkeit und Forschungsbedarf Hinter dichten Hecken und hohen Mauern
129 131 131 135 138 156 157 161 196 197 199 204 212 214 218
Resümee und Ausblick
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Quellenverzeichnis
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EINFÜHRUNG
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Für das Jahr 2015 prognostizieren Stadtforscher weltweit 60 Megacities mit insgesamt über 700 Millionen Einwohnern, wobei sich der Prozess der Verstädterung vor allem auf die Metropolen der Entwicklungsländer in Asien, Afrika und Lateinamerika konzentriert, deren rasantes Anwachsen Medien und Fachwelt mit Interesse beobachten. Als gegenläufiger Trend ist in den hoch entwickelten Industrieländern ebenso wie in den osteuropäischen Transformationsländern die bereits seit einigen Jahrzehnten stattfindende rückläufige Bevölkerungsentwicklung vieler Städte unübersehbar geworden. Als Folge des wirtschaftlichen Strukturwandels, der globalen Vernetzung und Mobilität, des Geburtenrückgangs und der Suburbanisierung sehen sich gerade wohlhabende, hoch industrialisierte Länder zunehmend mit ausdünnenden Dörfern und Städten sowie unterausgelasteten Infrastrukturen konfrontiert. Bislang ist offen, inwieweit sich dieses unter dem Schlagwort „schrumpfende Städte“ seit einigen Jahren nicht nur in der Fachwelt diskutierte Phänomen von den zahlreichen Phasen abnehmender städtischer Populationsdichten der Geschichte unterscheidet, die Naturkatastrophen, Epidemien, Kriege, versiegende natürliche Ressourcen oder politische Ereignisse verursacht haben. Eindeutig beobachtet werden kann jedoch ein sich verschärfender globaler Konkurrenzkampf zwischen Städten und Regionen, der zu einer zunehmend ungerechten Verteilung von Macht und Wohlstand unter und innerhalb der Länder führt und für eine wachsende Ungleichheit der Einkommen, Vermögen, der Teilhabe und der Chancen der Bevölkerung sorgt. In Deutschland wie in vielen Teilen Europas und der westlichen Welt zeichnet sich als
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Folge die Tendenz zu einer sozialräumlichen Polarisation in Gewinnerund Verliererregionen ab. Während sich einige Teile Deutschlands wie der Neckarraum, der Großraum München oder Dresden und Umland zu global konkurrenzfähigen Boomregionen mit teilweise zweistelligen Wachstumsraten entwickeln, sind andere Städte vor allem im Osten und an den Randgebieten der Republik von Arbeitslosigkeit, Armut und Verödung bedroht. Diese gegenläufige Entwicklung vollzieht sich parallel und zum Teil in großer räumlicher Nähe zueinander, mitunter sogar, wie am Beispiel Leipzigs ersichtlich, innerhalb derselben Stadt. Der weltweit stattfindende Strukturwandel trifft die Städte und Regionen in höchst unterschiedlicher Weise und stellt sie vor unterschiedliche Aufgaben, die Voraussetzungen der Städte zur Bewältigung des Wandels variieren stark. Städte mit einer stabilen oder wachsenden Ökonomie können in der Regel in vertrauter Weise auf KapitalInvestitionen für die Steuerung der notwendigen Umstrukturierungsprozesse zurückgreifen, während Städte mit Strukturproblemen nach neuen Gesetzmäßigkeiten und Instrumenten für ihre Stadtentwicklung suchen müssen. Durch die Zeitgleichheit dieser Prozesse leidet Deutschland gleichzeitig unter hohem Immobilienleerstand und einem seit Jahren unvermindert hohen Flächenverbrauch (circa 100 Hektar Land/Tag1) für Siedlungs- und Verkehrszwecke. Die Konkurrenz um Ressourcen, die Wohnbedürfnisse der Menschen, die Nachfrage von Industrie und Gewerbe nach unverbrauchter Siedlungsfläche und nicht zuletzt der hohe Aufwand, der zur Reaktivierung und Regenerierung verbrauchten Baulandes notwendig ist, führt selbst unter solchen Städten, deren Einwohnerzahl und Wirtschaftsaktivität schrumpfen, zu neuen Flächenausweisungen. Eine weitere Ausdehnung in die Fläche einerseits, brach fallende Zentren, verödende Plätze und Straßenzüge, vernagelte Fenster von Wohngebäuden und ein allmählich verwahrlosender öffentlicher Raum andererseits sind, gleichsam als Nebenprodukt von Wandel und Erneuerung, die sichtbaren äußeren Anzeichen der strukturellen Veränderung der Städte. Doch die entleerten, im klassisch-ökonomisch Sinne „überflüssig“ gewordenen Räume sind weit mehr als nur das äußere Indiz des Strukturwandels und daraus folgenden ökonomischen, ökologischen, sozialen, infrastrukturellen und versorgungstechnischen Probleme in Deutschland, sie sind ein Dilemma mit eigenständiger Relevanz. Der Teufelskreis aus ökonomischem Niedergang und Abwanderung und die Zunahme verbrauchter, untergenutzter Räume führt zu einer schleichenden, aber tiefgreifenden physischen Veränderung der betroffenen Städte, 1
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Unter: http://www.umweltbundesamt.de/boden-und-altlasten/index.htm, Zugriff am 22.4.2010.
EINFÜHRUNG
die als Auflösung tradierter Raumzusammenhänge und Verschwinden von Stadtbildern lesbar wird. Die Wahrnehmung und Deutung dieses Vorgangs wird im Regelfall vom Kontext der Krise geprägt: der Anblick verlassener Brachräume ist für die meisten Betrachter mit der Assoziation von Verlust, Scheitern und fehlender Zukunftsperspektive verbunden. Dies beinhaltet zwangsläufig die Infragestellung vertrauter Wertkategorien und Entwicklungserwartungen. Die sichtbar werdende Form der Leere ist nicht nur ein räumliches Phänomen, sondern auch ein Ausdruck tiefer Ratlosigkeit. Und entsprechend ist der Umgang mit dieser Leere nicht nur eine städtebauliche, technische, ökonomische, soziale und juristische Herausforderung an die jeweiligen Einwohner der betroffenen Städte, sondern auch eine mentale Aufgabe von gesamtgesellschaftlichen Dimensionen, die an die Grundfesten unserer Stadt- und Lebenskultur rührt.
Fragestellungen Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen die gesellschaftlichen Umgangsweisen mit der stadträumlichen Leere, die sich aus dem Brachfallen innerstädtischer Wohn- und Gewerbestandorte ergeben. Untersucht werden die diskursiven und praktischen Gestaltungsprozesse, die sich mit der Rückbeziehung aufgegebener Areale in den Bedeutungszusammenhang der Stadt unter der Bedingung fehlender Nachfrage befassen. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf dem mehrschichtigen Bedeutungsgehalt von Leere, die sowohl als Merkmal von Brachräumen und damit von etwas Aufgegebenem, Unbrauchbarem, Überflüssigem wahrgenommen wird, als auch als besondere Qualität elitärer Raumkonzeptionen wie Museen, Galerieräume, Kirchen und Lofts wertgeschätzt wird. Diese Dichotomie setzt sich fort in verschiedenen und teilweise antithetischen Qualitäten wahrnehmbarer Leere und äußert sich in charakterisierenden Zuschreibungen wie Fülle und Fehlen, Luxus und Deprivation, Anwesenheit und Abwesenheit, Reinheit und Verschmutzung, Kontrolle und Kontrollverlust, Ordnung und Chaos, Innen und Außen. Es ist das Anliegen dieser Arbeit, die in unserer Gesellschaft gebräuchlichen Wahrnehmungs- und Bewältigungsformen im Umgang mit urbanen Leer- und Brachräumen auf ihren kulturellen Bedeutungsgehalt zu befragen. Hierfür wird eine grundlegende theoretische Auseinandersetzung mit dem leeren Raum in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen vorangesetzt. Das Ziel dieser Untersuchung ist dabei ausdrücklich nicht die Benennung von Faktoren für eine möglichst erfolgreiche Regenerierung und Rückführung leerer Räume in die gewohnte 9
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Wachstumslogik, sondern vielmehr die Benennung von Faktoren, die einen Hinweis auf eine alternative, nicht wachstumsorientierte und dennoch positiv belegbare Entwicklung geben könnten. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines gesellschaftspolitisch gerne geforderten Paradigmenwechsels soll nach einem tieferen theoretischen Verständnis und Einordnung gängiger Stadtumbaupraxis der letzten fünf bis zehn Jahre gesucht werden. Der Untersuchungsraum der Studie sind die wandelbedingten urbanen Leer- und Brachräume in strukturschwachen Städten in Ostdeutschland, für die geringe Hoffnung auf wiedereinsetzendes Wachstum erwartet wird. Entscheidend für die Wahl des Untersuchungsraumes ist die Annahme, dass die sich in Ostdeutschland vollziehenden Strukturbrüche einen grundsätzlich für viele europäischen Kommunen erwartbaren Trend vorwegnehmen, auch wenn diesen historisch bedingt eine besonders scharfe Ausprägung zu eigen ist. Die Gebäude und Flächen, um die es gehen soll, haben aus heutiger Sicht und im konventionellen Sinne längerfristig keine marktwirtschaftlichen Verwertungschancen mehr. Sie liegen in Regionen, Städten und Kommunen abseits der prosperierenden Wachstumszentren und kämpfen in der Regel bereits seit längerem mit einem andauernden immobilienwirtschaftlichen Abwärtstrend. Sie sind verbraucht, entwertet und ohne realistische Perspektive auf Rückführung in ihre ursprüngliche Nutzung. Im Fokus des Interesses stehen nicht die architektonisch oft spektakulären Bauten des frühen Industriezeitalters, für die meist Denkmalschutz besteht, die ästhetisch rehabilitiert und in den meisten Städten in Strategien der Musealisierung oder Verlandschaftung eingebunden sind (vgl. Hauser 2001), sondern um die alltäglichen, trivialen, ubiquitär auftretenden, unspektakulären und in weitaus größerem Umfang anfallenden Areale bürgerlichen Wohnens, Handelns und Gewerbetreibens. Als Brache wird im Zusammenhang der Studie ein Gebäude oder Areal angenommen, das mindestens ein Jahr (andere Definitionen: fünf Jahre, vgl. Hauser 2001; 46-47) weder gewerblich noch für Wohnzwecke genutzt wurde, das jedoch nicht explizit aufgegeben wurde, sondern für das Baurecht und Erschließung weiterhin vorhanden ist, und für das eine Wiedernutzung abgewartet oder angestrebt wird.2 Flächen und Gebäude, die nach einer kurzen Zeit des Leerstandes eine neue Nutzung oder Bestimmung finden und einfach zurückzuführen sind, fallen somit 2
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Diese Definition gibt das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) im Rahmen des ExWost-Projektes. Das BBR definiert eine Brache weiterhin anhand einer Größe ab 1ha, kleinere Flächen werden als Baulücke bezeichnet. Unter: http://www.urban21.de/raumordnung/siedlung/brachflaeche.htm, Zugriff 2.9.2003.
EINFÜHRUNG
aus dem Betrachtungszusammenhang heraus. Mit dem im Titel der Arbeit geführten Begriff Gestaltung sind nicht allein die klassischen Aktivitäten der gestaltenden Disziplinen gemeint, sondern sämtliche diskursive und planerische, ebenso wie sämtliche ungeplante und informelle Such- und Interpretationsprozesse, die in einer Stadtgesellschaft stattfinden und die zu einer Veränderung der Wahrnehmung, Nutzung und Zuordnung von aufgegebenem Raum führen. Frageleitend für die Arbeit ist die These, dass in unserer Kultur der Umgang mit jener Form der Leere, die sich aus einem Veränderungsprozess mit offenem Ende ergibt, von Verunsicherung und Angst geleitet ist. Während wir bereit sind, räumliche Leere, die Ergebnis architektonischer Planung ist und die in vertrautem Kulturkanon eingebettet liegt, als raumluxurierend zu empfinden, befremdet leerer Raum im Kontext einer niedergehenden Stadt. Dies hat zur Folge, dass die dominierende Praxis zur Begegnung mit dieser Befremdung auf das Verschwindenlassen der Leere abzielt. Dies kann entweder durch die Zerstörung der Strukturen oder Voraussetzungen, die einen Raum als leer konstituieren geschehen, oder aber durch das Füllen der Leere mit neuem Inhalt. Aus dieser These ergeben sich drei grundlegende Fragestellungen, anhand derer die Arbeit gliedert ist. Im ersten Kapitel des Hauptteils wird der Frage nach dem Wesen der Leere nachgegangen. Was ist Leere überhaupt und wodurch wird sie erzeugt? Ab wann ist ein Raum leer? Wie wird Leere wahrgenommen und gedeutet, und welche Rolle spielen Kontext und Erfahrung? Gibt es unterschiedliche Formen der Leere? Welche spezifischen ästhetischen Qualitäten hat die Leere? Wodurch unterscheidet sich die geplante, architektengestaltete Leere von der ungeplanten, zufälligen Leere? Wofür steht die Leere als Metapher? Unterschiedliche Formen von Leeräumen werden in unterschiedlichen Zusammenhängen identifiziert und im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen von Raum und Architektur genauer untersucht. Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich der Frage, wie sich die Zunahme von Brachräumen auf den Stadtraum auswirkt. In welcher Weise verändert sich die Morphologie der Stadt angesichts ihrer sukzessiven Entleerung? Welche Bedeutung hat der Nutzungsverlust für die Wahrnehmung des Stadtraumes? Hierbei liegt besonderes Interesse auf den Mechanismen, welche die Lesbarkeit von Stadtstrukturen herstellen, erhalten oder auflösen und die für die Erzeugung eines Bildes der leeren Stadt in der kollektiven Vorstellung mit verantwortlich sind. Der letzte Teil schließlich befasst sich mit Strategien der Bewältigung dieser leeren Räume. Gefragt wird nach den gängigen Verfahren und den Sichtweisen, die diesen zugrunde liegen. Die gebräuchlichen 11
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Strategien, Leer- und Brachräume aus der Wahrnehmung zu tilgen werden ebenso betrachtet wie Strategien, die eine neue Sichtweise auf die Leere zum Ziel haben. Daneben wird unter dem Begriff Dornröschenprinzip die Strategie des Liegenlassens als weiterer, bislang noch vergleichsweise unerprobter Weg vorgestellt und diskutiert.
Methodik Die inhaltliche Grundlage dieser Untersuchung sind die erhältlichen Fachpublikationen zum Thema, Internetveröffentlichungen verschiedener Forschungseinrichtungen, Kongress- und Diskussionsbeiträge und Projektpräsentationen von Beteiligten an Planungsverfahren. Hinzugezogen wurden außerdem Publikationen der Tagespresse, Werbebroschüren und Flugblätter sowie Informationsbroschüren von Städten über städtebauliche Umbauprojekte. Auf dieser Basis erfolgten eigene Begehungen und Bestandsaufnahmen in Städten, Kommunen und Stadtregionen im Zeitraum von 2003-2008. Als ergänzende Materialien wurden Gespräche und Interviews mit Protagonisten des Strukturwandels im gleichen Zeitraum geführt. Diese hatten einen explorativen Charakter und können für sich alleine genommen nicht den Kriterien der systematischen Empirie standhalten, sondern dienen der Ergänzung, Illustration oder dem Widerlegen erhaltener Eindrücke. Für die Raumanalysen wurden Orte in Städten herangezogen, die in ihrer Charakteristik als typisch oder ausgesprochen markant erschienen und eine möglichst deutliche Anschauung verallgemeinerbarer Merkmale von Leere aufwiesen. Bestimmend für die Wahl der Orte war zudem die Annahme, dass dort der einmal eingesetzte Trend einer funktionalen und sozialräumlichen Entleerung mittelfristig fortbesteht und keine rasche Wieder- oder Weiternutzung im konventionellen Sinne zu erwarten ist. Die Untersuchung legt sich bewusst nicht auf eine vergleichende Auswahl bestimmter Städte fest, und vermeidet eine ausgeprägte Berücksichtigung der jeweiligen Ortsspezifik. Vielmehr bedient sie sich eines abstrahierenden Blickes, der nach generalisierbaren Mustern sucht. Die Vorgehensweise der Raumanalyse entspricht der Arbeitsmethodik der Autorin als Architektin, die weniger quantitativ als vielmehr qualitativ erhebt und versucht, nicht messbare Größen wie Raumqualität, Atmosphäre, Offenheit oder Geschlossenheit, Dichte oder Raumaneignungsformen zu erkunden und zu beschreiben. Eine architekturtheoretische Arbeit über das Phänomen des leeren Raumes im Zusammenhang mit der kulturellen Verarbeitung des in Deutschland stattfindenden Strukturwandels steht vor einer Reihe dem 12
EINFÜHRUNG
Sujet geschuldeten Dilemmata: Gegenwärtigkeit, Aktualität und Vielschichtigkeit, aber auch die Einschätzung, sich erst am Beginn eines langfristigen Wandelprozesses zu befinden, machen den distanzierten Blick, der für eine objektivierende wissenschaftliche Arbeit notwendig ist, schlechterdings unmöglich. Der Untersuchungsgegenstand ist Teil eines grundlegenden Umwälzungsprozesses und als solcher selbst permanenter Transformation unterworfen. Das bedeutet für den Anspruch einer theoretischen Auseinandersetzung, sich auf Momentaufnahmen und zeitpunktbezogene Einschätzungen gegenüber der Praxis bescheiden zu müssen. Angesichts des spannungsvollen Rahmens aus langfristig und langsam ablaufenden Veränderungen einerseits und kurzfristig und spontan möglichen Trendwenden andererseits muss im Kontext der Arbeit auf die Forderung nach abschließender Gültigkeit gemachter Schlüsse und Ergebnisse verzichtet werden. Die soziologische Fragestellungen ausdrücklich außer Acht lassende Untersuchung von Praktiken der Raumproduktion erfolgt in der Annahme, dass ein besseres Verstehen dieser Praktiken Rückschlüsse über die Verfasstheit der Gesellschaft insgesamt zulassen. Einige Themen, die eine solche Untersuchung berührt und die gesellschaftlichen Erwartungen gemäß vertieft werden könnten, werden in diesem Zusammenhang ausgeschlossen. Nicht oder nur am Rande gehen soll es im Folgenden um Strategien zur Gewinnung von Mietern oder Investoren, zur Ansiedlung von Gewerbe oder zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Geringfügige Beachtung wird diese Untersuchung den besonderen Lebensbedingungen und -kulturen in sich entleerenden Räumen schenken, die Bildung, Teilhabe, Familienstrukturen und Berufsverläufe umfassen. Der besondere geschichtliche und gesellschaftliche Hintergrund der jeweiligen Entwicklungen wird nur insofern berücksichtigt, als er zur Herleitung und Erklärung des gegenwärtig Sichtbaren und Wahrnehmbaren nötig ist. Hinsichtlich quantitativer Erhebungen und Ursachenforschung wird zwar auf die Ergebnisse anderer Projekte zurückgegriffen, die Entscheidungen, Erfahrungen und Planungsprozesse, die zur gegenwärtigen Lage geführt haben, werden dabei aber nicht im Detail nachvollzogen, sondern „in der Annahme, dass sie zum jeweiligen Zeitpunkt planbare und durchsetzbare Ideen repräsentieren, als gegeben vorausgesetzt“ (Hauser 2001; 36). Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass die stattfindenden Veränderungen in den Städten durch komplex ineinander verzahnte Randbedingungen von globaler Tragweite und lokaler Spezifik geprägt sind und dass ein tieferes Verständnis der raumbildenden Prozesse unter Schrumpfungsbedingungen nur unter Einbeziehung eben dieser Randbedingungen zu erreichen ist. Was in unseren Städten sichtbar wird, ist zu 13
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lesen vor dem Hintergrund der Metathemen Globalisierung, wirtschaftlicher und demografischer Strukturwandel, Medialisierung, Deindustrialisierung, Ressourcenknappheit, Identität, Migration und sozialer Segregation. Angesichts der Dimensionen dieser Themen, ihrer wechselseitigen Verquickung und der drängenden Probleme, die sie aufwerfen, schließt der Blick einer einzelnen Fachdisziplin alleine eine der Vielschichtigkeit des Sujets angemessene thematische Breite von vorneherein aus. Nichtsdestotrotz beansprucht die Arbeit ihre Stimme im Diskurs gerade über ihre inhaltliche Fokussierung und Vertiefung, die, rückgekoppelt auf den Gesamtkontext, diesen anreichern und fundieren sollen.
Einordnung in den Forschungskontext Die vorliegende Untersuchung positioniert sich vor einem breit angelegten Hintergrund aus grundlagenorientierten und angewandten Forschungsaktivitäten zu den Ursachen und Auswirkungen des städtischen Strukturwandels vor allem der Planungswissenschaften. Im Folgenden werden die wichtigsten Arbeiten die für die hier behandelten Fragestellungen relevant sind, vorgestellt und der Versuch der Einordnung der eigenen Arbeit unternommen. Bereits seit Beginn der 80er Jahre, also seit dem erstmaligen Bekanntwerden des perspektivisch zu erwartenden Bevölkerungsrückgangs im großen Maßstab in Deutschland, war das Thema der Stadtplanung und -gestaltung unter den Bedingungen rückläufiger Nachfrage Gegenstand der Diskussion unter den Fachdisziplinen. Als prominente Beispiele für den Niederschlag dieser Auseinandersetzung gelten bis heute die Konzeption der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscherpark (1989-1999) sowie die behutsame Stadterneuerung in Berlin-Kreuzberg ab 1984. Spätestens seit Mitte der Neunziger Jahre waren die Folgen der massiven ökonomischen und demografischen Verlagerungsbewegungen innerhalb Deutschlands – ausgelöst nicht zuletzt durch die Wiedervereinigung im Jahr 1989 – nicht mehr durch punktuelle Maßnahmen zu bewältigen. Im Jahre 2000 wurde auf Anregung des damaligen Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) die Kommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ gegründet, die bis zum Ende desselben Jahres ihren Bericht vorlegte, in dem sie einen Leerstand von über einer Millionen Wohnungen in Ostdeutschland feststellte und zur Konsolidierung des Wohnungsmarktes und der geordneten städtebaulichen Weiterentwicklung der betroffenen Städte und Stadtteile ein staatlich gefördertes Abrissprogramm empfahl. Auf der Basis 14
EINFÜHRUNG
dieses Vorschlags wurde im Jahr 2001 der Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ durch das BMVBW ausgelobt, in dem die teilnehmenden Städte aufgefordert waren, ein „Integriertes Stadtentwicklungskonzept“ (ISEK) zu erarbeiten, das Voraussetzung war für den Erhalt von Fördermitteln aus dem 2002 einsetzenden Programm Stadtumbau Ost. Für dieses Förderprogramm standen zwischen 2002 bis 2009 insgesamt rund 2,5 Mrd. Euro zur Verfügung, die für den dauerhaften Rückbau von insgesamt 350.000 Wohnungen und damit zur Stabilisierung der Wohnungswirtschaft einerseits und der nachhaltigen Aufwertung und Anpassung bestehender Strukturen andererseits verwendet werden sollten. Die Umsetzung des Programms „Stadtumbau Ost“ während der Entstehung dieser Studie und seine begleitende3 Evaluation haben eine wichtige empirische Datengrundlage zur Einschätzung der Situation in den Städten gelegt und eine Fülle an Anschauungsmaterial zu möglichen Umgangsweisen mit dem städtischen Wandel geliefert. Parallel zum Programm „Stadtumbau Ost“ wurde im Jahr 2004 das Programm „Stadtumbau West“ durch das BMVBW eingerichtet, das eine differenzierte Unterstützung von ausgewählten strukturschwachen Städten und Kommunen in Westdeutschland zum Ziel hat. „Stadtumbau West“, das im Unterschied zu „Stadtumbau Ost“ spezifische Stadtumbaumaßnahmen in den Gemeinden fördert und keine Abrissmittel bereitstellt, ist eingebunden in die bereits seit 2002 laufende Begleitforschung im Rahmen des Forschungsprogramms „Experimenteller Wohnungsbau“ (ExWost) des Bundes zum Thema. Schwerpunkt dieser Forschung liegt in der Umsetzung, Betreuung und Auswertung von städtebaulichen Pilotprojekten und dem Fruchtbarmachen der gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen für andere Städte im Osten wie im Westen. Neben diesen beiden groß angelegten Forschungsprojekten, in denen zielorientierte Subvention mit auswertender Dokumentation gekoppelt ist, unterstützt das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) eine Reihe weiterer wissenschaftlicher Projekte, die sich mit der Veränderung der Bau- und Nutzungsstrukturen in strukturschwachen Städten befassen. Das hier behandelte Thema berührt vor allem das Forschungsprojekt „Fläche im Kreis – Kreislaufwirtschaft in der städtischen/stadt3
Das Programm „Stadtumbau Ost“ verstand sich als „lernendes Programm,“ die 269 eingereichten Wettbewerbsbeiträge wurden quantitativ und qualitativ von dem Marktforschungsinstitut Empirica AG ausgewertet. Veröffentlicht in: Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Hrsg.): Auswertung des Bundeswettbewerbes „Stadtumbau Ost.“ Bonn, November 2003. Daneben wurde im Jahr 2004 eine Transferstelle im Internet als programmspezifisches Kompetenzzentrum eingerichtet, das der fortlaufenden Einarbeitung und dem Austausch gewonnener Erkenntnisse auch durch Fachveranstaltungen und Workshops dienen soll. 15
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regionalen Flächennutzung“4, welches das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) in Berlin im Auftrag des BBR ebenfalls im Rahmen von ExWost zwischen 2004 und 2007 durchgeführt hat. Im Mittelpunkt dieser Forschung stand die experimentelle Erprobung von Strategien und Instrumenten zur Reduzierung der Flächen-Neuinanspruchnahme für Siedlungs- und Verkehrszwecke durch die Reaktivierung untergenutzter bestehender Flächen mittels Planspielen in ausgewählten Stadtregionen. Neben der direkt durch das BBR initiierten wissenschaftlichen Bemühungen beschäftigen sich verschiedene Forschungsinstitute fachspezifisch mit den raumbezogenen Aspekten des stadtstrukturellen Wandels und den Möglichkeiten, diesen zu begegnen. Wesentliche wissenschaftliche Grundlagen zu Art, Umfang, Ausmaß und Auswirkung des städtischen Strukturwandels hat das bereits aufgeführte Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) in Berlin erarbeitet, das als Partner und Auftragsnehmer zahlreicher Einrichtungen und Projekte eine wichtige Säule der Forschungslandschaft zur Stadtentwicklung darstellt. Ebenfalls grundlegende Forschungstätigkeit ist dem Institut für Sozialwissenschaften, Stadtund Regionalsoziologie der Humboldt Universität zu Berlin5 zuzuschreiben, an dem Prof. Dr. Hartmut Häußermann mit seinen Mitarbeiter bereits seit den 80er Jahren das Phänomen der schrumpfenden Stadt aus der Perspektive stadtsoziologischer Fragestellungen untersucht und dessen Forschung vielfältige Veröffentlichungen und thematische Beiträge zu verdanken sind. Weiter relevant ist in dem hier ausgeführten Zusammenhang das Vorhaben „Brachflächenpotenziale. Instrumente zur Nutzung von Brachflächenpotenzialen für Naturschutz und Freiraumentwicklung“6, das innerhalb des Forschungsschwerpunktes „Umweltqualität in Städten und Regionen“ am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. in Dresden durchgeführt wird (Laufzeit: 2006-2009). Dieses stadtökologisch ausgerichtete Projekt widmet sich der Freiraumentwicklung im Stadtumbau unter besonderer Berücksichtigung naturschutzfachlicher Belange. Einen relevanten Beitrag liefert auch die Internationale Bauausstellung (IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010. Diese IBA ist, wie andere Bauaustellungen auch, keine Ausstellung im bekannten Sinne, sondern ein zeitlich begrenztes und öffentlichkeitswirksam begleitetes „Labor“ zur städtebaulichen Umgestaltung von insgesamt 17 Teilnehmerstädten in Sachsen-Anhalt. Im Rahmen der IBA Stadtumbau werden nicht nur beispielhafte städtebauliche Umbau- und Anpassungsprojekte initiiert 4 5 6
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http://www.fläche-im-kreis.de; Zugriff am 10.5.2008. http://www.sowi.hu-berlin.de/lehrbereiche/stadtsoz. Zugriff am 13.5.2008. http://www.tu-dresden.de/ioer/internet_typo3/index.php?id=523. Zugriff am 12.5.2008.
EINFÜHRUNG
und unterstützt, werden nicht nur alternative experimentelle Strategien der städtischen Inwertsetzung erprobt und dokumentiert, sondern auch der fachöffentliche Diskurs zum Thema durch Veranstaltungen, Workshops, Studien und Veröffentlichungen7 maßgeblich bereichert. Hinzuweisen ist auch auf das Initiativprojekt der Bundeskulturstiftung „Schrumpfende Städte“ („shrinking cities“), das unter der Leitung von Philip Oswalt gemeinsam mit der Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig, der Stiftung Bauhaus Dessau und der Architekturzeitschrift Archplus zwischen 2002 und 2008 durchgeführt wurde. Dieses Vorhaben hatte zum Ziel, die deutsche Stadtumbau-Debatte um weitere Perspektiven als lediglich die der Wohnungswirtschaft und des Städtebaus zu bereichern, sie über einen internationalen Vergleich zu relativieren sowie die kulturelle Dimension des Themas „Schrumpfung“ zu thematisieren. Der Verdienst von „Schrumpfende Städte“ liegt weniger in fundierter wissenschaftlicher Empirie, als vielmehr in seiner breit angelegten interdisziplinären Herangehensweise und der öffentlichkeitswirksamen Kommunikation ihrer Inhalte über zahlreiche Ausstellungen, Kultur- und Diskussionsveranstaltungen und Veröffentlichungen. Die Nähe des Projektes „Schrumpfende Städte“ zu Kunst und Popkultur hat dem Thema zu einer über das übliche Spektrum der Fachdisziplinen hinausreichenden Aufmerksamkeit verholfen; die beiden aus dem Projekt hervorgegangenen Ausstellungskataloge8 bieten ein reichhaltiges Reservoir an Anregungen und Gedanken zum Thema. Weitere wichtige – wenn auch den strengen Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht standhaltende – Gedankenimpulse lieferte der Publizist Wolfgang Kil mit zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema, allen voran mit seinem 2004 veröffentlichten Buch „Luxus der Leere. Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt“. In dieser „Streitschrift“ plädiert Kil für einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Planungsverständnis für schrumpfende 7
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Zu erwähnen ist hier unter anderem die Studie „Innovationspotenziale für Flächenentwicklung in schrumpfenden Städten am Beispiel Magdeburg“, durchgeführt von Prof. Benjamin Davy im Jahre 2006 (Lehrstuhl für Bodenpolitik, Bodenmanagement, kommunales Vermessungswesen an der Fakultät Raumplanung, Universität Dortmund), die sich vertiefend der Wirksamkeit bodenrechtlicher Instrumente für die Flächenkonversion widmet, sowie die Dokumentation „Ästhetik der Leere“ zur gleichnamigen Ausstellung in der IBA-Stadt Halberstadt im Jahre 2007, herausgegeben durch Martin Peschken, welche die „Kultivierung der Leere“ als Strategie der Wahrnehmungsveränderung in Bezug auf urbane Leerräume näher erläutert. Oswalt, Philipp (Hrsg.) Schrumpfende Städte Band 1; Internationale Untersuchung, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruitz, 2004; Oswalt, Philipp (Hrsg.) Schrumpfende Städte Band 2; Handlungskonzepte, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruitz, 2006. 17
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Regionen und weist auf die Möglichkeit neuer Qualitäten durch Entdichtung, Verkleinerung und Entschleunigung hin. Einen großen Einfluss auf die Entwicklung dieser Arbeit hat nicht zuletzt die Kulturwissenschaftlerin Susanne Hauser mit ihrem 2001 erschienen Buch „Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale“ ausgeübt, in dem sie sich mit den diskursiven Prozessen beschäftigt, mit denen unsere Gesellschaft das Nicht-mehr-Gebrauchte als Abfall konstituiert und bewältigt. Die vorliegende Arbeit sucht sich von den genannten Forschungen abzugrenzen durch die Wahl eines anderen Blickwinkels auf das gemeinsame Sujet. In einem architekturtheoretisch geprägten Zugang wird die städtische Brache nicht in erster Linie als städtebauliche Verfügungsmasse betrachtet, sondern in ihrer Eigenschaft als leerer Raum im Sinne einer räumlich-ästhetischen Qualität. Die Arbeit fragt nicht danach, welche Maßnahmen am besten geeignet sind für eine Stadtreparatur und die Wiedernutzung von Brachen, sondern welche kulturbedingten Mechanismen und Vorstellungen Räume als leer konstituieren und welche Ideen im Umgang mit der Leere zum Tragen kommen. Hierbei wird die zufällig entstandene, urbane Leere mit der geplanten, architektengestalteten Leere in Beziehung gesetzt und der Versuch unternommen, diese Relation für ein erweitertes Verständnis urbaner Leere fruchtbar zu machen.
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T H E O R E T I S C H E B E T R AC H T U N G E N Z U M P H ÄN O M E N D E R L E E R E
E r s t e An n ä h e r u n g e n Diese Leere Wie leer ist es, da, wo etwas war//Wo WAS war?//Etwas, was nicht mehr da ist//Und ist es nicht mehr da?//Warum nicht?//Und wirklich nicht?//Kann es nicht wieder da sein?//Darf es nicht wieder da sein?//Wie groß muss es gewesen sein,//Was da war,//dass alles jetzt,//wenn es vielleicht nicht mehr da ist//oder vielleicht nicht mehr da sein wird,//so leer ist, dass Leere in Leere übergeht//oder untergeht//oder ruht? Müsste Ruhe nicht eigentlich anders sein//als das, was leer ist//und doch kalt ist,//obwohl das Leere nicht kälter sein kann//als das, was leer ist//und doch noch brennt,//obwohl das Leere nicht brennen kann//als das, was leer ist,//und doch den Hals zuschnürt,//obwohl das Leere den Hals nicht zuschnüren kann. Was ist es also? (Erich Fried)
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Ja, was ist das also, die Leere? Im Alltag begegnen wir höchst unterschiedlichen leeren Räumen und Orten: leeren Wohnungen und Büros, leeren Häusern, Kirchen, Straßen und Städten, leeren Theaterhäusern, Schwimmbäder, Restaurants und Schulen. „Leer“ sind aber auch inszenierte und ästhetisierte Räume wie Galerien, Kunstmuseen, Bühnen, Memorials und Andachtsräume. Leer sind Städte nach Krieg und Naturkatastrophen, als leer empfinden wir die Stadt während der Übertragung eines WM-Spiels unter Teilnahme der eigenen Mannschaft oder während der Sommerferien. Als leer wird der karg eingerichtete Raum beschrieben, die Fassade ohne Fenster und die Wand ohne Bild. Leere Straßen lösen ein Glücksgefühl beim Autofahrer aus, ebenso leere Strände bei dem Urlauber, für den Hotelbetreiber jedoch bedeuten leere Strände den finanziellen Ruin. Leer ist ein Grundstück nach Abriss oder Sprengung eines Gebäudes, leer ist ein öffentlicher Raum, der überdimensioniert wirkt oder von den Bewohnern verhältnismäßig wenig genutzt wird. Als leerstehend werden im alltäglichen Sprachgebrauch unter anderem Gebäude bezeichnet, deren Nutzung nicht bestimmungsgemäß, also unseren Vorstellungen und Konventionen entsprechend ist: ein Haus, das von „Squattern“ bewohnt wird und dem Besitzer keine Miete einbringt, oder eine Kirche, in der keine Gottesdienste, sondern Raves veranstaltet werden. Ähnliches gilt für die Fabrikhalle, in der zwar die Produktion läuft und die voll mit Maschinen steht, die jedoch ganz ohne Menschen auskommt und deren „Menschenleere“ auf Betrachter immer noch erstaunlich wirken kann. Auch der reine Wohnvorort, der seinen Bewohnern wenig mehr als einen Schlafplatz bietet und keine oder wenig städtische Funktionen aufweist wird als „leere Vorstadt“ bezeichnet. Ein prominentes Beispiel für eine solche „fehlbesetzte“ und zugleich hochverdichtete Leerstelle war der Palast der Republik in Berlin, der in den Jahren zwischen 2004 und 2006, also nach seiner Entkernung und Asbestsanierung im Jahre 2003 bis zu seinem Abriss ab Februar 2006 fortwährend und intensiv kulturell genutzt wurde und der dessen ungeachtet in den Medien wie im Volksmund immer „leerstehend“1 genannt wurde. Die Hartnäckigkeit, mit der diese Wahrnehmung öffentlich zum Ausdruck gebracht wurde, legt die Vermutung nahe, dass für ein Gebäude an einem prominenten Ort wie dem Schlossplatz in Berlin trotz aller Kritik an dem bevorstehenden Abriss nicht eine experimentell-temporäre, sondern eine dauer-
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Ankündigungen, Besprechungen und Rezensionen von Veranstaltungen im Palast der Republik zwischen 2004 und 2006 kamen selten ohne den ausdrücklichen Hinweis aus: „Im entkernten und leerstehenden Palast der Republik.“
THEORETISCHE BETRACHTUNGEN ZUM PHÄNOMEN DER LEERE
haft-repräsentative Nutzung maßgeblich für die kollektiv geteilte Vorstellung von „Fülle“ und „Präsenz“ ist.
Ordnung und Leere Alltäglich gebrauchte Redewendungen legen nahe, dass „leer“ nicht nur das Gegenteil von „voll“ ist, sondern vor allem das Gegenteil zu „voll von dem Richtigen“ bedeutet. Das Leere ist das Gegenstück zum Echten, zum Wahren, und nicht zuletzt zu dem Erwartungsgemäßen. Eine Reihe vertrauter Alltagsformeln unterstreichen die Bedeutung des „Leeren“ als etwas Nutzloses, Wertloses und von uns als falsch Empfundenes: leere Hoffnungen, leere Versprechungen und leere Träume sind solche, die sich als vergeblich und unerfüllbar erweisen, leere Stunden jene, die wir unergiebig, freudlos und ohne Gewinn verbracht haben und leeres Geschwätz ist ohne Sinn und Bedeutung. Unsere alltägliche Umgangssprache greift auf das Wort „leer“ meist zur Versinnbildlichung von Zuständen zurück, die unbefriedigend oder nicht unseren Vorstellungen entsprechend erscheinen. Leere hinterlässt der Tod geliebter Menschen, Leere haben fehlende Nachkommen zur Folge. Das „halbleere Glas“ im Gegensatz zum halbvollen ist die sprichwörtliche Formel für eine pessimistische Grundeinstellung, in der ausschließlich das Fehlende und Unzulängliche einer Situation gesehen wird. Titel von spannungsgeladenen Filmen und Büchern heißen z.B. „Der Schritt ins Leere“ (Agatha Christie), „Der Sturz ins Leere“ (Joe Simpson), oder „Die vollkommene Leere“ (Stanislaw Lem). Hier deutet die Leere auf Gefahr, Haltlosigkeit, Absturz oder gar Auflösung hin. Sie ist das Unbekannte, Finstere, Bodenlose, Abgründige, das an den Nervenkitzel der Leser appelliert. Eine doppeldeutige Dimension erhält die Leere als Metapher in Bezug auf unser Seelenleben: Als „innere Leere“ beschreiben Depressionskranke ihren Zustand und meinen Ausgebranntsein, Erschöpfung und die empfundene Sinnlosigkeit des eigenen Daseins. In vielen Religionen hingegen ist die „innere Leere“ der angestrebte Zustand des spirituellen „Gereinigtseins“, der nur durch disziplinierte religiöse Exerzitien erreicht werden kann. In diesem Zusammenhang bedeutet Leere die Befreiung von menschlichen Leidenschaften und irdischen Sehnsüchten, verspricht seelische und geistige Balance und hat als Ziel die größtmögliche Nähe zu einer wie auch immer gearteten Vorstellung von Gott. Ebenfalls zweifach zu verstehen ist der Begriff „Tabula rasa“2, der auf
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Tabula rasa (lat.):1. die abgeschabte und wieder beschreibbare Schreibtafel, 2. philosophisch: Zustand der Seele (bei der Geburt eines Menschen) in dem sie noch keine Eindrücke von außen empfangen und keine Vorstel21
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der einen Seite mit radikalem und rücksichtslosem Kahlschlag assoziiert wird, auf der anderen Seite aber die Bedeutung des „Reinen-TischMachens“ trägt, das zu Ordnung und größerer Klarheit führt. Es scheint also, dass in unserer Sprachkultur nicht nur ein Topf oder ein Vorratsbehälter „leer“ sein kann, sondern dass die „Leere“ ein mehrdeutiger rhetorischer Platzhalter ist für das uns Unbekannte oder Unbefriedigende einerseits, das im Widerspruch steht zu unseren Vorstellungen, für den Zustand des Gereinigt- und Befreitseins andererseits, das eine Erhöhung über den Alltag bedeutet. In vielen überlieferten Erzählungen über den menschlichen Ursprung wird die Leere mit dem Fehlen von Ordnung gleichgesetzt. Die Schöpfungsmythen der unterschiedlichsten Völker und Kulturen der Welt erzählen mit einer ver blüffenden Übereinstimmung von Leere, von ungeordnetem Chaos, Dunkelheit, Formlosigkeit und wüster Ödnis, bevor ein schöpfender Gott Ordnung und Leben brachte. So heißt es beispielsweise in der Bibel: „Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ (Genesis 1. Mose1. Die Bibel nach der Übersetzung Luthers, Deutsche Bibelgesellschaft 1999; 3)
Im hebräischen Original des Bibeltextes ist die Rede von „Tohuwabohu“, das übersetzt wüste, unstrukturierte Leere bedeutet, das größtmögliche Chaos, welches der ordnenden Hand eines Gottes bedarf. Andere Übersetzungen sprechen von „Irrsal und Wirrsal3.“ Tohu drückt demnach „geistliche Leere“ aus, also eine Art spiritueller Orientierungslosigkeit, – bohu dagegen bedeutet „geistige Leere“, also ein Mangel an gedanklicher Fülle. Der Urzustand der Welt wird als Leere im Sinne einer kaum vorstellbaren Unordnung verstanden, bevor das Schöpfungs-
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lungen entwickelt hat. 3. das unbeschriebene Blatt (Quelle: Duden, Das große Fremdwörterbuch, 3. Aufl. 2003). Quelle: Duden, Das große Fremdwörterbuch, 3. überarbeitet Auflage, 2003.
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handeln Gottes Struktur und Form bringt, so dass menschliches Leben möglich wird. Der Weltenstehungsmythos des griechischen Dichters Hesiod4 erzählt von dem als unendlich imaginierten, leeren Weltraum, verkörpert als der Gott Chaos (vgl. Steinwede, Först, 2004; 59), aus dem Gaia, die Erde, Tartaros, die Unterwelt, und Eros, die Liebe, sowie aus einer Kette von Geburten, Kämpfen und Umstürzen die auf dem Olymp versammelten Götter der Hellenen hervorgingen. Die Bearbeitung des klassischen Stoffes von Hesiod liest sich folgendermaßen: „Von der Entstehung der Welt Zu Beginn aller Dinge war der grenzenlose Weltraum, den die Dichter des Altertums das Chaos nennen. Ohne Maß, ohne Anfang und ohne Ende war es, gähnend tat es sich ins Unermessliche auf. Seine Urkluft war noch mit finsterem Nebel angefüllt. Trotzdem barg das Chaos schon die Grundbestandteile allen Wesens: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Aus der ungeformten Leere gingen Gaia, die Erde, und der dunkle Tartaros, der Abgrund unter der Erde hervor; neben diesen beiden aber erwuchs Eros, die im ewigen Weltall wirkende Liebe.“ [...] (Carstensen 1954;5. Nach Gustav Schwab)
Die Überlieferungen der griechisch-römischen Mythologie klingen in der Interpretation des römischen Dichters Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v.Chr.-17/18 n.Chr.) so: „Ehe das Meer und die Erde bestand und der Himmel, der alles deckt, da besaß die Natur im All nur ein einziges Antlitz, Chaos genannt, eine rohe und ungegliederte Masse, nichts als träges Gewicht, und geballt am nämlichen Orte disharmonierende Samen nur lose vereinigter Dinge.“ [...] (Ovid, Metamorphosen, 1. Buch, 5-88, Übersetzung: Hermann Breitenbach. In: Steinwede, Först 2004; 68-70)
In besonders deutlicher Form erzählt ein Schöpfungsmythos der Hindus von der unserem Geist unerfassbaren Zeit vor der Weltentstehung:
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Der griechischen Dichter Hesiod (Hesiodos, ca. 700 v.Chr.) gilt als Begründer des didaktischen Epos, also des Lehrgedichtes. Seine Theogonie (Gottgeburt, Göttergeburt) ist neben Homers Odyssee und der Ilias die älteste bekannte Quelle der griechischen Mythologie. 23
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„Das Universum war ganz Finsternis, unkenntlich, ohne Unterscheidungsmerkmal, dem Denken unerreichbar, unerfasslich, ganz in tiefem Schlaf versunken. Dann trat der göttliche Selbstgeborene mit unwiderstehlicher Kraft hervor, er schuf dies; er vertrieb die Finsternis. Er, der nur dem übersinnlichen Geist Erfassbare, der Unvorstellbare, der Ewige, der alle Dinge in sich enthält und unbegreiflich ist, der trat von selbst in Erscheinung.“ [...] (Indische Kosmogonie nach dem Gesetzbuch des Manu I, 5-14. Übersetzung Günter Lanczkowski. In: Steinwede, Först 2004; 40)
Weltweit finden sich in den Kulturen der Völker tief verwurzelte mythische Darstellungen über die Entstehung göttlicher Wesen, der Welt und der Menschen. Unabhängig, aus welchem Teil der Erde diese Erzählungen auch stammen, ihre Inhalte zeigen verblüffende Parallelen: Ein göttliches Urwesen schafft aus einer archaischen Unordnung einen Kosmos, in welchem es dem Menschen möglich wird, seinen Platz zu finden. Das Formlose, das Nichtsein, der unendliche Luftraum oder das dunkle Urgewässer sind dabei nur unterschiedliche Bilder für die gleiche Idee, nämlich die eines für unseren Geist unerfassbaren, formlosen Urzustandes der Welt, einer gestaltlose Unordnung, der Leere. Das Handeln der Urgottheiten bildet sich in den Kulturen ebenfalls sehr vielgestaltig ab, dennoch eint die verschiedenen Vorstellungen der archetypischen Anfänge der Moment der Schöpfung, der creatio. Sei es nun das Symbol des Eies als wiederkehrendes Element der Weltentstehung, sei es die Schöpfung durch das Wort oder das Einhauchen des Atems in den neu geschaffenen Menschen, es bleibt ein bewusstes, schöpferisches Handeln wider das Formlose als Grundelement aller Erzählungen. Diese universelle Form der Rückversicherung des eigenen Ursprungs ist bemerkenswert: Ganz offenbar verbindet die Menschen weltweit und über alle kulturellen Differenzen hinweg das Bedürfnis, die Frage nach dem unergründlichen Geheimnis des Lebens mit einer kosmischen Gottgewolltheit zu beantworten. Schöpfungsmythen sind nicht Geschichten, die irgendwann einfach „geschrieben“ wurden, sondern so etwas wie die Essenz des spirituellen Wissens und der Erfahrungen eines Volkes, über Jahrhunderte von Geistlichen angereichert und weitergegeben. Die universelle theologische Aussage der Schöpfungsmythologie ist, dass die Welt, in der wir leben, kein zufälliges System, sondern gestaltet und gottgewollt ist.5 Doch nicht nur in Bezug auf unseren Ursprung, sondern auch auf unser alltägliches Verankertsein in der Welt ist 5
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Nach Aufzeichnungen aus einem Gespräch mit dem Theologen und Pastor Gabriel Straka, 27. 2. 2006.
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der Schöpfungsmythos von Bedeutung. Der Theologe Gerhard von Rad schreibt diesbezüglich: „Dieser Vers (Genesis 1. Mose 1) redet nicht nur von einer Wirklichkeit, die einmal vor Urzeiten war, sondern zugleich von einer Möglichkeit, die immer gegeben ist. Dass hinter allem Geschaffenen der Abgrund der Gestaltlosigkeit liegt, dass ferner alles Geschaffene ständig bereit ist, im Abgrund des Gestaltlosen zu versinken, dass also das Chaotische schlechthin die Bedrohung alles Geschaffenen bedeutet, ist eine Urerfahrung des Menschen und eine ständige Anfechtung seines Glaubens. An ihr musste sich der Schöpfungsglaube bewähren. So lehrt Vers 2 das Wunder der Schöpfung aus seiner Negation heraus verstehen und redet deshalb zuerst von dem Gestaltlosen und Abgründigen, aus dem Gottes Wille die Schöpfung herausgehoben hat und über dem er sie unablässig hält. Denn dieses tragenden Schöpfungswillens bedarf der Kosmos fortgesetzt. Wir sehen hier, das theologische Denken von 1. Mose 1 bewegt sich nicht zwischen der Polarität Nichts:Geschaffenes als vielmehr zwischen der Polarität Chaos:Kosmos.“ (von Rad, 1974; 30 f)
Theologisch gesehen ist die Leere also die Abwesenheit der Schöpfung, die wiederum als gleichbedeutend mit Ordnung angesehen werden kann. In dieser Vorstellung spiegelt sich eine universelle, tiefsitzende menschliche Angst vor der eigenen Halt-, Bezugs-, und Bedeutungslosigkeit in der Welt, einer Welt ohne Sinn und Ordnung. Das entscheidende Moment jeder Schöpfungsgeschichte ist indessen nicht die Darstellung des Unheimlichen an sich, sondern dessen Überwindung durch die creatio, durch schaffendes, ingeniöses, differenzierendes Handeln.
Raum und Leere Die wahrscheinlich präziseste Definition für die Leere gibt uns die Mathematik, die in der Mengenlehre zeigt, dass eine Menge leer ist, wenn sie keine Elemente enthält. Eine andere Naturwissenschaft, die Physik, relativiert diese Eindeutigkeit durch ihren Bezug auf die uns umgebende Natur: Nimmt man ganz konkret einen (augenscheinlich) leeren Behälter an, ist er mit nichts gefüllt als mit Luft. Normale Luft ist im physikalischen Sinne allerdings keineswegs leer: Atemluft besteht aus einem Gasgemisch und enthält neben einer bestimmten Menge an Wasser Spurenelemente in variierender Zusammensetzung. Auch ein technisch kontrollierter Reinraum, würde man ihn sich denn „entleert“, also ohne die üblichen Laborgeräte vorstellen, ist keineswegs vollständig leer, sondern beinhaltet immer noch kleinste Partikel verschiedener Substanzen, deren Konzentration allerdings so gering wie möglich gehalten wird. Selbst ein 25
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Vakuum ist nur in der umgangssprachlichen Definition ein von jedem Inhalt völlig freier Raum: Tatsächlich ist es technisch gar nicht möglich, absolute materielle Leere in einem geschlossenen Raum zu erzeugen, Physiker definieren die Qualität eines Vakuums anhand der Menge verbleibender Materie. Unsere Vorstellung von Leere ist nicht von unserem Verständnis von Raum abzukoppeln und als solche bereits seit der Antike Gegenstand widersprüchlicher philosophischer und wissenschaftlicher Betrachtungen, die im Folgenden skizzenhaft umrissen werden. Bereits die verschiedenen sprachlichen Begriffe für den leeren Raum, die im alten Griechenland existierten, reflektieren die unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten auf den Begriff der Leere: a) apeiron: die Unendlichkeit, der ungeformte Urstoff. Mit diesem Begriff war die Vorstellung eines von Inhalten – und damit auch von Ausdehnung und Ordnung – entleerten Raums verbunden, der den unbestimmten Urstoff unendlich vieler möglicher Welten darstellt. b) chaos: der unendliche leere Raum, die gestaltlose Urmasse, (des Weltalls), die totale Verwirrung, die Auflösung aller Ordnungen. Auch dieses Wort zeugt von der Leere als etwas Nichtseiendes, Unkörperliches, das vor der Schöpfung der Welt steht. Demgegenüber steht der Begriff c) kenón, üblicherweise mit leerer Raum übersetzt, der das Leere als etwas verstanden wissen will, was selbst Raum einnimmt, das als negative Substanz Teil der Gegenüberstellung von Vollem und Leerem wird (vgl. Reichenberger 2002; 105 ff.). Das vorherrschende Bild des Raumes in der Antike war das eines Behälters, welcher die Dinge und Lebewesen umschließt. Aristoteles (384-322 v.Chr.) formulierte in seinen Schriften zur Physik die Theorie der Beziehungen von Körpern im Raum und schloss den Begriff eines allgemeinen Raums, der unabhängig von den in ihm enthaltenen Körpern existiert, aus. Der Raum nach Aristoteles ist konkret, dicht gefüllt, strukturiert und endlich – durch Fixsterne begrenzt. Das Zentrum bildet die unbewegliche, kugelförmige Erde, umgeben von den konzentrisch angeordneten Elementen Wasser, Luft und Feuer. Die Summe dieser Körper konstituiert den Raum, der somit nicht als leerer Raum oder Zwischenraum denkbar ist (vgl. Löw 2005). Das aristotelische Raumbild steht in der Tradition der antiken Philosophie, die eine Einbindung des Menschen in den kosmischen Zusammenhang suchte. Nur Ausnahmedenker stellten diese geozentristische Sichtweise in Frage, so beispielsweise die frühen Atomisten wie Leukipp oder Demokrit, für die es nur die Atome 26
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und die Leere gab. (vgl. Welsch 2001; 24, Reichenberger 2002). Die Vorstellung eines kosmisch verankerten Behälterraums gerät erst ins Wanken, als im 17. Jahrhundert soziale Umbrüche, wissenschaftliche Erfolge und technologische Neuerungen die Orientierung an der kosmischen Ordnung bedeutungslos machen. Isaac Newton (1643-1727 n.Chr.) entwickelt die Vorstellung von einer homogenen, unendlichen und unabhängig existierenden Welt. Eine seiner grundlegenden Definitionen ist die vom „absoluten Raum“, der ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, sich immer gleich und unbeweglich bleibt. Obwohl der Raum auch als „leerer Raum“ existent bleibt, stellt Newton die Vorstellung des Behälterraums nicht wirklich in Frage, sondern formuliert die Vorstellung, leeren Raum nach Belieben einrichten zu können (Welsch 2001; 14; Löw 2002). Mit dieser Abstraktionsleistung Newtons vollzog sich der erste Schritt vom konkreten, stofflich und semantisch gefüllten Raum der Antike zum abstrakten, universalen und leeren Raum im modernen Sinne. Allerdings bleibt Newtons Vorstellung vom absoluten Raum bereits zu seiner Zeit nicht unangefochten. Vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), aber auch die Mathematiker Carl Friedrich Gauß, Nicolaj Iwanowitsch Lobatschewskij und János Bolyai veröffentlichen unabhängig voneinander um das Jahr 1830 Überlegungen, die sich gegen den Raum als etwas Absolutem wenden und ihn stattdessen für das Ergebnis von Lagebeziehungen von Objekten untereinander halten (Löw 2005; 10). Albert Einstein (1879-1955) entzieht schließlich mit seiner Relativitätstheorie der Idee eines absoluten Raumes endgültig die wissenschaftliche Basis. Die Vorstellung, dass der Raum sich durch die Zeit und die Beziehungsstruktur zwischen sich bewegenden Körpern konstituiert, wird in den Naturwissenschaften zum allgemein gültigen Modell (ebd., 22). Die Relativitätstheorie Albert Einsteins hat das bis dahin geltende Verständnis von Raum und Zeit nachhaltig revolutioniert und mathematisch präzise beschreibbare Phänomene aufgedeckt, die sich allerdings der anschaulichen Vorstellung entziehen. Das mag der Grund dafür sein, warum es heute eine Trennung zwischen dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand über den Raum einerseits und dem von lebensweltlicher Anschauung geprägten Raumdiskurs andererseits gibt. Das Erreichen eines wissenschaftlich gesicherten, abstrakten, relationalen Raumdenkens hat das menschliche Bedürfnis nach konkretem Raum, nach Halt, Einbindung, Sicherheit und Umgrenzung ganz offenbar nicht aufgehoben, ja, es hat es möglicherweise sogar noch erhöht (vgl. Welsch 2001). Insbesondere seit Beginn der 90er-Jahre erlebt die Beschäftigung mit dem Raum eine Wiederaufnahme und Weiterentwicklung. In diese Zeit fallen zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Raumtheorie aus unterschiedlichsten Disziplinen 27
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wie Stadtsoziologie, Architekturtheorie, Landschaftsarchitektur, Urbanismus, Psychologie, Philosophie, Kunst und den Naturwissenschaften, die sich als Plädoyer für ein komplexes, relativistisches, dynamisches und diskontinuierliches Raumverständnis lesen lassen (Löw 2001, Maresch/Werber 2002). Aktuell diskutierte Ansätze reagieren nicht nur auf die durch die Medialisierung ausgelösten Veränderungen der Raumbezüge, sondern vor allem auch auf die Veränderung geopolitischer Zusammenhänge seit dem Niedergang des Sowjetreiches und den Terroranschlägen vom 11.9.2001 in New York. Diese zwei Ereignisse, in der Fachwelt „spatial turn“ genannt (Schlögel 2003), rückten die Bedeutung physischer Orte und ihre Angreifbarkeit wieder neu in unser Bewusstsein (vgl. Schlögel 2003, Maresch/Werber 2002). Nun ist theoretisch zu verarbeiten, dass sich Raumbezüge zwar einerseits global verändern, Räume durch neue Informationstechnologien und die massenhafte Nutzung schneller Verkehrsmittel schrumpfen, Grenzen durchlässig werden, und dass unsere klassische Raumvorstellung durch virtuelle imaginäre Räume erweitert, entgrenzt und aufgelöst wird, gleichzeitig jedoch die physische Realität von Orten und Plätzen keineswegs irrelevant geworden ist (vgl. Löw 2001, Rambow/Rambow 2004). Im Gegenteil, das Interesse am Lokalen, Spezifischen, Vertrauten scheint zuzunehmen, Identität und Herkunft, ethnische und religiöse Zugehörigkeit, kulturelle Prägung werden trotz oder gerade wegen der globalen Vernetzung immer wichtiger. Es ist offensichtlich, dass die Konflikte unserer Zeit im und durch den Raum ausgetragen werden: Migration, Vertreibung, Landflucht, die Bewältigung von Naturkatastrophen, Exklusion, Privatisierung des Raumes und der Kampf um seine Rohstoffe gehören zu den gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Zukunft. Die neu erfasste Relevanz des Raumes und die Vielsprachigkeit der sich am Diskurs beteiligenden Disziplinen tragen nicht dazu bei, die seit der Antike fortgesetzte Suche nach einem verbindlichen Raumbegriff zu vereinfachen. Heute scheinen wir gerade soviel zu wissen, dass Raum uns umgibt, und räumliche Kategorien unser Denken, Bewegen und Handeln bestimmen. Kohärente Raumbilder scheinen jeweils immer nur in geschlossenen Begriffswelten einzelner Disziplinen zu existieren, der Raum – und mit ihm auch unsere Vorstellung von Leere – entzieht sich hartnäckiger denn je einer übergreifenden oder gar allgemeingültigen Konzeption. Aber nicht nur die Theorie, auch die praktische Anschauung wird immer komplizierter: Eine Vielfalt an Raumzusammenhängen und Raumbildern, materiell und immateriell, überlagert und durchdringt sich. In der Großstadt ebenso wie der Zwischenstadt (Thomas Sieverts) bewegen wir uns durch komplexe Raumfolgen, die, wollten wir sie kognitiv vollständig erfassen, unseren Wahrnehmungsapparat überfordern 28
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würden. Wir leben in Stadt- oder Landschaftsräumen, für deren Beschreibung uns vielfach noch die Bilder und Worte fehlen (Hauser 2003; 105-121). In der Fachliteratur der planenden Disziplinen ist die Rede von Übergangsräumen, Zwischenräumen, Möglichkeitsräumen, von Transformationsräumen, „spaces of uncertainty“, deren Beschaffenheit zwar nicht theoretisch beschrieben wird, die aber die herrschende Unschärfe sprachlich auf den Punkt bringen. Aller Theorie ungeachtet ist in unserer unmittelbaren Erfahrung unser Leib der Schlüssel zu Orientierung, Wahrnehmung und Vorstellung von Raum. Unsere Leibhaftigkeit, mit der keineswegs ausschließlich der Körper gemeint ist, sondern auch die mentalen Funktionen, ist entscheidend für unser tatsächliches Leben in unserer dinghaften Lebensumwelt. Also ist nicht eine theoretische Vorstellung von Raum, sondern die tatsächliche Raumsituation wesentlich für seine Wahrnehmung (vgl. Welsch 2001; 15). Zudem ist unsere Vorstellung von Raum und Leere keineswegs universell und weltweit gleich, sondern kulturell geprägt. Mit unserer Sprache erwerben wir sozusagen ein Bild von dem uns umgebenden Raum und zugleich kulturell verbindliche Techniken der Raumproduktion und Nutzung. Die spontane Wahrnehmung von Raum als Container entspringt der westlichen Tradition6, das Verständnis der Leere als etwas Abwesendes, Fehlendes wird durch diese wesentlich geprägt. Der Wahrnehmungspsychologe Rudolf Arnheim unterscheidet zwischen dem theoretischen Wissen der modernen Physik und der spontan plausiblen Vorstellung vom Raum, der sich nach wie vor am Container orientiert (Arnheim 1977; 9 ff). Diesen nehmen wir bewusst oder unbewusst, quasi „natürlich“, als Rahmenbedingung unserer Existenz wahr, er ist das Gegebene, in dem alles stattfindet und das bereits vor der Platzierung von Objekten da war. Während im relationalen Raumverständnis der Raum durch die Lageverhältnisse der Objekte zueinander 6
Anders ist das beispielsweise in Japan, wo vor dem philosophischen Hintergrund des Buddhismus-Shintoismus die Leere nicht das Gegenteil von Fülle meint, sondern mit dieser identisch ist. Die japanische Raumkonzeption „ma“ (jap. Ort, Raum, Zwischenraum) basiert auf dieser Vorstellung von Leere und schreibt Zwischenräumen eine wahrnehmbare Qualität zu. Die Leere ist die eigentliche Basis, der kreativ-schöpferische Untergrund von allem, von Dingen wie von Räumen. Die Konzeption des japanischen „ma“ wird als Grundlage des „japanese sense of place“ angesehen, außerdem findet sich der Begriff in der japanischen Malerei, Musik, Theater, Architektur, Innenarchitektur, Soziologie und Philosophie wieder. Dieses umfassende Prinzip östlicher Philosophie ist mit unserer westlichen Denkweise nur bedingt vergleichbar oder gar übertragbar (Krusche, 2005). 29
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bestimmt ist und es daher streng genommen nur „Zwischenräume“ aber keine „Leerräume“ geben kann, ist es das durch die alltägliche Lebenserfahrung induzierte absolute Raumverständnis, das uns diejenigen Stellen (im Container) als leer wahrnehmen lässt, wo nichts ist.
Wandel und Leere Bis hierher bleibt festzuhalten, dass unsere Vorstellung von Leere zwar offenbar eine bedeutende Rolle in unserer Rhetorik und Imagination spielt, sich jedoch im Hinblick auf eine wissenschaftliche Definition in unbestimmte Bereiche verliert. Bemerkenswerterweise fördert gerade die mit gesellschaftlicher Transformation einhergehende Instabilität eine von jedem theoretischen Raumbegriff zunächst entbundene, aber dafür überaus greifbare Anschauung von Leere zutage: Leere wird sichtbar als Symptom des weltweiten Strukturwandels, Leere ist das ungeplante und unvermeidliche Nebenprodukt des sozioökonomischen Veränderungsprozesses. Leer sind Wohnungen, Geschäfte, Büros und Fabriken in Zonen ökonomischen Niedergangs, leere Wiegen, Kindergärten und Schulen werden mit Geburtenrückgang, Überalterung und langfristiger Verarmung unserer Gesellschaft in Verbindung gebracht, leere öffentliche Plätze mit dem Verlust geschätzter urbaner Qualitäten. Wo immer in der Welt etwas Neues im Entstehen ist, muss erst einmal Altes weichen und Platz schaffen, der Abriss von Gebäuden und die Entsorgung des Abraums ist in jeder Stadt notwendiger Teil der Erneuerung, die wiederum notwendig ist für den langfristigen Erhalt einer Stadt. Der aggressive Akt der Destruktion ist Teil und Voraussetzung für den nicht minder aggressiven Akt des Bauens, der Konstruktion. Die Leere, also die leerstehende Baufläche ist in diesem Fall allerdings nur ein mehr oder weniger lang dauerndes Zwischenstadium, bevor wieder gebaut, die Leere also „gefüllt“ wird. Tabula rasa als Entwicklungsprinzip bringen die USA prägnant auf den Punkt: das Weiße Haus wird, bevor ein neuer Präsident einzieht, bis auf den letzten Mann und den letzten Bleistift leergeräumt. Mit jedem neuen Präsidenten wird ein völliger Neuanfang unternommen, keine Spur des Vorgängers soll dem Gestaltungswillen des Neuen im Wege stehen.7 Das Leerräumen von Altem ist dabei nicht nur eine praktische Voraussetzung für den Einzug des Neuen, sondern erhält durch seine Radikalität den Charakter einer rituellen Reinigung. Auch für den Architekten und Theoretiker Rem Koolhaas sind die leeren, kon7
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Anders in Deutschland: beim letzten Regierungswechsel im Jahre 2005 sind fast alle 450 Mitarbeiter des Kanzleramtes geblieben. Das Haus behält so seine unmittelbare Funktionalität, aber auch seinen „institutionellen“ Geist.
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zeptionell unbestimmten, instabilen Räume der Stadt ihr eigentliches Potential kreativer Entwicklungsfähigkeit. Er sagt: „Wo nichts ist, ist alles möglich. Wo Architektur ist, ist nichts anderes möglich. Wichtiger als das Entwerfen von Städten ist das Entwerfen ihres Verfalls. Nur durch einen revolutionären Prozess der Auslöschung und der Schaffung „befreiter Zonen“, konzeptioneller Nevadas, in denen alle Gesetze der Architektur aufgehoben sind, wird es möglich, manche Qualen zu kurieren, die dem städtischen Leben eigen sind“ (Koolhaas, Zitat nach Philip Oswalt 2000; 63. Ursprünglich in: L’architecture d’aujourdhui, Nr. 238, April 1985).
Diese Form der Leeräume bilden ein willkommenes Gegenstück zur Dauerhaftigkeit und Abgeschlossenheit der gebauten Stadt, sie sind Pufferzonen für das Unbekannte, Unerwartete, für Experiment und auch das Scheitern (ebd., 62). Der Selbstverständlichkeit von Leere als organisches Zwischenstadium innerhalb eines Transformationsprozesses zum Trotz ist im gegenwärtigen gesellschaftlichen und urbanistischen Diskurs die Leere zu einem Problem geworden, zu einer Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Das Auftreten des Unbestimmten in unserer Welt ist offenbar in einem Maße beunruhigend geworden, das die Suche nach Prinzipien zur Schaffung eines neuen Sinnzusammenhangs zu einer eigenen Forschungsaufgabe gemacht hat.
Ar t e n d e r L e e r e Es wurde bereits gesagt, dass ungeachtet spezifischer raumtheoretischer Grundlagen die Bedingungen unserer realen Lebensumwelt ein spontanes Wahrnehmen von Räumen und Zuständen als leer nahe legen, obwohl diese keineswegs den Tatbestand der völligen Abwesenheit von materiellem Inhalt, Menschen oder Funktion erfüllen. Unser Begriff von Leere ist zwar an einen bestimmten Begriff von Raum gebunden, darüber hinaus ist die Leere aber auch ein sprachliches Vorstellungsbild, das abstrakte, immaterielle oder einfach unscharfe Zustände zur besseren Anschauung „verräumlicht“. Mitunter reicht bereits das Fehlen eines einzelnen, die jeweilige Beschaffenheit eines Raums determinierenden Faktors aus, um den Eindruck von Leere zu erzeugen und diese Leere kann einen höchst unterschiedlichen Charakter haben. Der folgende Abschnitt widmet sich der Aufgabe, diese Unterschiedlichkeit von Leere zu identifizieren, zu differenzieren und hinsichtlich ihrer Eigenarten näher 31
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zu beschreiben. Maßgeblicher Ausgangspunkt bilden dabei nicht bekannte Raumtheorien verschiedener Autoren, sondern der für den Alltagsmenschen sinnlich erfahrbare, konkrete Raum und seine Bedingungen, die sich in Ausdehnung, Begrenzung und Horizont, Wegeführung und Organisation, Nutzbarkeit, Funktion und Bedeutung niederschlagen. Für die Analyse wird eine unterstützende Gliederung in zwei Gruppen von Leere versucht: einmal die materiellen Formen von Leere, die durch bestimmte Konstellationen oder Kompositionen physisch greifbarer Parameter bestimmt werden, daneben die immateriellen Formen von Leere, die sich vor allem in der Abwesenheit symbolischer oder kommunikativer Inhalte ausdrücken, aber deshalb nichtsdestoweniger bedeutsam sind. Diese Gliederung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der vorgenommenen Ordnung nicht um eine Typologie der Leere im strengen Wortsinn handelt, sondern vielmehr um eine vorsichtige Destillation charakteristischer Merkmale von Leere aus einem meist vielschichtigen Kontext heraus. Dieser vorangeschickt sei die Grundannahme, dass sich in den meisten leeren Räumen unterschiedliche Arten von Leere parallel zueinander identifizieren lassen, welche sich bedingen, durchdringen und gegenseitig beeinflussen. Auch ist möglich, dass sich bestimmte Formen der Leere gegenseitig ausschließen oder aber die Beseitigung einer bestimmten Form von Leere die Entstehung einer anderen Form nach sich zieht. Auch soll an dieser Stelle nicht zwischen Raum und Ort unterschieden werden, da diese Differenzierungsebene für den Zusammenhang der Betrachtung keine wesentliche Rolle spielt. Unter dem Begriff der materiellen Leere möchte ich folgende Aspekte von Leere beschreiben: Inhaltsleere, strukturelle Leere, Gestaltungsleere, funktionale Leere, Menschenleere und Verlustleere. Unter dem Begriff der immateriellen Leere lassen sich Bedeutungsleere, informationelle Leere, Ereignisleere und die metaphorische Leere differenzieren. Die Charakterisierung unterschiedlicher Arten von Leere verfolgt das Anliegen, • unterschiedliche Ursachen, Faktoren und Mechanismen, die den Eindruck von Leere erzeugen können, als solche zu erkennen und benennen, • die spezifischen Merkmale der jeweiligen Leere differenziert darzustellen, • unabhängig der Einflüsse von Kontext, Betrachterperspektive und Zeitlichkeit die verschiedenen Grundlagen für die Wahrnehmung und Interpretation von Leere zu untersuchen, 32
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und schließlich über ein besseres Verständnis der spezifischen Aspekte und Qualitäten von Leere diese für einen bewussten gestalterischen Umgang verfügbar zu machen.
Materielle Leere Inhaltsleere Die Inhaltsleere orientiert sich gedanklich am Containermodell und basiert auf der Wahrnehmung sichtbarer, markanter Elemente als Raumbegrenzung und dem darin eingeschlossenen, physisch-materiellen „Inhalt.“ Inhaltsleere kann entweder das Ergebnis zielorientierter planender Gestaltung sein – meist durch einen Architekten, Ingenieur oder Designer (beispielsweise Zellen, Kirchen- und Andachtsräume, Gedenkräume, Galerieräume), oder aber durch zufälliges, nicht-intentionsgeleitetes, aber dennoch gestaltungswirksames Handeln erzeugt werden (beispielsweise Brachen, leerstehende Gebäude, Investitionsruinen, etc.). Entsprechend der bereits ausgeführten Grundannahme, dass leerer Raum im Alltagserscheinen nie völlig inhaltsleer sein kann, ist die Inhaltsleere grundsätzlich ein relativer Zustand. Ein präziser Umschlagspunkt, ab dem die innerhalb eines Raumes befindlichen Objekte als diesen ausfüllend wahrgenommen werden, ist nicht allgemein verbindlich festzulegen, sondern je nach Größe, Menge und Beschaffenheit des Inhalts und seinem dynamischen Verhältnis zu dem ihn umgebenden Raum spezifisch. Beispielsweise kann ein großer Marktplatz auch dann noch leer wirken, wenn er zu etwa einem Viertel von Marktständen genutzt wird, erst bei einer Auslastung von etwa zwei Dritteln und mehr erscheint er gut gefüllt. Anders herum wirkt ein sehr kleiner Platz, der eng von Randbebauung gefasst ist, selbst dann nicht leer, wenn sich auf ihm keinerlei raumgreifende Objekte befinden. Der Eindruck von Inhaltsleere eines Raumes wird nicht nur von den erfassbaren Größenverhältnissen von „Behälter“ und „Inhalt“ zueinander bestimmt, sondern auch von der kompositorischen Lage zueinander und der Semantik der Gesamtkonstellation: Die nach einem Auszug in einem ausgeräumten Zimmer in der Ecke herumliegenden Hinterlassenschaften beispielsweise unterstützen den Eindruck von Leere zusätzlich, während etwa ein einziges, prominent an der Wand positioniertes Gemälde auf den gesamten leeren Raum ausstrahlen kann und diesen mit seiner Wirkung anfüllt. In beiden Fällen ist es nicht der materielle Zustand von Raum und Inhalt, der diesen voll oder leer erscheinen lässt, sondern deren immaterielle Qualitäten: einmal der verlassene Raum, in dem nur Unbrauchbares und Wertloses herumliegt, das andere Mal ein durch die Anwesenheit eines Ge33
DIE GESTALTUNG DER LEERE
mäldes an der Wand inszenierter Raum (Bild als Schmuck oder Raum als Rahmen), in dem gerade die Abwesenheit von anderen Gegenständen Raum und Objekt aufwertet und in ihrer wechselseitigen Wirkung erhöht. An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass unabhängig von ihrer absoluten Größe Objekte unterschiedlich stark räumlich wirksam werden können und in unterschiedlicher Weise den Eindruck von Leere entweder unterstützen oder ihm entgegenarbeiten. Inhaltsleere kann unter bestimmten Bedingungen eine präzisere Wahrnehmung räumlicher, nicht-materieller Qualitäten begünstigen, welche sich als Atmosphäre, Aura oder architektonische Wirkung äußern. Die Abwesenheit von „Zeug“ im Raum befreit den Blick von Ablenkung und macht das ansonsten Unsichtbare sichtbar.
