Reste: Umgang mit einem Randphänomen [1. Aufl.] 9783839403075

Ob als materieller Abfall, als Brache, als blinder Fleck oder in Form des Unklassifizierbaren: Mit dem Rest geht man um,

200 4 9MB

German Pages 288 [289] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Stichwort: Reste
Reste erinnern
Die vergessenen Reste: Theorie und Praxis des blinden Flecks
Das kybernetische Opfer. Ausgeschlossene Daten
»To put in my drawer«. Erinnerungsreste in Siri Hustvedts Roman »What I loved«
Reste ausschliessen
Vom Versprechen zum Versprechen. Die Abfälle der Moderne
Unrat, Ungeziefer und die Sprache der Literatur
Der Zufall als Kategorie der kulturellen Bedeutungsproduktion
Reste sammeln
Reste der Stadt: Gordon Matta-Clark und die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre
Reste der Industrie. Umwertungsprozesse
Das Museum und die Reste. Vom Sammeln, Bewahren und vom Übrigbleiben
Bildreste. Womit Goyas Arbeiten nicht fertig werden
Zwischen Resten von Bildern
Reste nutzen
»Das läßt nicht mehr allzu viel übrig.« Bildreste der Moderne
Der Rest ist Kitsch. Geza von Bolvarys Abschiedswalzer
Kultur, Müll, Wissenschaft. Bewegungen im Grenzbereich
Die Hörstation ›Reste‹ und der akustische Raum der Cafeteria des I.G. Farben-Hauses
Anhang
Autorinnen und Autoren
Recommend Papers

Reste: Umgang mit einem Randphänomen [1. Aufl.]
 9783839403075

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Reste. Umgang mit einem Randphänomen

2005-09-20 17-07-48 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

1

) T00_01 schmutztitel.p 95224305934

2005-09-20 17-07-49 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

2

) T00_02 vak.p 95224306014

Andreas Becker, Saskia Reither, Christian Spies (Hg.) Reste. Umgang mit einem Randphänomen

2005-09-20 17-07-52 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

3

) T00_03 innentitel.p 95224306118

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-307-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2005-09-20 17-07-53 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

4

) T00_04 impressum.p 95224306246

Inhalt Stichwort: Reste 7

Reste erinnern Elena Esposito Die vergessenen Reste: Theorie und Praxis des blinden Flecks 13 Wolfgang Ernst Das kybernetische Opfer. Ausgeschlossene Daten 27 Anja Lemke »To put in my drawer«. Erinnerungsreste in Siri Hustvedts Roman »What I loved« 43

Reste ausschliessen Manfred Schneider Vom Versprechen zum Versprechen. Die Abfälle der Moderne 59 Burkhardt Lindner Unrat, Ungeziefer und die Sprache der Literatur 83 Florian Mundhenke Der Zufall als Kategorie der kulturellen Bedeutungsproduktion 101

Reste sammeln Philip Ursprung Reste der Stadt: Gordon Matta-Clark und die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre 129

2005-09-20 17-07-55 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

5-

6) T00_05 inhalt.p 95224306366

Susanne Hauser Reste der Industrie. Umwertungsprozesse 145 Ulrich Krempel Das Museum und die Reste. Vom Sammeln, Bewahren und vom Übrigbleiben 157 Vera Beyer Bildreste. Womit Goyas Arbeiten nicht fertig werden 167 Jürgen Reble Zwischen Resten von Bildern 187

Reste nutzen Christian Spies »Das läßt nicht mehr allzu viel übrig.« Bildreste der Moderne 201 Thomas Küpper Der Rest ist Kitsch. Geza von Bolvarys Abschiedswalzer 221 Sonja Windmüller Kultur, Müll, Wissenschaft. Bewegungen im Grenzbereich 233 Andreas Becker, Helen Seyd, Serjoscha Wiemer, Roman Wortreich Die Hörstation ›Reste‹ und der akustische Raum der Cafeteria des I.G. Farben-Hauses 253

Anhang Autorinnen und Autoren 283

2005-09-20 17-07-55 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

5-

6) T00_05 inhalt.p 95224306366

STICHWORT: RESTE

Stichwort: Reste Den Blick auf das Ausgegrenzte, Marginalisierte und Ephemere umzuwenden, ist das Anliegen dieses Bandes. Unter der Prämisse eines interdisziplinären Zugriffs wird das Phänomen des Rests in seiner historischen und kulturellen Form sichtbar gemacht. Das Assoziationsfeld, das das Stichwort aufspannt, reicht vom alltäglichen Müll, dem Vergessenen bis hin zur Kunst. Der Rest ist unästhetisch, a-temporal, und gerade deshalb war es ein Anliegen des Graduiertenkollegs »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/Main, ihm eine Tagung und den vorliegenden Sammelband zu widmen. Mit dem Rest geht man um, indem man ihn leugnet, ausgrenzt oder vergisst. Ex negativo zeigt sich an ihm, wie in unterschiedlichen Zusammenhängen bewertet, beschrieben oder eingeordnet wird. Gleichzeitig ist mit dem Rest auch ein produktives Moment verbunden. Er lädt zum Sammeln ein und erlaubt, alternative Ordnungen durchzuspielen. Der Rest ist ein Randphänomen: Sein Ort ist die Peripherie, das Abseitige, Unbekannte. Wer mit ihm umgeht, erfährt nicht nur den Widerstand des Materiellen. Im Gebrauch des Unbrauchbaren stellen sich auch allgemeine Fragen der Ästhetik und der Erinnerungskultur einer postindustriellen Gesellschaft neu. Was ist ein Rest? Wie geht man mit ihm um? Auf welche Weise werden Reste kulturell erzeugt? Und wie werden sie wahrgenommen? Die unterschiedlichen Annäherungen an diese Fragen sind in vier große Bereiche gruppiert, die mit den Titeln Reste erinnern, Reste ausschließen, Reste sammeln und Reste nutzen überschrieben sind. Im ersten thematischen Bereich des Bandes steht der Begriff des Erinnerns von Resten in kultureller und philosophischer Weise im Vordergrund. Elena Esposito thematisiert in ihrem Beitrag das Vergessen, jedoch mit dem paradoxen Blick auf das Nicht-Sichtbare: »Die vergessenen Reste: Theorie und Praxis des blinden Flecks«. Im Vergessen werden vergangene Ereignisse nicht bloß ausgelöscht, 7

2005-09-20 17-07-56 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

7- 10) T00_06 einleitung.p 95224306510

RESTE. UMGANG MIT EINEM RANDPHÄNOMEN

sondern bleiben – in Form einer Erinnerungsspur – prinzipiell noch verfügbar. Mitunter wirken sogar ganze kulturelle Praktiken darauf hin, bestimmte Bereiche zu archivieren, um sie vergessen zu können, d.h. zu einem beliebigen Zeitpunkt zu aktualisieren. In seinem Beitrag »Das kybernetische Opfer. Ausgeschlossene Daten« widmet sich Wolfgang Ernst der Produktion von Resten auf informationstheoretischer Ebene. Aus medienarchäologischem Blickwinkel fragt er danach, welche Daten durch mediale Übersetzungsprozesse und (digitale) Kompressionsverfahren ›geopfert‹ werden. Anja Lemke beschäftigt sich in ihrem Beitrag »To put in my drawer« mit Erinnerungsresten in Siri Hustvedts Roman »What I loved«. Am Beispiel der Anordnung und Sammlung von Resten – so in der collageartigen Technik der Portraitmalerei Bill Wechslers sowie in Leo Herzbergs Erinnerungskosmos einer Schublade – zeigt Lemke, wie sich im Übriggebliebenen die Erinnerung immer wieder neu (re-)konstruieren lässt. Der zweite Bereich handelt von einzelnen Beispielen, in denen Reste (z.B. durch künstlerischen Umgang) ausgeschlossen werden. Manfred Schneider zeigt, wie die philosophische Theorie der Moderne zu ihrer Grundlegung Reste und Abfälle verwertet. In »Vom Versprechen zum Versprechen. Die Abfälle der Moderne« wird die Verschiebung der Bedeutung des Homonyms »Versprechen« von der promissio zum lapsus falsae linguae als Bewegung des Denkens von Hobbes zur Moderne Freuds nachgezeichnet. Im Inneren dieser Moderne, so zeigt er an Heidegger und Benjamin, wird die Bewegungsrichtung umgekehrt. Der Bogen geht vom lapsus falsae linguae zur promissio und bildet die Struktur einer neuen Geschichtsphilosophie. Burkhardt Lindner nimmt den Autor als ›Müllproduzent‹ näher ins Visier. Anhand literarischer Figuren – Franz Kafkas Gregor Samsa aus »Die Verwandlung« und Heinrich Manns »Professor Unrat« – untersucht er Schmutz-Metaphern und die Erzeugung ›ekliger‹ Protagonisten, die mit Kristeva als ›Abjekt‹ begriffen werden. Lindner zeigt in seiner Analyse, wie sich nicht nur der Vorgang der Erzeugung und Beseitigung des Abfalls, sondern auch eine hartnäckige Resistenz des Abfalls in den literarischen Werken vollzieht. Florian Mundhenke untersucht in »Der Zufall als Kategorie der kulturellen Bedeutungsproduktion« die Integration des Unbestimmbaren bei Stanisław Lem, Gilles Deleuze und Jean Baudrillard. Ausgehend von Lems literarisch-empirischer Abhandlung »Philosophie des Zufalls« wird die These einer zunehmenden Akzeptanz, sogar Wichtigkeit des Unbestimmbaren bei Gilles Deleuze und Jean Baudrillard entwickelt. 8

2005-09-20 17-07-56 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

7- 10) T00_06 einleitung.p 95224306510

STICHWORT: RESTE

Der dritte Bereich fokussiert im Themenfeld des Rests den Aspekt des Sammelns. Philip Ursprung beschäftigt sich in seinem Beitrag »Reste der Stadt: Gordon Matta-Clark und die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre« mit den Arbeiten des gleichnamigen amerikanischen Künstlers, der in den 1970er Jahren obsolete Räume der Metropole New York (U-Bahn-Tunnel, Lagerräume, Wasserstollen etc.) aufgesucht, künstlerisch dokumentiert und bearbeitet hat. Reste werden hier nicht im Sinne ihrer potentiellen Umwertung, sondern als Indikatoren für Diskontinuitäten und Brüche in einem Kontext, aus dem sie stammen, verstanden. In ihrem Beitrag »Reste der Industrie. Umwertungsprozesse« untersucht Susanne Hauser den Umgang mit den niedergegangenen Industrieregionen Westeuropas und der USA. Sie analysiert dabei die unterschiedlichen Strategien – Wiedernutzung, Ästhetisierung, sowie Unterschutzstellung unter historische und umweltpolitische Gesichtspunkte – mit denen eine jeweilige Neu- und Umnutzung für das brachliegende Areal erwirkt wird. Ulrich Krempel nähert sich in seinem Beitrag »Das Museum und die Reste. Vom Sammeln, Bewahren und vom Übrigbleiben« der Situation des Museums als Ort zwischen Aufbewahren und Aussortieren. Akzeptierte Reste von Kunst und Leben stehen hier einem ungeklärten Verbleib der aussortierten Reste, der nicht museal nobilitierten Dinge, gegenüber. Vera Beyer fragt abschließend nach den Bildresten in der spanischen Malerei des 17. und 19. Jahrhunderts; speziell denjenigen, mit denen Francisco Goyas Malerei nicht fertig wird. Es sind Motive und Material der Malerei, die nicht im Bild aufgehen, sondern als widerständige Reste bestehen blieben. Abgebildete Stoffreste, Farbreste und leere Flächen sind Nebenprodukte, die bei Goya zwangsläufig mit jeder Bildproduktion einhergehen. Im Rahmen eines die Tagung begleitenden Filmprogramms wurde Jürgen Rebles »Instabile Materie« (1995) gezeigt. Die damalige Publikumsdiskussion mit dem Filmemacher gibt der Beitrag »Zwischen Resten von Bildern« protokollarisch wieder. Der vierte Bereich legt den Schwerpunkt auf das Nutzen von Resten. Im Gegensatz zu den Resten die in der Moderne zunehmend ins Bild gelangen, fragt Christian Spies in seinem Beitrag »›Das läßt nicht mehr allzu viel übrig.‹ Bildreste der Moderne« nach dem Bild, das in der Moderne auch selbst zum Rest wird. Wenn unter der Zielsetzung einer ständigen Reduktion und Selbstvergewisserung dessen, was überhaupt noch ein Bild ausmacht, schließlich monochrom weiße und schwarze Bilder entstehen, muss zwangsläufig die Frage gestellt werden, was dann als notwendiger Rest des Bildes überhaupt noch übrig bleibt. Thomas Küpper geht von der etymologi9

2005-09-20 17-07-56 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

7- 10) T00_06 einleitung.p 95224306510

RESTE. UMGANG MIT EINEM RANDPHÄNOMEN

schen Verbindung zwischen den Begriffen Kitsch und Abfall aus und fragt vor dem Hintergrund verschiedener Kitsch-Theorien danach, welchen Stellenwert die Kategorisierung Kitsch in der Evolution des Kunstsystems einnimmt: Am Beispiel von Geza von Bolvarys »Abschiedswalzer« zeigt Küpper, dass es sich um eine Form der Restverwertung, in der der ›Abglanz‹ ursprünglicher Informationen wieder im ›Hochglanz‹ vorgeführt wird, handelt. Sonja Windmüller widmet sich in ihrem Beitrag »Kultur. Müll. Wissenschaft. Bewegungen im Grenzbereich« dem gesellschaftlichen Randphänomen des Abfalls. Über die Systematik einer reflexiven Müllwissenschaft gelingt es ihr zu zeigen, dass die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Abfall in signifikanter Wechselbeziehung zu ihrem Gegenstand steht. Der Beitrag »Die Hörstation ›Reste‹ und der akustische Raum der Cafeteria des IG Farben-Hauses« schließlich geht zurück auf eine akustische Installation von Andreas Becker, Helen Seyd, Serjoscha Wiemer und Roman Wortreich. Die Unterschiedlichkeit der Beiträge versammelt in Gesprächsprotokollen und einer Textcollage Perspektiven auf den Rest. Wir möchten allen Beitragenden für Ihr Engagement danken, ohne das der Band nicht zustande gekommen wäre. Unser Dank gilt auch den beteiligten Hochschullehrern des Kollegs, insbesondere Burkhardt Lindner und Hans-Thies Lehmann. Caroline Schmidt und Christian Tedjasukmana haben gewissenhaft einen großen Teil der Audiomitschnitte transkribiert. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft übernahm die Druckkosten im Rahmen des Graduiertenkollegs. Saskia Reither, Andreas Becker, Christian Spies, Pfingsten 2005

10

2005-09-20 17-07-57 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

7- 10) T00_06 einleitung.p 95224306510

Reste erinnern

2005-09-20 17-07-58 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

11

) T01_00 respekt 1.p 95224306702

2005-09-20 17-07-58 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

12

) vakat 012.p 95224306894

DIE VERGESSENEN RESTE: THEORIE UND PRAXIS DES BLINDEN FLECKS

Die vergessenen Reste: Theorie und Praxis des blinden Flecks Elena Esposito

I. Der Rest als Erinnerung an Vergessenes Reste sind mehr als bloße Abfälle und materiell Ausgeschlossenes. Reste, wie ich sie hier verstehen möchte, haben auch nichts mit der vermeintlichen Überflussgesellschaft zu tun. Sie sind ein strukturelles Merkmal der modernen Gesellschaft. Allerdings sollte schon die zeitliche Konnotation der Vorstellung von Resten – als etwas Zurückgelassenem, Übriggebliebenem – uns aufmerksam auf ihre Verbindungen mit der modernen Gesellschaft und ihrer typischen Obsession für die Zeit und für die Temporalisierung der Begriffe machen. Wann kann man sagen, dass etwas ein Rest sei, und nicht bloß das, was es ist? Wenn ein Datum zurückgelassen, vergessen, ausselegiert worden ist – vom Standpunkt eines Beobachters. Ob etwas als ›Rest‹ bezeichnet wird, hängt also nicht vom betreffenden Objekt allein ab. Reste können nicht untersucht werden, indem man sich auf sie konzentriert und ihre Eigenschaften studiert. Sie lassen sich als Verhältnis des Beobachters zu dem beobachteten Objekt begreifen. Etwas formaler ausgedrückt: Es handelt sich um eine direkt auf dem Niveau der Beobachtung zweiter Ordnung lokalisierte Kategorie, bei der man untersucht, wie jemand ein Datum beobachtet, und nicht einfach um das Datum. Schon dadurch wird die Lage komplex. Doch hinzu kommt noch die Zeitperspektive. Nichts kann als Rest nur in Bezug auf die Gegenwart bezeichnet werden. Im Heute ist eine Gegebenheit eben bloß eine Gegebenheit: Sie ist, was sie ist. Etwas wird zum Rest, wenn es in die Vergangenheit projiziert wird und als Rückstand, Teil, Zeichen von etwas verstanden wird, was es einst gab und heute 13

2005-09-20 17-08-01 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

ELENA ESPOSITO

nicht mehr gibt – das aber eine Spur hinterlassen hat. Eben als ein Rest, der sich in dieser Hinsicht als Verweis auf eine komplexere (aber anwesende) Identität definiert. Mit Foucaults Kategorien könnte man sagen, dass die Forschung über Reste zur Genealogie und nicht zur Archäologie gehört (vgl. Foucault 1971). Sie hat also nicht mit der Suche nach einem vermeintlichen Wesen der Dinge oder nach unveränderlichen Formen zu tun, sondern mit temporalisierten, in der Zeit gebauten und mit der Zeit verbundenen Identitäten. Der Rest ist keine bloße Präsenz, sondern eine in gewisser Hinsicht problematische Präsenz des Abwesenden, die auf die Technologien der Schrift und des Buchdrucks und auf ihre Fähigkeit verweist, Abwesendes anwesend zu machen. Der Rest funktioniert schließlich als Spur von etwas Abgeschafftem oder Vergessenem und weist deshalb diese komplexe logische Struktur auf: Man muss das abwesende Datum reproduzieren, muss sich erinnern, vergessen zu haben – also erinnern und vergessen zugleich. Der Rest, könnte man sagen, funktioniert als Erinnerung an Vergessenes. Wir haben es also mit einem Oxymoron zu tun, aus dem eine Kaskade von Paradoxien entstehen kann, die allerdings eine lange Tradition haben und für die schon erprobte Umgangstechniken verfügbar sind. Das dahinter liegende Problem ist die antike Frage des Umgangs mit dem Vergessenen – die viel komplexer und schwerer zu fassen ist als die transparente Frage der Erinnerungstechniken, auf der die (heute ironischerweise fast vollkommen vergessene) Gedächtniskunst beruht. Das Gedächtnis ist keine anthropologische oder soziale Konstante, sondern verändert sich mit der Evolution der Gesellschaft. Es wird in sehr verschiedenen Formen und Weisen erinnert – und entsprechend wird vergessen. Die Erinnerung ist immer eine Selektion, welche jeweils nur wenige Aspekte aussortiert, auf dem Hintergrund einer unbestimmten Masse an Vergessenem. Was vergessen wird, ist aber nicht so, als ob es sich nicht ereignet hätte, obwohl man in der Gegenwart nicht darüber verfügen kann. Es hinterlässt Spuren (Reste), die manchmal erlauben, es zu reaktualisieren (sodass man etwas Vergessenes rekonstruiert) oder es in einer (wie wir sehen werden ziemlich problematischen) Lage der Latenz belassen. Ich möchte behaupten, dass die Semantik der Reste und die entsprechende Begrifflichkeit mit einer spezifischen Form des Vergessens korreliert – oder genauer: mit der für die moderne Zeit typischen schwindelerregenden Zunahme der Fähigkeit zu vergessen. Dafür braucht man Sammlungen, Archive, Register und Enzykopädien (III). Um das zu zeigen, werden wir uns aber zuerst mit den Proble14

2005-09-20 17-08-01 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

DIE VERGESSENEN RESTE: THEORIE UND PRAXIS DES BLINDEN FLECKS

men des Vergessens und der entsprechenden Techniken befassen (II), um dann auf die spezifisch soziologische Frage der Latenz zu kommen (IV).

II. Ars memoriae und ars oblivionalis. Mnemotechnik und Schrift Schon seit langem ist das beobachtet worden, was als eine Asymmetrie in der Frage des Gedächtnisses erscheint: Während es wohlbekannte Techniken der Behandlung und Verstärkung des Gedächtnisses gibt (die jahrhundertelange Tradition der ars memoriae), fehlen entsprechende Techniken für die Organisation des Vergessens (eine vermeintliche ars oblivionalis). Das scheint überraschend, auch weil man immer um die Bedeutung des Vergessens wusste. Schon Themistokles meinte, vielmehr an einer Lethotechnik als an einer Mnemotechnik interessiert zu sein,1 und ähnliche Behauptungen findet man immer wieder im Lauf der Jahrhunderte in allen Fällen, wo man über das Gedächtnis und seine Bedeutung reflektierte. Graciàn beklagt darin einen Fehler des Gedächtnisses, das nicht nur versagt, wenn man es am meisten brauchte, »sondern auch töricht [ist], indem es herangelaufen kommt, wenn es sich gar nicht paßt« und uns dazu zwingt, Dinge zu erinnern, die wir vergessen sollten oder möchten (Graciàn 1993: 207, Aphorismus 262). Diese Überlegungen werden von Nietzsche fortgesetzt, für den die Unmöglichkeit, vergessen zu lernen, besonders schlimm ist, weil man auf Erinnerung verzichten kann, während »es ganz und gar unmöglich [ist], ohne Vergessen überhaupt zu leben« (Nietzsche 1874: 116). Diese verbreitete Klage beruht allerdings auf einem Missverständnis: Es wäre eine Asymmetrie, wenn man von einer Unterscheidung Gedächtnis/Vergessen (die symmetrisch sein soll) sprechen könnte. Bei näherer Betrachtung bildet aber diese Unterscheidung die Voraussetzung weder der antiken noch der modernen Gedächtnisformen. Das Verständnis von Gedächtnis der Mnemotechnik und der ganzen Einstellung der klassischen Rhetorik beruht nämlich seit Aristoteles auf einer anderen Unterscheidung: der von

1. Eine mehrmals von Cicero zitierte Episode, Quelle ist Erodoto, Storie, 8, 124. 15

2005-09-20 17-08-02 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

ELENA ESPOSITO

Gedächtnis und Reminiszenz (Aristoteles 1997). Hierbei wird das Gedächtnis als eine Art Speicher verstanden, in dem Erinnerungen gesammelt werden, während »reminiscentia« die Fähigkeit ist, sie aufzufinden und in diesem Speicher das früher erlebte Ereignis auszumachen. Vergessen als solches wird in diesem Rahmen nicht thematisiert, und man schrieb ihm in der Tat keine wichtige Funktion innerhalb der antiken Semantik zu. Gedächtnisfehler wurden nämlich nicht auf die Unfähigkeit zurückgeführt, die vergangenen Erfahrungen aufzubewahren. Die Potentialitäten des als Speicher genau im physikalischen Sinne eines Raums für die Sammlung der Daten verstandenen Gedächtnisses schienen unbegrenzt – so unbegrenzt wie der physikalische Raum. Wenn etwas nicht funktionierte und die gesuchte Erinnerung nicht gefunden werden konnte, handelte es sich um »technische« Fehler, die das entsprechende Objekt nicht auffindbar machten. Gedächtnisfehler waren faktisch Wahrnehmungsfehler. Man konnte das gesuchte Objekt nicht finden, weil es falsch abgelegt wurde – zum Beispiel an eine Stelle, wo es sich mit dem Hintergrund verschleierte oder wo eine die Sicht betrübende Vernebelung entstand. Die Erinnerung ging dann wirklich physikalisch verloren und nicht im modernen Verständnis, dass etwas zurückgelassen oder vernichtet wird. Es gab sie, aber sie wurde nicht gefunden. Die Mnemotechnik war eine Technik der Speicherung und Lagerung der Daten. Dass die Einstellung räumlich war, wird auch von der Art und Weise bestätigt, wie die gelungene Memorisierung erfolgte, die über Erinnerungen ganz unabhängig von der Zeit und von der ursprünglichen Ordnung verfügen konnte. Es war zum Beispiel ganz und gar gleichgültig, eine Liste in der richtigen Reihenfolge oder umgekehrt wiederzugeben, sowie auch für uns gleichgültig ist, eine Serie von Gegenständen von rechts nach links oder von links nach rechts zu beschreiben. Das Problem, das das Fehlen einer ars oblivionalis bedauern ließ, war die Unmöglichkeit, richtig zu vergessen, also das Datum zu vernichten, als ob es nie existierte, während allerdings das Vergessen nötig war, um Prioritäten und Relevanzordnungen aufzubewahren. Was konnte man tun? Man musste eine Technik finden, einige Erinnerungen unzugänglich zu machen. Man konnte den Raum des Gedächtnisses nicht einfach ordnen, denn dadurch hätte man lediglich die Erinnerungsfähigkeit erhöht. Es war dann ganz und gar konsequent, das Vergessen nicht durch Auslöschen einiger Erinnerungen zu verfolgen, sondern, im Gegenteil, durch Vermehrung der Datenmasse im Gedächtnis. So wurde ein Überfluss produziert, der faktisch einige Informationen unzugänglich machte. Und das ist in 16

2005-09-20 17-08-03 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

DIE VERGESSENEN RESTE: THEORIE UND PRAXIS DES BLINDEN FLECKS

der Tat, was als einzige mögliche Lethotechnik empfohlen wird (vgl. Eco 1987). Um zu erinnern, muss das Gedächtnis gestärkt und nicht geschwächt werden. Es handelt sich hierbei um keinen bloßen Sophismus: Die berühmten, aber für uns oft rätselhaften Bemerkungen Platos zu diesem Thema entsprechen eben dieser Logik. Die Schrift, verschenkt vom Gott Theuth als Kunst, die die Menschen weiser und erinnerungsfähiger machen soll, wird dagegen von Sokrates als Mittel verurteilt, das Vergessen bei seinen Benutzern produzieren wird (Plato, Phaidros, 274c-275b). Sie dient dazu, wirksamer zu vergessen, weil sie einen nicht mehr direkt kontrollierbaren Überfluss an Informationen produziert. Es werden dann andere Instrumente produziert, um mit der Datenmenge umzugehen und neue Wege entwickelt, Daten zu finden und zu ordnen. Die Schrift dient laut Plato faktisch nicht der Erinnerung – sie führt nicht dazu, mehr zu erinnern, sondern dazu, besser zu vergessen. Einige Jahrtausende später und vollkommen pragmatisch formuliert dies der berühmte »Mnemonist«, der bei Alexander Lurija studiert hat, und der eine analoge verräumlichte Organisation des Gedächtnisses benutzte. Aufzuschreiben, um zu erinnern, scheint ihm völlig lächerlich; etwas schriftlich zu notieren, zeigt für ihn, dass es nicht nötig ist, sich daran zu erinnern, und er benutzt in der Tat die Schrift, um vergessen zu ermöglichen (vgl. Lurija 1975: 63-64). Wer schreibt (und wer liest), erinnert nicht – mit Montaignes Worten: »Und wenn ich ein Mensch von einigen Lektüren bin, bin ich auch Mensch von keinem Gedächtnis« (Montaigne 1580-1588: Band 2, Kap. X). In dem von der Unterscheidung Gedächtnis/Reminiszenz geleiteten verräumlichten Rahmen muss also alles, was Überfluss und Varietät produziert, als Mittel zum Vergessen verstanden werden – das aber zu keiner Technik oder Kunst im eigentlichem Sinne führen kann: Es lehrt nicht zu vergessen, sondern nur dazu, die Memorierung zu stören. Das Vergessen als solches hat – wie oben beschrieben – keine autonome Lokalisierung und kann nicht direkt verfolgt werden. Es hat keinen Sinn, sich zu erinnern zu vergessen, aber man kann auf eine Art und Weise erinnern, die das Vergessen begünstigt. Das Vergessen entsteht nur indirekt als Korrelat anderer Techniken der Informationsverwaltung: der Schrift und insbesondere der sie begleitenden Offenheit zum Neuen. Das echte Mittel des Vergessens ist letztlich die Neuheit, welche Überschuss produziert und erst dann akzeptiert und aufgewertet wurde, als mit dem Buchdruck die Schrift wirklich unabhängig von der mündlichen Kommunikation und an sich geschätzt wurde. Und gerade in dieser Zeit, am 17

2005-09-20 17-08-03 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

ELENA ESPOSITO

Anfang der Moderne, beobachtet man den Untergang der jahrhundertelangen Vorherrschaft des Gedächtnisses, der Mnemotechnik und der darauf beruhenden Rhetorik. Von der Verehrung der Tradition geht man zur Suche nach Neuheit über – und, wie Bacon behauptet, »all novelty is but oblivion« (Francis Bacon 1597/1968: Kap. LVIII, »Of Vicissitude of Things«). Die Neuzeit, Zeit des Neuen, könnte dann auch als Zeit des Vergessens gelesen werden.

III. Der Wandel des Gedächtnisses in der Moderne: Sammlungen, Archive, Register, Enzyklopädien Wenn unsere Analyse korrekt ist, und wenn die moderne Zeit eine Umwandlung der Verhältnisse von Gedächtnis und Vergessen markiert, kann man dann in der Modernität die Produktion einer echten ars oblivionalis erwarten? Die Lage ist wiederum nicht einfach. Man darf sich den Wandel, der sich in der Erinnerung und im Vergessen vollzogen hat, nicht zu einfach vorstellen, so als ob die Verwerfung der traditionellen Gedächtnistechniken sich automatisch in der Entwicklung von analogen aber entgegengesetzten Vergessenstechniken zeigen würde. Die Leitunterscheidung der modernen Zeit ist nicht Gedächtnis/Vergessen, in der die Negation der einen Seite zur anderen Seite führt und Gedächtnis der Gegensatz des Vergessens wäre. Das moderne Gedächtnis orientiert sich dagegen an der Unterscheidung Erinnerung/Vergessen, die sie zusammen aufbauen. Man kann weder vergessen, ohne zu erinnern, noch die Erinnerungsfähigkeit ohne entsprechender Zunahme der Fähigkeit zu vergessen erhöhen. Das moderne Gedächtnis verändert beide Seiten der Unterscheidung, und das muss auch dann berücksichtigt werden, wenn man sich über seine eigene Vergessensfähigkeit befragt. Auch die Moderne verfügt über keine Lethotechnik, aber sie verfügt auch über keine Mnemotechnik. Sie verfügt dagegen über Gedächtnismodalitäten, die ihr erlauben, viel mehr als in den früheren Zeiten zu erinnern und zu vergessen. Die ›Zeit des Vergessens‹ ist dann nicht vom Löschen der Erinnerung gekennzeichnet, was absurd wäre, sondern von einer Umwandlung der Formen des Gedächtnisses als Ganzes, die auch die früher latente Seite des Vergessens aufwertet und beleuchtet. Nicht nur wird das Vergessen autonom, es erweist sich auch als die komplexere Seite der für das Gedächtnis nunmehr grundlegenden Unterscheidung Erinnerung/Vergessen. Man kann sich nicht daran erinnern, zu vergessen, aber man kann vergessen, zu erin18

2005-09-20 17-08-03 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

DIE VERGESSENEN RESTE: THEORIE UND PRAXIS DES BLINDEN FLECKS

nern2 – weil das Vergessen sich immer ereignet, und meistens unbemerkt. Die Möglichkeit, etwas zu erinnern, setzt ein ständiges und zuverlässiges Vergessen am Werk voraus, das fast alles absondert und nur gelegentlich inhibiert wird, um die Identitäten der Erinnerungen aufzubauen, die sich vor einem Hintergrund von unbestimmtem Vergessen profilieren (vgl. Luhmann 1996a). Normalerweise vergisst man und vergisst, vergessen zu haben. Gelegentlich erinnert man, und dazu muss man ohnehin immer noch sehr viel vergessen. Konkreter gefasst meint dies: Mit der Verbreitung des Buchdrucks wird die Schrift zum ersten Mal zu einer von der Mündlichkeit emanzipierten Kommunikationsform. Das Geschriebene dient nicht dazu, laut gelesen oder memoriert zu werden, sondern um andere Schriften zu generieren, die wiederum andere Schriften voraussetzen, aber diese nicht wiedergeben. Die Schriftkommunikation wird viel abstrakter. Sie emanzipiert sich vom Kontext, von den konkreten Bedingungen der Lektüre und von der Spezifität der Adressaten, und fängt an, sich an ein anonymes und unbestimmtes Publikum zu wenden. Sie muss dann alle konkretere und spezifischere Bezüge verlassen und abstraktere Formen annehmen, die in den verschiedensten Kontexten verständlich sind. Aber die Abstraktion dient bekanntlich zuerst dazu, zu vergessen (vgl. von Foerster 1971). Sie führt dazu, sehr viel auszuwählen, um wenige für viele verschiedene Situationen geltende Bezüge zu destillieren. Man vergisst aber auf eine Weise, die eine größere Erinnerungsfähigkeit ermöglicht. Das auf Texten basierende Gedächtnis ist viel stärker als das wesentlich auf Mündlichkeit beruhende Gedächtnis der rhetorischen Tradition, weil es viel mehr Daten verlässt (es vergisst viel mehr), aber ermöglicht, eine unvergleichbar größere Vielfalt an Situationen zu berücksichtigen (es erinnert sehr viel mehr). Es ist ein abstrakteres Gedächtnis, das sich des Vergessens und nicht direkt der Erinnerungsfähigkeit bedient, um Erinnerung zu erhöhen. Der Mensch zur Zeit des Buchdrucks kannte sehr wenige Daten auswendig und zeigte eine, an den Kriterien früherer Zeiten gemessen (welche das Wissen auf direkte Memorierung und auf Kenntnis

2. Mit den technischen Termini der Systemtheorie ausgedrückt: Die Unterscheidung Erinnerung/Vergessen tritt auf der Seite des Vergessens wieder ein (vgl. Luhmann 1996b: 520). In diesem Sinne gibt es eine Asymmetrie zwischen beiden Seiten der Unterscheidung, die aber selbst ohne entsprechende ars oblivionalis dieses Mal zugunsten des Vergessens geht. 19

2005-09-20 17-08-04 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

ELENA ESPOSITO

der entsprechenden Techniken gründeten), miserable Memorierungsfähigkeit. Er konnte aber über sehr viele Informationen verfügen – so viele, dass sie ihm sogar erlauben, sich gegenüber dem Neuen zu öffnen und es zu verfolgen, ohne befürchten zu müssen, die Kontrolle zu verlieren. Es überrascht nicht, dass diese Memorierungsmodalität rasch die früheren mnemonischen Formen ersetzt. Seit 1500 werden Mnemotechnik und die damit verbundenen semantischen Formen weniger gepflegt.3 Mit Bacon und Descartes verbreitet sich die Vorstellung einer anderen Gedächtnismodalität, begründet auf Methode und Kenntnis der Ursachen, anstatt auf dem Sammeln von Informationen. Die neuen Regeln müssen nicht dazu dienen, im Speicher des Gedächtnisses schon verfügbare Argumente zu finden (inventio), sondern sie ausgehend von den auftretenden neuen Daten aufzubauen, und dazu einen von früheren Daten und von mnemonischen Engagements geleerten Kopf zu benutzen (vgl. zum Beispiel Rossi 1960: 145ff.). Schließlich vergrößert sich die Anzahl der Argumente, aber sie werden auf radikal anderen Wegen gefunden. Schlüssel des Gedächtnisses ist nunmehr die Ordnung, die ermöglicht, die Daten nicht zu verlieren, ohne sie als solche im Kopf zu sammeln. Es handelt sich um eine ganz andersartige Form von Gedächtnis: Kein Lager mehr, das so viele Dinge wie möglich räumlich aufnehmen muss und dazu vorbereitet wird, sondern um einen Katalog eines Archivs, der an sich fast nichts beinhaltet außer die Bezüge, um anderswo gelagerte Dinge zu finden. Gelagert werden diese eben im entsprechenden konventionell und abstrakt (nicht räumlich) organisierten Archiv. Wie abstrakt und konventionell nunmehr die Methoden für die Organisation der Informationen sind,4 sie sind keine Wege in einem mentalen Raum mehr, sondern logische Operationen und Kalküle. Das setzt Bibliotheken, Sammlungen, Museen und Enzyklopädien voraus. Der leere Kopf erfordert entsprechende Orte, erfüllt mit Daten und Objekten, die aber inzwischen externe Elemente sind, derer sich das Gedächtnis bedient und die nicht vollständig innerhalb des Kopfes verfügbar gehalten werden. Und na-

3. Standardbezug ist hier Erasmus. Vgl. Le Goff (1977-1982: 374); Rossi (1960: 36); Yates (1966: 116ff., it. Ed.) 4. Ausgehend vom viel diskutierten Fall der alphabetischen Ordnung vgl. zum Beispiel Rouse/Rouse 1990. Zum Modell des Gedächtnisses als Archiv siehe Esposito 2002: 239ff. 20

2005-09-20 17-08-04 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

DIE VERGESSENEN RESTE: THEORIE UND PRAXIS DES BLINDEN FLECKS

türlich ist das Interesse für diese Orte der Informationssammlung auch ein Merkmal der modernen Zeit, die es nötig hat, die Aufbewahrung zu pflegen, um ruhig vergessen zu können.5

IV. Reste. Das Archiv als Verwaltung des Vergessens. Der blinde (aber produktive) Fleck Kehren wir jetzt zu unserem originären Thema zurück: Reste. Was sind die in einem Katalog gesammelten Daten, wenn nicht Reste, so wie wir sie oben definiert haben: Erinnerungen an ein gesuchtes und operationalisiertes Vergessen? Und was sind Reste, wenn nicht das Korrelat einer Gedächtnisform, die nicht bloß erinnert, sondern die verfügbaren Daten gegen den Horizont einer Vergangenheit projiziert, die es nicht mehr gibt, deren Spuren aber erhalten werden? Die ganze Thematik der Reste scheint mit der für die Modernität typischen Temporalisierung verbunden zu sein, aus der sie als Problem entsteht, welches aber zugleich auf eine äußerst mächtige Form der Informationsverwaltung verweist. Man kann von Resten mit einer Betonung des Übriggebliebenen und mit einer implizit negativen Konnotation sprechen, aber man kann auch von Spuren sprechen und dabei die Idee einer Verweisung, eines Exzesses, eines gewissen sinnlichen Reichtums unterstreichen. In beiden Fällen handelt es sich um wesentliche Phänomene der modernen Gesellschaft. Also nicht um Pathologien, sondern um Grundelemente der normalen physiologischen Operationsweise der gegenwärtigen Gesellschaft. Natürlich werden Spuren – oder Reste – von jeder Form des Gedächtnisses oder der Sinnerzeugung produziert, aber nicht immer werden sie als solche beobachtet und in das Zentrum der Informationsverwaltung gestellt. Das wäre eben die Spezifizität der modernen Gesellschaft, die sich im Modell des Archivs ausdrückt. Was vergessen wird, ist, wie oben gemeint, nicht so, als ob es nie existiert hätte: In seiner Entstehung hat es in jedem Fall den Zustand des Systems, für das es sich ereignet hat, in gewissem Maße verändert – obwohl es dann als Datum verloren ging. Die Form des Archivs realisiert aber eine Möglichkeit, das Vergessen zu verwalten. Was in ihm abgelegt wird, wird denn faktisch vergessen – es handelt sich

5. Mit den Worten von Assmann (1995: 24): »Speicherung kann nun geradezu zu einer Form des Vergessens werden.« 21

2005-09-20 17-08-05 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

ELENA ESPOSITO

um Informationen, die nicht direkt verfügbar sind, wie es dagegen bei der Memorierung der Fall wäre (und für Plato handelte es sich, wie gesehen, tatsächlich um ein Vergessensinstrument). Es wird aber vergessen und aufbewahrt zugleich. Was bleibt und verfügbar ist, sind die im Katalog gesammelten Daten, die an sich wenig informativ sind,6 aber dazu dienen, wenn nötig andere ›vergessene‹ Daten zu aktivieren, die dagegen informativ werden können. In der Organisation des Archivs werden die Informationen gleichsam in einem Zustand der Latenz erhalten. Sie sind nicht direkt zugänglich und nicht sichtbar, werden aber nicht vernichtet und üben weiter einen Einfluss aus. Man weiß, dass es sie gibt, und man hat die Möglichkeit, sie zu berücksichtigen. Es ist also nicht so, als ob sie nicht existieren würden – dank der Reste, die ermöglichen, sie wieder manifest werden zu lassen, wenn das, auf das sie verweisen, interessiert. Was also im Gedächtnis erhalten wird, ist nicht das Ereignis, sondern seine Spur, die »trace«, welche nach Derrida den Ursprung von Sinn im Allgemeinen bildet (vgl. Derrida 1967: 95). Der Sinn fängt nämlich nicht jedes Mal von Anfang an und stiftet seine Bezüge und seine Kriterien nicht stets von Neuem. Der Sinn ist immer vor allem Wiederholung, aus der die Identität des jeweils betrachteten Inhalts entsteht. Die Wiederholung geht von Spuren aus. Eben von den auf vergessene Daten verweisenden Resten, von denen die aktuelle Signifikation abhängt. Es gibt nie eine absolute Neuheit, die als solche nicht einmal begreiflich wäre. Das neue Datum (Varietät) stützt sich auf schon verfügbare Informationen, die es erkennbar und verständlich machen (Redundanz). Deshalb ist die Spur (Rest) »archi-phénomène de la mémoire«, der Schrift und des Sinns im allgemeinen (Derrida 1967: 103). Gedächtnis ist in diesem Verständnis offensichtlich nicht nur und auch nicht primär Sammlung und Lagerung von Daten, sondern zuerst »Organisation des Zugriffs auf Information« (Luhmann 1993: 118), die Reste produziert, und, wenn sie ein zureichendes Niveau an Komplexität und Abstraktion erreicht hat, sich daraus bedient, um die Mehrheit der Informationen zu deaktivieren und latent zu halten. Es gibt also eine Verbindung zwischen dem sozialen Gebrauch

6. Deshalb die lang andauernde Schwierigkeit, konventionelle Techniken der Datenorganisation wie die alphabetische Ordnung zu akzeptieren, der ›sinnvolle‹ und bedeutsame Kriterien gegenübergestellt wurden – welche zum Beispiel die Hierarchie der Wesen oder die Ordnung des Kosmos wiedergaben. 22