Strukturelle Leere Die Wahrnehmung struktureller Leere basiert auf einem relationalen Verständnis von Raum, obwohl das relationale Raumkonzept genau genommen kein Leersein von Räumen vorsieht, da ihm zufolge Raum erst durch das Verhältnis von einzelnen Objekten zueinander entsteht und nicht unabhängig von diesen existiert. Die Beobachtung von struktureller Leere leitet sich aus der unmittelbaren Anschauung der Umwelt – unabhängig von ihrer tatsächlichen Beschaffenheit – durch den Menschen ab. Strukturelle Leere wird durch eine auf die Dimension des Menschen bezogen verhältnismäßig große Distanz zwischen den raumdefinierenden materiellen Objekten erzeugt. Sie ist in diesem Sinne etwa gleichbedeutend mit „Weite des Raums“. Für die Wahrnehmung von struktureller Leere ist die Art und Menge des innerhalb dieses Raums befindlichen „Inhalts“ mit entscheidend, wie sie bereits in dem Kapitel „Inhaltsleere“ beschrieben wurde. Als „Inhalt“ werden hier in der Hierarchie des Raumes untergeordnete, „eingestellte“ Objekte betrachtet, die zwar innerhalb eines Raums kleinere Binnenräume definieren können, jedoch nicht mit den wesentlichen Raumdeterminanten (Wände, Mauern, natürliche Grenzen, Verkehrswege, Landmarken, etc.) konkurrieren. Eine Erklärung für das Phänomen der strukturellen Leere bietet Rudolf Arnheim mit seiner Definition von der Beschaffenheit „visueller Substanz“ (visual substance, Arnheim 1977; 20) an. Arnheim zufolge wirken enge Zwischenräume zwischen Objekten oder Gebäuden weniger deutlich leer als solche mit einem großen Abstand zwischen den Objekten, der den Zwischenraum „dünner und losgelöster“ (thinner and looser, Arnheim 1977; 18) aussehen lässt. Das Gefühl der Leere wird entscheidend durch das Fehlen einer Art visueller „Dichte“ oder Intensität erzeugt, die sich aus den spezifischen Gestaltmerkmalen und der 34
THEORETISCHE BETRACHTUNGEN ZUM PHÄNOMEN DER LEERE
Konstellation der soliden Körper zueinander ergeben. Auch ein unbebauter Raum kann von visueller Substanz erfüllt, also von wahrnehmbaren Qualitäten bestimmt sein, wenn seine Deteminanten, also in den meisten Fällen die Randbebauung, so zueinander konstelliert sind, dass sie ein Kraftfeld aufbauen. Fehlt das visuelle Kraftfeld, ist der Zusammenhang zwischen den Rändern lose oder sogar völlig abgerissen, wird der Zwischenraum zur Leere. Arnheim betont, dass es für den angemessen gestalteten Raum zwischen soliden Körpern, der als Kraftfeld weder zu dicht, voll und nah, noch zu weit und damit zu abgelöst ist, keinerlei absolute Werte gibt: Er ergibt sich aus den Proportionen, Dimensionen und Relationen der Objekte untereinander, außerdem den Gestaltmerkmalen des Kontextes. Die „gerade richtige“ visuelle Distanz zwischen Körpern ist also keine Frage metrischer Kennziffern, sondern eine dynamische Größe, ein Frage der Balance innerhalb des räumlichen Zusammenhangs. Diese wiederum wird nicht universell gleich, sondern sozial und kulturell bedingt individuell verschieden wahrgenommen. Kulturenübergreifend hingegen wird nach Arnheim Leere als extremer Zustand erfahren, wenn es gar keine Gegenstände mehr gibt. In der Dunkelheit, auf dem Ozean oder im Weltraum kann die Abwesenheit von Referenzpunkten und Orientierungsmarken, die eine räumlichkörperliche Verankerung ermöglichen, im Beobachter die Erfahrung allergrößter Verlorenheit8 (forlorness) auslösen (Arnheim 1977; 9-25). Ebenso wie das Meer können auch andere Landschaften wie die Wüste oder weite Ebenen durch strukturelle Leere charakterisiert sein: Obwohl keineswegs ohne Inhalt oder Leben, fehlt ihnen doch eine auf das menschliche Körpermaß bezogene, sichtbare Strukturierung, es fehlen überschaubare Vegetationseinheiten, topografische Erhebungen, Vertiefungen, Markierungen und Variationen des ansonsten Gleichförmigen. Allerdings wäre der generalisierenden Einschätzung Arnheims zu der Wirkung von Verlorenheit entgegenzuhalten, dass gerade die Weite und Leere solcher Landschaften auf den Betrachter auch befreiend und beruhigend wirken kann, so dass dieser sich im Gegenteil nicht losgelöst, sondern in die Natur eingebunden fühlt.
Gestaltungsleere Gestaltungsleere ist das Ergebnis einer reduzierenden Gestaltung, die sich sowohl auf Räume als auch auf Gegenstände beziehen kann. Eine
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Diese wahrnehmungsbezogene Beobachtung Arnheims lässt sich beziehen auf die erwähnten verschiedenen Schöpfungsmythen, welche die Leere als universelle Urvorstellung menschlichen Nicht-Seins verarbeiten. 35
DIE GESTALTUNG DER LEERE
solche Gestaltung ist in ihrer Haltung intentionsgeleitet, bewusst und kontrolliert, sie folgt dem gestalterischen Prinzip „Weniger ist Mehr“ (less is more), das als dem Architekten Mies van der Rohe zugeschriebenes Zitat zu einem Leitspruch der Moderne geworden ist. Dieses Prinzip beinhaltet die Idee, sich bei dem Entwurf von Architektur, Gegenständen, aber auch Texten, Malerei oder Musik auf die für Funktion und Ausdruck wesentlichen Komponenten zu beschränken und auf alles überflüssige Beiwerk und schmückende Details zu verzichten, um ein besseres Gesamtergebnis zu erzielen. Es bedeutet den sparsamen Einsatz von Materialien, Formen und Farben sowie den Anspruch, Anschlüsse und Details konstruktiv zu vereinfachen. Das Streben nach Gestaltungsleere heißt, einen Raum durch den aktiven Prozess des Weglassens bzw. Wegnehmens von gestalterischen Merkmalen von visuellem Angebot zu entkleiden. Räume, die in diesem Sinne entworfen wurden, vermitteln den Eindruck von Reinheit, Klarheit, Purismus, Einfachheit und Konzentration. Gestaltungsleere als Ideal ist die Unsichtbarkeit jeglicher Gestaltung, erzeugt durch höchste gestalterische Durchdringung. Sie ist gewissermaßen ein verfeinerter, disziplinierter und sublimierter Zustand von Leere, der als raffinierte ästhetische Qualität wahrnehmbar wird. Nicht ohne Grund findet Gestaltungsleere häufig Umsetzung in Räumen des Nicht-Alltäglichen, in Kirchen und Andachtsräumen, Galerien, Ausstellungshallen, und nicht zuletzt auch in den weltlichen Machtzentralen. Es ist jedoch ein Irrtum, anzunehmen, dass der erzielte klare Ausdruck notwendigerweise einer tatsächlichen gestalterischen Einfachheit entspricht. Schnörkellose Oberflächen, Bündigkeit, Monochromität, unsichtbare Anschlüsse und Technik sowie der insgesamt sparsame Einsatz von Material sind in der Regel überhaupt erst durch einen erhöhten Aufwand an Gestaltungsüberlegungen und handwerklichen Bemühungen zu erreichen.
Funktionale Leere Funktionale Leere setzt ein funktionales Verständnis von Raum voraus. Mit diesem wird angenommen, dass ein räumlicher Zusammenhang seine Identität und Fassung über seine Funktion erhält und nicht über bestimmte physische Markierungen oder Inhalte. Funktionale Leere wird also bedingt durch das Fehlen eines zugewiesenen Nutzens und ist unabhängig von räumlicher Gestaltung, Proportion oder Dimension. Das heißt, dass auch ein voll eingerichteter Raum im funktionalen Sinne leerstehend sein kann, eine Wahrnehmung, die vor allem im Zusammenhang mit Büros und Wohnungen zum Ausdruck kommt. Anders herum ist eine große Halle, die völlig frei von Einbauten oder Objekten ist, 36
THEORETISCHE BETRACHTUNGEN ZUM PHÄNOMEN DER LEERE
keineswegs leerstehend, solange sie beispielsweise regelmäßig durch Veranstaltungen eine ausdrückliche Funktion erfüllt. Funktionale Leere im Sinne von Leerstand wird auch im Falle von Nutzungen diagnostiziert, die nicht den erwartungsgemäßen oder gesellschaftlich erwünschten Funktionen eines Gebäudes entsprechen (siehe hierzu das Beispiel Palast der Republik). Die mehrheitlich akzeptierte Funktion eines Gebäudes ist wesentlich für die Wahrnehmung seiner Identität, ihre Kenntnis erleichtert uns das Einordnen und Bewerten von Architektur. Räume ohne klare Funktionszuweisung wie zum Beispiel städtische Rest- und Zwischenräume fordern in uns das Bedürfnis nach Sinnzuweisung heraus, – bereits die Möglichkeit, ein leerstehendes Gebäude als „ehemaliges Produktionsgebäude“ oder ein Grundstück als Fläche der „zukünftigen Landesvertretung“ einzuordnen, erleichtert uns seine Wahrnehmung. Die Bedeutung des funktionalen Aspekts bei der Erfassung von Leere hat ihre Ursache nicht zuletzt in der engen Kopplung von Raum und Architektur mit ökonomischen Sinnzusammenhängen.
Menschenleere Menschenleere bezeichnet in einem einfachen, physischen Sinne zunächst die Abwesenheit von Menschen in einem Raum. Als solche verhindert sie die Konstituierung von sozialen Räumen, die sich durch die gemeinsame Anwesenheit und entsprechende soziale Interaktion von Menschen bilden und immaterieller Natur sind. Die Wahrnehmung von Menschenleere wird maßgeblich geprägt von Art und Bestimmung des betreffenden Kontextes: In Räumen, die ausdrücklich für ein bestimmtes Maß an Nutzung gebaut worden sind oder assoziativ mit diesem in Verbindung gebracht werden, wird das Fehlen von Menschen eher bemerkenswert als in Räumen, deren Existenz nicht an eine bestimmte Auslastung gebunden ist oder welche die Anwesenheit von Menschen sogar ausschließen. Es lässt sich ein enger Zusammenhang von Funktion und Menschenleere beobachten, zum Beispiel wird ein großes Sportstadion mit 100.000 Plätzen auch dann noch als (fast) menschenleer empfunden, wenn sich bereits 10.000 Besucher auf den Plätzen befinden, umgekehrt kann eine Lager- oder Fabrikhalle mit denselben Dimensionen und einer vergleichbaren Besucherzahl als sehr voll wahrgenommen werden, weil man an diesem Ort eben nur mit wenigen Menschen rechnet. Das Stadion beansprucht, um zu perfekter Erfüllung seiner Funktion zu gelangen, eine möglichst volle Auslastung seiner Sitzplätze, die Fabrik funktioniert in Perfektion gleich einer Maschine und ohne menschliche Präsenz. Der Zusammenhang Funktion-Besucherzahl bietet zudem einen Maßstab für die Bewertung für den „Erfolg“ eines Ortes (oder, wie ge37
DIE GESTALTUNG DER LEERE
sagt wird: Für sein „Funktionieren“) an: attraktive Restaurants, Veranstaltungen, Ferienorte oder Städte sind „erfolgreich“, wenn sie stark frequentiert werden, unattraktive, schlecht gelegene, falsch geplante Orte werden nicht „nachgefragt“ und bleiben leer. Diese Deutung der Abwesenheit von Menschen kehrt sich erst außerhalb der Stadt um, hier wird die in der Stadt so befremdliche Menschenleere als Qualität empfunden. Schließlich ist die Wahrnehmung von Menschenleere an die Beziehung des Betrachters zu seinem Umfeld geknüpft: Die Abwesenheit von Menschen ist für ihn die Abwesenheit der Anderen und bedeutet in Abhängigkeit der eigenen Bedürfnisse entweder das positiv belegte Privileg des Alleinseins oder aber die eher negativ konnotierte fehlende Einbindung und damit Einsamkeit.
Verlustleere Die Verlustleere differenziert sich von der Inhaltsleere und der Funktionsleere, indem sie sich nicht an der relativen Abwesenheit materieller Gegenstände oder dem Fehlen einer Funktion allgemein festmacht (das gleiche gilt auch für das Fehlen von Bedeutung, das im Folgenden behandelt werden soll), sondern indem sie sich auf den Verlust eines ganz bestimmten Inhalts oder einer ganz bestimmten Funktion bezieht. Verlustleere entsteht, wenn etwas Hervorgehobenes, das vorher da war, nun verschwunden ist. Diese Facette der Leere ist auch dann auszumachen, wenn der eigentliche Raum oder Ort nach dem eingetretenen Verlust noch immer materiell reich bestückt ist und eine klar definierte Funktion erfüllt. Der entscheidende Moment der Verlustleere liegt in der jeweils zugemessenen Wichtigkeit des verlorenen Inhalts oder der Funktion. Die Leere, die durch einen Verlust entstanden ist, kann inmitten größter Fülle und funktionaler Vielfalt auftreten, sie wird nicht durch die Relation von Inhalt zu umgebenden Raumdeterminanten bedingt, sondern durch die Abwesenheit eines als einzigartig und unersetzbar eingeschätzten Inhalts oder Funktion. Eindrückliches Beispiel für Verlustleere ist der Tod eines nahestehenden Menschen, über den auch nicht die Anwesenheit von vielen anderen Millionen Menschen auf dem Planeten hinwegtrösten kann, oder die Leere, die der Abriss eines einzelnen, unvergleichlichen Baudenkmals in einer dichten Stadt hinterlässt, den auch der Verbleib vieler anderer Baudenkmale nicht kompensieren kann. Verlustleere kann sich dauerhaft auf die Wahrnehmung eines Ortes auswirken und diesen nachhaltig mit Bedeutung und Erinnerung aufladen, gerade weil sein Inhalt nicht mehr physisch vorhanden oder sichtbar ist. Andererseits kann das Gefühl des Verlustes über die Zeit auch abschwächen und die Unsichtbarkeit des Verschwundenen ein rasches Vergessen fördern. 38
THEORETISCHE BETRACHTUNGEN ZUM PHÄNOMEN DER LEERE
Immaterielle Leere Bedeutungsleere Unter den immateriellen Aspekten der Leere nimmt die Bedeutungsleere eine herausragende Stellung ein, da sie als Urteil und Diagnose für eine Vielzahl ungeklärter oder als ästhetisch unbefriedigend empfundener Raumsituationen herangezogen wird. Räume und Orte, deren semantischen Gehalt wir nicht erkennen oder verstehen können, deklassieren wir gerne als bedeutungslos. Die Einschätzung „bedeutungsleer“ ist jedoch zwangsläufig gepaart mit mangelnder Objektivität, da eine wie auch immer geartete Bedeutung für uns erst lesbar wird, wenn sich das Gesehene auf unsere Vorstellungsmöglichkeiten rückbezieht, wenn wir seine Bedeutung zu erkennen gelernt haben. Bedeutungsleere kann als Folge eines Verlusts von Bedeutung entstehen, sei es durch Funktionsveränderung oder eine gewandelte Einschätzung der Attraktivität oder der gesellschaftlichen Aussagekraft von Orten. Sie wird sowohl im Sinne von Bedeutsamkeit, also Relevanz und Wichtigkeit, also auch im Sinne des semantischen Gehalts eines Ortes wirksam. Bedeutungsleere ist mitunter deutlich als Abwesenheit spürbar, wie im Falle der Verlustleere kann anstelle der verlorenen reellen Bedeutung die Präsenz der Erinnerung treten. Bedeutungsleere wird aber auch Räumen zugeschrieben, die neu entstanden oder gebaut sind und die entweder aufgrund ihrer fehlenden Geschichte, mangelhaften Einbindung oder ihrer bezugslosen und unspezifischen Gestaltung ohne Aussage für den Betrachter bleiben. Zu solchen bedeutungsleeren Räumen lassen sich die Nicht-Orte zählen, die der französische Ethnologe Marc Augé als Räume und Orte definiert hat, die weder durch Identität, Bezugnahme zur Außenwelt noch durch Geschichte geprägt sind und daher ohne für uns lesbaren, eingeschrieben Sinn (Augé, 1994; 92-93). Als Nicht-Orte bezeichnet Augé moderne Verkehrsknotenpunkte wie Flughäfen, Bahnhöfe, große Hotelketten, Einkaufszentren und Freizeitparks, die in ihrem Charakter weltweit generisch sind, unspezifisch bleiben und nicht verankert mit dem geographischen Ort ihrer Erscheinung sind. Seiner Ansicht nach ist es die von ihm als „Hypermoderne“ bezeichnete Gegenwart, die vermehrt solche Orte hervorbringt (ebd., 109-110). Diese zeichnen sich – obwohl in großer Zahl durch Menschen frequentiert – dadurch aus, dass sie sich nicht durch soziale Interaktion einer organischen Gesellschaft konstituieren, sondern durch ein Vertragsverhältnis zwischen Kunden/Nutzern/ Passagieren und Institution/Unternehmen (ebd., 110). In ihrer retortenhaften Vielheit und Gleichheit sind solche Räume frei von jeglicher Aura gemäß der Definition Walter Benjamins, der mit diesem Begriff Ein39
DIE GESTALTUNG DER LEERE
zigartigkeit und Einmaligkeit umschloss. Als Synonym zu der so definierten Bedeutungsleere könnte man weiter die Begriffe Seelenlosigkeit oder Atmosphärelosigkeit nennen, deren Wahrnehmung sich zwar ähnlich der Bedeutungslosigkeit an äußerlichen Kriterien festmacht, dennoch stark von der spezifischen und subjektiven Sichtweise des Betrachters abhängt. Ein dritter Interpretationsansatz für Bedeutungsleere ist das Fehlen eines erkennbaren Sinns eines Raumes, also entweder der Mangel einer inhärenten Ordnung oder der fehlende Bezug zu einer höheren Ordnung außerhalb. An dieser Stelle wird eine Abgrenzung von Bedeutungsleere als die Abwesenheit von Sinn zu Bedeutungsleere als die Abwesenheit von Bedeutsamkeit notwendig: Ein Raum kann sehr „aufgeräumt“ und eingebunden und dennoch bedeutungsleer sein. Anders herum kann ein Raum ohne jede innere Ordnung, also chaotisch und unzugänglich, und gleichzeitig voller Atmosphäre und Aussagekraft sein. Beispiele hierfür wären Gebäude oder Stadträume nach einer gewaltsamen Zerstörung, welche die räumlichen Strukturen für unser Auge zwar unlesbar, unzugänglich und unbenutzbar macht (infolgedessen beim Anblick von Verwüstung häufig von Leere oder dem „Nichts“ gesprochen wird), die jedoch gerade in ihrem Zustand der Auflösung atmosphärisch angereichert und voller Geschichte sind.
Informationelle Leere Eine weitere Nuance physisch nicht greifbarer Leere ist die informationelle Leere. Sie betrifft das Maß des Wissens, der Festlegungen, Zuweisungen, Planungen und Projektionen, die auf einen bestimmten Raum gerichtet sind. Informationelle Leere bezieht sich nicht nur auf sämtliche historische Dokumentationen über ein Gebäude oder ein Grundstück, deren Kenntnis unsere Wahrnehmung mit prägt, sondern auch auf Vorhaben für deren zukünftige Nutzung und Einbettung, und nicht zuletzt auf die juristische Datenlage für den Status Quo. Die genauen Abmessungen und Grundstücksgrenzen, festgehalten in Grundbüchern und Katasterplänen gehören hierzu ebenso wie etwaige Dienstbarkeiten, Baulasten und Baurechte, der Grundstücks- oder Gebäudewert und die im Bebauungsplan zugewiesenen Nutzungsmöglichkeiten. Informationelle Fülle (als Gegenstück zur informationellen Leere) beinhaltet auch die öffentliche Zugänglichkeit von Wissen über einen Raum: Als angenommener exemplarischer Fall für einen Raum, dem informationelle Leere zu bescheinigen wäre, kann man sich ein ungenutztes, verlassenes Grundstück in einer peripher gelegenen, wenig besuchten Stadt vorstellen, dessen Eigentumsverhältnisse ungeklärt sind, dessen äußere Be40
THEORETISCHE BETRACHTUNGEN ZUM PHÄNOMEN DER LEERE
grenzungen seit langem niedergetreten und ignoriert wurden, dessen ehemalige Besitzer oder Nutzung von den Nachbarn nicht erinnert wird, dessen ökonomischer Wert nicht zu ermitteln ist aufgrund fehlender Grundlagen, kurz, das insgesamt im Schatten allgemeiner Aufmerksamkeit liegt, und das durch die Nicht-Verfügbarkeit dieser grundlegenden Informationen nicht oder nur mit viel Aufwand eine Statusveränderung erfahren kann. Gegenstück zu diesem Beispiel wäre ein prominentes, innerstädtisches Gebäude, das aufgrund seiner Lage, seiner geschichtlichen Bedeutung und seiner Funktion Gegenstand von Medienberichterstattung, Forschung und von Stadtplanung ist.
Ereignisleere Ereignisleere ist sinngemäß mit Ereignislosigkeit gleichzusetzen und basiert auf der Annahme, dass nicht nur räumliche Begrenzungen oder Beziehungen Räume konstituieren, sondern ebenso bestimmte Ereignisse. Nun könnte man in dieser Logik annehmen, dass das Nicht-Stattfinden von Ereignissen schlicht bedeutet, dass die entsprechenden sozialen oder kulturellen Räume, die durch gemeinsames Erleben bestimmter Bevölkerungsteile definiert sind, nicht gebildet werden und somit Ereignisleere nicht als Abwesenheit spürbar werden kann. Diese theoretische Überlegung scheitert jedoch an der Praxisbeobachtung, dass Ereignisse zwar eigenständig räumlich wirksam werden, jedoch dabei nie unabhängig von dem umgebenden Raum bleiben, in dem sie stattfinden. Das bedeutet, dass der Raum ohne Ereignis mit einem ganz spezifischen Mangel wahrgenommen wird, denn er ist nicht Schauplatz des Geschehens, er wird nicht Zeuge von Geschichte und lädt sich für die Bevölkerung nicht mit Spezifik und Erinnerungen auf. Stadträume, in denen keine Ereignisse die Bevölkerung binden, werden als leblose Ödnis empfunden, selbst wenn sie ästhetisch hochwertig gestaltet sind. Für brachliegende Flächen bedeutet Ereignislosigkeit Vergessen und das Ausbleiben einer sichtbaren Entwicklung. Ereignisleere kann jedoch auch explizites gestalterisches Ziel sein, wie es beispielsweise bei dem Bau von Gedenkoder Andachtsräumen, Museen oder Machtarchitekturen zum Tragen kommt durch die Abschottung einer Innenwelt vom ablenkenden Außen. In diesem Fall bewirkt die Abwesenheit von Ereignissen den Raumeindruck der Unveränderbarkeit, Ruhe und der Konzentration.
Metaphorische Leere Im Unterschied zur Gestaltungsleere, die ebenfalls intendiert, geplant und mit hoher Präzision gebaut ist, zeigt sich die metaphorische Leere 41
DIE GESTALTUNG DER LEERE
als Teil einer Narration oder einer Inszenierung und nicht als ästhetischer Selbstzweck. Leere als gebaute Metapher kann für verschiedene Inhalte stehen: Sie repräsentiert etwas, das verloren gegangen ist und dessen (abstrahierter) Abdruck als Erinnerung an den Verlust sichtbar gemacht oder gelassen werden soll. Diese Metapher findet häufige Anwendung in Gedenkstätten und Erinnerungsarchitektur. Eine andere narrative Zuschreibung ist der Anspruch auf Erhabenheit, leere Räume werden gestaltet zur Unterstreichung der außergewöhnlichen Bedeutung der darin befindlichen Inhalte oder Objekte. Unterstützt wird diese Gewichtung zwar auch durch eine objektivierbare räumliche Wirkung von relativer materieller Leere, zusätzlich jedoch wird sie auf der Ebene der Versinnbildlichung lesbar: Die Abwesenheit von allem außer diesem einen symbolisiert dessen Gewicht und die Irrelevanz allen Beiwerks. Bewusst eingesetzt wird die metaphorische Leere bei der Gestaltung von Kirchen, Museen, Macht- und seit kurzem auch Verkaufsarchitektur. Als dreidimensionale Metapher lässt sich auch die ausdrücklich leer belassene Theater- oder Opernbühne interpretieren, die das Fehlen eines konventionellen „Bühnenbildes“ nicht nur als die Schauspielkunst unterstützende Maßnahme9 einsetzt, sondern selber „Bühnenbild“ ist, das beispielsweise menschliche Seelenzustände wie Verlorenheit, Einsamkeit und In-die-Welt-Geworfensein zum Ausdruck bringt.
Leere im Kontext konkreter Raumsituationen Anhand dieser übersichtartigen Reflexion zu den unterschiedlichen Arten von Leere wird deutlich, dass Leere kein objektivierbarer räumlicher Zustand ist, sondern ein subjektiver raumbezogener Eindruck, der sich aus sehr unterschiedlichen materiellen und immateriellen Einflussfaktoren ergibt und der stets relativ ist. Leere beschreibt fast immer räumliche Zustände, die nicht dem erwarteten und allgemein akzeptierten „Normalfall“ entsprechen und die in ihrem Leersein fragil und leicht wandel9
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Der britische Theaterregisseur Peter Brook (* 21. März 1925) veröffentlichte 1968 unter dem Titel „Der leere Raum“ ein in Theaterkreisen einflussreiches Buch, in dem er für die leere Bühne als eigentlichen Rahmen für lebendiges Theaterspiel plädiert. Brook verdammt die vertrauten Requisiten und Dekorationen des Theaters als gutbürgerliches, aber unwesentliches Rahmenwerk, das bedauerlicherweise in den Köpfen des Publikums oft als eigentlicher Bestandteil einer Theateraufführung gewertet wird. Jeder leere Raum ist für Brook eine nackte Bühne. Für lebendiges, berührendes und wahrhaftiges Theaterspiel sei nichts weiter nötig als ein leerer Raum, der allein durch das Vorhandensein eines Akteurs und eines Zuschauers zur Bühne wird (vgl. Brook 2004, S. 9).
THEORETISCHE BETRACHTUNGEN ZUM PHÄNOMEN DER LEERE
bar sind. Die Wahrnehmung und Deutung von Leere unterliegt einer Vielzahl gegebener Randbedingungen, sie wird in besonderem Maße vom spezifischen Kontext und der individuellen Sichtweise des jeweiligen Betrachters bestimmt. Trotz dieses individuellen Empfindens lässt sich bereits an der vorgenommenen Übersicht erkennen, dass bestimmte Formen von Leere generell auf eine Lesart als raffinierte ästhetische Qualität hinweisen, während andere sich eher als Ausdruck von Niedergang und Deprivation interpretieren lassen. Offen bleibt bisher, welcher Zusammenhang zwischen Gestaltintention einerseits und dem zufälligen Entstehen von Leere andererseits im Hinblick auf die Deutung von Leere besteht. Um die hier vorgenommene und zunächst theoretische Betrachtung von Arten der Leere zu überprüfen, anschaulich zu machen und weiter zu entwickeln, sollen auf den folgenden Seiten konkrete Fallbeispiele von Leere einander gegenübergestellt werden.
Die Zelle Die Zelle (lat. cella: kleiner Raum, Kammer) ist typologisch eine Art gebaute Urform des Containerraums. Das konstituierende Element der Zelle sind ihre vier umschließenden Wände, die den wenigen Inhalt einund die Welt mit ihren Sinnesreizen und ihrer Ablenkung ausschließt. Die Zelle ist in der Regel nur wenige Quadratmeter groß und ausgestattet mit dem für den Aufenthalt eines Individuums Notwendigsten: ein Bett, ein Waschbecken, evtl. ein Spiegel und ein Tisch, ansonsten ist sie frei von persönlichen Habseligkeiten und Dekorationsgegenständen. Die Zelle ist inhaltsleer und gestaltungsleer, wobei beide Formen der Leere vor allem im Verhältnis zu der als üblich gewohnten Möblierung von Zimmereinrichtungen als solche wirksam werden. Daneben ist die Zelle in einer spezifischen Weise menschenleer, denn sie wird nur von einer Person alleine bewohnt, die an diesem Ort abgeschieden von der Gemeinschaft und restringiert in ihren Betätigungs- und Kontaktmöglichkeiten einen großen Teil ihrer Zeit zubringt. In welcher Weise das Leben in der Zelle von seinen Bewohnern wahrgenommen wird, hängt von der Einbindung der Zelle in seinen kontextuellen Rahmen ab: Sie kann entweder Klosterzelle oder aber Gefängniszelle sein, der Aufenthalt in der Zelle erfolgt entweder freiwillig oder unfreiwillig. Den Bewohnern eines Klosters dient die Zelle als privater Rückzugsraum, sie begeben sich aus freier Entscheidung in Klausur, um in klösterlicher Tradition Einkehr zu halten, zu beten oder zu reflektieren. Die Kargheit der Einrichtung, das Fehlen jeder „Gemütlichkeit“ versprechenden Ausstattung wird als Ausdruck eines freiwilligen Verzichts auf materielle Güter betrachtet. Die gestalterische Beschränkung der Zelle 43
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soll die Konzentration der Bewohner auf spirituelle Inhalte vereinfachen. Das Leben in einer Klosterzelle meint einen (heutzutage häufig zeitlich begrenzten) Rückzug aus der Welt des Lärms, Konsums und der Ablenkung und stattdessen das Rückgeworfensein auf sich selbst. Im Unterschied zum White Cube, von dem später noch die Rede sein wird und der die außenweltlichen Störungen und Reize auf ein Minimum reduziert, um die sinnliche Wirkung des im Zentrum stehenden Kunstwerkes hervorzuheben, wird in der Zelle der Bewohner selbst zum Zentrum des Raumes. Unmittelbar typologisch verwandt mit der Klosterzelle ist die Gefängniszelle, ebenfalls ein sehr kleiner Raum, der zweckmäßig, karg und dekorationslos ausgestattet ist. Fenster und Türen der Gefängniszelle sind allerdings mit besonderen Maßnahmen gesichert und es fehlt die Möglichkeit, diese vom innen zu öffnen und die Zelle nach Belieben zu verlassen, denn im Unterschied zur Klosterzelle ist der Aufenthalt in einem Gefängnis staatlich erzwungen. Die Freiheitsberaubung durch das Einsperren in einem Gefängnis ist eine gängige Strafform unserer Gesellschaft und als solche hingenommen, da „die Freiheit das Gut ist, das allen gleichermaßen angehört, an dem jeder mit einem universellen und beständigen Gefühl hängt.“ (Foucault 1975, 1994; 296-297). In seinem Buch „Überwachen und Strafen“, in dem der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault (1926-1984) die Entwicklung der Institution Gefängnis zu einem gesellschaftlichen Repressionsinstrument nachzeichnet, definiert der Autor als tragende Idee des Gefängnisses die Isolierung des Sträflings von der Welt und seiner Mithäftlinge, in Verbindung mit streng reglementierter Arbeit und einer individualisierten Hierarchisierung, die jedem Häftling einen bestimmten Status gemäß seiner Führung zuweist. Die vorausgesetzte und seit Beginn des 19. Jahrhunderts zwar kritisierte aber dennoch bis heute als gültig betrachtete Aufgabe des Gefängnisses ist es, das Individuum durch Überwachung, Disziplinierung und Beobachtung zu bestrafen, zu bessern und in die Gesellschaft zurückzuführen (ebd., 302319). Foucault erkennt in den Mechanismen des Gefängnisses qualitativ eine Abbildung gesellschaftlicher Strukturen, deren Organe ebenfalls, wenn auch in deutlich subtilerer Form, darauf abzielen, zu disziplinieren, zu kontrollieren, nützlich und gefügig zu machen, unterzuordnen und bestehende Machtstrukturen zu bestätigen. Bezogen auf seine strukturellen Funktionsmerkmale ist die Ähnlichkeit des Gefängnisses mit dem Kloster nach Foucault unübersehbar, hier wie dort sei das Individuum in seiner moralischen Existenz isoliert, eingebunden in einen geschlossenen, in sich vollkommenen Mikroorganismus und eingespannt
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in einen hierarchischen Rahmen, der nur vertikale Kommunikation erlaubt (ebd., 305). Eine Übersteigerung des Prinzips Zelle in seine Extremform findet sich in der so genannten Einzelhaftzelle, die als Haftraum für besonders schwere Vergehen die soziale und sensorische Deprivation der Gefangenen noch weiter treibt. Die Einzelhaftzelle liegt innerhalb des Gefängnisses in einem abgelegenen Trakt, der auch „Toter Trakt“ genannt wird, und ist nach außen weitestgehend von menschlicher Kommunikation abgeschnitten.10 Eine Einzelhaftzelle ist geräuschisoliert, alle angrenzenden Zellen sind nicht belegt. Die Zellentür ist luftdicht, das Fenster ist aus Panzerglas oder mit Sichtblenden versehen und nicht zu öffnen. Wände, Türen, Fenster und sämtliche Einrichtungsgegenstände sind weiß gestrichen. Es wird von Haftmaßnahmen berichtet, während derer die Zelle 24 Stunden dauerbeleuchtet wurde. Für die Gefangenen besteht das Verbot, etwas an die Wand zu hängen und so die künstlich gleichbleibende Umgebung zu verändern. Die völlige soziale Isolation und die sensorische Deprivation eines Gefangenen in einer Einzelhaftzelle können drastische Auswirkungen auf seine psychische und physische Gesundheit haben. In Berichten über den Einzelhaftaufenthalt ehemaliger RAF-Mitglieder ist dokumentiert, wie das Fehlen jeglicher Sinnesreize im Laufe der Zeit das vegetative Nervensystem eines Menschen angreift und die Sinnesorgane lahmlegt, durch die sich der Mensch in seiner Umgebung orientiert. Das in einer künstlich gleichbleibenden Umgebung isolierte Individuum verliert als direkte Folge der Deprivation langsam die Kontrolle über das eigene Handeln und das Vermögen rational, logisch und zusammenhängend zu denken. Als weitere physische und psychische Folgen werden Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, Konzentrationsschwierigkeiten, Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schlafstörungen, chronischer Schnupfen und Bronchitis sowie die Beeinträchtigung der psychischen Stabilität genannt. Der systematische Reizentzug eines Gefangenen in einem leeren Raum ist nach amnesty international eine Methode der Folter und widerspricht den Prinzipien der UN-Menschenrechtskommission. Ein längerer Aufenthalt in einer Einzelhaftzelle ist Fachleuten zufolge eine geeignete Methode, die Persönlichkeit eines Menschen nachhaltig zu 10 Der Autor Niels Seibert beschreibt solche Zellen aufgrund von Berichten ehemaliger RAF-Mitglieder und Häftlinge in seinem Buch „Isolationshaft in der BRD. Entstehung, Entwicklung, Export.“ Von Niels Seibert, in: Peter Nowak, Gülten Sesen, Martin Beckmann (Hrsg.): „Bei lebendigem Leib,“ Unrast Verlag, Oktober 2001. Vorliegende Arbeit verwendet einen Auszug seiner Arbeit aus dem Internet, unter: http://www.unrastverlag.de, am 3.4.2006. 45
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zerstören und ihn in einen lebensbedrohlichen Zustand zu versetzen (vgl. Seibert, 2001). Das Konzept der Einzelhaftzelle stellt vermutlich die extremste Form der menschengemachten Leere dar: Nicht das bloße Fehlen materieller oder sozialer Kontakte, sondern die erzwungene Abwesenheit jeglicher sensorischer Reize kommt der bedrohliche Urleere, von der Rudolf Arnheim sprach, am nächsten; Das Fehlen von Stimuli, die ein Verorten unserer Selbst in einem übergeordneten Bezugssystem erlauben, entkörpert uns und bedroht unsere Identität auf fundamentale Weise. Am Beispiel der Zelle wird deutlich, welche zwiespältigen Implikationen die Leere eines Raumes haben kann: Der Bewohner einer Klosterzelle sucht Weltentsagung auf freiwilliger Basis, er zieht sich in ein leeres Zimmer zurück auf der Suche nach seinem persönlichen Wesenskern oder nach der Begegnung mit Gott. Der Ausschluss der gesellschaftlichen Welt und die Reduzierung sensorischer Reize versprechen ihm behilflich zu sein bei seinem Streben nach innerer Ruhe, Klärung und Frieden. Die Idee der Klosterzelle ist es, in der selbst gewählten Einsamkeit die größtmögliche innere Fülle zu finden, frei von Ablenkung und Störung. In der unfreiwillig bewohnten Zelle verkehrt sich die Wirkung der Leere in ihr Gegenteil: Unter den Bedingungen des Zwanges und in ihrer Absolutheit ist die Isolation ein Instrument der Bestrafung, Deprivation, Entmächtigung, Einschränkung und des Ausschlusses. Während Ziel eines Klosteraufenthaltes das Festigen der Persönlichkeit ist, hat ein Aufenthalt in einer Haftzelle im schlimmsten Fall eine nachhaltige Zerstörung der Persönlichkeit zur Folge.
Das Prinzip White Cube Die Wirkung eines leeren Raumes wird allerdings nicht nur durch die jeweiligen Umstände des Aufenthalts und daraus folgend der spezifischen Perspektive des Betrachters bedingt. Mindestens ebenso bedeutsam sind das individuelle Vorwissen und der kulturelle Kontext, der uns einen Raum überhaupt erst als leer wahrnehmen und deuten lässt. Denn ebenso wenig wie in unserer Lebenswelt die Idealform absoluter Leere existiert, kann ein leerer Raum mit dem sprichwörtlichen leeren, weißen Blatt verglichen werden, das, unbeschrieben und vorgabenlos, auf Setzung und Gestaltung gleich welcher Art wartet. Anders als das weiße Blatt, das in der Regel in normierter Abmessung, standardisierter Qualität und unendlich reproduzierbar erhältlich ist und somit der Idee von Neutralität und Inhaltslosigkeit vergleichsweise sehr nahe kommt, bringt der leere Raum eine Fülle konnotativer Vorgaben mit. Es wurde bereits 46
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gesagt, dass ein leerer Raum immer nur relativ leer sein kann und dass es in der Regel die Abwesenheit vertrauter Ausstattungsgegenstände, erwarteter Funktionen und gewohnter visueller Dichte ist, die einen graduellen Eindruck von Leere erzeugt. Die Abwesenheit des Erwartungsgemäßen prägt die Wahrnehmung des leeren Raumes in zweifacher Weise. Einmal macht das Nicht-Vorhandensein von dominanten Inhalten den leeren Raum zur Projektionsfläche für interpretierende Zuweisungen aller Art. Bedeutung, Sinn und Raumwirkung eines leeren Raumes erschließen sich nicht aus sich selbst heraus, sondern leiten sich ab aus Assoziationen und Vorstellungsbildern, die aus unserem individuellen wie kollektiven Erfahrungsschatz gespeist werden. Gleichzeitig sensibilisiert gerade das Fehlen vertrauter sensorischer Eindrücke den Blick für Details, die vorher kaum in Erscheinung traten und an denen sich nun der nach Einordnung suchende Blick fest hält. In welcher Weise unser Wissen bzw. Nicht-Wissen die Wahrnehmung leerer Räume bestimmen kann, soll anhand der Dokumentation eines Selbstversuches exemplarisch nachvollziehbar gemacht werden. Hierfür werden zwei Abbildungen leerer, weißer Räume einander gegenübergestellt und miteinander verglichen. Bei dem Selbstversuch ist festzuhalten, dass es sich hierbei nicht um die Dokumentation eigener Raumbegehungen handelt, sondern um die Interpretation von Abbildungen. Auf den nachfolgenden Fotografien ist jeweils ein weißer, schmuckloser Raum zu sehen. Beide Räume wirken leer durch eine relative Inhalts- und Gestaltungsleere sowie der Abwesenheit von Menschen auf den Abbildungen. Ohne genaue Kenntnis der Zusammenhänge, welche hier für den Zweck der Diskussion hypothetisch angenommen werden soll, lassen sich die Räume in beiden Fällen als verlassene Immobilien mit einigen verloren herumstehenden Hinterlassenschaften – wie nach einem Umzug – interpretieren. In beiden Fällen könnte man aber auch vermuten, dass es sich hier um Readymades oder Objets trouvées in einem Ausstellungsraum handelt, denn hier wie dort sind kleine Absperrungen vor den Objekten zu sehen, die Objekte stehen isoliert und sind in spannungsvollem Verhältnis zu dem umgebenden Raum fotografisch festgehalten.
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Zwei leere Räume im Vergleich
Foto: Sarah Lee. Quelle: http://arts.guardian.co.uk/critic; Zugriff am 15.12.2006.
Foto: Hannes Wanderer, Andreas Göx. Veröffentlicht in: Time Out. Leere Läden in Berlin; Peperoni Books, 2003. Betrachtet man die Bilder länger, fallen die zunächst geringfügig erscheinenden Unterschiede der einzelnen Räume stärker ins Gewicht. Man beginnt die unterschiedliche photographische Perspektive als den Blick lenkend wahrzunehmen, unterschiedliche Lichtführung, Raum48
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geometrie, Decken- und Bodengestaltung lassen die Räume zunehmend verschieden erscheinen. Der links abgebildete Raum scheint eben fertig gestellt oder renoviert worden zu sein, während der rechts Gezeigte deutliche Gebrauchsspuren trägt und mehr bauliche Improvisation und Behelf erkennen lässt. Tatsächlich ist auf der linken Abbildung der Blick in einen Raum der Galerie „White Cube“ in London zu sehen, in der eine Installation des Künstlers Miroslaw Balka11 ausgestellt ist. Das zweite Bild zeigt das Foto eines leerstehenden Ladens in Berlin Charlottenburg, aufgenommen von den Berliner Fotografen Andreas Göx und Hannes Wanderer im Jahre 2003. Unter Vergegenwärtigung von Kontext und Identität der wiedergegeben Räume und Gegenstände verdichtet sich das Gesehene zu einem kulturellen Gesamtzusammenhang: In dem Galerieraum erkennt der Betrachter einen Ausstellungsraum nach dem Prinzip des White Cube (der Name der Galerie ist in diesem Fall Programm), einen der Idee nach auf das Äußerste reduzierten, kubischen, schmucklosen und leeren Raum, der abgeschlossen von der Außenwelt dem störungsfreien Ausstellen von Kunst dienen soll. Die Leere des White Cube ist Ergebnis eines reduktiven Gestaltungsprozesses, seine Reinheit und Eleganz nur um den Preis präziser Planung und perfekter handwerklicher Ausführung zu erhalten. Die Bedingungen eines solchen Kunstraumes sind auf den Zustand der Statik, Neutralität, Außerzeitlichkeit, und Kontextlosigkeit hin komponiert und kontrolliert. Die Gestaltungs- und Inhaltsleere eines White Cube sind mehr als nur die Abwesenheit von Objekten und visuellen Störungen, sie sind Ergebnis eines gestalterischen Prozesses der Raffinierung, der Vervollkommnung und der Steigerung ins Sublime.
11 Die Installation von Miroslav Balka wurde im Rahmen der Ausstellung „Karma“ im Jahre 2004 gezeigt. Die Ausstellung wurde von dem Kunstkritiker Adrian Searle mit folgendem Kommentar bedacht: „More than less is more“ – gesteigerte Reduktion ist mehr. Es gebe wenig zu sehen in der Ausstellung, warum also sollte man sie besuchen, fragt Searle provokativ, um die Antwort gleich selbst zu liefern, nämlich der intensiven Wirkung der (fast) leeren Räume wegen. Durch seine minimalen, aber hochpräzisen Eingriffe verwandele der Künstler „space into place“ und dies habe zur Folge, dass die solchermaßen gestalteten Räume „anything but empty“ seien, alles außer leer, denn von den wenigen Objekten gehe ein dichter narrativer Gehalt aus. Adrian Searle: „Silence is golden,“ 2004. Quelle: http://arts.guardian.co.uk/critic/feature/0,165358,00.html; Zugriff am 15.12.2006. 49
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Betrachtet man nun die Fotografie des zweiten Raumes im Bewusstsein seiner Entstehungsgeschichte, die als solche Zeugnis einer krisenhaften Stadtentwicklung ablegt, so wird deutlich, dass hier die Leere nicht Ergebnis gestaltender Beschränkung ist, sondern vielmehr Zufalls- oder Abfallprodukt eines Erneuerungsprozesses, der an anderer Stelle stattgefunden hat und infolgedessen dieser Raum nicht mehr gebraucht wird. Die Leere des Berliner Ladens ist nicht durch Beschränkung auf das Wesentliche (nämlich auf den reinen Raum und das ausgestellte Exponat), sondern durch den Verlust des Wesentlichen selber (nämlich den Ausfall eines zahlenden Mieters) entstanden. Der Raum ist verlassen, zurückgeblieben ist das Überflüssige, Unbrauchbare, Abgelebte und Verschmutzte. Das Raumkonzept des White Cube hat Ruhe, Konzentration und eine Fokussierung der Wahrnehmung auf das Kunstwerk zum Ideal. Der White Cube ist ein exterritorialer Ort, aus Geschichte und Kontext genommen, ohne Zukunft und Vergangenheit, implizit unveränderbar, in sich geschlossen. Im Gegensatz dazu bezieht eine leerstehende Gewerbeimmobilie ihren Sinn ausschließlich aus der Vergangenheit oder aus dem Blick in die Zukunft, ihr Zustand ist provisorisch, ihre Ruhestellung instabil und temporär, mit einer baldmöglichen Veränderung als Perspektive. Der Amerikanische Kunstkritiker Brian O’Doherty veröffentlichte in seinem Essay „Inside the White Cube“ (Erstpublikation 1976) eine kritische Analyse des ästhetischen, soziologischen und ökonomischen Potenzials, den der White Cube zur Kunstrezeption anbietet und der das Wahrnehmungsverhalten des Betrachters nicht nur sensibilisiert, sondern auch manipuliert. Für O’Doherty sind die räumlichen Qualitäten des White Cube selbst so prägend, dass sie eine eigene Art von Wahrnehmung hervorrufen: Sie entziehen das Gezeigte der Profanität, so dass man es mit besonderer Wachsamkeit, Geduld und Hochachtung betrachtet (vgl. O’Doherty 1999; 15). „The ideal gallery space substracts from the artwork all cues that interfere with the fact that it is ,art‘. The work is isolated from everything that would detract from its own evaluation of itself“ (ebd., 14). Als Heiligenschrein der Ästhetik produziert der White Cube eine eigene Sensibilität, welche die Kunst erst zur Kunst macht, und die, andersherum, die nämliche Kunst außerhalb dieses Rahmens profan werden lassen kann. „In this context a standing ashtray becomes almost a sacred object, just as the firehose in a modern museum looks not like a firehose but an esthetic conundrum“ (ebd., 15). Schlussendlich, so O’Doherty, sei der „weiße Galerieraum“ als Konvention der Kunstwelt eine ideologische Konstruktion. Die sich „neu50
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tral“ gebärdende Architektur von minimalistisch gestalteten Museumsbauten ist in Wirklichkeit alles andere als neutral. Weiß bedeutet in der Architektur niemals farb- und vorgabenlos, und ein minimaler Formenaufwand ist keineswegs identisch mit einem zurückhaltenden Gesamteindruck. O’Dohertys Aussagen werden beim Vergleich der gezeigten Beispiele nachvollziehbar, denn tatsächlich erzeugen bereits feine Nuancierungen beispielsweise der Deckengliederung eine unterschiedliche Raumwirkung und gerade der reduzierte Gesamteindruck fördert eine Differenzierung im Detail. Das Ausklammern kontextueller Bezüge wird mit dem bewussten Hervorrufen einer spannungsvollen Konzentration als eigener Kontext kompensiert. „The white wall’s apparent neutrality is an illusion. It stands for an community with common ideas and assumptions. The development of the pristine, placeless white cube is one of modernist’s triumphs – a development commercial, esthetical, and technological“ (ebd., 79).
Der anspruchsvolle ästhetische Purismus ist selbst zu „content“, zu einem autonomen künstlerischen Thema geworden, der dem Raum eine weihevolle Aura gibt, die sonst nur Räume besitzen, deren Bauformen durch ein geschlossenes Wertesystem bewahrt werden, also z.B. Kirchen oder Gerichtsgebäude (ebd., 14). Die Leere des White Cube ist nicht nur ein alchemistisches Medium im Kunstbetrieb, das als ästhetischer Geschmacksverstärker wirkt und die Voraussetzung für die Produktion bestimmter Kunstrichtungen überhaupt erst geschaffen hat,12 sondern auch eine Art hochspezialisierter Rahmen zur Vermarktung des Produktes „Kunst“13. Dass auch die „Farbe“ Weiß keineswegs so vorgabenlos ist, wie gemeinhin angenommen, bestätigt die Psychologin und Soziologin Eva Heller. In ihrem Buch über die symbolische und psychologische Wirkung von Farben macht sie anschaulich, mit welchen Gefühlen und Eigenschaften wir Weiß verbinden, die wir keiner anderen Farbe zu12 Viele Werke der Kunst, z.B. die des Minimalismus, setzen für ihre Wirkung die Existenz eines White Cube geradezu voraus, da sie in einem Raum mit reichhaltigem visuellen Angebot kaum bestehen würden und die Reinheit ihrer Umgebung benötigen, um eine genügend große Sensibilität des Rezipienten für Nuancen zu erzeugen. 13 Mit dem Aufkommen medial basierter Kunst seit Mitte der Neunziger Jahre hat der White Cube ein Pendant in der Black Box erhalten, einem ebenso künstlichen, hochkontrollierten, abgedunkelten, schwarzen Raum, welcher der Präsentation von Videokunst dient und ohne den kaum ein Museum für zeitgenössische Kunst mehr auskommt (vgl. Himmelbach, 2004). 51
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schreiben. Weiß ist in der Mythologie häufig ein Symbol von Heiligkeit, der Heilige Geist erschien als weiße Taube, Zeus näherte sich Leda als weißer Schwan, Christus wird als weißes Lamm dargestellt. Weiß ist seit dem Altertum die dominante Farbe der Bekleidung der Priester. Weiß steht für das Vollkommene, Ideale, Gute, Wahre, der Gegenpart dazu ist Schwarz als Symbol des Schlechten, Negativen. Weiß ist die Unschuld („weiße Weste“), und Weiß steht für Einfachheit und Bescheidenheit, in manchen Kulturen ist Weiß auch die Farbe der Trauer. Heller weist auch darauf hin, dass Weiß in bestimmten Zusammenhängen für das Leere und Unbekannte stehen kann: Im Französischen ist eine „weiße Stimme“ eine tonlose Stimme, eine „weiße Nacht“ ist eine Nacht ohne Schlaf. Weiße Areale auf alten Landkarten markieren unentdeckte Gebiete, eine Wissenslücke wird höflich als „weißer Fleck“ umschrieben. Psychologisch gesehen wird Weiß mit äußerer Sauberkeit und innerer Reinheit gleichermaßen verbunden. Alles, was hygienisch sein soll, ist weiß. Weiß erinnert somit auch an die Atmosphäre eines Krankenhauses, an Krankheit und Sterilität, Heller zufolge eine der wenigen negativen Assoziationen im Zusammenhang mit der Farbe Weiß (Heller 1989; 147 f). Aber auch das Bild des leeren Ladens hat einen festen Platz in unserer kollektiven Vorstellungswelt. Es ist dort verankert als Schreckgespenst einer gescheiterten Unternehmung, als Chiffre für den bedrohten Wohlstand. Die eingehende Betrachtung der Bilder in Gegenüberstellung zeigt, dass die Räume, die auf den ersten Blick so ähnlich schienen, in Wahrheit räumliche Antithesen repräsentieren: auf der einen Seite Leere als exquisites Luxusgut, eingebettet in ein elitäres Raumkonzept, auf der anderen Seite Leere als Ergebnis ökonomischen Niedergangs, als stigmatisierter Rückstand gesellschaftlichen Umbruchs. Auf der einen Seite Kultivierung, Erhöhung und Verfeinerung, auf der anderen Seite Entkultivierung, Verfall und Banalisierung.
Gebaute und ungebaute Leere Entstehungsbedingungen, individuelle Erwartung und kultureller Kontext, die Abwesenheit von Gegenständen, Ereignissen und Menschen prägen unsere Wahrnehmung und Interpretation von Orten als leer. Die verschiedenen Erscheinungsformen von Leere sind dabei nicht abgelöst aus einer komplexen Wirklichkeit, sondern Gegenstand eines vielschichtigen und im Ergebnis nicht immer vorhersagbaren Zusammenspiels aus Hinzufügen und Wegnehmen, aus Bauen und Nicht-Bauen, Tun und Unterlassen, aus Ursache und Wirkung. 52
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Am Beispiel zweier zentral gelegener Stadträume in Berlin und Magdeburg soll vergleichend beschrieben und diskutiert werden, in welcher Weise sich die Momente der Fülle und der Leere in einer Stadt gegenseitig bedingen oder ausschließen können.
Das Quartier um den neuen Hauptbahnhof Berlin Zum Zeitpunkt seiner Einweihung im Mai 2006 war das Umfeld des neuen Berliner Hauptbahnhofes (Entwurf: Gerkan, Marg und Partner, Berlin und Hamburg) noch weitgehend Urbanitätserwartungsland. Lediglich der südlich von Bahnhof und Spree gelegene Spreebogenpark (Entwurf: Weber&Saurer, Solothurn) war fertiggestellt. Seine Gestaltung ist charakterisiert durch ein Belassen der ehemaligen Stadtbrache als weiten, freien Raum, in den einige subtile räumliche Bezüge eingearbeitet wurden, wie zum Beispiel der Verlauf zweier Achsen in NordSüd-Richtung oder die landschaftliche Stärkung des Wegeverlaufs entlang der Spree. Blick vom Spreebogenpark aus in Richtung Hauptbahnhof Berlin.
Eigenes Foto, September 2006. Die strukturelle Leere um den neuen Berliner Bahnhof, die teilweise intendiert, geplant und gebaut war und teilweise ihre Ursache in der noch nicht erfolgten Fertigstellung ehrgeiziger Planungsvorhaben hatte, sorgte zunächst für große Irritation in der Berliner Bevölkerung und in der Fachwelt. Eine Auswahl von Kommentaren aus verschiedenen Zeitun53
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gen vermittelt ein Bild des ambivalenten Eindruckes. So schreibt beispielsweise der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Tobias Timm am 22.5.2006: „Mitten im Nichts. Die einsame Gegend rund um den neuen Hauptbahnhof lädt zum Balllspielen, Blumenzüchten und Gassigehen ein. […] Da draußen ist erst einmal gar nichts. Da ist kein hektisches, urbanes Treiben. Da sind auch keine Kneipen für Gestrandete, keine Drogen- oder Handy-Händler und keine Hotels, wie man sie aus den Bahnhofsgegenden anderer Städte kennt.“ (Timm 2006)
Sein Kollege Niklas Maak äußert sich ähnlich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21.5.2006: „Zunächst einmal überrascht die Tatsache, dass es um den neuen Hauptbahnhof herum so gut wie gar nichts gibt. Die typische Mischung aus Rotlichtschrott und Billighotellerie in den mittelalterlichen engen Gassen, in die man im 19. Jahrhundert die Bahnhöfe wie einen sozialen Staubsauger hineingerammt hatte – überhaupt all das, was man mit ,Bahnhofsviertel‘ assoziiert, fehlt hier.“ (Maak 2006)
Die Autorin Claudia Schwartz schreibt am 26.5.2006 in der Neuen Zürcher Zeitung: „Bahnreisende werden in Zukunft am befremdlichsten Ort ankommen, den Berlin zu bieten hat. Der neue Hauptbahnhof liegt im Herzen der Stadt und gleichwohl im Niemandsland.“ (Schwartz 2006)
Aus heutiger Sicht mag man die kritischen Kommentare der zitierten Autoren als reflexhafte Abwehrreaktion abtun, dennoch geben sie einen wertvollen Hinweis auf einen wichtigen Mechanismus, der unsere Wahrnehmung von Stadträumen als „dicht“ bzw. „leer“ beeinflusst. In den Textauszügen wird die Einschätzung des Bahnhofsviertels als leer im Sinne von „Nichts“, „Wüstenei“ und „Niemandsland“ stets mit dem Verweis auf das Bild des Bahnhofs aus dem 19. Jahrhundert untermauert. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, dass die große Zeit der urbanen Bedeutung von Bahnhöfen lange vorbei ist; in einem atmosphärischen Wendemanöver der Meinungsmacher wird das traditionell dichte, aber schäbige Bahnhofsmilieu, „wie man es aus anderen Städten kennt“ (Timm 2006) und „überhaupt all das, was man mit ,Bahnhofsviertel‘ assoziiert“ (Maak, 2006) romantisch verklärt und als stadtbildprägend vorausgesetzt. Bestimmend für diese Wahrnehmung ist das 54
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Fehlen des zumindest jedem (älteren) Europäer vertrauten Bahnhofsgefühls und diese Vertrautheit lässt Kritiker wie Passanten die großzügige Einbettung des Bahnhofs in eine Stadtlandschaft aus spektakulärer Architektur und Freiräumen nicht vorbehaltlos wahrnehmen, sondern immer nur vergleichend mit der festen Vorstellung von Bahnhofsgegend. Die fehlende Bestätigung dieser Vorstellung führt selbst unter Fachleuten zu der Interpretation des Nicht-Vertrauten als das „Nichts“. Zu sehen ist nicht etwa generöse Offenheit und ein überwältigender städtischer Freiraum, sondern befremdliches „Niemandsland“. Diesen Einschätzungen zum Trotz war der neue Stadtraum bereits einen Monat nach Einweihung fest im Besitz der Berliner Bevölkerung, auf der Wiese des Spreebogenparks wurde bis in die Nacht hinein gepicknickt, gespielt, flaniert und gefeiert. Der Spreebogenpark und sein Umfeld ist heute, ca. vier Jahre nach seiner Einweihung ein mit sozialer Funktion hoch angereicherter urbaner Freiraum. In städtebaulicher Hinsicht macht ihn gerade die Weite des Raums und die Distanz des Bahnhofs zu den benachbarten Repräsentationsarchitekturen, die durch diese erst ihre ganze kompositorische Wirkung entfalten können, zu einem der seltenen Beispiele von luxuriöser Leere im wahren Wortsinne.
Das Quartier um den Hauptbahnhof in Magdeburg Dem Beispiel des Berliner Hauptbahnhofes soll der neu gestaltete, zentrale Bereich um den Hauptbahnhof in Magdeburg gegenübergestellt werden. Die Innenstadt Magdeburgs war bis zu ihrer fast vollständigen Zerstörung im Januar 1945 ein in sich geschlossenes, dicht bebautes Quartier mit Theatern, Geschäften, Hotels und Gastronomie. Der Wiederaufbau der Stadt gemäß sozialistischer Idealvorstellungen, denen zufolge die Gestaltung des Bahnhofsvorplatzes als großartiger urbaner Empfangsraum vorgesehen war, blieb aus politischen und ökonomischen Gründen unvollendet. So kam es, dass der „Platz“ vor dem Bahnhof Magdeburgs bis zu Beginn der Neunziger Jahre wenig mehr als eine riesige Freifläche geblieben war, die als Parkplatz und zur Nahversorgung der Bevölkerung mit Obst und Gemüse in einer Blechbaracke genutzt wurde und deren 200 Meter voneinander entfernte Platzseiten ein Trampelpfad verband. In Verbindung mit dem monumentalen, ebenfalls unvollendet gebliebenen „Zentralen Platz“ war die Mitte Magdeburgs über 40 Jahre lang ein Freiraum, der sich schneisenartig vom Bahnhof bis an die Elbe zog und die Stadt in eine Nord- und eine Südhälfte teilte (Brückner 2002; 23).
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„Wer sich auf dem ,Zentralen Platz‘ verabreden wollte, der musste schon nähere Ortsangaben machen, damit der andere ihn nicht verfehlte. [...] Allein für die Überquerung des Zentralen Platzes in Längsrichtung benötigte man 15 Minuten. Wer die weite Strecke nicht zu Fuß laufen wollte, stieg in die Straßenbahn. Man konnte mit der Bahn von einem Geschäft zum nächsten fahren. Einzige Insel und einziger Anziehungspunkt war ein großer Springbrunnen auf der westlichen Seite, wo der Platz sich zwischen Torbauten verengte“ (ebd., 24/25).
Während Touristen nach der Wende vergeblich und irritiert inmitten „einer weiten Stadtwüste“ nach der „Innenstadt“ suchten, wurde diese Schneise offenbar von den Magdeburgern selbst als „großzügiger Freiraum und wertvolle Grünanlage“ wahrgenommen (ebd., 24/25). Blick über die Freifläche am Hauptbahnhof Magdeburg nach Nordosten im Jahre 1969.
Foto: Stadtplanungsamt Magdeburg. In: Bauwelt 16/2002; 22. Nach der Wiedervereinigung war die Neubebauung der ca. 33.000 qm großen Fläche am Bahnhof mit einem Handels- und Geschäftszentrum wenig überraschend. Sie war Gegenstand in einer europaweiten Ausschreibung Anfang der Neunziger Jahre, welche die Philipp Holzmann AG für sich entscheiden konnte. Nach einem Architektenwettbewerb wurden insgesamt fünf Architekturbüros14 mit der Planung für das neue 14 Im Einzelnen waren dies die Büros Dr. Sprenger aus Hannover, JSK Dipl.Ing. Architekten und KSP Engel und Zimmermann Architekten aus Braun56
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„City Carée“ beauftragt. Ende 1999 war das „City Carée“ mit einem Großkino (2800 Plätze), einem Einzelhandelszentrum mit ca. 60 Läden (60.000 qm), Büroflächen (ca. 80.000 qm) und einer Tiefgarage mit 1200 Stellplätzen fertiggestellt. Es reklamiert für sich, städtebaulich die ursprüngliche Quartiersform des Platzes wieder aufzunehmen und durch die Gliederung in sechs Einzelbauwerke die Korngröße der traditionellen Stadtbausteine zu berücksichtigen. Nach der Eröffnung wird die Neubebauung von der Architekturkritik skeptisch besprochen, unter anderem wird auf eine neue Form der Leere verwiesen. Sebastian Redecke schreibt in der Bauwelt: „Es erscheint fast schon paradox. Ich verlasse die helle, frisch hergerichtete Bahnhofshalle, trete in einen neu umbauten Stadtraum hinein – und es herrscht ,Leere.‘ Dort, wo nach den Kriegszerstörungen und dem späteren Kahlschlag im Herzen Magdeburgs riesige Freiflächen blieben, die sich im Osten über einen ,Zentralen Platz‘ bis zum Elbufer immer weiter ausdehnten, ist heute in weiten Teilen Stadtöde“ (Redecke 2002; 15)
Die Stadtöde manifestiert sich für den Autor nicht allein durch das Verwaistsein der Bauten (das Projekt hatte sich zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Besprechung bereits als Fehlkalkulation erwiesen und Leerstände hohe Verluste für den Betreiber gebracht), sondern „weil sie von so nichtssagender Architektur sind, dass sich ein Besuch erübrigt“ (ebd., 15). Die Gebäude, als neues Entrée für die Landeshauptstadt entworfen, blieben trotz postulierter Bezugnahme auf den historischen Stadtgrundriss geschichts- und identitätslos; Allerweltsfassaden und das Allerweltsangebot der üblichen Einzelhandelsketten ließen jede wie auch immer geartete Bezugnahme auf den Genius loci Magdeburgs vermissen. Unter dem Eindruck einer eigenen Begehung des „City Carées“ fünf Jahre nach der Rezension Redeckes, im Sommer 2007, muss an dieser Stelle seiner Einschätzung gefolgt werden: Die Mächtigkeit der bis zu sieben Geschossen hohen Blöcke, ihre Banalität, vor allem aber die für diesen Bautyp symptomatische Introvertiertheit machen den verbleibenden Außenraum zu einem zugigen, grauen, belanglosen Rest, der nicht von Architektur gestaltet, sondern von Masse verstellt wirkt. Das Einzelhandelsangebot des Centers saugt jedes Leben in das Innere des Gebäudes, zurück bleibt ein menschenleerer, visuell trivialer, funktional
schweig sowie die Architekten RKW Rhode, Kellermann, Wawrowsky+ Partner sowie HPP Hentrich-Petschnigg&Partner aus Düsseldorf. Quelle: http://www.city-carée.de; Zugriff 09.2007. 57
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bedeutungsloser, privatisierter Außenraum mit dem Charme eines anonymen Büroparks in der Peripherie. Stadträume am Eingangstor in die Landeshauptstadt Magdeburg: Glatte Oberflächen, teure Materialien, tote Klingelschilder und leere Briefkästen im „City Carée“ Magdeburg. Das Stadtmobiliar lässt die gute Absicht erkennen, einen hochwertigen öffentlichen Raum mit „PiazzaFlair“ entstehen zu lassen.
Eigene Bilder, Juli 2007. Der Stadtraum wirkt leer, obwohl – oder gerade weil die Freifläche vor dem Bahnhof gefüllt wurde, obwohl – oder gerade weil das „Loch“ mit einem voluminösen Bau und die Freiflächen mit Gestaltung gestopft 58
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wurden. Der Eindruck der Leere wird untermauert durch das postulierte Leitbild der Erbauer, hier einen identitätsstiftenden Mittelpunkt und Stadtkern für Magdeburg zu errichten, durch die städtebaulich zentrale Lage und die bereits erwähnte Erwartung, ein dichtes urbanes Gedränge am Bahnhof vorzufinden. Anders als in Berlin entsteht der Eindruck der Leere in Madgeburg allerdings nicht durch räumliche Weite, sondern durch ideelle Enge, nicht durch das Luxurieren in freiem Raum sondern durch harte kommerzielle Kontrolle über ihn. Der zentrale Stadtraum in Magdeburg leidet unter physischer Überlastung und gleichzeitig unter kultureller und sozialer Bedeutungslosigkeit. Eine bürgerschaftliche Aneignung und freie Besetzung der angebotenen „öffentlichen“ Räume nach dem Beispiel Berlins sind in Magdeburg nur schwer vorstellbar. Dass die Wahrnehmung von Leere in öffentlichen Räumen nicht nur eine Frage objektiver Raumdeterminanten und subjektiven Empfindens ist, sondern auch geschichtlicher Entwicklung und situationsspezifischen Erinnerungen unterliegt, bestätigt eine Untersuchung von Heinz Nagler und Ulrike Sturm aus dem Jahre 2003 (Nagler, Sturm 2004). Die beiden Wissenschaftler befragten die Einwohner mehrerer ostdeutscher Städte nach ihrer Bewertung der Umgestaltung zentraler Stadträume in der Innenstadt in den Neunziger Jahren. Sie erhielten widersprüchliche Ergebnisse: So wurde z.B. durch die Bewohner von Chemnitz einerseits der Verlust der „majestätischen Leere von Magistrale und zentralem Platz der DDR-Gestaltung“ durch das „Zubauen“ der Innenstadt mit großformatigen Gebäudeblöcken nach der Wende bedauert. Andererseits wurde die reduzierte und ästhetisierte Gestaltung der kommerziellen Flächen der neunziger Jahre als „zu leer“ wahrgenommen, denn hier diente die vertraute, kleinteilige Gestaltung der Siebziger Jahre als Vergleichsmaßstab. So wird in der Studie ein zweischneidiges Urteil über die neue Mitte in Chemnitz dokumentiert, die einerseits als „zu eng“ und andererseits „zu leer“ empfunden wird – jeweils im Vergleich mit dem altgewohnten Zustand, der einer Neubebauung geopfert wurde (vgl. Nagler, Sturm 2004; 5).
Das Verschwinden von Orten Abriss- und Neubaumaßnahmen erzeugen eine sichtbare, physischmaterielle Leere im Stadtgewebe, die von unterschiedlicher Dauer sein kann, und je nach Bedeutung des abgerissenen Gebäudes und der Art seiner Kompensation das Gefühl des Verlustes bei den Einwohnern hinterlässt. Je schneller, großmaßstäblicher und radikaler der Transformationsprozess erfolgt, je weniger Zeit den Bewohnern einer Stadt bleibt, 59
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sich ihrerseits an die neuen Strukturen anzupassen und sich diese anzueignen, desto größer ist die Gefahr, dass das Neue die Lücke, die das Verschwinden des Alten gerissen hat, zwar im materiellen Sinne füllt, den Verlust der immateriellen Bedeutung aber umso deutlicher spürbar macht. Kollektive Wertvorstellungen lassen sich nicht im Schnellverfahren auf beliebige Objekte umprogrammieren, es fehlen Erfahrung und Gebrauch, die noch nicht ideell „aufgeladenen“ Gebäude wirken anfangs häufig steril und seelenlos auf den Betrachter. Hierbei spielt auch der Charakter des Neuen eine Rolle: ähnelt der Neubau dem Alten in Struktur und Gestalt nicht oder wenig, fehlen die Bezugspunkte möglicher Identifikation. Die Gebäude sind fremd, sie be-fremden den Betrachter und ent-fremden ihn zugleich von seiner Umgebung. Unabhängig von objektiver visueller Intensität und Lebendigkeit der Straßen erscheint dem Betrachter der ihn umgebende Stadtraum leer, weil für ihn ohne identifikatorischen Gehalt. Dieses Gefühl wird noch verstärkt, wenn der Transformationsprozess nicht nur das Erscheinungsbild einer Stadt, sondern auch Lebensweise und Sozialstruktur umkrempelt, wenn also das Angebot der persönlichen Verankerung und Verortung reduziert wird. Es ist also nicht allein die Tatsache der Erneuerung an sich, sondern die Art ihrer Umsetzung verantwortlich für die Wahrnehmung einer speziellen Art der Leere, die durch den Umbruch entsteht und die ein Bedeutungsvakuum schafft. Die Folge ist das Empfinden von Heimatlosigkeit oder Entwurzelung der Betrachter. Je nach Geschwindigkeit der Transformation sowie einer Anknüpfung an Bestehendes kann es in unterschiedlichem Maße möglich sein, das Neue sukzessive mit semantischem Inhalt anzureichern und so das Vakuum nicht nur im materiellen Sinne wieder zu füllen. Auf die Bedeutung des Fortbestandes der gebauten Umwelt für das gesellschaftliche Denken hat Maurice Halbwachs in seiner soziologischen Studie „Das kollektive Gedächtnis“, erstmals veröffentlicht im Jahre 1925, hingewiesen. Die Möglichkeit des Rückgriffs auf die gebaute Umwelt als stabilen Rahmen bildet nach Halbwachs die Voraussetzung für eine Gesellschaft, sich ihrer durch kollektive Gedächtnisinhalte getragenen geschichtlichen Identität zu vergewissern. „Kollektive Bezugsrahmen des Gedächtnisses sind nicht einfach leere Formen, in denen sich die anderswoher gekommenen Erinnerungen niederließen, sondern sie sind im Gegenteil eben die Instrumente, deren sich das kollektive Gedächtnis bedient, um ein Bild der Vergangenheit wiederherzustellen, das sich für jede Epoche im Einklang mit den herrschenden Gedanken der Gesellschaft befindet“ (Halbwachs 1985; 22/23).
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Halbwachs ist der Ansicht, dass das Vergangene sich ohne sichtbare Gedächtnisrahmung, ohne Verankerung in der Gegenwart nicht über einen längeren Zeitraum hinweg von alleine bewahrt und uns wiedererscheint. Verändert sich nun der reale, sinnlich und dinglich wahrnehmbare Bezugsrahmen von Erinnerungsbildern stark, so drohen auch diese verloren zu gehen oder zu verschwimmen (ebd., 143 ff). Der Gedächtnisverlust einer Gesellschaft kann gefährliche Folgen haben: Ausgelöschte Erinnerungen stellen nicht nur die kulturelle Identität in Frage, sondern auch die Vorstellung künftiger Ereignisse, die in einem kontinuierlichen Zusammenhang zur Gegenwart stehen. Gedächtnisverlust schwächt die Bindung der Bewohner an ihre Stadt, den Zusammenhalt untereinander und das Verantwortungsgefühl füreinander. Dass das Vergangene als Erinnerungslandschaft keineswegs aus sich selbst heraus bedeutsam ist, sondern weil unser Sinn suchender Geist es so will, bestätigt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Sie kritisiert „Das Gedächtnis der Orte“ als eine bequeme wie suggestive Formel, weil Orte nur dann Erinnerungen festhalten, wenn Menschen auch Sorge dafür tragen. Losgelöst von menschlichen Riten, Interessen und Deutungen ist der Narrationsgehalt von Orten nicht mehr gesichert, denn nur wenn wir die erzählten Inhalte auch zu lesen wissen, bleiben diese lebendig. Ein Ort hat kein Gedächtnis an sich, welches über das Gedächtnis des Menschen hinausgeht, sondern wir weisen ihm Erinnerungsinhalte zu, die wir pflegen, instandhalten und übersetzen müssen (Assmann 2005). „Ohne flankierende Maßnahmen ist auf ein Gedächtnis der Orte wenig Verlass. Eher müsste man von einem ,Vergessen der Orte‘ sprechen. Wie sich die Oberfläche sofort wieder schließt, wenn ein Stein ins Wasser gefallen ist, so schließen sich auch an den Orten die Wunden bald wieder, neues Leben und neue Nutzung lassen bald kaum noch Narben erkennen. Dafür bedarf es nicht einmal großer Anstrengungen, das sprichwörtliche Gras des Vergessens tut seine Wirkung, gegen das kein Kraut gewachsen zu sein scheint. Im Gegenteil bedarf es ungeahnter Anstrengungen, die Lücke, die Leerstelle als Spur der Vernichtung zu bewahren“ (ebd., 41).
Interessanterweise werden mit der gewaltsamen Zerstörung eines Gebäudes nicht nur ein technisch-funktionaler Mangel und eine räumliche Leerstelle geschaffen, sondern es wird gleichzeitig die immaterielle Bedeutung des Gebäudes einem Wandel unterzogen. Das Beispiel der Anschläge des 11. Septembers 2001 zeigt, wie folgenreich solch ein Wandel sein kann: Obwohl bei den Anschlägen mehrere verschiedene Gebäude in verschiedenen Städten betroffen waren, wird das Ereignis „9/11“ heute, im Blick zurück, mit der Vernichtung der Zwillingstürme 61
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des World Trade Centers bildhaft gleichgesetzt. Millionenfach zeitgleich medial übertragen, haben sich die Bilder der einstürzenden Twin Towers weltweit in das Gedächtnis gebrannt. Die Türme, bis dahin zwar eine quantitative Bereicherung der New Yorker Skyline, aber keineswegs Gebäude, die die kollektive Phantasie beflügelten wie z.B. das Chrysler Building oder die Freiheitsstatue (Leach 2006; 42) bekamen einen neuen Status: Durch ihre Zerstörung fielen sie aus ihrer relativen Belanglosigkeit heraus und wurden zu weltweit lesbaren Symbolen der Gefährlichkeit des Terrorismus. Mehr noch, sie wurden zu „Ikonen der neuen Weltordnung“ (ebd.). So wie „9/11“ in vielen Sprachen zum allgemeinverständlichen Kürzel für ein historisches, geopolitisch bedeutsames Ereignis geworden ist, ist „Ground Zero“15 zum universellen Symbol des Verlustes geworden, das durch die Anschläge verursacht wurde. Stadtsilhouette mit Phantom: Lichtinstallation in Manhattan anlässlich eines Jahrestages der Anschläge.