2005-09-20 17-08-05 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

DIE VERGESSENEN RESTE: THEORIE UND PRAXIS DES BLINDEN FLECKS

der Reste und der Problematik der Latenz,7 welche eine lange Tradition im Bereich der Soziologie hat. Latenz wird erforscht, um Strukturen festzustellen, die gerade deshalb funktionieren, weil sie der Sicht und des Bewusstseins entzogen werden. Es handelt sich um eine Forschung, die, wie Merton bemerkt, eine besondere Empfindlichkeit für die paradoxalen Aspekte des sozialen Lebens erfordert (Merton 1949: 112, it. Ed.). Man erforscht das, was es nicht gibt, aber gerade deshalb Effekte produziert. Die vergessenen Daten funktionieren gleichsam latent als nicht aktualisierte Potentialitäten, als nicht verfügbare Ereignisse, die das System verändert haben. Sie können manifest werden, wenn sie, von den Resten ausgehend, aktiviert werden und tatsächlich Informationen produzieren. Je mehr Reste produziert werden, desto mehr Möglichkeiten werden erhalten. Wer sich mit Resten – sowie mit Latenz und Vergessen – auseinandersetzt, beschäftigt sich mit einem Gegenstand, der sich momentan entzieht. Was als vergessen beobachtet wird, ist in diesem Moment nicht mehr vergessen, so wie eine beobachtete Latenz nicht mehr latent ist. Auch ein Rest funktioniert als Verweisung auf etwas anderes und verliert diese Eigenschaft, wenn er an sich analysiert wird. Es handelt sich immer um Probleme, die auf die sehr allgemeine und unvermeidliche Frage des blinden Flecks verweisen (ausgehend von Foerster 1981: 288): ein der Sicht entzogener Bereich, der aber die Bedingung dafür ist, überhaupt sehen zu können. Wer den blinden Fleck beobachtet, ist ein Beobachter, der einen anderen Beobachter beobachtet und beobachtet, was er nicht sehen kann – oder, was aber dasselbe ist, beobachtet, wie der beobachtete Beobachter beobachtet. Der blinde Fleck ist in diesem Sinne nicht entfernbar und zeigt eine Grenze der Fähigkeiten des Systems. Er ist keine Pathologie, sondern eine physiologische Beschränkung seiner Operationen. Wer den blinden Fleck erkennen kann, hat wenigstens potentiell auch die Möglichkeit, Kenntnisse über sich selbst und die Prämissen der eigenen Beobachtung zu erwerben. Die Beobachtung der Reste gehört zur selben Konstellation. Es

7. Oder zwischen Resten und der »potentialisation« im Sinne von Barel (1979: 185ff.). Eine Neuheit, die in einem gewissen Sinne schon existierte, oder ein Prozess, bei dem Informationen aus dem bereits vorhandenen gewonnen wurden. Voraussetzung ist ein »mécanisme d’inhibition sociale«, bei dem etwas, ohne zu verschwinden, nicht verfügbar gemacht wird. Klassischer Hinweis zur Latenz ist Merton (1949: Kap. 1). 23

2005-09-20 17-08-06 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

ELENA ESPOSITO

handelt sich auch in diesem Fall um eine Kategorie des Beobachters zweiter Ordnung, und diese ist typisch für eine Semantik, die (wie wir es für den Fall der Moderne gesehen haben) ein zureichendes Niveau an Abstraktion und Komplexität erreicht hat, um über sich selbst reflektieren zu können. Der Fokus der Aufmerksamkeit hat sich dann von der Welt zur Beobachtung der Welt hin verschoben, und erst in dieser Hinsicht wird die Kategorie des Restes relevant. In der Beobachtung von Resten befragt sich ein System über sich selbst und über das, was es nicht tun kann – gerade weil es alles andere tun kann. Den blinden Fleck gibt es in jedem System. Aber erst ein zureichend komplexes System ist in der Lage, seinen eigenen blinden Fleck auch, wenn auch als Beobachter zweiter Ordnung, wahrzunehmen. Die Frage nach den Resten verweist daher auf ein philosophisches Problem, das weitaus komplexer ist als die bloße Frage nach den Resten im Sinne von Abfällen (denn dies wäre ein rein technisches Problem). Was das Thema faszinierend und etwas rätselhaft macht, ist die merkwürdige Unvermeidlichkeit von Resten, verbunden mit dem, worauf die Reste in ihrer Eigenschaft als Spuren verweisen. Zu untersuchen wären daher nicht die dysfunktionalen Reste, sondern die sie produzierenden positiv bewerteten Funktionen. Deshalb wandelt sich die Diskussion über Reste in eine (oft kritische) selbstreferentielle Diskussion über die Funktionsweise der westlichen Gesellschaft und über das, was sie nicht sehen kann: den blinden Fleck oder das Vergessen. Dieses ist nunmehr so mächtig, dass es immer schwieriger zu vergessen ist. Indem wir uns mit Resten befassen, befassen wir uns mit uns selbst. Indem wir uns mit Vergessen befassen, befassen wir uns mit Gedächtnis, in der einzigen uns nunmehr zugänglichen negativen und implizit paradoxalen Form.

Literatur Aristoteles (1997): »De memoria et reminiscentia. Über Gedächtnis und Erinnerung«. In: Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva naturalia), Eugen Dönt (Hg. und Übers.), Stuttgart: Philipp Reclam jun. Assmann, Jan (1995): »Text und Kommentar. Einführung«. In: Jan Assmann/Burkhard Gladigow (Hg.), Text und Kommentar. Archäologie der Literarischen Kommunikation IV, München: Fink, S. 9-34. Bacon, Francis (1597/1968): Essayes, London: Neudruck Theatrum Orbis Terrarum. Barel, Yves (1979): Le paradoxe et le système: Essai sur le fantastique social, Grenoble: P.U de Grenoble. 24

2005-09-20 17-08-06 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

DIE VERGESSENEN RESTE: THEORIE UND PRAXIS DES BLINDEN FLECKS

Derrida, Jaques (1967): De la grammatologie, Paris: Minuit. Eco, Umberto (1987): »An Ars Oblivionalis? Forget it!«. In: PMLA 1983, S. 254-261. Auch abgedr. in: Kos 30, S. 40-53.

Esposito, Elena (2002): Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Foerster, Heinz von (1971): »Technology: What Will It Mean to Librarians?«. In: Illinois Libraries, 53, 9, S. 785-803. Jetzt abgedr. in Foerster (1981: 211-230).

Ders. (1981): Observing Systems, Seaside (Cal.): Intersystems Publications. Foucault, Michel (1971): »Nietzsche, la généalogie, l’histoire«. In: Hommage a Jean Hyppolite, Paris: P.U.F. (dt. Übers. »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«. In: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/Main: Fischer 1987, S. 6990). Gracián, Baltasar (1993): Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit/Arthur Schopenhauer (Übers.), Zürich: Diogenes. Lachmann, Renate (1991): »Die Unlöschbarkeit der Zeichen: Das semiotische Unglück des Memoristen«. In: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.), Gedächtniskunst: Raum-Bild-Schrift, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 111-141. Le Goff, Jacques (1977-1982): Storia e memoria, Torino: Einaudi. Luhmann, Niklas (1993): Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp (Ed. 1995). Ders. (1996a): »Zeit und Gedächtnis«. In: Ders., Soziale Systeme, 2, S. 307-330. Ders. (1996b): »A Redescription of ›Romantic Art‹«. In: Modern Language Notes, 111, S. 506-522. Lurija, Alexander R. (1975): Una memoria prodigiosa, Roma: Editori Riuniti. Merton, Robert K. (1949): Social Theory and Social Structure, Glencoe: The Free Press (Ill.) (it. Übers.: Teoria e struttura sociale, Bologna: Il Mulino 1966). Montaigne, Michel de (1580-1588): Essais (dt. Übers.: 1996, Essais I-III, Diogenes, Zürich) Nietzsche, Friedrich (1874): »Unzeitgemässe Betrachtungen«. In: Ders. (1999): Werke, München-Wien: Carl Hanser Verlag, S. 111-229. Rossi, Paolo (1960): Clavis universalis. Arti mnemoniche e logica combinatoria da Lullo a Leibniz, Milano-Napoli: Ricciardi. Rouse, Richard H./Rouse, Mary A. (1990): »Concordances et indices«. In: HenriJean Marti (Hg.); Jean Vezin (Hg.), Mise en page et mise en texte du livre manuscrit, Paris: Promodis, S. 219-228. Weinrich, Harald (1996): Gibt es eine Kunst des Vergessens?, Basel: Schwabe & Co. Ders. (1997): Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München: Beck. Yates, Frances A. (1966): The Art of Memory, London: Routledge & Kegan Paul (it. Übers.: L’arte della memoria, Torino: Einaudi 1972, ed. 1993).

25

2005-09-20 17-08-06 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

13- 25) T01_01 esposito.p 95224307054

2005-09-20 17-08-07 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

26

) vakat 026.p 95224307350

DAS KYBERNETISCHE OPFER. AUSGESCHLOSSENE DATEN

Das kybernetische Opfer. Ausgeschlossene Daten Wolfgang Ernst

Ein Rest ist etwas, das aus dem Kreislauf, der Ökonomie, ausgekoppelt wurde – insofern gerade kein Archiv. Jacques Derrida hat die Frage danach gestellt, was im Zeitalter technischer Aufzeichnung archivierbar ist oder eben nicht archiviert wird (Derrida 1991: 400, 419). Im Sinne Michel Foucaults meint das Archiv kein Gedächtnis, sondern vielmehr das Gesetz des jeweils Sagbaren. Im Zentrum dieses Textes wird also die Frage stehen, welche Reste durch das Gesetz des Digitalen produziert werden – jene Reste, die in medialen Prozessen an- und abfallen und in der ästhetischen Wahrnehmung zumeist nicht bemerkt werden. Demgegenüber schaut der medienarchäologische Blick auf aisthetische Wahrnehmungen, welche die menschliche Bewusstseinsschwelle unterlaufen – im Sinne von Leibniz’ subliminalen »petits perceptions«, oder gar Wahrnehmungen, die überhaupt nicht mehr von Lebewesen, sondern von Maschinen getätigt werden.

Ein- und Ausschluss: Kulturtechnik des Archivs (Schaltalgebra) In der Epoche automatisierter Datenverarbeitung treten zu klassischen Institutionen und Praktiken des ›Aus- und Einschließens‹ mediale Apparate und zu bisherigen Kultur-Praktiken medial zeitkritische Operativität hinzu. Es geht um buchstäbliche Mechanismen der Auswahl, Wertung und Kanonisierung von Daten; von daher mein Versuch, eine archiv-kybernetische These zu entwickeln, um Gedächtnistechnologie und Medientheorie zu verbinden. Natürlich gibt es ästhetisch gerechtfertigte Opfer, etwa den Ton als ein Opfer 27

2005-09-20 17-08-08 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

WOLFGANG ERNST

der Exklusion von Geräusch. Vom spezifisch ›kybernetischen Opfer‹ ist die Rede in Hinblick auf das, was durch kybernetische Operationen ausgefiltert wird. Kybernetik ist als Wissenschaft und Praxis von Steuerungsprozessen zugleich die Lehre von Ein- und Ausschlusspraktiken, logisch ebenso wie elektrotechnisch. Im Folgenden soll es darum gehen, welche Daten durch die kybernetische Logik und Ästhetik nicht diskursiv und allgemein, sondern hochtechnisch präzise ausgeschlossen werden – was also die analog/digitalDifferenz und die damit verbundenen Filterprozesse betrifft. Schaltalgebra lässt sich an der Relaiskontaktschaltung erläutern, die zwischen Arbeitskontakten (Schließer) und Ruhekontakten (Öffner) unterscheidet. Ruhe als Öffnung heißt hier, dass kein Strom fließt; umgekehrt schließt Strom den Kontakt – also invers zur Logik klassischer Archiv-Türen. Öffnung heißt hier – etwas paradox – ›Erschließung‹ im wörtlichen Sinn (Menne-Haritz 1994: 229). Verschlussmechanismen sind die Verschränkung von Mechanik und Code – womit deutlich wird, dass es sich beim Archiv um einen kybernetisch geregelten Raum handelt. Jacques Lacan hat 1955 die Programmierbarkeit von Hardware ausdrücklich am Beispiel einer Tür beschrieben: Die Tür ist das Symbol, an dem sich Öffnung und Schließung verkreuzt und damit der Durchgang des Menschen immer erkennbar bleibt. Seit dem Augenblick aber, da man gelernt hat, beide Züge der Tür aufeinanderzulegen, nämlich Schaltkreise als solche zu realisieren, bei denen etwas gerade dann durchgeht, wenn sie geschlossen sind (Lacan 1978: 347), treten an die Stelle von Institutionen elektrifizierte Automaten. Entscheidend ist also das Schaltelement, »das den Fluß der Informationen im betreffenden System freigeben, sperren oder ändern kann. Die Signalwerte 0 und 1 sind Schaltfunktionen.« Was aufbewahrt wird und was als Abfall endet, ist eine Funktion der Deklaration. Der eigentliche Akt des Archivierens liegt vor dem Archiv, wie Kafkas Türhüter ›vor dem Gesetz‹: die (kybernetische) Entscheidung der Kassation. Dem wird ein zeitlicher Puffer vorgeschaltet, eine différance, das ›Zwischenarchiv‹ (für die Bundesbehörden in St. Augustin). In der Tat, das Archiv ist ein Beiseiteschieben: nicht neben der aktualen Prozessierung (Registratur im Amtsdeutsch von Akten in Verwaltung bei Behörden), sondern neben der (Alt-)Registratur. Statt Endlager also zunehmend eine Verlagerung auf ›Zwischenspeicher‹ – eine Verzeitlichung der Kategorie des Restes, als katechon – wie der ›Papierkorb‹ auf MacIntosh Interfaces als DeskTop-Metapher: Moratorium, Aufschub des Abfalls, Verzeitli-

28

2005-09-20 17-08-09 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

DAS KYBERNETISCHE OPFER. AUSGESCHLOSSENE DATEN

chung dieser Geste des Wegwerfens, negentropische Reversibilität auf Zeit.

Zeit-Reste Damit kommen wir auf eine Definition des Ästhetischen zurück, derzufolge Wahrnehmung zunehmend auch von der Rezeptionsseite her einen dynamisierten, prozessualen, ephemeren und performativen Zeitcharakter fordert. Konzentrieren wir uns also auf das Zwischenfeld von Zeittheorie und Ästhetik. Im deutschen Verb ›Rasten‹ (von ahd. rasta für »Ruhe, Ausruhen; Wegstrecke, Meile; Weile, Zeitraum«) schwingt etwas mit, was ich analogsetzen möchte mit einer Prädikatisierung des Rests: ›resten‹. Denn Rest ist ebenso auch eine Zeitkategorie. Zeit-Restlosigkeit: Der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald plädierte 1909 dafür, Organisationsformen zu schaffen, die ein Arbeiten, Forschen, Operieren »ohne Zeitverluste« ermöglichen; in Gilbreths Bewegungsmessungen zur Optimierung von Arbeitsabläufen in Fabriken und in der so genannten ›Zeit-Liga‹ des frührevolutionären Moskau wurde diese Ästhetik der Minimierung von Rest-Zeit fortgeschrieben. Die Reste-Frage wird vollends zeitkritisch im Begriff der ›Echtzeit‹ digitaler Operationen, wo kein operativ entscheidender Zeitverzug mehr herrscht. Temporalisieren wir also unser Thema, widmen wir uns der Zeit als Kriterium von ›Rest‹ – mit der These, dass es ›zeitkritische‹ Prozesse sind (Zeitverarbeitung als kritischer Parameter), welche das Wesen der elektronischen Medien definieren. Die zweiwertige, binäre Logik ist jene Grundlage unserer Rechner, die sich historisch durchgesetzt hat. Demgegenüber lässt die ternäre, drei-(oder gar mehr)wertige Logik auch Zwischenwerte zu, die in der zweiwertigen Logik unter den Tisch fallen. Vertraut ist uns dieser Fall durch Suchmaschinen im Internet, die mit Boolschen Operatoren suchen lassen: Unter den Tisch fällt, was damit nicht findbar ist, es sei denn mit ›fuzzy search‹. Gibt es Reste an Wahrheit? Der Wahrheitswert dazwischen lässt sich als ›unbestimmt‹ deuten, hart am Rande der strikten Logik (und eine Schnittstelle zur Quantenphysik immerhin). In der Schaltalgebra lenkt die dreiwertige Logik die Aufmerksamkeit auf jenen Rest-Zustand eines Relais, der in der binären Logik nicht beachtet wird; tatsächlich kann ein Kontakt im Prinzip nicht nur zwei, sondern drei Zustände annehmen: »den Zustand des Geschlossenseins, des Geöffnetseins und

29

2005-09-20 17-08-09 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

WOLFGANG ERNST

den Zustand des Aufenthalts zwischen diesen beiden Entstellungen. Dies muß vor allem berücksichtigt werden, wenn vom Zeitverlauf des Schließens und Öffnens der Kontakt nicht abstrahiert werden kann« (Wörterbuch der Kybernetik 1969: 392f.) – wenn es sich also (im Unterschied zur klassischen Regelungstechnik von Archiv-Zugang oder – Ausschluss etwa) um zeitkritische Prozesse handelt – wie im Fall der ›Neuen Medien‹.

Entsorgung im Archiv Restwertigkeit liegt nicht intrinsisch in der Materialität der Gegenstände, sondern in ihrer symbolischen Zuschreibung. Eine Informationstheorie des Archivs wie von Schaltungen operiert mit Begriffen der Redundanz und Selektion. Aber das Archiv trennt nicht nur bewahrenswerte von überlieferungstechnisch wertlosen Papieren. Sondern es gibt auch konkretere Materialitäten, die von ihm ausgeschlossen werden. Archivpraxis war lange Zeit, mittelalterliche Urkunden von ihrem Beiwerk zu trennen (etwa Siegel); diese gesondert zu verwahren oder eben zu entsorgen wie Pergament auf dem Fischmarkt als Packpapier. Zum Beispiel die Monumenta Germaniae Historica, das große Editionsunternehmen deutscher Urkunden des Mittelalters: Die Reduktion der Editoren auf den reinen Schriftsinn (die Information) im Buchdruck ging lange Zeit auf Kosten der semiotischen Urkundenqualitäten. So bezieht sich das archivische Recht auf ›Kassation‹ auch auf höchst materiale Reste, die bis hin zu den AV-Archiven unserer Rundfunkanstalten virulent bleiben: alte 2 1/2 Zoll MAZ-Bänder werden nach ihrer sicherungstechnischen und raumsparenden Digitalisierung in Sender-Archiven nicht automatisch entsorgt, sondern verbleiben als Autorisierung des Digitalisats. Der materielle Rest verbürgt das elektromagnetische Potential. Nur vordergründig wird im digitalen Raum die archivalische Information durch die Option von Datenmigration ›medienunabhängig‹.1 Doch das nur um den Preis/die Preisgabe der intrinsischen Information archivalischer Materialität – der ästhetische Rest des klassischen Archivs, ein materialer Widerstand des Realen, so dass für Archive in Zukunft eine duale Funktion verbleibt: einerseits der online-Zugang mit Hochleistungsmaschinen; andererseits (H)Ort für

1. »Conversion of documents into electronic form makes them medium-independent« (Nosevich 2004: 230). 30

2005-09-20 17-08-09 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

DAS KYBERNETISCHE OPFER. AUSGESCHLOSSENE DATEN

»jene, die sich im Lesesaal des Archivs kontemplativ über Originalquellen beugen, an denen sich uralter Staub festgesetzt hat« (Tanner 2003: 348) – jener Rest dessen, was zu digitalisieren ökonomisch (Arbeitszeit) nicht lohnte und damit unerwartete Information bereithält. Das Archiv kommt nicht in der Virtualität zum Verschwinden; aus der physischen Eigenschaft von Speichern in digitalen Medien meldet es sich in Form von Rauschen zu Wort, als physikalischer Übertragungswiderstand. »Übertragen ließe sich hier auch von einer ›Mitsprache‹ der medialen Materialität von Speicherung, Übertragung und Intelligenz reden, ja der materiale Widerstand selbst als Zeitfaktor benennen« – wie schon Aristoteles am Luftwiderstand in der Schallübertragung das Medium (to metaxy) selbst festmachte. Dagegen steht die Option der restlosen Löschung im digitalen Raum, die restlose Auflösung durch Aktivierung der ›Delete‹-Taste, die – daran hat Jean-François Lyotard in »Der Widerstreit« erinnert – in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern fast Wirklichkeit geworden wäre (Lyotard 1989). Damit sind wir erneut bei der Frage nach materialer Zeugenschaft im elektronischen Zeitalter. Zum Beispiel der Jerusalemer Eichmann-Prozess, der sich auf abenteuerlichen Wegen auch als Videoaufzeichnung archiviert hat. Eyal Sivans Film Der Spezialist bedient sich dieser Tapes, um sie minimal digital zu manipulieren – durch Verstärkung des Kratzgeräuschs von Eichmanns Notizen während der Verhandlung etwa. Dient der materielle Träger als Autorisierung der immateriellen elektronischen Dokumente, als materialer Widerstand des Realen? Frei nach Walter Seitter weise ich darauf hin: Das Wort ›Immaterialität‹ besteht zu 80 Prozent aus ›Materialität‹. Hier wird Archäologie nicht nur im Sinne Foucaults, sondern der akademischen Disziplin konkret; sie ist durch die Praxis des direkten physischen Kontaktes mit Rückständen der Vergangenheit ebenso privilegiert wie die Archivare und wird damit zu einem Lackmustest der so genannten Virtualität. Gerade Medienwissenschaft ist am Veto des Materialen interessiert. Für Archäologen sind gerade die Reste, die sich im Gegensatz zu Monumenten unbeabsichtigt erhalten haben, von extremem Informationswert, weil sie kulturell-semantisch nicht redundant sind (›Überreste‹, wie sie Johann Gustav Droysens Historik ausdrücklich von Quellen im Dienst der Tradition absetzt). Staub selbst ist – für Archäologen – immer schon Träger von Information, etwa als Datierungsmethode. Und Staub konserviert: Die British Library verbietet in der »rare books collections«, Staub zu wischen. An dieser Stelle kommt mir das Ausstellungsprojekt Staub der Architekturtheoreti31

2005-09-20 17-08-10 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

WOLFGANG ERNST

kerin Bettina Vismann in den Sinn. Sie fragt nach »neuen Räumen« des 21. Jahrhunderts, in denen der »Reinraum« zur Güteklasse wird. Luft selbst wird darin von Resten ausgefiltert und rein zurück in den Kreislauf gebracht; nur virtuelle Räume sind wirkliche Reinräume. Es gibt eine hochtechnische Paranoia vor Staubanfälligkeit; elektronische Datenträger sind »ungleich schutzbedürftiger als konventionelle Schriftträger, weil sie in jedem Detail informationstragend sind« (Schüller o.J.: 6). Der Einbruch eines Staubkorns auf ein Halbleiter-Chip während der Produktion beschädigt dessen SiliziumStruktur irreparabel. Anarchivisch steht dagegen die Sammlung von Staub; Staub lässt sich nicht wirklich klassifizieren. Jedes Material kann zu Staub werden; Staub als Rest steht daher auf Seiten der Unordnung, der Entropie als Bedrohung aller negentropischen Energie namens Kultur.