Quelle: http://www.groundzero.nyc.cy.us; Zugriff am 13.3.2008. „Ground Zero“ ist bis heute nicht einfach nur eine Baulücke, sondern steht auch für die Verunsicherung und eine neue, bis dahin nicht gekannte Schwäche des Westens. Die Leere, die das Einstürzen des Gebäudekomplexes des World Trade Centers in den Stadtkörper New Yorks ge15 Ground Zero, Deutsch: Bodennullpunkt; ursprünglich in der englischsprachigen Militärsprache die Bezeichnung der Explosionsstelle einer Bombe/Rakete über dem Boden. Seit dem 11. September 2001 steht der Begriff auch für das zerstörte World Trade Center in New York. 62
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rissen hat, wirkt nach: Bis heute existieren die Zwillingstürme im Bewusstsein aller, die das Stadtbild New Yorks mit ihnen kennen, Aufnahmen der berühmten Stadtsilhouette ohne die Türme wirken bis heute leer und unvollständig. Der Wandlungsprozess des ikonografischen Bedeutungszusammenhanges der zerstörten Zwillingstürme zeigt, dass wichtige, identitätsstiftende Bauwerke für Gemeinschaften einen weitaus höheren Wert als das einzelne Menschenleben haben können. So kommt es, dass um verlorene Gebäude und um verschwundene Orte, in denen sich Geschichte, Stolz und Sehnsucht einer Gemeinschaft kristallisiert hat, oft noch nach Jahrhunderten getrauert wird. Die Leere, die der Verlust eines wichtigen Gebäudes hinterlassen hat, kann sich, wie im Falle der Zwillingstürme in New York, als Fehlstelle tief in das kollektive Bewusstsein einprägen. Das Verlustgefühl schwächt sich nicht mit der Zeit ab, sondern wird im Gegenteil für die Beraubten oft so plastisch, dass es über die Zeit geradezu mythische Qualitäten erhält. Der leere Raum entlädt sich nicht mit dem Verschwinden seiner Bebauung, sondern reichert sich vielmehr mit einer neuen, oft noch fundamentaleren Bedeutung an.
Alleinsein und Einsamkeit „Vergangene Woche, Mittwoch: Deutschland spielte gegen Polen, und Deutschland war leer. Völlig leer. Ausgeräumt. Wie nach einem Menschenschlussverkauf. Leerer als die ostpolnischen Wälder im Winter, weit hinter den Masurischen Seen. Es war wie im Traum: Es gab nur diese Lärminseln, Menschenklumpungen, weit, weit weg auf irgendwelchen Kreuzungen. Und die Straße kann endlich sein, was sie immer schon war, wenn wir nicht gerade auf ihr herumfuhrwerken: Ein Strom, durch den die Stille fließt.“ (Rühle 2006)
Dieser kurze Auszug aus einem während der Fußballweltmeisterschaft 2006 veröffentlichten Zeitungsartikel beschreibt eine Sensation, von der vermutlich jeder Großstadtbewohner träumt: Der Zauber und die Ruhe, die über öffentlichen Räumen liegt, wenn man das Glück hat, sie einmal ohne die üblichen Menschenmassen zu erleben und die man sonst nur in drangvoller Enge kennt, voller Menschen, Fahrzeuge und Lärm. Man erlebt diese Sensation auch an Ferienorten – jenseits der üblichen Urlaubszeiten – wenn man den ansonsten überfüllten Strand für sich alleine zu haben scheint, bei einer Bergbesteigung, wenn man Lärm und Verkehr hinter sich gelassen hat und bei einer Wanderung durch eine weite, menschenleere Landschaft. Oder eben im Stadtraum, in dem man im Alltag um Parkplätze kämpft, im Stau steht, in der Schlage wartet oder von eilenden Passanten angerempelt wird: Wie befreiend, wenn all die ande63
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ren endlich einmal fort sind. Es ist ungewohnt still und die Stille ist noch spürbarer als bei einem Waldspaziergang, denn sie macht bewusst, von welchem Lärmpegel man sonst umgeben ist. Man hat Platz – jede Menge Platz – und kann gefahrlos Dinge tun, die normalerweise undenkbar wären: Schlangenlinien mit dem Fahrrad auf einer vielbefahrenen Schnellstraße fahren, ein Picknick auf der mittleren Fahrbahn veranstalten. Die Räumlichkeit der Straße oder des Platzes ist in ungewohnter Weise zu erfahren, ist man im Alltag doch gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf Verkehr und Mitmenschen zu richten, ein ungestörter und unverstellter Blick ist kaum möglich. Das Gefühl allein zu sein, ist in diesem Fall nicht bedrückend, sondern von besonderer Exklusivität, denn es speist sich nicht zuletzt durch das Wissen, dass die übrige Menschheit jederzeit zurückkommen kann. Man befindet sich in einer außergewöhnlichen Situation, die Stadt ist gleichsam im Ausnahmezustand, der Zauber ist a moment in time und die Zeit scheint für einen Augenblick den Atem anzuhalten. Ganz anders wirkt die Menschenleere in einer Straße, die durch ein vom Niedergang bedrohtes Stadtviertel verläuft. Als ein auf viele Orte übertragbares Beispiel sei hier ein Spaziergang durch die Ludwigstraße in Leipzig Volkmarsdorf im Herbst 2005 beschrieben. In dieser Straße sind zu jenem Zeitpunkt nur noch wenige der dicht stehenden Gründerzeithäuser bewohnt, was sich an der Vielzahl der zerbrochenen oder vernagelten Fenster zur Straße hin ablesen lässt. Die gesamte Erdgeschosszone, die traditionell Ladenlokale beherbergt, ist leerstehend und verbrettert, auf den Holzplatten kleben bereits mehrere Schichten Plakate und Anschläge, so dass deutlich wird, dass die Läden schon seit geraumer Zeit verlassen stehen. Der entvölkerten Trostlosigkeit der Häuser entspricht der Grad der Verschmutzung der Straße selbst, Müllsäcke sind zu kleinen Bergen angewachsen, keiner scheint sie mehr abholen zu wollen, auf zurückgelassenen Autos kleben dicke Lagen alter Blätter. In dieser als Geisterort anmutenden Straße wird aus dem geschätzten Alleinsein eine zutiefst beklemmende Einsamkeit, die sich paradoxerweise noch erhöht beim Anblick eines gelegentlich vorbeihuschenden Menschen. Die Leere der Ludwigstraße erscheint sinister, das Fehlen von Menschen bedeutet das Fehlen von Leben, von sozialer Kontrolle, von Sicherheit und Anbindung. Der Straßenraum wirkt nicht weit, sondern im Gegenteil verengt, da der gewohnte Blick in die Tiefe der Gebäude, in Einfahrten, Läden und Wohnungen verschlossen ist. Wie auch im Falle der menschenleeren Straße in der dicht bevölkerten Großstadt, so prägt auch in Leipzig das Hintergrundwissen die Raumwahrnehmung: Wer hier übrig geblieben ist, lebt am Rande der Gesellschaft. Dieser Ort ist in seiner Verlassenheit weder pittoresk noch stimmungsvoll, sondern 64
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lediglich traurig und beängstigend. Die Leere macht die Straße zu einem dunklen Ort in der Stadt, der – zu Recht oder zu Unrecht – zu unheimlichen Assoziationen inspiriert. Während im ersten Beispiel die Freude über das Alleinsein nicht zuletzt auf der auratischen Wirkung des Seltenen beruht, also der Tatsache, die leere Straße als exzeptionelles Ereignis zu erleben, bedrückt im zweiten Beispiel die Grundsätzlichkeit einer langfristigen Entwicklungsperspektive, die viele Straßen und viele Städte bedroht.
Die Leere als dramaturgisches Moment Ein leer gestalteter Raum ist immer auch Teil einer (mehr oder weniger expliziten) Inszenierung, und kommt, je nach Art des zur Aufführung gebrachten Stückes, zu unterschiedlicher dramaturgischer Wirkung. Auf der Bühne politischer, gesellschaftlicher oder künstlerischer Selbstdarstellung kann das Weglassen von Requisiten als eine eigene Art von Requisit zur Untermauerung von Würde, Einzigartigkeit, übergeordneter Bedeutung und Status eingesetzt werden. Auf der Bühne der darstellenden Künste wird der leere Raum ebenfalls zum narrativen Bestandteil des Spektakels. Betrachtet man Andachts- und Gedenkräume als szenischen Rahmen für das Wachrufen besonderer Erinnerungen oder das Erzeugen spiritueller Empfindungen, so erfüllt die Leere auch hier eine besondere Funktion. Vor allem überdimensionierte und somit strukturell leer wirkende Architekturen und Räume sind ein klassisches Instrument zur Inszenierung von Macht, eingesetzt nicht nur von Regierungen und geistlichen Institutionen, sondern auch von Banken, Versicherungen und großen Industrieunternehmen. Monumentalität, häufig gepaart mit Achsialität, strenger Geometrie und Massivität erzeugen eine suggestive Kulisse zur Darstellung besonderer Bedeutung, in der einerseits die fehlende Maßstäblichkeit16 zur Bezugsgröße Mensch, andererseits die semantische
16 Fast schon sprichwörtlich geworden ist die bewusste Missachtung des menschlichen Maßstabs an den Repräsentationsbauten der nationalsozialistischen Diktatur, die mit ihren megalomanen Bauten die bedingungslose Unterwerfung des Volkes unter ihre Herrschaft eindrucksvoll zu inszenieren beabsichtigte. Sie sind in der Literatur gleichsam ein Synonym für Machtarchitektur. Aus meiner Sicht trifft diese Bezeichnung jedoch auch auf subtilere bauliche Selbstdarstellungen zu. Beispiele wie das Münchener Olympiastadion (Architekten Behnisch, Frei Otto, 1972) oder Museen wie Guggenheim Bilbao (Architekt Frank O. Gehry, 1997) belegen, dass es durchaus sehr große, „mächtige“ Architekturen geben kann, die allerdings nicht gesellschaftliche Abgrenzungsmanöver vorzunehmen suchen, 65
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Nähe zum Bautypus Denkmal zur Wirkung gelangen. Die Selbstdarstellung des Bauherren durch ein „Machtgebäude“ ist das Bestreben, einen gesellschaftlichen Rang mittels einer baulichen Untermauerung zu manifestieren. Die Ausschließlichkeit gebauter Leere trägt zur angestrebten Vermittlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse bei, denn sie beinhaltet die symbolische Festschreibung des exklusiven Anspruches des jeweiligen Bedeutungsträgers, sei es nun ein Regierungsoberhaupt oder eine „Marke.“ Eines gestalterischen Vokabulars, das durch innenräumliche Leere, visuelle Zurückhaltung, Reduktion und scheinbare Einfachheit charakterisiert ist, bedient sich auch eine Reihe von geistlichen Bauten der jüngeren Vergangenheit. Bei diesen soll die gestaltete Leere nicht nur einen Machtanspruch angemessen in Szene setzen, sondern zusätzlich eine spirituelle Komponente in sich tragen. Baulich-gestalterische Einfachheit, augenscheinliche Askese und Reinheit sind von herausragender Bedeutung gerade in einer Zeit, in der es keine einmütige spirituelle Auffassung mehr gibt und es zunehmend schwierig geworden ist, sich über das „Sakrale“ zeitgenössischer Kirchenbauten zu einigen.17 Der gestalterische Purismus steht dabei nicht in zwingendem Zusammenhang zu liturgischem Ablauf oder spirituellem Inhalt, sondern zielt vielmehr auf die Generierung eines atmosphärischen Stimmungsbildes von „Erhabenheit“ und „Kontemplation“ ab, das im Besucher die eher vage Empfindung des „Heiligen“ auslöst. Anders als im Barock, da Fülle, Vielfalt und Reichtum die stilistischen Mittel waren, um eine Anmutung von Erhabenheit zu erzeugen, bietet in unserer reiz- und informationsübersättigten Gegenwart Purismus, Einfachheit und Reduktion die gewünschte komplementäre Stimmung zum Alltag. Insbesondere visuell „leer belassene“ Innenräume scheinen vielen Menschen ein angemessener Rahmen zu sein bei der Suche nach Ausgleich zu den spirituellen Defiziten der westlichen Leistungsgesellschaft. Der zurückhaltende Ausdruck ist dabei einerseits Selbstzweck, denn das Fehlen sensorischer Reize erleichtert dem Besucher die innere Sammlung und Konzentrasondern vielmehr Offenheit, Liberalität und demokratisches Miteinander ausstrahlen. 17 Als Beispiel hierfür beschreibt der Autor Andreas Denk in seinem Artikel „In dieser Zeit: das Heilige?“ das Ergebnis eines offenen Wettbewerbes für den Neubau einer katholischen Pfarrkirche St. Theodor in Köln-Vingst im Jahre 1996. 162 Büros reichten Entwürfe ein, mit dem Ergebnis einer irritierenden Fülle an architektonischen Lösungen, Baustilen, Kubaturen, Ausrichtungen, Bezügen, etc. Der Autor zieht das Fazit, dass die Bauaufgabe Kirche heute keine einheitlich definierte bauliche Fassung mehr hat, und es keine eindeutige symbolische Zuweisungen gibt (Denk 2004; 17). 66
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tion. Er ist aber auch versinnbildlichte, programmatische Aussage: spiritueller Reichtum statt materielle Fülle, innere (seelische) Ruhe statt äußere (visuelle) Unruhe. Einen gänzlich anderen Sinngehalt transportiert das dramaturgisch eingesetzte Mittel der Leere auf der Bühne eines Theaters. Hier dient der leere Raum in der Regel nicht zur äußeren Attributierung des Hauptdarstellers mit Status und Potenz, sondern zur symbolischen Verdeutlichung seines inneren Zustandes. Die Leere ist metaphorisch gemeint und steht thematisch häufig in Zusammenhang mit der Darstellung von seelischer Verletztheit, Einsamkeit, Suche, Verlorenheit und Todessehnsucht. Das Drama der menschlichen Haltlosigkeit, das Schweben des Einzelnen im Nichts ist der theatralische Stoff, der sich in verschiedenen Variationen in einer Vielzahl von Bühnenstücken18 wiederfindet und nicht selten mit Hilfe von leeren Räumen bebildert wird. Nicht zur Steigerung und Stärkung des Sichtbaren, sondern zur publikumswirksamen Darstellung des Unsichtbaren, als bewusst erzeugtes Moment gegen das Vergessen dient stilisierte Leere als ein Motiv so genannter Erinnerungsarchitektur, das in zahlreichen Gedenkstätten zum Einsatz kommt. Hier soll durch demonstratives Nicht-Bauen und NichtDarstellen eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Verschwundene erzeugt werden, die gebaute Leerstelle steht symbolisch für einen Verlust oder eine bestimmte Vergangenheit. Eines der bekanntesten Beispiele für gebaute metaphorische Leere sind die hohlen Innenräume, die „voids“, im Jüdischen Museum Berlin von Daniel Libeskind (Bauzeit 19921998), die als Verkörperung der Erinnerung an die jüdische Geschichte Berlins gedacht sind. Der konzeptionelle Ansatz des Projekts ist die „Verknüpfung von Berliner und Jüdischer Geschichte.“ Die insgesamt fünf Leerräume des Gebäudes haben Libeskind zufolge die Aufgabe, den durch den Holocaust verursachten Verlust, die Abwesenheit jüdischer Kultur in Berlin, zu versinnbildlichen. Ihre Bestimmung ist ausdrücklich nicht das Gefülltwerden, sondern das Leerbleiben (vgl. Lampugnani (Hrsg.) 2002).
18 Diese Einschätzung beziehe ich aus meiner eigenen langjährigen Erfahrung als Theaterbesucherin, sowie aus der Auswertung einer Reihe von Theaterrezensionen aus den Jahren 2005-2007, die sich insbesondere auf das jeweils leere Bühnenbild bezogen. 67
DIE GESTALTUNG DER LEERE
Blick in das Innere eines „void“
Quelle Abbildungen: Jüdisches Museum Berlin, Stadtwandel Verlag, Berlin, 5. Aufl. 2002. Die als szenischer Rahmen gebaute Leere ist eine Möglichkeit, die tatsächliche Leerstelle, die ein Verlust gerissen hat, dauerhaft zum Gedenken zu bewahren. Sie ist das künstliche Offenhalten der Wunde, sozusagen die steingewordene Anstrengung, das Vernarben und Verheilen zu verhindern. Die Atmosphäre der Konzentration und inneren Sammlung der künstlichen Leerräume, die auch in Sakralbauten zur Wirkung gelangt, unterstützt dabei die erinnernde Funktion der Räume. Anders als bei konventionellen Sakralräumen, die sich auf eine tradierte Ikonographie rückbeziehen, bedarf die gebaute Leere von Gedenkräumen in der Regel jedoch der Übersetzung und Erläuterung, um vom Betrachter in angemessener Weise verstanden zu werden.
Die dichotomen Lesarten der Leere Zusammenfassend zeigen die unterschiedlichen Annäherungen an das Sujet, dass die Leere als räumlich-kognitives Phänomen eine Chiffre für empfundene Abwesenheit ist und diese Abwesenheit sich auf verschie68
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dene Inhalte beziehen kann. Die empfundene Abwesenheit entspricht keineswegs einem allumfassenden Nichts, sondern ist grundsätzlich relativ und kontextspezifisch, ein bestimmter Umschlagpunkt, ab dem sich der Zustand der Fülle in sein Gegenteil verkehrt, ist nicht auf objektiver Grundlage festzulegen oder in Zahlen auszudrücken. Einen leeren Raum zu planen und zu bauen heißt, ihn der Trivialität zu entheben und für Nicht-Alltägliches zu kodieren. Die Bauaufgaben, die das Schaffen von leeren Räumen vorsehen, sind in der Regel außergewöhnlicher Art: Sakralräume, Repräsentationsarchitektur oder Ausstellungsarchitektur. Die Leere wird durch ihr ausdrückliches Gebaut- und Gestaltetsein zu einem exquisiten Zustand, durch sie kommt höchste Verfeinerung, Fassung, Kontrolle, Einbindung, Ordnung, Bestimmung und Reinheit zum Ausdruck. Durch die sie bedingende Architektur grenzt sie sich konzeptionell als ein Innen von einem Außen ab, das offen, unbestimmt, ungeordnet, chaotisch und verschmutzt ist. Der gestalteten Form von Leere steht ideell die zufällige Leere gegenüber, unter deren vielfältigen Erscheinungsformen die städtische Brache in dieser Arbeit vertiefend betrachtet wird. Bestimmend für die Wahrnehmung der Brachenleere ist der Status der Unbrauchbarkeit, das Fehlen einer Nutzung, das sie zu einer Art Abfall macht, der von dem herrschenden System ausgesondert worden ist. Diesem Gedanken folgend sind die beiden grundsätzlichen Erscheinungsformen von Leere Gegenstand widersprüchlicher Zuschreibungen: Gestaltete Leere
Zufällige Leere
Anwesenheit Fülle Luxus Ordnung Innen Unberührtheit Reinheit Konzentration Kontrolle Erwünschtheit
Abwesenheit Fehlen Deprivation Chaos Außen Verbrauchtheit Verschmutzung Verwirrung Ungezähmtheit Unerwünschtheit
Gleichwohl, die einfache und scheinbar schlüssige Dichotomie des Deutungsschemas für gestaltete versus zufällige Leere geht trotz der offensichtlichen Polarität ihrer Charakteristika keineswegs stets auf. Die Abwesenheit konkreter Nutzung und Funktion eines Brachraums ist immer zugleich auch die Anwesenheit einer Fülle unbekannter Möglichkeiten 69
DIE GESTALTUNG DER LEERE
und somit Potenzial. Andersherum ist die Anwesenheit von Bestimmung und Ordnung eines White Cube zugleich auch die Abwesenheit von Offenheit und alternativen Deutungsangeboten. Die Abwesenheit des einen Inhalts schafft Raum für die Präsenz eines anderen Inhalts, sei es nun die spirituelle Präsenz in einer Klosterzelle, die Aura eines ausgestellten Kunstwerkes in einem weißen Galerieraum, das zweckfreie Perambulieren in einem öffentlichen Freiraum einer großen Stadt oder aber die Rückkehr der Natur in einen verlassenen Stadtraum. Das Beispiel der Leere eines neu gebauten Stadtzentrums hat gezeigt, dass auch ungewollte Leere architektengemacht sein kann, wenn es sich wie im erwähnten Beispiel um das Misslingen einer Planung handelt. Umgekehrt zeigt das Beispiel der entvölkerten Hauptstraße während der FußballWeltmeisterschaft, dass auch von zufälliger Leere eine Atmosphäre von Luxus ausgehen kann. Die Leere als empfundene Abwesenheit ist unterschiedlich deutbar, unabhängig davon, ob sie sich in verlassenen Fabrikhallen, leeren Landschaftsräumen oder in architektengestalteten Kunsträumen manifestiert. Anschaulich wird diese Mehrfachlesbarkeit nicht zuletzt am Beispiel der Terminologie,19 die in Bezug auf städtische Brachräume im gegenwärtigen Stadtumbaudiskurs zur Anwendung kommt. Analytisch betrachtet handelt es sich bei einer Brache um eine leerstehende oder unterbelegte, fehlbelegte, stillgelegte, unausgelastete, ungenutzte, fehlgenutzte, gering frequentierte oder inaktive Fläche. Dieselbe Fläche ist jedoch auch sprachlich positivierend zu beschreiben, dann wird von einem Freiraum, Spielraum, Möglichkeitsraum, Entwicklungsraum oder offenen Raum, von Flächenpotenzial, einer Vorhaltefläche, einer Nische oder schlicht von Luxus gesprochen. Abwertend hingegen ist die Charakterisierung als überflüssiger oder überschüssiger Raum, als Lücke, Loch, blinder Fleck, Ödnis, Niemandsland, Restfläche oder Geisterort. Aus der Not der fehlenden Gewissheit macht eine wertungsoffene Diktion eine Tugend und bringt diese sprachlich auf den Punkt mit Begriffen wie unbestimmter Raum, Übergangsraum, Terrain vague, Terra incognita, Ort des Nicht-Mehr/Noch-Nicht, Zwischenraum, oder space of uncertainty.
19 Die meisten dieser Begriffe wurden Veröffentlichungen der einschlägigen Fachliteratur und der Tagespresse zum Thema Stadtumbau seit dem Jahr 2000 entnommen. Da sie sich in dieser oder ähnlicher Form in einer Vielzahl von Veröffentlichungen wiederholen, wurde auf einen präzisen Quellenverweis verzichtet. 70
DIE
U R B AN E
B R AC H E
Unbebaute Räume in der Stadt Jede Komposition lebt von der Alternation von Setzung und Pause, von Fortfahren und Innehalten, von Klang und Schweigen, von dem Hohlraum zwischen der Masse, dem Nicht-Geschehen zwischen dem Ereignis, dem Nichts zwischen dem Etwas. Und so werden auch unsere Städte lebendig und funktionsfähig durch vielfältige Leer- und Freiräume, Vorhalteflächen, Brachen, Plätze und Schneisen, die Teil des Gesamtorganismus Stadt sind. Bereits im Studium übt der zukünftige Stadtplaner die klassische Vorgehensweise des städtebaulichen Entwerfens: Bunte Modellbau-Würfel werden auf einer leeren Platte verteilt. Wo die Volumina landen, ist Stadt/Siedlung/Gestaltung1, was übrig bleibt, ist „Freiraum.“ In jeder Stadt gibt es offene Plätze und Freiflächen, die weder für den Verkehr noch für Bebauung vorgesehen sind. Diese Räume sind keineswegs Lücken oder Löcher im städtischen Gesamtzusammenhang im Sinne einer Unvollständigkeit, sondern natürlicher und wichtiger Teil ihrer räumlich-funktionalen Organisation. Die meisten dieser unbebauten Räume sind aus konkreten gesellschaftlichen Bedürfnissen und Aktivitäten heraus entstanden. Sie dienen traditionell dem Abhalten von 1
Diese Entwurfstechnik bestimmt bis heute die Denkweise von Architekten und Stadtplanern. Die umgekehrte Vorgehensweise, also die Strukturierung eines Raumes durch die prioritäre Gestaltung der nichtbebaubaren Bereiche durch Wege, Gärten und Plätze ist allerdings ebenso möglich. In dieser Umkehrung manifestiert sich nicht nur eine Variation des Spiels mit negativem und positivem Volumen, sondern eine andere Logik des Raumes: Raumwirksam und strukturprägend ist nicht das massive Volumen, sondern die freigelassene Fläche. 71
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Märkten und politischen Versammlungen, der Veranstaltung von Festen, Theateraufführungen oder Konzerten, der beiläufigen Begegnung, dem müßigen Verweilen und der Erholung, mitunter auch Übungsmanövern von Streit- oder Verteidigungskräften einer Stadt. Der Stadtplatz, wie ihn die klassische europäische Stadt hervorgebracht hat, ist Gravitationszentrum und Austragungsort der Entwicklungsgeschichte einer Stadt oder eines Stadtteils, häufig ist er mit besonderer Sorgfalt im Hinblick auf Repräsentation gestaltet. Andere, für die Identität einer Stadt weniger wichtige Flächen erfüllen die Funktion einer Vorhaltefläche für spätere Stadterweiterungen, sie dienen als temporäre Lagerstätten, Parkflächen oder werden als stadtnahe Agrarfläche genutzt. Neben diesen rein funktionalen Aspekten dienen Freiräume natürlich auch der Belichtung, Belüftung und Durchgrünung der Stadt und sind nicht zuletzt der kompositorische Gegenpart zur gebauten Massivität des Stadtkörpers. Die meisten Stadtplätze unterliegen einem regelmäßigen Rhythmus aus Füllung und Entleerung als Teil ihrer natürlichen Bestimmung. Zu festgelegten Zeiten werden sie intensiv genutzt und sind dicht besetzt mit Besuchern, Handelnden, Waren, Buden und Verkehr. Zu anderen Zeiten sind Menschen, Gegenstände und Aktivitäten verschwunden und der Raum liegt leer, gleichsam deaktiviert, in Wartestellung. Dieses Leersein ist jedoch kein Indiz einer wie auch immer gearteten Dysfunktionalität des Platzes, sondern nur ein vorübergehender Ruhezustand in Erwartung des wiederkehrenden Lebens. Neben diesen funktional definierten Freiräumen gibt es in jeder Stadt eine bestimmte Anzahl vorübergehend leerstehender oder ungenutzter Flächen, die im Zuge gesellschaftlicher oder ökonomischer Veränderungsprozesse anfallen. Diese Leeräume bilden das Gegenstück zur relativen Dauerhaftigkeit und Abgeschlossenheit der gebauten Stadt und sind, solange sie aus den natürlichen Schwankungen aus Angebot und Nachfrage des Immobilienmarktes heraus entstehen, für die Stadt unverzichtbarer Spielraum für Erneuerung, Expansion oder Experiment. Ein Beispiel für ein Konzept, in dem der Leere ausdrücklich die Rolle des städtischen Entwicklungsmotors zugeschrieben wird, ist der Entwurf „Stadt in der Stadt. Berlin – das grüne Archipel“ von O.M. Ungers, den er gemeinsam mit Rem Koolhaas Mitte der 1970er Jahre verfasst hat. Vor dem Hintergrund einer anhaltenden Abwanderung aus der Stadt definieren die Autoren die Leere als das eigentliche Potenzial Berlins, in dem alle Teile der Stadt „wie Inseln in einem Meer“ schweben (Koolhaas) und das die Diskontinuität seiner einzelnen Teile zusammenhalten soll. In eine ähnliche Richtung verweist das „Kern-Plasma-Modell“ des Architektennetzwerkes L21 für den Leipziger Osten (2001). Das „Kern-Plasma-Modell“ sieht für dieses Stadtgebiet, das ebenfalls unter hohen Leerständen leidet, den mittelfris72
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tigen Erhalt von sieben stadträumlichen „Kernen“ vor, gleichsam „Traditionsinseln“, umgeben von frei nutzbaren, so genannten „PlasmaRäumen“. Von diesen deregulierten Räumen soll der eigentliche Impuls zur weiteren Stadtentwicklung ausgehen, in ihnen ist eine Vielfalt unterschiedlicher Nutzungen und Raumaneignungsformen möglich, hier soll eine neue, komplexe Produktionsform von Stadt erprobt werden.
Urbane Leere als Folge von Umbrüchen Zu einem Problem wird der anfallende städtische Leerraum erst dann, wenn das Gleichgewicht städtischer Erneuerungsprozesse gestört ist, also unter den Bedingungen der Krise. Zu den ältesten Bedrohungen menschlichen Lebensraumes überhaupt gehören Naturkatastrophen, also unerwartet eintretende, lebensgefährdende Umweltveränderungen oder eskalierende Umweltentwicklungen mit meist natürlichen Ursachen. Die Erdgeschichte kennt zahllose Beispiele der Vernichtung von Städten und Behausungen durch Erbeben, Flutwellen, Wirbelstürme, Insektenplagen, Dürreperioden und Brände, zurück blieben entvölkerte Landstriche und ruinierte, leere Orte. Als Folge solcher natürlicher Katastrophen befinden sich weltweit Millionen von Menschen auf der Flucht oder sind obdachlos. Auch Krankheiten und Epidemien sorgen bis heute immer wieder für eine schlagartige Dezimierung von Bevölkerungsdichten. Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Grippe und die als „Schwarzer Tod“ bekannte Pest haben wiederholt erheblichen Teilen der Weltbevölkerung das Leben gekostet und damit die Entwicklungsgeschichte von Städten geprägt. Neben diesen mehr oder weniger natürlichen Katastrophen sorgen menschengemachte Katastrophen wie Krieg, Gewalt und Vertreibung für die großflächige Entleerung menschlicher Lebensräume. Die Leere als Folge plötzlichen katastrophalen oder gewaltsamen äußeren Einwirkens wirkt dabei häufig spontan überwältigender und weitreichender als Formen von Leere, die sich im Laufe langfristiger gesellschaftlicher Umwälzungen ergeben. Letztere laufen vergleichsweise friedlich und langsam ab, ihre Folgen werden oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten sichtbar, auch wenn von ihnen tiefe und weltweit räumlich wirksame Veränderungspotenziale ausgehen. Zu den wichtigsten Motoren globaler Umwälzungsprozesse zählen die demografische Entwicklung und die Migration. Das nach wie vor sehr hohe weltweite Bevölkerungswachstum findet bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts zu fast 90 Prozent in den Entwicklungsländern statt, für den gegenwärtigen Zeitpunkt wird eine Quote von rund 99 Prozent angenommen. Laut dem Berlin-Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung wird im 21. Jahrhundert die historische Wasserscheide der 73
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weltweiten Bevölkerungsentwicklung erreicht sein, dann spielt sich erstmals in der Menschheitsgeschichte das gesamte Wachstum der Weltbevölkerung in den Entwicklungsländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ab2. Mit einer extremen Divergenz der Geburtenrate von 1,1 Kindern pro Frau (in manchen Ländern Europas und Asiens) und bis zu 7 Kindern pro Frau (größtenteils in Afrika), aber auch einer sinkenden Sterblichkeitsrate in den Entwicklungsländern wächst der Unterschied in der demografischen Entwicklung der Länder weltweit mit großer Geschwindigkeit und mit aus heutiger Sicht kaum abzuschätzenden globalen Folgen. Entsprechend wird auch die Altersstruktur der verschiedenen Länder immer stärker divergieren, eine immer zahlreichere, relativ junge Bevölkerung in den Entwicklungsländern wird einer rückläufigen oder stagnierenden, verhältnismäßig alten Bevölkerung in den Industrieländern gegenüberstehen (Haub 2002). Doch nicht nur die demografische Entwicklung, sondern auch das Phänomen der Migration sorgt für eine globale Veränderung der Bevölkerungszahlen. Kein Land der Erde, das gegenwärtig nicht grenzüberschreitende Zu- und Abwanderungen (internationale Migration) oder Wanderungsbewegungen im Landesinneren (Binnenmigration) verzeichnen würde. Die Welt, in der wir leben, ist in Bewegung, und sie ist durch Bewegung, durch Völkerwanderungen, Feldzüge und Entdeckungsreisen zu ihrer heutigen Gestalt geformt worden. Soweit die Geschichtsforschung zurückreicht, war die Menschheit unterwegs auf der Suche nach günstigen Lebensgrundlagen, fruchtbarem Boden und gutem Weideland. Wanderungsbewegungen haben für gewaltige Verschiebungen der Bevölkerungszahlen zwischen Regionen, Ländern und Kontinenten gesorgt, sie haben nicht nur einen weltweiten Transfer von Kultur, Sprachen, Sitten und Gebräuchen mit sich gebracht, sondern das Anwachsen von Orten und Städten einerseits und deren Entleerung und Verödung andererseits. Das weltweite Migrationsgeschehen biete dabei ein überaus komplexes und verwirrendes Bild, das sich in ständiger Veränderung befindet und durch immer neue Phänomene gekennzeichnet ist. Der Historiker Karl Schlögel erklärt die Ursache dieser permanenten Wanderungen über den Globus mit dem Gefälle aus „Über- und Unterdruck“ unterschiedlicher Faktoren zwischen den Ländern und Regionen, die für die Lebensqualität der Menschen und ihre Perspektive entscheidend sind: Die Verfügbarkeit von fruchtbarem Land, Siedlungsfläche, natürlichen Ressourcen und Arbeitsangeboten, die herrschenden Verhältnisse von Demokratie, Freiheit, Frieden und Si2
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Sindling, Steven: Wachstum der Weltbevölkerung. Quelle: http://www. berlin-institut.org/online_handbuchdemografie/bevoelkerungsdynamik/ regionale_-dynamik/wachstum_der_weltbevoelkerung.html; Zugriff am 14.7.2008.
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cherheit, und zunehmend auch Klima, Landschaft, Freizeitangebot und Steuergesetzgebung3 (Schlögel 2000; 20). Die massiven Bevölkerungsbewegungen schlagen sich in der Entwicklung der Städte weltweit auf unterschiedliche Weise nieder: Während noch vor 200 Jahren die menschliche Existenz überwiegend bäuerlich lebte und weniger als drei Prozent der Gesamtbevölkerung in Städten wohnte, leben seit Beginn des Jahres 2007 erstmals in der Geschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Lande. Heute findet das Städtewachstum ebenso wie das Bevölkerungswachstum hauptsächlich in den Entwicklungsländern statt, wo sich die städtische Bevölkerung in den kommenden 30 Jahren schätzungsweise verdoppeln wird (Tibaijuka 2006; 10). Vor allem Megastädte4 gewinnen aufgrund ihrer wachsenden Zahl, enormen Größe und rasanten Entwicklungsdynamik immer mehr an Bedeutung. Megastädte sind Knotenpunkte von Globalisierungsprozessen und Steuerungszentralen einer zunehmend von Städten dominierten Welt. Sie sind mehr als einfach nur große Städte, an ihnen faszinieren bisher unbekannten Dimensionen des Flächen- und Bevölkerungswachstums sowie die hohe Konzentration von Menschen unterschiedlichster Herkunft, die komplexe Infrastruktur, Wirtschaftskraft, Kapital und Entscheidungsdichte. Die Städte der Welt wachsen allerdings nicht alle, und nicht alle in demselben Tempo. Während die globalen Wachstumsschwerpunkte in Asien und Afrika liegen, sind Städte in der entwickelten Welt zum Teil in eine irreversible Phase des langsamen (d.h. weniger als 0,5 Prozent jährlich) oder gar negativen Wachstums eingetreten. Parallel zu den explosionsartig anschwellenden urbanen Agglomerationen sind „schrumpfende“ Städte, also Städte mit anhaltenden Bevölkerungsverlusten seit etwa 50 Jahren zu einem ebenfalls weltweit auftretenden Phänomen geworden. Dieses folgt dabei häufig dem geographischen Muster der industriellen Revolution, die etwa hundert Jahre zuvor eine Welle des Stadtwachstums ausgelöst hatte. Bis zu Beginn der Neunziger Jahre war die nachhaltige Schrumpfung von Städten fast ausschließlich ein Pro3
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Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Existenzform des Nomaden im Kontext von Globalisierung und Digitalisierung eine neue Dimension erhalten: Nicht aus Not, sondern freiwillig und gewissermaßen als gesellschaftliche Avantgarde wählen vor allem gut ausgebildete so genannte „Jobnomaden“ einen nicht-sesshaften Lebensstil, der ihnen durch Arbeitsmöglichkeiten rund um den Globus angeboten wird. Auch der Tourismus ist eine Form der massenweise praktizierten weltweiten Ortsveränderung, für den steigende Zahlen erwartet werden. Der Begriff Megastadt ist eine quantitative Einordnung und bezeichnet je nach Definition Städte, die mehr als drei, fünf, acht oder zehn Millionen Einwohner haben. 75
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blem der Industrieländer gewesen. Drei Viertel aller schrumpfenden Städte lagen in den von der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) als entwickelt eingestuften Ländern, der größte Teil wiederum konzentrierte sich in den G-7 Staaten, obwohl diese Staaten nur einen Anteil von 8,5 Prozent an der Weltbevölkerung haben (Rieniets in Oswalt [Hrsg.] 2004; 28). Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich dieses Verhältnis, die neue politische und wirtschaftliche Instabilität löste massive Abwanderungswellen in den betroffenen Ländern Osteuropas und Vorderasiens aus, so dass dort in den Neunziger Jahren die Zahl der schrumpfenden Städte schlagartig anstieg.
Perspektiven der Stadtentwicklung Die globalen Trends langfristiger Veränderung bilden sich auf regionaler Ebene in Deutschland mit unterschiedlichen Auswirkungen ab. Insgesamt lässt sich die zukünftige demografische Entwicklungsperspektive in Deutschland mit dem häufig gehörten Satz umschreiben: Wir werden weniger, älter und bunter. Die 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, veröffentlicht im Herbst 2006,5 beschreibt anhand mehrer Varianten und unter Fortsetzung der aktuellen demografischen Entwicklung die mögliche Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis in das Jahr 2050. Danach hat die Bevölkerungszahl in Deutschland seit 1950 um 14 Millionen bzw. circa 20 Prozent auf über 82 Millionen zugenommen. Allerdings liegt schon seit 1972 die Zahl der Gestorbenen höher als die Zahl der Geborenen. Seit dieser Zeit ist jede Kindergeneration um ein Drittel kleiner als die ihrer Eltern. Der Zuwachs der Bevölkerung in den vergangenen 30 Jahren beruhte auf einem positiven Wanderungssaldo, das ausreichte, um das Geburtendefizit auszugleichen. Seit 2003 allerdings nimmt die Bevölkerungszahl in Deutschland insgesamt ab, weil die seit einigen Jahren sinkenden Wanderungssalden das Geburtendefizit nicht mehr ausgleichen können. Für die Zukunft zeigen alle Varianten der Prognose einen rapiden Anstieg des Geburtendefizits, denn bei der derzeitigen Geburtenrate von 1,3 pro Frau wird jede Elterngeneration jeweils nur um 2/3 ersetzt, mit der Konsequenz, dass die Gruppe der künftigen potenziellen Mütter immer kleiner wird. Auch bei einer unerwartet ansteigenden Geburtenrate kann langfristig der hohe Überschuss an Sterbefällen nicht mehr durch Zuwanderung ausgeglichen werden. Bei einer derzeitigen Einwohnerzahl von 82,4 Millionen in Deutschland prognostiziert das Statistische Bun-
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Quelle: http://www.destatis.de/presse/deutsch/pm2006/p4640022.htm; Zugriff am 3.4.2007.
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desamt je nach Variante einen Rückgang auf knapp 69 bis 74 Millionen im Jahre 2050. Bis dahin wird die Bevölkerungszahl unter dem Niveau des Jahres 1963 (ca. 75 Millionen Einwohner) liegen, was einem Rückgang um rund 9 Prozent bezogen auf die Bevölkerungszahl von 2003 entspricht. Die Auswirkungen des demografischen Schrumpfungsprozesses spielen sich bisher in dem überschaubaren Maßstab von einem Verlust von ca. 50.000 Einwohnern pro Jahr ab, in ihrer ganzen Dimension werden sie erst in den kommenden Jahrzehnten spürbar werden. Hingegen hat die Alterung der deutschen Bevölkerung bereits begonnen: waren 1900 in Deutschland noch etwa die Hälfte aller Einwohner jünger als zwanzig Jahre, ist es heute nur noch ein gutes Fünftel. Damit sind gegenwärtig anteilsmäßig etwa genau so viele Menschen unter zwanzig wie über sechzig. Während heute noch auf jeden 60-Jährigen ein Neugeborenes kommt, wird es im Jahr 2050 doppelt so viele 60-Jährige wie Neugeborene geben. Die steigende Lebenserwartung und das Aufrücken der geburtenstarken Jahrgänge in die höheren Altersklassen haben zur Folge, dass sich die Zahl der 80-Jährigen und Älteren von heute nicht ganz 4 Millionen auf 10 Millionen im Jahr 2050 nahezu verdreifachen wird. Sterben diese älteren Einwohnerkategorien angesichts begrenzter Lebenserwartung weg, droht in Deutschland aus dem eher schleichenden Prozess der Bevölkerungsschrumpfung eine Bevölkerungsimplosion zu werden. Auch Wanderungsbewegungen verändern die Siedlungsstruktur Deutschlands nachhaltig: Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind rund 31 Millionen Menschen – Deutsche und Ausländer – in die Bundesrepublik zugezogen, während rund 22 Millionen im gleichen Zeitraum fortzogen. Der Wanderungsgewinn betrug also insgesamt 9 Millionen Menschen. Gleichzeitig wird in Deutschland eine hohe Binnenmigration festgestellt: Laut Statistischem Bundesamt zogen beispielsweise zwischen 1991 und 1999 circa 1,7 Millionen Menschen – insbesondere junge Leute – von Ost nach West und circa 1,2 Millionen von West nach Ost. Zu diesen meist arbeitsplatzbedingten regionalen Bevölkerungsverschiebungen kommen die wohlstandsbedingten Stadt-Umland-Wanderungen aus den Kernstädten heraus in neu erschlossene Eigenheimgebiete im Umland der Städte. Der seit Beginn der 90er Jahre durch eine entsprechende Wohnungs-, Bauland-, und Steuerpolitik des Bundes und der Länder geförderte Trend der Suburbanisierung hat zur Folge, dass in den Groß- und Mittelstädten der neuen Länder die Bevölkerungszahl seit et-
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wa Mitte der 90er Jahre schneller und stärker sinkt als der Landesdurchschnitt6. Ähnlich wie die weltweite Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung und Migration ein global und parallel stattfindendes Wachstum und Schrumpftum von Städten zur Folge hat, finden wir auch in Deutschland in verkleinertem Maßstab stark divergierende Wachstums- bzw. „Schrumpfungs“-Raten unter den Städten. Während Städte mit ökonomischen Strukturproblemen in den Jahren seit 1990 erhebliche Bevölkerungsverluste hinnehmen mussten,7 verzeichneten im gleichen Zeitabschnitt ökonomisch erfolgreiche Umlandkreise8 Zuwachsraten von 18 Prozent und mehr (Klemmer, 2005). Die unterschiedlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen einzelner Regionen in Deutschland sowie der Trend der Suburbanisierung führen dazu, dass der demografische Faktor die bereits bestehenden strukturellen und ökonomischen Disparitäten der Städte und Regionen untereinander in Zukunft weiterhin verschärfen werden. Wirtschaftlich erfolgreiche Regionen werden voraussichtlich eher in der Lage sein, ihr Geburtendefizit durch Binnenwanderung und internationale Wanderung auszugleichen und sich so relativ zu „verjüngen“, während in strukturschwachen Gebieten tendenziell gerade die erwerbsfähigen jüngeren Alterskategorien bzw. junge Familien abwandern und für ein weiteres Wegbrechen des demographischen Sockels sorgen. Der Langfristeffekt dieses Prozesses ist, dass bestimmte Kreise und Städte erheblich schneller schrumpfen und altern werden als andere, und dass sie gleichzeitig auch ärmer und infrastrukturell schlechter ausgestattet sein werden. In vielen Gebieten Ostdeutschlands sowie in den altindustriellen Räumen Westdeutschlands hat dieser Prozess bereits begonnen, man spricht dort von einer „altersstrukturellen Erosion“ bestimmter Städte und Kreise. Im Jahr 2000 war das Bundesland Sachsen mit einem Durchschnittsalter seiner Bevölkerung von 44,1 Jahren das „älteste“ Bundesland, Baden-Württemberg und der Stadtstaat Hamburg
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Der Suburbanisierungsanteil an den Wanderungsverlusten beträgt z.B. in Chemnitz 51%, in Zwickau 66% und in Meißen sogar 78% (Keim 2001; 16. Keim zitiert hier Albrecht Butollo: „Umbau der sächsischen Städte – integrierte Stadtentwicklung im Zusammenhang regionaler Entwicklungen,“ Vortrag am 22.1.2001 im Sächsischen Landtag.) Z.B. Hoyerswerda (-34,8%), Schwerin (-20,5%), Halle/Saale (-20,1%), Görlitz (-19,4%), Rostock (-19,2%), Chemnitz (-18,6%), Greifswald (-8,1%), Neubrandenburg (-17,9%), Cottbus (-17,7%) oder Magdeburg (-7,2%). Quelle: Institut für Strukturpolitik und Wirtschaftsförderung, unter: http://www.isw-institut.de/veroeffentlichungen.htm; Stand 2004; Zugriff am 10.05.2006.) Z.B. Alzey-Worms, Freising, Vechta, Lüneburg, Gifhorn, Potsdam-Mittelmark, Erding, Cloppenburg, Bad Doberan und Saalkreis.
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mit jeweils 40,3 Jahren die „jüngsten“. In den Jahren 1991 bis 2003 ist die Bevölkerung Ostdeutschlands um ein Vielfaches (im Schnitt um 6,6 Jahre) schneller gealtert als die Bevölkerung in Westdeutschland (im Schnitt 3,5 Jahre). Nimmt man den Anteil der unter 6-Jährigen als Indikator zur Umschreibung des Bedeutungsanteils des demographischen Nachwuchspotentials, so standen in 2000 mit Werten von über 7 Prozent die Kreise Cloppenburg, Vechta, Erding, Emsland, Borken und Freising an der Spitze, Anteilswerte von 3,5 Prozent und weniger kannten hingegen die Städte Dessau, Gera, Suhl, Brandenburg an der Havel, Hoyerswerda und Wismar (Klemmer, 2005). Zu dem demographischen Prozess des Schrumpfens und Alterns tritt die allmähliche Heterogenisierung der Gesellschaft. Eine zukünftig zunehmende Vielfalt an Ethnien, Kulturen, Lebensstilen und Familienstrukturen in Deutschland wird nach Ansicht der meisten Soziologen zu einer weiteren Verkleinerung der Haushaltsgrößen und also zu einem Anstieg der Haushaltszahl führen. Das Bundesamt für Raumordnung und Bauwesen (BBR) prognostiziert bis 2020 eine Zunahme der Haushaltszahlen um 1,9 Millionen auf dann 40,8 Millionen9 (das entspricht 4,9% Steigerung), und auch der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e.V. erwartet dementsprechend eine kurzfristig ansteigende Nachfrage von Haushalten in den nächsten Jahren10. Dieser Effekt wird zwar in den kommenden Jahren für einen zusätzlichen Bedarf an Neubauwohnungen führen (laut BBR im Prognosezeitraum von 2005 bis 2020 bis zu 3,4 Millionen Wohnungen, das sind im Jahresdurchschnitt knapp 230.000 Wohnungen). Dieser steigende Bedarf wird allerdings vor allem in den alten Bundesländern liegen, wo schon heute eine Angebotsverknappung an Wohnraum festgestellt wird. Die regional stark unterschiedlich verlaufende Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung hat zur Folge, dass für die boomenden Zentren der Republik steigende Bodenpreise und eine neue Wohnungsknappheit erwartet wird, während in den strukturschwachen Kommunen und Regionen Deutschlands der Immobilienleerstand11 weiter wachsen wird. Der 9
Quelle: http://www.bbr-bund.de; Wohnungswirtschaftliche Daten und Trends 2006/2007. Zahlen und Analysen aus der Jahresstatistik des GdW; GdW November 2006, unter http://www.gdw.de; Zugriff am 27.2.2007. 10 Quelle: http://www.deutscher-verband.org. Zugriff am 27.2.2007. 11 Aktuelle und repräsentative Daten über das eigentliche Ausmaß des Wohnungsleerstandes in Deutschland sind aufgrund von Informationsdefiziten bei der Erhebung als auch der gegenwärtig herrschenden Dynamik aus Rück- und Neubau nicht zu erhalten. Der im Herbst 2006 von der Firma Empirica gemeinsam mit dem Immobiliendienstleistungsunternehmen Techem veröffentlichte Leerstandsindex, der auf einer Auswertung der Ab79
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einmal in Gang gesetzte Trend der (partiellen) Entleerung von ökonomischen Funktionen, Menschen und Bedeutung induziert nicht etwa eine Selbstregulierung gemäß kommunizierender Röhren, sondern vielmehr, zumindest kurzfristig, eine sich selbst verstärkende Wirkung. Nimmt man die Prognosen der 11. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zur Grundlage, so werden in Deutschland bis zum Jahre 2050 rund 12 Millionen Einwohner (als Mittelwert) im Vergleich zu heute fehlen, das entspricht der derzeitigen Bevölkerung des gesamten Bundeslandes Bayern. In diesem Zeitraum werden nicht nur die Effekte der demografischen Schrumpfung, sondern auch die Effekte der sich weiter fortsetzenden sozialräumlichen Polarisation zum Tragen kommen. Einwohnerschwund, Überalterung, Leerstand, kommunale Finanznot und als Folge das Auftreten sozialer Schwierigkeiten werden dann endgültig kein vorübergehendes oder gar primär ostdeutsches Phänomen mehr sein, sondern die gesamte Republik betreffen. rechnungsdaten der 2,1 Millionen Techem-Wohnungen in dem gesamten Gebiet von Deutschland basiert, reklamiert für sich, die zu dieser Zeit repräsentativste Erhebung zum Leerstand in Deutschland zu sein (unter: http://www.empirica-institut.de/empi2007/tel.html, Zugriff 03.2007). Der „ETLI“ (Empirica-Techem-Leerstandsindex) gibt eine Leerstandsrate für Gesamtdeutschland mit 3,9% bis 7,8% in den neuen Bundesländern an. Interessanter als die Zahlen für Gesamtdeutschland ist eine kleinräumigere Betrachtung: die Auswertung der Städtedaten im Rahmen des Wettbewerbes „Stadtumbau Ost“ (2002) belegt eine Leerstandsrate der teilnehmenden ostdeutschen Kommunen zwischen 0% und 30%, mit einem Durchschnitt von 14,8%, was einem Leerstand von 636.458 Wohneinheiten zum damaligen Zeitpunkt entsprach. Es besteht nicht nur eine Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern die Städte entwickeln sich auch auf regionaler Ebene stark uneinheitlich. Dies zeigt auch eine Beschreibung der Dynamik der Leerstandsentwicklung einzelner Städte in den Neunziger Jahren: Im Vergleich mit den Zahlen der Gebäude- und Wohnungszählung durch das Statistische Bundesamt aus dem Jahre 1995 konnten von 257 im Wettbewerb Stadtumbau Ost erfassten Städte im Programm nur 18 im Zeitraum von 1995 bis 2001 einen Rückgang des Leerstandes feststellen. Bei 116 Teilnehmern stieg der Leerstand auf das Doppelte, in 79 Städte auf den dreifachen Wert von 1995. 35 Städte mussten bis zum Jahr 2001 eine Steigerung ihrer Leerstandsquote um mehr als das dreifache hinnehmen. Betroffen von der stark negativen Einwohnerentwicklung waren insbesondere die Industriestädte und DDR-Aufbaustädte. Der Büromarkt zeichnet das Bild der gegenläufigen Entwicklungsrichtungen nach, aktuell wird angenommen, dass mit einem derzeitigen Leerstand von 9 Mio. qm Bürofläche der vorläufige Höhepunkt der Leerstandsentwicklung, bzw. die Talsohle des aktuellen Marktzyklus erreicht ist. Da allerdings die Nachfrage nach Büroflächen nicht insgesamt wächst, sondern Neuvermietungen sich vornehmlich aus Standortwechseln von Unternehmen ergeben, verschieben sich auch hier die Leerstände zu Ungunsten von strukturschwachen Lagen. 80
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Der Umgang mit den anfallenden, nicht mehr gebrauchten Räumen wird eines der beherrschenden Themen der Stadtplanung und des Städtebaus werden.
Veränderung des Stadtraumes durch Brachen Der zu erwartende anhaltende Bevölkerungsrückgang in vielen Städten Deutschlands ist der Hintergrund, die anfallenden, nicht mehr gebrauchten städtischen Räume im Zusammenhang mit der Qualität der Leere als solcher einer neuen Betrachtungsweise zu unterziehen. Die urbanen Leerräume werden als Brachen bezeichnet, unter denen in diesem Fall innerstädtische Flächen und Gebäude verstanden werden, die mindestens seit einem Jahr im konventionellen Sinne ungenutzt sind, für die jedoch eine Wieder- oder Weiternutzung angestrebt wird. Das bedeutet, dass ein bestimmendes Wesensmerkmal der Brache ihre „Wartestellung“ ist, also das Verharren in einem Status Quo, der als vorübergehend wahrgenommen werden soll. Im folgenden Abschnitt soll die Bedeutung der Zunahme von Leerräumen für die Stadt unter Schrumpfungsbedingungen auf ihre unterschiedlichen Wirkungs- und Rezeptionsebenen hin untersucht werden. Er ist in zwei inhaltliche Teile untergliedert: Im ersten Abschnitt sollen anhand von Fallbeispielen als typisch erachtete stadträumliche Veränderungen durch Leerstand und Abriss näher betrachtet und beschrieben werden. Dies geschieht mit einem analytischen Blick, der sich nicht von dem Interesse einer möglichst reibungslosen Stadtreparatur geprägt ist. Der zweite Abschnitt gibt eine Übersicht über die wichtigsten verallgemeinerbaren sozio-ökonomischen, ökologischen, kulturellen und psychologischen Implikationen, welche die Zunahme von Leerräumen in der Stadt unter den Bedingungen der Strukturkrise mit sich bringt.
Die Morphologie der leeren Stadt In populärwissenschaftlichen Texten und Reportagen über leerfallende Stadtzentren dominieren kamerafahrtartig erzählte Stimmungsbilder, unterlegt mit Zahlen und Statistiken. Diese beschwören mit einer gewissen Redundanz Verwahrlosung, Niedergang und Ödnis, Atmosphären der Geisterhaftigkeit, Auflösung und Langeweile. Die Häuser gehen kaputt, das Stadtbild ist voller Löcher, es ist perforiert, der vormals kohärente Zusammenhang zersetzt sich in Stadtschollen und Inseln. Doch auch in der umfangreichen fachwissenschaftlichen Literatur zum Thema bleibt eine grundlegende, systematische Analyse, welche die Morpholo81
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gie der schrumpfenden Stadt mit vergleichbarer Aufmerksamkeit untersucht, wie sie beispielsweise der Zwischenstadt (Sieverts 1999) zuteil geworden ist, bis heute ein Desiderat (Jessen 2007; 54). Johann Jessen, Professor am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart meint hierzu: „Der wissenschaftliche Blick auf die Stadtstrukturen schrumpfender Städte und ihre zukünftige Entwicklung ist in Deutschland aus naheliegenden Gründen bisher vor allem auf die ostdeutschen Städte gerichtet und von der Stadtumbauperspektive beherrscht. Die gegenwärtigen und erwartbaren Strukturen werden gewöhnlich daraufhin befragt, inwieweit sie sich einer Anpassung an zukünftige Erfordernisse oder gewünschte Leitbilder öffnen oder versperren, nicht aber, wie und nach welchen Regeln sie sich wahrscheinlich entwickeln werden.“ (Ebd., 49)
Um einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu leisten, hat Jessen beobachtete Strukturmerkmale zusammengetragen, die an dieser Stelle zusammengefasst wiedergegeben werden:
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Verminderte Flächenexpansion durch eine verlangsamte Suburbanisierung Transformation der Flächennutzungen durch Zunahme von Brachräumen „Entdichtung“ statt Nutzungsintensivierung: sinkende soziale und bauliche Dichte durch Abwanderung und Abriss Ausdifferenzierung städtischer Freiflächen Funktionsentmischung Sozialräumliche Polarisierung Ausdünnung und Schwächung der Zentren Zunahme kleinräumig auftretender Kontraste zwischen Inseln des Verfalls und des Erhalts bzw. des Neubeginns (ebd., 55-58).
Da für jede Stadt ein spezifischer Schrumpfungsverlauf und individuelle Strukturvoraussetzungen für ihr Kleinerwerden angenommen werden muss, bleibt die Zusammenstellung Jessens recht allgemein. Eine fundierte Prozessanalyse kann, auf Jessens Beobachtungen aufbauend, grundsätzlich nur auf eine konkrete Stadt bezogen gemacht werden. Sie sollte nicht nur die jeweiligen Eigenarten und räumlichen Charakteristika der betreffenden Stadt in Betracht ziehen, sondern auch Aspekte ihrer jeweiligen Alltagskulturen, Lebensmilieus, Raumnutzungsmuster, vorhandene kulturelle Ressourcen und Bedarfe berücksichtigen (vgl. Haller, Rietdorf 2003; 20).
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Nichtsdestotrotz soll hier an diese Zusammenstellung angeknüpft und der Versuch unternommen werden, einen weiteren Beitrag für ein besseres Verständnis der morphologischen Veränderung der Stadt durch Entleerung zu leisten. Nicht zuletzt, um eine angemessene Grundlage für den Verlauf dieser Arbeit zu schaffen, sollen als verallgemeinerbar und typisch erachtete Erscheinungsformen städtischer Brachen mit einem höheren Auflösungsgrad beschrieben werden. Auch diese Darstellung wird angesichts des frühen Stadiums und der Offenheit der Entwicklung dem Anspruch der Vollständigkeit nicht genügen können, sondern allenfalls ein weiterer Schritt auf dem Weg einer fortlaufenden Forschungstätigkeit bleiben. Für meine Untersuchung nehme ich den Blickwinkel der aufmerksamen Spaziergängerin ein, die auf ihrem Weg durch die exemplarisch ausgewählten Städte ihren Blick zwar schärft, jedoch weder über detaillierte historische Hintergründe der Stadtentwicklung informiert ist, noch in ihrer Neugier durch persönliche Erinnerungen an den Ort beeinträchtigt wird. Mit diesem ausdrücklich gewählten Außerachtlassen von Ortsgeschichte und den jeweiligen einflussreichen Akteurskonstellationen verbindet sich die Hoffnung einer größtmöglichen Vorurteilslosigkeit, wohl wissend, dass der eigene Kopf niemals frei von vorgefertigten Bildern und eigenen Assoziationen sein kann. Analysiert wird eine Reihe stadträumlicher Situationen in verschiedenen Städten Ostdeutschlands, die durch rückläufige Stadtentwicklung ungeplant entstanden sind und die in ihren wesentlichen Merkmalen aus meiner Sicht häufiger vorkommende Situationen in modellhafter Weise wiedergeben. Am Beispiel des Individuellen soll versucht werden, Muster des Allgemeinen erkennbar zu machen. Denn auch wenn Städte ähnlich wie Menschen ihre individuelle Einzigartigkeit besitzen, so haben dennoch bestimmte Bauepochen vergleichbare morphologische Stadtstrukturen hervorgebracht und es kann angenommen werden, dass die Entvölkerung von Städten ebenfalls vergleichbare Muster der Raumbildung hervorbringt. Aus diesem Grund wird auf eine Darstellung der genauen Charakteristika der Städte verzichtet, der Hinweis auf Straßennamen und Lage einer Brache in der Stadt wird nur der Vollständigkeit und eines möglicherweise gewünschten eigenen Nachvollzugs des Lesers halber erwähnt.
Fallbeispiel 1: Platz, Straße oder Feld? Beim Betreten eines Stadtraumes im Zentrum der Stadt Aschersleben ist es zunächst einmal unklar, ob es sich hier um einen Platz, einen ehemaligen Straßenraum nach Abriss einer begrenzenden Bebauung in der Mitte, oder einfach nur um einen Verkehrsverteiler handelt. Weder der 83
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Rückgriff auf das Repertoire der klassischen stadträumlichen Figuren noch ein Straßenschild geben darüber Aufschluss. Auch rein geometrisch ist der Fall nicht zu lösen: Wie viele Seiten hat der vor mir liegende Raum? Durch welche Landmarken, Gebäude oder Setzungen wird er begrenzt? Eine klare Orientierung oder Ausformulierung von Raumkanten lässt sich nicht erkennen, dennoch handelt es sich auch nicht um einen fließenden Raum im Sinne moderner Entgrenzungsarchitekturen. Stadtraum zwischen Hopfenmarkt und Badergasse im Zentrum von Aschersleben, Sachsen-Anhalt.
Eigenes Foto, Juni 2007. Schematische Darstellung der mittelalterlichen Blockstruktur und der Struktur heute als „ausgefranstes Loch.“
Eigene Grafik, 2007. Zu sehen sind mehrere abzweigende Straßen und verschiedene offene Enden einer ehemaligen Blockrandbebauung, die jeweils in den Raum hinein münden, ohne jedoch Anschluss oder Abschluss zu finden. Die Fassaden der Häuser beziehen sich nur teilweise auf den betrachteten Raum, was folgern lässt, dass die fehlende Bebauung in der Mitte vor84
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mals eine schlüssige städtebauliche Logik herzustellen vermochte, die nun zerrissen ist. Trotz der unterschiedlichen Bebauungshöhe, Baumaterialien und Dachformen der aus verschiedenen Epochen stammenden Gebäude wird offensichtlich, dass die grundsätzliche Struktur der Nachbarschaft diejenige einer mittelalterlichen Blockbebauung ist. In diesem ehemals dichten Gewebe klafft nun ein großes Loch, dessen Ränder nicht vernäht, sondern ausgefranst und zerrupft geblieben sind. Das Loch ist so groß, dass das Muster des Gewebes kaum noch erkennbar ist. Die Neigung unseres Gehirns, in einem Text fehlende Stellen sinngemäß zu ergänzen, stößt hier an ihre Grenzen. Trotz dieser Unschärfe wirkt der Raum dennoch gefasst und formuliert eine Art innenliegenden Bereich. Im Bereich innerhalb des Loches sieht man eine Reihe Metallpoller, dahinter parkende Autos, davor heruntergetretene Bordsteine, geflickschusterter Bodenbelag, rudimentäres Grün an den Rändern der Kiesfläche. Freiraum, Parkfläche, Restfläche, Unort, Niemandsland, urbane Gerümpelkammer? Trotz aller visuellen Verwirrung scheint der Raum keineswegs überfrachtet, sondern eher zu geringfügig kodiert, unterkomplex zu sein. Die positiven Brachenqualitäten frei, unbestimmt, im Dornröschenschlaf schlummernd, geheimnisvoll und verwunschen lassen sich diesem Ort nur mit viel Fantasie zuschreiben, eher drängt sich ein Eindruck von Abgelöstheit und Betäubung auf.
Fallbeispiel 2: Kleine Lücken im Straßenraum Die Pauritzer Straße in Altenburg erreicht man vom Bahnhof kommend auf dem Weg in die Altstadt. Der nördliche Teil der Straße ist ein geradezu prototypisches Beispiel für die weit fortgeschrittene Perforation eines vormals geschlossenen Straßenbildes. Über eine längere Strecke hinweg fehlt in regelmäßigem Rhythmus jedes zweite Haus, die verbliebenen Gebäude stehen jeweils frei. Angesichts der zwei- bis dreigeschossigen Bebauungshöhe und der Lage der Straße würde dies nicht grundsätzlich unproportioniert wirken. Allein durch die das Ganze, den Kontext eines zusammenhängenden Blockes implizierende Bauweise und die nun offen liegenden Brandwände wirken die Gebäude, die ihre gewohnten Nachbarn verloren haben, wie abgeschnittene Wurstscheiben auf einem Teller. Aber weniger die fehlenden Gebäude selbst, als vielmehr die fehlenden Fassaden der offen liegenden Gebäudeseiten erzeugen ein streifiges Bild aus Fußgängerperspektive, sie erst machen die Verlustleere spürbar, die städtebauliche Komposition klingt, als würde ein Textfluss gestottert.
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Pauritzer Straße nördlicher Teil in Altenburg, Thüringen.
Eigenes Foto, Januar 2008. Trotz dieser Alternation und auch ungeachtet des Fehlens eines kontinuierlichen Gegenübers der Gebäude besteht hier aber immer noch ein lesbarer Zusammenhang des Straßenraums, erzeugt in diesem Falle durch die Regelmäßigkeit und der vergleichsweise geringen Größe der Lücken. Die Zwischenräume werden von den Anwohnern als Parkflächen genutzt, was angesichts der schmalen Straße wenig überrascht. Eine Besonderheit der Situation in der Pauritzer Straße ist es, dass die Lücke meist im hinteren Bereich des Grundstückes durch ein Hinterhaus geschlossen wird und so ein an der Straße liegender dreiseitiger Hof formuliert wird. Nur im Ausnahmefall öffnet sich hier ein Durchblick. (Im Falle einer gründerzeitlichen Bebauung würde man hier im Regelfall die freistehenden schmalen Gebäudeansichten der Quergebäude und Hinterhäuser sehen, die in einen vernetzbaren Hofbereich ragen.)
Fallbeispiel 3: Große Lücken im Straßenraum Folgt man dem Verlauf der Pauritzer Straße in Richtung Innenstadt, so erreicht man einen Bereich, an dem mehrere Baufelder hintereinander leer stehen. Aus einer Reihe von Lücken ist hier ein Loch geworden, der Zusammenhang der Bebauung ist endgültig abgerissen. Nur einige in der Wiese steckende Zaunpfähle zeichnen die Grundstücksgrenzen nach.
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Der Blick fällt frei in den Hinterhof-Bereich der Gebäudezeile der Parallelstraße, zu sehen sind Garagen, Schuppen, Materiallager etc. Pauritzer Straße südlicher Teil in Altenburg, Thüringen.
Eigenes Foto, Januar 2008. Durch die städtebaulich günstige Lage am Hang erhält in diesem Beispiel das Loch jedoch die Chance, positive Qualitäten zu entwickeln. Zu einer Art Aussichtsplattform geworden, ermöglicht es eine neue Sichtachse auf das Altenburger Schloss auf dem gegenüberliegenden Hügel der Stadt, die ansonsten verstellt wäre, aus dem Verlust ist unmittelbar eine neue Qualität geworden.
Fallbeispiel 4: Verlust räumlicher Haltepunkte Die 1905 erbaute Brüderkirche liegt am Scheitelpunkt des lang gestreckten und schön restaurierten mittelalterlichen Marktplatzes in der Altstadt von Altenburg. Obwohl nicht freistehend, ist die Kirche dennoch Fokuspunkt und Landmarke des Platzes, auf den sich der gesamte Stadtraum hin ausrichtet. Die Kirche selbst ist eingefasst in eine Blockbebauung. Vor dem Gebäude liegt ein kleiner Kirchplatz, der ursprünglich durch das Zusammenlaufen von zwei Achsen in T-Form formuliert wurde. Heute fehlt eines der beiden Bürgerhäuser, die als Straßenecken dem Platz Kontur und Halt gaben. Auch die weiterführende Gebäudezeile in südlichem Verlauf (auf dem Foto rechts) fehlt, so dass anstelle eines Platzes und definierten Straßenraumes sich eine weitläufige Brache öffnet, die mit der üblichen diffusen Mischung aus Schuppen, lagernden Baustoffen und parkenden Autos belegt ist. Die Brandwand des letzten Hauses auf der Südseite (ebenfalls rechts auf dem Foto) ist notdürftig verkleidet mit schwarzem Wellblech.
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Blick von der Brüderkirche in Altenburg, Thüringen, auf den Kirchplatz
Eigenes Foto, Januar 2008. Schematische Darstellung der Einbindung der Brüderkirche. Durch das Wegbrechen einer Raumseite ist die städtebauliche Figur zerstört, die Kirche hat ihren Halt verloren.
Die Konsequenz der fehlenden Gebäude an dieser Stelle ist weitreichend: Nicht nur hat das rechte Bürgerhaus kein Gegenüber mehr und steht in saniertem Zustand wie ein stolzer Schwan allein in der Wüste. Durch die Zerstörung des markanten städtebaulichen Verhältnisses Figur-Grund kippt die Kirche in das Formlose der Umgebung ab, der Stadtraum hat seine verständlichen Konturen verloren. Die Brüderkirche, von Weitem betrachtet immer noch würdevolle und prägende Stadtkrone, ist, steht man unmittelbar vor ihr, zu einem Gebäude ohne Raum und ohne Ort geworden. In Ergänzung zu den Fallbeispielen ließ sich eine Reihe von Beobachtungen typischer stadträumlicher Veränderungen machen, die hier auch
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ohne Bezugnahme auf den konkreten Einzelfall wiedergegeben werden sollen.
Ausbildung neuer Ränder Während die Lücken und Löcher vielerorts zur Folge haben, dass traditionelle Stadtkanten sich auflösen, verschwimmen oder zerfasern, bilden sie an anderen Orten neue Ränder aus. Beispiele hierfür sind vielerorts zu finden, häufig gerade an den Randbereichen sanierter historischer Altstädte. Als Folge des Bemühens, angesichts der Krise wenigstens die „gute Stube“ Altstadt in Schuss zu halten und alle verfügbaren ökonomischen und kulturellen Kräfte auf ihre Vitalisierung zu richten, ist es nicht untypisch, dass sorgsam sanierte Gassen und Fußgängerbereiche ohne jeden Übergang abrupt in eine Zone des Niedergangs münden. Es kann geschehen, dass man bei einem Stadtspaziergang mit großer Plötzlichkeit scheinbar pulsierendes Leben, Handel und Geschäftigkeit, bunte Schaufenster und Lärm verlässt, um unmittelbar danach von Funktionsverlust, Verlassenheit und Stille umgeben zu sein. Was dem „gestärkten Kern“ gegeben wird, wird seinem unmittelbaren Umfeld genommen, das sich gleichsam als marginalisierter und entkräfteter Gürtel um das Zentrum herum legt. Im Unterschied zu der nach außen auslaufenden Stadtkante ist diese neue Form innerstädtischer Kante vor allem in der Nahsicht keineswegs diffus, sondern in der Regel scharf ausgeprägt. Sie definiert eine neue Hierarchisierung von Stadträumen in „Schauräume“ und „Rückseiten“.
Wege In einer sich entvölkernden Stadt verändert sich das gewohnte Wegenetz. Auf der einen Seite schränken notwendige Sicherungsmaßnahmen verfallender Infrastruktur die Vielfalt von Wegemöglichkeiten, die freie Zugänglichkeit von Flächen und Plätzen und damit die allgemeine Bewegungsfreiheit der Bürger ein. Verriegelte Zuwege, Zäune, Mauern, Sperrgitter und raumgreifende Einrüstungen bilden die typischen Barrieren vor allem für Fußgänger, die deswegen häufig die Straßenseite wechseln oder Umwege in Kauf nehmen müssen. Mögliche Ziele sind geschlossen, mögliche Anlässe und Optionen, bestimmte Wege zu nehmen, verringern sich. Auf der anderen Seite jedoch entstehen durch Abriss und Stilllegung neue, teilweise informelle Wegenetze, es bilden sich Trampelpfade und Abkürzungen über Brachgrundstücke, Möglichkeiten der Querdurchwegung ehemals geschlossener Blöcke oder sogar ganze Wegschneisen auf der Fläche stillgelegter Verkehrswege. Vor allem im 89
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Hinblick auf die Ideen der Spaziergangwissenschaft, von denen noch die Rede sein wird, bedeutet die Veränderung der Wegenetze in der Stadt, dass sich nicht nur ihre physische Gestalt wandelt, sondern auch der Ablauf der Bildsequenzen, in denen wir die Stadt wahrnehmen.
Sichtachsen In den meisten Städten wird versucht, städtebaulich wichtige Landmarken und die entsprechenden Sichtachsen auf diese trotz fehlender Mittel so weit als möglich zu erhalten. Dies ist nicht immer realisierbar, denkmalgeschützte Gebäude oder Gebäude von großer visueller Bedeutung für das Stadtbild verschwinden, und das nach Vertrautem suchende Auge beginnt herumzuirren. Aber auch der alltägliche und beiläufige Blick in das Innere von Gebäuden, in Schaufenster, Foyers, Gärten, Höfe und Durchfahrten findet keinen Halt mehr, er prallt ab an den allgegenwärtigen Schutzverblendungen von Fenstern und Türen. In Analogie zu den Wegeverbindungen öffnen die fehlenden Stadtbausteine aber auch neue Sichtachsen, neue Einblicke, Aus- und Durchblicke.
Oberflächen Nicht nur der dreidimensionale Zusammenhang des Stadtkörpers wandelt sich, sondern auch seine Oberfläche. Fehlende Instandhaltung, Pflege, Erneuerung und Reinigung über einen längeren Zeitraum hinterlassen Ablagerungen aller Art. Materialien entwickeln eine Patinaschicht, sie werden schmutzig, morsch, porös, verbleichen, erodieren, blättern ab, zerbröseln, alter Glanz wird stumpf. Zurückgelassene Schilder längst geschlossener Läden, Plakate längst vergangener Veranstaltungen bleiben hängen als Schicht einer plötzlich stehengebliebenen Zeit. Die Haut einer Stadt, die sich nicht mehr fortlaufend selbst erneuert, ist weniger glatt als die einer wachsenden oder stabilen Stadt, sie ist wie die eines alten Menschen, voller Narben, Male, Verfärbungen, Runzeln und Falten, Poren und Überschüsse. Anders als in einer prosperierenden Stadt, in der die Oberflächen historischer Schichten meist schnell unter einer Putzschicht verschwinden, trägt die leere Stadt die Spuren ihres vergangenen Lebens ungeschönt zur Schau. Nicht selten gewährt sie sogar unfreiwillig Einblicke unter ihre Haut und zeigt Skelett und Fleisch ihres Körpers ungeschützt bloß liegend. Auf den Bruchkanten der aus dem Blockzusammenhang gerissener Häuser sind die Abdrücke der fehlenden Nachbarn manchmal gleich einer Schnittzeichnung abzulesen.
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Die Haut einer sich entleerenden Stadt
Altenburg. Eigene Fotos, Januar 2008. Man sieht anhand dieses Innenlebens die Ausbesserungen der Vergangenheit, die Bauphasen und ihre unterschiedlichen Bauweisen und -materialien. Die noch stehenden Gebäude tragen das Gedächtnis ihrer Nachbarn als tiefe Profilierung auf ihrer Oberflächen, ein Anblick nicht ohne eigentümlichen ästhetischen Reiz. Zu dieser ungeglätteten Porosität und Schutzlosigkeit treten Behelfsmaterialien wie Plastikplanen, Wellblech, Spanplatten und einfache Verbretterungen, die als provisorische Fassadenmaterialien statt Fensterglas, Putz und Verklinkerung über die Wunden geklebt werden.
Hohle Gebäudekörper In den meisten Fällen sind die Fenster und Türen leerstehender Gebäude entweder mit Brettern vernagelt oder zugemauert. Bleiben sie ohne diesen Schutz, sind in der Regel die Glasscheiben über kurz oder lang eingeschlagen und die offenen Türen haben auch unerwünschte Besucher zu Erkundungsgängen eingeladen. Die vernagelten Gebäude stehen als massive Volumina scheinbar undurchdringlich im Stadtraum, im Vergleich dazu wirken Gebäude mit eingeschlagenen Fenstern skeletthaft und hohl, obwohl sich beide Gebäude in einem vergleichbaren Zustand des Verlassenseins befinden.
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Ein „hohler Zahn“: Das Skelett eines leerstehenden Gebäudes
Altenburg. Eigenes Foto; Januar 2008 Durch das Hohlsein scheint das offene Gebäude ruinöser, ungeschützter, verletzlicher, angreifbarer und fragiler als das geschlossene, fast wie ein Kartenhaus, das jederzeit in sich zusammenstürzen kann. Es pfeift der Wind hindurch, die Natur kann ungehindert eindringen, aber auch der gelegentliche Marodeur. Die Leere, die in dem ausgehöhlten Gebäudeskelett haust, verbreitet eine unheimliche und latent gefahrvolle Atmosphäre. Anders hingegen wirkt die umschlossene Leere, die von einer intakten und vor Zugriff schützenden Gebäudehaut gehalten wird, und die eher als ein friedvoll schlummerndes Innenleben des Gebäudes aufgefasst werden kann.