Das Registrierbare und das Registrierte Jacques Derrida verschärft diese Fragen in seiner Schrift ›Was vom Feuer übrig blieb‹ – Asche (Derrida 1982: 59). Carl Schmitt hat unter dem Titel »Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch« 1918 ein Historikerphantasma entlarvt: Jeder Erdenbewohner schreibt darin ständig alles auf; somit wird die Welt der Geschichtsschreibung ganz und gar zugänglich. Selbst die Asche des Diktators dieses Systems wird in Druckerschwärze verwandelt weltweit in den Diskurs der Aufschreibesysteme eingespeist. Stellt sich das Phantasma der »restlosen Erfassung« (Krajewski 2002). Was passiert, wenn immer mehr aufgezeichnet wird – nicht nur im Reich des Symbolischen (Schrift, Druck), sondern auch im Realen elektronischer Bild- und Tonaufzeichnung? Ein gewaltiges Archiv ist da am Entstehen, »eine babylonische Videothek« (Anonymus 1982: 64) – deren Copyright gar nicht geklärt ist. Und die Trefferquote? »Der Rest ist Schweigen und elektronisches Flimmern« (ebd.). So werden wir unsterblich in den Augen und Datenbanken von Überwachungskameras: Datenspuren hinterlassend: »Ein Haufen Pixel und Datenmüll, die auch dann noch existieren werden, wenn wir längst nicht mehr sind und eine Art Negativabdruck von uns ermöglichen.« Quantenphysikalisch formuliert kann nur das, was beobachtet wird, gemessen werden. Rest wäre dann das, was überhaupt nicht aufgezeichnet wird, denn »unzählig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen menschlichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder sie sind durch kein Zeichen festgehalten worden«, schreibt 32

2005-09-20 17-08-10 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

DAS KYBERNETISCHE OPFER. AUSGESCHLOSSENE DATEN

Schiller mit Blick auf die Grenzen der Aufzeichenbarkeit von Welt durch das Alphabet (Schiller 1966: 18). Im Quantisierungsrauschen, das bei Wandlungen analoger Signale in digitale Prozesse anfällt, kulminiert diese Reste-Produktion. »Die Unbilden des Zufalls aber muß man hinunterwürgen«, schreibt Nietzsche (Nietzsche 1988, Bd. 2: 258). Ganz praktisch fragt der Medienhistoriker Wolfgang Hagen im Anschluss daran, was am klassischen ›Fotografieren‹ durch digitale Bilddetektoren verlorengeht: »Wenig«; vielmehr wird sogar etwas gewonnen: etwa Geschwindigkeit. Wenn mit ›CCDs‹ Licht in digitale Pixel verwandelt und damit berechenbar wird, was daran berechenbar ist (demgegenüber schließt auch Turings Maschine einen Rest des Unberechenbaren gerade aus!), gelangen wir zu einem vollständig reversiblen Prozess. Hier sind wir im Bereich einer genuin mathematischen Ästhetik, die von Berechnung möglichst restlos ausgeht. »Die Hyäne ist das Wappentier der Mathematik, sie weiß, daß kein Rest bleiben darf«, schreibt Heiner Müller. David Hilberts 28 Thesen auf der Mathematikerkonferenz in Paris 1900 zielten auf Widerspruchsfreiheit, Abgeschlossenheit, prinzipielle Vollständigkeit – ›reine‹ Formalisierung, anschauungslos, Mathematik der Restlosigkeit. Informationelle Kodierung filtert Sprachvielfalt aus.

Kompressionsverfahren visuell Innerhalb des digitalen Raums also sind wir restlos glücklich. Entscheidend ist vielmehr das ›Vorzimmer‹ dieser Macht, also das, was bei der analog/digital-Umwandlung verlorengeht. Das Scannen und Bearbeiten von Bildvorlagen geschieht in Bitmustern, also pixelweise. Der Scanner tastet ein Objekt zunächst mit einem Licht- oder Elektronenstrahl punkt- bzw. zeilenförmig ab; erst dann kann er die erhaltenen Messwerte weiterverarbeiten, wenn sie digitalisiert worden sind, also rechenbar. Was fortfällt, sind die kontinuierlichen Übergänge, und so kommt es zu Fehlerraten in der Optical-Character-Recognition. Gottfried Wilhelm Leibniz hat dies einleuchtend in seiner Schrift »Apokatastasis panton« an der Differenz zwischen einem real wachsenden Grashalm und der Möglichkeit, diesen Prozess alphabetisch aufzuschreiben, illustriert. Dem stellt derselbe Leibniz ersatzweise die Differentialrechnung gegenüber, wo mit Limeswerten, also mit der kleinsten Differenz, die im unendlichen Fluchtpunkt keinen Unterschied mehr macht, gerechnet wird – Reste, die nicht mehr 33

2005-09-20 17-08-10 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

WOLFGANG ERNST

zählen. Leibniz beschrieb seine Differenzialrechnung als ein gewisses allgemeines Prinzip, das nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Physik nützlich ist (Leibniz 1992: 74). Mit Hilfe intelligenter Kompressionsverfahren lässt sich die Größe der Bildpunktmenge einer Videoaufnahme tatsächlich »ohne einen spürbaren Qualitätsverlust« (Böszörmenyi) drastisch reduzieren – wobei die diesbezügliche Toleranz nicht unabhängig von der visuellen Schulung des Beobachters ist. Im Laufe der Kompression wird die Bildpunktmenge einer Reihe von mathematischen Transformationen unterworfen, von denen einige verlustfrei, andere aber verlustbehaftet sind. Das, was ausgefiltert wird, lässt sich am Beispiel des MPEG-Formats nachvollziehen, ein Prozess des Komprimierens, um den Datenstrom einer digitalisierten Videosequenz zu reduzieren. Verlustfrei ist etwa die Lauflängen-Kodierung, bei der fortlaufende Bildbereiche mit der gleichen Farbe entfernt werden. Mehrmals hintereinander vorkommende Zeichen werden nur einmal zusammengefasst und mit einem Zähler kodiert. Verlustbehaftete Komprimierungsmethoden versuchen hingegen, jene Bild- und Toninformationen zu entfernen, die dem Betrachter subjektiv nicht auffallen.2 Die Mechanik (mechané, also wörtlich: »List«) der verlustbehafteten Komprimierung basiert auf der Erkenntnis, dass der Mensch annähernde Repräsentationen von Bildern weitgehend korrigieren kann. Als Ergebnis erhalten wir eine interne Darstellung der Videoaufnahme, die viel weniger Speicherplatz als die ursprüngliche Darstellung benötigt, und aus der die ursprünglichen Bilder – abgesehen von den beabsichtigten Verlusten – wiederhergestellt werden können als für den Menschen wahrnehmbares Bild. Wenn aber Computer nicht mehr nur mit Menschen, sondern untereinander kommunizieren, bemerken sie diese Differenz sehr genau. Ob in Börsendaten, oder aber in so genannten intelligenten Waffen – hier wird ein solcher Rest tödlich. Bildkompressionsfehler aber manifestieren sich in so genannten ›Artefakten‹ (Klötzchen), besonders im Bereich scharfer Kanten und Übergänge; hier scheint im Fehler das Digitale (Treppen statt kontinuierlicher Kurven) auf.

2. Siehe »Digital Video Guide III: Videoformate und Kompressionstechniken« = www.de.tomshardware.com/video/19990816/video-3-04.html (Januar 2004) 34

2005-09-20 17-08-11 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

DAS KYBERNETISCHE OPFER. AUSGESCHLOSSENE DATEN

Die Nyquist-Shannon-Interpolation »Information is information, not matter or energy. No materialism which does not admit this can survive at the present day«, schreibt Norbert Wiener (Wiener 1962: 132). Demgegenüber antwortete die sowjetische Nachrichtentheorie: »Uns erscheint jene Tatsache sehr wichtig, daß eine Nachricht nie anders existiert als in Form eines Signals eines Ereignisses, d.h. in Form eines materiellen Objektes.« (Poletajew 1962: 30) Folgt der Hinweis auf den Rest: »Keine Beschreibung eines Ereignisses durch Signale kann vollständig sein« (ebd.). Von analogen Übertragungsmedien her gedacht, ist die diskrete Darstellung eines kontinuierlichen Signals dessen Quantelung. Die Kodierungsgenauigkeit wird dem Wahrnehmungsmodell des Menschen angepasst – also ein medienanthropologisches Kriterium entscheidet. »Im Falle der Quantelung nach der Zeit werden diejenigen Werte des kontinuierlichen Signals fixiert, die im gegbenen Moment existieren« (Poletajew 1962: 35); der Treppen-Übersprung wird durch statistische Abrundung eingeebnet. Dennoch wird dabei das Signal bei der Quantelung entstellt. Hinzu kommt das Rauschen, die zufälligen Einwirkungen und Verzerrungen, denen das Signal bei seiner Entstehung, Übertragung oder Speicherung unterworfen ist; Claude Shannon beschreibt dies 1949 als »Communication in the presence of noise«. Die Nyquist-Frequenz ist die (kleinste) Sampling-Rate, welche erlaubt, ein Signal – für menschliche Wahrnehmung! – verlustfrei zu diskretisieren. Hier gilt die Formel: Je höher die Zahl der Abtastungen pro Zeiteinheit, desto genauer kann das Ausgangssignal abgebildet werden. »Zugleich steigt aber auch das Datenaufkommen«, womit diese Ästhetik zu einer von Rechnerkapazitäten wird. Bei höchster Signalfrequenz in kontiniuierlichen Medien ist mindestens eine zweimalige Abtastung pro Schwingung nötig. ›Rest‹ ist hier das, was erst bei der analog/digital-Umwandlung, dann wiederum bei der digital/analog-Rückumwandlung ausgefiltert wird. Signalübertragung von einem Medium zum anderen ist nur unter Verlusten möglich, so »daß das empfangene Signal nicht unbedingt dasselbe ist wie jenes, das vom Sender ausgestrahlt wurde« (Shannon 1976: 77) – Aliasing und Reste sind hier am Werk. Dieser Befund tritt bei jedem Medienwechsel zutage; jede Übertragung ist eine Produktion von Resten. Analoge Speicherung (etwa auf Schallplatte) bewahrt das Reale des Tons, aber um den Preis, gleichzeitig Rauschen mitzuschleppen oder gar mitzugenerieren – ›Abfall‹ als Überschuss. Digital wiederum wird ein Signalanteil ausgefiltert – Rest als Mangel. Streng ge35

2005-09-20 17-08-11 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

WOLFGANG ERNST

nommen sind alle Zwischenwerte eines kontinuierlichen Signals zu jedem Zeitpunkt relevant. Was fortfällt, wenn nur punktuell abgetastet wird, lässt sich durch extreme Verlangsamung der Abtastrate sogar für menschliche Ohren und Augen hörbar und sichtbar machen. Zunächst das Ausgangssignal im akustischen Raum, etwa der mechanisch, durch Stifte auf einer Walze digital – quasi im Lochkartenprinzip – generierte Klang einer Spieluhr, menschlichen Ohren zugetragen durch das physikalische Medium Luft – und verstärkt durch den analogen Medienverbund von Mikrophon und Lautsprecher. Hier werden die stetigen Schwingungen auch stetig übertragen. Gelingt es im Sinne der Leibniz’schen Differentialrechnung, dem digitalen Rechner diese analoge Qualität physikalischer Welt in Form stetiger Funktionen zu übergeben? Doch Achtung, verfallen wir nicht einer Ontologisierung des Analogen. Weder ist das Analoge das Vollständige, noch demgegenüber das Digitale ein Verlust. Vielmehr geht es um differente Einschreibepraktiken; gemeint ist eine rein differentielle Unterscheidung von ›analog‹ und ›digital‹. Sobald analoge Klänge digital eingelesen werden, kommt es zur Ausfiltertung, Rasterung. Was durch dieses Raster fällt, wie ein Netz, sind die kleinsten silbernen Fische, etwa Obertöne – ein (Ex)Sample hierzu aus dem Computerprogramm SuperCollider, wo Aliasing-Effekte an einem Sound-File deutlich hörbar werden, wenn wir die Abtastfrequenz in Echtzeit drastisch herunterfahren, bis zur extremen Unterabtastung. Vergessen wir nicht, dass hierbei die angestrebte Anschauung der Differenz analog/digital ihrerseits im digitalen Medium Computer dargestellt wird – das Wunder jener Maschine, die alle anderen Kanäle zu simulieren vermag. Papier vermag Buchstaben grammatologisch zu speichern, aber nicht auch operativ zu vollziehen. Hier also zumindest das Programm: ( // 1. start the engine s = Server.internal; s.boot; ) ( // 2. load a soundfile f = »sounds/spubito.wav«; b = Buffer.read(s, f); )

36

2005-09-20 17-08-12 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

DAS KYBERNETISCHE OPFER. AUSGESCHLOSSENE DATEN

( // 3.1 sample and hold file { var in, out; m = MouseX.kr(50,20000,0); in = PlayBuf.ar(1,b.bufnum, BufRateScale.kr(b.bufnum), loop:1); //in = AudioIn.ar(1); out = Latch.ar(in, SinOsc.ar(m)); [in, out] }.play(s); ) ( // 4. scope it w = SCWindow.new(»my own scope«, Rect(20, 20, 400, 500)); w.view.decorator = FlowLayout(w.view.bounds); c = Stethoscope.new(s, view:w.view); w.onClose = { c.free }; // don’t forget this w.front; w.bounds= Rect(322, 10, 660, 660) ) Die Übersetzung von Klang aus dem Reich der Physik in das der mathematisierten Maschinen bedeutet schlicht, dass digitale Aufzeichnung analoge Wellen in einen Strom von Zahlwerten verwandelt und fortan eben Zahlen, nicht mehr Wellen verarbeitet. Der techno-organizistische Begriff des ›streaming‹ verhüllt metaphorisch, dass Signale diskret verarbeitet werden. Datenstreaming heißt Filtern: das, was von menschlichen Ohren nicht mehr wahrgenommen wird, oder von Augen nicht mehr gesehen. Welche Information geht dabei verloren? Aber der binäre Rechner trennt überhaupt nicht mehr ontologisch zwischen ›Rest‹ und ›Original‹; ihm ist alles gleichrangig als Bits verfügbar oder aber es ist nicht(s).

Datenverluste in A/D-Umwandlung und das Ohr Reste fallen bei Medienwechseln an. Die verbale (symbolische) Übersetzung des Realen geht nicht restlos vonstatten; schon die vokalalphabetische Notation seit Homer bedeutet einen Filterprozess von Sprache, der ihre kontinuierliche Wahrnehmung in eine diskrete verwandelte – Geburt der Linguistik (Sprache als Phoneme, bei Aristoteles) aus der diskreten Schrift. Das wird erst im 19. Jahrhundert wieder, mit der Frequenzmesung der Stimme, spektrographisch unterlaufen. Und dann die rhetorische Tradition der Bildbeschreibung: 37

2005-09-20 17-08-13 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

WOLFGANG ERNST

»Ekphrasis as a genre of writing is dependent […] on the risky presumption that the visual work of art can be translated into the terms of verbal discourse without remainder. […] Nothing that can be seen in the work is taken as being inaccessible to verbal description.« (Bann 1990: 28) A/D-Umwandlung impliziert immer auch den Widerstreit zwischen Zählung und Erzählung, Reden und alphabetischer Notation. Etwa in Alphons Bertillons anthropometrischer Methode des »Signalement«, also der »Beschreibung einer Person zum Zweck der Wiedererkennung« (S. XIX): Was an zu vermessenden Körpermerkmalen nicht punktmäßig, nicht numerisch erfaßbar ist, nämlich die »besondere Merkmale«, bedarf der verbalen Beschreibung. Bertillon zufolge sind Fehler, Mißerfolge und damit Restverluste im Verfahren keine Funktion der Technik (Photographie), sondern des humanen Messens und Dateneintrags. Eine Frage im Sinne von Leibniz’ Parabel »Apokatastasis panton«: Schriftliche Protokolle verbaler Interaktionen stellen zwar eine beträchtliche Vereinfachung des Materials dar, sind aber unbefriedigend, weil sie kaum mehr als den rein sprachlichen Inhalt vermitteln, den Großteil des analogen Materials dagegen unberücksichtigt lassen (Watzlawick/ Beavin/Jackson 1972: 72, Anm. 1). Demgegenüber zeichnet das Grammophon auch das Reale des kommunikativen Ereignisses auf – den Rest. Zwischen der A/D-Umwandlung bei der Eingabe und der D/A-Umwandlung bei der Ausgabe kommt es zu permanenten Synchronisierungsschwierigkeiten, was zu hörbaren Verzerrungen des ›Rests‹ führen kann. ›Reste‹ fallen als Verluste an der Schnittstelle von Computer und Physik (also Welt), nicht aber im Computer selbst an. Wenn beide Schnittstellen zur (Außen-)Welt untereinander rückgekoppelt werden, entsteht eine »kybernetische Maschine« (Wörterbuch der Kybernetik 1969: 329). Diese Maschine erlaubt Kontrolle über zwei Variablen, die Samplingrate (die Anzahl der Samples pro Sekunde) und die Sampling-präzision (Gradation). Im Fall von CDs heißt dies 44100 Hertz; auf diese Art kommt die Ausgabe der orginalen Wellenform so nahe, dass sie für (die meisten) menschlichen Ohren wiedergabegetreu erscheint – ein Betrug unserer Wahrnehmung durch zeitdiskrete Medienoperationen. Es geht mir also am Ende um die Beschreibung des zeitbezogenen ›Rests‹ als Funktion zeitkritischer Medienprozesse. Das alles erschließt sich für uns analytisch privilegiert im akustischen Kanal, denn erstens entfaltet sich auch Akustik erst in der Zeit und zweitens ist hier mechanische Berechnung im Bund mit der Physiologie des Ohrs selbst, das mechanisch auf physikalische Bewegung 38

2005-09-20 17-08-13 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

DAS KYBERNETISCHE OPFER. AUSGESCHLOSSENE DATEN

(Druckwellen) reagiert und sie in elektrische Signale übersetzt, welche das Hirn zu verarbeiten versteht. Die binaurale Akustik ist zeitkritisch, indem sie die von beiden Ohren kommende Klanginformation nach dem Zeitpunkt ihres Eintreffens als Lokalisationstechnik ausdifferenziert – eine zeitkritische ›Ortung‹ (Sonar, Echolot) also. Akouein meint altgriechisch das buchstäblich ›gerichtete‹ Hören, benutzt von Homer zur Beschreibung dessen, was Odysseus als Sirenengesang vernahm. Gerichtetes Hören schaltet andere Geräuschquellen aus (der Cocktailparty-Effekt), etwa Meeresrauschen im Gegensatz zu Vokalgesang. Hermeneutik und Restevernichtung stehen hier im aisthetischen Bund.