Rückseiten und Schauseiten Das Herausbrechen von Elementen des Stadtkörpers eröffnet ungewohnte Blicke unter die Haut von Architektur, aber auch in das Innere ehemalig geschlossener Blöcke. Seiten und Rückseiten der auf den Straßenraum hin ausgerichteten Gebäude werden unfreiwillig zu Frontseiten, was nie zur Schau gedacht war, muss nun Blicken standhalten. Die in den Hof orientierten Fassaden waren in zweifacher Hinsicht keine Schauseiten: Sie waren für Passanten nicht sichtbar aufgrund ihrer innenliegenden Lage, aber auch für die Bewohner kaum als Ganzes zu se92
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hen aufgrund der traditionellen Enge der Hinterhöfe. Zudem konnte nicht oder nur recht begrenzt aus ihnen heraus gesehen werden, denn dazu boten die mangelnde Aussicht, die schlechten Lichtverhältnisse oder ihre Funktion als Grenz- und Brandwand keine Möglichkeit. Ungewohnte Stadtansichten: Aus ehemaligen Rück- und Seitenfassaden sind Schauseiten der Stadt geworden.
Altenburg. Eigenes Foto, Januar 2008. Als „öffentliche“ Fassaden bieten diese ehemaligen Seiten- und Rückwände einen ungewohnten Anblick: Wenige und winzige Fenster auf kahlen Wänden, schmale Gebäudeformate, die ohne Bezug in den Raum hineinragen, spitze halbe Giebel. Die Gebäude kommen ohne Vermittlung am Boden an, Eingänge sind klein oder gar nicht vorhanden, eine Vernetzung der Gebäude untereinander durch ein geplantes Wegessystem auf dem Grund gibt es nicht. Während die Schauseiten von Straßenblöcken auch auf mittelalterlichem Stadtgrundriss normalerweise parallel zueinander verlaufen, stehen die neuen Schauseiten, als unverhofftes Ergebnis mittelalterlicher Blockbildung, frei und ohne klar geometrisch lesbares Verhältnis zueinander. Die neu entstehenden Stadtraum sind häufig von diffuser Räumlichkeit, allerdings trotz ihrer scheinbaren „Formlosigkeit“ nicht ohne städtebauliches und ästhetisches Potenzial, denn nicht nur bieten sie die Möglichkeit zur Bildung vernetzter gebäudebezogener Grünbereiche, sondern offerieren auch reizvolle neue Stadtansichten und Ausblicke.
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Rückkehr der Natur Sobald die permanenten Anstrengungen zu ihrer Zähmung und Austreibung ausbleiben, kehrt die Natur mit großer Geschwindigkeit in die Stadt zurück. Wild wachsende Pflanzen besetzen Ritzen und Poren, Risse und Löcher von Gebäuden und Straßen. Wurzeln durchstoßen Asphaltdecken von unten, Gräser und Bäume siedeln hoch auf den Dächern und Fassaden, Moos klettert über Wände, auf größeren Flächen entstehen ganze Biotope, in denen Pflanzen und Tiere ihre Heimat finden. Auch ohne das Anlegen von Parks und öffentlichen Grünräumen überund durchzieht die Natur punktuell und doch unwiderstehlich den gesamten Stadtkörper, ihre Anmutung liegt zwischen wild-romantischem Bewuchs und schlichtem Zerstörungswerk. Die Wuchskraft und die Durchsetzungsstärke der Natur geben ein eindrückliches Bild der Kurzlebigkeit und Hinfälligkeit menschlichen Wirkens ab. Biotop auf dem Dach eines leerstehenden Hauses
Weißenfels. Eigenes Foto, Juni 2007. Betrachtet man abschließend die hier zusammengetragenen Veränderungsmerkmale, so wird deutlich, dass sich in den entleerenden Städten ein differenzierter und vielschichtiger räumlicher Umstrukturierungsprozess vollzieht, der weiter greift als hoheitlich gesteuerte Erneuer94
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ungs- oder Anpassungsmaßnahmen es je bewirken können. Ab einem kritischen, fortgeschrittenen Zustand der Entvölkerung lassen sich die Brachräume einer Stadt auch bei viel gutem Willen nicht mehr als räumliches Kompositionselement lesen, als ein „Negativraum“, der als visuelles Gegengewicht zur positiven Materie (Arnheim) wirkt und eine eigene Kraft entfaltet. Ähnlich wie in der Musik, wo erst die Pause das Stück strukturiert und in seiner Gesamtheit zum Klingen bringt, dieses aber abreißt, wenn die Pause zu lang wird, so verhält es sich auch mit den Leerräumen in der Stadt: werden es ihrer zu viele, verlieren sie ihre Wirkung als organische Atemräume für die Stadtentwicklung. Durch das allmähliche Erodieren einer Stadt wird ihr Innerstes nach außen gekehrt, das Unten Liegende treibt nach oben, Sichtbares wird unsichtbar und Unsichtbares sichtbar, Marginales wird wichtig und Erhabenes sinkt in Vergessenheit.
Gesellschaftliche Implikationen der leeren Stadt Natürlich beschränkt sich die Veränderung einer Stadt, die von ihren Bewohnern verlassen wird, keineswegs auf den physisch fassbaren Raum, den äußeren Anschein oder die ästhetische Gestalt, auch wenn die räumlich-strukturellen Veränderungen auf den sozialen Raum, seine ökologischen Qualitäten und das kulturelle Leben in der Stadt zurückwirken. Die gegenseitige Abhängigkeit physischer und nicht-physischer Determinanten bildet ein komplex ineinander verzahntes Wirkungsgefüge, das nicht in linearer Folge nacherzählbar ist. Daher ist eine Zusammenstellung morphologischer Veränderungen der leeren Stadt hier um eine Beschreibung der wichtigsten Folgeerscheinungen auf das urbane Leben zu ergänzen.
Leerstand als ökonomisches Dilemma Unter wirtschaftlicher Perspektive ist die Leere zunächst einmal das Fehlen einer finanziell einträglichen Nutzung von Flächen und Gebäuden und als solches ein Zustand, der sich auf den ökonomischen Wert des Wirtschaftsgutes Immobilie auswirkt. Je nach Marktlage und Nachfrage kann die Bindung einer Fläche an bestimmte Miet- oder Nutzungsverträge bzw. das Nicht-Vorhandensein einer solchen Bindung ihren Wert steigern oder mindern. Im Unterschied zu den meisten anderen Handelsgütern ist die Spanne des möglichen Wertzuwachses oder Verlustes von Immobilien außerordentlich hoch, gefragte Lagen in boomenden Zentren erzielen mitunter Phantasiepreise, während Immobilien in Lagen mit prekärer wirtschaftlicher Perspektive nicht nur ihren 95
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Marktwert sukzessive bis zum Totalverlust verlieren können, sondern durch anfallende Steuerlast und laufende Unterhaltskosten das Vermögen ihres Eigentümers verschlingen können. Leerstehende Gebäude und Grundstücke stehen in enger wechselseitiger Beziehung zu den lokalen und regionalen, in manchen Fällen auch den überregionalen oder sogar internationalen wirtschaftlichen Bedingungen. Im Regelfall ist Leerstand eine Folgeerscheinung von lokalen Wirtschaftskrisen und ökonomischen Umstrukturierungsprozessen, nicht selten auch von spekulativen Praktiken der Immobilienwirtschaft vor Ort. Wird dieser Leerstand nicht abgefangen durch wirtschaftlichen Aufschwung oder einer Umstrukturierung des Immobilienmarktes, so läuft er Gefahr, seinerseits Auslöser einer ökonomischen Abwärtsbewegung zu werden. Für eine Stadt bedeuten weniger Einwohner ganz konkret weniger kommunale Einkünfte und damit weniger Spielraum bei den laufenden Kosten und für Investitionen. Öffentliche Einrichtungen müssen schließen, der öffentliche Nahverkehr wird eingeschränkt, Gegenden werden schlecht erreichbar und damit weiter benachteiligt, es wird gespart an nächtlicher Beleuchtung, an der Reinigung und Instandhaltung der städtischen Infrastruktur. Gehen die Einkünfte in einem Maße zurück, dass eine Stadt den in der Regel 30 Prozent betragenden Eigenanteil von Förderbeträgen nicht mehr aufbringen kann, verdoppelt das Ausbleiben von Fördermitteln den Armutseffekt. Dieser Mechanismus beinhaltet die Gefahr des Abstiegs im Städte-Ranking12 und den Statusverlust einer Stadt. Für den Eigentümer führen Mietausfälle zu einem Anstieg der nicht umlegbaren Unterhaltskosten, die wiederum über kurz oder lang zu betriebswirtschaftlichen Problemen führen. So liegt beispielsweise bei Wohngebäuden der ökonomische Umschlagspunkt, ab dem der Besitz unrentabel wird, je nach Art und Typ bei 15 Prozent – 20 Prozent Leerstand. Danach kostet der Unterhalt eines Gebäudes mehr, als damit verdient werden kann und diese Kosten können Besitzer rasch in den Konkurs treiben. Vor allem für Kommunen, die Allein- oder Teileigentümer großer Wohnungsgesellschaften sind, können nicht belegte Wohnungen 12 Städterankings sind eine beliebte Beschäftigung nicht nur von Wirtschaftsforschungsinstituten, sondern auch von populärwissenschaftlichen Medien. Hierbei werden höchst unterschiedliche Fragestellungen wie z.B. Wo ist der Wohlstand am höchsten? Welche Städte entwickeln sich besonders dynamisch? Wo werden die meisten Investitionen getätigt? Wo befinden sich die besten Unis? Wo ist die Lebensqualität am höchsten? mit unterschiedlichen Mitteln (Vergleich Wirtschaftsdaten, Leserumfragen, etc.) beantwortet. Trotz dieser spekulativen Datenlage sind Städterankings wegen ihrer medialen Verbreitung ein wichtiges Moment für die äußere Imagebildung einer Stadt. 96
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zum Verhängnis werden. Der drohende Konkurs von Wohnungsunternehmen ab einem kritischen Leerstand und die auch nach einem Konkurs weiterhin hohen laufenden Kosten für Instandhaltung, infrastrukturelle Versorgung und Grundsteuer machen ein leerstehendes Gebäude zu einem reinen Kostenfaktor, das nach dem Bankrott der Eigentümer die Kassen der Kommunen belastet. Die traditionell enge Kopplung der Immobilienwirtschaft an die allgemeine wirtschaftliche Stimmung wird zum Problem, die strauchelnde Branche zieht viele andere Gewerbe mit sich hinab. Das negative Image, das von unvermieteten Flächen ausgeht, trägt zur Verstärkung der ökonomischen Problemlage bei. Leerstand erschwert die Neuvermietung und den Verkauf, führt zu einer Rückstellung von Investitionen der Eigentümer, der Verweigerung von Krediten der Bankinstitute und steigenden Problemen mit Verschmutzung und Vandalismus. Die Marginalisierung von Leerstandsgebieten erhöht die Gefahr von Ansiedlung marginalisierter Funktionen,13 die wiederum zu einer weiteren Stigmatisierung führen. Die prinzipielle Langlebigkeit, Unbeweglichkeit und der hohe Materialwert von Immobilien verkompliziert dabei einen Selbstregulationsmechanismus des Marktes. Bei fehlender Nachfrage verschwindet die Handelsware Immobilie nicht einfach vom Markt, sie wird auch nicht von anderen Märkten absorbiert, sondern bleibt als Altlast, Geldvernichtungsmaschine und nicht zuletzt als kulturelles Dilemma stehen. Der typische Zyklus von Verknappung und Überproduktion kommt vor allem in strukturschwachen Regionen mit schlechten wirtschaftlichen Aussichten nicht zur Anwendung, ein geeignetes alternatives Instrument zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage außer Abriss ist gegenwärtig offensichtlich nicht bekannt (vgl. Kil 2001; 12). Gleichwohl gibt es durchaus Profiteure des Leerstandes und des Wertverlustes. Zum einen ermöglichen der Angebotsüberhang und die sinkenden Immobilienpreise mehr Mieterhaushalten, preisgünstige und größere Wohnungen zu kaufen oder Mietabschläge durchzusetzen (Franz 2001, 31). Mehr Wahlmöglichkeit und eine höhere Bewegungsfreiheit sorgen dafür, dass bereits die Rede ist von Schnäppchenjägern, die nach einem dramatischen Preisverfall den Eigenheimmarkt in Ostdeutschland beleben und Häuser für einen Bruchteil ihres Herstellungswertes kaufen. Vor allem Rentner und Familien auf der Suche nach
13 Susanne Hauser erwähnt im Zusammenhang mit stillgelegten Industriegrundstücken die Beobachtung, dass marginalisierte Gebiete für die Abfallwirtschaft interessant werden, deren Ansiedlung einer rehabilitierenden Entwicklung des Gebietes aber im Weg stehen (Hauser 2001; 65). 97
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einem Ferienhaus sind Nutznießer der niedrigen Immobilienpreise in manchen Regionen.14
Soziokulturelle Verluste Brachräume in der Stadt entstehen so gut wie immer durch Abwanderung der jungen, mobilen, leistungsstarken und gut ausgebildeten Mitglieder der Gesellschaft. Überspitzt und doch den Kern der Wahrheit treffend werden die Zurückbleibenden als der traurige Rest bezeichnet, der keine andere Wahl hat, als zu bleiben, oder auch die so genannten AGruppen: Ausländer, Arme, Alte, Alkoholiker, Alleinerziehende. Der Wegzug genau jener Haushalte, die traditionell den größten Beitrag zu wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Stabilität leisten, hat verstärkende Folgen für den existierenden Trend der sozialen Segregation in Deutschland. Für die ohnehin Benachteiligten verschwinden nicht nur angestammte Nachbarn und soziale Netze, es sind auch massive Einschränkungen der Nahversorgung, der Bildungs- und Freizeitangebote, der medizinischen Versorgung und des Angebots an Dienstleistungen und kulturellen Veranstaltungen zu beklagen. „Die Konzentration von Benachteiligten wirkt sich zusätzlich benachteiligend für Bewohner aus, arme Viertel machen die Bewohner ärmer, verfestigen die soziale Ungleichheit nicht nur, sondern verschärfen sie auch“ (Häußermann 2003; 150). Die Zuweisung von Belegwohnungen durch Wohnungsämter verschärft teilweise die Abwärtsspirale, es entstehen Quartiere, in denen sich Benachteiligte konzentrieren, spezifische sozialräumliche Milieus bilden sich aus, in denen bestimmte milieubedingte Denk- und Verhaltensweisen vorherrschen.15 Die geringe materielle Ausstattung und das negative Image solcher Viertel haben nicht selten eine Stigmatisierung der Bewohner zur Folge, die diese im schlimmsten Falle verinnerlichen und in Rückzug und Resignation äußeren. Vor einer pauschalen Disqualifizierung solcher „Problemquartiere“ wird allerdings in der Soziologie 14 Im Sommer 2007 machte die Stadt Leipzig von sich reden, als sie im Westen Deutschland gezielt Rentner als neue Bewohner für ihre Stadt umwarb, mit dem Hinweis auf die kulturelle Vielfalt der Stadt und die vergleichsweise günstigen zentrumsnahen Wohnungen. Martina Farmbauer: „Opa, komm doch rüber. Leipzig wirbt im Westen um Senioren als ,Neubürger‘“. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 135 vom 15.6.2007; 1. 15 Entleerte und zunehmend verwahrloste Gegenden sind Hinweis auf Brennpunkte sozialer Problemlagen, aber diese treten bei weitem nicht mehr nur in „klassischen Problemquartieren“ auf. Armut und soziale Schieflagen finden sich heute auch in baulich sanierten Wohnvierteln oder in als „Sozialwohnungen“ errichteten Neubauten (Häußermann 2003; 147). 98
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gewarnt: Gerade diese Quartiere können ein hohes Potenzial wertvollen Sozialkapitals beherbergen, das auf selbstorganisierten Hilfssystemen, starker Wohnortsbindung, und dem Vorhandensein von Nischen für anderswo marginalisierte Gruppen beruhe. Vor allem diese Nischen, günstige und deregulierte Räume abseits herrschender Marktstrukturen bieten einen Schutzraum für Experimentalisten, Gründer, Aussteiger und andere Menschen, die ansonsten kaum die Möglichkeit hätten, ihren Lebensentwurf zu verwirklichen. Und so kann im positiven Fall und unter Inkaufnahme des Verlust sozialer Sicherheit solche Räume einen Gewinn an persönlicher Freiheit für seine Bewohner bedeuten, der eine neue soziale Vielfalt, das Herausbilden neuer Arbeitsformen, kreativer Lebenskulturen und neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders befördern kann (Vgl. hierzu: Overmeyer 2005, Lange, Matthiessen, u.v.m.).
Die psychologische Wirkung urbaner Brachräume Orte des „Nicht mehr – Noch nicht“ sind die räumlichen Symptome eines tiefgreifenden Gezeitenwechsels und fordern unser Wahrnehmungsbewusstsein in bisher ungekannter Weise heraus. Obwohl die psychologischen Implikationen, die der Anblick sich entleerender Transformationsräume mit sich bringt, natürlich nicht alleine unter räumlichstrukturellen oder ästhetischen Gesichtspunkten zu reflektieren sind, bieten die Hinweise Rudolf Arnheims auf das Empfinden von Verlorenheit und den Verlust des Gefühles für die eigene Position einen wertvollen Hinweis auf unser Sehen von Brachräumen (Arnheim 1977; 20f.). Für unsere nach Einordnung suchende Wahrnehmung scheinbar ohne Sinn und Zusammenhang (außer dem der offensichtlichen Krise), abgekoppelt von der vertrauten städtebaulichen Verwertungslogik dämmern diese Flächen jedoch nicht einfach friedlich vor sich hin, sondern tragen die psychologische Implikation der Verunsicherung und der Angst in sich. Strukturwandelbedingte Leerräume werden von einer großen Mehrheit der Bevölkerung vornehmlich unter dem Aspekt ökonomischen Niedergangs wahrgenommen. Als physisch-materielle Anschauung eines „umfassenden lebensweltlichen Strukturbruches“ (Dürrschmidt 2004) haben sich auch für Unbeteiligte die sozioökonomischen Begleitumstände ihrer Entstehung als Subtext angereichert, der stets mitgelesen wird. Ist bereits die „normale“ Baulücke einer prosperierenden Stadt Projektionsraum unterschiedlicher und meist widerstreitender Interessen, so öffnen die im großen Maßstab anfallenden Brachflächen der Städte in der Strukturkrise eine beträchtliche Bandbreite ambivalenter Deutungsmöglichkeiten.
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Für unmittelbar Betroffene bedeutet die Anschauung entleerter Räume die Versinnbildlichung einer aus den Fugen geratenen Welt, die Trauer, Niedergeschlagenheit, Wut, Sinnentleerung und das Gefühl, als Verlierer zurückzubleiben, nach sich ziehen. Der Bedeutungs- und Wertverlust des Umfelds ist nicht selten gekoppelt an eine empfundene Abwertung der eigenen Persönlichkeit und des eigenen gelebten Lebens. Zurückbleibende kultivieren häufig ein negatives Selbstbild, in welchem sie durch jeden weiteren Abwanderungswilligen bestärkt werden. Eine latente Resignation macht sich breit, die zu einem Rückzug in die vertraute Welt der eigenen vier Wände, zu einer Art „Abwanderung in den Köpfen“ führen kann (Dürrschmidt 2004; 275). Für Menschen, die in einer sukzessive entwerteten Nachbarschaft weite Teile ihres Lebens verbracht haben, wird deren allmählicher Niedergang und Verfall, mehr noch der physisch gewaltsame Vorgang des Abrisses, zu einer extremen emotionalen Belastung, deren Bewältigung unter Umständen zur psychologischen Sisiphosaufgabe wird (vgl. ebd., Kil 2004; 116, et.al.). „Symbolische Ortsbindung heftet sich [...] nicht nur an Schönheit oder Prominenz der Bebauung, sondern besetzt jede Zeichenstruktur positiv, wenn das mit dem Zeichen verbrachte Leben positiv bilanziert wird. [...] Ihre Vernichtung kann auch das Leben und die Zeit mit diesen Dingen untergehen lassen, der Erinnerung und Realität entziehen. Großflächiger Abriss vollzieht diese Enteignung gelebten Lebens.“ (Kil nach Albrecht Göschel 2004; 116)
Angesichts der notwendigen individuellen Verarbeitungsprozesse muss der häufig geäußerte Anspruch, in der Zerstörung einen Zugewinn an persönlichem Freiraum zu sehen, einigermaßen zynisch erscheinen. Die Trauer um den Verlust lang gepflegter Vertrautheiten und die schmerzhafte Transition in eine neue Zeit ist unmittelbar gekoppelt an die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg. Dies bestätigt eine Studie des Psychologen Volker Linneweber, der die wesentlichsten psychologischen Auswirkungen von Büroleerstand auf die betroffenen Mitarbeiter untersucht hat. Er stellt fest, dass auch bei den nicht direkt von Entlassungen betroffenen Mitarbeitern die negativen Auswirkungen des Leerstandes vor möglichen positiven überwiegen. Sie äußern sich in verschlechtertem Betriebsklima und Angst vor Verlust des eigenen Arbeitsplatzes sowie der Rückstellung von Investitionen. Die Möglichkeit zur Erweiterung der eigenen Büroräume wird angesichts des Leerstandes in der Regel nicht positiv gesehen, sondern hat im Gegenteil eine Konzentration und damit das Phänomen des kumulativen Leerstandeffektes (Leerstand zieht weiteren Leerstand nach sich) zur Folge. Laut Linneweber überwiegt bei den Betroffenen zudem eine geringe Erwartung, auf das Ge100
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schehen Einfluss nehmen zu können. Angesichts der sich vermeintlich einer Steuerbarkeit entziehenden Veränderungsprozesse werden die betroffenen Akteure zunehmend unsicher in ihren Entscheidungen, mit der Konsequenz, dass sie eher nichts tun als dass sie agieren (Linneweber 2004). Die psychologische Wirkung leerstehender Läden beschäftigt auch die Einzelhandelsverbände: Sie werden bundesweit als potenzielle Bedrohung für Stadt- und Gemeindeentwicklung angesehen, da sie das gefährliche Signal „hier geht das Geschäft nicht gut“ senden und „Trading-down-Prozesse“ einzelner Geschäftsviertel initiieren und beschleunigen können.16 Leeräume in der Stadt verunsichern aber nicht nur als Boten ökonomischer Schwierigkeiten, sondern auch als imaginierte Orte des Abseitigen und des sich gesellschaftlicher Kontrolle Entziehenden. Sie gehen mit einem Sicherheitsverlust einher, der nicht allein konkrete finanzielle, soziale und stadträumliche Risiken birgt, sondern auch ein irrationales Moment antizipierter „Gefahr“ in sich trägt. Die offenen Räume in der schrumpfenden Stadt sind, anders als der öffentliche Raum, nicht mehr Orte, um dem Fremden zu begegnen, sie sind das Fremde, das Andersartige, Ambivalente selbst. Das Unbehagen, das leere U-Bahnhöfe, einsame Straßen, Tiefgaragen und Unterführungen, aber auch verwilderte Grundstücke und wenig bevölkerte Plätze auslösen können, ist nicht allein phobischen Störungen zuzuschreiben.17 Insbesondere für Frauen, Kinder und zunehmend auch für gesellschaftliche Randgruppen sind leere Räume in erster Linie unbewachte Räume, in denen man, gerechtfertigterweise oder nicht, um seine körperliche Unversehrtheit fürchten muss. Im vermeintlich toten Winkel sozialer Kontrolle lauert die Furcht vor Übergriffen, die in oft wiederholten Warnungen und Bedrohungsszenarien gesellschaftlich vermittelt wird, bis sie sich in eine geradezu instinktive Angst verwandelt hat. Leerstehende Flächen lassen kriminelle Handlungen fürchten, auch wenn diese sich nicht gegen die eigene Person richten: Regelmäßig werden leerstehende Häuser im Hinblick auf
16 Aus: „Deutsche Innenstädte im Häuserkampf – Strategien gegen den Leerstand.“ In: cima direkt, Zeitschrift für Stadtentwicklung und Marketing, Nr. 1/2005; 10. 17 Die Psychologie beschreibt eine Reihe von Angststörungen im Zusammenhang mit Stadträumen, unter ihnen die „Agoraphobie“, die Angst vor offenen Plätzen (agora [lat.] der Marktplatz, phobie [griech.] die Furcht) und die „Klaustrophobie“ (claudere [lat.] (ein)schließen), die Angst vor engen, geschlossenen Räumen. Als spezifische Angststörung in Bezug auf leere Räume wird die so genannte „Kenophobie“, (kenón [griech.] leer) bezeichnet, die krankhafte Angst vor großen leeren Räumen. 101
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gesetzeswidrigen Aufenthalt oder Nutzung durchsucht,18 illegal besetzte Häuser werden, selbst wenn an der Friedlichkeit ihrer Bewohner kein Zweifel besteht, meist nur kurze Zeit bis zur Räumung geduldet. Das Unordentliche, die Nicht-Ordnungsmäßigkeit der Nutzung wird von der Nachbarschaft als latente Bedrohung ihrer persönlichen Sicherheit wahrgenommen. Die Beurteilung der antizipierten Gefahr im öffentlichen Stadtraum korreliert dabei nicht zwangsläufig mit der tatsächlichen Bedrohung, sondern ist eingebunden in einen Wahrnehmungs- und Interpretationsprozess, der nach dem Soziologen Herbert Glasauer der gesellschaftlichen Konstruktion von Sicherheit und Unsicherheit folgt (Glasauer 2003; 23-26). Mit dieser These bezieht sich Glasauer auf kriminologische Studien, denen zufolge das (in den letzten Jahren stark gestiegene) subjektive Unsicherheitsempfinden der Bevölkerung weder durch das Ausmaß, noch durch die Entwicklung der befürchteten kriminellen Tatbestände erklärt werden kann.19 In einem generellen Klima der Verunsicherung durch latente Bedrohungsszenarien (Wirtschaftlicher Niedergang, Terrorangst, Klimakatastrophe, Börsencrash, global organisierte Kriminalität, etc.) wird die Diskussion um mögliche Gefährdungen bzw. die Herstellung von Sicherheit zu einem Lieblingsthema von Politik und Medien. Sie rekurriert dabei auf ein gesellschaftlich tradiertes Bild vom öffentlichen Raum einer Stadt als Ort der Ambivalenz und der Konfrontation mit dem Fremden (ebd., Ellin 1997, et.al.).20 18 Hierzu z.B. der Bericht in der Mitteldeutschen Zeitung vom 6.11.2002, in: Oswalt (Hrsg.): Schrumpfende Städte Band 1; 277. 19 Glasauer beschreibt die Subjektivität des Sicherheitsempfindens anhand des Beispiels, dass sich die meisten Frauen nachts alleine auf der Straße fürchten, tatsächlich sich aber die meisten Übergriffe auf Frauen im privaten häuslichen Bereich ereignen, die weiterhin als Hort der Geborgenheit und Sicherheit empfunden werden. Auch nehmen wir gemeinhin unsere Städte als verschmutzt wahr, obwohl diese noch nie so sauber waren wie heute. (Glasauer 2003; 23-26). 20 Die persönliche Sicherheit wird von der Bevölkerung in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts als negativ eingeschätzt. Aus der in einer Langzeitstudie der R+V Versicherung gemeinsam mit Professor Dr. Manfred G. Schmidt:, Politologe an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 2005 veröffentlichte Angstindex lässt sich ablesen, dass die Sorge vor der Arbeitslosigkeit, sinkendem Lebensstandard und schwerer Krankheit in der Bevölkerung an oberster Stelle, noch vor der Furcht vor Terrorismus, Kriminalität und Krieg liegt. Insgesamt stellt die Studie einen sprunghaften Anstieg persönlicher Ängste im Vergleich zu 1991 fest, wobei wirtschaftliche Sorgen und ein gesunkenes Vertrauen in die Politik eine wesentliche Rolle spielen. Die Zahlen der Studie zeigen, dass die gefühlte Unsicherheit nicht nur für sozial Benachteiligte gestiegen ist, sondern auch weite Teile des Mittelstandes erreicht hat. Ein generelles Gefühl der Be102
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Da das Gefühl der Verunsicherung und Angst eine tragende Rolle im Umgang mit der Leere spielt, lohnt sich an dieser Stelle eine vertiefende Betrachtung der Natur dieses Gefühls, das keineswegs ein ausschließlich Negatives ist. Angst gehört zur Grundausstattung unserer Gefühlsreaktionen, ihr Zweck ist es, uns bei neuen, unbekannten Reizen zu „aktivieren“ und in einen Alarmzustand zu versetzen. Angst erleichtert es uns, Situationen zu bewältigen, in denen wir uns noch nicht „sicher“ fühlen, weil es uns noch an den dafür notwendigen Kompetenzen mangelt. Angst wird als eine evolutionsbiologisch wichtige Schutzreaktion angesehen.21 Neurophysiologisch reagieren alle Säugetiere ähnlich auf Angst, nämlich mit Flucht oder mit Angriff. Ins Menschliche übersetzt äußert sich Angst in dem starken Wunsch, den Anlass der Angst zu vermeiden oder aber in der Neugier, den unbekannten Reiz zu erforschen. Anders als die Tiere verfügen wir Menschen über ein weit gefächertes Repertoire an Reaktionen, das uns erlaubt, die primären Angstreaktionen zu überkommen (Ellin 1997; 9). Durch seine Vernunft oder die Kreativität, Neugier und die Fähigkeit, neue Verknüpfungen herzustellen, ist der menschliche Geist in der Lage, die Angst in eine produktive Kraft umzuwandeln. Gelingt dieser Umwandlungsprozess durch „Kennenlernen“ nicht, kann die Angst lähmend wirken und in einem Teufelskreis existenzieller Bedrohung mit starken körperlichen und seelischen Symptomen münden. Angst, die sich jenseits der das Überleben sichernden Funktion verselbständigt hat, wird zu einer Angststörung, die der therapeutischen Behandlung bedarf. Wird also im Hinblick auf den Umgang mit den anfallenden Brachräumen gerne auf die erforderlichen Kreativkräfte der Gesellschaft verwiesen, so darf dabei nicht vergessen werden, dass hierfür nicht nur Abschiedstrauer verarbeitet, sondern auch der Horror Vacui als wirkmächtige Schwelle überschritten werden muss. Einladungen zu innovativer Inbesitznahme neuer Freiräume setzen voraus, dass es zunächst möglich sein muss, diese Freiräume frei von Angst wahrzunehmen.
Altlasten und neue Lebensräume Im Hinblick auf die Umweltqualität gibt es die verbreitete und zunächst allgemein einleuchtende Vorstellung, dass weniger Menschen auch wedrohung macht sich auch in Schichten breit, die traditionell ihres Arbeitsplatzes sicher sein konnten. Quelle: „Die Ängste der Deutschen 2005.“ Langzeitstudie der R+V Versicherung, unter: http://www.ruv.de; Zugriff am 22.3.2006. 21 Vgl. http://www.angstauskunft.de/AAA_Angst_Panik_allgemein.htm; Zugriff am 15.7.2008. 103
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niger Verbrauch, Verkehr, Emissionen, Lärm, Verschmutzung und dementsprechend mehr Freiräume, Grün, Ruhe, bessere Luft und eine gesündere Umwelt bedeuten. Diese Gleichung findet sich, unterschiedlich formuliert, in nahezu jedem Stadtentwicklungskonzept der letzten Jahre wieder. Angesichts der hohen Komplexität tatsächlicher ökologischer Zusammenhänge und des hohen Aufwands, der für eine korrekte ökologische Bilanzierung getroffen werden muss, bleibt jedoch zu fragen, ob diese Rechnung zwangsläufig aufgeht. Grundsätzlich ist es richtig, dass sich durch die Deindustrialisierung die Umweltbedingungen in Deutschland, insbesondere in den neuen Bundesländern nach dem Fall der Mauer, erheblich verbessert haben. Das Umweltbundesamt vermerkte in den ersten Jahren nach der Wende eine starke Verringerung der Konzentration nahezu aller Schadstoffe durch Stillegungen, verbesserte technische Standards und Energieeinsparungen durch Wärmedämmung.22 Gleichzeitig sorgte jedoch der Aufholprozess des Ostens an das Niveau des Westens für eine starke Erhöhung der Schadstoffemissionen durch den Automobilverkehr und für jährliche Zuwachsraten bei der Flächenversiegelung um das Eineinhalbfache über denen der alten Bundesländer (Lang, Tenz 2003; 57). Die Perspektive weiterhin zunehmender Brachareale und dünn besiedelter Gegenden wird von Fachleuten aus wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Sicht für bedenklich gehalten. Aus ökologischer Sicht lässt sich die Stadtentwicklung bei rückläufigen Bevölkerungszahlen mit zwei gegenläufigen Tendenzen überschreiben:
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Sinkende ökologische Effizienz trotz rückläufiger Rohstoffinanspruchnahme Ökologische Aufwertung bei Extensivierung des urbanen Gefüges (Deilmann, Gruhler, Böhm 2005; 7)
Generell können sowohl die Folgen der Transformation als auch die Strategien zu ihrer Bewältigung positive und negative Wirkungen auf die Umweltqualität haben.23 Da diese nur über eine konkrete verglei22 Quelle: http://www.umweltbundesamt.de/boden-und-altlasten/index.htm; Zugriff April 2007. 23 Die tatsächlichen stadtökologischen Effekte von Umbaumaßnahmen müssen über vergleichende Ökobilanzen anhand von Planungsvarianten am konkreten Beispiel ermittelt werden. Der Begriff der Stadtökologie umfasst neben der biologischen Wissenschaft die Beschäftigung mit den Wirkungsbeziehungen zwischen städtebaulicher Struktur und der ökologischen Situation der Stadt und ist somit ein integriertes Arbeitsfeld von Stadtplanung und Städtebau. Die Stadtökologie des Rückbaus wird in der 104
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chende Bilanzierung ermittelt werden können, sollen im Folgenden die wichtigsten Themen der Stadtökologie unter den Bedingungen rückläufiger Bevölkerungsentwicklung lediglich hinsichtlich ihrer ambivalenten Problematik angerissen werden.
Reduktion der Flächeninanspruchnahme Ein wichtiges Ziel der im Jahre 2002 von der Bundesregierung Deutschlands formulierten Nachhaltigkeitsstrategie24 ist die Reduzierung der Flächenneuinanspruchnahme von heute circa 115 Hektar pro Tag auf 30 Hektar pro Tag im Jahre 2020.25 Dieses Reduktionsziel dürfte für schrumpfende Gemeinden aufgrund fehlender Nachfrage deutlich einfacher zu erreichen sein als für wachsende Gemeinden. Es gehört jedoch zu den Paradoxien des Strukturwandels, dass auch Kommunen mit Bevölkerungsverlusten weiterhin ein Wachstum an Siedlungs- und Verkehrsflächen verzeichnen, so dass ohne gezielte Steuerung des Flächenverbrauchs (Weiter- und Wiedernutzung der Abrissflächen, Zusammenlegungen, Neustrukturierungen, vorrangige Innenentwicklung) erhebliches Einsparpotenzial verschenkt wird (vgl. Deilmann, Gruhler, Böhm 2005; 52-53). Als wichtigstes Hemmnis für die Wieder- und Weiternutzung brachgefallener Grundstücke gelten fehlende Kenntnisse und mangelhafte Informationsflüsse über verfügbare Flächen im Innenbereich, fehlendes Bewusstsein bei den politisch Verantwortlichen sowie möglicherweise vorhandene Altlasten (Lütke-Daldrup, 200626). Nach wie vor werden von Investoren Ansiedlungen auf der Grünen Wiese bevorzugt, nach wie vor überbieten sich die Kommunen gegenseitig im interkommunalen Wettbewerb mit der häufigen Folge überdehnter Erschließungsmaßnahmen und unausgelasteter Infrastruktur (Dosch 2004; 2). Wirksame Instrumentarien, dies zu verhindern, stehen nicht zur Verfügung, da es der Gesetzgebung in Deutschland bisher nicht gelungen ist, die Flächeninanspruchnahme vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln.27 Die finanziellen Spielräume von Städtebauförderprogrammen, die eine Reduzierung der Flächeninanspruchnahme zum Ziel haben, sind
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Fachwelt als eigenständiges Problemfeld mit erheblichem Forschungsbedarf betrachtet (Deilmann, Gruhler, Böhm 2005; 56-57). Quelle: http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/nachhaltigkeit/DE/ Nationale-Nachhaltigkeitsstrategie/.html; Zugriff Januar 2007. Der Flächenverbrauch der Bundesrepublik ist bereits geringfügig zurückgegangen von über 120 ha/Tag auf heute 115 ha/Tag. Quelle: Engelbert Lütke-Daldrup, Eröffnungsrede auf dem Symposium „Fläche im Kreis“ des BMVBS, 17.11.2006. Quelle siehe Fußnote 25. Quelle: http://www.umweltbundesamt.de/altlast/web1/deutsch/2_1htm; Zugriff April 2007. 105
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im Vergleich zu der Finanzmacht gewerblicher Investoren verschwindend gering. Insgesamt ist jedoch zu konstatieren, dass die Wiedernutzungspotenziale in den vergangenen Jahren zwar angestiegen sind, in strukturschwachen Regionen jedoch deutlich mehr Flächen brach fallen, als überhaupt verwertet können (Lütke-Daldrup, 200628).
Altlastensanierung Mit dem Ende der Industrie in vielen Regionen Deutschlands wurde dort zwar die Luft besser, die industriellen oder militärischen Hinterlassenschaften und giftigen Rückstände im Boden aber blieben erhalten. Diese Rückstände, die oft erst bei einem Entfernen der Bebauung von der Fläche freigesetzt werden, bilden nicht nur ein deutliches Investitionsrisiko im Hinblick auf eine Um- oder Wiedernutzung betroffener Flächen, sondern auch ein gesundheitliches Risiko für die Anwohner (Lange, Tenz 2003; 58, et.al.). In Deutschland sind im Jahre 2006 rund 271.000 altlastenverdächtige Flächen erfasst, von denen nach Schätzungen des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 10-20 Prozent saniert werden müssen.29 Die Sanierung verseuchter Böden ist technisch und finanziell sehr aufwändig und übersteigt vielfach die Möglichkeiten von Städten und Kommunen. Aufgrund der besonderen rechtlichen Voraussetzungen und Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern läuft die Suche nach den verantwortlichen Verursachern zudem häufig ins Leere. So hat sich die vor allem in den 1980er Jahren beliebte Vorstellung, man könne über technische Verfahren den industriell genutzten Böden gute bis sehr gute biologische und chemische Qualitäten zurückgeben, zugunsten der gegenwärtigen bescheideneren Einsicht durchgesetzt, dass eine vollständige „Reinigung“ oder „Dekontaminierung“ nicht in allen Fällen finanziell oder technisch möglich ist, besonders wenn nur gering ökonomisch gewinnträchtige Nachnutzung in Frage kommt. Gerade angesichts einer schwachen Nachfrage nach Flächen werden die Spielräume für Entscheidungen über eine Sanierung oftmals „innerhalb ökologischer Minimalstandards und ökonomischen Maximalkosten“ ausgehandelt (Hauser in: Oswalt 2004; 167). Ressourcenproduktivität Der Trend zu anhaltend hoher Neuversiegelung bei gleichzeitiger Bevölkerungsausdünnung führt nicht nur zu einer Belastung der Umwelt in Bezug auf die Bodenbeschaffenheit, sondern auch zu einer steigenden 28 Quelle siehe Fußnote 25. 29 Quelle: http://www.bmu.de/altlasten/kurzinfo/doc/2492.php; Zugriff 15.5.2007. 106
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Ineffizienz bestehender Siedlungen und Infrastrukturen, da diese nicht mehr entsprechend ihrer Kapazität und Auslegung genutzt werden. Entleerung bedeutet sinkende Nutzungsintensität von Siedlungen, Gebäuden und Wohnungen und hat einen ambivalenten Einfluss auf die ökologische Wohnumfeldqualität. Der Rückgang der Einwohnerzahlen hat einerseits eine Verringerung der Lärm- und Schadstoffemissionen im Wohngebiet zur Folge. Mit einer konsequenten Entsiegelung und Renaturierung frei gewordener Flächen können die ökologischen Flächenleistungen30 erhöht und die mikroklimatische und lufthygienische Situation des Quartiers verbessert werden (Deilmann, Gruhler, Böhm, 2005; 6465). Andererseits führen Leerstände als Nutzungsdefizit bei gleicher Rohstoffinanspruchnahme zu einer geringeren Ökoeffizienz31 des Gebäudes oder der Siedlung. Da die Ökoeffizienz von Gebäuden aufgrund der normalerweise langen Lebensdauer von Gebäuden in weitaus stärkerem Maße durch die Nutzungsphase als durch die Herstellungs- und Entsorgungsphase bestimmt wird, verringert eine Auslastung unterhalb der Auslegung bzw. eine Nutzung unterhalb der bemessenen Lebensdauer die Produktivität der eingesetzten Ressourcen. Leerstand führt in Wohngebieten also zur unnützen „Vergeudung“ von Baumaterialien. Besonders sensibel auf diesen Effekt reagieren Wohngebiete mit geringer städtebaulicher Dichte (ebd., 46-49). Leerstand in einem Gebäude bewirkt außerdem einen zusätzlichen Verbrauch an Heizwärme in den noch bewohnten Wohnungen und mindert damit die Energieeffizienz des gesamten Gebäudes. Die Veränderung des Heizwärmeverbrauchs hängt von der Leerstandsquote, dem energetischen Zustand des betreffenden Gebäudes sowie der Leerstandsverteilung ab. Ein disperser Leerstand (Modell „Schweizer Käse“) hat einen höheren Verbrauch zur Folge als ein konzentrierter Leerstand, der günstigstenfalls außen am Gebäude liegt. Der erhöhte Verbrauch von bewohnten Wohnungen in einem Gebäude mit Leerständen kann bis zu 35 Prozent zusätzlich betragen (ebd., 78-79). Für die Veränderung von Gebäude- oder Wohnungsgrundrissen bzw. den Abriss leerstehender Wohngebäude gilt eine ähnliche Ambivalenz: sie bietet einerseits die Möglichkeit, Lärmschutz und Besonnungssituation zu verbessern, andererseits kann durch abgerissene Gebäude
30 Verbessert wird u.a.: klimatisches Ausgleichsvermögen, Staubbindevermögen, Schadstoffrückhaltung, Biotopbildungsvermögen, Porosität/ DurchLässigkeit, Grundwasserneubildung, Regenwasserversickerung (Deilmann, Gruhler, Böhm 2005; 64-65). 31 Ökoeffizienz ist der Quotient aus dem wirtschaftlichen Wert eines Produktes und den durch den Herstellungsvorgang auf die Umwelt ausgeübten Auswirkungen. 107
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oder Gebäudeteile auch bestehender Schallschutz wegfallen, so dass sich die Lärmbelastung wieder erhöht (ebd., 60-61).
Neue Grünräume Wohl am eindeutigsten profitiert die Umweltqualität von der Zunahme von Orten, an denen keine Menschen die Kräfte der Natur stören. Auf Brachen und freigewordenen Abrissflächen kehrt die Natur zurück, es entstehen auch ohne Zutun des Menschen Lebensräume für Fauna und Flora. Erfahrungen mit Brachräumen im Ruhrgebiet im Rahmen der IBA Emscherpark haben gezeigt, dass auch auf Flächen, für deren Reinigung und landschaftsplanerischer Gestaltung kein Geld vorhanden war, Naturräume von hohem ökologischen und ästhetischen Wert entstanden sind, in denen eine neue Artenvielfalt und sogar die Rückkehr abgewanderter Arten nachgewiesen werden konnte (vgl. Hauser in Oswalt 2004; 166-168, Kowarik 1998, u.v.m.). Abschließend lässt sich sagen, dass der Rückzug der Menschen aus der Fläche großes Potenzial für den Umweltschutz in sich trägt, und dass dieses jedoch nur durch gezielte Anstrengungen und hoheitliche Steuerung fruchtbar zu machen ist. Die wichtigste Voraussetzung für eine ökologisch sinnvolle Vorgehensweise im Umgang mit Brachen und Leerstand ist es, die Auswirkungen unterschiedlicher Handlungsalternativen qualitativ und quantitativ gegeneinander abzuwiegen. Nur bei Betrachtung des gesamten „ökologischen Rucksacks“32 einer Maßnahme, die eine komplizierte Erhebung sämtlicher mit ihr verbundener Auswirkungen erfordert, ist ihre Qualifizierung im Sinne der Ressourcenschonung möglich (Deilmann, Gruhler, Böhm 2005; 12-13).
Die Brache als Zeitraum Zeit spielt eine große Rolle bei der Konstitution verschiedener Aggregatzustände leerer Räume: Ein bestimmter Zeitraum definiert den Übergang eines zeitweilig leerstehenden Hauses oder Grundstückes in eine Brache.33 Der Zustand Brache wiederum ist zumindest der Idee nach 32 Ein „ökologischer Rucksack“ beschreibt die Menge an verbrauchten Ressourcen, die bei der Herstellung, dem Gebrauch und der Entsorgung eines Produktes oder einer Dienstleistung aufgewendet werden müssen. Er soll einen Vergleichsmaßstab bieten, mit dem verdeutlicht wird, welche ökologischen Folgen die Bereitstellung bestimmter Güter über ihren gesamten Lebenszeitraum verursacht. 33 Es existiert keine Einigkeit in der Fachliteratur über den Zeitpunkt, ab wann eine Fläche eine Brache ist. Generell wird jedoch angenommen, dass der Zeitraum eines normalen Planungsverfahrens (Eigentümerwechsel, 108
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ebenfalls zeitlich begrenzt, und findet in einer Art Zeitnische zwischen einer ehemaligen und einer zukünftigen Nutzung eines Raumes oder einer Fläche statt.34 Dieser Zeitraum kann unterschiedlich groß sein, sein Endpunkt wird bestimmt durch die Wiedereingliederung der Fläche in den ordnungsgemäßen Verwertungszusammenhang. Auch andere, bereits eingeführte Begriffe für leere Flächen enthalten einen Verweis auf die Zeit: Übergangsräume, Zwischenräume, Transiträume, transitorische Räume, ephemere Räume, temporäre Räume, Transformationsräume, Orte des Nicht-Mehr – Noch-Nicht, Entwicklungsräume, Vorhalteflächen. Sie deuten an, dass der Zustand dieser Räume an einen bestimmten Zeitrahmen oder -ablauf gebunden ist, innerhalb dessen sich ein Wandel in einen anderen Zustand ereignen wird. Diese Zwischenzeit zwischen den beiden vermeintlich festen Polen „Nicht-Mehr“ und „Noch-Nicht“ ist gleichsam fluide und von provisorischer Konsistenz, ein zeitlich begrenztes Stadium, bevor wieder ein dauerhafter, gültiger Endzustand erreicht worden ist. Neben dieser gedanklichen Einordnung der Brache als etwas Vorübergehendes – im Gegensatz zum imaginierten Ewigen – wird diese häufig mit der Wahrnehmung in Verbindung gebracht, dass hier die „Zeit still steht.“ Da bekanntermaßen unser Gehirn die physikalisch messbaren Zeiteinheiten völlig unterschiedlich lang wahrnimmt,35 verdient diese umgangssprachliche Formel, die ein Extrem von Raumzeitwahrnehmung ausdrückt, unsere nähere Aufmerksamkeit. Denn die Wahrnehmung einer still stehenden oder langsam vergehenden Zeit hat nicht nur mit dem Umstand zu tun, dass sich aus dem vorgefundenen Zustand einer verlassenen Fläche häufig der konservierte Augenblick ablesen lässt, da der sprichwörtliche Letzte das Licht ausgemacht hat. Die Raumforschung und die Zeitforschung, beides Forschungsfelder mit einer langen Tradition, haben zahlreiche Interdependenzen zwischen Raum und Zeit festgestellt. Eine der in der jüngeren Vergangenheit viel beachteten Kernthesen beinhaltet, dass der Raum infolge moderner Kommunikationstechnologien und der erweiterten weltweiten Mobilität schrumpft und dass zeitliche Nähe gegenüber räumlicher Nähe ein größere Bedeutung erhält (vgl. Henckel, Eberling 2002; 16). Als dominante Trends gelten weiterhin die BeschleuPlanung und Genehmigung) eines Grundstückes den Zeitraum definiert, bevor eine Fläche zur Brache wird (vgl. Hauser 2001; 46-47). 34 Aus der Broschüre „brach. und danach. Das Brachenprojekt im Berliner Samariterviertel.“ Herausgeber: Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, ohne Erscheinungsdatum. 35 Taktgeber für die Wahrnehmung eines Zeitraumes sind die Ereignisse, die in ihm stattfinden. Ein ereignisreicher Zeitraum erscheint kurz, hingegen empfinden wir ereignisarme Zeiträume oft als quälend lang. Von dieser Beobachtung leiten sich auch die Begriffe Kurzweil und Langeweile ab. 109
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nigung der Zeit sowie ihre zunehmende Verknappung als Ressource für viele Teile der Gesellschaft. Die Theorie der Raum-Zeit-Kompression ist in der gegenwärtigen Forschung allerdings in die Kritik geraten, ihren einschlägigen Vertretern wird vorgeworfen, dass das prophezeite Ende der Stadt, wie wir sie kannten, durch die Aufhebung räumlicher Bedeutung nicht eingetreten ist. Das Interesse richtet sich stattdessen auf die Herausbildung und die Simultanität verschiedener Geschwindigkeiten in der Stadt. Tatsächlich beinhaltet der Begriff der Polarisierung von Teilräumen in Deutschland, der sich in aller Regel auf die demographische und wirtschaftliche Entwicklung bezieht, auch eine Entwicklung unterschiedlicher Raumzeiten, oder einfacher ausgedrückt Geschwindigkeiten. Hochgeschwindigkeitsräume liegen in Nachbarschaft zu stark verlangsamten Räumen. Während in den „Zitadellen der Unablässigkeit“ (Henckel 2005) die Geschwindigkeit des städtischen Lebens weiterhin zunimmt, entschleunigt sie sich in den Zonen von Arbeitslosigkeit und Niedergang. „The city becomes a gearbox full of different, sometimes contrasting speeds“ (Graham, 2005). Hierfür verantwortlich ist die Koppelung von Zeit und Raum an den ökonomischen Wettbewerb, die Koppelung räumlicher Knappheit an zeitliche Knappheit und der Umstand, dass „die Vewendungsmöglichkeiten von Raum und Zeit ungleich in Raum und Zeit verteilt sind“ (Franck 2005; 62). Diese gegenseitige Bedingtheit hat zur Folge, dass in Regionen mit gut funktionierender Wirtschaft Raum stärker nachgefragt und damit teurer wird. Die Nutzungsintensität erhöht sich und damit der Druck auf die Zeit. Eine niedergehende Ökonomie hingegen erzeugt einen Überfluss an Raum, der auch die Arbeitszeit billiger macht und zu einer Entschleunigung der Zeit führt. Für die Wahrnehmung einer verlangsamten Zeit spielen aber noch andere Einflussfaktoren eine Rolle: Eine abnehmende soziale Dichte, die abnehmende Zahl von Interaktionen der Menschen, die fehlende, für innerstädtische Quartiere als typisch eingeschätzte Ereignis- und Optionsdichte korreliert mit einer empfundenen abnehmenden Zeitdichte. Wenn nichts passiert, verrinnt die Zeit langsamer, sie wird als leere Zeit empfunden. Oft sind solchermaßen entschleunigte Räume zudem schlecht oder gar nicht mit dem weltweiten Kommunikationsnetz verbunden und liegen abseits wichtiger Verkehrsknotenpunkte und Informationsflüsse. Unter der Perspektive des Raum-ZeitZusammenhangs wird der Begriff der schrumpfenden Stadt einmal mehr ad absurdum geführt: Die Entdichtung, die schlechtere Vernetzung, die schwierige Erreichbarkeit und die vergleichsweise großen räumlichen und zeitlichen Hürden, die überwunden werden müssen um Anschluss zu erhalten, dehnen den Raum der schrumpfenden Stadt aus und vergrößern die Distanzen zwischen seinen Rändern.
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So wie der globale Markt in der Lage ist, weltweit Räume auf seinen Rhythmus zu synchronisieren, entsynchronisiert die Nichtteilhabe am globalen Markt Räume vom Rest der Welt. Das Herausbilden unterschiedlicher Geschwindigkeiten in einer Stadt manifestiert und festigt bestehende Ungleichheiten in der Gesellschaft (Graham 2005). Die Langsamkeit ohnehin benachteiligter Regionen ist dabei unfreiwillig und trägt keinesfalls eine positive Konnotation in sich wie beispielsweise die Gemächlichkeit reicher Villenvororte oder von Ferienregionen. Sie bestätigt die Segregation der Welt in Schnelle, Bewegliche (Siegertypen), die unter Zeitmangel leiden, und Langsame, Unbewegliche (Verlierertypen), die an einem Überfluss an Zeit leiden. Raum und Zeit sind in unserer dominierenden Gesellschaftsordnung zwar eine knappe Ressource, verlieren jedoch extrem schnell an Wert, sobald sie im Übermaß vorhanden sind. Die Wahrnehmung einer verlangsamten Zeit korreliert mit der Vorstellung, dass es sich bei Brachen um Zwischenräume oder wartende Räume handelt: Der Wandel von der industriellen in die postindustrielle Gesellschaft vollzieht sich nur sehr allmählich, und die unbestimmte Länge dieser Zeit ist eine große Herausforderung an die in unserer Kultur meist nicht sehr belastbare Geduld. Möglicherweise ist das Paradigma der intensivierten Zeitnutzung sowie unsere tief verwurzelte Gewohnheit, leere Zeit mit allen Mitteln zu vertreiben, einer der Gründe für bestehende Probleme im Umgang mit Brachräumen. Kehrt man an dieser Stelle zu der Ausgangsfrage zurück, in welcher Weise die Entleerung strukturschwache Städte verändert, so lässt sich feststellen, das es neben raumstrukturellen Umschichtungen und der Zunahme von Brachräumen zu einem Verlust an Stadtsubstanz insgesamt kommt, der in vielfältigen Formen urbaner Leere zum Ausdruck kommt. Das Weniger an Handel, Interaktion, Nutzungsfrequenz, Wahlmöglichkeiten, Funktionen und Bedeutung mag ein Mehr an Ruhe, Zeit und Natur bedeuten, es mag sogar unter bestimmten Umständen ein mehr an städtischer Lebensqualität bedeuten, es bleibt jedoch immer ein klares Weniger an den Charakteristika, welche die Stadt vom Land differenzieren und sie zum begehrten Aufenthaltsort für viele Menschen machen.
Das Bild der leeren Stadt Der Prozess der Stadtrückbildung verändert nicht nur die soziale, funktionsräumliche und morphologische Struktur der Stadt, die sich in der Regel anhand von Plänen, Fotografien, Statistiken und Zahlen messen 111
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und nachvollziehen lässt, sondern auch unser Bild, unsere Vorstellung von ihr. Das Bild, das wir uns von der leeren Stadt machen, ist mehreren Anfechtungen ausgesetzt:
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Die typischen Merkzeichen wie Wege, Bereiche, Ränder, Grenzlinien und Knotenpunkte, die Kevin Lynch in seinem nach wie vor in der Fachwelt als Standardwerk angesehenen Buch „The Image of the City“ (1960) für die innere Kartierung einer Stadt als wesentlich formuliert hat, werden weniger und undeutlicher. Immer noch ist der Mythos der alten, kompakten Stadt, die mit Kohärenz, Kontinuität, Dichte, Integrationskraft, Funktionsmischung und Urbanität in Verbindung gebracht wird, tief in unseren Köpfen verankert (Sieverts 1999; 65, Doehler 2004; u.v.m.). Instinktiv suchen wir das Bild der zur Einheit gefügten Stadt, gegenüber dem als undeutlich empfundenen Raum bleibt Unbehagen. Obwohl die Entzauberung der alten Stadt längst stattgefunden hat und diese sich als nicht reproduzierbar erwies (Sieverts, ebd.), bestimmt die Strahlkraft dieses Mythos die gewünschte Entwicklungsrichtung der Stadt im Umbruch. Wahrnehmung und Deutung städtischer Transformation ist nicht vorbehaltlos, sondern gefärbt und überlagert von der imaginierten alten Stadt. Obwohl die neu entstehenden Stadträume mit mittlerweile etablierten Begriffen wie „Perforation“, „innere Peripherien“ oder „neue Stadtlandschaften“ in Verbindung gebracht werden, ergibt sich aus diesen noch keine bildliche Einordnungsmöglichkeit. Hierfür mag die bis heute problematisierte Ästhetik suburbaner Agglomerationen ein Grund sein, mehr noch aber der Umstand, dass erhebliche strukturelle Unterschiede zwischen inneren und äußeren Randlagen bestehen.
Die städtebauliche Metapher der „Perforation“, also Durchlöcherung, hat sich im Stadtumbaudiskurs als einprägsames Bild für die im Raum ablaufenden Umverteilungsprozesse (Doehler 2003) durchgesetzt. Diese vor allem auf Quartiere mit kompaktem Baubestand verwendete Formel ist Schreckensvision und räumliches Leitbild in einem, denn sie beklagt einerseits den Substanzverlust des Städtischen und deutet zugleich an, dass die Löcher auch in Zukunft nicht mehr geschlossen werden. Gleichwohl bleibt der Begriff in der Benennung eines Verlustes stecken und enthält allenfalls andeutungsweise einen Hinweis auf neu entstehende Charakteristika. Wie also lesen wir die neuen Stadtrandlagen, die sich mitten in der Stadt ausbilden? Sind die neuen Zwischenräume denen der Zwischenstadt ähnlich? Ist die fehlende Anschauung, die wir für die in112
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neren Peripherien haben, vergleichbar mit der Anästhetik der außen an den Stadtkern angelagerten Peripherien (Sieverts 1997; Hauser 2003)? Und können wir vom fortgeschrittenen Wissensstand, den sich die Forschung im Hinblick auf suburbane Agglomerationen erarbeitet hat, für den Umgang mit innerstädtischen Brachräumen profitieren? In seinem gleichnamigen Buch hat Thomas Sieverts im Jahre 1997 eine grundlegende Charakterisierung der Zwischenstadt zur Diskussion gestellt. Darin wird die Zwischenstadt, die ich hier auch äußere Peripherie nennen werde, als Lebensraum der Mehrheit der Menschheit beschrieben, der weder Stadt noch Land ist, sondern Eigenschaften von beidem besitzt. Konstitutiv für die Zwischenstadt sind eine starke Durchdringung von Bebauung und Freiräumen, eine engmaschige Vernetzung von Verkehrswegen und eine Vielfalt der Bauformen und -stile, die den Eindruck von mangelnder Kohärenz, Ordnung und Überschaubarkeit beim Betrachter hinterlässt. Zahlreiche Brüche, Überlagerungen und Zonen der Unschärfe machen den ästhetischen Zugang zur Zwischenstadt problematisch, die Zwischenstadt ist eine Stadt, deren Bild zu lesen wir erst lernen müssen (vgl. Sieverts 1999, 2005; Hauser 2003, 2006). Dem sich seit etwa Mitte der Neunziger Jahre stark wandelnden Blick auf die Zwischenstadt Rechnung tragend führte Sieverts zwischen 2002 und 2005 seine Studien zur Zwischenstadt gemeinsam mit elf weiteren Wissenschaftlern in dem interdisziplinären Forschungsprojekt „Ladenburger Kolleg“ unter der Überschrift „Mitten am Rand – Zwischenstadt. Zur Qualifizierung der verstädterten Landschaft“ fort. Aus dieser Arbeit sind eine Reihe von Veröffentlichungen hervorgegangen, welche die Kenntnisse über die Eigenarten der äußeren Peripherie stark erweitert haben und die ich für eine weiterführende Charakterisierung der spezifischen Merkmale der inneren Peripherie zugrunde legen möchte. Hierbei werde ich mich selektiv auf die Einführung der „neuen Begriffe“, die im Querschnittsband „Zwischenstadt – inzwischen Stadt?“ (2005, 42 ff.) durch Thomas Sieverts geprägt wurden, beziehen und sie eigenen Beobachtungen der inneren Peripherien gegenüberstellen.
Ungeplante Entstehung Ähnlich der äußeren Peripherie entsteht auch das Phänomen der inneren Peripherie jenseits traditioneller Planungsmechanismen und gestalterischer Leitbilder, sondern ungeordnet durch das Zusammenwirken von unzähligen Einzelentscheidungen. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Randlangen liegt jedoch in der Bewegungsrichtung ihrer Bewohner: Die äußere Peripherie entsteht durch Zulauf, sie lagert sich an die alte Stadt an (Agglomeration) und nimmt nachgefragte Funktionen auf. Die innere Peripherie entsteht durch Abwanderung und verliert mit jedem 113
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Einwohner auch an Bedeutung. Ob es uns nun gefällt oder nicht – die äußere Peripherie ist Sehnsuchtsort der Mehrheit der Bevölkerung, die innere Peripherie wird verlassen, weil sie scheinbar für kaum jemanden mehr attraktiv ist. Die äußere Peripherie ist das Neue, der Motor des Wandels, die innere Peripherie ist das Alte, Unbrauchbare, das Opfer der Wandels. Das sich gegenseitig bedingende Verhältnis von Anziehung und Abstoßung sorgt für ein Fließgefälle urbaner Funktionen, von der bis heute fast ausnahmslos nur die äußere Lage profitiert hat.
Ränder Der Rand der äußeren Peripherie bezeichnet die Kontaktzone von Stadt und Landschaft und hat einen ausufernden, fraktalen Charakter (Sieverts 2005; 42). Der Rand der inneren Peripherie grenzt nicht die Stadt von der Landschaft ab, sondern intakte Stadtzonen von brachgefallenen Bereichen, das Innen vom Außen, das Volle vom Leeren. Während Stadt und Landschaft heute zunehmend nicht mehr als Gegensatz angesehen werden, sondern als unterschiedlich ausgeprägte Formen von Kulturlandschaft, treffen an den Rändern der Stadt zur inneren Peripherie noch große Kontraste aufeinander, der Rand formuliert den Übergang von einem Pol zu seinem Gegenpol. Während Grenzen und Ränder der Zwischenstadt indifferent sind (d.h. das jeweils dahinter Liegende löst nicht unbedingt den Wunsch nach Überwindung der Grenze aus, um es zu sehen und zu begreifen [Hauser 2006; 60]), markiert die Grenze der inneren Peripherie eine sensible Trennlinie zwischen dem Intakten und dem Ausgesonderten. Eine gestalterische Auseinandersetzung mit der inneren Peripherie muss sich intensiv mit der Ausbildung ihrer Ränder befassen. Ein Hinweis hierzu mag der beginnende Trend sein, an den inneren Stadtrandlagen Gebäude zu errichten, die typologisch traditionellerweise am Stadtrand stehen. Hier werden an dem inneren Rand der Stadt eben jene Qualitäten erkannt und gestärkt, welche die äußeren Stadtränder als Wohnort attraktiv machen. Blinde Flecken Sieverts bezeichnete „eingeklemmte Restflächen im Gefüge der Zwischenstadt“, deren Zugänglichkeit stark eingeschränkt ist, als „blinde Flecken“, da diese in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr präsent sind (Sieverts 2005; 45). In der inneren Peripherie sind die nicht verwertbaren Flächen nicht das Übriggebliebene, der Rest, sondern die wachsende, je nach Entwicklungsverlauf unterschiedlich stark dominierende Größe. Das Verhältnis von sichtbarem und unsichtbarem Raum kehrt sich in der inneren Peripherie um, die Anzahl der „blinden Flecken“, also solcher Räume, die für die Stadtbewohner ohne Bedeutung sind, nimmt zu. 114
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Komprimierter und gedehnter Raum Das räumlich disperse Patchwork der äußeren Peripherie ist über Infrastrukturlinien miteinander vernetzt. Das Netz der Infrastrukturlinien aus Schnellstraßen und Bahntrassen bewirkt eine Art von Kompression des Raumes in der äußeren Peripherie, da das Moment der raschen Erreichbarkeit räumliche Beziehungen definiert. In der inneren Peripherie hingegen dehnt sich der Raum auch bei gleichbleibenden Längenmaßen eher aus, da die Überwindung des Raumes tendenziell mehr Zeit in Anspruch nimmt. Öffentlichkeit Der Gebrauch der Zwischenstadt findet in einem Netz aus sich überlagernden heterogenen Bezugsystemen statt. Urbane öffentliche Orte werden durch ein kurzfristiges temporäres Besetzen von Territorien erzeugt, es existieren mehrere Teilöffentlichkeiten nebeneinander. (In der Forschung findet sich in diesem Zusammenhang die Rede von verschiedenen „Scapes“). Analog zur äußeren Peripherie hat sich auch in der inneren Peripherie die traditionelle Öffentlichkeit entflochten, hier kommt es jedoch weniger zu einer Verlagerung in unterschiedliche Zusammenhänge als vielmehr zu der Segregation und dem Rückzug aus der Öffentlichkeit in das Private der verbliebenen Bevölkerung. Identität Architektur und Städtebau Architektur und Stadtraum in der äußeren Peripherie wird häufig als gesichtslos, global austauschbar, beliebig und geschichtslos charakterisiert. Zwar bestehen strukturelle Unterschiede zwischen den jeweiligen Teilstücken, jedoch nicht zwischen Peripherien einzelner Regionen als Ganzes. Trotzdem gilt die äußere Peripherie als (uniformer) Ort der Verwirklichung individuellen Lebensglückes für viele. Ohne spezifische Identität an sich konstituiert sich in der äußeren Peripherie doch eine Art Ad-hoc-Identität durch den Raumgebrauch und die Aktivitäten ihrer Bewohner. Die Identität der inneren Peripherie durchläuft auch hier einen Wandlungsprozess in umgekehrter Richtung: Obwohl häufig von einzigartiger Architektur und städtebaulich charakteristisch, droht ihr dennoch das Absinken in die Bedeutungslosigkeit durch den Rückgang von Funktion und Gebrauch. Identität Landschaft Thomas Sieverts bezeichnet die äußere Peripherie als verstädterte Landschaft, wobei der Landschaft zunehmend die Rolle des Identifikationsträgers zukommt, die das Spezifische einer Region zum Ausdruck bringen soll. Kann die innere Peripherie entsprechend als verlandschaf115
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tete Stadt betrachtet werden? Bisherige Planungsansätze und Diskurse geben Anlass zu der Vermutung, dass die Auflösung des Kontrastes „Stadt“ und „Land“, bzw. „Kultur“ und „Natur“, die in der äußeren Peripherie weitgehend vollzogen ist, in der inneren Peripherie zwar diskursiv in Angriff wird, aber keineswegs schon erfolgt ist. Das Bild der Perforation, des durchlöcherten Ganzen hat sich etabliert und deutet nicht auf eine sich daraus ergebende Behandlung der Brache als Teil unserer Kulturlandschaft hin, zumal die Rückkehr der Natur in die Stadt Gegenstand widerstreitender Ansichten bleibt.
Deutungsmuster der Brachenleere Der Zugang zu einer offenen, vorbehaltlosen Wahrnehmung von Peripherie, ob sie sich nun am Rande oder inmitten der traditionellen Stadt befindet, wird im Wesentlichen durch zwei Hindernisse beeinträchtigt: Einmal sind wir (noch) ungeübt und unerfahren im Sehen von diskongruenten Raumzusammenhängen. Entscheidender noch wirkt sich aus, dass wir nicht nur den Kontext, sondern auch den Subtext des Gesehenen geistig immer mitverarbeiten. Wenn wir brachliegende Flächen sehen, schlussfolgern wir gleichzeitig, dass hier ökonomischer Niedergang und die entsprechenden Folgeprobleme im Spiel sein müssen. Dieses auf Erfahrung basierende Wissen erschwert eine wertfreie Betrachtung der eigenen und eigenartigen Qualitäten der inneren Peripherie (Sieverts 1999). Die strukturwandelbedingte Leere der inneren Peripherie konstituiert sich aus entleerten materiellen Hinterlassenschaften einerseits (Menschenleere), und einem immateriellen Bedeutungs- und Sinnvakuum andererseits. Ihre Wahrnehmung und Bewertung ist eingebunden in den jeweiligen Kontext und hängt ab von dem Maß der persönlichen Betroffenheit und der individuellen Interessenslage, der jeweiligen Biografie und Lebensperspektive, dem Bildungsgrad, familiären Hintergrund, sozialen Bindungen, Alter und Herkunft, aber auch kollektiv gemachten Erfahrungen und nicht zuletzt den spezifischen Rahmenbedingungen einer jeweiligen Situation in der Kommune/Stadt/Region. Außerdem spielen der Zeitpunkt der Betrachtung und der historische Entwicklungsstand eine Rolle. Zu diesen individuellen Einflussfaktoren, die an der Generierung eines inneren Bildes des Gesehenen kräftig mitarbeiten, tritt noch ein weiterer Einfluss hinzu, den ich hier den Subtext oder „gesellschaftlichen Erzählstrang“ nennen möchte. Dieser Erzählstrang setzt sich aus verschiedenen diskursiven Einzelfäden zusammen, die in Alltagsgesprächen, Zeitungsartikeln, Fernseh- und Filmdokumentationen, 116
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Slogans, Interviews, Fachartikeln etc. geäußert werden und die sich in ihrer Gesamtheit zu einer Art mentalen Untergrund für das Sehen verweben. In einer kurzen Übersicht möchte ich hier die gängigsten dem Diskurs zugrunde liegenden Denkmodelle vorstellen und sie hinsichtlich der inhaltlichen Position, die sich aus ihnen ablesen lässt, hinterleuchten. Hierfür werden Quellen zitiert, die – losgelöst aus dem Gesamtkontext ihres Zusammenhangs – nicht zwangsläufig den Inhalt des vollständigen Textes oder die grundsätzliche Haltung ihres Autors repräsentieren. Da sie in ihrer Vereinfachung aber verbreitete und stereotypische Ansichten wiedergeben, sollen sie dennoch für die Betrachtung herangezogen werden.
Der Euphemismus der Politik Studiert man die offiziellen Internetseiten von Städten mit Strukturproblemen, so kann man sich wundern: Hier werden die Schönheiten der Altstadt gepriesen, die Besonderheiten der lokalen Kultur, die gute Lage des Gewerbegebiets und das reichhaltige Angebot an Veranstaltungen. Kein Wort von Leerstand und flächenhaftem Verfall eben dieser Altstadt, kein Hinweis auf geschlossene Kultureinrichtungen, verödete Gewerbeflächen und Abwanderung. Auch noch die bedrängtesten Städte werben offensiv für ihre „Flächenpotenziale“ und „Entwicklungschancen“ in der Hoffnung auf Investoren und Touristen. Schwierigkeiten scheint es nicht zu geben, und wenn, dann „werden sie gelöst.“ Das Ausblenden vorhandener Probleme entspricht der Neigung zum Schönreden von gesellschaftlichen Konfliktlagen durch die Politik. Problembewusstsein und das Aussprechen von unangenehmen Wahrheiten gilt in den meisten Fällen als wenig opportun im Hinblick auf Wählerstimmen. Hans-Joachim Bürkner spricht in diesem Zusammenhang von einem „maximalen Kontrast zwischen hoffnungsfroher Politik des Herumkurierens (an den Schrumpfungssymptomen) und der alltagsweltlichen Dramaturgie der Hoffnungslosigkeit, die zu einer asymmetrischen Interaktionsstruktur zwischen den Beteiligten von ,oben‘ und ,unten‘ führt“ (Bürkner 2001; 58). Befürchtungen, dass sich das „Image der Stadt verschlechtert, wenn das wahre Ausmaß der Probleme beim Namen genannt wird“, habe vor allem bis zur Jahrtausendwende dafür gesorgt, „dass sich in vielen ostdeutschen Kommunen eine Mauer des Schweigens in Bezug auf lokale Auswirkungen krisenhafter Wirtschaftsentwicklung herausgebildet hat“ (ebd.).
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Das Schweigen entspringt der Angst, die harte Wahrheit auszusprechen und somit möglicherweise die Abwärtsspirale aus Abwanderung, sich ausdünnender Infrastruktur, zerbröckelnder sozialer Zusammenhänge und zunehmender Stigmatisierung der verbleibenden Nachbarschaft noch zu verstärken. Die Verwendung von euphemistischen Wendungen im Prozess des Stadtumbaus durch die Politik muss man als Verdrängungsmechanismus betrachten, der Nichtzurkenntnisnahme von schwierigen oder schmerzhaften Tatsachen aus Gründen des Selbstschutzes, denn die Entwertung von Grund und Boden rüttelt an den Grundfesten tief sitzender Überzeugungen in Deutschland. Sie kann aber auch als Versuch gewertet werden, einem komplexen Sachverhalt eine positive Konnotation zu geben in der Hoffnung, diesen zwar nicht aufhalten, aber vielleicht doch wenigstens diskursiv prägen zu können. In beiden Fällen bleibt die urbane Leere mit einem Tabu belegt, da sie pars pro toto für einen empfundenen Missstand steht und, ähnlich einer ansteckenden Krankheit, die man vor seinem Nachbarn verschweigt, besser nicht allzu publik gemacht werden soll. Vor dem Hintergrund weltweiter Konkurrenz unter Städten und der Notwendigkeit zu aggressiver Werbung um Niederlassungen von Firmen kommt ein öffentliches Eingeständnis der eigenen Schwäche nahezu einer Art Selbstaufgabe gleich, dem Eingeständnis, keine Chance mehr in dem Spiel zu haben. Durch das Ausblenden von Schwierigkeiten kann zudem ein negatives Selbstbild der Bewohner verhindert werden, das mentale Aufgeben der Stadt, das schließlich zu Resignation, „Abwanderung in den Köpfen“ und kollektivem Fatalismus führt (vgl. Bürkner 2001).
Der Pragmatismus der Wohnungswirtschaft Nüchtern, distanziert und mitunter technizistisch-trocken ist die betroffene Wohnungs- und Versorgungswirtschaft in ihrer Rhetorik. Vor allem bis zur Veröffentlichung des Berichtes der Leerstandskommission des Bundes im Jahre 2000 wurde Gebäudeleerstand gerne als eine primär quantitative Problematik verhandelt (Franz 2001). Es ist in diesem Zusammenhang von „Vermarktungsschwierigkeiten“ die Rede, von einem „Ungleichgewicht“ bzw. einem „Angebotsüberhang“ am Wohnungsmarkt (ebd.), der „Unterauslastung“ oder gar der „stärkeren Verfügbarkeit von Wohnraum“. Sich entleerende Regionen oder Kommunen sind „schwache Standorte“, um einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage und damit die eigene Haushaltskonsolidierung zu erzielen, müssen „nicht mehr vermietbare Bestände vom Markt genommen werden“ damit dieser „bereinigt“ werden könne. Ist die erwünschte Wertschöpfung mit den Handelsgut Wohnung für die Unternehmen nicht mehr erzielbar, 118
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müssen „Strukturanpassungen“ in „Bereichen mit erhöhtem Handlungsbedarf“ vorgenommen werden, zu deutsch: Abrisse in Leerstandsgebieten.36 In diesem Jargon steht die ökonomische Rentabilität der Ware Wohnung auf dem Markt sowie das finanzielle Überleben der jeweiligen Wohnungsunternehmen im Vordergrund, städtebauliche, kulturelle oder soziale Fragen hingegen spielen eine untergeordnete Rolle. Zusätzlich eine technische Note erhält der Diskurs durch die Beiträge der infrastrukturellen Versorgungswirtschaft: Hier wird neben dem Aspekt der steigenden Kosten bei Unterauslastung von Rohren und Leitungen die Gefahr chemischer und physikalischer Prozesse verhandelt, welche die Hygiene, das ökologische Gleichgewicht, die Versorgungssicherheit und damit die Bewohnbarkeit entdichteter Wohngebiete gefährden. Der auffallend trockene Stil dieses Jargons entspringt einer akteurspezifischen Sichtweise auf die Problematik und ihrer Einschätzung prioritärer Inhalte. Vor allem in den Anfangsjahren des Stadtumbaus prägte die wohnungswirtschaftliche Perspektive den Sprachstil von Politik und Verwaltung, was angesichts der Tatsache, dass viele Kommunen die Eigentümer der großen Wohnungsbaugesellschaften sind, nicht weiter verwundert. Die Stadtsoziologin Christine Hannemann bringt, stark vereinfacht, die verbreitete Diskurslogik auf den Punkt: „Bevölkerungsrückgang = Leerstand = ,Platte‘ = Rückbau (Abriss)“ (Hannemann 2003). Heute, rund zehn Jahre Stadtumbauerfahrung später, findet man kaum noch Beispiele für eine derartige Verkürzung der Problematik. Es gehört längst zum guten Ton innerhalb der Immobilienwirtschaft wie auch der Politik, die Komplexität der Leerstandsentwicklung öffentlichkeitswirksam anzuerkennen und festzustellen, dass Stadtumbau nur unter Einbeziehung und Mitwirkung aller Beteiligten, auch der Mieter und Nutzer von Gebäuden, gelingen kann.