Das Kratzen im Grammophon: Archivischer Rest, mediales Rauschen Der Stecher eines Kupferstichs graviert Linie für Linie ein; das seitlich der Furche emporgedrückte Metall, der ›Grat‹, wird mit einem stählernen Schaber abgeschabt und dann poliert. Damit sind wir bei der Furche der Schallplatte (groove), die sich auch materiell abnutzt. Solange Technologien Schall zwar im Realen auf Reales aufzeichnen, nicht aber codieren konnten, waren sie Rauschen ausgeliefert (vgl. Heidenreich 1996: 17). Nun stellt sich zur Diskussion, ob solches Rauschen an Audio-Reproduktionen von frühen Wachswalzen ausgefiltert werden soll oder nicht. Davor aber steht die Abtastbarkeit der akustischen Information überhaupt, etwa im Fall des seit Beginn des 20. Jahrhunderts aufgebauten Berliner PhonogrammArchivs mit Kopien von Edison-Wachswalzen mit ethnographischer Musik. Es blieb stumm, insofern lange keine befriedigende Methode der zerstörungsfreien Galvano-Abspielung bekannt war. Im Rahmen des Projektes SpuBiTo (Spur-Bild-Ton) entwickelte die Gesellschaft für angewandte Informatik ein System zur Gewinnung der Toninformation über ein hochgenaues mechanisches Abtastsystem, welches durch die von einem Bildverarbeitungssystem gelieferten Informationen exakt auf der Mitte der Tonspur gehalten wird. Aus dem gemessenen Höhenprofil wird die Toninformation rekonstruiert; die wiedergewonnenen Klangdokumente können anschließend digital weiterbearbeitet und auf CDs übertragen werden (vgl. www.gfai.de/projekte/spubito). Doch in welcher Hinsicht und von welchem Moment an sprechen wir vom ›Schallarchiv‹: Ist nicht schon die phonographische Wachswalze selbst ein Archiv – des Realen allerdings, mit all seinen 39

2005-09-20 17-08-13 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

WOLFGANG ERNST

unarchivierbaren Rest-Geräuschen und seinem Rauschen? Sollen wir wirklich solche alten Aufnahmen einem digitalen Remastering unterziehen, die Originalwalzen aus dem klimatisierten Archiv holen und Nebengeräusche ausfiltern? Dies ist tatsächlich ein musikalisch-kybernetisches ›Opfer‹ von Rest. Die Nachbearbeitung eines akustischen Signals bringt die Diferenz zwischen Originalsignal – der analogen Wellendarstellung von stimmlichen Vibrationen – und digital rekonstruiertem Signal nicht zum Verschwinden, wie es ein Spektrogramm pikanterweise am Wort ›Geräusch‹ illustrieren mag (Schneider 2001: 151, Abb. 8-4). Zunächst entstehen bei der Rekonstruktion des Signals zahlreiche Amplitudendiskontinuitäten, die mit Wavelettransformation herausgefiltert werden. Doch durch Filterung geht ein Teil des Frequenzspektrums verloren, was den notorischen roboterhaften Klang ergibt. Beim Filtern kommen Artefakte zustande, etwa künstlich erzeugte Stimm-Formanten; die Zeitfunktion s(t) des rekonstruierten Sprachsignals enthält zahlreiche Diskontinuitäten, die als Prasseln wahrgenommen werden. Gerade hier wie im Rauschen der Aufnahme, im Verhältnis von Signal und Rauschen spricht das Medium. Im Rauschen des medialen Kanals spricht der Rest. Und so geht durch Rauschunterdrückung in CD-Editionen aus Phonogrammarchiven nicht nur ein ästhetisches Objekt, sondern auch harte Information verloren: nämlich Information über das damalige Aufnahmegerät selbst. Wachszylinder speichern mehr Rauschen denn absichtsvolle Signale – genau darauf achtet der medienarchäologische Blick, hört das medienarchäologische Ohr. Es gibt Rauschen, das aus Sicht der Maschine absichtsvolles Signal ist. Wann endlich gibt es in Medienarchiven eine Inventarisierung nicht nur der audiovisuell intendierten Aufnahmen, sondern auch des Rauschens als Indikator, als präziser historischen Index der individuellen Aufnahmeapparate? Dem gegenüber steht das künstlich erzeugte Aufsammeln von Klangresten: Granularsynthese bricht Audio-Samples in kleinste mikroskopische Formen auf; diese oder völlig zufällige sound grains können dann grundsätzlich neu geordnet werden »in der Mitte von Natur und Technologie.« (Hecker 2003: 100) Zuweilen ist der Rest also das medial Unarchivierte, zuweilen das medial Unarchivierbare. Es liegt in der Natur der neuen Archive, dass darin Klang- und Bildreste nicht länger zum Verschwinden kommen müssen – aber können; die physischen Eigenschaften von Speichern in digitalen Medien sorgen für Reste in Form von Rauschen. Und so gehen auch die alten Archive bei ihrer Übertragung 40

2005-09-20 17-08-14 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

DAS KYBERNETISCHE OPFER. AUSGESCHLOSSENE DATEN

in den digitalen Raum nicht restlos in Virtualität auf. Als physikalischer Übertragungswiderstand meldet sich die Welt des Analogen, der Physik, also: des Restes, zu Wort – eine Mitsprache der medialen Materialität von Speicherung, Übertragung und Berechnung. Hier erscheint der materiale Widerstand selbst als Zeitfaktor; so stellte Aristoteles an der Zeitverzögerung in der Schallübertragung (Echo) überhaupt erst fest, dass es das Medium als Dazwischen gibt. »Am Rauschen der Medien erwächst der Wahrheit ihre Historizität.« (Wetzel 1989: 30)

Literatur Weinrich, Harald Anonymus (1982): »Der gläserne Mensch«. In: Der Spiegel, 29 (36), S. 64-66.

Bann, Stephen (1990): The true wine, Cambridge: Cambridge University Press. Bertillon, Alphons (1885): Das anthropometrische Signalement, 2. Aufl. (autorisierte deutsche Auflage), Bern: Sturzenegger.

Derrida, Jacques (1982): »Feu la Cendre«. In: Anima 5 (»En Cendres«), 12/1982. Derrida, Jacques (1991): »Pour l’amour de Lacan«. In: Collège International de Philosophie (Hg.), Lacan avec les philosophes, Paris: Michel, S. 397-420.

»Digital Video Guide III: Videoformate und Kompressionstechniken«. In: www.de. tomshardware.com/video/19990816/video-3-04.html (Stand: 01/2004)

Hecker, Tim (2003): »Der Klang und die siegreiche Sphäre der Elektrizität«. In: Marcus S. Kleiner/Achim Szepanski (Hg.), Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 94-101. Heidenreich, Stefan (1996): »Rauschen, filtern, codieren – Stilbildung in Mediensystemen«. In: Sabine Sanio/Christian Scheib (Hg.), Das Rauschen, Weiz: Wolke, S. 17-26. Klaus, Georg (Hg.) (1969): Wörterbuch der Kybernetik, Bd. 1, Frankfurt/Main: Fischer (in Lizenz: Berlin: Dietz, 2. Aufl.). Krajewski, Markus (2002): »Restlosigkeit. Wilhelm Ostwalds Welt-Bildungen«. In: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln: DuMont, S. 173-185. Lacan, Jacques (1978): Le séminaire, livre II: Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychoanalyse, Paris: Ed. du Seuil. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1992): Philosophische Schriften u. Briefe 1683-1687, hg. v. Ursula Goldenbaum, Berlin: Akademie-Verlag, S. 72-82. Lyotard, Jean-François (1989): Der Widerstreit, München: Fink. Menne-Haritz, Angelika (1994): »Das Provenienzprinzip – ein Bewertungssurrogat? Neue Fragen zu einer alten Diskussion«. In: Der Archivar 47, Heft 2, S. 230-252.

41

2005-09-20 17-08-14 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

WOLFGANG ERNST

Nietzsche, Friedrich (1988): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 2, München: dtv.

Nosevich, Vyacheslav (2004): »Electronic copies of historical documents as an object of selection and storage«. In: Peter Doorn/Irina Garskova/Heiko Tjalsma (Hg.), Archives in Cyberspace. Electronic Records in East and West, Moskau: Moscow University Press, S. 228-233. Poletajew, Igor A. (1962): Kybernetik. Kurze Einführung in eine neue Wissenschaft, hg. v. Georg Klaus, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften. Schiller, Friedrich (1966): »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte«. In: Werke, Bd. 2, München: Carl Hanser. Schneider, Stephan (2001): Entwicklung und Analyse eines fraktalen Kodierverfahrens für Sprachsignale, Berlin: Köster. Schüller, Dietrich (o.J.): Phonogrammarchiv, Österreichische Akademie der Wissenschaften. Shannon, Claude E. (1976): »Die mathematische Theorie der Kommunikation«. In: Claude E. Shannon/Warren Weaver, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, München, Wien: Oldenbourg. Tanner, Jakob (2003): »Von der ›Brustwehr des Staates‹ zum Dokumentenkorpus im Cyberspace. Gegenwartsprobleme des Archivs in historischer Perspektive«. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Bd. 53, S. 345-349. Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D. (1972): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 3. Auflage, Bern/Stuttgart/Wien: Huber. Wetzel, Michael (1989): »Von der Einbildungskraft zur Nachrichtentechnik. Vorüberlegungen zu einer Archäologie der Medien«. In: Peter Klier/Jean-Luc Evard, Mediendämmerung. Zur Archäologie der Medien, Berlin: Tiamat, S. 16-39. Wiener, Norbert (1962): »Computing Machines and the Nervous System«. In: ders., Cybernetics or control and communication in the animal and the machine, Cambridge/MA: M.I.T. Press, 2. Auflage [M.I.T. 1948], S. 116-132.

42

2005-09-20 17-08-14 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

27- 42) T01_02 ernst.p 95224307550

»TO PUT IN MY DRAWER«. SIRI HUSTVEDTS ROMAN »WHAT I LOVED«

»To put in my drawer«. Erinnerungsreste in Siri Hustvedts Roman »What I loved« Anja Lemke

In ihrem letzten Roman »What I loved« erzählt die amerikanische Autorin Siri Hustvedt die Lebensgeschichte des Kunstgeschichtlers Leo Herzberg, bzw. lässt ihn diese nach dem Schema der Autobiographie retrospektiv als Erinnerung an die Personen und Lebensumstände, die »er geliebt hat«, selbst erzählen. Der Roman entwirft zunächst auf ganz herkömmliche Weise das Idyll zweier Intellektuellenfamilien im New York der 1970er und 1980er Jahre. Chronologisch, nur hin und wieder unterbrochen durch die Reflexion des Ich-Erzählers, erzählt der Text von der Freundschaft zwischen Herzberg und dem Maler Bill Wechsler, vom gemeinsamen Leben der beiden Familien in der Lower East Side und von den beiden Söhnen, die etwa zur gleichen Zeit auf die Welt kommen. Jäh unterbrochen wird dieser Erzählfluss durch den Tod von Matthew, dem elfjährigen Sohn des Erzählers. Sein Tod sprengt das Idyll auf und setzt eine Reihe weitere Verluste in Gang, die am Ende des Romans zum Ausgangspunkt der Erzählung zurückführen: Gealtert, durch eine Krankheit fast blind geworden, finden wir Leo Herzberg allein in seiner New Yorker Wohnung bei der Abfassung seiner Lebensgeschichte. Damit folgt der Roman geradezu mustergültig dem narrativen Schema der Autobiographie als retrospektive, kontinuierliche, teleologische Entfaltung des erinnerten Lebens bis zum Zeitpunkt der Niederschrift. Quer zu dieser chronologischen Erzählstruktur steht eine zweite Ordnungsform der Erinnerung, die sich über die im Text besprochenen Bilder und Gegenstände organisiert. Alle Bilder, Assemblagen und Installationen des Künstlers Bill Wechsler, die der Text 43

2005-09-20 17-08-15 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

ANJA LEMKE

ausführlich beschreibt, beschäftigen sich auf die eine oder andere Weise mit der Frage nach Erinnerung und Identität, wobei die Linearität der Narration durch die Beschreibung der Kunstwerke unterbrochen wird. Mit den Kunstwerken wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die räumliche Dimension der Erinnerung gelenkt, wobei der Raum nicht als ein abgestecktes Terrain mit geschlossener Rahmung zu verstehen ist, sondern in seiner Offenheit und Ambivalenz erscheint. Indem die Kunstwerke die Frage nach den Möglichkeiten der Erinnerung in Raum und Zeit selbst zum Thema machen, sprengen sie den herkömmlichen Rahmen der bildlichen Darstellung. Der Bildraum stellt das, was er zeigt, in der Darstellung bereits wieder in Frage, indem er sich selbst mit darstellt. Das Bild stellt nicht den Raum für die Darstellung, sondern thematisiert das Verhältnis von Raum und Zeit in Bezug auf das Dargestellte. Durch diese Rückbezüglichkeit öffnen die Kunstwerke den Blick für die Differenz zwischen »Vorbild« und »Abbild«, Erinnerung und Vergangenheit, Leben und Darstellung. So etwa die Portraitserie, die Bill nach dem Tod seines Vaters von diesem anfertigt. Der Stil der Bilder erinnert den Erzähler an »seventeenth-century Dutch paintings, but without their illusion of depth.« (Hustvedt 2003: 45) Die Präzision der Malweise suggeriert Realismus, so als ginge es dem Maler um das möglichst getreue Abbild des Verstorbenen. »[E]very fold in the suit’s material, every speck of dust on a padded shoulder, every crease in the black leather of a shoe had been painstakingly depicted.« (Ebd. 45) Dieser fast fotografischen Darstellung, die der Grundforderung des Portraits nach Ähnlichkeit mit dem Original entspricht, steht zunächst die Auswahl des Bildausschnittes entgegen. Auf allen Bildern zeigt sich dem Betrachter eine Rückenansicht von Sy Wechsler. Das Gesicht bleibt auf den Bildern verborgen. Die Portraitserie streicht auf diese Weise die Tradition, die sie stilistisch aufruft, gleichzeitig wieder durch, denn sowohl die Darstellungskonventionen des 17. Jahrhunderts als auch die mit der Physiognomie des Gesichts verbundenen Vorstellungen von Individualität und Persönlichkeit, verlangen die Zentrierung des Portraits auf die Gesichtszüge des Darzustellenden. Gleichzeitig entziehen die Bilder mit dieser Weigerung dem Betrachter die Möglichkeit des Erkennens und der Identifikation. Statt das Bild einer Person zu entwerfen, wird diese auf irritierende Weise »vermisst«. Eine Abwesenheit, die noch dadurch gesteigert wird, dass sie sich nicht nur auf den Raum, sondern gleichermaßen auf die Zeit zu erstreckten scheint. Erst nach mehrmaligem Besuch der Galerie bemerkt der Erzähler den Alterungsprozess, der der Bild44

2005-09-20 17-08-16 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

»TO PUT IN MY DRAWER«. SIRI HUSTVEDTS ROMAN »WHAT I LOVED«

serie eingeschrieben ist. »I noticed that wrinkles formed at the back of his neck and that his skin changed. Moles multiplied. In the last painting there was a small cyst beneath Sy’s ear.« (Ebd. 45) Indem diese Alterung jedoch nicht in den Gesichtszügen wiedergegeben ist, sondern sich quasi im Rücken des Alternden abspielt, lassen die Spuren der Zeit kein abgerundetes Bild des Selbst entstehen, sondern stellen das Phänomen der Zeit und des Todes selbst in den Mittelpunkt. In gewisser Weise bleibt dem Betrachter der Lebensverlauf des Portraitierten ebenso verhüllt wie das Angesicht. Die Serialität bildet hier nicht ein Mittel, den zeitlichen Verlauf mit der Räumlichkeit der Bilder zu verbinden, damit die Bilder des Portraitierten dessen Leben in Raum und Zeit entfalten können. Die Reihe bildet keine Linie aus, sondern stellt eine brüchige Abfolge von verschiedenen Momentaufnahmen dar, die auf diese Weise dem Titel der gesamten Serie entspricht: »Missing men«. Nicht Wechslers verstorbener Vater wird hier im Wandel der Zeit portraitiert, sondern jedes Portrait lässt seinerseits die Frage nach der abgebildeten Person, ihren möglichen Kontexten und Verbindungen zu bereits gelebtem und noch ausstehendem Leben neu entstehen und ist so wieder ein neuer Entwurf, der als Abbild den unüberbrückbaren Abgrund zur Realität mit entwirft. Die Distanz zum Portraitierten wird noch verstärkt durch die Collagetechnik, mit der Bill Wechsler die Portraits teilweise wieder verdeckt, indem er eine Fülle von Alltagsgegenständen über sie legt. Anders als bei den Montageverfahren am Beginn des 20. Jahrhunderts dienen diese Alltagsgegenstände weder als Mittel zur Profanierung der Kunstsphäre, noch sind sie Erweiterung des künstlerisch zu nutzenden Materials. Es handelt sich ausschließlich um Gegenstände aus dem Nachlass Sy Wechslers. Notizzettel, Eintrittskarten, Werbeprospekte, Fotografien, Rechnungen und Rezepte bilden »a thick palimpsest of legible and illegible writing, as well as a medley of the various small objects that fill junk drawers in almost any household.« (Ebd. 45) Was die Portraits dergestalt überlagert und sie teilweise unkenntlich macht, sind die Erinnerungsreste selbst. Das, was vom Leben Sy Wechslers übrig blieb, bildet keine Spur zurück zu seinem Leben, sondern steht der freien Sicht auf dieses vielmehr im Weg. Statt aus den Lebensresten des Verstorbenen erneut ein Ganzes zu fügen, zeigen die Bilder den Abstand zwischen Vergangenheit und Erinnerungsresten. Sie machen deutlich, so der Erzähler, »that even if every scrap of a life were saved, thrown into a giant mound and then carefully sifted to extract all possible meaning, it would not add up to a life.« (Ebd. 46) Weder 45

2005-09-20 17-08-16 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

ANJA LEMKE

durch die realistische Wiedergabe des Körpers noch durch dessen Hinterlassenschaft gelingt es, den verstorbenen Vater noch einmal zu erreichen. Statt den Toten im Bild und durch die Gegenstände, mit denen er Umgang hatte, für den Betrachter erreichbar zu machen, stellt die Portraitserie die Unüberbrückbarkeit des Grabens zwischen Leben und Tod aus und macht so die Grenze jeder Erinnerungsgeste deutlich. Dass es sich bei den Portraits um eine solche handelt, unterstreichen die Plexiglasscheiben, die Bill auf jeder Leinwand angebracht hat. »Without it, the objects and papers would have been accessible, but sealed behind that transparent wall, the image of the man und the detritus of his life could not be reached.« (Ebd. 46) Die Portraits bekommen auf diese Weise etwas monumentales, ihnen haftet die Strenge einer Grabplatte oder einer Gedenktafel an, durch die dem Verstorbenen gedacht werden soll, indem seine Unerreichbarkeit ins Bild gesetzt wird.

Aufbewahrungsorte Mit Bill Wechslers Bild als Kenotaph korrespondiert in Leo Herzbergs Erinnerungskosmos eine Schublade, in der er Gegenstände sammelt, die ihn an die Personen erinnern, die er ›geliebt und verloren hat‹. Diese Schublade bildet gleichsam als Mikrokosmos den Schnittpunkt zwischen Erzählung und Bildbeschreiben, sie fungiert im Text als ein Topos des Topos, markiert den Ort, an dem Erinnerung und Sammlung aufeinander treffen und sich chronologische und topographische Erinnerungsmuster kreuzen. Zu Beginn des Romans erfährt der Leser, dass Herzberg in ihr eine Reihe von Fotos seiner in Auschwitz ermordeten Verwandten aufbewahrt. »We were living in New York when my father found out that his family had been pushed onto a train for Auschwitz in June of 1944. They were all murdered. I keep their photographs in my drawer – my grandmother in an elegant hat with a feather standing beside my grandfather, who would be killed in 1917 at Flanders. I have the formal wedding portrait of my Uncle David and Aunt Marta, and a picture of the twins in short wool coats with ribbons in their hair.« (Ebd. 22) Während die eigene Erinnerung des Erzählers an seine Kindheit in Berlin und die Flucht mit seinen Eltern vor der nationalsozialistischen Verfolgung 1935 sich auf das Erinnerungsbild eines Mohrenkopfes reduziert, den die Mutter dem Kind als Reiseproviant einge-

46

2005-09-20 17-08-17 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

»TO PUT IN MY DRAWER«. SIRI HUSTVEDTS ROMAN »WHAT I LOVED«

packt hat, stellen die Fotografien die stillen Zeugen dessen dar, was nicht mehr erinnert werden kann. Sie fungieren gleichermaßen als Stellvertreter und Auslöser von Erinnerung. Während die auf ihnen abgebildeten Personen für den Betrachter nicht mit ihren wirklichen Referenten in Verbindung zu bringen sind, bildet das Foto als Gegenstand das Relikt einer vergangen Zeit, deren Wirkungsmacht sich bis in die Jetztzeit der Erzählung erstreckt. Es ist dem Erzähler, als habe sich das ungelebte Leben seiner Verwandtschaft als Erbe und Aufgabe in sein eigenes Leben eingeschrieben. »The black-andwhite figures of the photographs have had to stand in place of my memory, and yet I have always felt that their unmarked graves became a part of me. What was unwritten then is inscribed into what I call myself.« (Ebd. 22f.) Die Bilder selbst haben zunächst die Beliebigkeit eines Schnappschusses, denen erst retrospektiv durch die Geschichte der Charakter des historischen Dokumentes zugeschrieben wird; nicht durch das, was sie zeigen, sondern durch ihre Zeugenschaft für das Dagewesensein der ermordeten Personen. Während Familienfotos in der Regel dazu dienen, sich der eigenen Genealogie zu vergewissern und den Ablauf von Übergangsriten in den verschiedenen Lebensphasen zu dokumentieren, wandelt sich diese Kontinuität sichernde Praxis für die Überlebenden der Shoah in die historische Dokumentation der Auslöschung dieser Praxis (vgl. Hirsch 2002). Auf diese Weise machen die Familienfotos deutlich, was – folgt man Barthes These vom Primat der indexikalischen Funktion der Fotografie – dem Verhältnis von Fotografie und Erinnerung allgemein inhärent ist: die Auslöschung der Erinnerung durch den Verweis auf die faktische Gewesenheit der Vergangenheit. (Vgl. Barthes 1980: 129-151) Im Roman wird dieser Geste der Auslöschung durch zwei miteinander korrespondierende Formen der Sammlung begegnet. Als Sammelpunkt für den äußeren Stellvertreter der Erinnerung fungiert die Schublade, Ort der ungeschriebenen Lebensspur der Ermordeten wird das Ich, das so seinerseits die Stelle des unmarkierten Grabes übernimmt. Zu den Fotos seiner Verwandten treten im Verlauf des Romans eine Reihe von Gegenständen hinzu, die, anders als die Bilder, keinerlei sichtbare Verbindung zum Referenten mehr aufweisen, so dass dieser nicht mehr unmittelbar im Erinnerungsrest mit aufscheint. Aufbewahrt wird vielmehr eine beliebige Auswahl von Dingen, die mit der geliebten Person in Verbindung gestanden haben. Diese Form des Sammelns beginnt nach dem Unfalltod des Sohnes:

47

2005-09-20 17-08-17 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

ANJA LEMKE

»As Erica and I continued to sort through Matthew’s things, I chose a few of them to put in my drawer with the photographs of my parents, grandparents, aunt, uncle, and the twins. My selection was purely a matter of instinct. I chose a green rock, the Roberto Clemente baseball card Bill had given him for his birthday one year in Vermont, the program he had designed for the fourth-grade production of Horton Hears a Who, and a small picture he had done of Dave with Durango.« (Hustvedt 2003: 149) Einer Reliquie gleich, kann alles, womit der verstorbene Sohn Umgang hatte, zum Erinnerungsrest werden. Gleichzeitig bilden die Gegenstände in der Schublade Momente eines künstlichen externalisierten Gedächtnisses, das den Erzähler angesichts des Einbruchs des Vergessens entlasten soll. »[T]he worst was that during those months of hypersensitivity, I sometimes forgot Matthew. Minutes would pass when I didn’t think of him. When he was alive, I had felt no need to think of him constantly. I knew that he was there. Forgetfulness was normal. After he died, I had turned my body into a memorial – an inert gravestone for him. To be awake meant that there were moments of amnesia, and those moments seemed to annihilate Matthew twice. When I forgot him, Matthew was nowhere – not in the world or in my mind. I think my collection was a way to answer those blanks.« (Ebd. 149) Wie schon die Fotografien der ermordeten Verwandten als sichtbares Gegenstück zur inneren Grabmetaphorik des Erzähler-Ichs, dienen auch die materialisierten Erinnerungsreste in der Schublade als sichtbare Zeichen der inneren Trauer, wobei ihnen die Aufgabe zukommt, den inneren Grabstein wieder nach außen zu kehren und auf diese Weise eine Kontinuität der Erinnerung zu sichern, die allein das Abgleiten des Erinnerten in die Leere des Vergessens verhindern soll. Die räumliche Dimension des Grabsteins und der Schublade ersetzt die zeitliche Rhythmik von Erinnern und Vergessen, der auch das Schreiben selbst als Organisation der »blanks« unterliegt. Während die Erzählung das Vergessen als schmerzhafte Voraussetzung für die Erinnerung erfährt, sollen die gesammelten Gegenstände einen Gedächtnisraum ausbilden, dessen Beständigkeit den Toten vor dem Verschwinden in der Zeit und einer zweiten Auslöschung im Vergessen bewahren soll. Eine solche Entlastungsfunktion können sie jedoch nur annehmen, wenn sie als Synekdoche den Bezug zum Ganzen garantieren. Zwar nehmen die Gegenstände in ihrer Beliebigkeit die Rolle mnemotechnischer imagines ein. Als Relikte sollen sie jedoch gleichzeitig auf das verlorene Ganze verweisen. Sie sind arbiträr, aber eindeutig. 48

2005-09-20 17-08-18 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

»TO PUT IN MY DRAWER«. SIRI HUSTVEDTS ROMAN »WHAT I LOVED«

Re-membering. Allegorisches Sammeln Die Episode der Schublade in Hustvedts Roman zeigt die Möglichkeit der Erinnerung als eine wesentliche Funktion des Restes, die zu seiner Bewahrung und Sammlung anhält. Folgt man Krystof Pomians Studie zum »Ursprung des Museums« so steht am Beginn des Sammelns der Versuch eines Brückenschlags zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. (Pomian 2001: 17ff.) Wie auf der einen Seite Opfer- und Grabbeigaben den Blicken der Lebenden entzogen wurden, um ganz in den Besitz der Toten überzugehen und diese in ihrem jenseitigen Leben zu schützen, so garantierten auf der anderen Seite, Reliquien und sichtbare Opfergaben im Tempel den bleibenden Bezug der Lebenden zum Unsichtbar-Abwesenden. Der Rest wird zum Vermittler zwischen den Welten, er wird verstanden als Reliquie, d.h. als ein Zurückgelassenes, das als pars pro toto einem Teil der verlorenen Ganzheit Präsenz verleiht. Noch in den profansten Formen des Sammelns finden sich Spuren dieses Brückenschlags zum Abwesenden, erhalten die gesammelten Gegenstände ihre Bedeutung für den Sammler doch nicht aus ihrem Nutzwert im ökonomischen Kreislauf, sondern aus der ihnen anhaftenden Geschichte. In diesem Sinne stellt jede Form des Sammelns auch eine Figur der Erinnerung dar. Umgekehrt gehört das Sammeln zu einem der zentralen Topoi der Erinnerung. Was sich in Begriffen wie »remembering« und »recollection« zeigt, ist verbunden mit einem ganzen Bündel von Metaphern aus dem Bereich des Magazins, des Archivs, der Bibliothek und des Buches, denen eine Vorstellung vom Gedächtnis als räumlich-visueller Speicher sowie von der Erinnerung als einem Sammeln und Aufbewahren zugrunde liegt. Der Topos des Sammelns für die Erinnerungsarbeit und die Speichermetaphorik suggerieren Organisation, Ökonomie und Verfügbarkeit sowie die Möglichkeit, den durch den Tod aufgesprengten und fragmentierten Erlebniszusammenhang vor dem Entgleiten in das Vergessen zu bewahren. Quer zur Stabilität dieser Raummetaphorik steht die Verbindung von Körper und Schrift, die sich ebenfalls mit dem Topos des Sammelns verbindet. Re-membering ist Wiederauflesen – legere – der membra disiecta, des zerstückelten Körpers und des zerstückelten Textes, des zerstückelten Körpers als zerstückeltem Text. Hier verschränken sich membrana und membrum, Pergamenthaut und Körperteile, der tote Körper und das Zitat. Der Gesang der Isis, der den Körper des Osiris wieder zusammensetzt, indem er die einzelnen Teile benennt, deutet ebenso auf diesen Zusammenhang wie der 49

2005-09-20 17-08-18 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

ANJA LEMKE

von den rasenden Bacchantinnen in Stücke gerissene Orpheus, von dem Horaz in den »Satiren« bemerkt: »disiecti membra poetae.« (Horaz 1991: Satiren, I, 4, 62)1 Dass der Akt des Wiedereinsammelns und Zusammensetzens des toten Körpers über die rhetorische Figur des pars pro toto von dessen weiterer Aufsprengung, Zersetzung und Verrückung nicht zu trennen ist und damit die versammelnde Geste der Erinnerung unversehens ihrerseits zu einem Prozess der Zer- und Versetzung wird, darauf zielt Walter Benjamins Hinweis auf den »anarchistisch[en], destruktiv[en]« Zug (Benjamin 1991: III, 216), der jedem Sammeln trotz bzw. gerade wegen seiner ordnenden und totalisierenden Absicht eigen ist. Benjamin spricht von einer Dialektik der Leidenschaft des Sammlers, die »[m]it der Treue zum Ding, zum Einzelnen, bei ihm Geborgenen, den eigensinnigen subversiven Protest gegen das Typische, Klassifizierbare […] verbinde[t].« (Ebd. 216) Die verschiedenen Anmerkungen zum Sammeln in Texten wie »Ich packe meine Bibliothek aus«, »Lob der Puppe«, »Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker« und vor allem dem Konvolut H der Notizen zum »Passagenwerk«, binden diesen Protest gegen das Typische, Klassifizierbare als »magische […] Enzyklopädie« (Benjamin 1991: V, 274) an Momente des Allegorischen. Der offenkundigen Polarität von Sammler und Allegoriker, von denen der eine, wie es bei Benjamin heißt, »den Kampf gegen die Zerstreuung« (Benjamin 1991: V, 279) aufnimmt, indem er das Zusammengehörige und die mit den Dingen verbundene, ihnen eigentümliche Geschichte zu bewahren sucht, während der andere sie aus diesen Zusammenhängen gerade heraussprengt, dieser offenkundigen Polarität wird von Benjamin eine entscheidende Gemeinsamkeit zur Seite gestellt, die in ihrem Umgang mit dem Phänomen des Restes begründet liegt. »Nichtsdestoweniger aber steckt – und das ist wichtiger als alles, was etwa Unterscheidendes zwischen ihnen bestehen mag – in jedem Sammler ein Allegoriker und in jedem Allegoriker ein Sammler. Was den Sammler angeht, so ist ja seine Sammlung niemals vollständig; und fehlte ihm nur ein Stück, so bleibt doch alles, was er versammelt hat, eben Stückwerk, wie es die Dinge für die Allegorie ja von vornherein sind. Auf der anderen Seite wird gerade der Allegoriker, für den die Dinge ja nur Stichworte eines geheimen Wörterbuches darstellen, das ihre Bedeutung dem Kundigen verraten wird, niemals genug an Dingen haben, von denen eines das andere um so weniger vertreten kann, als keinerlei Reflexion die Bedeutung vorhersehen läßt,

1. Vgl. zum Gesang der Isis Assmann 1998. 50

2005-09-20 17-08-19 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

»TO PUT IN MY DRAWER«. SIRI HUSTVEDTS ROMAN »WHAT I LOVED«

die der Tiefsinn jedwedem von ihnen zu vindizieren vermag.« (Benjamin 1991: V, 279f.) Der Sammler wird sozusagen zum Allegoriker wider Willen, indem sein Wunsch nach Vollständigkeit die Bruchstückhaftigkeit jeder Sammlung offenbart. Indem er seine Gegenstände isoliert, sie aus ihren Funktionszusammenhängen herauslöst und im Raum der Sammlung neu zusammenstellt, gerät er in eben die Dopplung von Destruktion und Konservierung, die Benjamin für die Allegorie als charakteristisch hervorgehoben hat. So heißt es etwa im »Zentralpark«: »Das von der allegorischen Intention Betroffene wird aus den Zusammenhängen des Lebens ausgesondert: es wird zerschlagen und konserviert zugleich. Die Allegorie hält an den Trümmern fest.« (Benjamin 1991: I, 666) Durch diese Verschränkung von Zertrümmerung und Ordnung gerät der Rest und mit ihm die Sammlung selbst in Bewegung, führt doch jeder neu hinzugefügte Gegenstand zu einer Umstrukturierung des Ganzen. Sammeln wäre damit ein ständiges sich Verschieben und neu Gruppieren einer unendlichen Anzahl von Resten, die ihre Bedeutung nicht mehr aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang empfangen, sondern aus ihrer Beziehung zu allen anderen Resten. In diesem Sinne heißt es bei Benjamin zum Verhältnis der Dinge zum Sammler: »Sie stoßen ihm zu. Wie er ihnen nachstellt und auf sie trifft, welche Veränderung in allen Stücken ein neues Stück, das hinzutritt, bewirkt, das alles zeigt ihm seine Sachen in ständigem Fluten.« (Benjamin: V, 272)2 In eben solches Fluten geraten dem Erzähler in Hustvedts Roman die Erinnerungsreste in der Schublade, die angesichts dieser Verschiebung ihrerseits nicht länger in ihrer ursprünglichen Funktion als »place to record what I missed.« (Hustvedt 2003: 191) erhalten bleibt, sondern zum Schauplatz eines Sprachspiels wird: »[…], I didn’t use my drawer for grief or selfpity. I had begun to think of it as a ghostly anatomy in which each object articulated one piece of a larger body that was still unfinished. Each thing was a bone that signified absence, and I took pleasure in arranging these fragments according to different principles. Chronology provided one

2. Vgl. zum Zusammenhang von Allegorie, Sammlung und Erinnerungsrest auch Menke 1991. 51

2005-09-20 17-08-19 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

ANJA LEMKE

logic, but even this could change, depending on how I read each object. Were Erica’s socks the sign of her leaving for California or were they really a token of the day Matt died and our marriage began to fail? For days I worked on possible time tables and then abandoned them for more secret, associative systems, playing with every possible connection.« (Ebd.: 191) Zwar hält Hustvedt in einer organologischen Metaphorik noch am pars pro toto fest, doch der Körper, dessen Teile die Erinnerungsreste sein sollen, bleibt unvollendet und formt seine Umrisse erst im Spiel selbst immer wieder neu. Das Spiel, das Leo Herzberg mit den Gegenständen in seiner Schublade spielt, bricht die eindeutige Beziehung der Erinnerungsreste zu ihren Referenten auf. Was sich zunächst als pars pro toto zeigt, erhält durch die Anordnung innerhalb der Schublade eine neue, eigene Ordnung. Der repräsentationslogische Zusammenhang von Signifikat und Signifikant gerät ins Wanken. Zwar behalten die Gegenstände ihre Bezüge zu den Personen, doch diese Bezüge werden ihrerseits durch die Umgestaltung des Materials in der Schublade neu definiert. Was sich zuvor als eindeutige Referenz ausnahm, wird durch die Konstellation der Gegenstände untereinander beweglich und offen. Dergestalt aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen, isoliert und in einen neuen Kontext eingeordnet, sind die Erinnerungsreste, wie Benjamin in der »Berliner Chronik« schreibt, »Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen.« (Benjamin 1991: VI, 486) Dieser Zusammenhang von Erinnerung und Sammler wird im »Passagenwerk« in einer Anmerkung zu Prousts »Recherche« noch einmal hergestellt und explizit mit der Frage nach der Allegorie verbunden, wenn es heißt: »Eine Art von produktiver Unordnung ist der Kanon der mémoire involontaire wie auch des Sammlers. […] Die mémoire volontaire dagegen ist eine Registratur, die den Gegenstand mit einer Ordnungsnummer versieht, hinter der er verschwindet. ›Da wären wir nun gewesen.‹ (›Es war mir ein Erlebnis.‹) In welcher Art von Beziehung die Zerstreutheit der allegorischen Requisiten (des Stückwerks) zu dieser schöpferischen Unordnung steht, bleibt zu untersuchen.« (Benjamin 1991: V, 280) Folgt man von hier aus Benjamins Überlegungen zur Differenz von mémoire volontaire und mémoire involontaire im Baudelaire-Essay, so lassen sich die »nüchternen Gemächer unserer späten Einsichten« als topographische Umschrift jener diskursiven Erinnerung 52

2005-09-20 17-08-19 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

»TO PUT IN MY DRAWER«. SIRI HUSTVEDTS ROMAN »WHAT I LOVED«

verstehen, die als »›Archiv‹ unseres Gedächtnisses […]« den »Spielraum der Phantasie [beschneidet]« (vgl. Benjamin 1991: I, 645f.). Die mémoire volontaire, hier folgt Benjamin Proust, ermöglicht zwar »Einsichten« in das Vergangene, ihre diskursiv-intellektuelle Verfasstheit muss die dem Bewusstsein nicht zugänglichen Spuren des Vergangenen jedoch notwendig verfehlen. Ihr gelingt lediglich die äußerliche Klassifizierung der Gegenstände, die Markierung und Nummerierung. Demgegenüber stellt die »produktive Unordnung« die Richtschnur für den Sammler und die mémoire involontaire dar. Damit rekurriert Benjamin noch einmal auf jenes Fluten der Gegenstände, das dadurch entsteht, dass sie dem Sammler wie dem Erinnernden zufallen, ihm zustoßen, zufällige und dadurch treffende Begegnungen sind, die produktiv gemacht werden, indem sie zu einer permanenten Umordnung der Bruchstücke führen. Dabei ist jedoch zu betonen, dass diese produktive Unordnung als produktive Umordnung keinesfalls beliebig ist. Wie das Zitat aus der »Berliner Chronik« deutlich macht, bilden die »nüchternen Gemächer unserer späten Einsicht« den figurativen Raum für die Erinnerungsreste, bleiben also notwendige Bedingung für deren Wirken in der Gegenwart. Bewahrt werden sie allerdings nicht im Sinne des Speicherns von vergangenen Erlebnissen, sondern »wie Torsi in der Galerie des Sammlers«, also als Bruchstücke, als Zitate, mit all den damit verbundenen Verrückungen, Verschiebungen und Umordnungen, wie sie die gemeinsame Praxis des Allegorikers und des Sammlers zeigt. In der »produktive Unordnung«, die die mémoire involontaire mit dem Sammler verbindet, stellt der Erinnerungsrest keine eindeutige Verbindung zu einem vergangenen Ereignis her. Vielmehr lässt er in der wechselnden, instabilen Verbindung mit anderen Resten die Erinnerung erst als etwas entstehen, das nie bewusst erlebt worden ist. In diesem Sinne heißt es bei Benjamin von der mémoire involontaire: »ihre Bilder kommen nicht allein ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten.« (Benjamin 1991: II, 1064) In diesem Zusammenhang wird auch die Dopplung von Destruktion und Konservierung, die das Sammeln und die Allegorie bestimmen, für die Erinnerungstheorie noch einmal aufgegriffen. Bei seinem Versuch, Prousts Differenz von willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung zu bestimmen, rekurriert Benjamin auf Freuds Überlegungen zum wechselseitigen Ausschluss von Bewusstsein und Gedächtnisspur im physischen Apparat. Er zitiert dabei den Freud-Schüler Theordor Reik mit dem Hinweis, dass »die Funktion des Gedächtnisses […] der Schutz der 53

2005-09-20 17-08-20 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

ANJA LEMKE

Eindrücke [sei]«, während die Erinnerung »auf ihre Zersetzung [ziele]«. Das Gedächtnis ist im Wesentlichen konservativ, die Erinnerung ist destruktiv«. (Benjamin 1991: I, 612) Die konservierende Kraft spricht Benjamin der unwillkürlichen Erinnerung zu, wobei er diese in seinen Überlegungen zur »Recherche« mit dem Vergessen identifiziert. Es ist das Vergessen, dessen ent- und verstellende Qualitäten das Vergangene vor der Destruktion der bewussten Erinnerung schützt, am eindrücklichsten wohl beschrieben am Beginn des Essays über Proust, wenn es heißt: »An jedem Morgen halten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen. Aber jeder Tag löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf.« (Benjamin 1991: II, 311) Für die Darstellung dieser ›einfallenden ver-rückten Bilder‹ gilt jedoch, dass sie sich im Moment des Erwachens als Umschlag zwischen Tag und Nacht situieren muss und so auf die diskursive Kraft der willkürlichen Erinnerung verwiesen bleibt. Eine solche Angewiesenheit der »produktiven Unordnung«, bzw. der »magischen Enzyklopädie« auf das Diskursive begegnet bei Benjamin in den sprachphilosophischen Überlegungen zur »Lehre vom Ähnlichen« und »Über das mimetische Vermögen«. In diesen Fragmenten wird die Sprache als der Ort bestimmt, in dem sich das »vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit« (Benjamin 1991: II, 213) geschaffen habe. Das mimetische Vermögen als Fähigkeit zur Wahrnehmung und Erzeugung von Ähnlichkeiten hat sich dem modernen Menschen ins Sprachliche verschoben. Zwar ist uns heute die Fähigkeit abhanden gekommen, kosmische Ähnlichkeiten, wie diejenige zwischen Sternkonstellationen und dem menschlichen Schicksal wahrzunehmen, jedoch »auch wir besitzen einen Kanon, nach dem die Unklarheit, die dem Begriff von unsinnlicher Ähnlichkeit anhaftet, sich einer Klärung näher bringen läßt. Und dieser Kanon ist die Sprache.« (Benjamin 1991: II, 207) Benjamin führt zur Klärung dieses Begriffs zunächst onomatopoetische Sprachtheorien ins Feld, betont jedoch, dass diese binären, auf sinnlichen Ähnlichkeiten basierenden Überlegungen noch zu kurz greifen. Die Bedeutung der unsinnlichen Ähnlichkeit liegt vielmehr in der komplexen Konstellation der verschiedenen Sprachen in Bezug auf ihr Bedeutetes, wobei sowohl die Bezüge zwischen Signifikat und Signifikant in der gesprochenen und geschriebenen Sprache zu bedenken sind sowie 54

2005-09-20 17-08-20 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

»TO PUT IN MY DRAWER«. SIRI HUSTVEDTS ROMAN »WHAT I LOVED«

deren Bezüge untereinander. »Es ist somit die unsinnliche Ähnlichkeit, die die Verspannung nicht zwischen dem Gesprochenen und Gemeinten, sondern auch zwischen dem Geschriebenen und Gemeinten und gleichfalls zwischen dem Gesprochenen und Geschriebenen stiftet. Und jedes Mal auf eine völlig neue, originäre, unableitbare Weise.« (Benjamin 1991: II, 208) Ein solches Korrespondenzgefüge ohne feste Bezugspunkte bezeichnet Benjamin als die »magische Seite der Sprache« (ebd. 208). Nun kann diese, will sie nicht zu einer starren Verweisung gerinnen, immer nur augenblicklich als sich Entziehendes in der Sprache aufscheinen. Um solches blitzartige Erscheinen zu ermöglichen, bedarf das magische Moment der Sprache des arbiträr-verweisenden. »Diese, wenn man so will, magische Seite der Sprache wie der Schrift läuft aber nicht beziehungslos neben der andern, der semiotischen, einher. Alles Mimetische der Sprache ist vielmehr eine fundierte Intention, die überhaupt nur an etwas Fremdem, eben dem Semiotischen, Mitteilenden der Sprache als ihrem Fundus in Erscheinung treten kann. So ist der buchstäbliche Text der Schrift der Fundus, in dem einzig und allein sich das Vexierbild formen kann.« (Benjamin 1991: II, 208f.) Dass die sprachliche Darstellung der mémoire involontaire als bewahrendes Vergessen nur gelingen kann, wo die Verwiesenheit der »magischen Seite« auf die diskursiv-rationale der willkürlichen Erinnerung ernst genommen wird, weiß auch der Erzähler in Hustvedts Roman, der sein Spiel der immer neuen Anordnung der Dinge wie folgt beschreibt: »[W]hen I play my game of mobile objects, I’m often tempted to move the photographs of my aunt, uncle, grandparents, and the twins near the knife and the fragment of the box. Then the game flirts with terror. It moves me so close to the edge that I have a sensation of falling, as if I had hurled myself off the edge of a building. I plummet downwards, and in the speed of the fall I lose myself in something formless but deafening. It’s like entering a scream – being a scream. And then I withdraw, backing away from the edge like a phobic. I make a different arrangement. Talismans, icons, incantations – these fragments are my frail shields of meaning. The game’s moves must be rational. I force myself to make a coherent argument for every grouping, but at bottom the game is magic.« (Hustvedt 2003: 364) Die Bruchstücke der Erinnerung, die der Erzähler in der Schublade versammelt, entfalten ihr magisches Spiel nur, solange der Erzähler ihre Konstellation rationalen Gesichtspunkten unterwirft. Es ist je55