Der Katastrophismus der Medien Eine stark negativ geprägte Wahrnehmung von Bracharealen findet sich vor allem in den Massenmedien. Mit einer verbalen Dramatisierung der Lage hängt sich die Berichterstattung an die als schwierig empfundene Wirtschaftslage, an die so genannte „Demografiedebatte“ und die allgemein herrschende Angst vor dem globalen Abstieg in Deutschland. Die leeren Räume sind nicht einfach nur Symptome eines wenn auch schwierigen, so doch notwendigen und grundsätzlich begrüßenswerten
36 Die aufgeführten Zitate sind in den „Integrierten Stadtentwicklungskonzepten“ (ISEKs) aus dem Jahr 2001/2002 verschiedener am Programm Stadtumbau Ost teilnehmenden Städten gefunden worden. 119
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Transformationsprozesses, sondern Zeichen des Niedergangs ganz allgemein. Die verbreitete Untergangsrhetorik der Massenmedien ist das Gegenstück zum Beschwichtigungsjargon vieler Stadtverwaltungen. Die Veröffentlichung von Horrordaten und -szenarien hatte vor allem in den Jahren zwischen 2000 und 2006 in den Medien Konjunktur, gemäß dem Prinzip „shock sells“ verbreiteten vor allem Tages- und Wochenzeitungen, die hart um die öffentliche Aufmerksamkeit konkurrieren, Angst und Schrecken. Groß aufgemachte Titel wie „Stirbt Deutschland aus?“ (vgl. Joffe 2006), „Bildungsmisere, Geburtenrückgang, Ausländerpolitik: Vorsicht Lebensgefahr! Ist der Standort Deutschland noch zu retten?“ (Titel der Zeitschrift Wirtschaftswoche vom 10.4.2006) oder „Nach dem Menschen kommt der Wolf“ (vgl. Bosbach 2006) setzen strukturwandelbedingten Bevölkerungsrückgang mit unmittelbar drohendem Niedergang, schwindender globaler Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstandsverlust der gesamten Bevölkerung gleich. Die anfallenden Leeräume werden als Indiz für das Fehlen des deutschen Nachwuchses interpretiert, der wiederum verantwortlich für den bevorstehenden Kollaps der sozialen Sicherungssysteme, den Verlust von „Weltgeltung“ und der Stellung als „führender Wirtschaftsnation“ Deutschlands (ebenfalls Wirtschaftwoche vom 10.4.2006, Editorial) gemacht wird. Die gerne bemühte Gleichung lautet: Weniger Menschen, weniger Produktion = weniger Wohlstand, mehr Elend. Der Rückgang der Bevölkerungsdichte in bestimmten Regionen wird darüber hinaus als Rückschritt, als Rückzug des Menschen aus seinem angestammten Territorium, dem Rückgängigmachen seiner zivilisatorischen Leistungen und dem Vordringen der Wildnis mit all ihren Fährnissen gedeutet. Selbst der mit den stadträumlichen Zusammenhängen des Strukturwandels vertraute Autor Uwe Rada schreibt 2004 in der Tageszeitung taz: „Forst in der Lausitz ist nicht nur eine schrumpfende, sondern auch eine aussterbende Stadt“ (taz Berlin lokal Nr. 7391 vom 24.6.2004; 28). Die Neigung zu sprachlicher Überspitzung der Problematik zeigt sich auch bei der Beschreibung von Strategien zum Umgang mit leerstehenden Gebäuden: Sie werden nicht einfach abgerissen, sondern der medienbewusste Publizist diagnostiziert die Vernichtung von Wohnraum, Zerstörung von Heimat, Häuser werden „wie von einer wilden Wut oder abgrundtiefen Gleichgültigkeit zerschmissen, zerstampft, zerwürgt“ (Kil 2002; 11). Als Beispiel extremer Überzeichnung, in der die zwar bedauerliche aber dennoch alltägliche Praxis punktueller Gebäudeabrisse im denkmalgeschützten Bestand sprachlich in die Nähe des Holocausts gerückt wird, liest sich folgende Textpassage: „Der Architekt Alexander Khorrami pflegt eine Liste des Grauens, eine Todesliste, die jedem Denkmalschützer die Tränen in die Augen treibt. Auf ihr stehen rund 2500 Altbauten aus der Gründerzeit in 120
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Leipzig, die vom Abriss bedroht sind.“ (Ebenfalls in: Die Welt vom 18.2.2007, ohne Autorenangabe). Die Rhetorik massenwirksamer Veröffentlichungen zum Thema Leerstand lässt sich charakterisieren durch Vereinfachung, Verkürzung und negativ geprägte Überzeichnung. Oft werden kausale Zusammenhänge ignoriert oder verschleiert. Der Niedergang einzelner Industrien, Kommunen oder Städte wird gleichgesetzt mit dem Fehlen von Zukunft für die Gesellschaft als Ganzes. Die Verwendung von Ironie oder Humor in den untersuchten Texten, die eine Relativierung des Dramas andeuten würde, fehlt in aller Regel ganz. Teilweise lässt sich eine regelrechte Lust der Medien an der Apokalypse beobachten, die mit einer drastischen Sprache und der häufigen Verwendung von Begriffen wie ausgestorben, tot, leblos, verlassen, ausgedörrt, entvölkert etc. untermauert wird. Hinter diesem Katastrophismus muss das Bedürfnis der Medien nach spektakulären Schlagzeilen und damit Auflagenstärke vermutet werden. Simplifizierende, eingängig negative „Wahrheiten“ appellieren an das zentrale menschliche Lebensgefühl der Angst, aber auch an das Bedürfnis, Unfassbares, Unverständliches oder Ungewisses auf schlichte Ursachen zurückzuführen und finden so ihre Nachfrage.
Überflüssige Menschen in überflüssigen Räumen Vom Strukturwandel betroffene Räume haben ihre tradierte Funktion in den herkömmlichen Arbeits- und Produktionsprozessen verloren und sind nach dieser Logik einer erwerbsfixierten Gesellschaft funktionslos, überflüssig, überschüssig oder überzählig geworden (Willisch 2004; 4, Oswalt 2004; 120 ff., Kil 2004; 44 ff. U.v.m.). Die Kategorie der Überflüssigkeit korrespondiert mit dem durch die Sozialwissenschaft geprägten Etikett für jene Bevölkerungsschicht, die „sich in einem sukzessiven Prozess der ,Entwertung‘ befindet und sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt sieht“ (Willisch 2004; 4). Sie entstammt der Armutsforschung und kündet von einem „härter werden Verteilungskampf, einem enger werdenden Verteilungsspielraum und rasch wachsenden sozialen Problemen“ (ebd.). Das Herausfallen weiter Teile der Bevölkerung aus der „gesellschaftlichen Anerkennungs- und Integrationsmaschine Erwerbsarbeit“ (Vogel 2004; 12) hat mit einer sozialräumlichen Desintegration und Deklassierung eine neue Dimension der Leere zur Folge. Hierzu schreibt der Soziologe Ralf Dahrendorf: „Zuerst verloren die Kirchen ihre Kraft, dann die Familie, die Gemeinde, die Nation. Überall sind Gesellschaften den Weg von ständischen zu vertraglichen 121
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Bindungen gegangen. Am Ende war der Arbeitsvertrag fast die einzige noch übrig gebliebene Methode, um dem Leben von Menschen noch Struktur zu geben. In dem Maße, in dem das nicht mehr die Regel, ja für die meisten nicht mehr die Lebenserfahrung ist, entsteht eine gefährliche Leere.“ (Dahrendorf nach Vogel 2004;19)
Der Begriff der Überflüssigkeit trägt einen ironischen Unterton und wendet sich gegen die dominanten Nützlichkeits- und Effizienzkriterien einer neoliberalen Gesellschaftskonzeption, die unabänderliche soziale Rechte zunehmend in Frage stellt. Seine Verwendung beinhaltet, obwohl nicht unumstritten vor allem bei jenen Menschen, die damit beschrieben werden sollten (Baltzer 2004; 50), eine deutliche Kritik an den herrschenden kapitalistischen Wertmaßstäben, in der Menschen ohne Erwerbsarbeit in einem gesellschaftlichen Selektionsprozess ihre Würde verlieren. Gleichzeitig nimmt das Wort Überflüssigkeit sprachspielerisch auch den Erfolg der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft auf das Korn, die es geschafft hat, große Teile ihrer Selbst für die Produktion von Waren- und Finanzüberschüssen ebenfalls überflüssig zu machen. So ist „Die Überflüssigen“37 unter anderem auch der Name für eine Gruppe linksorientierter Aktivisten, die mit politischen Aktionen auf die Lage des „Prekariats“ aufmerksam machen will. Die Übernahme der Kategorie der Überflüssigkeit durch die Raumwissenschaften folgt dieser kritischen Haltung, indem sie sinngemäß in Frage stellt, ob Raum überhaupt eine Ware und damit überflüssig sein kann, oder dies allenfalls bezogen auf bestimmte, meist ökonomische Anforderungen sein kann. Implizit beinhaltet die mehrdeutige Formel der Überflüssigkeit aber auch die Suche nach einem alternativen Wertmaßstab für Räume, denn anders als der Mensch, der qua unantastbarer Menschenwürde immer und grundsätzlich Wert und Daseinsberechtigung hat, sind Sinn und Bedeutung von erschlossenem, menschengemachtem Raum in der Tat im allgemein herrschenden Verständnis an die Nutzung durch oder die Funktion für den Menschen gekoppelt.
Die Abenteuerrhetorik der Planungsdisziplinen Einen optimistischen Ton schlagen die selbst ernannten Vertreter des „neuen Pioniergeistes“ an: Sie sehen in der Abwesenheit einer konkret ausformulierten Zukunft das wesentliche Potenzial von Brachen und Leeräumen, das Fehlen von definierten Funktionen als ihre eigentliche Qualität. In diesem Sinne wird von „Freiräumen“, „Möglichkeitsräu-
37 Siehe auch: http://die-ueberfluessigen.net; Zugriff am 18.5.2010 122
DIE URBANE BRACHE
men“, „offenen Räumen“ oder „Entwicklungsräumen“ gesprochen, von „weißen Stellen“ oder „Terra Incognita“ auf der Landkarte der Wohlstandsgesellschaft, die es zu erobern gilt. Ein neuer Entdecker- und Unternehmergeist wird beschworen, verbunden mit der Hoffnung, den Umbruch zum Aufbruch widmen zu können und den überflüssigen Raum zur wertvollen Ressource, die es, im Gegensatz zu vielen anderen Ressourcen, auch noch im Überfluss gibt. In diesem Zusammenhang hat sich seit einigen Jahren die Verwendung des Begriffes „Raumpionier“38 etabliert, der zunächst in der Wissenschaft als „konzeptioneller und strategischer Suchbegriff“ verstanden wurde (Matthiessen/Lange 2004), und sich mit der Frage verbunden hatte, inwieweit die gesellschaftliche Krise neue, innovative Entwicklungen auf informeller Ebene befördert. Unter „Raumpionier“ werden Akteure verstanden, die mit neuen Lebens- und Tätigkeitsformen, Praktiken und Vernetzungen „von außen in diese schwierigen Räume hineingehen und mit allen Schwierigkeiten des Anfangs und der Lage einigermaßen fertig werden. Insofern erproben sie interessante und praktizierte Modelle im Umgang mit den sich entleerenden Räumen“ (Matthiessen in: Oswalt 2004; 379). Jenseits staatlicher Alimentierung, so das Konzept, trage der Raumpionier neue Ideen in diese Räume und erprobe sie dort, die vorgefundenen Bedingungen werden für ihn zur Laborsituation. Das früher von offizieller Seite allenfalls übergangsweise geduldete subkulturelle Besetzen oder Nutzen von Brachen und leeren Industriegebäuden ohne nennenswerten ökonomischen Profit ist als Chance erkannt worden, diese Räume in den Zyklus ökonomischer Verwertung zurückzuführen. Anhand einer Reihe erfolgreicher Beispiele (z.B. Soho in New York, der Bezirk Mitte in Berlin, die Alte Spinnerei in Leipzig, u.v.m.) wurde offensichtlich, dass kulturelle Nutzungen in der Lage 38 Der Ausdruck Pionier wird vom französischen pionnier für Schanzarbeiter, Bahnbrecher abgeleitet und bezeichnet einerseits einen Soldat ohne Dienstgrad in der Bundeswehr, andererseits den Siedler, der neues Land erschließt. Im alltäglichen Sprachgebrauch hat sich der Begriff als Metapher für den Vorreiter oder Wegbereiter etabliert. Als Pionierspflanzen werden Arten bezeichnet, die (weitgehend) unbelebtes Gebiet wie z.B. frisch aufgeschüttete Böschungen, Industriebrachen oder kontaminierten Boden besiedeln können. Es handelt sich hierbei um ausgesprochen genügsame, extreme Standortbedingungen ertragende Arten, die den Boden bereiten und verbessern für die Sukzession anderer, differenzierter Pflanzengesellschaften, die in der Folge gedeihen und die Pionierspflanzen wieder verdrängen. In Kunst, Kultur und Wissenschaft werden jene Protagonisten Pioniere genannt, die neue Technologien entwickeln und neuen Denkweisen zum Durchbruch verhelfen. Das Vorhandensein von Pionieren ist in jeder Gesellschaft von großer Wichtigkeit, um notwendige Prozesse der Erneuerung und Weiterentwicklung zu bewirken. 123
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sind, „freigesetzte“ Räume von ihrem Stigma zu befreien, umzucodieren, und fruchtbar zu machen für die Sukzession ökonomisch vielversprechender Folgenutzungen des Establishments (meist unter billigender Inkaufnahme der Verdrängung der ursprünglichen „Pioniere“). Es ist also nicht verwunderlich, dass angesichts leerer Kassen der Kommunen und wirkungslos gewordener klassischer Stadtentwicklungsinstrumente das anarchisch-ungeplante Treiben der „Kreativen“ in den Fokus der Stadtplanung gerückt ist und versucht wird, dem Rettungsanker der selbsttätigen Entwicklung durch offizielle Programme und Projekte nachzuhelfen. Aus stiller Duldung und später anerkennender Achtung wurden längst offene Einladungen zur Landnahme an die vermuteten Pioniere. Diese lesen sich zum Beispiel wie folgt: „Auf die Fläche...fertig...los!“, „Entdecke das Neuland! Ungeahnte Möglichkeiten!“39 „Go East“,40 „Land for Free. Die Stadt der Pioniere“41, „Claiming Land“42, „Adopt a Site“43 oder „Kolonisten gesucht“44. Zur Beschreibung der Schauplätze der Aneignung von Land ist die Rede von Prairie, Frontiers, Mondlandschaften, Savannen und Wüsten. In dem Projekt „100 qm Dietzenbach“45 wird man mit der Frage „Was machen Sie mit „100 qm Dietzenbach?“ dazu aufgefordert, „Claims“ abzustecken und diese zu nutzen und zu gestalten. Auch die Stadt Dessau sucht im Rah39 Slogans der Initiative „Neuland,“ ein vom Stadtplanungsamt MarzahnHellersdorf in Berlin im Jahre 2006 angestoßenes Projekt zur Neubesetzung von freigewordenen Flächen. Durch „Neuland“ sollten bezirkseigene Flächen mit kurzfristigen, spontanen und kreativen Zwischennutzungen reaktiviert werden, bevor sie als Brachen die Umgebung negativ prägen. Unter: http://www.neuland-berlin.org; Zugriff 2006. 40 Titel eines Seminars zu Praktiken der Raumaneignung an der Universität Potsdam, Sommersemester 2005, Doz: Bastian Lange, Christine Dissmann. 41 Titel einer Kampagne für das Ruhrgebiet als Kulturhaupststadt Europas 2010 von Boris Sieverts, unter: http://www.neueraeume.de/projekte/sieverts_land_for_free.pdf; Zugriff 7.5.2006. 42 Beitrag zum Wettbewerb „shrinking cities: reinventing urbanism“, 2004; Autoren: Stefanie Bremer, Dirk E. Haas, Päivi Kataikko, Henrik Sander, Andreas Schulze-Bäing, Boris Sieverts. 43 Beitrag zum Wettbewerb „shrinking cities: reinventing urbanism,“ 2004; Autoren: Paul Cotter, Gareth Morris, Heisi Rustgaard, Eike Sindlinger, Ulrike Steven, Susanne Thomas. 44 Mit diesem Slogan wirbt die Gemeinde Neulietzegöricke im Oderbruch bereits seit dem Jahre 2003 um neue Bewohner für ihren Ort. 45 Das Projekt Dietzenbach war Teil des Forschungs- und Förderprogramms „Stadt2030“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Jahre 2002/3. Durchführung: Stadt Dietzenbach mit dem Büro Topos, Darmstadt, der J.-W. Goethe Universität Frankfurt a. M., und der Technischen Universität Darmstadt. 124
DIE URBANE BRACHE
men ihrer Teilnahme an der IBA Stadtumbau 2010 „Neue ClaimAkteure als Vorboten für den Landschaftszug“46. 20x20 Meter große Grundstücke, „unmittelbar neben der ehemaligen Gärungschemie auf dem Gelände des aufgelassenen Sportplatzes gelegen“, werden an „interessierte Goldgräber“ gebührenfrei zum freien, temporären Gebrauch vermittelt und sollen für die Gestaltung eines vorgesehenen Grünzuges im Zuge des Stadtumbaus in Dessau „Vorreiterfunktion“ übernehmen. Mit ihrer Vergabe soll verhindert werden, das „innerstädtische Brachen, ob noch bebaut oder schon frei geräumt, verunkrauten“. Einzige Bedingung für die Übernahme eines Claims: Der Nutzer soll die Fläche pflegen und damit die Stadt von Folgekosten entlasten. Die zukunftsfrohe Perspektive einer sukzessiven „Bottom-up“Entwicklung und das Image von Hip- und Coolness der „Kreativ-Szene“ hat dazu geführt, dass die zunächst vorsichtig-deskriptive Rhetorik der Wissenschaft aus den Anfangsjahren des Stadtumbaus von Seiten der Planungs- und Stadtmarketingbüros eilfertig übernommen und für ihre Kampagnen, Aufwertungsstrategien und „Visionen“ verwandt wurde. Auffällig dabei ist der wiederkehrende Bezug zur Landnahme und Besiedlung der westlich des Mississippi gelegenen Gebiete Amerikas durch Immigranten im 19. Jahrhundert. Die deutliche, zuweilen fast unbeholfene Wild-West-Rhetorik soll positive Aufbruchstimmung, Freiheit und den Anbruch einer neuen Goldgräberzeit insinuieren. Sie stilisiert die freien Flächen und leeren Räume (nicht nur) des Ostens zu unerforschtem, unbesiedeltem Land, das dem unerschrockenen Abenteurer scheinbar zur freien Verfügung steht. Die Autorin Anke Hagemann kritisiert hierzu: „Bereits in dem begrifflichen Referenzsystem, einem (inzwischen kulturell stark überformten) historischen Beispiel des Kolonialismus, sind auch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen eines solchen Handelns bereits angelegt. Der Akt des Neubesiedelns und der Raumaneignung trägt Züge von Anarchie und Abenteuer, von Idealismus und Utopie, aber ebenso von Kolonisierung und privater Inbesitznahme. So wird die idealistisch bis subversiv geprägte Neubesetzung von Orten in schrumpfenden Gebieten oft von einer elitären bis ignoranten Einstellung gegenüber der lokalen Situation begleitet. Die WesternRhetorik macht somit zugleich die Ambivalenz und das Konfliktpotential des ,Pioniertums‘ in Ostdeutschland deutlich.“ (Hagemann in: Oswalt 2005; 421)
Hagemann zufolge handelt es sich bei den Aufforderungen zur Neubesetzung von Räumen um eine rhetorische Dekontextualisierung, die diese vermeintlich zu „virgin lands“ macht und welche die Gefahr einer 46 Unter: http://www.iba-stadtumbau.de; Zugriff am 25.5.2006. 125
DIE GESTALTUNG DER LEERE
Legitimationsgrundlage für die Aneignung auf Kosten der dort lebenden Bevölkerung in sich trägt (ebd., 422). Die sprachliche Anlehnung dieser Konzeption an die Pioniere des Wilden Westens der Vereinigten Staaten von Amerika hat sich indes meist bereits im weiteren Textverlauf erschöpft, in dem keineswegs der potenzielle Kolonialherr angesprochen wird, sondern vielmehr Nischenexistenzen aller Art, Phantasten und Träumer, die in den ungenutzten Räumen die Möglichkeit für experimentelle bis exzentrische Tätigkeiten finden können. Das Spektrum möglicher Nutzungen, sie sich in der Regel als „Zwischennutzungen“ verstehen und somit temporären Charakters sind, ist offen, wird aber seitens der Offerierenden zur Sicherheit ebenfalls umrissen: „Stadion, Königreich, Film, Bolzplatz, Fußball, Garten, Naturschutz, Spielplatz, Weg, Feiern, Hühnerhof, Indianerdorf, Paradies, Bazar“ (100-qm-Dietzenbach). Oder, aus der „Ideenkonferenz“ Weißenfels: „Kletterwand, Sprayerwand, Rodeln, temporäre Eisbahn, Skaten, Inlineskaten, BMX-fahren, Streetball, Kart- und Quadfahren, ,Dirtparcour‘, Kinderspielplätze, Grillplätze, Sonnenbaden, Insektenhotel, Naturinformationen, mobile Minigolfanlagen, Jugendclub, Jugendtreff, Vereinssitze, Feierlichkeiten, Gastronomie, temporäre Disco, ,Abhängen‘, Mietergärten, Schulgärten, ,Energiegarten‘, interkulturelle Gärten, Kino, Autokino, Theater, Kabarett, Lesungen, Ausstellungen, Zirkus, Proberäume, Ateliers, Workshops, Bildungseinrichtungen, Vorträge, Forschung, Markt, Messeveranstaltung lokaler Erzeuger, Auktionen, touristische Vermarktung, Parken mit Schlafplatz, minimalistische Herberge.“47
Für diese wilde Nutzungsmischung werden gesucht: „Fliegenfischer ohne Fließgewässer, Pfadfinder mit Sommerferien, Skater, Pferde mit Bewegungsdrang, Hobbygärtner und Pflanzenliebhaber, zukünftige Weltmeister ohne Fußballplatz, Campingplatzbetreiber, Bienenzüchter, BMXRadfahrer, Hüpfburgaufsteller, Grillmeister, Abenteurer ohne Spielplatz, Baseballmannschaften, Fallschirmspringer ohne Landeplatz, Schul- und Sportvereine, grasende Schafe, Cineasten und Filmeinleger, Skifahrer für blaue Abfahrten, Rodeoreiter, Blumenkinder und alle, die sonst noch Platz brauchen!“ (Projekt Neuland, Marzahn-Hellersdorf).
Das Nebeneinander von „konventionellen“ Akteuren wie Vereine oder Hobbygärtner und phantastisch anmutenden Nutzern wie die Skifahrer für blaue Abfahrten oder die Fliegenfischer ohne Fließgewässer lässt 47 Quelle: http://www.iba-stadtumbau.de/index.php?Weissenfels-Das-E-Werkhat-Zukunft; Zugriff am 20.5.2006. 126
DIE URBANE BRACHE
sich als Versuch deuten, auch an sich banale Tätigkeiten verbal zum „Erlebnis“ oder „Ereignis“ aufzuwerten (z.B „Guerilla-gardening“ für „Pflanzen im öffentlichen Raum“). Aus den Aufzählungen lässt sich herauslesen, dass keine der potenziellen Nutzungen zu marginal, abstrus und unkonventionell ist, um nicht Raum und Rechfertigung zu finden, um nicht besser und wertvoller zu sein als Nicht-Nutzung und damit (endgültige?) Wertlosigkeit der Flächen. Sie zeigen auch, dass die Protagonisten, die mit diesen Angeboten angesprochen werden sollen, keineswegs nur gesellschaftliche Randgruppen sind, keineswegs nur Künstler und Lebenskünstler, Aussteiger, Alternative, Ökos und Utopisten, sondern mit Vereinen und Ehrenamtlichen das Rückgrat bürgerschaftlichen Engagements, und dass mit „Träumern“ durchaus auch jener Kreis des Establishments gemeint ist, der, meist gut ausgebildet und integriert, und oft mit bereits einer erfolgreichen Karriere, nach einer Möglichkeit zur Verwirklichung von Ideen jenseits ausgetretener Pfade sucht. Die Pioniersrhetorik muss sich den Vorwurf der Instrumentalisierung mittelloser Kreativer und der maßlosen Übertreibung („ungeahnte Möglichkeiten“, Projekt Neuland, Marzahn-Hellerdorf) gefallen lassen. Ihr großes Verdienst ist es jedoch, über ihre Plakativität anschauliche Bilder in den Köpfen zu erzeugen und brach gefallenem Raum einen konkreten ideellen Wert als „Spielraum“ gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse zuzusprechen. Auf diese Weise wird der allseits geforderte Umdenk- und Umdeutungsprozess („Paradigmenwechsel“) auf breiter Basis in Gang gesetzt, der es ohne diese rhetorische „Vermarktung“ ungleich schwerer hätte. Brach gefallener Stadtraum ist kein Abfallprodukt und Problemfall mehr, sondern im Gegenteil „freigesetzter“, vom Ballast einer bestimmten Nutzung „befreiter“ Stadtraum, der zum eigentlichen Schauplatz der Transformation werden kann. Die diskursive „Verabenteuerlichung“ als Aufwertungsstrategie ist ein – wenn auch zunächst nur verbales – Urbarmachen vermeintlich verbrauchten Raums als Lebensraum für Experimentalisten und Abenteuerspielplatz für zivilisationsmüde Stadtbewohner gleichermaßen. Sie setzt auf zivilgesellschaftliches Engagement, Deregulierung und Laissez-faire als Entwicklungsprinzip und entwirft somit eine echte Alternative zu konventioneller kommerzieller Entwicklung. Es wird offenbar, dass jede dieser für sich allein genommen überspitzt und eindimensional wirkenden Wahrnehmungsformen urbaner Leere ein in sich plausibles Angebot enthält, das Unbekannte der leeren Stadt in bestehende Vorstellungswelten einzuordnen, und dass jede Sichtweise ein Stück der Wahrheit über den stadträumlichen Veränderungsprozess in sich trägt. Insgesamt setzt sich unser Blick auf die Bra127
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che zusammen aus Aspekten der Verunsicherung auf der einen Seite, von dem Fehlenden, Abwesenden, Defizitären, Ungewissen, Unvollständigen und Unbefriedigenden, und als Gegenpol dazu von der Ahnung des Anwesenden, Potenziellen, Offenen, Unfertigen, Werdenden auf der anderen Seite.
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LEERE
Trotz oder gerade wegen ihrer Ambivalenz ist die allgemeine Neigung groß, städtische Leere als Problem zu betrachten, das es zu lösen gilt, um die Transformation zu bewältigen. Die Herausforderung, dem Wandel gestaltend zu begegnen, steht neben den erwähnten Widersprüchen im Spannungsfeld von weiteren Randbedingungen: Einmal der sich allmählich durchsetzenden Erkenntnis, dass in einer zunehmenden Anzahl von Fällen unsere Kräfte und Bedarfe nicht ausreichen, die vorhandenen, erschlossenen Flächen in den Aktiva der Stadt zu halten. Dieser Erkenntnis gegenüber steht der politisch formulierte Anspruch auf Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz, der eine möglichst lückenlose Bewahrung, Wiederverwendung und -verwertung unserer Lebensgrundlagen fordert. Es ist in unserer Gesellschaft tabu, Kulturerzeugnisse einfach wegzuwerfen. Zu diesem Widerspruch tritt das nach wie vor gültige, grundgesetzlich verankerte Paradigma, das den Staat zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland verpflichtet, sowie ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein der deutschen Gesellschaft. Dieses Geflecht aus unterschiedlichen Ansprüchen hat zur Folge, dass Ansätzen zur Begegnung der städtischen Strukturkrise meist ein Aufgabenverständnis von Regenerierung im Sinne eines wirtschaftlichen Belebungsprozesses zugrundeliegt. Ziel eingreifender Maßnahmen ist die Konsolidierung der Stadtökonomie, besser noch ihre Rückführung auf den alten Wachstumspfad und die Bewahrung der in Besitz genommenen Räume im urbanen Kontext. In den vergangenen rund zehn Jahren wurden in fast allen von der Strukturkrise betroffenen Städten und Kommunen so genannte Integrierte Stadtentwicklungskonzepte (ISEKs) verfasst, die eine zusammenhängende Betrachtung der städtischen Kernthemen Bildung, Verkehr, 129
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Wirtschaftsförderung, Immobilienmarktstabilisierung und die Aufwertung der Stadtsubstanz beinhalten. Sie haben in den vergangenen Jahren eine große Fülle an explorativen Maßnahmen, Projekten, Leitbildern und Strategien hervorgebracht, um einen Beitrag zur Krisenbewältigung zu leisten. Diese konnten angesichts der Dimension und der Präzendenzlosigkeit des Strukturwandels nur bedingt auf vorhandene Erfahrungen und bewährte Abläufe zurückgreifen. Der Prozess des Suchens ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs abgeschlossen. (Es sei hier im Gegenteil die Prognose gewagt, dass wir uns als Gesellschaft immer noch am Anfang eines auf lange Frist angelegten Erfahrungsprozesses befinden.) Eine Betrachtung der bis heute praktizierten Strategien im Umgang mit den anfallenden Leerräumen muss daher vorläufig bleiben und ist prozessbegleitend fortzuschreiben. Mit ihr soll jedoch versucht werden, ein besseres Verständnis und eine Einordnung gängiger Praxis zu erreichen, die sich von dem mächtigen Paradigma der ökonomischen Revitalisierung löst und sich einer Bewertung hinsichtlich der Eignung einer Maßnahme für dieses Ziel enthält. Umgangsweisen mit urbaner Leere sollen vornehmlich auf den ihnen innewohnenden Ideengehalt befragt werden und nicht unter dem Gesichtspunkt ihres Potenzials für das Gelingen eines wirtschaftlich erfolgreichen Stadtumbaus. Anders als in bekannten Zusammenstellungen von „guten Beispielen“ geht es in diesem Zusammenhang in erster Linie darum, die Denkungsart zu ergründen, die bestimmten Handlungsweisen zugrundeliegt, um durch ein verbessertes Verständnis mit größerer Handlungsfreiheit über sie zu verfügen. Hierfür werden als charakteristisch oder modellhaft eingestufte Strategien im Umgang mit urbanen Brachräumen hinterleuchtet, die zwar in konkreten Praxisbeispielen identifiziert werden, die jedoch in der Praxis selten in „Reinform“ vorkommen, sondern meist in Überlagerung mit gemeinsam wirkenden anderen Strategien. Die Untersuchung richtet sich aber nicht nur auf jene Gestaltmaßnahmen, die als Teil einer offiziellen Strategie identifizierbar sind, sondern auch auf jene, die beiläufig, unterbewusst und diskursiv ablaufen und die dennoch einen wirkmächtigen Beitrag zur Gestaltung unserer Umwelt leisten. Diesem analytisch-deskriptiven Ansatz zum Trotz wird am Ende des Kapitels ein Plädoyer für eine Konzeption des Abwartens formuliert, die unter dem Arbeitstitel „Das Dornröschenprinzip“ möglicherweise eine verfolgenswerte Alternative zwischen Sanierung und Abriss, zwischen Aufwertung und Aufgabe, Wachstum und Schrumpfung aufzeigen kann.
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Die im Folgenden betrachteten Verfahren werden untergliedert in:
• • •
Praktiken, welche die Ausgliederung und Vernichtung der Leere aus dem Ordnungszusammenhang unserer Umwelt anstreben, Praktiken, welche die Wiedereingliederung und Neubewertung der Leere in den Ordnungs-Zusammenhang unserer Umwelt zum Ziel haben, Konzepte, die Formen des Nicht-Handelns, Liegenlassens und Abwartens erkunden.
S t r a t e g i e n d e r Au s g l i e d e r u n g Anders als die Vorgänge der Eroberung, Urbarmachung, Erschließung, Errichtung, Verknüpfung und Kultivierung von Raum finden die Vorgänge der Preisgabe dieser Leistungen wenig Niederschlag in der Planungsliteratur. Die Ausgliederung von kulturellen Errungenschaften aus dem zivilisatorischen Kontext, die Rückgabe des Erschlossenen, ist gesellschaftlich tabuisiert, findet sie dennoch statt, so wird sie als schicksalhaftes Geschehen wahrgenommen. Trotz dieses Tabus arbeiten alltägliche, beiläufige und selbstverständliche Praktiken im Umgang mit brachgefallenen Räumen dem offiziellen und gesellschaftlich korrekten Wunsch, nichts wegzuwerfen, klar entgegen. Darunter fallen beispielsweise die unmittelbar notwendigen Maßnahmen der Sicherung und Bewahrung der Gebäudesubstanz (des Straßenimages, der Nachbarschaft etc.), die keine Erwähnung in Entwicklungsplanungen oder städtebaulichen Entwürfen finden, und die doch von nachhaltiger Wirkung für das Stadtbild sein können. Außerdem betreffen sie bestimmte Verfahren der Marktbereinigung, die ihrerseits der Sicherung und Bewahrung bestimmter ökonomischer Interessen dienen. Diese Verfahren basieren auf einer Vorstellung von Leere als das Andere, Ungeordnete, sie modifizieren die vertraute Stadtmorphologie in fundamentaler Weise und überlagern die Stadt mit einer neuen Schicht, auf der wieder weiße Flecken und unbekannte Terrains vorkommen.
Grenzmanöver Es gehört zu den Paradoxien des Stadtstrukturwandels, dass sich durch die schleichende Entleerung der Städte einerseits tradierte Raumzusammenhänge auflösen, gerade aber dieser Auflösungsprozess neue Formen von Barrieren, Grenzen und Hindernissen erzeugt, so dass als Folge dieses raumverändernden Zusperrens in manchen Städten von einer Ver131
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grenzung des Stadtkörpers gesprochen werden kann, die jedoch keiner übergreifenden Erschließungslogik folgt. In der Folge dieser Vergrenzung des Raums kommt es vor allem in nachhaltig strukturschwachen Lagen keineswegs automatisch zu einem Zugewinn an offenen Flächen oder Freiräumen durch die Leere, sondern vielmehr zu einer Veränderung der Stadt von relativer Durchlässigkeit hin zu einer sukzessive abnehmenden Permeabilität, zu einer Verlagerung der räumlichen Grenzmarkierungen von innen und außen, privat und öffentlich hin zu genutzt und ungenutzt, instandgehalten und dem Verfall preisgegeben. Das Absperren und Umzäunen, Verriegeln und Zunageln eines Gebäudes oder Grundstückes ist nach Wegfall rechtlich abgesicherter Nutzungsmodalitäten (Miet-, Pacht-, oder Nutzungsvertrag) gleichsam die erste, unwillkürliche Reaktion auf den Leerstand. Sie dient dem Schutz des Eigentums vor fremder Begehrlichkeit einerseits und dem Schutz etwaiger ungebetener Besucher vor Unfällen auf dem Gelände andererseits. Im Hinblick auf den Werterhalt wird die Immobilie eingegrenzt und die Umwelt ausgegrenzt. Diese Variation des Inklusion-Exklusionsthemas ist aus der Perspektive des Stadtzusammenhangs aber auch umgekehrt lesbar als die Ausgrenzung der Brachbereiche aus dem vermeintlich intakten (weil genutzten) Stadtgefüge und die Eingrenzung der übrigen Flächen als zu sichernder Bereich. Der Zaun und das Schloss werden hier zum Ausdruck eines Schutzimpulses der Stadt gegen den drohenden Niedergang, der mit dem Anblick verwahrlosender Brachflächen in Verbindung gebracht wird. In Bezug auf die Alltagsrealität kommt das unvermeidliche Absperrmanöver leerstehender Immobilien dem Herauslösen einzelner Bausteine aus dem vitalen Stadtkörper gleich, ähnlich einer Abstoßungsreaktion, ohne dabei deren physische Substanz in ihrer Gesamtheit zu zerstören: Wege, Ein- und Ausgänge, Durchfahrten, Querverbindungen Einblicke und Durchblicke werden verschlossen, Gebäude und Grundstücke werden durch Schutzmaßnahmen unzugänglich gemacht. Andersherum ist auch die Inversion dieses Motivs, also die Umfriedung genutzter oder instandgehaltener Flächen inmitten großflächiger Bereiche der Verödung eine Raumstrategie in Strukturwandelstädten. Sorgsam umhegte Vorgärten der Erdgeschoss-Wohnungen von Großwohnanlangen, das symbolische Schützen von neu angelegten grünen Abstandhaltern auf Abrissflächen mit Sperrketten, aber auch die zitathaft mit Jägerzaun einhegten, bürgerschaftlich angeeigneten Freiflächen beispielsweise im Stadtzentrum von Forst1 handeln weniger von einem 1 Im Sommer 2005 konnte man in Forst, einer strukturschwachen Stadt an der Grenze zu Polen, die private Aneignung von Vorgartenbereichen 132
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reellen Schutzbedürfnis, sondern vielmehr von dem Anliegen der Bürger nach Kenntlichmachen kontrollierter Bereiche der Ordnung in einer zunehmend unwirtlich werden Umwelt. Die eingesetzten Ketten, Gitter und Markierungen sind nicht ausschließlich von funktionalem, sondern auch von sinnbildlichem Wert, behaupten sie doch einen sanktionierten Bereich gegen die potenziellen Zumutungen des Unkontrollierten, Ungewissen, Ungeordneten, Wuchernden, Wilden, Formlosen. De facto sind sie oftmals keine wirkliche Hürde, dennoch tragen sie den Charakter einer Demarkationslinie, welche die Inseln der Kontrolliertheit sinnbildhaft zusammenhält und abtrennt von der zerfließenden Diffusität der umgebenden spaces of uncertainty. Diese Spielart der Grenzziehung ist anders als das Absperren von Brachräumen keine Erste-HilfeMaßnahme, sondern ein zweiter Schritt, sie sind bereits eine bewusste Gestaltung. Man kann sie durchaus als eine Strategie der Raumbewältigung angesichts zerrinnender und zerfasernder Räume betrachten. Sie trägt einen wichtigen Teil zur Selbstvergewisserung von Bewohnern einer sich entleerenden Stadt bei, die Grenze definiert die erfasste Ordnung und trennt sie von der ungeordneten Wüste ab. Für beide Arten von Grenzmanifestationen gilt jedoch, dass sie einem grundsätzlichen Gefühl der Angst vor der Leere entstammen und dass sie in ihrem Kern gleichsam die historischen Errungenschaften des Städtebaus an sich verteidigen, der stets von dem Bedürfnis nach Freiheit und Kontrolle, Hygiene und Sauberkeit, und dem Fernhalten von Verwahrlosung motiviert und angelegt war (vgl. Ellin 1997). Das Restringieren von Räumen im Zusammenwirken mit Prozessen des Niedergangs ist jedoch insgesamt ein stadtstruktureller Abwertungsmechanismus. Die räumliche Komplexität und Tiefe, die den einzelnen Bausteinen des Stadtkörpers innewohnen, werden durch zusätzliche Wände und Hindernisse verringert oder ganz aufgehoben. Das verschlossene Gebäude, das vorher ein unendlich in sich gefaltetes Raumgebilde darstellte, ist nur mehr ein einfaches Volumen mit einer undurchdringlichen Oberfläche. Erlebnis- und Bewegungsoptionen, aber auch visuelle Angebote für die Stadtbewohner sind bei einem dauerhaft verschlossenen Gebäude stark eingeschränkt. Während sich beispielsweise in einem voll vermieteten und genutzten gründerzeitlichen Straßenraum trotz geschlossener beidseitiger Bebauung Hofräume, Durchwegungen und Querverbindungen in die gesamte Blocktiefe und öffnen,
mehrgeschossiger Mietshäuser im Stadtzentrum beobachten. Diese wurden, obwohl oder gerade weil freier Raum in großem Überfluss vorhanden war, in sorgfältiger Weise mit einem Jägerzaun umfriedet und so von ihrem öden Umfeld abgetrennt. 133
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wird der Straßenraum im angenommenen Extremfall des vollständigen Leerstandes zum Hohlweg, der beidseitig umgeben ist von einem massiven, undurchdringlichen Wall. Vernagelte, blinde Fenster nehmen den Fassadenfronten zusätzlich ihre optische Vielschichtigkeit und machen es unmöglich, in das Innere der Gebäude zu blicken. Susanne Hauser hat sich in ihrem Buch „Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale“ (2001) näher mit den Mechanismen des Aussonderns von Brachräumen befasst. Ihr zufolge entspricht der Akt der Grenzziehung um eine aufgegebene Fläche der Konstitution dieser als Abfall, wobei die Definition von Abfall untrennbar verbunden ist mit der Definition dessen, was nicht Abfall ist, also der ökonomischen und ökologischen Ordnung, von der er abgefallen ist (Hauser 2001; 1112). Unter Ordnung wird bei Hauser eine „Ökonomie der Stoffe verstanden, die, um ihre Strukturen aufrecht zu erhalten, das ihr Unbrauchbare aus sich heraussetzt“ (ebd., 19). Die Scheidungen zwischen Abfall und Nicht-Abfall sind dabei nicht stabil, endgültig und eindeutig: „Abfall sein ist keine substantielle Eigenschaft, sondern Ergebnis eines Prozesses, in dem Dinge und Stoffe als unbrauchbar oder gar gefährlich ausgesondert werden. [...] Die Beziehung, in der Müll und Abfall zu der sie erzeugenden Ordnung stehen, ist in mehreren Dimensionen als die von Negativität und Positivität beschreibbar: Eine Ordnung und ihr Abfall scheiden sich an der Grenze zwischen Differenziertem und Nicht-Differenziertem, Identischem und Nicht-Identischem, Bezeichnetem und Nicht-Bezeichnetem. Zwischen ihnen verläuft eine Grenze, die Sprechen und Schweigen, Wahrnehmen und NichtWahrnehmen trennt.“ (ebd., 22)
Abfall oder Müll sein bedeutet nach Hauser, aus den „zentralen Aktivitäten unserer heutigen Gesellschaft, der Verwertung, dem Nutzen und Brauchen, Produzieren und Konsumieren ausgeschlossen zu sein“, wobei sie anmerkt, dass Abfall im Gegensatz zu Müll durchaus noch wiederverwendet werden kann. Gegenstand ihrer Untersuchung sind entsprechend Verfahren der Wiedergewinnung und Aufarbeitung des Abfalls, also der Überwindung der konzeptuellen Grenze zwischen definierter Ordnung und nicht-definierter Un-Ordnung. Die Neigung, den realen Raum mit einer Vielzahl von Hindernissen und Zugangskontrollen auszustatten, greift keineswegs nur in leeren Städten um sich, sondern kann mittlerweile als generelles Phänomen unserer Zeit betrachtet werden. Sie steht nicht zuletzt als eine Art Antithema in spannungsreichem Gegensatz zum Bestreben nach Grenzüber-
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windung und Grenzauflösung, das seinen vorläufigen Höhepunkt in der weltweiten Durchsetzung des globalen Datennetzes gefunden hat.
Die Herstellung von Unsichtbarkeit Aus Ordnung und Kontrolle gefallene Räume bieten sich an als Austragungsort von Aktivitäten, die sich ebenfalls außerhalb der herrschenden gesellschaftlichen Regeln befinden, sei es nun das (harmlose) wilde Parken, das illegale Abladen von (meist gebührenpflichtigem, umweltbelastenden und damit deutlich weniger harmlosem) Müll, Vandalismus oder Kriminalität. Es scheint, als provoziere ein über längere Zeit herrenloses Areal spontan Wahrnehmungs- und Umgangsweisen, die dessen Status als etwas Ausgesondertes gerade nicht zu überkommen suchen, sondern vielmehr eben diesen voraussetzen, bestätigen und verfestigen. Die Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen werden in diesem Zusammenhang nicht überschritten, um sie infrage zu stellen und aufzulösen, sondern um sie zu nutzen, die eigene Person und eigene Handlungen ebenfalls der Kontrolle und Regulation zu entziehen. Die Desintegriertheit von Räumen wird durch diese Praxis nicht aufgehoben, sondern verstärkt. Ihr Dasein im Schatten der Aufmerksamkeit, ihre Unsichtbarkeit ermöglicht es, in ihnen selbst unsichtbar zu werden. Die in den USA formulierte „Broken-Windows-Theorie“2 beschreibt das Phänomen, wie bereits ein einziges zerbrochenes Fenster in einem Gebäude eine negative Kettenreaktion bis hin zur völligen Verwahrlosung der Viertels nach sich ziehen kann. Die Theorie deutet an, dass ein erkennbar gemachtes Vakuum an sozialer Kontrolle zwangsläufig weitere Regelverstöße und Kriminalität zur Folge hat. Das Fehlen von Überwachung macht der „Broken-Windows-Theorie“ zufolge einen Ort zu einem verborgenen Ort, der sich am Rande der Gesellschaft befindet, verwandelt ihn in Untergrund, in einen dunklen Bereich, in dem sich das Geheime, Lichtscheue, Verbotene abspielt und aus dem latent Gefahr droht. Intuitiv werden solche Randbereiche mit sozialen Elementen des Abseits in Verbindung gebracht, mit Schmutz, Illegalität und Amoralität. Als Lö-
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Die „Broken-Windows-Theorie“ wurde erstmals 1982 in der Zeitschrift The Atlantic Monthly von dem Politikwissenschaftler James O. Wilson und dem Kriminologen George L .Kelling veröffentlicht. Sie bietet das argumentative Fundament der so genannten Nulltoleranzstrategie und ist eine der Grundlagen heutiger Kriminalprävention. Gleichwohl ist die Theorie keineswegs unumstritten, da sie die sozialen Hintergründe für Aggression und Gewalt völlig außer Acht lässt. Quelle: http://www.kriminologie.uni-hamburg.de, Zugriff am 17.5.2008. 135
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sung bietet die Theorie das Unkenntlichmachen des Schandfleckes an, die optische Rückführung des Unordentlichen in die Ordnung, also die Affirmation der klaren Grenze zwischen dem Innen und dem Außen. Wird das Fenster möglichst bald repariert, das Graffiti abgewaschen, der Schmutz beseitigt, so wird damit auch Schlimmeres verhindert. Obwohl Leerstand an sich keineswegs zwangsläufig Aufgabe und Verwahrlosung bedeutet, ist eine weit verbreitete Neigung zu beobachten, ihn gemäß der Logik der „Broken-Windows-Theorie“ zu behandeln. So bemühen sich zum Beispiel Einzelhandelsvereinigungen, Büro- und Ladenvermieter sowie Centerbetreiber um eine optische Kaschierung von unvermieteten Flächen. Leere Schaufenster werden mit Installationen oder subventionierten Zwischennutzungen belebt, leere Büroflächen werden nachts beleuchtet und der freie Blick in leere Ladenfluchten wird mit Leichtbauwänden zugebaut. Begründet wird das Versteckspiel mit der angeblichen Schwierigkeit einer Neuvermietung bei Offensichtlichkeit des Leerstands und der Angst der Gewerbetreibenden vor „Tradingdown-Prozessen“. Im Kontext des ökonomischen Wettbewerbs wird Leerstand allgemein assoziiert mit mangelnder Attraktivität und Misserfolg, an dieses Image hängen sich in der Folge vielfältige gesellschaftliche Ängste an, die weit über die Furcht vor kriminellen Übergriffen hinausreichen. Als Strategie, die Leere zum Verschwinden zu bringen, lassen sich auch manche der vollendeten Renovierungen und Rekonstruktionen ostdeutscher Städte in den 1990er Jahren interpretieren, die halbverrottete Stadtkerne in nie gesehener Weise wiederauferstehen ließen, und die doch in keinem Verhältnis zu der tatsächlichen Wirtschaftskraft und Vitalität der Orte standen (vgl. Hartung 2004). Perfekte Stadtinterieurs, wohlgestaltete Plätze und schmucke Bürgerfassaden künden vermeintlich von Prosperität und lebendiger Stadtkultur, selbst wenn sich hinter ihnen bis zu 50 Prozent Leerstand verbirgt. Blitzsaubere, von allen Widersprüchen gereinigte und doch weitgehend leere Innenstädte sind das zweifelhafte Ergebnis gebündelten Fördermittelzuflusses – und eben auch ein Ausdruck eines tiefsitzenden Horror Vacui. Die fehlende Korrespondenz der Stadtgestalt zu dem tatsächlich vorhandenen Stadtleben führt zu einem semantischen Verwirrspiel, da die vordergründige Botschaft der Fassaden eine klare und bekannte Botschaft zu vermitteln sucht, die sich realiter nicht abspielt. Stillgelegte Orte können aus unserem Sichtfeld und unserem Bewusstsein verschwinden ohne dabei tatsächlich verleugnet und versteckt, verriegelt oder abgerissen worden zu sein. Ein anderer, etwas subtilerer Weg, die Leere aus der Wahrnehmung zu löschen, ist ihre einfache Nichtbeachtung. Gerade die alltägliche, allmähliche Drainage einer 136
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Stadt von ihren Bewohnern bewirkt ein alltägliches und sehr allmähliches Verblassen der Präsenz von Orten in unserem Bewusstsein: Geschlossene Theater, Konzerthäuser und Kinos veröffentlichen keinen Spielplan mehr, sie erhalten keine Besprechungen in der Zeitung und sind nicht mehr Ziel der Bewohner, ebenso wenig wie geschlossene Schwimmbäder oder Sporthallen. Das Fehlen einer alltäglichen Bedeutung für die Bevölkerung reicht in den meisten Fällen schon aus, um einen Ort sukzessive aus dem gelebten Gebrauchszusammenhang der Stadt zu nehmen, ihn schleichend aus unserer Vorstellungswelt auszugliedern und letztendlich in Vergessenheit geraten zu lassen. Außer Betrieb genommene Schulen, Postfilialen und Krankenhäuser werden nicht mehr auf den Stadtplänen eingezeichnet, sie schließen im Regelfall ihre Internetpräsenz und vollziehen somit auch virtuell den Rückzug aus dem Wahrnehmungsraum einer wachsenden Zahl von Bürgern. Das NichtErwähnen, Nicht-Benennen und nicht zuletzt die grafische Marginalisierung von Orten auf Stadtplänen oder Landkarten, in Reiseführern und in Verzeichnissen macht ihr Ignoriertwerden als Sehensunwürdigkeiten offiziell und kann als die ultimative Strategie zur Ausblendung inaktiver Räume aus der kollektiven Wahrnehmung verstanden werden. Das schleichende Verschwinden von Orten auf unserer kognitiven Landkarte ist ein beunruhigender Prozess. Unsere Kultur ist bestimmt von dem Impuls, in unbekannte, unerforschte Gebiete vorzudringen und sich diese zum geistigen und politischen Besitz anzueignen. Der metaphorische weiße Fleck des kartografischen Denkens ist menschheitsgeschichtlich untrennbar verbunden mit dem Drang, das Unbekannte zu beschreiben und aus dem Unwirklichen in die Wirklichkeit zu überführen (vgl. Bezzel 2003; 122-123). Im Rückzug der Menschen aus in Besitz genommenen Räumen vollzieht sich unwillkürlich die Umkehrung des Prozesses ihrer Erforschung und Erschließung, der seinen Höhepunkt in den Entdecker- und Kolonialzügen gehabt hatte. Durch die schrittweise Entleerung strukturschwacher Räume entstehen neue weiße Flecken auf unserer inneren Landkarte. Sie entstehen einerseits schlicht durch Nicht-mehr-Nutzen, Nicht-mehr-Instandhalten und Nicht-mehrKommunizieren dieser Räume, gleichzeitig aber auch durch den immanenten und teilweise unbewusst ablaufenden Prozess des Herabstufens vom Brauchbaren zum Unbrauchbaren, vom Nötigen zum Überflüssigen, vom Wertvollen zum Wertlosen. Die Folge ist, dass es zu einer neuen territorialen wie psychischen Unzugänglichkeit von Teilen der Stadt kommt (vgl. Hauser 2001). Diese neuen weißen Flecken als Orte des Anderen unterscheiden sich von den unerforschten Gebieten der Geschichte: Sie sind nicht mehr unschuldig und rein, sondern vernutzt und beschmutzt, sie bergen keine unentdeckten Reichtümer, sondern sind be137
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lastet mit den Hypotheken vorangegangener Ausbeutung. Die Tendenz zum mentalen Ausblenden bestimmter Areale und Bestandteile der Stadt durch ihre Bevölkerung lässt die Deutung zu, dass diese damit zu einer Art verräumlichtem Unterbewusstsein gemacht werden. Sie sind der physische Niederschlag des Unbewältigten, des Verdrängten, Ausgeblendeten, dass aus Selbstschutzgründen unterhalb einer vermeintlich intakten Oberfläche befördert wurde.
Vernichtung der Leere Eine weitere Möglichkeit, Leere verschwinden zu lassen, ist es, die sie konstituierenden baulichen Strukturen in der Weise zu verändern oder zu beseitigen, dass sie entweder veränderten Bedürfnissen gerecht werden und nicht mehr von einem „Fehlen“ gekennzeichnet sind, oder aber keinen inhärenten Anspruch auf Fülle, Aktivität und Gebrauch mehr in sich tragen.
Umbauen und Anpassen Die politische und stadtplanerische Antwort auf die sich entleerende Stadt heißt bekanntlich Stadtumbau. Der Maßnahmenkatalog des Stadtumbaus umfasst ein breites Repertoire an realisierten oder konzipierten Umbaustrategien, die unter spezifischen Gesichtspunkten auch im Rahmen dieser Arbeit Beachtung finden. Weiter fallen unter die Kategorie der Umbaumaßnahmen alle klassischen Konversionsprojekte, konventionelle Umnutzungen, Anpassungen des baulichen Bestandes, Modernisierungen, Renovierungen und Sanierungen, sowie sämtliche anderen Strategien zur Bewahrung und Weiterentwicklung der gebauten Umwelt, deren Ziel es ist, die Leere durch eine Modifikation der Architektur oder des Städtebaus aufzuheben. Konkrete Umbaumaßnahmen sind aufgrund ihrer Anschaulichkeit Gegenstand einer hohen Aufmerksamkeit der Fachwelt und des öffentlichen Publikums und werden in der Regel breit publiziert und diskutiert. Daher möchte ich im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter vertiefend auf einzelne Beispiele eingehen, sondern lediglich versuchen, die wichtigsten städtischen Qualitäten zu benennen, die durch bauliche Maßnahmen als Reaktion auf die Leere entstanden sind bzw. entstehen können. Es geht also um die Konkretisierung der bekannten Formel „Weniger ist Mehr“ mit dem Schwerpunkt auf der Frage, welcher Art dieses Mehr ist, das durch ein Weniger an Bewohnern und Stadtsubstanz entstehen kann.
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Neue Grün- und Landschaftsräume in der Stadt „Wo Gebäude fallen, entsteht Landschaft.“ Der Slogan der Stadt Dessau für ihren Beitrag zur Internationalen Bauausstellung Stadtumbau 2010 bringt die einschlägige Formel des Umbaus auf den Punkt: Weniger Häuser bedeuten mehr Natur in der Stadt. Allerdings enthält sich diese Gleichung einer Bewertung möglicher neuer Qualitäten für die Stadt, auch wenn angenommen werden kann, dass dem Begriff „Landschaft“ generell positive Merkmale zugewiesen werden. Grundsätzlich ist eine bessere Versorgung der Stadtbewohner mit Grün- und Naturräumen natürlich fast immer ein Zugewinn an Lebensqualität. Vor allem im Falle dichter, gründerzeitlicher Blockbebauung, die traditionell kaum freie Parzellen für Parks oder Spielplätze beinhaltet, ist eine Durchsetzung mit kommunalen „grünen Wohnzimmern“, Pocket Gardens und grünen Hofbereichen eine begrüßenswerte Entwicklung. Auch das Ziel, die Landschaft in größerem Maßstab in die Stadt „hineinzuholen“, lässt sich mit positiven Vorstellungsbildern der gelungenen Verquickung urbaner Qualitäten mit der Natur verbinden. Die Durchgrünung von Städten mit einem Landschaftszug ist wichtiges Element fast jeder zeitgenössischen Stadtumbaustrategie in Deutschland. Brachen werden in Bürgerparks, Sportflächen, Spielplätze, Mietergärten, Nachbarschaftsgärten oder landschaftlich gestaltete Freiflächen verwandelt und bilden so meist einen Mehrwert für die Stadtbevölkerung, selbst wenn sie aus ästhetischer Sicht mitunter banal bleiben. Angesichts der großen Menge anfallender Freiflächen bleibt zu fragen, wie weit belastbar das Leitbild der verlandschafteten Stadt letztendlich ist und wieviel Landschaft der Stadtzusammenhang eigentlich verträgt. Neue architektonische Vielfalt und Qualität Der naheliegende Ansatz, der massenhaften Abwanderung von Mietern und Nutzern von Gebäuden mit einer Verbesserung des Angebots in Form von höherer Qualität der Architektur, besserer und vielfältigerer Grundrisse und einer höherwertigen städtebaulichen Gestaltung zu begegnen, ist keineswegs ein automatisch ablaufender Mechanismus.3 Vorhandene Beispiele gelungener struktureller Eingriffe in die bestehende Bausubstanz, um diese mit einer neuen Attraktivität auszustat3
Vor allem zu Beginn des Stadtumbauprogramms erschöpfte sich der überwiegende Teil der architektonischen und städtebaulichen Umbaumaßnahmen der von Leerstand betroffenen Quartiere auf oberflächliche „Verschönerungen“ der Gebäude und auf kosmetische „Wohnumfeldverbesserungen.“ Eingänge wurden farblich akzentuiert, Fassaden erhielten pastellfarbene Anstriche und industriell gefertigte Großwohnanlagen wurden mit Giebeldächern geziert. 139
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ten und ihren Marktwert zu erhöhen, sind überschaubar. Hervorzuheben sind hier das bereits mit großer medialer Aufmerksamkeit und verschiedenen Auszeichnungen bedachte Beispiel des Umbaus der Thüringischen Kleinstadt Leinefelde (Architektur: Forster+Schnorr Architekten, Frankfurt a.M. und Meier-Scupin&Petzet Architekten, München) sowie unter anderen der Umbau der Ahrensfelder Terrassen in Berlin-Marzahn (Architektur: Stephan Schüttauf und Michael Persike). An diesen Projekten konnte gezeigt werden, dass durch Maßnahmen der Reduktion von Baumasse insgesamt, der Differenzierung der Grundrisse, der Hierarchisierung und Gliederung des Außenraums, durch die Etablierung halböffentlicher Bereiche, die Aufwertung der Erschließungsbereiche und durch die Einführung von architektonischer Variation und Vielfalt der Gebäudehaut ein vormals ödes, diffuses und in weiten Teilen leerstehendes Stadtquartier unter Zugrundelegen seiner systemimmanenten Potenziale umgebaut werden kann und wieder Nachfrage findet. Ebenfalls einen neuen urbanen Mehrwert durch das Wegfallen tradierter Einwohnerstrukturen bietet die Neubebauung leerstehender Blockgrundstücke oder Industrieareale mit Stadthäusern (Townhouses) und verwandten Typologien des Einfamilien- bzw. Reihenhauses. Vor allem so genannte Selbstnutzerprojekte, die beispielsweise in Leizpig4 erfolgreich realisiert wurden, ermöglichen innerstädtische Eigenheimbildung auch für den kleinen Geldbeutel und sorgen durch die individuelle Beauftragung von Planungsbüros durch private Bauherren für eine ungewohnte architektonische Vielfalt in den jeweiligen Quartieren.
Neue Bedeutung der Partizipation Das Überangebot an vorhandenem Wohnraum in schrumpfenden Städten hat das marktwirtschaftliche Gleichgewicht zugunsten des „Kunden“, also des Mieters oder Käufers von Gebäuden oder Grundstücken verlagert. Diese müssen zwar teilweise ihre angestammte Wohnung räumen und umziehen, verfügen aber über eine größere Wahlfreiheit in Bezug auf Wohnort und Wohnform bei verhältnismäßig günstigen Bedingungen. Es gilt mittlerweile als unumstritten, dass Umbauprojekte nicht mehr oder nur sehr schwer an den Mietern vorbei organisiert werden können. Bewohner werden in nie gekannter Weise angesprochen, umworben mit niedrigschwelligen Angeboten zum Mitmachen und Mitgestalten ihrer gebauten Umwelt animiert. In fast jedem vom 4
Der Leipziger Verein Selbstnutzer e.V. befähigt und unterstützt gemeinsam mit dem Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (ASW) Privatleute, Bauherren zu werden. Ziel ist die Fortführung des Stadtumbaus unter Mobilisierung von privatem Kapital und mit Förderung durch die Stadt.
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Umbau betroffenen Quartier werden regelmäßig Workshops, offene Planungswerkstätten und Informationsabende veranstaltet, Bürgerbüros eröffnet und durch Mitmachaktionen und Feste Bürgernähe und Gemeinschaftsgefühl gesucht. Dabei ist das Angebot zur Teilhabe an Planungsprozessen nicht mehr idealistischen Fantasien bürgerschaftlicher Ermächtigung gegen hegemoniale Planungsstrukturen geschuldet, sondern entspringt der pragmatischen marktwirtschaftlichen Einsicht, dass der „Kunde“ mit einem Male König geworden ist.
Die Idee der Korrektur Eine umfassende, endgültige und drastische Form der Aussonderung von Elementen aus dem Zusammenhang unserer gebauten Umwelt ist der Abriss. Dabei ist der Abriss, obwohl gegenwärtig in großem Maßstab in deutschen Städten praktiziert, staatlich gefördert und mit der Hoffnung auf Revitalisierung der Stadtentwicklung vor allem in Bezug auf die Wirtschaftskraft der Wohnungsunternehmen verknüpft, als Begriff stark negativ konnotiert und wird daher im Kontext des Stadtumbaudiskurses meist durch den Begriff Rückbau ersetzt. Der Rückbau wiederum hat seine begrifflichen Wurzeln in den städtebaulichen Diskussionen der Postmoderne und bezeichnete zunächst das Rückgängigmachen diskreditierter Strukturen des Verkehrs und Großsiedlungsbaus. Rudolf Schilling sieht den Rückbau in seinem 1987 veröffentlichten Buch „Rückbau und Wiedergutmachung: Was tun mit dem gebauten Kram?“ als Teil eines Programms der „Stadt- und Siedlungsheilung“, das “Wiedergutmachung der Bausünden des Jahrhunderts“ anstrebe (Schilling 1987; 78). Schilling sieht die Hauptaufgabe der damaligen Architektengeneration nicht im Bauen neuer Gebäude, sondern in der Korrektur und Verbesserung des Bestandes. Seine Haltung ist stark beeinflusst von den Ideen der Umweltbewegung der 70er und 80er Jahre, dem Dämmern des Zeitalters grenzenlosen Wachstums, den ersten Anzeichen von Schrumpfung und Bevölkerungstagnation, dazu einem weiteren Tal in der Baukonjunktur sowie dem Auftreten von Bauschäden infolge von Umweltbelastungen und Verfallserscheinungen wenig nachhaltiger (neuer, unerprobter) Baustoffe an den Gebäuden der Nachkriegsgeneration (vgl. Autzen, Becker 1985; 134-142, Ganser 1985; 120-121, et al.). Schillings aus heutiger Sicht etwas pathetisch anmutender Aufruf lässt sich als Gegenreaktion auf die wachstumseuphorischen Auswüchse der Moderne verstehen:
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„Umwelt und Landschaft sind ernstlich krank und womöglich schon unheilbar. Das Immunsystem ist kaputt. Notwendig ist eine aktive und expansive Politik der Heilung und Wiederherstellung. Sie ist unsere letzte Chance. Vielleicht kommen wir schon zu spät damit. Aber was denn sonst? Wir müssen der Natur und der Landschaft so viel wie möglich zurückgeben, was wir ihr entrissen, was wir denaturiert haben. Wir müssen Fehler korrigieren, rückbauen.“ (Schilling 1987, 80)
Manifestartig fordert Schilling Wiedergutmachung durch Rückbau: „Wir müssen die Spieße umdrehen und Wiedergutmachung verlangen. Wir müssen in Wiedergutmachungsplänen benennen, was zu beseitigen, was rückzubauen, was umzugestalten ist. […] Wir benötigen die offensiven Verzeichnisse wiederherzustellender, wiedergutzumachender Landschaften. Wie anders klingt es, wenn wir nicht erst bei akuter Gefährdung Schutz verlangen, sondern wenn wir vorweg und ganz konkret auf vorhandenen Objekte fordern: Diese Kiste muss entfernt werden! Dieser störende Riegel ist zu beseitigen! Diese Masten gehören umgesägt!“ (ebd., 79).
Der politischen und geschichtlichen Implikationen des Begriffes „Wiedergutmachung“ durchaus bewusst, hält Schilling dieses schwere rhetorische Geschütz angesichts der damaligen Städtebaudiskussion für durchaus angemessen. Allerdings sieht auch er die Gefahr, dass die „Worttüte Rückbau“ (ebd., 79) als Aufforderung zu Rückwärtsgewandtheit und revisionistischer Planungshaltung fehlinterpretiert werden könnte. Rückbau dürfe keineswegs „zurück“ bedeuten, sondern vielmehr „vorwärts“, eine Wendung, die durch den Zusatz des „Bauens“ (rückwärts bauend vorwärts?) zu einer problematischen rhetorischen Figur wird. Zum Rückbau gehören nach Schilling drei Elemente: Einmal ein gegenwärtiger Zustand, der als fehlerhaft verstanden wird, ferner die Vorstellung eines früheren Zustandes, der als weniger fehlerhaft verstanden wird, und schließlich das Ziel eines zukünftigen Zustandes, der den früheren mindestens annäherungsweise wiederherstellt und damit den fehlerhaften heutigen verbessernd korrigiert. Etwas deutlicher werden in diesem Zusammenhang die Autoren Stephan Reiß-Schmidt und Felix Zwoch im Jahre 1985; sie wehren sich gegen den Verdacht, mit „Rück-bau“ eine rückwärtsgewandte Philosophie des Verzichts durchsetzen zu wollen, und suchen stattdessen nach dem produktiven oder gar utopischen Moment der Reduktion von Baumasse: „Rück-bau bedeutet den Versuch, das in der vorindustriellen Stadt noch vorhandene Gleichgewicht zwischen Belastbarkeit der natürlichen Ressourcen und dem Anspruch der städtischen Lebensweise in neuer Form herzustellen. 142
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Rück-bau meint den Versuch, bei der Aneignung der Stadtteile den zugrundeliegenden Ideen gerecht zu werden, um damit den unverwechselbaren Ort zu erhalten, ohne unbrauchbare Strukturen zu konservieren. Rück-bau kann auch die Chance sein, die einst gewollte, aber dann unter ökonomischen Zwängen hastiger Realisierung kleingearbeitete städtebauliche Konzeption nachträglich zu verwirklichen. […] Rück-bau heißt, Abschied nehmen von einst wohlmeinend fortschrittlicher, aber vordergründiger Ordnung, die der Vielfalt des Lebens doch nicht entspricht. Rück-bau heißt also auch: Unordnung wieder zulassen.“ (Reiß-Schmidt, Zwoch 1985; 122-123)
Bekanntermaßen fiel wenige Jahre nach der Veröffentlichung solcher Überlegungen die Mauer in Deutschland, es folgte eine Zeit des wiedervereinigungsbedingten Baubooms, der weder Zeit noch Raum für Nachdenklichkeit ließ. In fester Zuversicht auf versprochene blühende Landschaften und satte, staatlich bezuschusste Renditen wurde gebaut, über sich alsbald abzeichnende problematische Gewichtsverlagerungen auf dem Immobilienmarkt wurde nicht gesprochen. Mitte bis Ende der Neunziger Jahre schließlich ließen sich die Probleme des Immobilienleerstandes vor allem in den neuen Bundesländern nicht weiter ignorieren. Auf den alarmierenden Leerstandsbericht, veröffentlicht von der staatlich bestellten Leerstandskommission um die Jahrtausendwende, antwortete die Bundesregierung durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen im Jahre 2002 mit dem Förderprogramm „Stadtumbau Ost“, das mit einem Gesamtvolumen von 2,7 Mrd. Euro im Zeitraum von 2002 bis 2009 den Abriss von Wohnungen und die Aufwertung der verbleibenden Umfeldes fördert. Nach einer Evaluierung der Ergebnisse der ersten Laufzeit wurde im Frühjahr 2009 die Fortführung des Programms durch den Deutschen Bundestag um weitere sieben Jahre bis 2016 beschlossen5. Offizielles Ziel dieses als „erstes Abrissprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“ bekannt gewordenen Förderpakets ist es, durch eine Koppelung von Aufwertungsbeihilfen und Abrisssubvention die lokalen Wohnungsmärkte zu stabilisieren, Planungsprozesse anzustoßen und langfristig die Attraktivität der Städte zu erhöhen. Bis zum Jahre 2009 sollte mit Hilfe des Programms etwa ein Drittel der leerstehenden Wohnung vom Markt genommen, sollten also etwa 350.000 Wohnungen abgerissen werden.6 5 6
Quelle: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2009/24541198_ kw22_verkehr/index.html, Zugriff: 7.6.2010. Der realisierte Abriss von Wohnungen in den neuen Bundesländern im Rahmen von Stadtumbau Ost betrug im Juni 2009 259.074 Wohnungen. Bis zum Frühjahr des Jahres 2007 wurden in den neuen Bundesländern insgesamt 193.302 Wohnungen abgerissen, davon 170.236 mit Mitteln des 143
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Neben der Motivation, kommunale Wirtschaftszusammenhänge vor dem Zusammenbruch zu schützen, verbindet sich mit dem Programm Stadtumbau Ost die Hoffnung auf Korrektur städtebaulicher Missstände. Vor allem zu Beginn der Laufzeit des Programms wurde Schrumpfung und Stadtumbau von Planern als Chance zu einer grundlegenden städtebaulichen Neuordnung aufgefasst, ähnlich jener ausgelöst durch Kriegszerstörungen in den Fünfziger und Sechziger Jahren. „Die Möglichkeit von Abrissen und Teilabrissen schien endlich die tiefgreifenden strukturellen Eingriffe zu ermöglichen, die bis in die späten Neunziger Jahre immer nur angemahnt worden sind“ (Richter 2006, 97). Die „Krise als Chance“ wurde zu einer überaus beliebten Formel im Stadtumbau. In Anlehnung an die Medizin interpretiert sie den gegenwärtigen Zustand der Städte als krankhafte Fehlentwicklung und hofft auf Heilung durch Überwindung der Krise. Diese soll durch das so genannte „Gesundschrumpfen“7 erzielt werden. Die Stadt wird als Körper gedacht und die sich entleerenden Teile als krankhafte Tumoren, die sich „rückbilden“ müssen, um diesen wieder in den Zustand des Gleichgewichts und der Gesundheit zu befördern. Das Versprechen der Gesundung der Stadt beinhaltet den Ausblick auf eine verringerte Dichte und bessere Durchgrünung, Entsiegelung, verbesserte Luft, weniger Verkehr- und Lärmbelastung, mehr Platz für Freizeit- und Spielangebote, und insgesamt mehr Lebensqualität. Gemeint sind zusätzlich meist der Abbau von aufgeblasenen kommunalen Verwaltungsapparaten und die Senkung der Ausgaben für andere kommunale Aufgaben. Grundrisserweiterungen, Wohnungszusammenlegungen und Terrassierungen, Abtragung, Reduktion, aber auch schlicht die Vernichtung von Gebautem sollen Fehler und Auswüchse der Vergangenheit korrigieren und Defizite kompensieren. In dieser Logik wurde das „Schrumpfen“ zum „Schlankwerden“8 und
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Programms Stadtumbau Ost, der Rest mit Ländermitteln (Stand: 28.2.2007; Quelle: BMVBS/bbr 2007). Zu diesem Slogan einige beispielhafte Zitate: „Eine Stadt schrumpft sich gesund. Schwedt hat viele leerstehende Plattenwohnungen abgerissen – und ist damit heute Vorbild im Osten“ (Martin Klesmann, Berliner Zeitung Nr. 142 vom 21.6.2007), oder, zu lesen in dem Ankündigungstext zu der Ausstellung „Erfurts Lücken locken!“ „Schrumpfung als Heilung! Schrumpfung als Qualitätssprung! Schrumpfung als Chance!“ (Veranstaltet 2005 von der Stiftung Baukultur, unter: http://www.erfurts-lueckenlocken.de., Zugriff am 23.10.2006.) Unter Bezugnahme auf das herrschende Körperbewusstsein, nach dem schlanke Körper als gesund, kräftig, attraktiv und leistungsfähig angesehen werden, verweisen Projekttitel und Programmslogans im Stadtumbau wie „shrink-to-fit“, (z.B. Projekt Neustadt-Kolorado in Halle, Büro Raumlabor Berlin, 2005; u.a.), „shrink positive“ (vgl. M. Doehler-Bezahdi, „Schrumpfende Städte und Regionen im Osten Deutschlands – ein Testfall
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Abrisse zu einem Teil eines notwendigen „Fitnesstraining“, einer Wende vom eher passiven Schrumpfen hin zu proaktiver Tätigkeit, zur Steuerung und Gestaltung der Gewichtsabnahme.9 So kommt es auch, dass innerhalb verschiedener möglicher städtebaulicher „Abrisstypologien“10, die im Rahmen des Programms Stadtumbau Ost realisiert wurden, dem Schrumpfen von außen nach innen eine zentrale Rolle im Hinblick auf eine „kulturelle Heilserwartung“ (Richter 2006; 99) zukommt: Dieses birgt die beliebte Vorstellung der Rückentwicklung von der industriell errichteten Stadt auf die alte, vormoderne kompakte „europäische“ Stadt. Durch den Abriss von außen nach innen soll eine größere Wohnungsnachfrage in den innerstädtischen Beständen bewirkt werden, was zwangsläufig zu einer Art selbsttragender Konsolidierung der bedrohten historischen Zentren führen werde. Leider hat sich diese Idee durch die Erfahrungen nach mittlerweile Jahren Abrisstätigkeit nicht bestätigt: Obwohl die Rückbaumaßnahmen schwerpunktmäßig auf die am Stadtrand gelegenen DDRWohnungssiedlungen konzentriert und dort beachtliche Bestandsreduzierungen realisiert wurden, konnten die historischen Altbauquartiere in den Zentren in der Regel bisher davon nicht profitieren. Im Gegenteil, für den Westen“; Tagungsbeitrag „Demographischer Wandel im Raum. Was tun wir?“ am 22.6.2004) „Von der schrumpfenden Stadt zur Lean City“ (Buchtitel von Thilo Lange und Eric Tenz, 2003), „Von Schrumpfhausen nach Bad Schlankstadt“ (Studie des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, unter: http://www.bbr-bund.de , Zugriff am 7.3.2007) oder „Von der schrumpfenden zur schlanken Stadt“ (Buchtitel in der Reihe der IBA-Stadtumbau; Hrsg.: IBA-Büro, Edition Bauhaus, Bd. 15, 2005) auf die Möglichkeit der Therapie durch Reduktion des Übergewichts. 9 Die Idee einer Abmagerungskur ist womöglich die einzige Formel, in dem der Begriff „weniger“ eine positive Konnotation hat. Der Begriff „lean“ bzw. „schlank“ vermittelt eine sprachliche Nähe zu gängigen Strategien des Unternehmensmanagements (lean management, lean production), und insinuiert die Vorstellung, dass eine Stadt analog zu einem Unternehmen durch Rationalisierungsmaßnahmen effizienter, wettbewerbsfähiger und wirtschaftlich erfolgreich gemacht werden kann. 10 Die fünf Abrisstypologien nach Werner Rietdorf: • Das Zwiebelschalenprinzip. Ein Rückbau von den danach zu renaturierenden Rändern her, um das Zentrum zu urbanisieren, • das gegenteilige Prinzip des Entkernens von innen her, das Auflösung hoher Dichten, was auf Kosten der Urbanität eher den Siedlungscharakter betont, • eine disperse Entdichtung, die den Städtebau auflockert, aber nicht grundsätzlich verändert, • eine Veränderung des Städtebaus durch punktuelle Herausnahme von Gebäuden, • das Abtragen einzelner Geschosse (Richter 2006 98 ff.; nach: BMBau 1999, 146ff). 145
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die höchsten Leerstände (im Mittel 19 Prozent) treten, trotz umfangreicher Investitionen in die Modernisierung gegenwärtig im Altbaubestand der Mittelstädte auf.11 Dort kommt es in der Folge zu erheblichen Ausdifferenzierungsprozessen: Attraktivere Lagen bewegen sich allmählich in die Richtung einer Aufwertungsspirale, während solche mit problematischer Baustruktur oder Bausubstanz, Standortnachteilen oder ungeklärten Eigentumsverhältnissen auf der Kippe stehen. Für dieses letzte Drittel oder Viertel teilweise unsanierter Bausubstanz stellt sich zunehmend die Frage nach einer Zukunftsperspektive: Von den Kommunen oft bauordnungsrechtlich als nicht mehr bewohnbar eingeschätzte, seit vielen Jahren leerstehende und vom Verfall bedrohte Gebäude belasten die kommunalen Finanzen, angesichts fehlender Nachfrage und überdurchschnittlich hoher Investitionserfordernisse halten sich mögliche Investoren fern. Der Abriss von Gebautem als Umkehr, Buße und Wiedergutmachung, sozusagen als latent euphemistische Variation des christlichen Erlösungsgedankens, beinhaltet jedoch noch weitere Fußangeln: Die Entscheidung, bestimmte Gebäude zu beseitigen, trägt fast immer eine problematische gesellschaftspolitische Symbolik in sich. Die Frage, welche Bauformen erhaltenswert und welche zu beseitigen sind, ob Neubauten zugunsten von Altbauten fallen sollen oder umgekehrt, macht „Gebäude zwangsläufig zu Austragungsorten übergeordneter ideologischer Konflikte“ (Richter 2006; 101). Bestrebungen zu einer städtebaulichen Korrektur sind immer auch als Bestrebungen zu einer geschichtlichen Korrektur lesbar und Abrisse als eine Möglichkeit, den gebauten Ausdruck des Gestern oder bestimmter Weltanschauungen als obsolet zu diskreditieren und zu vernichten. Die Auslöschung der anderen, fremden Identität mag als Voraussetzung zur Definition einer neuen, eigenen Identität dienen, ein bekanntes und viel besprochenes Beispiel hierfür ist Berlin, das in den vergangenen rund 200 Jahren mehrfach die eigene Auslöschung als Vorbedingung der eigenen Neuerfindung vorgeführt hat. Die Frage nach dem Erhaltenswert von Bausubstanz wird im Regelfall in Abhängigkeit von seinem zeitpunktbezogenen Marktwert beantwortet. In der nüchternen Sichtweise des Marktes bringt ein Gebäude ohne Nutzer, ungeachtet seines historischen, baukünstlerischen, oder schlicht handwerklich-materiellen Wertes, keine Einkünfte und ist, sofern es sich nicht für eine spekulative Aufwertung eignet, ohne Wert 11 Die Leerstandszahlen im Altbaubestand sind insgesamt stark unterschiedlich und zudem Schwankungen unterworfen: In Görlitz beträgt der Leerstand im historischen Zentrum 48%; in Leipzig zeitweilig 35% (bmvbs/ bbr 2007; 28). 146
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bzw. eine finanzielle Belastung. Angesichts der gesellschaftlichen Dominanz dieser Sichtweise im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, der notorisch klammen Kassen der Stadtumbaukommunen und der zunehmend eingeschränkten Fördermittel für die Denkmalpflege ist es nicht verwunderlich, dass vielerorts Abrisse auch denkmalgeschützter Altbausubstanz als zwar bedauerlich, jedoch letztlich unumgänglich eingeschätzt werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist mindestens jede zehnte abgerissene Wohnung eine Altbauwohnung, in jeder zweiten am Programm Stadtumbau Ost teilnehmenden Stadt werden Wohnungen aus dem Altbaubestand vernichtet. Der Evalution der Programmauslober aus dem Jahre 2006 zufolge sind in den Kommunen in den vergangenen vier Jahren über 14.000 Altbauwohnungen abgerissen worden, davon mehr als 1.000 denkmalgeschützte Objekte, wobei die Autoren des Berichts hier sogar ein zu vorsichtiges Ansetzen der Zahlen12 vermuten (BMVBS/BBR 2007, 33). Besonders Städte mit einem reichhaltigen historischen Erbe haben hohe Verluste zu beklagen, allein in Leipzig wurden seit der Wende 446 Baudenkmale13 abgebrochen, die Stadt nimmt damit die traurige Spitzenposition in Deutschland ein. In der sächsischen Landeshauptstadt Dresden werden vor allem die baulichen Zeugnisse der Ostmoderne der 50er, 60er und 70er Jahre aus dem Stadtbild systematisch ausradiert, sie stehen, so ist zu vermuten, der Selbstdarstellung der Stadt als historisierendes Elb-Florenz im Weg. Bekannte und geliebte architektonische Ikonen wie Ulrich Müthers „Ahornblatt“ auf der Fischerinsel in Berlin (Abriss 2000), oder das Fernmeldekabelwerk in Berlin-Oberschöneweide von Erich Ziesel (Abriss 2006) werden trotz prominent besetzter Proteste und häufig ohne Folgebebauung dem Erdboden gleichgemacht. Ein Großteil dieser Abrisse dient allein der Vermeidung der Kosten für den Erhalt des Gebäudes. In den vergangenen Jahren ist es vergleichsweise einfach geworden, behördliche Abrissgenehmigungen zu erlangen. Die Rechtslage sieht vor, dass Eigentümer nur nachweisen 12 Eine neue, drastische Zerstörungsbereitschaft in ost- wie westdeutschen Städten, die auch nicht vor denkmalgeschützten Gebäuden halt macht, schildert der Zeit-Autor Hanno Rauterberg: Ihm zufolge sind in der BRD allein in den vergangenen Jahren über 100.000 Baudenkmale zerstört worden. Nicht nur in den von Schrumpfung und Strukturwandel betroffenen Bundesländern wird mit großer Wirkung die Abrissbirne eingesetzt, sondern auch in den wohlhabenden Ländern des Westens. Allein in Bayern sind nach Rauterberg in den vergangenen 30 Jahren über 30.000 denkmalgeschützte Gebäude abgerissen worden. Insgesamt sind in Deutschland seit 1945 mehr Baudenkmale gefallen als im Bombenkrieg. (Die Zeit Nr.3; vom 11.1.2007; 31/32). 13 Quelle: Stadtforum Leipzig, 2006 147
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müssen, dass sich die Kosten für eine Sanierung auf längere Sicht nicht amortisieren, schon gilt der Erhalt eines Denkmales als unzumutbar.14 Die Denkmalämter sind über die Jahre sukzessive entmachtet und finanziell ausgetrocknet worden, oft unterstehen sie direkt den Stadtverwaltungen und sind keine eigene vetoberechtigte Instanz mehr. In manchen Städten wie z.B. Leipzig scheinen die Eigentümer von Baudenkmalen geradezu von den kommunalen Verwaltungen zu Abrissen gedrängt worden zu sein, die ausschließlich quantitative Größen wie Bevölkerungsstatistik und aktuelle Leerstandsquoten im Blick haben.15 So ist spätestens seit dem Zeitpunkt, da sich die Abrisse nicht mehr vornehmlich gegen die von weiten Teilen der Bevölkerung ungeliebte „Platte“ und die wenig zukunftsträchtigen Großwohnsiedlungen richten, sondern ebenso gegen die sich allgemeiner Wertschätzung erfreuenden Wohngebäude aus der Gründerzeit, dem Barock und der Renaissance, die akzeptierte Logik der Abrisstätigkeit als Korrektiv ad absurdum geführt. Die gegenwärtig einsetzende Ernüchterung ist umso größer, als die bisher erfolgte Reduktion des Wohnungsbestandes (zwischen 2002 und 2005 wurde der Wohnungsbestand im Bereich Stadtumbau Ost um 3 Prozent reduziert) zwar eine Verringerung des Leerstandes um 1,4 Prozent bewirkt hatte, dennoch in vielen Kommunen erwartet wird, dass nur durch weitere Abrisse die Leerstandsraten auf gleichbleibenden Niveau gehalten, unter den derzeitigen Bedingungen nicht aber nachhaltig reduziert werden können (BMVBS/BBR 2007). Und während die Abrisse in manchen Stadtumbaukommunen nicht zur Konsolidierung ausreichen, wird gleichzeitig aus anderen Gebieten gemeldet, dass es
14 Hierzu wird das Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 30.03.2006; 1 A 10178/05 als entscheidend betrachtet: „Decken die Mieteinnahmen eines unter Denkmalschutz stehenden Wohn- und Geschäftshauses nicht die Kosten für die laufenden Sanierungsmaßnahmen und wird nachhaltig nur ein Verlust verursacht, kann dem Eigentümer gegenüber der zuständigen Behörde ein Anspruch auf Erteilung einer Abrissgenehmigung zustehen.“ Quelle: http://finanztip.de/recht/immobilien/denkmalschutz-abrissgenehmi gung.htm, ohne Gewähr für die inhaltliche Richtigkeit. Zugriff am 4.10.2007. 15 Quelle: Stadtforum Leipzig, 2006. Das Stadtforum Leipzig kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem die städtische Wohnungsbaugesellschaft in Leipzig LWB sowie die staatliche Vermögensverwaltung TLG (Immobiliengesellschaft des Bundes), die, durch staatliche Abbruchgelder gefördert, ohne Rücksicht auf den baukulturellen Wert vor allem ihre Altbaubestände reduzieren will. Die Abbruchentscheidungen der LWB resultiere allein aus einem betriebswirtschaftlichen Vergleich der mit einem Abbruch zu erzielenden kurzfristigen Zahlungsströme aus Fördermitteln mit dem vergleichsweise mühsamen Geschäft der Instandsetzung und Neuvermietung. 148
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dort bereits wieder eine Mangel an kleinen, billigen Wohnungen für Hartz-IV-Empfänger gibt. Ein absurdes Dilemma findet sich in der Stadt Frankfurt/Oder,16 wo sechstausend Wohnungen leerstehen und auf Abriss warten, während in benachbarten Slubice Wohnungsnot herrscht.
Der Mythos des kulturellen Erbes Hauptargument gegen die Beseitigung von Gebautem ist neben dem gesellschaftlichen Tabu des Zerstörens, das bereits Kleinkindern eingeschärft wird, die moralische Verpflichtung zum Erhalt von historischem Erbe. Was aber, wenn die Nachkommen dieses Erbe weder wertschätzen noch antreten wollen? Wenn sie die Hinterlassenschaften ihrer Erzeuger weder in der erwarteten Weise pflegen können noch möchten? Eine solche Frage ist in zweifacher Hinsicht provokant, im Hinblick auf familiäre wie gesellschaftliche Machtkonstellationen, außerdem im Hinblick auf die (zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch) nicht in Frage zu stellende Wertschätzung des historischen Erbes durch seine materielle Bewahrung. Destruktion als Gegenstück zu Produktion ist im alltäglichen Sprachgebrauch unzweideutig mit negativem Sinngehalt belegt. Anders als in der Ökonomie, in der nach Schumpeter17 die „Schöpferische Zerstörung“ als entscheidender Motor der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung angesehen wird, ist die Zerstörung von Kulturgut keineswegs notwendige Voraussetzung zu Innovation und Neuordnung, sondern Frevel. In der Kunst selbst wiederum wird auf Zerstörung als kreativer Akt in vielfältiger Weise zurückgegriffen. Einen großen Einfluss auf die Kunstwelt übte der italienische Dichter Filippo Tommaso Marinetti mit der Veröffentlichung des „Futuristischen Manifestes“ im Jahre 1909 aus, in dem er zum Brechen mit jeglicher Tradition und der Zerstörung überkommener Kulturträger aufforderte. Als Revolte gegen etablierte Überzeugungen und bürgerliche Ideale auch in der Kunst selbst entstand wenige Jahre später in Zürich die Dada-Bewegung. Mit einer neuen, zufallsgesteuerten Produktionsweise in Wort und Bild, einer Art AntiKunst, wandten sich die Dadaisten gegen die herrschende gesellschaftli-
16 Quelle: http://www.fforst.de; Zugriff am 7.12.2006. 17 Der ökonomische Begriff der schöpferischen Zerstörung wurde von Joseph Alois Schumpeter (1883-1950) popularisiert, als weitere Quellen werden Werner Sombart, bzw. Friedrich Nietzsche aufgeführt. Nach Schumpeter besteht eine wesentliche Qualität des Kapitalismus darin, fortwährend alte Strukturen zu zerstören und neue zu erschaffen. Quellen: http://www.artikel-online.de, Zugriff am 6.7.2008; http://www.inwent.org. Zugriff am 6.7.2008. 149
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che Moral. Geradzu mythologische Qualitäten erhielt die Zerstörung in den 60er Jahren, in denen die symbolische oder metaphorische Zerstörung der Werte der Elterngeneration nicht nur Sujet mannigfaltiger künstlerischer Ausdrucksweisen wurde, sondern auch breiten Eingang in die Jugendkultur fand. Seit Jahrtausendbeginn erfährt das Thema Destruktion in der zeitgenössischen Kunst augenscheinlich eine Renaissance,18 die als eine verarbeitende Reaktion auf die weltweite Zunahme von Terrorismus und Krieg gedeutet werden kann. Dass nicht zuletzt die Wissenschaft einen engen und hochambivalenten Zusammenhang zwischen Kreativität und Destruktivität etabliert hat, indem sie seit Jahrhunderten kreative Energie in die Erfindung von immer umfassenderen, effektiveren und effizienteren Vernichtungsstrategien investiert hat, zeigt, wie untrennbar für uns Schöpfung und Zerstörung beieinander liegen. Diese Beobachtungen haben mich veranlasst, auch ohne psychologische Fachkenntnisse und auf die Gefahr hin, sich laienhaft auf das dünne Eis der Freud’schen Theoriebildung zu begeben,19 die zerstörerische Neigung des Menschen als wirkmächtigen Impuls ernst zu nehmen und in diesem Zusammenhang Annäherungen an das Thema aus der Alltagsperspektive zu unternehmen: 1. Aufräumen ist häufig lästige Pflicht, aber auch Befreiung: die Wohnung auszumisten und den Müll wegzuwerfen, den Schreibtisch von allem Überflüssigen zu reinigen, aufzuräumen, eine neue Ordnung herzustellen. Der Kopf muss wieder frei werden, der Blick klar! Fort mit den alten, übelriechenden, erinnerungsdurchsetzten und für die Zukunft unbrauchbaren Dingen! Die Entscheidung über Erhaltenswertes und Auszusortierendes unserer persönlichen Geschichte wird zu einem reinigenden Akt, einer Art Teufelaustreibung, die das Wiederherstellen unserer inneren Ordnung zum Ziel hat. Mit dem Wurf in die Abfalltonne oder der Fahrt zum Wertstoffhof geht in den meisten Fällen eine erhebliche psychische Entlastung einher. 2. Zerstörung als produktives Momentum hat als sprachliche Metapher Eingang in viele Redewendungen gefunden: Etwa wenn die Rede ist von 18 So lief beispielsweise im Herbst 2007 in der Berliner NGBK die Ausstellung „Achtung Sprengarbeiten,“ die sich mit den gesellschaftlichen Implikationen von Sprengungen auseinandersetzt. Zeitgleich dazu wurde in Athen eine Kunstbiennale ausgerichtet unter dem Titel „Destroy Athens,“ die sich das Motto der Zerstörung zur symbolischen Loslösung von Zwängen und Mythen der heroischen Vergangenheit gewählt hatte. 19 In der Psychoanalyse nach Sigmund Freud wird der Destruktionstrieb (auch: Todestrieb) als zweiter grundlegender menschlicher Trieb neben dem Sexualtrieb aufgefasst. 150
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„den Rahmen sprengen“ oder „verkrustete Strukturen aufbrechen“, einer Nachricht, die „wie eine Bombe einschlägt“, oder Gedanken, die ein „explosives Potenzial“ haben oder gar ein „Geistesblitz“ sind (vgl. Regebrecht 2007; 105-114). Die Denkfigur der Sprengung wird zur Verdeutlichung einer plötzlich eintretenden, mit hoher Geschwindigkeit ablaufen und irreversiblen Umwälzung der bestehenden Verhältnisse herangezogen. Der Charme des Explosionsbildes liegt in der Radikalität der Veränderung des Gewohnten und Übermächtigen, die keine Zeit für Gegenwehr, Einwände und Bedenken lässt. „Es geht um das anarchische Moment, die Verhältnisse für einen Moment zum Tanzen zu bringen“20. 3. Die bildliche oder filmische Wiedergabe von Gebäudeabrissen entfaltet in der Regel einen verblüffenden ästhetischen Reiz, Gebäudeabrisse haben es in die Galerien und in die Wohnzimmer der bürgerlichen Mitte Deutschlands geschafft. Nicht nur spektakuläre Sprengungen locken Schaulustige und Medien an den Ort des Geschehens, auch manche vergleichsweise banale und langsam verlaufende Gebäudedemontage wird öffentlichkeitswirksam inszeniert. Tausendfach auf Fotos und Videos gebannt, ermöglichen die Aufnahmen in sich zusammenstürzender oder schichtweise abgetragener Strukturen eine unerwartete Sichtweise auf das Gebäude: Nahaufnahmen sich in die Gebäudesubstanz fressender Baggerkrallen, das offen gelegte Innere eines Gebäudes wie eine klaffende Wunde etc. Auf größere Distanz geht die Videoaufnahme, deren ästhetische Besonderheit darin liegt, das an sich schon spektakuläre Mobilwerden der Immobilie in Wiederholung und Zeitlupe zeigen zu können. Der Anblick eines langsam, scheinbar lautlos und schwebend in sich zusammenstürzenden Gebäudes, fast wie einer unbekannten Choreographie folgend, erinnert nicht von ungefähr an die berühmte Sequenz in Michelangelos Antonionis Film Zabriskie Point (1970), in dem eine Villa in Zeitlupe auseinanderbricht und ihre Teile, unendlich verlangsamt und wie im Tanze, wieder und wieder durch die Luft wirbeln. Mit zunehmender physischer und psychischer Distanz wird die Sprengung zu einem faszinierenden Spektakel: die sekundenschnelle Auflösung der Statik ist ein technisches Meisterstück, die Unwiederbringlichkeit, der kartenhausartige Zerfall einer Struktur in Augenblicken, für deren Errichtung oft mehrere Jahre benötigt wurden und die für die Ewigkeit gemacht zu sein schien, ist sinnenverwirrend. Die Bändigung des Brutalen, Unkalkulierbaren, Drastischen einer Sprengung durch Distan20 Aus dem Flyertext zur Ausstellung „Achtung Sprengarbeiten! Über das Phänomen Sprengung und seine gesellschaftlichen Implikationen von Macht und Ohnmacht“ in der Galerie der Neuen Gesellschaft für Bildenden Kunst e.V. Berlin 20. Oktober-2. Dezember 2007. 151
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zierung, Verfremdung und Verlangsamung, außerdem die Kanonisierung eines Zerstörungsereignisses durch den Kunstbetrieb verändert die Wahrnehmung auf eine brisante Weise und rückt Gebäudesprengungen ästhetisch in die Nähe von Spektakeln wie Feuerwerken oder Lichtinstallationen. 4. Die Zerstörung von Gebäuden wird nicht erst seit Stadtumbau Ost mit der Vorstellung verbunden, mit dem Abriss bestimmte Probleme wenn schon nicht zu lösen so doch wenigstens loszuwerden. Das Aus-derWelt-Schaffen von Gebautem wird in vielerlei Hinsicht gerne als einfaches Mittel zum Zwecke instrumentalisiert, sei es nun das Aufräumen von sozialen Missständen in „Problemquartieren“ (anstelle diese bei der Wurzel anzupacken), das Beseitigen von stigmatisierten, historisch unliebsam gewordenen Gebäuden (anstatt über neue Zugangsweisen zu diesen nachzudenken), das Entfernen sperriger Denkmale (anstelle der teuren Sanierung), oder aber das Abräumen durchaus wertgeschätzter architektonischer Landmarken, um diese in ihrer Eigenschaft als Investitionshemmnis zu überwinden. Und löst der Akt des Eliminierens das Problem nicht selber, so wird ihm doch zumindest hohe Symbolkraft für das Erreichen einer besseren Zeit zugeschrieben. Die simplifizierende Strategie des „Aus den Augen aus dem Sinn“ wird umso verführerischer, je übermächtiger und unüberwindlicher die Probleme erscheinen.
Demontage und ihr utopischer Gehalt Die Vollstreckung des Urteils der Wertlosigkeit durch Abriss ist angesichts Ressourcenknappheit, dem nach wie vor hohen Flächenverbrauch und dem angestrebten Ideal der Kreislaufwirtschaft nicht ohne ein belastetes Gewissen möglich. Gebäude sind nicht zuletzt eine stoffliche Ressource von hohem Wert, unser Müllaufkommen besteht nach wie vor zu circa 80 Prozent aus Bauschutt (Umweltbundesamt) und ein Abbruch vor der Zeit stellt eine hohe energetische und stoffliche Vergeudung dar. Ein Gebäude abzureißen bedeutet, ein mit hohem Aufwand und unter Einsatz von wertvollen Rohstoffen, Bauland, kreativer Intelligenz und handwerklicher Fähigkeiten konstruiertes Gebilde in kurzer Zeit zu zertrümmern und auf die Abraumhalde zu befördern, ein simpler, krudebrutaler Vorgang, für den lange Zeit weder besondere Fähigkeiten oder Werkzeuge, noch Kenntnisse über spezifische Wieder- und Weiterverwendungsmöglichkeiten nötig waren. Einfacher Abbruch ist heute der problematische Ausdruck einer bedenkenlosen Wegwerfkultur, die qua bundesrepublikanischem Anspruch der Vergangenheit angehören sollte. Die Berge des Unzerlegbaren, nicht Wiederaufzuarbeitenden, die unsere 152
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Wohlstandgesellschaft in der Vergangenheit als Rückstand von Industrialisierung und Konsum aufgehäuft hat, und die damit einhergehenden ökologischen Belastungen haben eine tiefgreifende Verunsicherung hinterlassen. Nicht mehr die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit des Weiter-Verarbeitens steht im Mittelpunkt der Diskussion (vgl. Hamann/Strohmeyer 1996 b; 17). Daher hat man seit den 1990er Jahren verstärkt begonnen, die Idee des Gebäuderecyclings, die sich bis dahin hauptsächlich auf Nachnutzungskonzepte bezog, auch auf den materiellen Aspekt von Gebäuden zu übertragen und die so genannte intelligente Demontage anstelle des brachialen Abrisses zu favorisieren. Demontage wird als Methode verstanden, Altes zu zerlegen, um es neu zu gestalten. Der Begriff kommt auch im Übertragenen zum Einsatz, Demontage bedeutet, dysfunktional Gewordenes von Grund auf neu zu strukturieren unter Verwendung seiner ursprünglichen Bestandteile und Materialien. Das Prinzip der Demontage ist es, „Das Ende als Anfang neu denken und nutzen, womöglich sogar als Anfang von etwas Neuem, nicht nur als Rekonstruktion von etwas Zerlegtem. Darin bedarf es des Neuansatzes, Demontageprozessen, auch der Demontage gesellschaftlicher Strukturen, die Konnotation von Zerfall und Zerstörung zu entziehen und mit einer Vision zu verbinden, welche neuen Möglichkeiten in der intelligenten Demontage stecken.“ (Hamann/Strohmeyer 1996 b; 14).
Demontage beinhaltet die Utopie, dass jeder in Gebrauch befindliche oder bereits verbrauchte Stoff oder Bauteil Ausgangspunkt für einen neuen Gegenstand mit Gebrauchswert sein könnte, dass alles umbaubar sein und alles, was wir produzieren, in Kreisläufen wiederkehren könnte. In einer fiktiven Demontagekultur ist die Konzeption des Abfalls gegenstandslos geworden, nichts geht mehr verloren, weil ausschließlich in geschlossenen „cradle-to-cradle“-Kreisläufen21 gewirtschaftet wird. Der praktizierte Stand der Wissenschaft zur Beseitigung unliebsamer Immobilien in Deutschland ist der so genannte „geordnete Rückbau“, der aus Kostengründen allerdings keineswegs flächendeckend umgesetzt wird. Er berücksichtigt die materialschonende und nach Möglichkeit zerstörungsfreie Lösung der baulichen Verbindungen, die Trennung und
21 Der Begriff „cradle-to-cradle“ beschreibt das Prinzip eines geschlossenen Kreislaufes, innerhalb dessen Stoffe und Energie ohne Verschleiß verschiedene Zustände annehmen und immer wertvolles Ausgangsmaterial für ein jeweils neues Produkt bleiben. Im Jahre 2002 wurde dieses Konzept von Autoren William McDonough und Michael Braungart in ihrem Buch „Cradle to cradle. Remaking the way we make things“ (North Point Press, New York, 2002) erläutert. 153
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Sortierung der Stoffe und Materialien und ihre Rückführung in entsprechende Aufarbeitungsverfahren. Gemessen an der Strahlkraft der Vision sind die Erfahrungen mit der De- und Remontage der vergangenen circa 15 Jahre bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher ernüchternd: Zwar haben eine Reihe von Beispielen remontierter Gebäude vor allem in Plattenbauweise bewiesen, dass der Abbau und das Wiedererrichten von Gebäuden technisch und baupraktisch umsetzbar ist, bislang jedoch nur um den Preis eines ökonomisch als unrentabel betrachteten Aufwandes für Planung, Materialprüfung und Logistik. Selbst der ökologische Gewinn ist in der Fachwelt umstritten.22 Angesichts der bescheidenen Ergebnisse der Experimente mit der De- und Remontage von Gebäuden wird deutlich, dass unser Wissen über geeignete Formen des Auseinandernehmens, Zerlegens, Abbauens, Trennens, Verbindungen-Lösens, und Neu-Fügens unserer Gebrauchsgüter immer noch äußerst rudimentär ist.
Rückbaukultur So gut wie jeder Gebäudeabriss findet Befürworter und Gegner in der Bevölkerung. Über Sinn und Zweckmäßigkeit von Abrissen lässt sich ebenso trefflich streiten wie über Sinn und Zweckmäßigkeit von Neubauten. Inhaltlich lässt sich dem Konfliktgegenstand Abriss nur beikommen, indem man, weit mehr noch als bei Neubauprojekten, präzise nach Hintergründen und Ursachen fragt, nach Tätern, möglichen Opfern und nach den zugrundeliegenden Machtverhältnissen. Es verdient genaue Beachtung, wer mit welchem Selbstverständnis und welcher Motivation über Wert und Unwert eines Gebäudes befindet, woran sich der zugestandene Wert misst, wer von einer etwaigen Entwertung am Ende profitiert und wer den Schaden eines Abrisses trägt. Diese Betrachtung führt zwangsläufig zu grundsätzlichen Fragen, wie z.B. wem wichtige Baugrundstücke in der Stadt gehören oder von welchen Kräften die örtliche Politik dominiert wird. Wer erfährt mediale Aufmerksamkeit und ist in der Lage, Meinungen zu bilden? Welchen Einflussgrößen ist die Leitbildproduktion einer Stadt ausgesetzt? Die Beseitigung von Bausubstanz ist ebenso Ausdruck unserer Baukultur wie das Errichten neuer Gebäude, und eine angestrebte Rückbau-
22 Eine Bilanzierung der tatsächlichen Ressourceneinsparung von De- und Remontageprojekten im Vergleich zu konventionellem Abriss und Neubau ist nur über die Berechnung von konventionellen Vergleichsmodellen sinnvoll. Diese ist aufgrund des hohen Aufwandes auf breiter Basis kaum durchführbar. 154
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kultur (Kil 2002) umfasst weit mehr als nur ein Berücksichtigen sozialer Belange vor der Zerstörung: „Ruinen [ebenso wie leerstehende, verfallende Bauten und Brachen, Anm.d.Verf.] faszinieren uns heute aus anderen Gründen als früher: sie gemahnen uns nicht mehr an den Lauf der Welt, an die Natur, die alles ihr abgerungene Menschenwerk wieder zu sich zurückholt, sondern sie sind sichtbare direkte Spuren kriegerischer und ökonomischer Konflikte und die Markierungen der heutigen Schauplätze eines dauerhaften low intensity wars.“ (Seyfart 2007; 14).
Die Stadt ist Austragungsort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Einfluss und Teilhabe und der physische Angriff auf ihren gegenwärtigen Zustand ist ein probates Mittel, sie zum eigenen Vorteil zu verändern. Die im Besitz der Macht sind, streben in der Regel Machterhalt und -festigung an, die ohne Macht sind, versuchen die bestehenden Verhältnisse zu verändern. Die Vertreter der herrschenden politischen Ideologie diskreditieren die baulichen Zeugnisse des Anderen, Abweichenden, opinion leader und Trendsetter lassen durch die Realisierung ihrer ästhetischen Präferenzen anderes als hässlich, unansehnlich und schmutzig aussehen. Die Verlagerung des sozioökonomischen Konflikts auf Gebäude ist andererseits auch das Mittel der Ohnmächtigen, sich Gehör und Gewicht zu verschaffen. Lassen sich harmloses Graffiti, Hausbesetzungen und selbst Vandalismus noch als Aneignungsform von öffentlichem oder fremdbesessenem Raum interpretieren, so ist spätestens der terroristische Sprengstoffanschlag als direkter Angriff auf die bestehenden Verhältnisse zu werten. In der gewaltsamen und plötzlichen Zerstörung meist neuralgischer Punkte des gesellschaftlichen Gefüges liegt das anarchische Moment der Ermächtigung der Machtlosen, selbst wenn diese eine symbolische Handlung bleibt. In einer Gesellschaft mit großen Ungleichheiten werden Gebäudeabrisse zu einem Gegenstand von höchster gesellschaftspolitischer Brisanz: Fortwerfen mag ein Akt der Befreiung sein, Loslösung von den Dingen notwendige Voraussetzung zur Erneuerung, jedoch geht es bei der Gestaltung unseres Lebensraumes nicht um individuelles Eigentum, sondern um den physischen und psychischen Raum einer Stadtgesellschaft, um ideelles Gemeinschaftseigentum in seinem besten Sinne. Die Frage, wem die Stadt gehört, ist keineswegs nur mit dem Verweis auf formale Eigentumsrechte zu beantworten, sondern schließt gemäß demokratischem Gesellschaftsentwurf alle Bürger mit ein. Entsprechend muss die Diskussion über Erhalt oder Abriss von Teilen der Stadt 155
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immer auch berücksichtigen, inwieweit und durch welche Instanzen die Schwachen geschützt werden können.
Rückholen und Wiedereingliedern Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit solchen Verfahren, die zum Ziel haben, urbane Leerräume aus dem Status des Aufgegebenen zurückzuholen und ihnen Funktion, Sinn und Stellenwert im herrschenden Bezugssystem der Stadt zurückzugeben. Auf unterschiedliche Weise geht es darum, das Unbrauchbar Gewordene entweder in alter Form wieder in Betrieb zu nehmen, oder aber es einem Umgestaltungs- und Umwertungsprozess zu unterziehen und so die prekäre Grenze zwischen wert und unwert zu überwinden (vgl. Hauser 2001). Die Strategien, von denen hier die Rede sein wird, sind im gängigen Sprachgebrauch des Stadtumbaus bekannt unter Bezeichnungen, die mit der lateinischen Vorsilbe „re“ beginnen: Rekonstruktion, Restauration, Renovierung, Recycling, Rekontextualisierung, Revitalisierung, Redevelopment, Revision, Redefinition, Reinterpretation, Reinventing, Rethinking etc. In der Reihung dieser Begriffe kommt die Doppelsinnigkeit der Vorsilbe „re“ zum Tragen, die einmal mit „wieder, zurück“ übersetzbar ist und auf die Rückabwicklung des jetzigen in den vormaligen Zustand deutet (so in Rekonstruktion, Restauration, Renovierung), oder aber im Sinne von „wieder, erneut“, womit eine stärkere Betonung der Erneuerung bzw. des Neu-Denkens impliziert ist (so in Rethinking, Reinventing, Revision, Reinterpretation). Dabei handelt es sich in der Praxis keineswegs um klar voneinander differenzierbare Strategien, die in Reinform praktiziert unterschiedliche Ergebnisse der Raumgestaltung erzielen. Viel eher gewichten die verschiedenen Begriffe bestimmte Aspekte von generellen Herangehensweisen der Wiederverwendung und Wiederverwertung unterschiedlich stark. Trotzdem lassen sich an dieser Doppelsinnigkeit zwei grundsätzliche Gesinnungen festmachen, von denen die eine eher konservierend auf die Vergangenheit gerichtet ist, die andere hingegen aktiv auf Veränderung und Zukunft setzt. Entsprechend lassen sich verschiedene Ansätze identifizieren, die jeweils eine unterschiedliche Gesinnung in Bezug auf den leeren Raum erkennen lassen. Die eine Strategie kann man „Strategie des Füllens“ nennen, hier geht es darum, den leeren Raum mit neuen Strukturen, Inhalten und Programmen zu belegen, um dem Weniger an Nutzung, Bedeutung und Frequentierung mit einem Mehr an Masse, Ereignis und Bildangebot zu begegnen. Diese Strategie kann zwar im Zuge von Kräfteverlagerungen auf dem Markt erfolgreich sein, leistet aber keinen inhaltlichen Beitrag zu einer Anpas156
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sung an den Strukturwandel. Unter der anderen Strategie lassen sich eine Reihe von Verfahren subsummieren, die sich nicht auf eine Veränderung der räumlichen Determinanten der Leere richten, sondern darauf, unseren Blick auf die Leere zu verändern und sie auf diese Weise zu etwas anderem zu machen. Dieses Verfahren nenne ich „Strategie der Anverwandlung“. Anverwandelnde Verfahren versuchen die Herstellung neuer Lesarten, neuer Zugänge und Sinngehalte der Leere, ohne sie dabei eliminieren zu wollen, sondern gerade indem sie die Leere ihrem Vorgehen zugrundelegen und nach ihrem Potenzial fragen.
Füllen Die häufigste Entstehungsbedingung von Leere ist der Verlust eines bestimmten Inhalts, und da diese Abwesenheit in der stadtentwicklungspolitisch plausiblen Sicht auf die Dinge ein unbefriedigender Zustand ist, ist es naheliegend, sie mit einer neuen Anwesenheit zu beantworten, den Raum wieder zu füllen und die Leere des Raums durch erneutes Voll-Sein zum Verschwinden zu bringen. Nun ist es das selbstverständliche Anliegen von Eigentümern, neue Mieter, Eigentümer, Nutzungen oder Bedeutungen für vorhandene Gebäude und Baulücken zu finden, und eine solche Neu-Inbesitznahme ist ein natürlicher Vorgang im Lebenszyklus eines jeden Bauwerks. Finden Gebäude keine Nachfrage mehr auf konventionellem Wege, so sind Umnutzung, Umstrukturierung und Umbau gängige Wege der Anpassung an einen neuen Bedarf, die unter stabilen Marktbedingungen breite Anwendung im Alltag der Immobilienentwicklung finden und an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden sollen. Es gibt jedoch auch eine Art des Füllens, die sich von dieser selbstverständlichen, maßstäblich sich einfügenden und vervollständigenden Weise absetzt und eher den Charakter des Voll-Stopfens trägt. Der Grat zwischen dem adäquaten ErFüllen und dem erzwingenden Voll-Stopfen ist fein. Welche Faktoren den Verlauf dieses feinen Grats bestimmen können und dass dieser nicht allein eine Frage von Komposition und struktureller Gliederung ist, soll durch ein kurzes, schlaglichtartiges Beschreiben verschiedener Beobachtungen in leeren Städten illustriert werden.
Baumasse Wie bereits am Beispiel Magdeburgs beschrieben, wurden nach dem Ende der DDR die zentralen, im Geiste des Sozialismus der 50er und 60er Jahre geplanten Plätze einer Reihe ostdeutscher Städte einer städtebaulichen Neubewertung unterzogen. Geleitet von dem Idealbild urbaner Dichte als Voraussetzung lebendigen städtischen Lebens und wirtschaft157
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licher Prosperität wurden bestehende urbane Freiräume, die nunmehr als riesige innerstädtische Ödnisse diskreditiert wurden, mit gewaltigen Gebäudevolumina bebaut (zum Beispiel Halberstadt, Chemnitz, Magdeburg, u.v.m.). In einem großen baulichen Kraftakt wurden Innenstädte kurzerhand mit den notorischen Bausteinen großstädtischen Flairs (Fußgängerzonen, Einkaufscenter, Großkinos, Piazzas, Galerias, Arkaden, Kolonnaden und Passagen etc.) angefüllt, in der Hoffnung, dass diese Elemente die verwaisten Innenstädte beleben werden. In vielen Fällen hatte jedoch die Großmaßstäblichkeit der Projekte, die gleichzeitige Ausweisung von Gewerbeflächen und Wohnraum am Rande der Stadt, die Banalität des Programms sowie die globalisierte Beliebigkeit der Architektur eine gegenteilige Wirkung: Die ehemals leeren Räume waren nun zwar mit Masse vollgebaut, aber keineswegs erfüllt mit städtischem Leben, sondern allenfalls mit dessen Simulation. Anstelle des Freiraums wurde ein semantisches Niemandsland errichtet.
Rekonstruktionen Das gegenwärtig gleichermaßen beliebte wie problematisierte Aufstellen historischer Kulissen in der Stadt wurzelt nicht nur in der Sehnsucht nach einem unbestimmten Gestern, sondern auch in dem Fehlen überzeugender städtischer Zukunftsbilder und die Nicht-Aushaltbarkeit der einstweiligen Leere, die dieses Fehlen zur Folge hat. Das Füllen urbaner Leere mit attrappenhaften Rekonstruktionen bewirkt (zumindest für den kritischen Betrachter) nicht eine Schließung der vorhandenen Lücke, sondern die Offenbarung von Ideenlosigkeit, die ihrerseits als mentale Form von Leere zu bewerten ist. Freiflächengestaltung Auch Räume, die nicht mit Masse bebaut, sondern in besten Absichten als öffentliche Freiflächen gestaltet worden sind, können vollgestellt erscheinen. Nicht wenige Arrangements hochwertiger Oberflächen und sorgsam gestalteten Stadtmobiliars machen dem Betrachter die ehrgeizige planerische Intention, hier Aufenthaltsqualität und eine positive Aktivierung der Öffentlichkeit zu bewirken, in einem Maße deutlich, welches das Nicht-Stattfinden des antizipierten Lebens umso tragischer wirken lässt. War der Brachraum vorher offen, unbestimmt und ohne immanente Erwartung an ein bestimmtes Maß der Frequentierung, so wird er durch eine hochwertige Gestaltung mit dem Anspruch an besondere Wertschätzung und Aneignung belegt und überfrachtet. Erst die aufwändige Verschönerung des Freiraums macht das Ausbleiben wertschätzender Menschen zur Absenz, zur Menschenleere.
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Uferpromenade in Frankfurt/Oder. Während in Ost-West-Richtung ein reger Besucherstrom zwischen den Nachbarstädten Slubice und Frankfurt stattfindet, bleibt die ansprechend gestaltete Oderpromenade in Frankfurt verwaist.
Eigenes Foto, Oktober 2007.
Parkende Autos Nicht umzäunte innerstädtische Brachräume werden nur im seltenen Idealfall zu Spielorten informeller Stadtentwicklung durch die kreative Inbesitznahme der Bürger. In den meisten Fällen jedoch werden solche Freiflächen schlicht zugeparkt oder für das Aufstellen von Werbetafeln, Wurstbuden oder Sammelcontainer genutzt. Das Voll-Machen mit banalisierender Nutzung nimmt dem Raum nicht nur jede Chance, zu einem Freiraum für alternative Formen der Stadtnutzung oder Stadtentwicklung zu werden, sondern bestätigt auch die Idee, dass es sich bei Brachräumen um wertlose Resträume handelt. Kunst Ein in Stadtverwaltungen beliebter Weg, urbane Leerflächen mit einem tröstenden Pflaster zu versehen, sind Kunstinstallationen. Von der Kunst verspricht man sich Aufwertung und Aufsehen, also ein Beleben der blinden Flecken in der Stadt und das Bewusstmachen verfügbarer Flächenpotenziale bei möglichen Interessenten. Die Bandbreite künstlerischer Qualität ist dabei ebenso groß wie die der Ausdrucksformen: Im 159
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positiven Falle nutzen die eingeladenen Künstler die erhaltenen Freiräume zur Stimulierung neuer Sichtweisen, im negativen Falle laufen sie Gefahr, instrumentalisiert zu werden bei dem Versuch von Stadtmarketingleuten, die Löcher in der Stadt zu stopfen, das Hässliche zu beschönigen und das Identitätslose unverwechselbar zu machen. Resümierend lässt sich feststellen, dass sich der Impuls zum VollMachen von leerem Raum aus unterschiedlichen Momenten ergibt:
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durch das Bedürfnis nach (Wieder-)Herstellung bestimmter Stadtbilder, aus dem Versuch, durch großmaßstäbliche Investitionen eine wirtschaftliche Belebung bestimmter Stadtviertel zu erreichen, durch die Intention der Verschönerung und Aufwertung der als hässlich empfundenen Leere, durch das Vorhandensein von leerstehendem Raum, der zur Deponierung von Gegenständen genutzt wird, für die anderweitig Platz zu finden aufwändiger wäre.
Ist die Degradierung von Brachräumen in Abfall-Deponien schlicht der allgemeinen Achtlosigkeit und Bequemlichkeit zuzuschreiben, so bewirkt die dem Raum abgezwungene Aufwertung, Verschönerung und Wiederherstellung in den beschriebenen Fällen eine Überforderung des Raumes, der durch dieses Voll-Sein nicht gleichzeitig er-füllt, sondern über- oder fehl-angefüllt ist. Das Dilemma zwischen Füllen und Vollstopfen wird durch das unausgewogene Verhältnis von gebauter Bemühung zu dem tatsächlich stattfindenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Handeln bestimmt. Das Voll-Sein des Raums wird zur Kulisse, weil es nicht Ausdruck echten Lebens ist, sondern der Simulation von Leben. Das Voll-Sein soll die Leere vertreiben, ähnlich wie auch bestimmte Tätigkeiten keinen anderen Zweck erfüllen, als die Zeit zu vertreiben. Die Neigung zum Füllen deutet auf ein beharrendes Denken in den Kategorien des wirtschaftlichen Wachstums hin. Der Erfolg einer Maßnahme im Geiste des Füllens misst sich an dem erzielbaren Mehr an Warenverkehr und Produktion. Es ist zu vermuten, dass das Bedürfnis nach Füllen von freiem Raum ein ästhetisches und kulturelles Massenphänomen unserer Zeit reflektiert, das sich unter anderem an mit Konsumgütern überfüllten Wohnungen, an mit Terminen und Aktivitäten vollgestopften Tagesabläufen und der permanenten Berieselung mit Unterhaltung und Musik ablesen lässt. Sensorischer Dauerbeschuss kann durchaus als ästhetisches Konzept betrachtet werden, das unsere Lebens160
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und Wahrnehmungsgewohnheiten stark prägt und die Frage aufwirft, unter welchen Bedingungen Leere, ebenso wie Stille, Schweigen, Nichtstun oder Ereignislosigkeit überhaupt auszuhalten oder als ästhetischer Genuss wahrzunehmen ist. (Einen Hinweis gibt hier unter Umständen der Zuwachs an Einrichtungen, die Interessenten eine künstliche Auszeit aus der Überfülltheit der Lebensumstände anbieten.)
Anverwandlung Alternative Verfahren, Brachräume wieder in den kulturellen Kontext einzubinden, deuten sich in all jenen Strategien an, die ich unter der Klammer der Anverwandlung rubrizieren möchte und die eine veränderte, anverwandelnde Sicht auf die Leere zum Ziel haben. Die ungewöhnliche Wortschöpfung Anverwandlung, die ich von Hans Lenk übernommen habe und die dieser mit der „Fähigkeit, etwas Übernommenes in einen neuen Kontext einzugliedern“ (Lenk 2005; Zitat Editorial) übersetzt, beinhaltet in unserem Kontext die Idee, dass leergefallene Räume nicht allein durch Wiedernutzung, Umbau und Umnutzung oder aber Rückbau und Aufgabe zu bewältigen sind. Anverwandlung bedeutet, dass man den leeren Raum, den man nicht mehr durch physische Veränderung in etwas verwandeln kann, das wieder gebraucht wird, auf einer anderen Ebene einem neuen Sinn zuführt, indem man ihn neu deutet, ohne ihn physisch zu verändern. Lenk erläutert weiter, dass Anverwandlung das „aneignende Integrieren von Einfällen, Bildern, Metaphern, Analogien, Metynomien“ in den vorhandenen Kontext beinhaltet, sowie dessen „beurteilende bzw. verwertende Interpretation“ (Lenk 2005; 44). Diese Definition ist vergleichbar mit jener, die uns Thomas Sieverts für eine „produktive Wahrnehmung“ (in Abgrenzung von der „konsumierenden Wahrnehmung“) von Zwischenstadt anbietet, die er in ähnlicher Weise als Voraussetzung für eine Kontextualisierung des Zusammenhanglosen sieht: „[Produktive Wahrnehmung ist] die Fähigkeit, Eindrücke, als ,wilde‘ [im Gegensatz zu bereits erschlossenen, zu einem Bild gefügten und interpretierten] Informationen selbst zu erschließen, innerlich zu einem Bild zu fügen und zu interpretieren, und die Fähigkeit, leere Stellen mittels Assoziationen, Erinnerungen und Projektionen selbst zu füllen, ich nenne sie produktive und sentimentale Wahrnehmung. Aus der Welt der erschlossenen Information, also im weitesten Sinne aus Kulturlandschaft kommend, stellt sich am namenlosen, unprominenten, wilden Ort erst einmal Langeweile ein. Das, was auf uns zukommt, können wir nicht lesen. So tritt zur Langeweile Irritation. Erst nach einer Weile kommt die produktive Wahrnehmung sozusagen in Gang, und die Welt um uns herum beginnt sich zu füllen. Leere Räume sind notwendig, um 161
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die Fähigkeiten, die Menschen zu Kulturwesen machen, zu trainieren: Erschließen, Fügen, Interpretieren, Assoziieren, Projizieren, Erinnern.“ (Sieverts 1999; 57)
Verfahren der Anverwandlung krempeln nicht mit mächtiger Geste das Große Ganze um, sondern arbeiten subtil, beharrlich, mit feinen Mitteln und oft im Stillen. Die Strategien der Anverwandlung handeln vom Sichtbarmachen verborgener Schichten, vom Zugänglichmachen des Verschlossenen und vom Befreien des Blockierten. Sie handeln davon, die der Leere innewohnenden Wirklichkeiten freizulegen und für die Stadt zu erschließen.
Anverwandlung der Leere in Freiraum Es wurde bereits ausgeführt, dass die gerne bemühte Gleichung, der zufolge leerer Raum per se ein Angebot an Freiraum ist, keineswegs zwangsläufig aufgeht, sondern meistens eher das Gegenteil der Fall ist: Leerer Raum ist restringierter Raum. Um den mit Einschränkungen, Verboten und Barrieren blockierten Raum zu „befreien“ und ihn für die Rückführung in den Stadtkörper zu öffnen, bedarf es zwei verschiedener Arten von Maßnahmen: Einmal technischer und eigentumsrechtlicher Art, außerdem aber Umwidmungen geistiger oder symbolischer Art. Zu den Befreiungsmaßnahmen technisch-rechtlicher Art gehören die Schaffung geeigneter planungsrechtlicher Rahmenbedingungen sowie das reale Zugänglich- und Nutzbarmachen der Fläche oder des Raums. Eine Befreiung von blockiertem Raum kann nicht stattfinden, ohne die Kooperation der verschiedenen, durch das Eigentumsrecht und das Planungs- und Baurecht aneinander gebundenen Akteure (Eigentümer, Bauaufsicht, Planungsbehörde etc.). Viele leerstehende Räume sind auf Jahre hinaus unzugänglich, weil sich schlicht niemand die Mühe macht, die Initiative zu ergreifen, um eine Statusveränderung herbeizuführen. Denn die Öffnung und Freigabe brachliegender Grundstücke und Gebäude für selbsttätige Entwicklungsprozesse ist keineswegs ohne einen erheblichen Planungs- und Genehmigungsaufwand23 zu haben: Eigentümer müssen gefunden und überzeugt werden, Erschließung, Ver- und Entsorgung müssen sichergestellt, Verträge geschlossen, Versicherungs-
23 Eine Übersicht zu den bestehenden Instrumenten und den Möglichkeiten ihrer Erweiterung gibt das Buch „Raumpioniere in Berlin“ von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin, Abt. 1 Stadt- und Freiraumplanung (Auftraggeber) mit cet-O und studio urban catalyst (Auftragnehmer). Berlin, Dezember 2004; 31 ff. 162
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pflichten gewährleistet und Nutzungsgenehmigungen ausgestellt werden. Ebenso wichtig wie das reale Zugänglichmachen blockierten Raums ist daher das mentale Zugänglichmachen: Erst die Denkbarkeit möglicher Freiheiten kann restringierten Raum wirklich in Freiraum verwandeln. Die Befreiung vom Stigma des Entwerteten, das Schaffen der geistigen Grundlage für nachfolgende Prozesse des Umwertens und Neuinterpretierens, das Überwinden von Widerständen im Kopf und von Barrieren aus fehlendem Vertrauen ist der erste Schritt. Das mentale Zugänglichmachen kann bedeuten:
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Die Erfassung und Kommunikation vorhandener Brachräume, die Vermittlung und Moderation von Kontakten interessierter Akteure, die professionelle Beratung und Betreuung bei den Vertragsverhandlungen, eine öffentlichkeitswirksame Kommunikation von Vor- und Leitbildern oder erfolgreichen Beispielprojekten.
Eine große, weil Sichtbarkeit und Impulsfunktion versprechende Rolle im Stadtumbaugeschehen spielen in diesem Zusammenhang die so genannten Zwischennutzungen. Diese zeitlich limitierte Form der Flächennutzung hat sich dank einiger erfolgreicher und breit diskutierter Beispiele zu einem zumindest in der Planungstheorie beliebten Werkzeug der Unterhaltung von Brachräumen entwickelt. Das Gewähren von Freiheit ist lediglich vorübergehend gedacht, das Öffnen einer Fläche erfolgt für eine Zwischenzeit. Die bestechende Idee der Zwischennutzung ist es, für den Eigentümer möglichst wenige langfristig wirksame Veränderungen herbeizuführen (Eigentumsverhältnisse, rechtlicher Status und Widmung einer Immobilie bleiben erhalten), gleichzeitig aber Nutzungsrechte und damit verbundene Unterhalts- und Sicherungspflichten vorübergehend abzugeben und den Eigentümer auf diese Weise finanziell zu entlasten. Die Öffnung erfolgt in aller Regel nicht selbstlos, sondern mit dem Hintergedanken einer langfristigen Aufwertung der Flächen durch die Sukzession ökonomisch rentabler Folgenutzungen. Für Zwischennutzer wiederum bietet dieses Modell den Raum und die Möglichkeit für Aktivitäten jenseits ökonomischen Verwertungsdruckes. Zudem kann die Stadt von der Freigabe und Übernahme in Privatbesitz befindlicher Flächen profitieren, indem sie diese für eine Aufwertung bestimmter Stadtquartiere mit Grünräumen nutzt. Prominentes Beispiel für dieses Modell ist die 163
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Gestattungsvereinbarung24 der Stadt Leipzig, die zwischen privaten Eigentümern leerstehender, ungenutzter Grundstücke und der Stadt geschlossen wird. Die Gestattungsvereinbarung erlaubt es der Stadtverwaltung, räumliche Ressourcen zur Versorgung ihrer Bürger mit halböffentlichen Grünbereichen, bzw. Spiel- und Stellplätzen zu erhalten und so die Lebensqualität und das Erscheinungsbild ihrer Quartiere zu verbessern. Eigentümer überlassen der Stadt per Vertrag zeitlich begrenzt ihre Flächen und werden im Gegenzug von der Grundsteuer und den laufenden Kosten für Unterhalt und Sicherung der Flächen entlastet. Das Potenzial der Öffnung und temporären Freigabe räumlicher Ressourcen für eine dezentrale und eigendynamische Form der Stadtentwicklung ist seit langem erkannt und wird mittlerweile durch zahlreiche Förderprogramme, Pilotprojekte und Kampagnen von kommunaler Seite unterstützt. In vielen Umbaustädten gibt Quartier-Büros, freie Agenturen, Künstler, Architekten und Privatleute, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Zwischennutzungen zu initiieren und zu vermitteln und damit reale wie ideelle Unterstützung für die Anverwandlung von leerem, blockierten Raum in Freiraum zu leisten. Es gibt Datenbanken, Freiflächenbörsen und Informationsveranstaltungen, die über vorhandene Flächen informieren ebenso wie vielfältige Publikationen, die „gute Beispiele“ von Freiflächenentwicklungen öffentlichkeitswirksam kommunizieren. Von Leerstand betroffene Eigentümer und Kommunen versuchen unter Strapazierung von Leitbildern des Pionier-Geistes, der Gründerzeit und des Wiederaufbaus die Kreativen für ihre Zwecke einzuspannen: Künstler, Bastler, Selbstverwirklicher, Aussteiger, Clubbetreiber, Eventveranstalter, Exzentriker, Experimentalisten, Anarchisten und Besetzer werden nicht nur vom kulturellen Establishment aus der Schmuddelecke geholt und als Creative Industries umarmt, sondern stehen seit etwa Mitte der neunziger Jahre im Fokus der Forschung – und, leicht phasenversetzt, in der Aufmerksamkeit von Verwaltung und Politik. „Es wird angenommen, dass die Creative Industries nicht nur über wirtschaftsund beschäftigungsrelevante Potentiale verfügen, sondern auch identitätsstiftende Wirkung für Städte und Regionen haben können. [...] Künstler und ,Kreative‘ wurden [von der Wissenschaft] als Vorreiter eines neuen Stadtbe-
24 Bis zum Jahr 2005 wurden über 90 Gestattungsverträge zwischen privaten Eigentümern und der Stadtverwaltung Leipzig geschlossen und insgesamt ca. 200 private Flurstücke (insgesamt ca.140.000 qm Fläche) zeitlich befristet als öffentlich zugänglicher Freiraum gestaltet. Quelle: http://www. leipziger-osten.de; Zugriff August 2007. 164
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wohners identifiziert, obgleich deren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen hochgradig prekär sind.“ (Lange 2006)
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist jedoch zu beobachten, dass die mit Erfolg praktizierten Beispiele immer an eine bestimmte kritische urbane Dichte und an das Vorhandensein eines bestimmten Milieus gebunden bleiben, und folglich eher in größeren, dicht besiedelten und gut mit kulturellen Ressourcen ausgestatteten Städten anzutreffen sind. Das Dilemma der zeitlichen Befristung, verbunden mit dem Anspruch einer kreativen oder pionierhaften Nutzung (hierzu zählen weder der Autohandel noch der Solariumbetrieb), welche dem Modell der Zwischennutzung innewohnt, lässt fragen, ob dies als Instrument zur Anverwandlung in Freiraum in strukturschwachen Räumen überhaupt geeignet ist. Anders als in Großstädten steht dort ein Überangebot an freiem Raum einer verhältnismäßig überschaubaren Gruppe potenzieller Nutzer gegenüber. Zudem kommt dort die bereits erwähnte Problematik des Wild-West-Denkmodells zum Tragen: Die häufig von externen Entwurfsverfassern formulierten „Szenarien“ nehmen in ihren sprachlichen Bildern Bezug auf eine eher großstädtische Szenekultur, von denen bezweifelt werden muss, dass sich in ihnen die dezimierte Bewohnerschaft einer peripher gelegenen Mittel- oder Kleinstadt wiederfindet. Die strapazierten Leitbilder des kreativen Gründers, des experimentellen Exzentrikers oder des selbstgenügsamen Philosophen gehen möglicherweise an den Lebensrealitäten der sozialen Milieus, an die sie sich richten sollen, weit vorbei. Die überaus zaghafte bürgerschaftliche „Aneignung“ angebotener Flächen, die sich an vielen Freiraum-Projekten der vergangenen Jahre beobachten ließ, ebenso wie die Tatsache, dass ohne offensives Anbieten brachliegende Flächen in kleineren Städten nicht in Besitz genommen, sondern im Gegenteil gemieden werden, macht deutlich, wie tief die Vorstellung von eigenem und von fremdem Raum als Widerspruch in uns verankert ist. Ein breiter und allgemein erzielbarer Erfolg dieses Konzepts in Schrumpfstädten ist also kaum anzunehmen, selbst wenn von den Kommunen mit Fördermitteln und Kommunikationskampagnen nachgeholfen wird: Der für eine Öffnung und Freigabe brachliegender Grundstücke und Gebäude notwendige Planungs- und Genehmigungsaufwand übersteigt häufig die noch verfügbaren Energien. Eigentümer müssen mitunter erst gefunden und überzeugt werden, Erschließung, Ver- und Entsorgung sichergestellt, Verträge geschlossen, die Finanzierung gesichert und Nutzungsgenehmigungen ausgestellt werden. Viele Zwischennutzungsprojekte ersticken bereits im Keim, weil potenziellen Pionieren dieser Aufwand angesichts der zeitlichen Befristung nicht lohnend er165
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scheint und die vorgeschlagenen Nutzungen wiederum den Rentabilitätserwartungen der Eigentümer nicht entsprechen oder diese fürchten, ihr Besitz werde dauerhaft heruntergewirtschaftet. Ein weiteres Problem stellt das fehlende Kreativpersonal gerade in strukturschwachen Kleinund Mittelstädten dar: Eine erfolgreiche „Bottom-up“-Entwicklung hat nur Chance auf Entstehung in einem entsprechenden Milieu, das jedoch in strukturschwachen Städten als bereits stark dezimiert gelten muss.
Anverwandlung der Leere in einen szenischen Raum Sind die rechtlichen und mentalen Hürden erst einmal aus dem Weg geräumt, ist die Zeit reif für die Umsetzung von Brachflächenprojekten. Nun beginnt die Stunde der Alchemisten, Übersetzer, Dramaturgen, Laboranten und Aktionisten, die an den verschwimmenden Grenzbereichen von Architektur, Kunst und Theater operieren. Den Übergang zwischen diesen Phasen der Anverwandlung darf man sich allerdings nicht trennscharf und eindeutig vorstellen, denn naturgemäß bedingen sie sich gegenseitig und bauen im Wechsel aufeinander auf. Die meisten Brachflächenprojekte bewegen sich durchaus in einem gesetzten Rahmen der Legalität, der vorher gegen systembedingte Widerstände geschaffen wurde. Erfolgreiche Brachflächenprojekte bereiten ihrerseits den Boden für die rechtliche und technische Freigabe von weiteren Flächen. Die gestiegene gesellschaftliche Bereitschaft, andere Wahrnehmungsweisen des Verbrauchten zu suchen (und das daraus folgende zeitweise Vorhandensein entsprechender Fördermittel) hat vor allem zu Beginn des neuen Jahrtausends zur Entstehung einer so genannten „Brachflächenszene“ geführt (diese muss im Jahr 2010 allerdings als mittlerweile dezimiert betrachtet werden). Für einige Jahre ist die Brache hipper Tummelplatz eines bunt gemischten Haufens aus bildenden und darstellenden Künstlern, Schriftstellern, Architekten und Planern. Ihren Projekten ist gemeinsam, dass das Hinterlassene, die leerstehende Architektur Austragungsort, stimmungsvoller szenischer Rahmen und Rohmaterial künstlerischer Produktion in einem ist. Sie verbindet das Anliegen, durch minimalinvasive Mittel die Brache als gesellschaftliches wie räumliches Phänomen in neuer Perspektive zu betrachten. Ihre Aktivisten interessieren sich für Wirklichkeiten der Brache, die im Alltag des Strukturwandels unsichtbar geblieben oder geworden sind. Die Brache, die Leere, die sich entleerende Stadt soll neu gedacht und interpretiert werden, und das soll unter Einbeziehung und Aktivierung möglichst vieler Stadtbewohner geschehen. Das Instrument, das die große Vielfalt von Aktionsformen umklammert, heißt Inszenierung. Die Inszenierung vermag Raum in einen szeni166
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schen Raum anzuverwandeln, unter dem in diesem Zusammenhang ein Raum verstanden werden soll, der durch seine Gestalt, seine äußere Umgebung oder seinen narrativen Subtext unsere Imagination anregt. Strategien, die darauf abzielen, leere Räume in szenische Räume zu verwandeln, schaffen Angebote für eine imaginative Wahrnehmung. Der Betrachter kann durch die assoziative Verknüpfung des Gesehenen mit vorhandenen Vorstellungsbildern eine neue Wahrnehmung und damit eine neue Realität herstellen. Für eine nähere Bestimmung des Begriffes Inszenierung sei hier auf die Thesen des Philosophen Martin Seel verwiesen, dem zufolge wir als Inszenierung eine „absichtsvoll in Gang gesetzte Folge bestimmter Abläufe und Prozesse“ zu verstehen haben, die Ergebnis eines intentionalen Prozesses sind (Seel 2001; 49). Der besondere sinnliche Reiz von Inszenierungen liegt darin, dass sie sich auf ein bestimmtes oder unbestimmtes, begrenztes oder unbegrenztes Publikum beziehen. Arbiträr definierte Vorgänge (d.h. mit festgelegtem Ablauf, der aber auch ganz anders sein könnte) werden einem Publikum in arbiträr definierter Weise präsentiert, die sich darin von anderen Vorgängen unterscheiden. Man kann nicht für sich selbst inszenieren (ebd., 50). Inszenierungen vollziehen sich als räumlich sicht- und hörbares Geschehen in einem begrenzten Raum, in dem sich das Publikum befindet oder das ihm zugänglich ist. Außerdem ereignet sie sich in einer begrenzten Zeit, während der die Aufmerksamkeit des Publikums gesucht und im Idealfall auch gebunden wird. Das bedeutet, dass ein erfolgreiches In-Szene-Setzen sich nur vor dem Hintergrund nicht inszenierter, räumlicher und zeitlicher Verhältnisse abspielen kann (ebd., 51). Der Begriff der Inszenierung beinhaltet weiter, dass hier ein einzelner Akteur interpretiert und seine Sicht der Dinge mit kommunikativen Mitteln den Zuschauern darstellt. Inszenierung meint also das bewusste Ausüben von Kontrolle über die Produktion eines Bildes, das sich vom Gegenstand der Inszenierung durch das Publikum gemacht wird. Die Inszenierung lenkt den Blick des Betrachters und nimmt Einfluss darauf, wie etwas wahrgenommen wird. Brachflächeninszenierungen haben weder die Mittel noch die Wirkmacht, das gespielte Stück von Grund auf neu zu schreiben, ihre Methode zielt auf das subtile Setzen, auf das Fügen, Verknüpfen, Beleuchten, Fragen, Suchen, Freilegen, Unterstreichen, Betonen, Verdichten oder Entflechten eines Werkes. Die Methode der Inszenierung ändert nicht den Text in seiner grundsätzlichen Struktur, wohl aber in seinem Sinngehalt. Klassischerweise funktionieren Inszenierungen über die Trennung zwischen Sender und Empfänger, zwischen Bühnendarstellern und dem Publikum, d.h. auch die Inszenierung der Brache ist wie jede andere Theatervorführung angewiesen auf öffentliche Aufmerksamkeit. Es 167
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zeichnet die meisten gegenwärtig bekannten Brachflächenprojekte aus, dass sie in guter zeitgenössischer Theatertradition durchaus die Einbeziehung des Publikums in das Bühnengeschehen suchen, um dieses den Fortgang der Handlung beeinflussen zu lassen. Aufklärerisch ambitioniert bieten sie im Idealfall den Zuschauern nicht nur Rollen als Statisten an, sondern ermutigen sie, selber einen Teil zur Regieführung beizutragen. Die Funktion von Inszenierungen liegt für Seel in der Erfüllung unseres Bedürfnisses nach einem „Sinn für die Gegenwart. [...] Wir wollen die Gegenwarten, in denen wir sind, als spürbare Gegenwarten erleben“ (ebd., 53). Die Inszenierung sei ein ästhetisches Phänomen, das die Gegenwart sichtbar und unterscheidbar mache, indem sie das Besondere aus der Fülle des Wahrnehmbaren herausstelle. So werde sie zu einem öffentlichen Erscheinenlassen von Gegenwart, zu einem zeitweiligen, sinnlich bedeutsamen Ereignis (ebd., 57). Ähnlich formuliert auch der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, der unter dem Begriff Inszenierung die „Produktion von Präsenz und Sinn“ versteht, die es dem Betrachter erlaube, einen Stoff in neuem Licht zu sehen (Gumbrecht 2001; 63). Um das Sehen mit „neuen Augen“ geht es in den meisten künstlerisch ambitionierten Brachflächenprojekten. Nicht nur die Planer, die ganz bewusst performative Elemente in ihre Strategien einbeziehen, sondern auch die meisten anderen Brachenakteure, deren Aktivitäten hier Beachtung finden, versuchen mit unterschiedlichen Mitteln, die verborgene zweite Natur der Brache zur Anschauung zu bringen, indem sie diese ins rechte Licht rücken, in Szene setzen.
Temporäre Aktionen und Installationen Temporäre Aktionen oder Installationen sind zeitweilige künstlerische oder baukünstlerische Inszenierungen im Raum, die von vorneherein ohne Anspruch auf langfristige Dauer angelegt sind. Temporäre Installationen auf Brachflächen werden seit Mitte der Neunziger Jahre vor allem im Kontext der Landschafts- und Freiraumplanung auf ihrer Suche nach angemessenen Umgangsweisen mit den Transformationsprozessen entworfen und umgesetzt. Grundsätzlich nicht als Lösung und nachhaltiges Nutzungskonzept gedacht sondern eher als räumliche Versuchsanordnung,25 beinhalten Installationen häufig das Moment der Infragestel25 Auch das temporäre Bespielen von Abbruchhäusern ist eine Form experimenteller künstlerischer Auseinandersetzung mit der Leere. Beispielsweise ließ die Berliner Gestalter-Gruppe anschlaege.de in ihrem Projekt „dostoprimetschatjelnosti“ (russisch für „Sehenswürdigkeiten“) im Sommer des Jahres 2002. 50 junge Architekten, Designer und Künstler aus 17 ver168
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lung des gegenwärtigen Zustandes, es lassen sich aus ihnen Fragen wie „Was ist die Zukunft dieser Brache?“, „Was ist ihre Vergangenheit?“, „Was wäre wenn…“, „Gibt es Alternativen zu...“, „Was ihr seht, könnte auch etwas anderes als das Augenscheinliche sein...“ herauslesen. Auf diese Weise nehmen sie thematischen Bezug zu ihrem Aufstellungsort und verankern sich an ihm. Für die Landschaftsplanerin Margit Schild gewinnt die Installation gerade durch ihre meist provokative Haltung eine besondere Qualität, die ohne die zeitliche Befristung eines Projektes so nicht möglich wäre. Erst das „angekündigte Verschwinden“ temporärer Projekte erwirke die Akzeptanz auch kritischer Arbeiten, die als Dauerlösung keine Chance auf Realisierung hätten. Eine Installation ist sozusagen „in eine Ausnahmeklammer“ gesetzt (Schild 2005; 48-49). Ein markantes Beispiel für die provokante diskursive Wirkung zeitweiliger Installationen ist der sechs Meter hohe neonbeleuchtete Schriftzug „ZWEIFEL“, den der norwegische Künstler Lars Ramberg von Januar bis Mai 2005 auf dem Dach des Palastes der Republik in Berlin, dessen Abriss zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossene Sache war, installierte. Der Ausruf „ZWEIFEL“ fasste nicht nur die vorangegangene jahrelange Debatte um die Zukunftsperspektive des Palastes bzw. eines neu zu bauenden Stadtschlosses zeichenhaft zusammen, sondern ließ sich auch als kritischer Kommentar zum Umgang mit Geschichte in der neuen Bundesrepublik ganz allgemein lesen. Die öffentlichkeitswirksame Installation erhielt eine große Resonanz von Medien und Politik. Mit ihr wurde nicht nur das Ergebnis der so genannten Schlossdebatte kommentiert, sondern auch der Schlossplatz an sich als Ort zeitgenössischer Kunstproduktion inszeniert.
schiedenen Ländern ein leer stehendes Hochhaus in Berlin-Hellersdorf, dem größten Plattenbaugebiet Europas, beziehen und „bespielen“. Sie sollten sich dort mit dem Bautyp des Plattenbaus auseinandersetzen und herausfinden, welche Möglichkeiten die Struktur eines solchen Hauses bietet und inwiefern die bestehenden Raumgrenzen erweitert werden können. Das Projekt „Superumbau“ in Hoyerswerda, 2003, von den Fördergebern als „Kunstprojekt zur Erforschung urbanen Lebens in schrumpfenden Städten, zur symbolischen Dimension des Plattenbaus und zu Möglichkeiten sozialer Orientierung durch experimentellen Handelns“ übertitelt, verband ganz offiziell Stadtentwicklungspolitik mit einer künstlerischen Strategie. Auch hier wurden Künstler eingeladen, sich mit Zukunft und Vergangenheit einer schrumpfenden Stadt zu beschäftigen und ihre Beobachtungen zu dokumentieren und zu kommentieren. Ebenfalls im Jahr 2003 wurde in Halle Neustadt ein bereits jahrelang leerstehendes Plattenhochhaus von Künstlern und ortsansässigen Jugendlichen zu einem temporären Hotel ausgestaltet, das in Zusammenhang mit einem Kunst- und Theaterfestival für einige Monate in Betrieb ging. 169
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Die Installation „Zweifel“ auf dem Palast der Republik von Lars Ramberg.
Bildquelle: http://www.larsramberg.de. Weniger spektakulär, aber darum nicht weniger eindrücklich und stellvertretend für eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Projekte ist die Installation „Tapetenzimmer“ der Künstlerin Magdalena Drebber, die im Rahmen der kulturellen Initiative „Stadthalten“26 von der Stadt Leipzig gemeinsam mit dem Verein Leipziger Jahresausstellung e.V. im September 2002 veranstaltet wurde. Für ein temporäres Vexierspiel mit den Chiffren „öffentlicher Raum“ und „privater Raum“ versah die Künstlerin die rückseitige Giebelwand eines Leipziger Theaters mit einem floralem Tapetenmuster und installierte darauf überdimensionierte Schlafzimmerleuchten, die nach Einbruch der Dunkelheit zu leuchten begannen. Der mit wenigen Zitaten in das Allerheiligste der Privatheit umcodierte Raum wurde fortan wiederum als öffentliche Bühne für Inszenierungen des Theaters genutzt. Er ließ sich aber auch als Einladung an die Bewohnerschaft der Umgebung lesen, den leeren Raum ebenso wie die zahlreichen anderen öffentlichen Brachräume ihres Quartiers privat in Besitz zu nehmen. Ein vergleichbares Anliegen verfolgen die Verfasser von landschaftsarchitektonischen Installationen. Mit ihren urbanen „Garteninsze26 Quelle: http:www.urban-leipzig.de/stadthalten/artwork-1-1-html; Zugriff am 3.9.2007. 170
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nierungen“ (Daniel Sprenger) streben sie keineswegs eine nachhaltige Begrünung der Stadt an, sondern vielmehr eine Verdeutlichung ihrer künstlerischen und planerischen Position zum Thema Natur und Landschaft in der Stadt. Ihnen geht es um eine Ästhetisierung der Leere und das temporäre Erleben des öffentlichen Raumes als etwas Anderes, als wir in ihm zu sehen gewohnt sind. Auch hier ist die kurze Dauer und die Vergänglichkeit der Garteninstallationen eine Art raison d’être, setzen sie doch die permanente Neuinterpretation ihres Sujets voraus. Bezeichnenderweise haben der Begriff „Zwischengrün“, der Titel eines Leipziger „Festivals für Stadt, Garten, Landschaft und Kunst“27 im Jahre 2005 war, als auch der „Temporäre Garten“28, der als Begriff und Format auf die beiden Berliner Landschaftsarchitekten Daniel Sprenger und Marc Pouzol zurückgeht, mittlerweile Eingang gefunden in die Fachterminologie von Stadtplanung und Landschaftsarchitektur. Dass künstlerische Inszenierungen von Stadtbrachen jedoch keineswegs per se eine positive Wirkung auf den Stadtraum haben, sondern sich ebenso wie Architektur an der Qualität ihrer Konzeption und Umsetzung messen lassen müssen, soll die vergleichende Analyse von zwei stadträumlich wirksamen „Bracheninstallationen“ beispielhaft zeigen. Es handelt sich hierbei um die Installation „33 Linden“ von Wolfgang KE Lehmann, Leipzig 2003 und der viel besprochenen Gestaltung der „Drive Thru Gallery“ von Christoph Winter/Büro Chezweitz, Aschersleben 2007. Die Installation „33 Linden“ ist im Rahmen des Projektes „Stadthalten – Künstlerische Inszenierungen von Brachflächen“, veranstaltet von der Stadt Leipzig zusammen mit dem Verein Leipziger Jahresaustellung e.V. im Jahre 2003 entstanden. „Stadthalten“ hatte zum Ziel, längerfristig brachliegende Grundstücke in dem von hohen Leerstandszahlen gezeichneten Leipziger Stadtteil Lindenau mit temporären Installationen zwischen zu nutzen, um sie einer neuen, positiveren öffentlichen Wahrnehmung zuzuführen und sie wieder in den Stadtraum einzubinden.