2005-09-20 17-08-21 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

ANJA LEMKE

ner momenthafte Umschlag vom semantischen zum magischen Zeichen, der die Dialektik des Sammelns der Erinnerungsreste ausmacht. In der Art seines Ordnungssystems bewahrt der Sammler die Form der Wahrnehmung und Herstellung von Ähnlichkeiten, indem seine Verkettungsregeln nicht allein der Klassifizierung und Vollständigkeit folgen, sondern die verschlungenen Konstellationen der Erinnerungsreste wahrzunehmen in der Lage sind. In diesem Sinne wäre das Darstellen von Erinnerungen nur nach einem Ordnungssystem möglich, das die chaotische Seite jeder Typologisierung und Klassifizierung mit berücksichtigt. Benjamin hat diese Dopplung von Magie und Semiotik in der »Berliner Kindheit« im Kinderspiel der »ins Papier genähten Blume« gefasst: »Ohne davon zu reden,« heißt es in der Episode »Der Nähkasten«, »hatte jedes [Kind, A.L.] sich seine Ausnähsachen vorgenommen – Pappteller, Tintenwischer, Futterale –, in die es nach der Zeichnung Blumen nähte. Und während das Papier mit leisem Knacken der Nadel ihre Bahn freimachte, gab ich hin und wieder der Versuchung nach, mich in das Netzwerk auf der Hinterseite zu vergaffen, das mit jedem Stich, mit dem ich vorn dem Ziele näherkam, verworrener wurde.« (Benjamin 1991: VII, 426)

Literatur Assmann, Jan (1998): »Sammlerin Isis: Einbalsamieren, Beleben, Erinnern«. In: Aleida Assmann/Monika Gomille/Gabriele Rippl (Hg.), Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen: Narr, S. 21-36. Barthes, Roland (1980): La chambre claire. Note sur la photographie, Paris: Gallimard. Benjamin, Walter (1991): Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gerschom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Hirsch, Marianne (2002): Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, 2. Aufl., Cambridge, Mass. [u.a.]: Harvard Univ. Press. Horaz (1991): Satiren und Episteln. Lateinisch und deutsch von Otto Schönberger, 2. Aufl. Berlin: Akademie. Hustvedt, Siri (2003): What I loved, London: Hodder and Stroughton. Menke, Bettine (1991): »Das Nach-Leben im Zitat. Benjamins Gedächtnis der Texte«. In: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.), Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 74-110. Pomian, Krzystof (2001): Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, aus dem franz. von Gustav Roßler, Berlin: Wagenbach. 56

2005-09-20 17-08-21 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

43- 56) T01_03 lemke.p 95224307694

Reste ausschliessen

2005-09-20 17-08-22 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

57

) T02_00 respekt 2.p 95224307806

2005-09-20 17-08-22 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

58

) vakat 058.p 95224307918

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

Vom Versprechen zum Versprechen. Die Abfälle der Moderne Manfred Schneider

Fragmente, Seelenauswürfe, Blutgerinnsel des zwanzigsten Jahrhunderts – (Gottfried Benn: Fragmente)

I. Versprechen: promissio und lapsus falsae linguae Die Ankündigung »vom Versprechen zum Versprechen« schlägt einen Bogen von der naturrechtlichen Sprachtheorie, die das kontraktuelle Versprechen, den Vertrag, als Grund von Gesellschaft und Staat in ihren Mittelpunkt stellt,1 und bewegt sich hin zu einer modernen Sprachtheorie, die ganz alltägliche Äußerungen untersucht und unter ihnen die Fehlleistung des Versprechens als neues Paradigma entdeckt. Es mag offen bleiben, ob diese Verbindung – um in Namen zu sprechen – zwischen Hobbes mit Freud durch eine semantische, juristische oder metaphysische Historie gewährleistet ist. Das Homonym Versprechen verbindet einfach die promissio der Juristen mit dem lapsus falsae linguae der Psychologen, Linguisten und Philosophen. Einst standen beide Abteilungen des Homonyms Versprechen unter Verwaltung der Juristen. Über das kontraktuelle Versprechen wachte das Zivilrecht, während der lapsus falsae linguae im apokryphen Buch Jesus Sirach in die Klasse der Vergehen

1. Vgl. hierzu Schneider (2005). 59

2005-09-20 17-08-24 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

der Zunge fällt.2 Doch die Moderne hat das Versprechen der Fehlleistung, den lapsus falsae linguae, aus der Unterscheidung von gerecht und ungerecht, von gut und böse gelöst, weil es tendenziell alles Sprechen heimsuchen kann. Die Moderne ist sich nicht mehr sicher, dass das Subjekt für sich selbst spricht, wenn es verspricht. Sie glaubt nicht mehr garantieren zu können, dass das (ver)sprechende Subjekt in dem Sinne des 18. Jahrhunderts mündig ist, dass es im eigenen Namen Kontrakte schließen kann oder auch soll. Man könnte fragen, welche anthropologischen Grundannahmen in diese beiden Typen von Äußerungen eingegangen sind: in das volle Sprechen des promissio-Kontraktes, der Selbstbezeugung, der Verpflichtung, der Unterwerfung unter den Anderen; und in das lapsus-linguae-Versprechen der Fehlleistung, des Vergessens, des Witzes, des Traums. Bekanntlich entfaltet das Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert seine Theorie des Rechts und seine Genealogie des Vertrages, indem es einen langen Anlauf nimmt und mit einer umfassenden anthropologischen Bestandsaufnahme einsetzt.3 Im Zentrum dieser naturrechtlichen Anthropologie steht jeweils ein sprachtheoretisches Kapitel. Das Recht, das Gesellschaft und Staat begründet, lässt sich danach im Sprechen, in der Konversation beobachten. Das Recht ist der Bruder der Grammatik. Gesetze regeln das Sprechen, Gesetze regeln das Leben. Da es der Sprache und dem Sprechen eine solche prominente Systemstelle einräumte, kannte das Naturrecht im Prinzip auch keine theoriefähigen Störungen des Sprechens und erst recht keine sprachlichen Abfälle. Hobbes erwähnte allenfalls einen abfallartigen Typ von Wörtern, die er polemisch als »insignificant sound« (Hobbes 1981: 108) bezeichnete, als bedeutungslosen Schall. Dazu rechnete er etwa die künstlichen Namen, die Begriffshuberei der Scholastik. Von allem Anfang an sind für das Naturrecht sprachliche Zeichen mit Sinn und juridischer Substanz angefüllt. Selbst der Schrei, der bei Condillac (Condillac 1947: 60f.), Rousseau (Rousseau 1964: 148) oder bei Court de Gebelin (Gebelin 1776: 66) den Ursprung der Sprache markiert,

2. Sirach 20, 20. Dort heißt es: »lapsus falsae linguae quasi qui pavimento cadens nam et sic casus malorum festinanter venient.« Der lapsus linguae als Fehlleistung der Zunge ist die Metonymie einer Fehlleistung des Fußes. 3. Zwei Beispiele: Thomas Hobbes »Leviathan, or The Matter, Form, and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civil« (Hobbes 1981), Part I trägt den Titel »Of Man«; Samuel Pufendorfs »De officio hominis et civilis juxta legem libri duo« beginnt in Kap. I mit »Das menschliche Verhalten« (Pufendorf 1994). 60

2005-09-20 17-08-24 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

ist semantisch gesättigt. Im Kontakt von Schrei und herbeieilender Hilfe kommt das Soziale allererst zur Erscheinung. Auf der Grundlage jenes großen Kontraktes, der als fiktiver Sprechakt das Soziale dann begründet, auf der Grundlage des Contrat social, waren zwar Missbrauch oder auch linguistischer Betrug denkbar. Aber diese fugenlose Verbindung von Anthropologie, Sprache, Vernunft und Recht des Naturrechts ließ weder dem Misslingen noch dem Sprachabfall den geringsten Raum. Das galt auch für das Unbewusste, diese moderne Misslingensinstanz, die Deponie unerwünschter Reste. Das Unbewusste als ein anderer Name des kulturellen Gedächtnisses diente dem klassischen Naturrecht als Archiv des Rechts und der Verträge. Eine bekannte topische Formel, die sich aus der stoischen Tradition und von Paulus her schreibt, begründete die Universalität des Naturrechts, indem sie es als νµος µψυχος oder als νµος γραφος in die Seele oder als opus legis scriptum in cordibus in die Herzen aller Menschen geschrieben sein lässt.4 Das in die Herzen, nämlich in das metakulturelle Gedächtnis aller Menschen geschriebene Recht liest sich als unbewusste Universalschrift. Alles geschriebene Recht kopiert dieses Original. Dem Sprechen und dem kontraktuellen Diskurs des Versprechens obliegt die Übersetzung dieser Gesetze. Der Gesellschaftsvertrag schreibt lediglich ab, was Gott oder die Natur in die Herzen graviert haben. Insofern überträgt die naturrechtliche Kodifikation die Herzensschrift aus dem Unbewussten. Dort ist sie verankert. Dieses Unbewusste ist mithin ein sicheres, von der Natur selbst verwaltetes Gedächtnis des Rechts und der Vernunft. Unter Berufung auf diese unbewusste Natur, auf die unbewusste Rechtsnatur und Logosnatur des Menschen, lässt sich jede Störung beseitigen. Man braucht sich einfach nur zu besinnen, man muss nur nachlesen. Solche Störungen oder Konfusionen der Herzensschrift, des νµος µψυχος, die das Naturrecht kennt und benennt, heißen Vergessen oder Undeutlichwerden. Hobbes beklagt im Leviathan ausdrücklich eine solche Korruption der Herzensschrift: »the characters of men’s heart, blotted and confounded as they are, with dissembling, lying, counterfeiting« (Hobbes 1981: 83). Ihm widerspricht Spinoza lebhaft, indem er erklärt, dass man nicht sagen dürfe: »lex divina cordibus inscripta [esse] truncata et depravata.« (Spinoza 1979: 394f., Tractatus XII) Doch auch Rousseau räumt im Contrat social ein, dass die in die Herzen

4. Römer 1, 14. Vgl. hierzu Hirzel 1900, Steinwenter 1947 sowie Schneider 1997. 61

2005-09-20 17-08-25 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

geschriebenen Gesetze, die die eigentliche Verfasstheit des Staates bilden, auch vergessen werden können (Rousseau 1964: 394). Es geht also im naturrechtlichen Versprechen und Vergessen um eine korrekte Erinnerung und um eine genaue Lektüre dieser Herzensschrift. Wenn es in der Sprachtheorie des »Leviathan« überhaupt etwas Versprechensähnliches oder Fehlleistunghaftes gibt, dann ist es der Missbrauch der Sprache: fehlerhafter Gebrauch, Metaphern, Täuschung, Beleidigung oder Wahnsinn: »Madness […] that abuse of words« heißt es an einer Stelle (Hobbes 1981: 146). Die Vernünftigkeit und Autonomie des Versprechens und des Kontraktes werden allenfalls durch bewussten Missbrauch gefährdet. Der lapsus falsae linguae ist ein Delikt. Wie hingegen sieht die anthropologische Modellierung einer modernen Theorie des Unbewussten, einer Theorie der Sprachabfälle, einer Theorie der Sprachreste aus? Ersichtlich setzt der moderne Staat nicht mehr eine Anthropologie souveräner Sprecher voraus, die dem Diktat ihrer Herzensschrift folgen und in jedem Satz, der von ihren Lippen kommt, dem natürlichen Recht ihre Stimme leihen. Der moderne Staat begründet sich nicht mehr durch Autonomie und Fehlleistungsfreiheit, die eine anthropologische oder gar linguistische Theorie deklarieren und absichern. Recht und Staat heute operieren ohne Anthropologie. Ihr Fundament bildet ein proto-anthropologisches Dogma der Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Man weiß nur zu gut, dass ein solches Dogma weder einem anthropologischen noch einem hirnphysiologischen Befund standhalten würde. Dogmen kommen aber nicht aus dem Mund von empirischen Forschern. Denn mit dem Dogma sind Sprechen und Sprache von einer theoretischen Last befreit worden, von der staatstragenden Last, der legitimierenden Last, die verlangte, dass das Versprechen des Staatsvertrages auch wissenschaftlich zu begründen sei. Die Sprache wurde in der Moderne daher seziert, logisch destruiert und theoretisch neu gefasst, ohne dass dadurch die Verfassungen wankten. Das Sprechen konnte bis in die tiefste Tiefe des Unbewussten hinein untersucht werden, ohne dass Staat und Gesellschaft in den Ruin gerieten. »Bis in die Träume: Silben« dichtete Gottfried Benn, und diese Silben waren nicht verfassungstreu, sondern poetischer Müll (Benn 1960: 299). Die Moderne, der moderne Staat und der theoretische Verein der Wissenschaft, haben danach anscheinend das Recycling der naturrechtlichen Herzensschrift aufgegeben. Der Befund wird zu prüfen sein. Jedenfalls bildet nicht mehr das volle Sprechen, die solide Grammatik der fundamentalen naturrechtlichen Sprechakte 62

2005-09-20 17-08-25 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

und Herzensschriftkopien, Vertrag, Schwur, Versprechen, die Hobbes dem Betrug, der Verstellung und der Lüge, die Rousseau dem Vergessen ausgesetzt sah, die Grundlage von Staat und Gesellschaft. Gesellschaft ist Kommunikation (Luhmann 1997), sagt zum Beispiel die Systemtheorie, und in dieser Kommunikation steckt alles drin, vom Delirium bis zur Überweisung des Lotteriegewinns. Volles und leeres Sprechen sind keine systemtheoretisch relevanten Unterscheidungen. Auch die von Freud in Angriff genommene neue Anthropologie stützt sich in ihrer theoretischen Modellierung nicht mehr auf das volle Sprechen, sondern auf jene Dynamik des Unbewussten und auf den von ihr verwalteten Sprachmüll, der zuvor aus der linguistischen Beobachtung fiel. Sigmund Freuds Untersuchung des Traums, der Fehlleistungen, der neurotischen Symptome, des Gestammels aus dem Munde seiner Patienten, leiten eine grundlegende Wende ein. Der νµος µψυχος, dem die Psychoanalyse das Wort erteilt, gibt keine Rechtsauskünfte, sondern liefert widerwillig Aufschlüsse über die Störungen des vollen Sprechens. Das ist also der Augenblick, wo die beiden Fehlleistungstypen, die das Naturrecht nur als einen Verfall ansprechen konnte, das Vergessen und Ver-Sprechen, zum Material der anthropologischen Untersuchung schlechthin avancieren. Damit rückte die Verdrängung an die naturrechtliche Systemstelle des Gesellschaftsvertrages. Nun heißt die Verdrängung der Anfang des Sozialen. Die folgenden Bemerkungen sollen diesen Status der Moderne an drei Beispielen von Sprachmüllbearbeitung skizzieren. Ihre Vorläufigkeit lässt sich nicht übertreffen. Aber dieses Zögern vor einer Systematisierung und vollständigen Ausführung ist ein Zurückschrecken vor den Folgen einer Grundlegung dieser Moderne aus Resten und Müll. Denn die Beispiele, die folgen, nehmen die Sprachtheorie des naturrechtlichen Kontraktes und die Sprachtheorie der Aufklärung auf und geben ihnen den Abschied. Außer Freud kommt zunächst Martin Heidegger zu Wort, seine Aufwertung der Fragmente der Vorsokratiker, seine Parmenides-Vorlesungen, die im späten Nachgang zu Nietzsche die Frage des Kontraktes erneut aufwerfen. Im Anschluss an Heidegger folgen einige Bemerkungen zu Walter Benjamin. Damit rückt die Frage ans Ende, warum diese Befunde nun doch anzeigen, dass diese Moderne gerade aus Sprachresten und Abfall eine neue Version der Herzensschrift erstellt.

63

2005-09-20 17-08-25 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

II. Sigmund Freud: lapsus falsae linguae Sigmund Freuds kleines Buch »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« erschien vor gut einhundert Jahren. Es eröffnete ohne Zweifel die Epoche einer neuen Wissenschaft. Zwar setzte bereits mit dem 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Erforschung der Nachtseiten der Vernunft, des Bewusstseins ein: der Träume, der somnambulen Delirien, des Wahnsinns und ihres verbalen Ausschusses. Jetzt aber tritt mit Freud ein neuer Typ von Recycling auf. Er betreibt die theoretische Aufwertung und wissenschaftliche Auswertung von Sprachmüll, Fehlleistungen, Störungen, Tagesresten. Dieses Material liefert die Grundlage für eine völlig neue Konzeption der Sprache und der Gesellschaft. Die Psychoanalyse formuliert eine neue Theorie des Unbewussten, indem sie jetzt den »insignificant sound« der Patienten übersetzt und der Kultur und der Gesellschaft eine neue Grundlage verschafft. Nicht mehr die Herzensschrift, sondern der fatale lapsus falsae linguae avanciert zum linguistischen Fundament des Sozialen. Um gleich den Bezug zum Naturrecht herzustellen, soll das Sprachkapitel des Leviathan aufgeschlagen werden. Hobbes bezeichnet Sprache dort als System von »Names or Apellations, and their Connexion« (Hobbes 1981: 100). Die wesentliche Funktion von Namen und ihrer Verbindung ist aber die Erinnerung und Kommunikation. Ohne sie gäbe es keinen Staat, keine Gesellschaft, keinen Frieden, keinen Vertrag. Namen, Erinnerung und Kontrakt bilden die Grundfunktion von speech bei Hobbes. Wenn speech als naturrechtlicher Term auch dem systemtheoretischen Begriff von Kommunikation entspricht, so begründet allerdings nicht speech schlechthin Staat und Gesellschaft. Frieden und Recht bedienen sich der elementaren und störungsanfälligen Funktionen Name, Erinnerung, Kontrakt. Zwar kommen Namen auch in unterschiedlichen Verdichtungen vor. Aber alle Elemente der Sprache, Wörter, Syntagma, Mitteilung stehen allein im Dienste des Kontrakts. Auch rhetorische Figuren, auch Beispiele. Denn Hobbes gibt im »Leviathan« ein Beispiel für das linguistische Phänomen der Verdichtung. »For all these words, Hee that in his actions observeth the Lawes of his Country, make but one Name, equivalent to this one word, just.« (Hobbes 1981: 103) Verdichtung lässt sich so bereits lange vor dem Traum und seinem »insignificant sound« beobachten.5 Und justice heißt

5. Zum Begriff der »Verdichtung« vgl. Sigmund Freuds »Die Traumdeutung« (Freud 1969-75a: 282ff.). 64

2005-09-20 17-08-26 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

nach Hobbes »Keeping of Covenant« (Hobbes 1981: 205). Alles Sprechen, alle Paradigmen für Sprechen laufen auf den Vertrag hinaus. Sprechen ist Namengeben und Namenverbinden zum Vertragschließen, zum Befehlen und zum Erinnern. Die Sprache als Erinnerung der Gesetze und der Kontrakte ist daher funktionell ein Doppel der Herzensschrift. Sie dient dem Gesetz und der Erinnerung des Namens justice. Hingegen setzt Sigmund Freuds Abhandlung »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« mit dem Studium des Vergessens von Namen überhaupt ein. Die ersten Kapitel der Schrift sind dem Vergessen von Eigennamen und fremdsprachigen Worten gewidmet. Was Freud zur Erklärung des Vergessens anführt, ist die Dynamik der Verdrängung. Die genaue Beobachtung der Verdrängung gibt Hinweise, in welcher Verbindung die Namen das Unbewusste bewohnen. Die fremden, störenden Kräfte der Verdrängung offenbaren einen Zug der Sprache, der ihre syntagmatischen und paradigmatischen Relationen ans Licht bringt. Alle jene Beispiele und Unfälle, die Freud vor allem aus seiner eigenen Erfahrung berichtet, werten diesen eigentlich belanglosen Sprachrest in einer Weise auf, der ihn zu Symptomen macht und alle Fehlleistungen des Gedächtnisses als sinnvolle, nachvollziehbare, intelligible psychische Akte beschreibt. Es gib kein unmotiviertes Vergessen, kein unmotiviertes Versprechen: Die niederen intellektuellen Funktionen fallen unter ein System von Gesetzen, die die Gesetze des Unbewussten sind. Die Sprache oder diese Sprache der Reste verweist mithin darauf, dass im Herzen des Sprechens selbst sowohl Namen verschwinden und dass dann Fehlnamen an deren Stelle auftauchen können. Die syntagmatische und paradigmatische Relation, die Verschiebung und Verdichtung, bringen zwar keine Sprache ans Licht, die einzig und allein wie im Naturrecht ihr kontraktuelles Telos anstrebt. Der lapsus falsae linguae ist keine Herzensschrift und schließt keine Verträge; doch offenbart Freuds erstes Beispiel in der »Psychopathologie des Alltagslebens«, das Vergessen des Namens Signorelli, dass dieses Vergessen genau von jenem Affekt motiviert ist, der bei Hobbes alle Sprachkräfte dem Kontrakt zutreibt: der Todesfurcht (Freud 1954: 13ff.). Obwohl Freud vermutlich in keinem seiner Bücher auf Hobbes oder auf das Naturrecht Bezug genommen hat, trägt die »Psychopathologie des Alltagslebens« ihr Sprachkonzept der Alltagsreste in einen gleichen prinzipiellen und anthropologischen Status ein wie Hobbes das seine. Dies allerdings mit genau umgekehrtem Vorzeichen. Bei Hobbes kommt der Kontrakt aus der Furcht: »The Passions that encline men to Peace, are Feare of 65