27 Unter: http://www.zwischengruen.de; Zugriff am 3.9.2007. 28 Unter: http://www.temporaeregaerten.de; Zugriff am 3.9.2007. 171
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„33 Linden“ vor und nach der Anverwandlung durch KE Lehmann
Links die Brache vor der Gestaltung. Quelle: http://www.urbanleipzig.de; Zugriff am 5.10.2006. Rechts der Zustand nach der Anverwandlung. Quelle: http://www.wolfgang-ke-lehmann.privat. t-online.de, Zugriff am 5.10.2006. In Bezug auf den Stadtteilnamen Lindenau hat der Leipziger Künstler Wolfgang KE Lehmann für das Projekt „33 Linden“ eine exponiert gelegene Giebelwand mit Linden bemalt, das davor liegende Grundstück freigeräumt und korrespondierend mit 33 Linden (W33 ist die alte Postleitzahl von Lindenau) bepflanzt. Das Umfeld der so entstandenen Allee wurde außerdem mit einem neuen Gehweg, Parkbuchten und einer modernen Beleuchtung aufgewertet. Die vegetabile Fassung der Straße bietet der geschlossenen Bebauung auf der anderen Straßenseite ein zunächst zwar zartes, perspektivisch jedoch durchaus angemessenes räumliches Gegenüber, fasst die verlorene Stadtkante und restrukturiert den zerfließenden Straßenraum. Durch die beiden dahinter liegenden, weiteren Baumreihen wird eine Öffnung des Raumes bewirkt, die dem ansonsten beliebigen Wiesenstück Halt und Struktur geben. Auf eine Fassung offener Stadtkanten setzt auch die „Drive-ThruGallery“ in Aschersleben, die im Rahmen der IBA Stadtumbau 2010 im Jahre 2007 eröffnet wurde. Die 25.000-Einwohner-Stadt in SachsenAnhalt trägt schwer an den Folgen städtebaulicher Vernachlässigung als Erbschaft der DDR, an Deindustrialisierung und Abwanderung. Neben der Stadtentwicklung von außen nach innen sieht die IBA-Teilnehmerstadt als zweites wichtiges Thema ihres Stadtumbaukonzeptes die Umgestaltung ihrer Ortsumgehungsstraße zu einem modernen Stadtring vor. Die mit ca. 10.000 durchfahrenden Autos pro Tag massiv belastete Schneise trennt die Altstadt von den angrenzenden Stadtteilen ab und ist selbst durch hohen Leerstand gekennzeichnet.
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Lückenschließung durch die „Hybridwall“ in Aschersleben. Motiv: Christoph Winter.
Eigenes Foto, Juni 2007. Im Auftrag der IBA entwickelte das Berliner Büro Chezweitz eine so genannte „Hybridwall“, bestehend aus stabilen Stahlrahmen, die rückwärtig von Rankgerüsten gehalten werden und vorderseitig mit einer bedruckten Kunststofffolie bespannt sind. Diese werden auf den Abrissflächen der Umgehungsstraße installiert. Bei den Motiven auf den Folien handelt es sich um Großrepros von Bildern des in Berlin lebenden britischen Künstlers Christoph Winter. Die fünf „Hitzefrei“ betitelten Arbeiten, deren Originale zeitgleich in New York unter dem Titel „Songs of Innocence“ zu sehen sind, zeigen an Märchenmotive gemahnende Kinder, denen ein assoziativer Bezug zu Projekten des Stadtumbaus in Aschersleben zugeschrieben wird.29 Hinter den Bildwänden werden die Flächen als wilde Parkplätze genutzt. Analog zum Projekt „Stadthalten“ ist es das erklärte Ziel der Veranstalter, den lückenhaften Straßenraum der Umgehungsstrasse zu fassen, die Brachräume mit einer neuen Bedeutung zu belegen und als „Raumreserve“ in das Bewusstsein der Bevölkerung zurückzuholen. Die Installationen „33 Linden“ in Leipzig ebenso wie die „DriveThru-Gallery“ in Aschersleben haben zum Ziel, Brachflächen in der 29 Siehe Selbstdarstellung der Stadt Aschersleben. Unter: http://www.aschersleben.de; Zugriff im August 2007. 173
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Stadt mittels einer zeitlich begrenzten künstlerischen Intervention zu einer neuen Identität zu verhelfen. Beide wählen dafür auf den ersten Blick ähnliche Mittel: Baulich nicht mehr vorhandene, vorläufig nicht wiederherzustellende, aber stadträumlich als wichtig erachtete Raumkanten werden in abstrahierter und ästhetisierender Weise mit neuen Mitteln nachgezeichnet. Der Baustoff beider Künstler ist kein solides, traditionelles Material, sondern, dem transitorischen Charakter der Projekte angemessen, im Falle von Wolfgang KE Lehmann ein wenig Farbe und ein paar Bäume, im Falle von Christoph Winter eine dünne Plastikplane auf einem Gerüst. Beide Projekte streben an, die vorher unwirtliche und der Verwahrlosung preisgegebene Brache als einen Ort der Kunst wahrnehmbar zu machen und ästhetisch wieder in das Stadtbild einzufügen. Über das bloße Stattfinden von Kunst verbindet sie der Anspruch, stadtentwicklungspolitische Ziele zu kommunizieren: Es soll auf die Bedeutung der Brache als Ressource hingewiesen und potenzielle Akteure zur Übernahme von Verantwortung animiert werden. Auch reklamieren beide Projekte für sich, den Wandel nicht nur durch die Wahl des Ortes, sondern auch durch die inhaltliche Konzeption des Kunstwerkes zu thematisieren. Die vordergründige Vergleichbarkeit der beiden Arbeiten endet jedoch bei diesem Anspruch. Bereits bei einer eingehenderen Betrachtung der räumlichen Setzungen werden gravierende qualitative Unterschiede deutlich: Die Raumkante, die durch die Linden formuliert wird, ist eigentlich eine Art Stützenreihe und somit durchlässig. Sie fügt sich zwar aus der Perspektive des sich im Straßenraum Nähernden zu einer Kante und so zu einem körperhaften Gegenstück der gegenüberliegenden Blockbebauung, befindet man sich aber auf der Höhe des Grundstückes, wird sie dreidimensional, öffnet sich in die Tiefe des Grundstücks und formuliert nicht zuletzt durch das Ausladen der Baumkronen einen eigenen Raum. Dieser wird logisch fortgesetzt durch die beiden dahinter liegenden weiteren Baumreihen, die die ehemalige Parkfläche zu einem Freiraum von unmittelbarem Gebrauchswert für die Nachbarschaft macht.
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Schematische Darstellung der unterschiedlichen Formulierung einer Raumkante: Links eine Baumreihe, die aus entfernter Straßenperspektive als Kante wirkt, den Raum jedoch durchlässig hält, rechts eine Stellwand, die den dahinter liegenden Raum verbirgt und abtrennt.
Eigene Grafik, 2007. Im Gegensatz dazu ist die Raumkante in Aschersleben zweidimensional, unräumlich und undurchlässig, sie besteht aus einer Sichtseite und einer Rückseite und trennt den Raum in ein Davor und ein Dahinter. Die Installation funktioniert wie ein Bildschirm, der nach einer Seite ein Bild in den Stadtraum sendet, und gleichzeitig den Blick in die andere Richtung abschirmt. Das an sich nicht ungewöhnliche Konzept krankt außerdem an einem entscheidenden Schönheitsfehler: Errichtet parallel zu der stark befahrenen Durchfahrtsstraße sind die Bildbotschaften für Autofahrer, wollen sie keinen Unfall riskieren, schlechterdings nicht lesbar. Für Fußgänger, so sie sich auf die schmalen Gehwege der unwirtlichen Straße verirren sollten, sind die Bilder ebenfalls kaum zu erkennen: Von der gegenüberliegenden Straßenseite verdeckt der nahezu ununterbrochene Fließverkehr die Sicht, befindet man sich auf derselben Seite wie die Bildwand, steht man für ein Betrachten zu nah dran. So scheitert die Inszenierung der Lücke an der Bewegungsgeschwindigkeit der Rezipienten und dem Format des umgebenden Stadtraums, während der eigentliche Raum der Lücke als sehensunwürdig abgewertet und kaschiert wird. Wo die Raumgrenze in ihrer Abstraktion in Leipzig Öffnung und Verbindung bedeutet, meint sie in Aschersleben Verschluss und Trennung. Auch in der Materialwahl der Künstler manifestiert sich eine unterschiedliche Haltung: Wolfgang KE Lehmann wählt für seine Arbeit ein lebendiges Baumaterial, das jedoch grundsätzlich langlebig und mit zunehmendem Alter von steigendem Wert für Stadt und Bewohner ist. In Aschersleben wird Kunststofffolie verwendet, die nicht nur schnell und 175
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schlecht altert, sondern auch anfällig für Vandalismus30 und schwer zu entsorgen ist. Materialwahl, Konstruktion und die Wahl der Aufstellungsorte setzten die „Hybridwalls“ ästhetisch in die Nähe zu Werbeplakaten oder Sichtschutzwänden. Schließlich offenbart auch die inhaltliche Interpretation der Bracheninszenierung höchst unterschiedliche Aussagen, vor allem vor dem Hintergrund der jeweils für sich in Anspruch genommenen Bezugnahme auf das Thema Strukturwandel. In Leipzig lässt sich der Dialog der Brandwandbemalung mit der Bepflanzung als ein rhetorisches Spiel zum Thema Dauer und Vergänglichkeit, zu langfristiger Planung und kurzfristiger Intervention lesen: Die plakative Bemalung der Giebelwand weist einerseits auf die der Stadtstruktur innewohnende Möglichkeit einer ergänzenden Blockrandbebauung hin, ist aber qua Motiv gleichzeitig eine abstrahierte Referenz auf das Ersetzen von Bebauung durch Vegetation. Sie löst sich hier von ihrer dekorativen Tradition und wird zu einem Teil der städtischen Erzählung. Die Bäume, die ihrerseits schon durch den Pflanzakt mit positiver Symbolik aufgeladen sind, beinhalten nichtsdestotrotz auch die Botschaft, dass sie einem Niedergang folgen, und Platzhalter für nicht realisierbare Entwicklungsträume sind. Die Linden werden im Laufe ihres Wachstums die zum Zeitpunkt der Pflanzung visuell dominante Malerei ergänzen und schließlich unsichtbar machen, gesetzt, dass sie nicht vorher doch der perspektivisch intendierten Neubebauung weichen sollten. Für diesen Fall ist vorgesehen, dass die Bäume an eine andere Stelle in Lindenau verpflanzt werden, eine Zukunftsaussicht, die bereits in der linearen Auslegung der Bäume nach der Art von Baumschulen angelegt ist. So ist das Projekt trotz aller möglichen künftigen Veränderungen und trotz ihres ausdrücklichen Charakters als Interimslösung eine Ressource der Grünversorgung für den Stadtteil und von bleibendem Wert für die Nachbarschaft. Durch seinen prozessualen Charakter lässt sich die Arbeit als eine angemessene Antwort auf Wandel und Veränderung lesen. Sie impliziert eine städtebauliche Entwicklung für den Stadtteil, selbst wenn eine ökonomische Entwicklung in konventionellem Sinne ausbleiben sollte. In Aschersleben lässt die Bildbotschaft der Brachflächengestaltung verschiedene und zum Teil widersprüchliche Lesarten zu. Seitens der Marketingabteilung der Stadt erfährt man, die Motive zeigen spielende Kinder, die assoziativ auf die Umgestaltung des leerstehenden Objektes in Aschersleben in ein Bildungsprojekt hinweisen. Der Architekturkriti-
30 In der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 2007 wurden die Plakate Opfer eines Vandalismusanschlages und von Unbekannten mit einem Messer aufgeschlitzt (vgl. Kil, Bauwelt 33/2007; 6-7). 176
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ker Thies Schröder deutet die Bildwände schlicht als „lebendig inszenierte Bauzäune“, die „gestalterisch das Ausbleiben einer Entwicklung“ betonen und sozusagen als „Nichtbauschilder“ ihre Aussagen zum Stadtumbau treffen (Schröder 2006; 14). Sein Kollege Wolfgang Kil sieht das anders: Für ihn sind die Stellwände „Lückenbüßer“ und die darauf zu sehenden Motive „Gruselillustrationen“ und eine „Zumutung für die Bürger“ (Kil 2007; 5-6). Meine eigene Einschätzung der Motive schließt sich seiner Kritik an: die Bilder von Christoph Winter zeigen keineswegs unschuldig spielende Kinder (ein Motiv, das für sich genommen ebenfalls denkbar unpassend wäre angesichts der beträchtlichen Strukturprobleme Ascherslebens), sondern handeln vom Verlust eben dieser Unschuld, von Übergriff und Ohnmacht, von Verführung und Angst. Deutliche Referenzen auf das Bildarsenal pädophiler Phantasien machen die Arbeiten nicht weniger problematisch. Die Übersetzung des Titels von dem englischen „Songs of Innocence“, das eine Hinterfragung ihrer Bedeutung impliziert, in das verharmlosende deutsche „Hitzefrei“ ist von beachtlicher Naivität. Es bleibt festzuhalten, dass die besondere Freiheit künstlerischer Installationen durch ihre zeitliche Begrenzung immer zugleich auch ihr Defizit ist. Sie provoziert eine zwar sensibilisierte, aber durch ihre Programmierung auf „Kunstgenuss“ dem Alltäglichen enthobene Wahrnehmung. Unser Blick auf Installationen ist ein kulturbedingt eingeübter „KunstBlick“, der für die meisten Menschen außergewöhnlichen Stimmungen und Feiertagen vorbehalten bleibt. Man geht in eine Ausstellung als besonderes Ereignis, und die Wahrnehmung des Ereignishaften ist selbst ein Ereignis. Der Betrachter rezipiert die Ausnahmeklammer, die der Installation zu ihrer Existenz verhilft, durchaus mit, auch ohne musealen Rahmen bleibt eine Trennung von Alltagswelt und Kunst bestehen. Gerade im Stadtumbau der letzten Jahre jedoch, währenddessen das Konzept der Vorläufigkeit angesichts düsterer ökonomischer Entwicklungsprognosen so naheliegend erscheint, hat die Installation neben ihrem inszenierenden Charakter Bedeutung gewonnen als konkretes städtebauliches Gestaltungsinstrument. Mit den Mitteln der freiraumbezogenen Kunst und Freiraumgestaltung ist möglich, was mit Architektur allein nicht mehr zu leisten ist, nämlich eine improvisierte Arrondierung ausgefranster Kanten, ein Herstellen stadträumlicher Zusammenhänge, das Fügen des Losen und Lesbarmachen des Leeren. Ihre städtebauliche Wirksamkeit erhebt solche Installationen im Erfolgsfall über den Status aufgestellter Dekorationsgegenstände, deren Bewertung letztlich Geschmackssache ist, und macht sie zum Gegenstand kritischer Reflexion hinsichtlich Funktion, Mitteleinsatz und Gestalt. 177
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Die Anverwandlung von Leere durch Bilder Die Umgestaltung von so Städten muss, um in den Köpfen ihrer Bewohner Niederschlag zu finden, verständliche und anschauliche Bilder hervorbringen. Bilder im Sinne materieller, piktoraler Repräsentationen ebenso wie immaterielle, sprachliche, mentale oder ethisch-normative31 Bilder spielen eine große Rolle in unserer Kultur. Bilder wirken vielfach authentischer und überzeugender als das gelesene oder gehörte Wort. Die eindrückliche Wirkung von Bildern beruht auf der prärationalen Natur der visuellen Wahrnehmung unseres Gehirnes, die uns Bilder in denselben Hirnarealen verarbeiten lässt wie die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Im Unterschied dazu wird Sprache in besonderen Arealen verarbeitet, die sich erst im Laufe der frühen Kindheit entwickeln. Neurophysiologisch ist die Wahrnehmung von Bildern eng mit Emotionen verbunden, woraus sich erklären lässt, warum manche Bilder uns wegsehen lassen, während wir uns an anderen kaum satt sehen können (Ballstaedt 2006; 5). Bilder wirken vor dem sich in Worten ausdrückenden Gedanken und diese Geschwindigkeit kann mit verantwortlich gemacht werden für ihren kommunikativen Erfolg. Eindrückliche Bilder vergisst man sein ganzes Leben lang nicht mehr und ein einmal gesehenes Bild hat gute Chancen, noch lange wiedererkannt und als Vorstellung aktiviert zu werden. Bilder mit hohem spontanen Aufmerksamkeitswert, also besonderen Merkmalen, die sie aus der Masse der alltäglichen Bilder herausstechen lassen, haben außerdem den höchsten mnemotechnischen Wert, sie bleiben am längsten im Gedächtnis haften. In diesem Zusammenhang sprechen Rhetoriker von „imagines agentes“, von Bildern, die „ins Gedächtnis eindringen und sich dort einnisten“ (Ballstaedt 2006; 67). Als Beispiel für dieses Phänomen kann der Fall der Mauer im Jahre 1989 angeführt werden, der für die meisten Zeitgenossen untrennbar mit dem Bild der auf der Mauer stehenden Menschenmassen verbunden ist. Die affektive Wirkung von Bildern bringt zwar ihrer abundanten Verwendung in den Medien die Kritik ein, eine rationale Argumentation zu unterlaufen, verhindert aber keineswegs den hohen Stellenwert von starken Bildern, also Bildern mit hohem Gefühlswert für eine erfolgreiche Kommunikation. Bilder, die starke Emotionen auslösen, können ihre Rezipienten zu Spendenbereitschaft, zu einem bestimmten Gesundheits- und Umweltverhalten, zu Konsum oder Enthaltsamkeit, oder zur Wahl einer bestimmten Partei mobilisieren. Die vielzitierte Formel von der Macht der Bilder hat insofern Relevanz, als dass Bilder
31 Zu den ethisch-normativen Bildern zählen Leitbilder oder Vorbilder (vgl. Hauser 2007, 687-688). 178
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die überzeugendste und gleichzeitig am schwierigsten zu widerlegende Form der Kommunikation sind. Bilder haben nicht Macht und Einfluss an sich, sondern lassen sich zur Machtausübung und Beeinflussung instrumentalisieren (ebd., 5). Dies bezieht sich nicht nur auf die Illustration, die Fotografie und den Film, deren selektive und gesteuerte Konstruktion der Wirklichkeit offensichtlich sind, sondern auch auf vermeintlich neutrale und objektive Bildformate wie das Diagramm, die Informationsgrafik oder die Landkarte.32 Für ein aufgeklärtes Lesen der vorhandenen Bildangebote ist eine hohe visuelle Kompetenz vonnöten, die uns erkennen lässt, welche kommunikativen Absichten sich jeweils hinter einem Bild verborgen halten, zu welchem Zwecke, von wem und für wen sie funktionalisiert worden sind. Die Trennung von reinem Informationsgehalt des „hybriden Objektes“ Bild von seinem „visuellen Überschuss“ ist jedoch überaus schwierig, und die Abgrenzung eines wie auch immer definierten Realen von Imaginärem, Unterbewusstem und ausdrücklich Simuliertem nahezu unmöglich (Hauser 2007; 688). Zu unauflöslich sind kollektive Vorstellungen, Konventionen der Visualisierung und ästhetische Paradigmen unserer Gesellschaft ineinander verwoben, zu unergründlich ist das Wechselspiel gegenseitiger Befruchtung und Prägung von Wirklichkeit und Idee, das nicht immer materiell auf dem Papier oder dem Bildschirm Niederschlag findet. Gleichzeitig sind die Voraussetzungen und Regeln der Bilderzeugung und Bildrezeption keine überhistorische Selbstverständlichkeit, sondern kulturell bedingt und für einen bestimmten historischen Zeitpunkt spezifisch. Die kollektiv verbindlichen Erwartungen an das Sichtbare als das Evidente sind Ergebnis des jeweils zeitgenössischen Zusammenhangs, in dem „sowohl das Wissen, als auch die Formen seiner Kommunikation entstehen“ (ebd.). Die unmittelbare Wirkung auf unsere Psyche macht Bilder zu einem wirkmächtigen Instrument, die Wahrnehmung der Welt zugunsten der eigenen Interessen zu beeinflussen. Seine kommunikative Wirkung macht das Bild zu einem überaus geeigneten Instrument, Prozesse des Wandels zu begleiten, und mit Hilfe von visuellen Deutungsangeboten zu steuern. Bilder können unseren Blick auf die Stadt verändern,
32 Die visualisierte Vereinfachung von Sachverhalten, Wissen oder statistischem Zahlenmaterial ist überaus beliebt in Wirtschaft und Wissenschaft, da sie in der Lage ist, komplexe Zusammenhänge zu veranschaulichen und für jedermann verständlich zu machen. Informationsgrafiken und Karten geben vor, messbare Wirklichkeit wiederzugeben und unterschlagen dabei häufig die Konditionen ihrer Herstellung, sie verschweigen Messbedingungen, festgesetzte Grenzwerte und nicht in Betracht gezogene Information (Mathis 2006; 23). 179
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sie können die Stadt in neuem Licht zeigen indem sie die sichtbare Wirklichkeit in einer anverwandelnden Weise zur Anschauung bringen.
Fotografie Im weiten Feld der „Bildproduktion“ kommt der Fotografie, dem vermeintlich dokumentarischen Zusammenfügen visueller Signale zu einem zweidimensionalen Bild eine herausragende Bedeutung zu. Unnötig, an dieser Stelle auszuführen, dass auch der Blick der Kamera eine spezifische Sicht auf das Objekt festhält und interpretierend weiterkommuniziert. Ebenfalls keine neue Erkenntnis ist, dass verlassene Räume, verfallende Gebäude und verschwindende Orte als Motiv das Auge vieler Fotografen inspirieren. Die Fotografie bewegt sich dabei auf einem schmalen Grat zwischen Dokumentation und Inszenierung, zwischen wertneutralem Festhalten dessen, was ist und seiner überhöhenden, gewichtenden Interpretation. Anders als in der Architekturfotografie von Neubauten, die ihre Motive am liebsten leer zeigt, um einen scheinbar unverstellten Blick auf die reine Form zu gewähren, interessieren sich Bilder des Niedergangs häufig für die Geschichte hinter dem vordergründig Sichtbaren. Während Neubauten durch ihr unbelebtes Leersein fotografisch als zeit- und geschichtsloses Artefakt wiedergegeben werden, will die fotografische Darstellung des Verfalls gerade den „moment in time“ einfangen, den singulären Augenblick, der angesichts des Wandels nicht wiederkommt. Beim Betrachten zeitgenössischer Fotografien verlassener Räume begegnet man zwei narrativen Schichten: einmal der Repräsentation einzelner historischer Zustände von Gebäuden, Objekten und Orten, die es nicht oder so nicht mehr gibt, und dahinterliegend die Geschichte des menschlichen Dramas Niedergang. Die fotografische Dokumentation von historischen Zuständen dient der Bewahrung und Sicherung des Verschwindenden für die Nachwelt und ist nicht selten die einzige ökonomisch realisierbare Möglichkeit zu ihrem „Erhalt.“ Die Dokumentation rettet das Verlorene vor der Spurenlosigkeit. Würden Bilder verlassener Orte allerdings ausschließlich distanziertem wissenschaftlich-historischem Interesse Genüge tun, beinhalteten sie also nur die Ebene des Erkennens und Lesens, so blieben sie wahrscheinlich in staubigen Archiven der Einsicht einiger weniger Interessenten vorbehalten.
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Karkasse eines entkernten Gebäudes kurz vor dem Abriss
Quelle: Bauwelt 24/2001; ohne Autorenangabe. Solche Aufnahmen haben längst den Weg in die großen Galerien und Kunstmuseen gefunden und damit in die Weihestätten etablierter Hochkultur. Dies wäre ihnen kaum in diesem Umfang gelungen, würden sie uns nicht über das sachliche Interesse hinaus unsere Gefühlswelt berühren und unsere Fantasie anregen. Auch ohne eigene Referenzerfahrungen erinnern uns bestimmte Bilder der Leere an Nachkriegs- oder Endzeitfilme, sie beschwören vor unserem geistigen Auge unscharfe Vorstellungen von Apokalypse und dem Ende des Menschenzeitalters herauf. Sie erschrecken, beklemmen, erheitern, stimmen traurig oder zynisch – jedenfalls lassen sie uns selten kalt. Die fotografische Wiedergabe verlassener Strukturen erzeugt eine spezifische Ästhetik, die angesiedelt ist zwischen einer latent dem Kitschverdacht ausgesetzten Ruinenromantik und echtem Erschauern angesichts der Realität unserer Endlichkeit und der Unbarmherzigkeit großmaßstäblicher Ausmusterung menschlicher Kulturerzeugnisse. Doch selbst wenn die Verstörung Kunstgenuss bleibt und der Schauer in der kontrollierten Umgebung eines Kunstmuseums stattfindet, es bleibt die anverwandelnde Leistung der Fotografie, das Ephemere, Verschwindende, Bedeutungslos Gewordene, dem Untergang Geweihte überhaupt zum Gegenstand künstlerischer Reflexion zu machen und 181
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damit emporzuheben. Indem es künstlerisch weiterverarbeitet und aufbereitet wird, durchläuft es einen Prozess der Raffinierung und wird der Gesellschaft zurückgegeben zur kulturellen Aneignung. Die Fotografie unterscheidet sich hierbei von Strategien der Anverwandlung, die das Verfallende in seiner ursprünglichen Ganzheit bewahren und unter Schutz stellen wollen. Obwohl sie ebenfalls als Instrument gegen das Vergessen arbeitet, richtet sich die Fotografie nicht gegen die Auflösung des Gegenstandes an sich durch seine Konservierung, sondern durch das Bewahren seines Abbildes im Stadium der Auflösung. Anders als der Denkmalschutz oder das sammelnde Museum interessiert sich die künstlerische Fotografie nicht für den materiellen Erhalt eines vermeintlich authentischen Zeugnisses, sondern für die Spiegelung ewiger Menschheitsthemen wie Leben und Tod, Untergang und Neuerstehung in ihren Motiven.
Collagen und Animationen Eindeutiger gewichtend in ihrer Aussage als die Fotografie sind die Erzeugnisse der bildgebenden Disziplinen, die in freier Technik Zukunftsszenarien oder Interpretationen des Gegenwärtigen visualisieren. Durch das collagenhafte Zusammenfügen ganz unterschiedlichen Bildmaterials wie Fotos, Zeichnungen, CAD-Animationen, Zeitungsausschnitten und Diagrammen haben die Verfasser solcher Bilder die größte Gestaltungsfreiheit. Sie verbildlichen und veranschaulichen nicht das Reale, sondern das Fiktive, das sonst nur verbalisiert werden kann. Sie vermögen mit ihren Arrangements konkrete Vorstellungen in den Köpfen der Empfänger hervorzurufen, die als reine Theorien blass und leblos blieben. Nicht ohne Grund ist die Collage ein beliebtes Format zur Kommunikation städtischer Leitbilder. Diese Bildtechnik ermöglicht es, unter Verwendung bestehenden Bildmaterials ein plausibles Utopia zu entwerfen, das, wie die bilderzeugende Technik suggeriert, durch NeuFügen, Verbinden, Wegschneiden oder Ergänzen des Vorhandenen entstehen kann. Die „verlandschaftete Stadt“ beispielsweise mag als theoretische Formel trocken klingen, eine geschickt gemachte Collage oder Animation, die Elemente ländlicher Idylle wie weidende Schafe und Sonnenblumenfelder mit den Ansichten des experimentellen Wohnungsbaus oder von kahlen Brandwänden und alten Schornsteinen zusammenfügt, entfaltet eine eindringliche Vorstellbarkeit dieser möglichen urbanen Zukunft. Solche verbildlichten Zukunftserzählungen sind eine wichtige Voraussetzung für die mentale Verarbeitung von Wandelprozessen, sie können der Orientierung, der Inspiration und Identifikation dienen. Sie vermögen komplexe Prozesse zu erklären und widersprüchliche Zusammenhänge darzustellen. Auch lassen sich konkrete 182
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Umbauprojekte und Maßnahmen auf ihrer Grundlage entwickeln und orchestrieren. Eine Zukunftserzählung aus visuellen Versatzstücken: Die Collage „Flurwärter pflegen die agrarisch geprägten Freiräume“
Die abgebildete Collage ist der Studie „Weniger ist Mehr“ der Stiftung Bauhaus Dessau mit Philipp Oswalt und Klaus Overmeyer (2002; 56) entnommen. Sie visualisiert ein Szenario, das die Autoren beispielhaft für die Entwicklung von fünf Modellgebieten als urbane Laboratorien in Sachsen-Anhalt entworfen haben. Die entscheidende Qualität der Collagetechnik ist die Möglichkeit der Überdehnung und Überzeichnung, die zwar immer den Rohstoff des Realen benutzt, gleichzeitig durch Neu-Fügen einen Sinn für das zunächst undenkbar Erscheinende erzeugt. Genau darin liegt auch ihre Gefahr, denn allzu leicht lösen sich die visionären Gebilde auch von der Vorstellungswelt der Rezipienten und verpuffen in der Beliebigkeit der alltäglichen Bilderflut.
Spaziergänge Als professionelle Augenöffner für neue Sichtweisen verstehen sich auch die Anbieter von geführten Spaziergängen. Die Idee des Spaziergangs als Methode der Landschaftswahrnehmung rekurriert auf die Arbeit der Begründer der so genannten Spaziergangswissenschaft, dem Soziologen Lucius Burckhardt (1925-2003) und seiner Frau Annemarie Burckhardt. Diese formulierten in den 1980er Jahren im Rahmen der Lehrtätigkeit Lucius Burckhardts in Kassel die Promenadologie aus Elementen der Soziologie und des Urbanismus als eine Wissenschaft, die sich mit der gedanklichen Erfassung und Einordnung der Umwelt 183
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durch das Promenieren beschäftigt. Grundlegend für die Entstehung der Spaziergangwissenschaft war die Beobachtung, dass die Beschleunigung unserer Fortbewegungsmittel und die Fragmentierung unserer Lebenswelten zu einer inkohärenten Wahrnehmung unserer Umwelt führt, die man nur durch bewusst langsames und zweckfreies Spazierengehen wieder als Bild in die Köpfe zurückholen könne. Dabei betrachtete Burckhardt Landschaft als gesellschaftliches Wahrnehmungskonstrukt, das über selektive Filter- und Ausklammerprozesse beim Sehen und durch die Leistung des Zusammenlesens von Einzelteilen erzeugt wird. Als schön empfinden wir eine Landschaft, in der es uns gelingt, das Gesehene so zu filtern, dass es in unsere Idealvorstellung eines schönen Ortes integriert werden kann, die sich wiederum aus Quellen der Erinnerung, der Kunst, aus Kinderbüchern oder dem Bildmaterial der Tourismusindustrie speist. Die Aussage einer Landschaft liegt nicht in ihr selbst enthalten, sondern in ihrer kulturellen Interpretation. Als Zeichensystem ist sie gleichbedeutend mit einer Art Sprache und wirkt zurück auf die Gestaltung der Umwelt durch die Gesellschaft. Den Beobachtungen Burckhardts zufolge verändert sich die sichtbare Landschaft jedoch schneller als unsere Landschaftsbilder im Kopf. „In den von den meisten Menschen bewohnten und besuchten Zonen unserer Lebenswelt ist der promenadologische Kontext, der zum Verständnis des Gesehenen führt, zusammengebrochen.“ (Burkhardt 1980; 255). Daraus folge, dass es im Hinblick auf die Umweltgestaltung Aufgabe der Gesellschaft sei, eine neue promenadologische Ästhetik zu kreieren, die dem Objekt zugleich Kontextinformationen mitgibt. Spaziergangswissenschaftliche Projekte im Rahmen des Strukturwandels beziehen sich zwar rhetorisch auf ihren Begründer Burckhardt, werden jedoch meist in einem freien künstlerischen Sinne interpretiert und umgesetzt. Die Veranstalter von Spaziergängen sind in diesem Kontext nicht Forschungsinstitute, sondern Stadtverwaltungen, Projektbüros, Gestalter und Künstler. Sie konzipieren und organisieren Spaziergänge, Wanderungen und „Reisen“ nicht entlang von anerkannten landschaftlichen und städtebaulichen Höhepunkten, sondern entlang von Autobahntrassen und verlassenen Bahndämmen, über Gewerbebrachen, Anlieferzonen und Parkflächen, hin zu Abrissflächen, Leerstandsgebieten und „Unorten“ aller Art. Unter Verwendung von dem klassischen Tourismus entlehnten Requisiten (Reiseführer, Wanderkarte etc.) wird die herkömmliche Vermittlung von „Sehenswürdigkeiten“ gezielt in Frage gestellt und auf das Andere, das ohne besonderen Hinweis eine „Sehensunwürdigkeit“ bleibt, aufmerksam gemacht. War die Spaziergangsforschung ursprünglich von der Frage bewegt, wie der Spaziergänger die Landschaft wahrnimmt und welche Szenen seine Aufmerksamkeit be184
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sonders fesseln, so ist die zeitgenössische Generation künstlerisch konzipierter Spaziergänge weniger von Erkenntnishunger getrieben, als vielmehr von dem Bedürfnis, ein spezifisches Bild von Stadtlandschaft zu kommunizieren. Im Unterschied zu den bereits erwähnten Versuchen mancher Stadtmarketingagentur, ein fertiges Stadtbild künstlich zu implantieren, geht der Spaziergang einen deutlich zurückhaltenderen Weg, der darauf abzielt, die verborgenen Strukturen bereits vorhandener Bilder freizulegen und imaginativ anzureichern. An einem exemplarischen Spaziergang durch den Leipziger Osten sei ausschnittsweise nachvollzogen, in welcher Weise brachliegender Transformationsraum durch einen Spaziergang in einen szenischen Raum anverwandelt werden kann und welche Aspekte dabei mit dramaturgischen Mitteln verdichtet und hervorgehoben werden können. Es handelt sich dabei um den Spaziergang „Quergebürstet“, der gemeinsam mit dem Spaziergang „Wo Anna ihren ersten Kuss erhielt“ unter der Überschrift „Stadt im Überfluss – zu viel Stadt für zu wenig Städter“33 im Sommer 2002 im Auftrag des Amtes für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung der Stadt Leipzig veranstaltet wurde. Autor des Spaziergangs ist der Landschaftsplaner und Promenadologe Bertram Weisshaar von Atelier Latent. Der Spaziergang „Quergebürstet“ besteht aus 10 Stationen entlang einer vorgegebenen Route. Das offizielle Thema des Spaziergangs ist die „Schrumpfung“ des Leipziger Ostens. Eine kleine Broschüre informiert an jeder Station über die Besonderheiten des jeweiligen Ortes. Illustriert ist der Reiseführer mit Lageplänen, Bildern von „Sehenswürdigkeiten“ (der anderen Art) sowie mit einer Foto-Geschichte, die den Spaziergang begleitet: Zwei junge Menschen mit geflochtenem Picknickkorb und Sonnenbrille sind in der Stadt unterwegs. Auf diese Weise werden in dem Führer geschickt handfeste Hintergrundinformationen zum Strukturwandel, narrative Elemente und suggestive Bildangebote verknüpft. Der Spaziergang führt beispielsweise auf ein brachliegendes Privatgrundstück mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen. Der Zugang zu dem Grundstück ist mit einem vom Künstler eigens angebrachten Zahlenschloss versperrt. Eintritt erhält der Spaziergänger erst, wenn er die auf einem nebenstehenden Schild angeführte Telefonnummer mit seinem Mobiltelefon angewählt und die von einem Tonband durchge33 Die beiden Spaziergänge wurden im Sommer 2002 als geführter Spaziergang durch den Leipziger Osten angeboten, dazu erschien eine kleine Begleitbroschüre. Quelle: http://www.leipziger-osten.de/spaziergang/01_ spazier.html; Zugriff im Juli 2008. 185
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gebene Zahlenkombination erfahren hat, mit der sich das Schloss öffnen lässt. Nun kann er das Innere des Gartens betreten, das ebenfalls „bearbeitet“ wurde, hier hat der Künstler Topfpflanzen, ein paar Stühle und einen Tisch aufgestellt. Die 2. Station des Spaziergangs „Quergebürstet“ von Bertram Weisshaar als Seite einer interaktiven Broschüre.
Quelle: http://www.leipziger-osten.de/spaziergang/01_spazier.html; Zugriff im Juli 2008. Weisshaar lenkt den Blick des Spaziergängers also nicht allein durch spezifische Informationen, sondern auch durch gezielte Eingriffe vor Ort, die aus einer banalen Brache einen „geheimen Garten“ machen. Die feinen Manipulationen verändern den Ort nicht in seiner grundsätzlichen Struktur, sondern setzen ihn als geheimnisvoll und verwunschen in Szene. In der Broschüre wird auch das sprachliche Rüstzeug geliefert, das Gesehene einzuordnen: Es handelt sich hier nämlich um einen „Sprawl Garden.“ Dieser Begriff wird folgendermaßen erläutert: „,Sprawl Garden‘ ist ein Projekt, das die vielen vereinzelten Brachflächen zu einem integrierten Bild verknüpfen und der Entwicklung des ,urban sprawl,‘ also der Zersiedlung des Stadtrandes, eine neue Idee entgegen setzen möchte.“ (Weisshaar 2002)
Wer bis hierhin immer noch im Unklaren ist, erfährt weiterhin:
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„Dieses Grundstück vermittelt anschaulich, welches Bild diese Landschaft erhalten kann. Hier fällt es nicht schwer, dieses ungenutzte Grundstück nicht nur als Brache zu sehen, sondern sich diese als Bestandteil eines räumlichen Netzwerkes vorzustellen und es mit den angrenzenden gegenwärtig leider durch Zäune versperrten Brachen, zu einer Landschaft zu addieren; so wie wir die nebeneinander liegenden Wiesen und Äcker, die Gräser, Bäume und Wolken in unserer Wahrnehmung und Vorstellung zu einem Bild zusammenfügen und dies dann als Landschaft lesen.“ (ebd.)
An einer anderen, stark durch Gebäudeabrisse geprägten Station des Spaziergangs liegt ein Architekturführer über den Stadtteil in einem Schaufenster aus, der neben einem Gedicht von Rudolf Stibill nur leere Seiten enthält. Dazu erklärt der Spaziergangführer: „Ohne Worte erzählt es über diese Straße vielleicht doch mehr als tausend Worte; insbesondere über die südliche Straßenhälfte, deren komplett ,rückgebaute‘ Häuserreihe nur noch in der Imagination existiert.“ (Ebd.)
Auf die Tatsache, dass jeder Ort „mindestens zweimal existiert, einmal in seiner konkreten baulichen Ausgestaltung und einmal als ein von dieser physischen Präsenz mitunter recht unabhängiges, abstrahiertes Bild“ (ebd.), verweist die Station „Rabet und Marthastrasse“, indem hier auf das hartnäckig sich haltende negative Image des Stadtviertels Rabet einerseits und die Bemühungen der Stadtverwaltung, diesem durch Aufwertungsmaßnahmen zu begegnen andererseits, aufmerksam gemacht wird. An den darauf folgenden Stationen werden weitere Stadtumbauthemen wie die Entstehung neuer Wegeverbindungen und Freiflächen hingewiesen, die durch den Einwohnerrückgang möglich geworden sind, oder die Schwierigkeiten des Einzelhandels im Quartier. Der Spaziergang endet schließlich im neu entstandenen Stadtteilpark Reudnitz, in dem es neben öffentlichen Parkflächen und Sportfeldern auch Parzellen gibt, für welche die Anwohner per „Patenschaft“ die Verantwortung und Pflege übernehmen können. Am Schluss des Spaziergangs wird das Paar aus dem Reiseführer, identifikatorisches Vorbild für den realen Spaziergänger, vom Betrachter zum Akteur und beteiligt sich an der Kultivierung des Parks mit den in ihrem Picknickkorb mitgebrachten Pflanzen. Und da dieser überraschend nun doch kein Picknick enthält, müssen sich die beiden anschließend in der nahegelegenen Tankstelle mit Proviant versorgen. Diese Zusammenfassung verdeutlicht, dass es sich bei diesem „Spaziergang“ um einen klassischen touristischen Routenplaner, eine Regieanweisung für das kinematografische Fügen einer Bilderfolge und eine 187
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gestalterische Intervention in einem handelt. Konkrete Aufklärung zu wichtigen Themen des Strukturwandels, gestaltende Vorgaben des Autors ebenso wie die Ermunterung an den „Touristen“, seinerseits gestaltend tätig zu werden, verbinden sich zu einer Geschichte, die auch ohne eigenes Abschreiten der Route informativ und nachvollziehbar ist. Der touristische Blick, der dem Reisenden nahegelegt wird, impliziert dabei die Bereitschaft des Betrachters, das Gesehene nicht teilnahmslos, sondern als Erlebnis wahrzunehmen. Der Reisende begibt sich in „Quergebürstet“ auf einen abenteuerliche Tour durch den sich wandelnden Raum und die sich wandelnde Zeit und wird durch seinen Spaziergang selber zum Protagonisten des Wandels. Es liegt ein gewisses Paradoxon in der Idee, den Wandel mit dem neugierigen Blick eines Touristen wahrzunehmen und als Begleiter das statische Medium eines gedruckten Heftes zu wählen, das Momentaufnahme und Artefakt zugleich ist und zum Zeitpunkt des Erscheinens bereits schon wieder veraltet sein kann. Nicht nur wandelt sich die Umbruchslandschaft fortwährend, auch kann die Fügung des Gesehenen zu einem bildhaften Ganzen im Kopf des Betrachters niemals abgeschlossen sein (vgl. B. Sieverts 2003; 54), sondern wandelt sich ebenfalls fortlaufend. Der Verdienst eines „Spaziergangs“ kann nichtsdestotrotz darin bestehen, einen differenzierten Blick auf die besonderen Qualitäten der Transformationslandschaft nicht nur einzufordern, sondern exemplarisch selber zu geben. Als Dokument ist der Reiseführer gleichsam eine Art „Handbuch zur Stadtumbauwahrnehmung“, er dechiffriert exemplarisch das Unlesbare und macht das Unspektakuläre zum Ereignis. Obwohl der Tourist immer nur Besucher eines Ortes ist und meist (außer ein paar geringen Ausgaben für einen Imbiss) nichts am Ort selber hinterlässt, verändert sein touristisches Interesse dennoch nicht nur seinen eigenen Blick, sondern auch den Ort selber. Seine Entscheidung, einen bestimmten Ort als des Sehens würdig zu erachten, ihn als Reiseziel zu wählen und ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken, hinterlässt eine Spur. Beispiele von über einen längeren Zeitraum durchgeführten Führungen und Wanderungen z.B. durch die Braunkohlegruben in der Lausitz haben gezeigt, wie sich diese von einer Exoten-Veranstaltung zu einer breitenwirksamen touristischen Attraktion entwickelte und wie das Interesse der Besucher auch die Wahrnehmung dieser Restlandschaft auf genereller Ebene veränderte. Es mag eingewendet werden, dass sich ein Spaziergang durch ein strukturschwaches Quartier einer größeren Stadt immer nur an ein kleines Publikum richtet, nicht mit der Großartigkeit der Abraumhalden des Braunkohleabbaus vergleichbar ist und somit wenig geeignet scheint, das Sehen und Denken einer größeren Mehrheit der Einwohner zu verändern. Die Beurteilung aber, welcher Beitrag den 188
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vielfältigen Stadtwanderungen und Spaziergängen im Geiste der Promenadologie, die häufig in Verbindung mit literarischen, geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Erkundungen einhergehen, und die heute einen festen Platz im Repertoire der Stadtumbaumaßnahmen haben, für die Begleitung des Übergangs zukommt, muss der Zeit überlassen bleiben.
Rituale Obwohl ich den Beleg schuldig bleibe, möchte ich hier dennoch die These vertreten, dass auch Abschiedsrituale und zeremonielle Handlungen, die einen Übergang begleiten, eine anverwandelnde Wirkung auf die Leere haben. Es macht durchaus einen Unterschied, ob Abrissbagger über Nacht anrücken und kommentarlos niederreißen, oder ob in einer angemessenen Weise beispielsweise der Abschied von einem Gebäude „begangen“ wird. In diesem Falle geht es weniger um die Initiierung eines Bewusstseinswandels, sondern um die Möglichkeit, diesen zu verarbeiten und ihm Ausdruck zu verleihen. Trauer, Abschied, Angst und Verunsicherung sind leichter zu ertragen, wenn diesen Gefühlen auch Raum und Zeit zugestanden wird. Allerdings sind die Erfahrungen mit entsprechenden Ritualen verhältnismäßig gering, bisher wurde deutlich weniger Fantasie entwickelt, gemeinsame Veranstaltungen zur Abschied und Preisgabe abzuhalten als Veranstaltungen zu einem Neubeginn. Es mag vereinzelt Abrissparties oder Auskehr-Feiern geben, diese sind in ihrem Symbolgehalt und ihrer einigenden Wirkung jedoch kaum vergleichbar mit den allseits verbindlichen Ritualen des Aufbaus, dem ersten Spatenstich, der Grundsteinlegung, dem Richtfest und der offiziellen Einweihung. Vielleicht ist der bekannte Kanon an kollektiven Zeremonien, die unserer Kultur verfügbar sind, auch nicht geeignet, um das Bedürfnis nach würdigem Abschied von Gebäuden zu erfüllen, vielleicht bedarf es an dieser Stelle eher einer individuellen Suche nach der richtigen Form, so wie es ein junger Mann in Leipzig tat, der den umstrittenen Abriss der Kleinen Funkenburg im Leipziger Waldstraßenviertel im Mai 2005 auf seine Weise beging und die in der Presse von einem Augenzeugen folgendermaßen beschrieben wurde: „Während ich die Kleine Funkenburg nochmals aufsuchte, um festzustellen, dass die Demokratieresistenz unserer Entscheidungsträger zum weiteren Fortgang der Abrissarbeiten führte – aber unter Polizeischutz auf Straßen- und Hofseite des Gebäudes – kam ein junger Mann mit dem Fahrrad, lehnte es an den Bauzaun, nahm seine Geige aus dem Kasten und spielte auf der Straße vor dem zusammenbrechenden Haus getragene Musik, um auf seine Weise zu protestieren, und gleichzeitig von einem vertrauten Ort Abschied zu nehmen und
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dem Haus seine Ehrerbietung zu erweisen. Für mich eine tief bewegende Szene, welche ich nicht mehr vergessen werde.“ (Leserbrief von Volker Eckert in der Leipziger Volkszeitung vom 15.6.2005)
Die Anverwandlung der Leere in Wildnis Wo der Mensch sich zurückzieht, Häuser verlassen und Flächen stillgelegt werden, kann die Natur zurückkehren. Während noch diskutiert wird, wo das Geld für parkartige Wohnfolgelandschaften aufzutreiben ist, macht sich in den Städten längst Wildwuchs breit. Ohne Plan und Fördermittel erobert sich die Natur die Flächen, die der Mensch ihr einst abgerungen hat, überraschend schnell zurück. Bäume wachsen durch den Asphalt, es entstehen Biotope auf Gebäudedächern, Pflanzen keimen aus den Fassaden, es sprießt auf Trümmern und zwischen verlassenen Gleisanlagen. Mit unserer Vorstellung von gestalteter Kulturlandschaft und innerstädtischem Park hat der ungeregelte Prozess der Wiederaneignung der Stadt durch die Natur dabei wenig zu tun. Auch ist fraglich, ob diese Form des Einzugs der Natur in die Stadt dem Leitbild der „verlandschafteten Stadt“ (Hauser, Sieverts) entspricht, das im Rahmen des Zwischenstadtdiskurses geprägt wurde. Der wild wachsende urbane „Urwald“ hat keinerlei Ähnlichkeiten mit dem vorindustriellen Urwald und scheint ein Widerspruch in sich zu sein. In historischer Perspektive stehen sich Urwald und Stadt diametral gegenüber, die Entstehung der Stadt setzte einst die Zerstörung der bis dahin fast flächendeckenden Urwälder voraus. Obwohl das Phänomen der urban-industriellen Natur aus kulturellen Prozessen und unter Einschluss einer zumeist lange zurückliegenden Urwaldzerstörung resultiert, ist der unübersehbare Wildnischarakter urban-industrieller Wälder jedoch eindeutig als Urwald-Eigenschaft wahrnehmbar (Kowarik 2003). Die in die Stadt vordringende Natur wird von der Wildnisforschung nicht nur als ökologischer Prozess verstanden, sondern auch als ein soziales und kulturelles Experiment, das unser Verhältnis zur Natur in Frage stellt, und das Ökologen, Naturschützer, Landschaftsplaner, Umweltsoziologen, Psychologen, Pädagogen und Stadtplaner gleichermaßen interessiert. „Wildnis entsteht durch Verwilderungsprozesse und ist somit unabhängig von den Ausgangsbedingungen.“ (Brouns 2003) Einer der ersten Wissenschaftler, der die Eigenart urbaner Wildnis in Deutschland entdeckte und untersuchte, war der Ökologe Ingo Kowarik von der TU Berlin. Er versuchte, die Paradoxie gleichzeitiger Natürlichkeit und Kulturbedingtheit urbaner Wildnis mit einer Differenzierung des Natürlichkeitsbegriffes aufzulösen. In seinem Konzept der „vier Na-
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turen“34 beschreibt er grundlegende Unterschiede zwischen Naturarten, ohne dabei nach „echter“ und „unechter“ Natur zu suchen. Die urbane Wildnis fällt unter die Kategorie der „Natur der vierten Art:“ Hierunter werden „Naturausschnitte“ definiert, die sich durch das Zusammenspiel zwischen „künstlichem“ Standort und „natürlicher“ Entwicklung ergeben. Es bilden sich „neue“ ökologische Nischen, die zur Etablierung eines neuen Sippenspektrums und neuer Vegetationseinheiten in der industriellen Stadtlandschaft führen (Keil, Loos; 2003). Je nach Standortbedingungen, Sukzessionsstadien und Grad der Beeinträchtigung finden sich auf sich selbst überlassenen Flächen unterschiedliche Pionierwaldgesellschaften und Tierpopulationen ein. Die „Natur der vierten Art“ bezieht ihre ökologische Besonderheit und ihren naturschutzfachlichen Wert aus der ungewöhnlichen Verbindung von wilder Natur und Zivilisationsrelikten (Kowarik 2003). Die Wildnisforschung beschäftigt sich neben der Untersuchung dieser Spezifik vor allem mit der Frage, wie wir die „Natur der vierten Art“, also kulturbedingte Wildnis, in unserem unmittelbaren städtischen Lebensraum als positiv wahrnehmen lernen können. Denn es ist offensichtlich, dass für Stadtbewohner die Wildnis zwar als exotisches Reiseziel, als außerordentliche Eskapade oder als umzäuntes Ausstellungsstück Sehnsuchtspotenzial hat, das alltägliche, ungeplante, ungezähmte und ungepflegte Wachsen vor der eigenen Haustüre jedoch keinesfalls begrüßt wird. Das Wilde, die „Unordnung“ in der Natur, wird in Nationalparks und ausdrücklich designierten Wildnisgebieten akzeptiert, nicht aber in freier Entfaltung in der eigenen Nachbarschaft. Bis heute wird die Wildnis als Gegenpol zur gefahrlosen heimischen Kulturlandschaft wahrgenommen: Sie ist der Hort des Regellosen, des Unbehausten, des Anarchischen, der Dschungel, auch die Einöde. Die Wildnis gilt als herrenlos, gefährlich, katastrophal, sie ist die dunkle Seite dessen, was nicht beherrschbar ist (vgl. Meyer, von Lüpke; 2001). Die unkontrollierte Natur steht im Widerspruch zur romantisch-heiteren Fiktion einer unberührten, reinen, ursprünglichen Natur, die es nirgendwo auf der Welt mehr gibt und an der wir dennoch festhalten, auch wenn die unberechenbare Seite der von uns umgestalteten Umwelt uns in jüngster Zeit in 34 Ingo Kowarik definiert seine „vier Naturen“ folgendermaßen: Natur der ersten Art: Wälder, die der ursprünglichen Natur nahe kommen (vor dem Eingriff des Menschen). Natur der zweiten Art: Das breite Spektrum von Lebensräumen, die im Zuge historischer Landnutzung (Agrar- und Forstwirtschaft) entstanden sind. Natur der dritten Art: Ergebnisse der bewussten Pflege von Gärten und Grünanlagen. Natur der vierten Art: Naturausschnitte, die sich auf urban-industriellen Standorten entwickelt haben. Zwischen den Naturarten gibt es Übergänge und Verzahnungen (Kowarik, Körner, Poggendorf, Rebele; 2003). 191
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Form ökologischer Krisen und natürlicher Katastrophen in neuer Bedrohlichkeit entgegentritt. Das Selbstverständnis der Wildnisforschung beruht auf der Idee, dass unsere Kultur die Denkfigur des Wilden als ihren Gegenpol braucht und sie daher als Kulturgut vor dem Verloren-Gehen schützen muss. Sie braucht das radikal Wilde als Ressource des Geheimnisvollen und Unbegreiflichen, als Symbol der Unverfügbarkeit, ohne das die Welt seelenlos und untief würde (vgl. ebd.). Eine Auseinandersetzung mit der Wildnis berührt die gesellschaftliche Bereitschaft, Kontrolle abzugeben, Unsicherheit zuzulassen und nicht zu gestalten. Ihren kompromisslosesten Niederschlag findet die Idee der Überlassung in Wildnis im Prozessschutz, der als Teil einer reinen Naturschutzstrategie vorgestellt wird. Der Prozessschutz beruht im Wesentlichen auf dem Nicht-Eingreifen des Menschen in die natürlichen Prozesse von Ökosystemen und sucht die Distanz zwischen Mensch und (wilder) Natur um deren Schutz willen zu vergrößern. Wildnis als Kulturlandschaft: Überwachsene Relikte des Industriezeitalters auf dem Naturpark Schöneberger Südgelände
Eigenes Foto, 2008. Wegweisend für das Urbarmachen des Wilden für den Menschen sind Ansätze, die der latent vorhandenen Bedrohlichkeit von Wildnis mit ästhetischen und kommunikativen Mitteln begegnen. Sie zielen auf eine 192
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Veränderung der dominanten Wahrnehmung durch die Vermittlung der Wildnis als Erlebnis. Zu ihren Instrumente zählen das Anlegen von beschilderten Wegenetzen, naturkundlichen Schautafeln, die Verbindung von Wildnis mit freiraumkünstlerischen Eingriffen, Ausstellungen, pädagogischen Projekten und Veranstaltungen, welche die Wildnis als Erholungs- und Ausgleichsraum für den Menschen, als Naturerlebnis und Abenteuer inszenieren. So genannte „Wildnisprojekte“ wie das Südgelände oder das Gleisdreck in Berlin, der Sihlwald Zürich, der SaarUrwald Saarbrücken oder die Route der Industrienatur Nordrhein-Westfahlen zeichnen sich in der Regel aus durch eine dynamische Balance aus Erhalten und Verfallenlassen, aus Eingriff und Gewährenlassen und wollen die Belange des Naturschutzes, des Denkmalschutzes und der Bedürfnisse der Bewohner oder Besucher zugleich im Blick behalten. Als vorbildhaft für die ästhetisierende Vermittlung von Wildnis kann man die der „Route der Industriekultur“ angelehnte „Route der Industrienatur“ im Ruhrgebiet betrachten. Sie ist die Zusammenfassung von Ankerpunkten interessanter Sukzessionsflächen zu einem radtouristischen Netz, die unter gemeinsamem Namen, einheitlich gestalteten Broschüren und einer thematisch verknüpften Wissensvermittlung den Blick der Besucher für die „besondere Ästhetik“ der Industrienatur in Verbindung mit dem sozialgeschichtlichen Hintergrund ihrer Entstehung schärft. Beispielgebend für die Wildnisvermittlung ist das plakative Unterlegen der Informationsbroschüren35 mit einer Rhetorik, die an den Entdeckergeist und an das sinnliche Erleben appelliert. Landschaften, in denen man bisher Kloaken, Abraumhalden, Trümmerfelder, Absetzfelder, Industrieruinen und Deponien zu sehen geneigt war, sind in Wahrheit wertvolle Biotope! Sensibilisiert man seine Sicht auf die verbrauchten Areale, so wird es möglich, in ihnen bekannte und als „schön“ kanonisierte Landschaftsbilder wie Wüste, Meer, Strand, Moor, Dschungel, Steppe, Gebirge, Canyons und sogar die Mondlandschaft zu erkennen. Wildnis als aufklärerisches Projekt kann man auch im „SaarUrwald“, dem „Urwald vor den Toren der Stadt“ im Norden Saarbrückens erleben, wo man sich in einer „Wildnisakademie“ zu Themen wie „Wildnis und Kunst“ oder „Urwald macht Schule“ beschäftigen kann. Es besteht weiterhin die Möglichkeit, an einem „Wildniscamp“ teilzunehmen, das aus einem zweitägigen Aufenthalt mit Übernachtung und einem „wildnispädagogischen Programm“ inklusive der Versorgung mit Mahlzeiten aus kontrolliert (!) biologischem Anbau besteht.
35 Herausgeber: Kommunalverband Ruhrgebiet, 2000. 193
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Der Charakter von Wildnis als prozessual, selbsttätig und sich aus der Logik natürlicher Kreisläufe rechtfertigend sowie die Vorstellung, dass die „Natur“ schlauer ist als wir, macht sie zu einem Leitbild für die Umgestaltung von verbrauchten (Stadt-)Landschaftsräumen.36 Anders als „vor den Toren der Stadt“ hat es die frei entfaltende Natur im innerstädtischen Kontext jedoch ungleich schwerer. Innerstädtische Wildnisprojekte gehen eine schwierige Gratwanderung zwischen Laisser-faire und extremer Kontrolle natürlicher Prozesse. Denn das Erkennen des Wertes und der Schutzwürdigkeit des „Wilden“ zieht unweigerlich eingreifende Maßnahmen nach sich, die das „Ungehinderte“ und „Ungestörte“ natürlicher Entwicklung wieder menschlichem Willen unterordnen. So wird beispielsweise auf dem Berliner Südgelände der Besucherverkehr stark gelenkt und beschränkt, die Wiesenlandschaft wird regelmäßig gemäht, um die natürliche Sukzession des Ruderalbewuchses zu verhindern.37 Der kleine Teil des Parks auf dem Gleisdreieck,38 den die Bürgerinitiative Gleichdreieck der Berliner Stadtverwaltung in zäher Auseinandersetzung abringen konnte und der als „Wildwuchsfläche“ im Herbst 2007 fertiggestellt wurde, unterliegt klaren Restriktionen, die einem freien Entdecken entgegenstehen. Die bis zur Eröffnung des Parks im Herbst 2007 weitgehend sich selbst überlassene Freifläche ist nun mit einem Zaun eingefriedet und mit Fußgängerstegen „gesichert“ worden. Eine außerordentlich große Dichte von Hinweisschildern die „den Besucher für die ökologisch wertvolle Natur der Stadt sensibilisieren sollen“39 nehmen dem kleinen Areal bemerkenswerterweise genau den Zauber, auf den sie eigentlich hinweisen wollten.
36 Trotz einiger erfolgreicher Beispielprojekte ist Wildnis als Naturalisierungskonzept für den ländlichen Raum höchst umstritten, wie die Veröffentlichung einer vom Brandenburgischen Landtag in Auftrag gegeben Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung im September 2007 zeigte. In der Studie empfahlen Experten eine Umwidmung entleerter Räume in ein „Naturerlebnisgebiet Wildnis,“ um das Land von den Kosten für den Erhalt der Infrastruktur zu entlasten. Der Vorschlag sorgte für große Entrüstung in allen politischen Lagern. Quelle: http:// www.dielinke-brandenburg.de/politik///welt.de, 11.9.2007; Zugriff am 18.11.2007. 37 http://www.bi-suedgelände.de; Zugriff am 30.10.2007. 38 Entwurf Atelier Liodl, Berlin, 2007. Der Park auf dem Gleisdreieck befindet sich auf ehemaligen Bahnflächen unweit des Potsdamer Platzes in Berlin, die seit 1952 ungenutzt sind und ursprünglich als Vorhaltefläche für die innerstädtische Verdichtung Berlins gedacht waren. 39 Aus dem Erläuterungsbericht Atelier Loidl: Park auf dem Gleisdreieck, 1. Realisierungsstufe, Stand 14.9.2007; 29. Quelle: http://www.berlin-gleis dreick.de, Zugriff am 14.12.2007. 194
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Hinweisschilder auf ein kleines Wildnisgebiet am Gleisdreieck in BerlinKreuzberg. Die längst etablierte Wildnis in der Stadt wird nachträglich sanktioniert und kontrolliert, die Hinweise beschildern die Gefahr Wildnis.
Eigenes Foto, Januar 2008. Es bleibt zu befürchten, dass den gesellschaftlichen Vorbehalten gegenüber dem Eindringen der wilden Natur in die Stadt auch mit geschickten Aufklärungskampagnen nicht endgültig beizukommen ist. Zu tief verwurzelt liegt die menschliche Angst vor „der Welt ohne uns“40, in der unser kleiner zivilisatorischer Schutzmantel von den übermächtigen Kräften der Natur hinweggefegt wird. Daher wäre es vielleicht naheliegender, anstelle der Wildnis für die Anverwandlung leerer Räume in strukturschwachen Städten das Leitbild eines Gartens zu entwerfen. Der Garten ist traditionell ein umfriedetes, geschütztes Stück Land. Er ist eine Art Schnittpunkt zwischen dem privaten Raum einer Stadt und der Freifläche. Der Garten ist eine Kulturlandschaftsform, welche die natürlichen Prozesse des Werdens und Vergehens in sich aufnimmt, in der die kultivierende Hand des Menschen aber eine mehr oder weniger ausgeprägte Kontrolle behält. Traditionell wird der Garten als Lebensraum und als Möglichkeit der Selbstversorgung gerade von Menschen, deren Neigung oder Möglichkeit zu Mobilität und Flexibilität wenig ausge40 „Die Welt ohne uns: Reise über eine unbevölkerte Erde“ ist der Titel eines im Jahr 2007 veröffentlichten Buches von Alan Weisman, in dem der Autor fiktiv beschreibt, auf welche Weise die Natur unsere Lebensräume nach unserem Verschwinden wieder in Besitz nehmen wird. 195
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prägt ist, hoch geschätzt. Gerade in halbverlassenen Städten und Dörfern schrumpfender Regionen lässt sich beobachten, dass die Bevölkerung ihre Gärten mit großer Sorgfalt und Wertschätzung pflegt. Der Garten könnte auch als Element eines städtebaulichen Leitbildes, das sich an der Gartenstadt orientiert, taugen, denn er ist der Sehnsuchtsfaktor, der die Stadtbewohner an den Stadtrand getrieben hat und der sie folglich auch zurücklocken kann. Dabei müsste der Garten nicht notwendigerweise in der vertrauten Typologie als grüner Abstandshalter um das Einfamilienhaus auftreten: Bekannt sind beispielsweise die Mietergärten in hochverdichteten Wohnanlagen in Holland, wo einzelnen Geschosswohnungen bestimmte Gartenparzellen auf der ansonsten öffentlichen und zur Wohnanlage gehörenden Grünfläche zur individuellen Kultivierung zugeordnet wurden. Ebenfalls inspirierendes Vorbild ist das Modell der Gemeinschafts- oder Nachbarschaftsgärten, das die Nachfrage nach Grünflächen in dicht besiedelten Wohnvierteln befriedigen kann, oder der „Internationalen Gärten“ oder „Interkulturellen Gärten“.41 Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Menge anfallender Brachgrundstücke in der Stadt neue Ausprägungen urbaner Gärten unter bürgerschaftlicher Mitwirkung hervorbringen wird.
Ab w a r t e n u n d L i e g e n l a s s e n Neben den Verfahren der Ausgliederung und solchen der Rückgewinnung werden im Kontext der vom Strukturwandel betroffenen Städte verschiedene Wartestrategien diskutiert und praktiziert. Die trotz der Erfolge des Programms Stadtumbau Ost nicht verstummende Kritik an den Abrissen, aber auch die allmählich dämmernde Einsicht, den perspektivisch anfallenden Leerstand weder durch Vernichtung noch durch ein wie auch immer geartetes Recycling absehbar bewältigen zu können, legt die Frage nach einer sinnvollen Alternative zwischen „weg damit“ und „neu nutzen“ nahe. Dabei geht es um Strategien des Nichts-mit41 Ein „Internationaler Garten“ ist häufig ein Selbsthilfe-Zusammenschluss von Flüchtlings-, Migranten- oder deutschen Familien, die auf brachliegenden Flächen gemeinsam gärtnern. Die kultivierte Fläche bietet außerdem einen Ort für Feste, Begegnungen, Austausch und gegenseitige Hilfe. Ein „Internationaler Garten“ bietet Benachteiligten die Gelegenheit einer produktiven Arbeit und kann eine große soziale und integrative Funktion erfüllen. Als halböffentlicher Raum ist diese Gartenform entstanden aus Bedürftigkeit und der Notwendigkeit des Self-empowerments, sein Erfolg weist auf eine niedrigschwellige Möglichkeit hin, eine freie, leere Fläche in einen belebten sozialen und kultivierten Raum zu verwandeln. Quelle: http://www.internationale-gaerten.de, Zugriff am 5.2.2008. 196
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langfristiger-Gültigkeit-Tun einerseits, also um temporäre Interventionen und Zwischennutzungen verschiedener Art, die unter der Überschrift „Anverwandlung“ bereits reflektiert wurden, und um Strategien des Nichts- oder Fast-Nichts-Tuns andererseits, also um das Stilllegen und Sich-Selbst-Überlassen von Gebäuden und Flächen.
Wartestrategien Die fehlende Nachfrage und die häufigen problematischen Voraussetzungen für eine sinnvolle Nach- oder Wiedernutzung haben zur Folge, dass nicht aktive und zugängliche, sondern abgesperrte und in Dämmerschlaf versunkene Gebäude ein ubiquitärer und alltäglicher Anblick in Stadtumbaustädten sind. Für viele nicht mehr gebrauchte Immobilien (insbesondere vor der Zeit der staatlichen Subvention von Abriss) ist die gebräuchliche Praxis das einfache Zusperren und Liegenlassen. Offiziell wird die dauerhafte Stilllegung von Wohngebäuden und Wohnungen als nennenswerte Alternative zu Abriss oder Neunutzung allerdings kaum diskutiert.42 Trotz wiederholter prominenter Forderungen nicht erst in der jüngsten Phase des Strukturwandels, die Hände von bestimmten Arealen zu lassen und diese stattdessen lieber ruhig zu stellen (Kil, Ganser, et. al.), und trotz der bereits erwähnten positiven Erfahrungen im Umgang mit sich selbst überlassenen Flächen gibt es wenig publizierte Fälle von strategisch ausdrücklich beschlossenen und planerisch begleiteten Stilllegungen von Wohngebäuden im Stadtumbau. Dies mag an der gegenwärtigen Förderstruktur liegen, die einseitig den Abriss von Gebäuden subventioniert, nicht aber Maßnahmen, welche die Sicherung dauerhaft stillgelegter Gebäude unterstützen; Notdächer, Stützkonstruktionen, Heizkosten43 oder aber der Ausbau der gesamten Haustechnik und andere Sicherungsmaßnahmen belasten allein und meist auf unabsehbare Zeit den Eigentümer. Möglicherweise ist es aber auch dem politischen Klima in den Jahren seit der Jahrtausendwende geschuldet, das eher nach schnellen und sichtbaren Ergebnissen denn nach Geduld und langfristiger Planung verlangt, dass das Vorhalten einer Ressource für eine unbekannte Zukunft wenig gesellschaftspolitischen Rückhalt findet. Das Fehlen entsprechender Fördermittel, Erfahrungen und Akzeptanz 42 Diese Aussage bezieht sich auf die im Jahr 2006 unter den am Programm Stadtumbau Ost teilnehmenden Kommunen vorgenommene Befragung, der zufolge etwa zwei Drittel der Stadtumbaukommunen Stillegungen nicht in Erwägung ziehen (BMVBS/BBR 2007, 43). 43 Um Gebäudeschäden zu vermeiden, müssen leerstehende Gebäude auf eine Mindestinnentemperatur von fünf Grad Celsius aufgeheizt werden (Deilmann, Gruhler, Böhm 2005; 90/91). 197
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hat zur Folge, dass langfristig ungenutzte Gebäude in der Regel ihrem allmählichen Verfall entgegendämmern und früher oder später abgerissen werden müssen. Eine der wenigen umgesetzten und publizierten Ausnahmen zu diesem Trend bildet beispielsweise der Umbau des Wohngebietes „Reichenbacher Berg“ in Guben, bei dem neben Abriss und punktuellem Teilrückbau im Jahr 2005 auch erstmals eine dauerhafte Stillegung von Gebäudeteilen erprobt wurde: In einem fünfgeschossigen Wohnblock mit sechs Aufgängen wurde das oberste Geschoss komplett stillgelegt, im vierten Obergeschoss richtete die Wohnungsgesellschaft Abstellräume ein, die als „Keller unter dem Dach“ zusätzlich Stauraum für die Bewohner bieten. Die Stilllegung wurde durch das Anbringen großflächiger Verblendungselemente an den Fenstern nach außen sichtbar gemacht. Diese Form der partiellen Stilllegung wird nicht nur als Aufwertungsstrategie für das Umfeld vorgestellt, sondern ist offenbar auch eine kostengünstige Alternative zu Abriss und dem sehr teuren geschossweisen Teilrückbau, sie erlaubt das Vorhalten von Räumen für Zeiten veränderter Nachfrage, die dann problemlos reaktiviert werden können (BMVBS/BBR 2007, 43). Die Idee des Liegenlassens von Gebäuden, vor allem solcher, die städtebaulich und denkmalpflegerisch für den Stadterhalt bedeutsam sind, beinhaltet auch das 2005 aufgelegte Gebäudesicherungsprogramm in Leipzig.44 Hier geht es um Sicherung und Rettung von besonders wertvoll erachteter Gebäude des letzten Viertels unsanierter Gründerzeitbauten der Stadt und die Überbrückung der Zeit, in denen diese Gebäude weder durch normale Fördermaßnahmen noch durch konventionelle Investitionen erhalten werden können. Mit außerordentlichen Fördermitteln werden die notwendigsten Sanierungen durchgeführt, um Verkehrssicherheit der Gebäude zu gewährleisten und sie vor weiterem Verfall zu schützen. Eine ausdrücklich städtebauliche Motivation beinhaltet das Projekt „Wächterhäuser“ des Vereins „Haushalten e. V.“45 in Leipzig: seit dem Jahr 2004 vermittelt der Verein leerstehende Gründerzeithäuser an „Wächter“ gegen Zahlung der Nebenkosten, um diese vor Verfall, Vandalismus und Abriss zu schützen. Bei den Objekten handelt es sich um Gebäude in städtebaulich markanten Lagen, 44 Im Rahmen des Leipziger Gebäudesicherungsprogramms wurden im Jahre 2005 eine Liste mit 20 prioritär erhaltenswerten Gebäuden verfasst. 2006 wurde eine Gebäudesicherungsliste mit 37 Gebäuden fortgeschrieben, die in den Jahren 2007/8 abgearbeitet werden soll. Innerhalb des Programms wird die Sanierung mit Eigenmittel der Stadt Leipzig bezuschusst, um zusätzlich Fördermittel aus dem Bund-Länder-Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ zu erhalten. Quelle: http://www.leipzig.de/de/buerger/ stadtentw/projekte/erneuerung/gebaeude/; Zugriff am 18.10.2007. 45 Quelle: http://www.haushalten-leipzig.de; Zugriff am 18.10.2007. 198
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die jedoch in der aktuellen Wohnungsmarktsituation kaum Verwertungschancen haben. Mit dem Konzept „Hauserhalt durch Nutzung“ sollen diese gesichert werden, dafür übernimmt der Verein die Koordination der notwendigen Vertragsabschlüsse, hilft bei der Beantragung von Fördergeldern und unterstützt im Hinblick auf Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten. Ein Gebäude wird für mindestens fünf Jahre übergeben und maximal bis der Eigentümer eine Chance auf marktwirtschaftliche Verwertung sieht. Ähnlich wie in dem Beispiel aus Guben werden auch hier die „bewachten“ Häuser mit gelben Bannern, welche die Aufschrift „Wächterhaus“ tragen, im öffentlichen Raum kenntlich gemacht.
Entwürfe und Projekte zur Stilllegung von Gebäuden Eine weiterführende Ausformulierung der Idee, Areale und Gebäude nicht nur vorübergehend, sondern als Dauerzustand unbekannter Länge ruhig zu stellen und dieses Ruhigstellen zum Teil einer übergreifenden städtebaulichen Strategie zu machen, findet sich – wenig überraschend – bisher hauptsächlich in unrealisierten Entwürfen und Kunstprojekten: So wenden sich beispielsweise die Autoren des Beitrags „Sleeping Beauty – Dornröschen“ im Wettbewerb „Shrinking Cities“ im Jahr 2004 (Gesine Jensen, Susanne Lux, Ingo Pucci, Christian Rappel, Markus Stempl) gegen die Verstümmelung und Enthistorisierung der Städte durch Abriss und plädieren stattdessen für die „latente Stadt“. Einige simple urbane „Spielregeln“ anstelle komplizierter Entwicklungsinstrumente sollen es in diesem Entwurf ermöglichen, dem Schrumpfungsprozess dialogisch zu begegnen: Es gilt der Grundsatz des Volumenerhalts der Stadt, d. h. es werden weder Neubauten noch Abrisse genehmigt, sondern nur Umbaumaßnahmen und so genannte „Einnistungen“ im Bestand. Verlassene und unbrauchbare Gebäude werden erhalten, kenntlich gemacht und in ein „künstliches Koma“ versetzt. Intakte und genutzte Gebäude werden nicht angetastet. Die komatös schlummernden Gebäude und Strukturen werden nach der Vorstellung der Entwurfsautoren „der Natur zugeordnet“ und für einen selbsttätigen Naturierungs- und Verwilderungsprozess freigegeben. Dennoch soll ihr physisches Volumen weiterhin im Stadtraum erkennbar bleiben. Es werden zwei vorstellbare Szenarien angeboten: einmal unter der Bedingung des unaufhaltsamen Bevölkerungsrückganges die vollständige, schrittweise erfolgende Anästhesierung der Stadt, das andere Mal die permanente Transformation und Anpassung ihrer Gestalt bei sich stabilisierenden Bevölkerungszahlen. Das Projekt ignoriert großzügig die Komplexität baurechtlicher und bautechnischer Fragestellungen, gleichwohl, seine Stärke liegt nicht in unmittelbarer Umsetzbarkeit und Reali199
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tätsnähe, sondern in dem Entwurf eines ebenso einfachen wie starken Bildes: Nicht trotz, sondern gerade wegen der ungewissen Zukunft der Stadt kann das Liegenlassen und Bewahren ihrer Teile eine Alternative zum Abriss sein. Inaktive Teile der Stadt werden nicht entfernt, sondern in den Zustand der Latenz versetzt, in dem sie als Abdruck und Erinnerung einerseits, als innewohnende Möglichkeit andererseits weiterhin existieren. Einen ähnlichen Ansatz beschreiben die Autoren Philipp Oswalt und Klaus Overmeyer in ihrer vom Bauhaus Dessau in Auftrag gegebene Studie „Weniger ist Mehr“ (2002) mit dem Werkzeug „Einfrieren“, das eine „Überwinterung“ vorübergehend nicht mehr benötigter Gebäude ermöglichen soll. Der Überwuchs von stillgelegten Gebäuden ist bei ihnen nur ein Bildangebot von mehreren Möglichkeiten, ruhende Gebäude mit einer positiven Gestaltungsmaßnahme in den Stadtraum einzubinden. Wichtig für einen positiven Eindruck der Fassaden ist in diesem Entwurf ihre Nutzbarkeit und optische Veränderbarkeit (Kletterwände, Projektionen etc.) so dass die Hülle des Gebäudes aktiv bleibt, während das Gebäudeinnere passiv wird (Oswalt, Overmeyer 2002; 4243). Ebenfalls nach einem „dritten Weg“ zwischen Revitalisierungsbestrebungen und Abriss sucht der Entwurf „Einmauern. Und Luftholen“ von Peter Arlt und „letzelfreivogelarchitekten“, Halle 2004/2005. Der Entwurf schlägt vor, urbane Gebiete, die auf unabsehbare Zeit brach liegen bleiben werden, einschließlich der darauf befindlichen Gebäude mit einer hohen Mauer ohne Zugänge zu umschließen und so aus dem aktiven Stadtgewebe herauszuschneiden. Die Mauer ist mit keinem „angestrebten Planungsziel und damit keiner festgelegten Existenzdauer“ verbunden.46 Auf diese Weise wird die negative Seite der leerstehenden Areale der öffentlichen Wahrnehmung entzogen, den visuellen Auflösungstendenzen der schrumpfenden Stadt begegnet und zudem ein ökologischer Mehrwert durch das Schaffen ungestörter Areale erzeugt. Entscheidend für die Entwurfsverfasser ist jedoch nicht nur das Aus-demSinn-Nehmen des Verwahrlosenden, sondern das Schaffen „stiller Gründe“ für das Erinnerungsbedürfnis und die Imagination der Stadtbewohner. Die Stadt besteht in den Köpfen der Menschen fort, sie wird um geheimnisvolle Areale angereichert, die sich dem aktiven Zugriff entzie-
46 Quelle: Oswalt (Hrsg.): Schrumpfende Städte Band 2, 2005; 222-223. Die erste Fassung des Entwurfs 2001 unter dem Titel „Stille Gründe“ wurde gemeinsam mit Tom Hobusch, André Schmid und Dirk Stenzel entwickelt. Das Projekt wurde im Rahmen von Schrumpfende Städte im Auftrag der Stiftung Bauhaus weiterentwickelt. 200
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hen. Die eingemauerten Zonen sind räumliche wie zeitliche Pufferbereiche, die dem Abwarten und Liegenlassen einen Rahmen geben. Lageplan zum Entwurf „Einmauern. Und Luftholen“ von Peter Arlt und „letzelfreivogelarchitekten“, Halle. 2004. Durch Einmauern werden brachgefallene Räume in der Stadt der Wahrnehmung entzogen.
Quelle: Oswalt (Hrsg.): Schrumpfende Städte Band 2, 2005; 223. Welche Wirkung das Einmauern der Leere auf die Wahrnehmung der Stadt haben kann, wird an dem Projekt „Rote Türen“, das im Rahmen der IBA Stadtumbau im Jahre 2007 in Eisleben47 realisiert wurde, deutlich. Hierbei handelt es sich nicht um das ansonsten übliche Aufstellen von Bauzäunen und Verbrettern etwaiger Öffnungen im Gebäude, sondern um die Errichtung sauber verputzter Mauern um eine Reihe leerstehender und zum Verkauf angebotener Grundstücke, die mit einer roten Tür versehen auf ihr Entwicklungspotenzial aufmerksam machen sollen. Die freien Flächen werden in einer ästhetisch aufwertenden Manier markiert und im Stadtraum sichtbar gemacht, „die dahinter liegende Leere wird durch die Türen aushaltbar gemacht“ (Kil, 200748). Die sorgfältige Ummauerung und die roten Türen sind ein Instrument zur angestrebten Vermarktung der freien Flächen, sie geben dem, was ohnehin Tatsache ist, Gestalt und Lesbarkeit. Sie sind aber auch als 47 Quelle: http://www.lutherstadtumbau.de; Zugriff 7.11.2007. 48 Im persönlichen Gespräch, November 2007. 201
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symbolische „Rosenhecke“ zu lesen, die den Schlaf des metaphorischen Dornröschens schützt, bis der geeignete „Prinz“ erscheint, durch die rote Tür zu treten. Die Herausnahme einer Fläche aus dem Zusammenhang der Bewirtschaftung wird auch von dem Kunstprojekt „Die Weisse Zone“ thematisiert. „Die Weisse Zone“ ist eine Aktion des deutsch-polnischen Künstlers Michael Kurzwelly, die im Rahmen des Widerstandes mehrerer lokaler Bürgerinitiativen gegen die Pläne der Bundesregierung, das ca. 140 qkm große Sperrgebiet der Kyritz-Wittstock-Ruppiner Heide in der Prignitz (ca. 100 km nördlich von Berlin) in einen Übungsplatz für den modernen Bombenkrieg zu verwandeln, konzipiert wurde. Wanderführer zur „Weissen Zone“ in der Prignitz. Kunstprojekt von Michael Kurzwelly.
Herausgeber: artrans travel guides, 2006. Unter fiktiver Vorwegnahme einer möglichen Zukunft erklärt Kurzwelly das Wald- und Heidegebiet im Ruppiner Land kurzerhand zur „Weissen Zone“, ein Gebiet, das von Menschen nicht mehr betreten werden darf und ganz sich selber überlassen bleibt. Die „Weisse Zone“ ist fortan lediglich noch zu umwandern, der Weg um sie herum wurde von Kurzwelly mit weißen Informationstafeln gekennzeichnet. Dazu ist ein Wan-
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derführer49 erhältlich, der praktische Hinweise ebenso wie eine philosophische Begleitung für die „Wanderung um das Ungewisse“ enthält. Hier einige Auszüge aus dem Wanderführer: „Waren Sie schon in der Zone? Geht auch nicht mehr. Aber Sie können drum herum wandern.“ „Heute weiß keiner mehr so genau, wie es in der Weissen Zone aussieht, das ganze Gelände ist in einen Dornröschenschlaf gefallen, aus dem es bisher niemand erweckte.“ „Nach dem Motto ,weniger ist mehr‘ wurde eine Gesamtfläche von etwa 140 Quadratkilometern aus der Landkarte entfernt und darf von Menschen nicht mehr betreten werden.“ „Die ,Weisse Zone‘ ist ein groß angelegtes Experiment, das unsere bisherige Wahrnehmung von Raum, Zeit, uns selbst und unserer Rolle zwischen Leben und Tod befragt. Packen Sie einen Notizblock und einen Stift ein und nehmen Sie sich die Zeit, plötzlich auftauchende Gedanken, Bilder, Geräusche oder Gerüche zu notieren. Während Sie die ,Weisse Zone‘ umwandern, wandern Sie gleichzeitig in sich selbst hinein. Außen und innen werden miteinander verschmelzen. Es wird gar nicht mehr nötig sein, die ,Weisse Zone‘ physisch zu betreten, denn Sie werden paradoxerweise auf Ihrem Weg um die Zone mittendrin sein.“
Kurzwelly antwortet auf die ungeklärte Zukunft der Ruppiner Heide mit einem Gedankenexperiment: Bereits das Imaginieren der Unmöglichkeit, die „Weisse Zone“ zu betreten, lässt eine neue Realität in den Köpfen der Betrachter entstehen, die etablierte Wahrnehmungsmuster und ihre Begrenzungen in Frage stellt. Die „Weisse Zone“ ist ein Balanceakt auf der instabilen Grenze zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, sie gibt dem zeitlichen und räumlichen Bereich zwischen der alten, überholten Ordnung und einer neuen, noch unbekannten Ordnung einen eigenen Raum, in dem die Abwesenheit von Gewissheit zum Prinzip erhoben wird.
49 Michael Kurzwelly und Kunst und Kultur für eine freie Heide e.V. (Hrsg.) Wanderführer um die Weiße Zone. arttrans travel guides; Erstauflage 2006. 203
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Das Dornröschenprinzip Die inhaltliche Verwandtschaft der vorgestellten Projekte besteht in der Suche nach einem Ausweg angesichts der Ideen- und Ratlosigkeit zwischen Abriss und Neu- oder Umbau. Sie alle erkunden mögliche Spielarten einer Wartestrategie, die ich im Folgenden unter dem Arbeitstitel „Das Dornröschenprinzip“ reflektieren und weiterentwickeln möchte. Unter dem „Dornröschenprinzip“ verstehe ich einen grundsätzlichen Ansatz, Gebäude oder Räume auf unbestimmte Zeit „in den Schlaf zu versetzen“, um sie vorzuhalten und zugleich vor Abriss oder Zerstörung zu schützen. Das Märchen von Dornröschen nach den Gebrüdern Grimm sei hier noch einmal in Erinnerung gerufen: „Vor Zeiten waren ein König und eine Königin, die sich ein Kind wünschten. Als nach langem Warten endlich eine Tochter geboren wurde, lud der König aus Freude darüber seine Untertanen zu einem Fest, darunter auch die zwölf weisen Frauen, damit sie dem Kinde ihren Segenswunsch aussprächen. Die dreizehnte Frau, die aus Mangel an Geschirr nicht zur Taufe der neugeborenen Königstochter eingeladen worden war, belegte aber das Mädchen aus Rache mit einem Fluch, dass es sich an seinem fünfzehnten Geburtstag an einer Spindel stechen und daran sterben solle. Die letzte der zwölf übrigen Frauen, die an dem Fest teilnehmen durften, hatte ihren Segenswunsch noch frei und wandelte den Todesfluch in einen hundertjährigen tiefen Schlaf um. Der König, der sein Kind vor dem Unglück bewahren wollte, ließ daraufhin alle Spindeln im Königreich verbrennen. Es geschah, dass an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren, und das Mädchen ganz allein im Schloss zurückblieb. Beim Umherstreifen entdeckte es ein Turmzimmer, in dem eine alte Frau beim Spinnen saß. Die Prinzessin wollte das Spinnen auch einmal versuchen und stach sich mit der Spindel in den Finger. In diesem Augenblicke ging der Zauberspruch in Erfüllung und sie fiel gemeinsam mit dem gesamten Hofstaat in einen tiefen Schlaf. Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward, und schließlich das ganze Schloss umzog. Es ging die Sage durch das Land von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt, so dass von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloss dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen hielten sie fest und die Jünglinge blieben darin hängen und starben eines jämmerlichen Todes. Nach langen Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das Land, der von der wunderschönen schlafenden Königstochter gehört hatte und der sich in seinem Wunsche, sie zu sehen, nicht abbringen ließ. Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der 204
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Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Es gelang dem Prinzen, in das Schloss einzudringen und die Königstochter wach zu küssen, woraufhin auch der Schlaf des Hofstaats beendet war. Dornröschen und der Prinz heirateten und lebten vergnügt bis ans Ende ihrer Tage.“
Soweit das bekannte Märchen, dessen zauberhafte Züge uns hier weniger als wörtlich zu nehmendes „Modell“ denn als Inspiration zur Entwicklung einer realisierbaren Strategie des Abwartens dienen sollen. Die wichtigsten Gedanken einer Wartestrategie, die sich an dem Grundmotiv von Dornröschen orientiert, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
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Das Königskind: Gebäude oder Flächen, für die auf absehbare Zeit keine realisierbare oder wünschenswerte Nutzung mehr gefunden werden kann, die aber aus städtebaulichen, denkmalpflegerischen oder anderen Gründen erhalten bleiben sollen, werden als Alternative zu spekulativer Sanierung oder aber Verfall und Abriss „in den Schlaf“ versetzt. Der hundertjährige Schlaf: Ein Gebäude in den „Schlaf zu versetzen“ bedeutet, es mit den erforderlichen Maßnahmen vor vermeidbaren Gebäudeschäden und Vandalismus zu sichern und es vom Immobilienmarkt zu nehmen. Durch den Status des „Dornröschenschlafes“ wird ein Gebäude oder eine Fläche auf unbestimmte Zeit dem Zugriff von Nutzungsinteressenten und Neugierigen entzogen. Eigentümer und Verantwortliche werden ihrerseits von bestimmten Pflichten entlastet. Die Dornenhecke: Das „In-den-Schlaf-Versetzen“ unterscheidet sich von gewöhnlichen Stilllegungen durch eine begleitende Schutz- und Kommunikationsstrategie. Der Prinz: Das „Dornröschenprinzip“ sieht vor, dass ein „schlafendes Gebäude“ wiedererweckt werden kann. Es ist Teil der Anwendung des Prinzips, festzulegen, unter welchen Rahmenbedingungen die Reaktivierung möglich werden kann. Die übrige Bevölkerung: „Dornröschenräume“ bleiben physisch im Stadtraum präsent und der Erinnerung oder der Imagination der Bewohner verfügbar.
Das Stilllegen und Liegenlassen im Sinne des „Dornröschenprinzips“ ist eine Art des Nicht-Handelns, das keinesfalls mit Untätigkeit zu verwechseln ist. Vielmehr erfordert es ein besonders sorgfältiges Tätigwerden, um ein Gebäude in den „Dornröschenschlaf“ zu versetzen und den Schlaf von solchermaßen stillgelegten Gebäuden zu schützen. Dieses Tätigwerden ist anderer Natur als die bekannten Anstrengungen, die 205
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unternommen werden, um leerstehende Gebäude oder Flächen möglichst schnell wiederzubeleben, umzuwandeln oder zu vernichten. Die Idee des „Dornröschenprinzips“ beinhaltet, dass der zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandene Raumüberschuss einer Stadt nicht in Gänze zu Markte (und sei es nur der Markt der zwischenzeitlichen, „kreativen Bespielung“) getragen wird, sondern teilweise sozusagen auf Halde gelegt wird, von der er in Zeiten des Bedarfs oder veränderter Wertmaßstäbe wieder hervorgeholt werden kann. Das „Dornröschenprinzip“ ist ein Konzept zur Bewahrung von Gebäuden und Flächen, denen ein besonderer städtebaulicher oder baukultureller Wert zugemessen wird. Die Kriterien, nach denen sich dieser Wert bemisst, müssen dabei nicht deckungsgleich mit den Kriterien des Denkmalschutzes oder Ensembleschutzes sein, sondern können diese erweitern oder modifizieren. Bei potenziellen „Dornröschenräumen“ handelt es sich also gewissermaßen um gewählte „Königskinder“, von denen es eine ganze Anzahl in einer Stadt geben kann. Das „Dornröschenprinzip“ ist grundsätzlich eine Handlungsstrategie für jeden Eigentümer, der seine Immobilie für spätere Zeiten sichern und bewahren möchte. Da Architektur aber niemals dem Eigentümer alleine „gehört“, sondern als „öffentliche Kunst“ und Teil des gemeinschaftlich geteilten Lebensraumes immer auch kollektives kulturelles Erbe, also zumindest ideell Gemeingut ist, und da außerdem der langfristige Erhalt von ungenutzten Gebäuden mit hohen Kosten verbunden ist, berührt auch der Erhalt wertvoller Gebäudesubstanz auch nicht nur das Interesse Einzelner, sondern das der Gemeinschaft. Dementsprechend ist es nur folgerichtig, dass das Modell des „Dornröschenprinzips“ vorsieht, den Eigentümer ähnlich wie bei dem Modell der „Gestattungsvereinbarung“ zur Überlassung von leerstehenden Grundstücken von bestimmten Pflichten zu entlasten und diese auf die Schultern der Gemeinschaft zu verlagern. Denkbar sind beispielsweise der Erlass von Grundsteuer und die Übernahme der Unterhaltungspflege und Verkehrssicherungspflicht durch die Kommune, die im Gegenzug dafür weitergehende Mitbestimmungsrechte im Hinblick auf die zukünftige Nutzung und Gestaltung der Immobilie erhält. Der Eigentümer verzichtet für die Dauer des „Dornröschenschlafes“ mit seinen Pflichten auch auf seine Rechte, wobei der rechtliche Status der Immobilie grundsätzlich erhalten bleibt. Zur Regelung dieses komplexen Modells aus Geben und Nehmen ist ein Vertragswerk zu entwickeln, das für beide Seiten Sicherheit schafft und möglichen Konflikten vorbeugt. Dieser Vertrag sollte zum Beispiel auch eine Art „Laufzeit“ des Dornröschenschlafes eines Gebäudes festlegen, nach dessen Ablauf die Voraussetzungen der Stilllegung auf ihre Gültigkeit überprüft werden und der Vertrag entsprechend aufgehoben 206
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oder aber verlängert wird. Außerdem sollten in ihm die Möglichkeiten und Modalitäten einer außerordentlichen Kündigung des Vertrages, also der vorzeitigen Beendigung des „Dornröschenschlafes“ niedergeschrieben werden. Entscheidend für die Umsetzung des „Dornröschenprinzips“ ist es, dass die Stilllegung eines Gebäudes nicht als ein „böser Zauber“, also als erzwungener Tod wahrgenommen wird, sondern bereits als dessen positive „Umwandlung“ in einen zwar lang andauernden, aber nichtsdestoweniger friedlichen Schlaf. Das setzt voraus, dass für das Gebäude während der Dauer des „Schlafes“ keine Statusveränderung angestrebt wird und weder nach einer neuen Nutzung oder Bedeutung gesucht noch ein Eigentümerwechsel avisiert wird. Das „Dornröschenprinzip“ ist keine (wie auch immer um die Ecke gedachte) Vermarktungsstrategie, sondern ein Weg, ein Gebäude vom Markt zu nehmen, ohne es verwahrlosen zu lassen, abzureißen oder die Fläche umzuwidmen. Die 100 Jahre Schlaf aus dem Grimm’schen Märchen sind in diesem Zusammenhang in der Weise zu verstehen, dass diese Phase der Inaktivität eine ziemlich lange Zeit umfassen kann, deutlich länger, als ein Gebäude unter gewohnten Umständen still zu liegen pflegt. Auch bedeuten sie, dass gedanklich am Ende des langen Schlafes das Aufwachen und nicht der Tod steht. Das Gebäude oder die Fläche ist keine gewöhnliche Brache mehr, sondern unterliegt einem „Zauber“, sie ist „verwunschen.“ Während der Zeit des „Verwunschenseins“ war das Schloss im Märchen für niemanden betretbar oder einsehbar, nichts oder niemand änderte sich oder alterte in diesem Zeitraum. An dieser Stelle wird die Übersetzung des Märchenhaften in den prosaischen Kontext der Gebäudebewirtschaftung offensichtlich ein wenig strapaziert, denn in Wirklichkeit sind stillgelegte Gebäude ohne fortwährende Instandhaltungsmaßnahmen in kürzester Zeit so marode, dass von ihnen Gefahr für Leib und Leben ausgehen kann. Gebäude lassen sich nicht im wörtlichen Sinne „konservieren“, sie altern und dieser Alterungsprozess ist selbst bei einer finanziellen Rentabilität der Gebäudenutzung nur mit hohem Aufwand zu einem würdigen Alterungsprozess zu gestalten. Die „Dornröschenstrategie“, deren Anspruch es ist, niedrigschwellig und damit niedrig-investiv zu sein, kann dem Wunsch nach Erhalt eines Gebäudes nur mit der Weisung „So wenig wie möglich – so viel wie nötig“ nachkommen, wobei im Einzelfall des jeweiligen Gebäudes entschieden werden muss, welche Maßnahmen dieses Minimalprogramm jeweils konkret umfasst. Ziel der Maßnahmen muss die Möglichkeit der Instandsetzung des Gebäudes sein, wobei sich dieses über die Jahre natürlich stark verändern kann und nicht zuletzt von der Natur bearbeitet werden kann. 207
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Neben dem Minimalprogramm, dass im wesentlichen verfügbare Methoden der Entkernung von Haustechnik und konventionelle Sicherungsmaßnahmen vorsieht, müssen zusätzlich symbolische oder kommunikative Schutzmechanismen für die erwähnte Aura des „Verwunschenseins“, des „friedvollen Schlafes“ sorgen. Im Märchen der Gebrüder Grimm war dies die hohe Dornenhecke, in den vorgestellten Projekten die Mauer, das Verbot oder die Spielregel. Ein erster Hinweis für die Anverwandlung stillgelegter Gebäude in „verwunschene Gebäude“ wäre zum Beispiel ein weitaus sorgsameres Verschließen des Gebäudes, als dies gemeinhin praktiziert wird. Hierbei ginge es nicht mehr lediglich um das möglichst kostengünstige und effiziente Verhindern unerwünschten Eindringens mit den üblichen Brettern, Mauersteinen, Zäunen oder Stahlblechen, also nicht um einen rein mechanischen Schutz, sondern um eine grundsätzlich gestaltende Auseinandersetzung der Schnittstelle zwischen dem (zu schützenden) Innen und dem (feindlichen) Außen eines Gebäudes. Für die Fassade eines Gebäudes wird häufig die Analogie der „Haut“, für die Haupt-Sichtseite gar die des „Gesichtes“ gewählt. Fenster und anderen Öffnungen werden entsprechend als „Poren“ oder „Augen“ behandelt. Durch diese Öffnungen findet im aktiven Zustand ein permanenter Austausch von Menschen, Waren und Information zwischen der Innenwelt und der Außenwelt des Gebäudes statt. Wird ein Gebäude stillgelegt, kommt auch dieser Austausch zu einem Stillstand. Fällt ein Mensch in den Schlaf, schließt er die Augen, seine geschlossenen Augen vermitteln jedem Außenstehenden intuitiv die Vorstellung von unschuldigem Schlaf, sie sind Teil des Körpers des Schlafenden und natürlicher Ausdruck seines inaktiven Zustandes. Dieser Analogie folgend könnte es ein erster Schritt sein, die Öffnungen eines Gebäudes in der Weise zu verschließen, dass dieses Verschließen als ein wesentlicher Teil des Gebäudes entworfen, geplant und ausgeführt wird. Hierfür ist nicht der erstbeste Billigbaustoff und die erstbeste Methode, diesen zu verarbeiten, geeignet, sondern ein Material, das sich hinsichtlich Farbe, Oberflächenstruktur und Verarbeitung ästhetisch zu der bestehenden Fassade verhält. Für das gestaltende Verschließen eines Gebäudes spielt es keine Rolle, ob das identische Material der Fassade gewählt wird und die Fenster nach dem Verschließen in einer dann homogenen Fassadenfläche aufgehen, oder ob durch das Verschließen bewusst ein Kontrast zum Bestand gesetzt wird. Das Ziel des gestaltenden Verschließens ist es, die Außenhaut eines Gebäudes nicht verletzt oder versehrt erscheinen zu lassen, das Gebäude nicht als ausgehöhlte Karkasse mit „ausdruckslosen Augen“ zu zeigen, sondern als etwas in Frieden Liegendes.
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Fassade eines stillgelegten Industriebaus, oben „unbehandelt“ mit zerbrochenen Fenstern, unten mit sorgsam vermauerten Öffnungen.
Eigenes Foto und Collage, Juni 2010. Die sorgfältig zum Schlaf verschlossene Fassade eines Gebäudes ist damit immer noch Träger von Mitteilungen an die Außenwelt, die allerdings nicht mehr von den Aktivitäten in seinem Inneren kündet, sondern von seiner Nicht-Aktivität. Als Teil der Identität des Gebäudes ist die verschlossene Fassade eines „Dornröschengebäudes“ unter anderem auch eine subtile Form von Inszenierung, die nicht, wie sonst üblich, lautstark nach Aufmerksamkeit ruft, sondern von einem Aufmerken ablenken soll. Schlussendlich obliegt es der individuellen Detaillierung einer sorgsam verschlossenen Außenhaut, die bestehenden Zusammenhänge (z.B. die Einbindung in eine übergeordnete Erhaltungsstrategie kultureller Güter) an die Außenwelt zu kommunizieren. Die dem jeweiligen Gebäude angemessene Form einer „Dornenhecke“, die baulicher Schutz und gleichzeitig Kommunikationsangebot ist, wird nur über eine intensive entwerferische Auseinandersetzung am 209
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konkreten Objekt zu finden sein. Sie sollte die tragende Idee des „Dornröschenprinzips“ ebenso vermitteln wie Wissbegierigen den Zugang zu Informationen über das stillgelegte Gebäude ermöglichen und der Erinnerung dienen. Außerdem wäre es zu überlegen, inwieweit die übersetzte „Dornenhecke“ auch ein (temporäres) Vergessen fördern und damit ein freudvolles „Wiederfinden“ möglich machen könnte. Fassade eines stillgelegten Industriegebäudes, die Fenster wurden mit Betonplatten verkleidet, die mit einem floralen Muster versehen sind.
Eigenes Foto und Collage, Juni 2010. Im Märchen nimmt das Schicksal von Dornröschen ein gutes Ende, weil nach genau Hundert Jahren die Erlösung von dem bösen Zauber stattfindet in Gestalt des jungen Prinzen, der die ebenso junge Prinzessin im schlafenden Schloss findet und wachküsst. Mit ihr erwacht der gesamte Hofstaat und es wird eine glückliche Hochzeit gefeiert. Entscheidend für den Erfolg des Prinzen ist dabei die Tatsache, dass er im rechten Augenblick, also nach dem Verstreichen der Hundert vorhergesagten Jahre des Verwunschenseins, erscheint. Alle Bewerber vor ihm waren gescheitert an der hohen Dornenhecke. Der Prinz nützt den kairos, die günstige Gelegenheit, die sich bei seiner Ankunft erstmalig bietet und weist damit einen Weg, auch für diesen Aspekt des Märchens eine Übersetzung in die Wirklichkeit zu finden. Denn im „Dornröschenschlaf“ liegende Räume warten nicht einfach nur auf irgendeinen finanzstarken Investor, sondern auch und vor allem auf günstige Umstände für ihre Erweckung, also auf eine neue Zeit, in der beispielsweise 210
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neue Bedürfnisse und Nachfragen entstanden sind, in der die Wahrnehmung ihrer Architektur neu bewertet wird, oder sich andere den Markt bestimmende Randbedingungen verändert haben. Erst dann kann eine Wiedererweckung auch zum Erfolg führen. Wie lange diese Zeitspanne dauert bis zu einem solchen kairos und ob dieser dann auch von der richtigen Seite erkannt und wahrgenommen wird, bleibt der schicksalhaften Fügung jedes einzelnen Falles vorbehalten. In der Zwischenzeit sollte es die Ruhe des „schlafenden Gebäudes“ der Bevölkerung ermöglichen, dieses immer noch als alten Bekannten im Stadtbild wahrzunehmen und wiederzuerkennen, sich aber durch seinen Anblick nicht zum Handeln aufgefordert zu fühlen. Für eine breite Umsetzbarkeit des „Dornröschenprinzips“ als konkretes architektonisches und städtebauliches Instrument ist eine Qualifizierung der vorhandenen Ansätze und Vorgaben wünschenswert und erforderlich. Hierfür gibt es eine Reihe von praktischen Gründen:
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Der sich zunehmend beschleunigende Wandel von Nutzungen, Programmen und Bedürfnissen steht der grundsätzlich statischen, langsamen und veränderungsunwilligen Natur der Architektur gegenüber. Langfristige Prognosen der Nachfrage werden immer schwieriger. Gebäude, die gestern abgerissen wurden, können morgen schon wieder gebraucht werden. Wohnen ist, allen Lebensstilveränderungen ungeachtet, eine zeitlose Funktion. Das legt nahe, gerade für Wohngebäude Stilllegungskonzepte zu erproben. Der Abriss von Gebäuden und ihr Neubau stellen im Vergleich zur Um- oder Wiedernutzung einen erheblichen Verschleiß an Energie, Rohstoffen und Produktionswerten dar. Das „In-den-Schlaf-Versetzen“ entlastet nicht nur den Eigentümer, sondern durch die gezielte Herausnahme von Flächenpotenzialen aus dem Verwertungskreislauf auch die Stadtplanung und den Immobilienmarkt. Vorhandene Entwicklungsimpulse sind somit zielgerichteter zu bündeln und zu lenken. Die heutige Bautechnik verfügt über die entsprechenden Technologien und über einen gewachsenen Erfahrungsschatz, vorhandene Gebäude neuen Bedürfnissen anzupassen. Was heute hässlich erscheint, kann zu einem späteren Zeitpunkt als schön empfunden werden. Viele Stilepochen und Bautypen werden erst über die Zeit und nach Vermittlung durch die Denkmalpflege von der breiten Öffentlichkeit als „ästhetisch ansprechend“ und „kulturell wertvoll“ rezipiert. Einmal Gebautes liegen zu lassen bedeutet, 211
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seine baukulturelle Bewertung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben und späterem Bedauern über unwiederbringliche baukulturelle Verluste vorzubeugen. Wofür heute kein Geld vorhanden ist, kann sich schon morgen ein Investor interessieren. Im „Dornröschenschlaf“ liegende Baudenkmale bleiben erhalten für spätere Sanierung, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse dies erlauben und verhindern künstliche TotalRekonstruktionen des Verschwundenen. Die Fassung und Sicherung stillgelegter Flächen durch Schutzmaßnahmen verhindert eine fortlaufende Abwertung des Stadtquartiers und eine negative Wahrnehmung verwahrlosender Flächen. Stadtbausteine bleiben für das kollektive Gedächtnis erhalten. Was in Ruhe gelassen wird, ist wertvoller Lebensraum für die Natur. Auf von Menschen nicht mehr betretenen Flächen breitet sich eine eigene Art von Brachennatur aus, die vielfältigen Lebensformen eine Existenznische bietet. Jede Form der Unordnung trägt das Potenzial zur Neuordnung in sich. Unordnung, die nicht sofort beseitigt wird, behält ihr latentes Potenzial und bleibt als Ressource der Erneuerung erhalten.
Der ideelle Gehalt des Dornröschenprinzips „Granted that disorder spoils pattern, it also provides the material of pattern. Order implies restriction; from all possible materials, a limited selection has been made and from all possible relations, a limited set has been used. So disorder by implication is unlimited, no pattern has been realised in it, but its potential for patterning is indefinite. That is why, though we seek to create order, we do not simply condemn disorder. We recognise that it is destructive to existing patterns; also that it has potentiality. It symbolises both danger and power.“ (Mary Douglas 1966/2002; 117).
Das „Dornröschenprinzip“ ist eine Handlungsstrategie, deren hervorragendes Merkmal das Nicht-Handeln50 ist. Sie ist weder mit Strategien der Anverwandlung in Freiraum gleichzusetzen, noch mit Strategien des Denkmalschutzes, die Erhalt und Konservierung in bestimmter Gestalt 50 Das „Handeln durch Nicht-Handeln“ als Prinzip findet sich unter anderem in dem chinesischen Begriff „Wu Wei“ wieder, der dem Taoismus entstammt. „Wu Wei“ bedeutet, „nicht gegen die Natur der Dinge“ zu handeln, also ohne „unnützen Eifer, falschen Ehrgeiz und eigensinnige Absichten“. Ein Handeln im Sinne des „Wu Wei" passt sich der Situation an, reagiert auf die gegebenen Umstände und ist eine Art von „passiver Kreativität.“ Quelle: http://www.shiatsu-austria.at/einfuehrung/kultur_7.htm, Zugriff am 15.6.2010. 212
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anstreben und Eigentümer eher be- als entlasten. Das Dornröschenprinzip bedeutet, Zeit zu gewinnen, Räume mit langfristig ungeklärter Zukunftsperspektive liegen zu lassen, um sie vorzuhalten, jedoch nicht um die Zwischenzeit bis zum erhofften wiedereinsetzenden Wachstum mit möglichst hohem Mehrwert zu überbrücken, sondern um eben dieser Zeit des Liegenlassens eine eigene Form und eine eigene Bedeutung zuzugestehen. Anstatt sich in hilflosen Versuchen der Wiederbelebung abzuarbeiten, ermöglicht das Dornröschenprinzip eine Verarbeitung des Wandels, indem Räume auf unbestimmte Zeit aus dem Kontingent der zu lösenden gesellschaftlichen Probleme gestrichen und den Kräften der Natur übergeben werden. Angesichts der Überforderung, einen Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt physisch zu bewältigen, wird Umgang und Bewältigung auf die mentale Ebene verlagert, aus der Aktion wird Imagination. Das Dornröschenprinzip trägt neben praktischen Argumenten auch eine utopische Dimension in sich: Es ist die Vorstellung, das Unbestimmte, Ungeordnete, Namenlose, Unsichtbare, Andere in der Stadt ausdrücklich zuzulassen und es durch die Etablierung einer eigenen immanenten Ordnung sogar zu schützen. Das Loslassen und Abwarten zu einer ernst zu nehmenden und diskussionsfähigen Option in der Stadtentwicklung zu machen, bedeutet, der Unordnung Raum innerhalb der bestehenden Ordnung zuzugestehen. Es sei hier auch noch einmal festgehalten, dass der „Dornröschenraum“ nicht dem Konzept des „Möglichkeitsraums“ entspricht, der auf die Ideen des Psychoanalytikers Winnicott (1951) rekurriert51 und den vor allem die Landschaftsplanung der Neunziger Jahre als eine Raumkonzeption der Unbestimmtheit für sich entdeckt hat, die grundsätzlich offen für Interpretation und Aneignung ist. Zwar will auch das „Dornröschenprinzip“ Gebäude und Flächen im Status des Nicht-Definierten halten, jedoch mit anderen Mitteln und anderen Zielen. Während sich der „Möglichkeitsraum“ zur spontanen und unmittelbaren Aneignung und Bespielung gedacht ist, soll sich der „Dornröschenraum“ einstweilig genau dieser entziehen. Das zentrale Wesensmerkmal des „Dornröschenraumes“ ist es, auf unbestimmte Zeit ungestört zu schlafen, und durch diese Ungestörtheit das Handeln und Planen in den Bereich des Denkens und der Imagination zu verlagern. Diese Ungestörtheit erlaubt auch eine Konzentration vorhandener Kreativkräfte auf andere, tatsächlich verfügbare „Möglichkeitsräume“, zu denen die „Dornröschenräume“ keinesfalls in Konkurrenz stehen sollen. 51 Der Begriff „Möglichkeitsraum“ wird dem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott (1896-1971) zugeschrieben, der hiermit Räume bezeichnete, deren Bedeutung nicht eindeutig festgelegt ist. Diese seien wichtig für die kindliche Entwicklung zu einem selbstbestimmten Menschen. (vgl. Siebel 2002; 32). 213
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Das Vorhandensein von „Dornröschenhecken“ in der Stadt und die gleichzeitige Unsichtbarkeit der dahinter schlafenden Schönen impliziert immer zugleich die Möglichkeit ihres Vergessens. Ähnlich wie auch Friedhofsmauern im Stadtbild hingenommen werden ohne besondere Aufmerksamkeit für die dahinter liegenden Räume, so erlauben auch die materiellen wie symbolischen Mauern im Stadtbild eine gewohnheitsmäßige Akkommodation, ohne dass man sich an einem Anblick des Niedergangs und der Verwahrlosung stören müsste. Das vermeintlich Überflüssige ist weder Abfall noch Ressource, sondern es wird vorübergehend beiseite gelegt, da die Scheidung zwischen Abfall oder Ressource zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht getroffen werden kann. Es bleibt einer unbekannten Zukunft vorbehalten, ob und in welcher Weise das dahinter Liegende, in der Zwischenzeit ausschließlich von der Natur Bearbeitete dereinst wiedergefunden und rezipiert wird. Die Vorstellung, wir könnten tatsächlich Räume in friedlicher Weise aus unserem Kulturzusammenhang herauslösen und sich selbst überlassen, ohne sie mit weiterem Wollen und Erwartungen zu belegen und ohne sie in Pläne, Bilder und Projektionen einzubinden, erscheint provokant. Ein solches Herauslösen wäre die Etablierung wirklicher Abwesenheit von bekannter Ordnung (unter Ordnung zähle ich in diesem Zusammenhang auch Wildnis-, Zwischennutzungs- und sonstige bekannte AlternativKonzepte) und die Voraussetzung dafür, das eigentliche Vermögen von Leere urbar zu machen. Ein losgelassener, aus unserer Zugriffssphäre herausgelöster Raum ist unter dem Blickwinkel des menschlichen Gestaltungsbedürfnisses die eigentliche, die radikale Vollendung von Leere.
Umsetzbarkeit und Forschungsbedarf Projekte im Sinne des „Dornröschenprinzips“ hatten bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt geringe Chancen auf Realisierung. Sie widersprechen dem herrschenden Zeitgeist ebenso wie den aktuellen Fördermechanismen. Nicht zu Handeln ist „in fast jeder Hinsicht unpopulär, geschäftsschädigend für politische Versprechungen sowie für privatwirtschaftliche Renditekalküle unvorstellbar.“ (Ganser 2001, 27). Dieses Zitat von Karl Ganser kann auch fast zehn Jahre nach seiner Veröffentlichung noch als gültig betrachtet werden. Plausibel und mächtig erscheinen die gesellschaftspolitischen Argumente gegen ausdrückliche Wartestrategien: Probleme müssen gelöst werden, die Arbeitslosigkeit bekämpft werden, die benachteiligten Kommunen und Regionen müssen gefördert, Alteigentümer müssen kompensiert werden. Argumente der langfristigen ökonomischen und ökologischen Vernunft wiegen dagegen 214
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nicht schwer genug, zumal die „innere Abwehrhaltung“ (ebd.) von Politik und Gesellschaft gegen eine Strategieumkehr nach wie vor von Wachstumshoffnungen genährt wird. War es vor Beginn des Programms Stadtumbau Ost im Jahre 2002 noch möglich, das Liegenlassen von Immobilien zumindest unter finanziellem Gesichtspunkt als rentabel darzustellen, da die Kosten für Abriss und Dekontamination aufgespart werden konnten, so lässt die derzeit wirksame finanzielle Subvention des Abrisses diese Option wenig attraktiv erscheinen. Das „Dornröschenprinzip“ als passive, offenhaltende Entwicklungsvision entfaltet folglich bislang allenfalls im theoretischen Diskurs Verlockung. Als offizielle Strategie enthält das Liegenlassen zu wenig Anfassbares, Konkretes und auf eine bessere Zukunft Verweisendes, um positiv diskutiert zu werden und um die für eine Durchsetzung notwendigen Kräfte zu bündeln. Nicht nur die Förderinstrumente, sondern auch die Forschungsbemühungen sind bislang fast ausschließlich auf das Ziel der Wieder- oder Weiterverwendung ausgerichtet, bis auf einige Einzelprojekte sind keine Initiativen bekannt, die ihr forschendes Interesse auf Strategien im Sinne des Dornröschenprinzips richten. Gleichwohl gibt es erste Anzeichen eines Stimmungswandels, der auf ein zunehmendes Interesse für Wartestrategien hindeuten könnte. So wird in dem Evaluierungsbericht zum ersten Förderabschnitt des Programms Stadtumbau Ost52 aus dem Jahr 2008 festgestellt, dass die bisherigen Maßnahmen zur Konsolidierung der Innenbereiche strukturschwacher Städte (Rückbau von Außen nach innen, Infrastrukturmaßnahmen, etc.) keineswegs ausreichen, um die dringend gebotene Revitalisierung der Zentren zu gewährleisten. Diese benötigen vielmehr gerade in der gegenwärtigen Phase des Stadtumbaus, die vergleichsweise an Dynamik verloren hat, ohne die bestehenden Probleme in den Griff bekommen zu haben, eigenständige und differenzierte Entwicklungsimpulse. Insbesondere einfache, zum Teil noch unsanierte Gründerzeitgebiete verzeichnen nach wie vor deutliche Entwicklungsdefizite und weisen einen hohen Handlungsbedarf im Hinblick auf die Gefahr der Fragmentierung von Stadträumen auf. (vgl. Liebmann, 2010; 3-4) Auch wenn in dem Bericht mit „Entwicklungsimpuls“ zweifelsohne immer noch die Reaktivierung von brachliegenden Flächenpotenzialen gemeint ist, so steckt in der hohen Bedeutung, welche aus ökologischen, ökonomischen und sozialen Gründen der Sicherung der gefährdeten Teile der
52 BMVBS/BBR (Hrsg.): Evaluierung des Bund-Länder-Programms Stadtumbau Ost. Bonn, 2008. Unter: http://www.stadtumbau-ost.info/aktuelles/ Evaluierungsbericht-klein.pdf; Zugriff am 9.6.2010. 215
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Zentren zugemessen wird, durchaus die Möglichkeit einer neuen Offenheit auch für das Abwarten und Vorhalten. Um in dieser Situation das „Dornröschenprinzip“ als Handlungsalternative in das Spiel zu bringen und als Strategie zu erproben, wäre aus meiner Sicht einerseits proaktive Forschung zu den einschlägigen Themenkomplexen vonnöten, anderseits die Konzeption und Umsetzung von spezifischen Pilotprojekten wünschenswert. Der Erkenntnisbedarf im Hinblick auf niedrig-investive, konservierende Strategien ist groß und der Druck auf die Städte wächst. Von den verschiedenen Forschungsfeldern, die unter dieser Perspektive zu bearbeiten wären, seien hier die Wichtigsten genannt: 1. Formulierung von Auswahlkriterien für Dornröschenobjekte, 2. Methoden des Gebäudeerhalts bei minimalen Kosten und minimalem Aufwand, 3. Methoden der Gebäudesicherung vor Vandalismus und illegalen Aktivitäten, 4. Konzeption geeigneter Bild- und Kommunikationsangebote. 5. Konzeption geeigneter Finanzierungs- und Förderinstrumente, 6. Konzeption geeigneter rechtlicher Rahmenbedingungen, Ad 1.: Nicht alle Grundstücke und Flächen eignen sich gleichermaßen für das „In-den-Schlaf-Versetzt-werden.“ In jeder Stadt müssen ausreichend Flächen als Entwicklungsspielraum zur Verfügung erhalten bleiben, es dürfen also keineswegs alle zu einem bestimmten Zeitpunkt überflüssigen Räume „eingefroren“ werden. Das Dornröschenprinzip ist gedacht als Strategie für Räume und Orte, die für den Stadterhalt als wesentlich erachtet werden, für deren Nutzung und Instandhaltung jedoch Mittel und Nachfrage fehlen. Es ist zu untersuchen, welche Voraussetzungen potenzielle Dornröschenobjekte (städtebauliche, architektonische, ästhetische, historische, soziale, kulturelle Bedeutung etc.) erfüllen müssen und wie sich diese Voraussetzungen zu den Kriterien des Denkmalschutzes verhalten. Außerdem ist zu klären, welchem Entscheidungs- und Verantwortungsmechanismus die Umsetzung des „Dornröschenprinzips“ unterliegt. Ad 2.: Der Erhalt von perspektivisch nicht mehr vermarktungsfähigen Objekten, selbst wenn sie unter Denkmalschutz stehen, kann rechtlich weder von den Eigentümern eingefordert werden noch von den Kommunen geleistet werden. Für ihre Stilllegung müssen Wege gefunden werden, diese minimalinvestiv in einer solchen Weise zu stabilisieren und vor Verfall zu schützen, dass eine Renovierung über einen möglichst langen Zeitraum hinweg durchführbar bleibt. Es ist zu untersu216
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chen, welche Bauteile prioritär zu erhalten sind, welche Gebäudeelemente sicherheitshalber ausgebaut werden müssen (z. B. Haustechnik), welche aktiven und passiven Maßnahmen effektiven Schutz vor Witterungseinflüssen bieten und welche Technologien die Lebensdauer von Materialien erhöhen können. Dabei ist immer abzuwägen, in welchem Verhältnis der Aufwand zur erzielbaren „Lebenszeitverlängerung“ eines Gebäudes steht. Bereits vorhandenes Wissen und Erfahrungen sind zusammenzuführen und im Hinblick auf eine praktische Anwendung aufzubereiten. Ad 3.: Das „schlafende“ Gebäude ist vor mutwilliger Zerstörung und unerwünschten Aneignungsversuchen von außen zu schützen. Dieser Forschungsbereich rührt an das sensible Thema der Abgrenzung und Ausgrenzung. Es ist dementsprechend zu untersuchen, ob und inwieweit Objekte und Flächen vor Zugriff geschützt werden können, ohne dass diese dabei als immobiles Geistervolumen in der Stadt wahrgenommen werden. Inwieweit ist es möglich, verschlossene, im „Dornröschenschlaf“ befindliche Gebäude in das Stadtbild zu integrieren? In welcher Weise sind die Öffnungen und Poren des Gebäudes zu behandeln? In welcher Weise die Haut des Gebäudes und die Schnittstellen zum öffentlichen Raum? Inwieweit lässt man den Zugriff der Natur auf das Gebäude zu? In welcher Weise kann die symbolisch gemeinte „Dornenhecke“ architektonisch ausformuliert werden, ohne dabei auf das plumpe Arsenal von Absperrgittern und Bretterwänden zurückgreifen zu müssen? Ad 4: Es ist zu erforschen, in welcher Weise die Idee des „Dornröschenprinzips“ nach außen in den Stadtraum getragen werden kann und soll. Ist eine eindeutige Kommunikation des stillgelegten Status eines Gebäudes überhaupt wünschenswert, oder scheint es sinnvoller, den Schlaf der Prinzessin unbemerkt von der Außenwelt zu bewachen? Erhöht die Vermittlung der Methode die Akzeptanz und die Wahrnehmung der leeren Gebäude als wertvollen Bestandteil der eigenen Stadt, oder ist der Unterschied zu dem einfach verlassenen Gebäude rein rhetorisch? Welche Informationen sind zu einer positiven Wahrnehmung der Gebäude erforderlich? Welche neuen Bilder zu den schlafenden Stadträumen entstehen in den Köpfen der Bewohner? Ist der Zustand des Geheimnisvollen, des „Verwunschenseins“ überhaupt künstlich herstellbar und mit welchen Mitteln? Ad 5.: Entscheidende Voraussetzung für die Realisierung von Dornröschenprojekten ist das Vorhandensein entsprechender Finanzierungsund Förderinstrumente. Diese müssen sowohl bei der Entlastung des Eigentümers von seinen finanziellen Pflichten ansetzen, als auch bei einer Unterstützung hinsichtlich der notwendigen Investitionen. Verschiedene bereits existierende Modelle sind auf ihre Wirkweise zu über217
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prüfen und gegebenenfalls anzupassen. (Als Beispiel hierfür ist die Einrichtung eines Grundstücksfonds in Nordrhein-Westfahlen bekannt, die mit Fondsmitteln industrielle „Altliegenschaften“ der Region ankauft, um sie als Teil einer Geschichtskultur für die Nachwelt zu erhalten [vgl. Ganser 2001; 29].). Ad 6.: Es muss eine rechtliche Grundlage für die Umsetzung von Dornröschenprojekten geschaffen werden. Hierbei ist die größte Hürde die Regelung des Übergangs von privatem Besitz in eine neutrale Hand (ebd.), die frei von spekulativen Interessen die weitere Entwicklung des Grundstückes betreut. Es muss ein Weg gefunden werden, die „Ökonomie des Behaltens“53 (Davy 2007; 5) zu durchbrechen, es müssen Instrumente konzipiert werden, um Alteigentümer zu kompensieren, gegebenenfalls ihr Eigentumsrecht zu modifizieren und Objekte mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen in neue Verantwortung zu übergeben. Diese Grundlagen sollten nicht ausschließen, dass Eigentumsrecht unter bestimmten Bedingungen auch verloren gehen kann. Da dieses Thema überaus sensibel ist und an die Grundfrage des Besitzrechtes unserer Stadtgesellschaft rührt, scheint eine Annäherung an dieses Themenfeld ebenfalls in Form von experimentellen Projekten sinnvoll.
Hinter dichten Hecken und hohen Mauern Die Bau- und Architekturgeschichte ist reich an Beispielen von Vergessenem, Vermisstem oder verloren Geglaubtem, das schlussendlich wiedergefunden wurde. Ganze Städte, Reiche und Kulturen gingen unter, und nur manchmal konnten ihre Überreste unter einer Schicht aus Vegetation, Sand, Erde oder Lava über Jahrhunderte geschützt vor Klimaeinwirkung, Erosion, Zersetzung und Zerstörung überdauern, um irgendwann von der Archäologie entdeckt zu werden. In einigen Fällen leisteten diese Deckschichten eine nahezu perfekte Konservierung der Bausubstanz und sicherten so den Erhalt geschichtlicher Zeugnisse in einer Authentizität, die fortlaufender Betrieb, permanente Renovierungen und Anpassungen nicht hätten gewährleisten können. Es sind aber nicht nur 53 Benjamin Davy, Professor für Bodenpolitik, Bodenmanagement und kommunales Vermessungswesen der Universität Dortmund behauptet, dass in der leeren Stadt, deren Bodenmarkt durch eine geringe Nachfrage gekennzeichnet ist, anstelle einer Ökonomie des Kaufens und Verkaufens eine Ökonomie des Behaltens tritt. Bereits getätigte Investitionen und Abgaben hindern Eigentümer daran, ihr Grundstück umsonst oder für sehr wenig Geld herzugeben, da sie in diesem Falle alles verlieren, im Falle des Behaltens aber immerhin noch die Hoffnung auf eine spätere Wertsteigerung besteht. „In der leeren Stadt geht der Boden nicht zum besten Wirt, sondern bleibt beim letzten Wirt“ (Davy 2007; 5). 218
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die großen katastrophischen Ereignisse, die Räume und Orte zum Verschwinden bringen, manche Räume werden von ihren Zeitgenossen ganz einfach vergessen, und, ohne je vermisst worden zu sein, erst durch einen Zufall wieder entdeckt. So geschehen in dem Beispiel einer vergessenen Wohnung im Leipziger Stadtteil Reudnitz, die 19 Jahre lang unbewohnt und unbemerkt blieb, bis sie der Architekt Mark Aretz im Zuge seiner Sanierungsarbeiten im Jahr 2009 öffnete und im DDROriginal-Zustand vorfand. Die authentischen Zeugnisse des realsozialistischen Alltags, unmittelbar nach der Wiedervereinigung mehr oder weniger wertlos und bald durch neue Produkte ausgetauscht, wurden rund zwei Jahrzehnte später in ihrer Unversehrtheit als ein Fund von historischem Wert überrascht begrüßt.54 Andere Räume verschwinden durch eine Wendung der Geschichte aus dem Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung, ohne das der Kontext insgesamt der Zerstörung unterliegt. Sie werden entweder nie in Betrieb genommen, stillschweigend geschlossen oder so verändert, dass ihre ursprüngliche Gestalt zum Verschwinden kommt. Solche seit langem unbemerkt schlafenden Räume finden sich beispielsweise innerhalb der riesigen Flächen der Seitenflügel des ehemaligen Flughafengebäudes Tempelhof55 in Berlin. Ein großer Teil des 1230 Meter langen Gebäudes, das Raum für rund 9.000 Büros, Hallen, Säle und Konferenzräume bietet, wurde während der Bauzeit (19341941) nicht fertig gestellt, wurde nie genutzt und blieb bis heute im Zustand des Rohbaus. Diese Räume waren, solange der Flughafenbetrieb in Tempelhof aufrechterhalten wurde, im Schatten der allgemeinen Aufmerksamkeit. Erst nach der Schließung des Flughafens im Jahre 2008 und der im Anschluss öffentlich diskutierten Frage nach seiner Nachnutzung rückten sie mit einem Male in das Rampenlicht medialer Berichterstattung und kehrten damit als ein Problem in das öffentliche Bewusstsein zurück. Andere Räume des Flughafengebäudes entziehen sich an dieser Diskussion vorbei weiterhin der allgemeinen Wahrnehmung, nicht weil sie hinter Mauern des Vergessens verborgen liegen, sondern hinter tatsächlichen Mauern. Die zentrale Eingangshalle des Flughafengebäudes beispielsweise betritt man durch ein unscheinbares schmales eingeschossiges Foyer mit niedriger Deckenhöhe. Man ahnt nichts von
54 Quelle: „Gummibrötchen und Hit-Cola,“ dpa; In: Kölner Stadtanzeiger vom 26.1.2009. Unter: http://www.ksta.de/html/artikel/1232971492692.shtml, Zugriff am 15.6.2010. 55 Architekt: Ernst Sagebiel, errichtet zwischen 1934 und 1941 (Baustopp) als Teil von Adolf Hitlers Planjungen für „Germania.“ Der Betrieb des Flughafens Tempelhof in Berlin wurde am 31.Oktober 2008 eingestellt. Das Gelände und das Gebäude wurden zu einer städtischen Nachnutzung freigeben. 219
DIE GESTALTUNG DER LEERE
den ursprünglichen Dimensionen des Foyers, das in Wirklichkeit etwa 19 Meter hoch ist. Denn in seiner Gesamtlänge von rund 100 Metern und seiner imposanten Stuckdecke, getragen von mächtigen Pfeilern, entfaltet diese Eingangsituation in ihrer ursprünglichen Ausformulierung eine monumentale Raumwirkung, die insbesondere in der Zeit nach dem Weltkrieg Anlass zu Kritik war. Folglich wurden 15 Meter der Halle in den 1960er Jahren mit einer Zwischendecke abgehängt, der über dem heutigen Foyer liegende Raum ist nicht nutzbar und nur bei gelegentlichen Architekturführungen zu sehen. Dass die verschwundene monumentale Halle bis heute als so genannte „Ehrenhalle“ zu einem Teil urbaner Mythenbildung geworden ist, belegt die Vermutung, dass dem alltäglichen Blick entzogene Orte dennoch in der Vorstellungswelt der Bürger weiterexistieren können. Die Eingangshalle zum zentralen Abfertigungsbereich des Flughafens Tempelhof. Links der „Rumpf“ unterhalb der nachträglich eingezogenen Zwischendecke. Rechts der abgetrennte, uneinsehbare und rund 15 Meter hohe Luftraum, der seit ca. 40 Jahren im Dornröschenschlaf liegt.
Eigene Bilder, Januar 2010. Naheliegende Anschauung für den Erhalt von Architektur hinter bzw. unter einer schützenden Oberfläche bieten vor allem solche Gebäude, die sich im Wortsinne im Untergrund befinden, also Speicher, Tunnel und Kanäle, Gruften, Keller und Bunker, Relikte untergegangener Bauepochen und technische Infrastruktur, die unterhalb der Erdoberfläche liegt. Vor allem Großstädte mit wechselvoller Stadtgeschichte stehen nicht selten auf historischem Grund, in dem sich die Spuren vergangener 220
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Tage gleich Sedimenten abgelagert haben. Unbemerkt vom Licht der Öffentlichkeit und schwer zugänglich, können unter der Erde auch solche Architekturen für eine lange Zeit überdauern, die ohne die bedeckende Oberflächenschicht längst städtischen Erneuerungsmaßnahmen zum Opfer gefallen wären. Nur ihre Unzugänglichkeit und Unsichtbarkeit, die es erlaubt, ihre Existenz im Alltag nicht zur Kenntnis zu nehmen, sichert ihnen das Überleben. Deutlich erkennbar im Straßenraum liegt hingegen ein „Dornröschengeschoß“, das sich ebenfalls in Berlin finden ließ, und zwar als Teil einer gewöhnlichen Mietskaserne inmitten eines intakten Wohngebiets in Berlin-Kreuzberg. Das obere, offenbar stillgelegte Staffelgeschoß eines gewöhnlichen Mietshauses in Berlin Kreuzberg
Eigenes Foto, Mai 2010. Hier wurden offenbar die Wohnungen des obersten Geschosses für eine weitere Wohnnutzung stillgelegt, die Fensteröffnungen fest verschlossen und gestalterisch der Fassadenmauer zugeordnet. Bemerkenswert an diesem zufällig im Straßenraum entdeckten Beispiel, für das die genauen Entstehungsbedingungen nicht zu ermitteln waren, ist, dass das inaktive Geschoss insgesamt von seinem Unterbau farblich abgesetzt ist, seine Fassade im Gegensatz zum „aktiven“ Teil des Gebäudes unverputzt ist und auf den uneingeweihten Betrachter tatsächlich ein wenig „geisterhaft“ wirkt.
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DIE GESTALTUNG DER LEERE
Die Reihe der Beispiele möchte ich mit einem aktuellen Fall der Wiedererweckung eines Ortes aus dem Dornröschenschlaf abschließen. Das Poststadion56 in Berlin-Moabit war nach seiner Fertigstellung im Jahre 1929 für circa zehn Jahre die größte Sportstätte Berlins mit bis zu 60.000 Plätzen für die Zuschauer von Fußballspielen und Boxkämpfen. Auch diese Gebäude wurde im Verlauf historischer Ereignisse zum Gegenstand eines Wandlungsprozesses, der Bau des Olympiastadions durch die Nationalsozialisten, der Krieg, die Teilung Berlins und schließlich die Wiedervereinigung stuften es in die Bedeutungslosigkeit herab, der große Sport fand und findet anderswo statt. Obwohl die Sportflächen des Stadions bis heute genutzt werden, ist das Poststadion selbst größtenteils eine Ruine. Ein Teil der ehemaligen Tribünen wurde über die Jahre vom angrenzenden Fritz-Schloss-Park überwachsen, die früheren Ränge verschwinden unter mittlerweile dichten Sträuchern und Bäumen. Inmitten dieses Urwäldchens sind noch Relikte von den Stützen der Stehränge zu entdecken. Die Ränge des Poststadions in Berlin-Moabit. Links der Tribünenbereich, der allmählich unter Büschen und Bäumen verschwindet, rechts die wiederhergestellten Ränge.
Fotos: Christoph Eckelt. Quelle: Berlin Block 10/2009; 43. Die architektonische Höhenentwicklung der Tribünen ist heute als natürlicher Wall um die Sportflächen erkennbar geblieben und schließt in seinen ursprünglichen Ausmaßen immer noch das Stadionrund. Nähert man sich dem Poststadion von Fritz-Schloss-Park aus, so trifft man nicht auf eine weithin sichtbare gebaute Landmarke, sondern auf ein verwunschenes Dickicht aus Vegetation inmitten einer Hügellandschaft, der aus den Trümmern des kriegszerstörten Berlin gebildet wurde.
56 Erbaut zwischen 1926 und 1929 nach den Plänen des Architekten Georg Demmler. 222
DIE GESTALTUNG DER LEERE
Seit dem Jahr 2003 wird das Poststadion nun behutsam aus seinem „Dornröschenschlaf“ durch den Bezirk Mitte erweckt. Die Sanierung und Wiederinbetriebnahme der Tribünen erfolgt nicht mit einem finanzstarken Investor und angetrieben durch die Aussicht auf schnellen wirtschaftlichen Erfolg, sondern schrittweise mit wenig Geld und unter bewusstem Verzicht auf eine vollständige „Wiederherstellung“. Bisher sind rund 2200 Plätze saniert. Das Ziel der Sanierung ist es, das Stadion für rund 10.000 Zuschauer nutzbar zu machen, der übrige Teil des Stadions soll weiterhin als Pappelwäldchen bestehen bleiben (vgl. WeberKlüver 2009).
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RESÜMEE
UND
AU S BL I CK
Im Verlauf der Arbeit „Die Gestaltung der Leere“ wurden unterschiedliche Erscheinungsformen und Aspekte von Leere identifiziert, beschrieben und in ihrer kontextspezifischen Wirkweise differenziert. Es ist deutlich geworden, dass die Leere eines Raums grundsätzlich relativ ist und sich aus dem empfundenen Fehlen einzelner Raumkonstituenten ergibt. Auf der Grundlage eines unmittelbaren und sich am Alltagsgebrauch orientierenden Raumverständnisses konnte eine Kategorisierung von Arten der Leere auf verschiedenen Ebenen vorgenommen werden: Übergeordnet die Gliederung in materielle Erscheinungsformen von Leere einerseits, die sich durch das Fehlen von physisch fassbaren Raumdeterminanten ergeben, und immaterielle Erscheinungsformen von Leere andererseits, welche durch die Abwesenheit von ideellen oder substanziellen Raumkomponenten zum Ausdruck kommen. Der Kategorie der materiellen Leere lassen sich die in der Arbeit näher definierte Inhaltsleere, die strukturelle Leere, die Gestaltungsleere, die funktionale Leere, die Menschenleere und die Verlustleere zuordnen. Innerhalb der Kategorie der immateriellen Leere sind die Bedeutungsleere, die informationelle Leere, die Ereignisleere und die metaphorische Leere zu nennen. Unabhängig von dieser Ordnung kann außerdem zwischen planerisch intendierter, gestalteter Leere, der natürlichen Leere weiter Landschaften und der ungeplant entstandenen Leere in Gestalt von Brachräumen unterschieden werden. Letztgenannten verschiedenen Formen von Leere kommt generell ein unterschiedlicher Stellenwert in der gesellschaftlichen Wertschätzung zu: Während die gestaltete Leere vorwiegend in elitären Raumkonzeptionen wie Ausstellungsräumen, Gotteshäusern und Gedenkstätten ihre Umsetzung findet, und die landschaftlich bedingte Leere trotz einer gewissen Bedrohlichkeit für den 225
DIE GESTALTUNG DER LEERE
Menschen mit einer faszinierenden Ausstrahlung in Verbindung gebracht werden kann, wird die Brachenleere in der Regel mit den aufgegebenen Strukturen, die sie konstituieren, gleichgesetzt und als Abfall betrachtet. Entsprechend ihrem kontextbedingten kulturellen Stellenwert sind die unterschiedlichen Erscheinungsarten von Leere Gegenstand widersprüchlicher qualitativer Zuschreibungen wie Fülle und Fehlen, Anwesenheit und Abwesenheit, Ordnung und Chaos, Kontrolle und Verwahrlosung, Reinheit und Verschmutzung. Die Arbeit fokussiert inhaltlich auf die Wahrnehmung spezifischer Erscheinungsformen von Leere im Kontext der schrumpfenden Stadt, also der Stadt, die durch Aufgabe, Abwanderung und Immobilienleerstand gekennzeichnet ist. Im Hinblick auf das Vorhandensein und den Zustand ungenutzter baulicher und infrastruktureller Anlagen und den herrschenden soziokulturellen Bewertungsmechanismen von Ungenutztheit wurden die morphologischen, strukturellen und phänomenologischen Veränderungen, welche die Zunahme von Leer- und Brachräumen in der Stadt mit sich bringt, untersucht. Es wurde festgestellt, dass der Verlust von Einwohnern in einer Stadt eine Vielfalt spezifischer Arten von Leere nach sich zieht, die in unterschiedlicher Weise wirksam werden und in ihrer Gesamtbetrachtung einen Verlust von Stadtsubstanz zur Folge haben. In Abhängigkeit von persönlichem Hintergrund, individueller Perspektive und den jeweiligen Rahmenbedingungen des Kontextes werden die Wahrnehmungs- und Umgangsweisen, die in Bezug auf Leere identifiziert werden konnten, von widersprüchlichen Antriebskräften bestimmt:
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Die Wahrnehmung der Leere als desolater Missstand, der zu Angst, Verunsicherung und Niedergeschlagenheit führt. Die Reaktion auf diese Sichtweise ist das Bestreben, die Leere durch Füllen, Verstecken oder Zerstören der sie bedingenden Strukturen zu beseitigen. Die Wahrnehmung der Leere als städtebauliche und kulturelle Ressource, die als Zone städtischer Unbestimmtheit einen wertvollen Spielraum für die Stadtentwicklung darstellt. Diese Perspektive stimuliert den kreativen Impuls, das innewohnende Potenzial der Leere freizulegen und für einen Erneuerungsprozess nutzbar zu machen. Die Wahrnehmung der Leere als ambivalenten Zustand zwischen wertvoll und wertlos. Diese Unentschiedenheit legt nahe, die den leeren Raum konstituierenden Strukturen stillzulegen um sie für zukünftige Entwicklungen vorzuhalten und sie gleichzeitig vor weiterer Abwertung zu schützen.
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RESÜMEE UND AUSBLICK
Die beschriebenen Sichtweisen begründen sich jeweils aus der Logik unterschiedlicher Interessenlagen und sind innerhalb dieser zumeist schlüssig und berechtigt. Sie finden gleichermaßen Artikulation im Stadtumbaudiskurs, wenn auch die Verfechter der abwartenden Haltung als unterrepräsentiert betrachtet werden müssen. Entsprechend dominieren unter den zum Einsatz gebrachten stadtplanerischen Instrumenten jene Verfahren, die entweder Aufgabe und Beseitigung der Brachenleere als Missstand anstreben, oder aber eine umfängliche Reintegration der urbanen Brache in die Aktiva der Stadt bewirken wollen. Die prägende Stimmungslage, in der eine grundsätzliche Entscheidung zwischen Abriss oder Erhalt und Aufwertung favorisiert zu werden scheint, wird nicht zuletzt durch das herrschende Wertesystem mit seiner gängigen Differenzierung zwischen dem Wertvollen und dem Wertlosen, dem Gültigen und dem Ungültigen, dem Wichtigen und dem Unwichtigen bestätigt. Sie liegt aber auch in der tief sitzenden menschlichen Angst vor der Leere begründet, die nicht durch die einfache Aufforderung, „umzudenken“, zu überkommen ist, sondern als natürliche Triebkraft ernst und in Betracht genommen werden muss. Angesichts der perspektivisch zu erwartenden städtischen Rückentwicklung in vielen Städten Deutschlands und der Überforderung der betroffenen Stadtgesellschaften, die mit ihr einhergehenden stadträumlichen Probleme zeitnah zu lösen, bieten Konzepte, welche die Entscheidung zwischen Abriss oder Erhalt und Aufwertung vermeiden, sondern Gebäude stattdessen vorübergehend stilllegen, nicht nur eine erhebliche Entlastung für Städte und Kommunen, sondern auch die größte Flexibilität für die Anpassung an zukünftige Entwicklungen. Aus dieser Einschätzung heraus schließt der Hauptteil dieser Arbeit mit einem Plädoyer für eine tiefer gehende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Methoden des Liegenlassens von Gebäuden, die unter dem Arbeitstitel „Das Dornröschenprinzip“ zusammengefasst werden. Das „Dornröschenprinzip“ fußt auf der Idee, leerstehende Gebäude und Räume für eine unbestimmte Zeit in den Zustand des Schlafes zu versetzen, in dem sie vor Zugriff geschützt sind und aus dem sie nach Bedarf wieder erweckt werden können. Das große Potenzial von Verfahrend im Sinne des „Dornröschenprinzips“ liegt darin, keine Lösung der Probleme an sich anzubieten, sondern vielmehr einen zeitlichen Aufschub zu gewähren, der einen mentalen Freiraum schafft, innerhalb dessen nach intelligenten Lösungen, nach den richtigen Werkzeugen oder nach einer besseren Gelegenheit für die Lösung von Problemen gesucht werden kann. Das „Dornröschenprinzip“ ist kein Ausweg aus dem Dilemma zwischen Abriss und Erhalt, sondern ein dritter Weg, der als Alternative zu den herkömmlichen Strategien, die eher schnell und akut reagieren, die Qua227
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litäten Geduld, Langsamkeit und innere Gelassenheit in das Stadtumbaugeschehen einführt. Neben der pragmatischen Argumentation für eine Beschäftigung mit dem „Dornröschenprinzip“ wohnt diesem nicht zuletzt ein bedenkenswerter fantastischer Aspekt inne: Was bedeutet es für den Stadtraum, wenn sich weite Teile seines physischen Zusammenhangs im Zustand der Latenz befinden? Was für das städtische Leben und die Wahrnehmung einer Stadt durch ihre Bewohner und Besucher? Ist es vorstellbar, dass durch die Umsetzung des „Dornröschenprinzips“ strukturschwache Städte in Deutschland nicht mehr heruntergekommen, verwahrlost und armselig nach außen wirken, sondern verwunschen, verträumt und geheimnisvoll? Ist es vorstellbar, dass anstelle des schönen Scheins, der gegenwärtig die Stadtgestaltung und Stadtpolitik bestimmt, das Verborgene und das Nicht-Erscheinen den Charakter einer Stadt ausmachen kann? Es wird in diesem Falle geschickter Übersetzer bedürfen, die – beispielsweise nach dem Vorbild Italo Calvinos – in der Lage sind, die unsichtbaren Geschichten und Facetten der Stadt zum Leben zu erwecken und uns neu zu lesen zu geben. Es wird neue Formen von Stadterzählungen, Stadtführern und Stadtplänen geben müssen, die es vermögen, nicht nur das vordergründig Sichtbare zu zeigen und zu erzählen, sondern auch das Immanente und Imaginäre. Hier wären neue, unerprobte Erzähltechniken und Vermittlungswege gefragt, andere Formate und Medien, welche die bestehenden Grenzen des klassischen Genres der erzählten Stadthistorien überschreiten und nicht mehr linear und chronologisch geordnet Ereignis an Ereignis reihen, Datum an Datum, sondern das Offenbare mit dem Verborgenen, das Erhoffte mit dem Realisierten, das Erwünschte mit dem Befürchteten, das Projizierte mit dem Erinnerten, das Konkrete mit dem Erfundenen zu einer neuen Wirklichkeit verwebt, die der heute als „echt“ akzeptierten – weil durch bekannte Bilder als evident angesehenen – Wirklichkeit an Wert nichts nachsteht. Der städtische Strukturwandel ist jedoch ein überaus vielschichtiger Prozess mit vielen Beteiligten. Daher soll die Arbeit keinesfalls dahingehend missverstanden werden, das „Dornröschenprinzip“ als herausragende Lösung aller städtebaulichen Problemfelder strukturschwacher Städte anzubieten. Die Aufgabe des Stadtumbaus unter umgekehrten Vorzeichen verlangt nach ebenso spezifischen und differenzierten Instrumenten wie ihr Aufbau und kann, als große Baustelle betrachtet, umso eher gelingen, je größer der verfügbare Werkzeugkasten ist, mit dem die Protagonisten des Wandels arbeiten können, und je vielfältiger, feiner geschliffen und besser abgestimmt auf die jeweilige Bauaufgabe die vorhandenen Werkzeuge sind. Ähnlich wie auch auf einer realen Bau228
RESÜMEE UND AUSBLICK
stelle, auf der nicht jeder Arbeitschritt mit dem immer gleichen Hammer ausgeführt werden kann, so bedarf auch die Stadtumgestaltung verschiedener Instrumente für verschiedene Arbeitsschritte. Im Hinblick auf den Umgang mit der Leere bedeutet dies, dass es weder immer zielführend ist, vorhandene Leer- und Brachräume aufzuwerten und rückzuführen, noch dass es grundsätzlich abzulehnen wäre, die Leere radikal zu überformen, sie zu füllen oder die sie konstituierenden Strukturen zu vernichten. Ferner bedeutet dies, dass für einen erfolgreichen gestalterischen Umgang mit der urbanen Leere keine Strategie per se besser oder schlechter ist, sondern lediglich besser oder schlechter geeignet ist im Hinblick auf das Erreichen bestimmter Ziele. Beispiele von Umbaustrategien nicht nur in Deutschland, sondern weltweit haben gezeigt, dass Verfahren, die in einer Stadt zum Erfolg führen, in einer anderen Stadt scheitern können. Da es grundsätzlich keine sichere „Methode“ zur Lösung aller auftretenden Probleme des Stadtumbaus gibt, ist in dieser Arbeit auch bewusst kein Leitfaden oder ein Empfehlungskatalog formuliert worden. Neben den unter Kapitel „Abwarten und Liegenlassen“ aufgeführten, sich unmittelbar aus den Alltagsrealitäten des Stadtumbaus ergebenden Gründen für die vertiefende Auseinandersetzung mit Strategien der Stilllegung städtischer Strukturen liefern gegenwärtig auch im globalen Maßstab ablaufende Entwicklungen eine argumentative Untermauerung für eine Verfolgung des Dornröschenprinzips. Hierzu zählen insbesondere die Endlichkeit unserer Ressourcen und die bisher ungeklärte Zukunft der erneuerbaren Ressourcen als Energieträger und Baustoff. In Ansätzen bereits erkennbar scheint es gegenwärtig durchaus möglich, dass der weitere Anstieg der Benzin- und Kraftstoffpreise eine Trendumkehr des Wohn- und Mobilitätsverhaltens der Bevölkerung in großem Maßstab bewirken werden. So wird es vorstellbar, dass das seit vielen Jahrzehnten stabile Fließgefälle von Stadtbewohnern aus den Kernstädten heraus in die Vorstädte sich zugunsten der inneren Stadtlagen verkehrt und dieser äußere Einfluss bewirkt, was Umbaumaßnahmen, Leitbilder und planerische Vorgaben bisher weitgehend vergeblich angestrebt haben, nämlich eine Wiedererstarkung und Neubelebung der Innenstädte. Unterstützt wird dieses Szenario durch die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum in den Städten und der Möglichkeit, in den Innenbereichen jetzt jene Wohnqualitäten vorzufinden, die bislang den suburbanen Wohngegenden vorbehalten waren. Ferner steht zu vermuten, dass im Unterschied zu heute, da die Aufgabe von Arealen und Kulturgütern noch eine relativ neue Erfahrung für unsere Gesellschaft ist, und Projekte, die den Zugriff auf zivilisatorische Errungenschaften lo229
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ckern, noch als Provokation empfunden werden, im Verlauf eines weiteren Einwohnerrückgangs zur Normalität werden und sich neue Formen des Umgangs mit der Aufgabe und Rückgabe entwickeln. Denkbar ist ebenfalls, dass sich neue Umsetzungsmöglichkeiten der Kreislaufwirtschaft und neue Formen des Raumgebrauchs und der Raumbewertung in Bezug auf Flächen herausbilden werden, die wir heute noch nicht kennen. Erste Ansätze sind hier im Bereich der urbanen Agrarwirtschaft sowie der Nutzung von Flächen für Energiepflanzen erkennbar. Es bleibt also abzuwarten, ob und inwieweit das Zusammenwirken von äußeren Notwendigkeiten, neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen sowie Gewöhnungseffekte die Etablierung neuer, anderer Stadtbilder und Landschaftsbilder in den Köpfen der Menschen zur Folge hat, so dass die leere Stadt, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt trotz intensiver theoretischer Annäherungen nur wenig Sehnsuchtspotenzial entfalten konnte, eine neue Form der Wahrnehmbarkeit und Nutzbarkeit erlangt.
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Volker Eick, Jens Sambale, Eric Töpfer (Hg.) Kontrollierte Urbanität Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik 2007, 402 Seiten, kart., 21,00 €, ISBN 978-3-89942-676-2
Martina Hessler Die kreative Stadt Zur Neuerfindung eines Topos 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-725-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Stephan Lanz Berlin aufgemischt: abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt 2007, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-789-9
Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz 2007, 194 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2
Carsten Ruhl (Hg.) Mythos Monument Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945 März 2011, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1527-2
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Urban Studies Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.) Urbane Beobachtungen Walter Benjamin und die neuen Städte (übersetzt von Martin Schwietzke) Oktober 2010, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1524-1
Peter Dirksmeier Urbanität als Habitus Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land 2009, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1127-4
Ulrike Gerhard Global City Washington, D.C. Eine politische Stadtgeographie 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-497-3
Monika Grubbauer Die vorgestellte Stadt Globale Büroarchitektur, Stadtmarketing und politischer Wandel in Wien Februar 2011, ca. 306 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1475-6
Simon Güntner Soziale Stadtpolitik Institutionen, Netzwerke und Diskurse in der Politikgestaltung 2007, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-622-9
Susanne Heeg Von Stadtplanung und Immobilienwirtschaft Die »South Boston Waterfront« als Beispiel für eine neue Strategie städtischer Baupolitik 2008, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-819-3
Bastian Lange, Ares Kalandides, Birgit Stöber, Inga Wellmann (Hg.) Governance der Kreativwirtschaft Diagnosen und Handlungsoptionen 2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-996-1
Annika Mattissek Die neoliberale Stadt Diskursive Repräsentationen im Stadtmarketing deutscher Großstädte 2008, 298 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1096-3
Michael Müller Kultur der Stadt Essays für eine Politik der Architektur August 2010, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1507-4
Thomas Pohl Entgrenzte Stadt Räumliche Fragmentierung und zeitliche Flexibilisierung in der Spätmoderne 2009, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1118-2
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