2005-09-20 17-08-26 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

Death« (Hobbes 1981: 188), und alle Kräfte der Sprache stellen sich ohne Rest in ihren Dienst. Bei Freud hingegen gewähren eben diese Reste den Einblick in eine psychische Dynamik, wo gleichfalls Furcht die Grundlage des Sozialen bildet und ein Verdrängungsgeschehen antreibt, das sprachliche wie soziale Prozesse bestimmt. Das zweite Kapitel der »Psychopathologie« hebt erneut ein linguistisches Material, Sprachreste, in einen paradigmatischen Status, die selbst eine solche Reststruktur aufweisen. Freud erzählt da die Geschichte des jüdischen Mitreisenden, dem es nicht gelingt, einen Vergilvers vollständig zu zitieren. Der junge Mann will aus Verbitterung darüber, dass so viele Gesetze die Juden bei der Entfaltung ihrer Möglichkeiten einschränken, das Wort der Dido aus der Aeneis zitieren, die den einem Nachkommen, der aus »ihren Knochen ersteht«, die Rache an Äneas überträgt: »exoriar(e) aliquis ex nostris ossibus ultor« (Freud 1954: 19). Das lateinische Pronomen im Zitat aliquis kommt dem jungen Mann aber nicht in den Sinn. Die Rekonstruktion läuft über Reliquien, Liquidation, Flüssigkeit und bleibt dann beim Blutwunder des heiligen Januarius stehen. Am Ende ergibt sich der Grund der Störung: Der junge Mann musste befürchten, dass eine italienische Bekanntschaft ihm das Ausbleiben ihrer Regel mitteilt. Das Wörtchen aliquis ist allzu sehr von einem unbewussten Gedanken okkupiert. Es sind buchstäblich organische Reste wie Reliquien und Menstruationsblut, die die Artikulation eines künftigen Rechtsanspruchs in der Verschiebung des Vergil-Zitates blockieren. So lässt sich eine Dynamik studieren, wie eine große Rechtsfrage, vielleicht auch die Frage der Allgemeinheit des Kontraktes, durch eine Furcht, durch einen besorgten Gedanken gestört wird. Das Sprechen vom Recht, vom kontraktuellen Anspruch an die Gesellschaft und den Staat, so zeigt das Beispiel, ist durch Vergessen, durch einen inneren und unbeherrschbaren Kontrakt der names, die einander binden, ersetzen, verschieben, unmöglich gemacht. Es ist nur zu bekannt, wie entschieden Hobbes das Lachen, den Traum, den Wahnsinn aus den naturrechtlichen Erörterungen eliminiert hat, sie buchstäblich zu Resten gemacht hat, die nie auf einen paradigmatischen Status Anspruch erheben konnten. Zumal das Lachen, das durch die Fehlleistung, den Fehltritt eines anderen erregt wird, »is a sign of Pusillanimity« (Hobbes 1981: 125). Hier taucht unabweislich die Frage auf, ob nicht Freud selbst diese jüdische Seite seiner großen theoretischen Innovation gesehen hat. Sind nicht die sprachlichen Reste, die außerkontraktlichen Reste, dem sozialen und rechtlichen Status der Juden analog? Das ist nicht völlig zu leugnen. Denn Freud hat ja auch eine Gesellschaftstheorie 66

2005-09-20 17-08-27 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

vorgelegt, und liest man die Abhandlung »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« mit naturrechtlich geschultem Blick, dann steht am Anfang der Gesellschaft nicht der Urkontrakt, der Gesellschaftsvertrag, das Versprechen, sondern die Verdrängung oder gar die Urverdrängung (Freud 1969-1975b: 109). Die Linguisterie, mit Lacan zu sprechen, die den Sprachmüll der Patienten und des Alltags, die Alltagsreste und die unbewussten Reste durchkämmt und für Theoriebedürfnisse recycelt, führt im Moses-Buch dann zu einer kühnen spekulativen Theorie der Gesellschaft, die als dynamisches System eben die kulturellen Grundlagen legt für jene Pathologien, die die psychoanalytische Beobachtung beschreibt. In jeder neurotischen Verdrängung, der die kindlichen Vatermordgedanken zum Opfer fielen, wiederholt sich das ontogenetische Drama der Gesellschaft. Jedes Stammeln eines Patienten, alle lapsus falsae linguae, bilden eine Signatur dieses Urkontraktes der Verdrängung. Das ist das radikal Moderne dieser Theorie, und die Psychoanalyse wirkt so an einer Revision mit, die im 20. Jahrhundert das theoretische Interesse vom vollen Sprechen abkehrt und einem fragmentierten, verdrängten, uranfänglichen, verlorenen Sprechen zuwendet. In den letzten Abschnitten seines Moses-Buches analysiert Freud die Errichtung des jüdischen Gottvaters und seines Gesetzes als Wiederkehr des Verdrängten. Verdrängt war der reale oder der symbolische Vatermord der Urhorde. Es ist nun ausgerechnet Paulus, der jüdische Erfinder oder Erneuerer der Herzensschrift, des Naturgesetzes, der hier nach Freuds Ansicht für eine Wende sorgt. Die Christen, so sagt Freud, haben den Gottesmord zugegeben und sich durch das Christusopfer davon reinigen lassen; die Juden hingegen, die sich dieser Lehre nicht anschließen wollten, leben weiter in der Leugnung. Sie sind das Volk der Verdrängung, und in der christlichen Welt bilden sie auch als verdrängtes Volk nurmehr einen Rest. Sie leben mit der alten Schuld abgesondert weiter, und man hat sie – wie Freud schreibt – »dafür schwer büßen lassen« (Freud 1969-1975d: 581). Dies ist nur eine Skizze, um anzudeuten, wie Freud als eine überragende Gestalt der Moderne aus Resten, buchstäblich aus Sprachresten, nicht nur eine Theorie des Unbewussten, die Theorie einer ganz anderen Herzensschrift, konzipierte, sondern wie auch die Systemstelle des Gesellschaftsvertrages durch das Konzept der Verdrängung ersetzt wurde und nun aus dieser Verdrängung alle jene sozialen Elemente hervortreten, die dem ins Herz geschriebenen Gesetz analog sind.

67

2005-09-20 17-08-27 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

III. Martin Heidegger: Reste der Entgründung Martin Heidegger hielt seine Vorlesung »Parmenides und Heraklit« im Wintersemester 1942/43. In der Einleitung stellte er die Frage: »Warum sollen wir auf den fast ausgelöschten Spuren eines längst vergangenen Denkens umherirren?« (Heidegger 1991: 2) Antwort: Es ist nötig, um die Spur eines vollen Sprechens aufzunehmen. Die moderne Welt der Technik lebt im Gerede und ihre Diskursmaschinerie aus Recht, Macht und Staat hat die Möglichkeit des vollen Sprechens zertrümmert. Dies mag ein erster Anhaltspunkt sein, um Heidegger als einen Denker der Reste einzuführen und zugleich um zu zeigen, welche großen, welthistorischen und rechtlichen Implikationen dieses Denken der Reste hat. Die Parmenides-Vorlesung ebenso wie das im Semester darauf folgende Heraklit-Kolleg stellen ohne Zweifel einen zentralen Beitrag Heideggers zur Frage der Reste dar, der die ganze Großartigkeit und Verstiegenheit dieses Denkens vor Augen führt. Dabei muss mitgelesen werden, dass die Parmenides-Vorlesung, die in einer gewaltigen Geste noch einmal den Bezug zwischen den griechischen Anfängen des Denkens, dem Denkanfang, dem abendländischen Anfang, und jenem geschichtlichen Menschentum herstellt, dem deutschen Menschentum, das »gleich den Griechen zum Dichten und Denken bestellt ist« (Heidegger 1992: 250), im Stalingrad-Winter 1942/43 gehalten wurde. Alles was in dieser Vorlesung über »Einmauerung der λθεια im romanischen Bollwerk der veritas, rectitudo und iustitia« (Heidegger 1992: 72) gesagt wird, verweist auf diese Lage. Unter Berufung auf Parmenides entfaltet Heidegger das Wesen der λθεια als »Unverborgenheit«. Der Gegenbegriff hierzu im Sinne der Verborgenheit heißt im griechischen ψεδος. Dieser ψεδος bedeutet daher nicht das Falsche oder die Lüge, wie unser Wort Pseudonym nahe legen könnte, sondern das Verdecken oder Verhehlen. Heidegger entfaltet nun die Lesart, dass dieser griechische ψεδος als Gegenwort zu λθεια in der römischen Aneignung des Griechischen, d.h. im römischen Wesensbereich zu dem Gegensatz von verum und falsum entstellt, verkürzt wurde. Diese Romanisierung des Griechentums steht im Zeichen des Imperiums, des Imperialen, und das übersetzt Heidegger zunächst wörtlich als Befehl. In der Welt des Befehls ist das Falsche, das falsum das, was zu Fall gebracht werden muss. Dieser »Wandel des Wesens der Wahrheit und des Sein ist das eigentliche Ereignis in der Geschichte« (Heidegger 1992: 62). Es gibt nur ein einziges eigentliches Ereignis in der Geschichte. Man weiß, dass Heidegger dieses Ereignis zu Beginn von »Sein und 68

2005-09-20 17-08-27 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

Zeit« als Vergessen oder auch als Verstummen der Frage nach dem Sein analysiert hat. Während dort, in »Sein und Zeit«, die Frage nach dem Sein als zentrale oder fundamentale, als Frage schlechthin, vorgestellt wird, verschiebt sich das gleiche Unternehmen in den Vorlesungen über Parmenides und Heraklit hin zu einer Spurensuche, zu einer Analyse von Bruchstücken, Trümmern und Resten. Es geht Heidegger ja auch nur darum, diese Frage nach dem Sein als die eigentliche Gestalt des Denkens wiederzufinden. Man könnte diese Struktur mit derjenigen vergleichen, die Freud der Arbeit der Analyse übertragen hat, nämlich gleichfalls einen zerfetzten, fragmentierten, ruinierten Diskurs zu rekonstruieren. Es lässt sich durchaus erkennen, dass trotz aller Verschiedenheit und Feindschaft eine analoge Struktur Freuds Verdrängungsgeschichte und Heideggers Seinsgeschichte verbindet: Es gibt nur ein Ereignis, dessen Folgen die Sprache zu tragen hat, und das ist ein VergessensEreignis. Das ist im Grunde bekannt. Ausschlaggebend ist nun, dass Heidegger vor allem in der Parmenides-Vorlesung die Analyse des Restes nicht nur thematisch entfaltet, sondern auch methodisch. Dabei kommt freilich ein anderes Verfahren zum Einsatz als die Freuds. Die Gegenstände, wenn man so unheideggerisch sprechen darf, heißen nicht Diskurse, Systeme, Theorien, sondern Zeichen, Spuren, Winke, Hinweise. Das sind alles kleinformatige Anstöße für das Denken, das freilich selbst nicht kleinformatig operiert, sondern ins Große, Allgemeine, Seinsgeschichtliche strebt und dort wahrhaftig gewaltige Dinge sagt. Die Bewegung jedenfalls ist offensichtlich. Nur dieser Rückgriff auf Reste, auf Trümmer, Fragmente und zerspellte Zeichen erlaubt es, verlorene Größen wie Wahrheit, Ursprung, Staat aus historischer Zeichenasche wiedererstehen zu lassen. Den Anschluss an den Hauptgedanken der Parmenides-Vorlesung gibt vielleicht der Hinweis, dass das große seinsgeschichtliche Verhängnis im Abendland durch die römische Entstellung des griechischen Denkens erfolgt ist. Die Gewalt des imperiums, die Gewalt dessen, was buchstäblich das Römische Imperium ausgemacht hat, der Befehl, hat das Wesen von Wahrheit und Falschheit etabliert. Denkt man daran, dass Hobbes in seiner frühen anthropologischen Abhandlung »De homine«, vier Jahre vor dem »Leviathan«, über die Sprache geschrieben hat: »die größte Wohltat der Sprache ist, dass wir befehlen und Befehle verstehen können« (Hobbes 1959: 17), dann scheint sich diese Behauptung Heideggers zu bestätigen. Die fundamentale Funktion der Sprache in der naturrechtlichen Übernahme des römischen Rechtsdenkens und damit im kontraktuell 69

2005-09-20 17-08-28 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

gesicherten Staat ist Befehlen und Gehorchen. Dies ist die radikalere Formulierung, die sich im »Leviathan« in der Weise mildern wird, dass die Grundfunktion der Sprache der Kontrakt und die Erinnerung daran ist. In Heideggers Sicht der Dinge bildet die institutionelle Formel des Befehls das Recht und den Staat aus. Das Wesen der Wahrheit wird entstellt zum Rechten. Das Wesen des Sagens ist nicht mehr der λγος, sondern das römische iudicium, und das heißt: »das Rechte sagen, d.h. das Rechte sicher treffen« (Heidegger 1992: 76). Damit setzt die »Einmauerung der λθεια im romanischen Bollwerk der veritas, rectitudo und iustitia« ein. Hier spielt dann im Parmenides auch der Vertrag seine welthistorische Rolle. Denn der Kampf, der Rom die Herrschaft in Italien einbrachte, der sein Territorium sicherte, verdankt sich einem kontraktuellen Manöver, oder, wie Heidegger sagt: es bekundet sich überall »das klare Vorgehen des Umgehens und Einschließens durch entsprechende Verträge.« (Heidegger 1992: 61) Diese Umzingelung aber erfolgt durch das fallere, das das falsum, die Entstellung von λθεια und ψεδος, in imperiale Politik überträgt. Es geht in der Vorlesung daher nicht nur um diese Seinsgeschichte der Wahrheit, sondern auch um die Entstehung des Staates. Und weiter geht es um den Staat als die Halde, die Verschüttung, die Zertrümmerung, die die Wahrheit in Stücke gelegt hat. Alle Elemente, die sich bei Hobbes, dem Feind des Vergessens, der Fragmentierung, und bei Freud, dem Methodiker der Sprachreste, der Gesellschaft und der jüdischen Reste finden, tauchen auch bei Heidegger auf. Bei dieser Trümmerschau steht alles auf dem Spiel: Sprache, Ursprung, Gedächtnis, Staat. Unter Hinweis auf Platons »Politeia« spricht Heidegger nämlich ausführlich über die Polis, über die Gegenwelt zum Imperium, wo die »Wesensstätte des politischen Menschen« zu denken ist (Heidegger 1992: 141). In der Polis steht der Mensch nicht unter dem Gesetz oder Befehl, sondern unter der Weisung der Dikä, die er als »Fug« übersetzt, als das »worein der Mensch sich zu fügen hat« (Heidegger 1991: 137). Die Polis heißt die Stätte, wo »das Sein des Menschen in seinem Bezug zum Seienden im ganzen sich gesammelt hat, die Wesensstätte des geschichtlichen Menschen.« (Heidegger 1992: 142) Mit anderen Worten ist die Polis die Stätte in der Zeit, wo die »Sammlung und Verwahrung der λθεια statt-hat.« (Heidegger 1992: 142) Hingegen sind Staat und Wahrheit und Sprache heute nur noch Müll, Abfall eines Abfalls, wie die abschließende Formel Heideggers besagt: »das Wesen der Wahrheit ist längst aus seinem Anfang, und d.h. zugleich aus seinem Wesensgrund, gewichen, aus seinem Anfang herausge70

2005-09-20 17-08-28 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

fallen und so ein Abfall.« (Heidegger 1992: 79) Dieser »Abfall« enthält die Spuren des seinsgeschichtlichen Verhängnisses, das seine strukturelle und semantische Nähe zu Adams Fall nicht verleugnet. Darin wird sich später noch eine weitere Verwandtschaft mit Grundgedanken Walter Benjamins zeigen. Die Fragmente, die Trümmer, die Reste der Vorsokratiker also bilden einen anderen Abfall der Wahrheit, in ihnen sammeln sich die Überreste jenes Ereignisses schlechthin der abendländischen Geschichte, eines Entgründungsereignisses. Dieser Kataklysmus der Seinsgeschichte, diese Entgründung rückt Heidegger in radikale Theorie-Opposition zu jenen anderen Gründungen, von denen bisher die Rede war: des Gesellschaftsvertrages, der Übersetzung der »lex divina cordibus inscripta«; oder eben auch jener Urverdrängung, auf der die jüdisch-christliche Gesellschaft ruht. Mit dieser Formel, der Umstellung des ψεδος zum falsum, ist das ganze Programm, der verhängnisvolle Algorithmus des Abendländischen benannt. Für Heidegger folgt daraus die methodische Devise, die Elemente dieser Trümmer, dieses Abfalls auf das Ereignis hin zu befragen. Dazu nur ein Beispiel. Ausführlich und geduldig analysiert Heidegger jene Vorsilbe, das Präfix ver-, das die deutschen Wörter versprechen, vergessen, verbergen begleitet. Das lateinische verum, sagt Heidegger, gehört zwar in den Bedeutungsbereich von λθεια, aber es bedeutet das ganze Gegenteil, nämlich das Abschließende und Bedeckende, Sichernde. Der Stamm ver, fährt er fort, zeige sich auch in den deutschen Lemmata »Wehr« und »sich wehren«. Diese Einträge unseres Lexikons seien aber Veränderungen eines mittehochdeutschen ver, das eher soviel besagt wie »inStand-stehen, in-Stand-bleiben« sich behaupten, das Haupt sein, befehlen – also das Gegenteil von fallen (fallere). Aber noch ursprünglicher, nämlich im Altlateinischen bedeute veru, von dem sich lateinisch verum herleitet, soviel wie Tor und Tür, und auch das deutsche Wehr trage noch die beiden Möglichkeiten von öffnen und schließen. Heute aber bezeichne das deutsche »ver-« in den Vorsilben so vieler Wörter, das Abschließende, Verdeckende, Verbergende. Das ver ist das abendländische Diaphragma. Nimmt man nun diese Wortreihe versprechen, vergessen, vertragen, dann zeigt sich, in welchem Maße dieser theoretische Grundwortsatz kontaminiert ist durch das Imperiale, wie sehr es hineingezogen wurde in jene ungeheure Seinsgeschichte, die das Wesen der λθεια entstellte und alles anschließend nach dem Algorithmus des falsum laufen ließ. Die Silbe ver-, wie auch andere kleine versprengte Elemente unseres Lexikons, denen Heidegger seine quasi-archäologische 71

2005-09-20 17-08-28 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

Aufmerksamkeit zuwendet, tragen als wortgeschichtliche Miniaturen diese Historie in sich. Unübersehbar sind die Anklänge an den von Freud in »Jenseits des Lustprinzips« entwickelten Gedanken, wonach das Leben ein Ableitungszufall ist, ein Pufferphänomen, über das sich die Urgewalt einer ungeheuren Aufladung abarbeitet (Freud 1969-1975c: 213-272). Nach Heidegger tragen die Wörter der deutschen Sprache noch die Marken dieser Erschütterung, der imperialen historischen Urerschütterung des römischen falsum, die sie erlitten haben. Hinter dieser methodischen Devise steht dann doch in Umrissen eine andere Theorie des Rests, die Theorie eines anderen Rests, die selbst nur als Fragment oder als Gedankensplitter in die Parmenides-Vorlesung Erwähnung findet. Es geht darum, verschiedene Weisen der Verbergung zu beachten und zu verstehen. Das ψεδος, das Verbergen, unterscheidet sich von allem Verstellen, Entziehen, Beseitigen, worin das Verborgene verschwindet. Aber neben diesem Verbergen gibt es noch eine Weise der Bewahrung, nämlich diejenige, die nur für wenige vorhanden ist, nämlich das Geheimnis. Dieses Geheimnis, das Unerklärliche zählt zu den Randphänomenen, die das technische Erklären und die Erklärbarkeit nicht gelten und daher übrig lassen. Es ist der übrige Rest, der einfach in der Rechnung noch nicht aufgegangen ist. Es scheint so, als tauchte dieser Rest eben auch an den Grenzen jener Technik auf, die für die moderne Erfüllung des Imperialen sorgt. Natürlich ist das nicht individuell zurechenbar. »Vielmehr«, sagt Heidegger, »entspricht die Neuzeit der metaphysischen Tiefe ihres Geschichtsganges, wenn sie dem Willen zur unbedingten ›Restlosigkeit‹ alles Vorgehens und Einrichtens die breiten Straßen durch alle Kontinente baut und so keine Stelle mehr frei hat für jenen Rest, als welcher das Geheimnis in der Gestalt des bloß Unerklärlichen nachscheint.« (Heidegger 1992: 93) Indem er das fatum des Geheimnisses, mithin des Restes, in den Blick nimmt, erfasst Heidegger den Schicksalsgang der Geschichte. Alle Reste erzählen von dem großen Kataklysmus der Seinsgeschichte. Die Sorgfalt also, die das Denken den Fragmenten der Vorsokratiker widmet, ist der Aufwand des Denkens selbst. Die Seinsgeschichte entfaltet sich aus dieser Sicht als ein Restewerden der Wahrheit, das das Denken geradewegs dazu verpflichtet, in diesen Trümmern diese ganze Wahrheit wieder zu finden. Man könnte also im Einzelnen nachweisen, wie alle Positionen, die das Versprechen, das volle Sprechen des kontraktuellen Versprechens besetzt, bei Heidegger in charakteristischer Umdeutung wieder auftauchen und umbenannt werden: Name, Sprache, Gesetz, 72

2005-09-20 17-08-29 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

Wahrheit, Staat, Gedächtnis. Es sind allesamt Universalien, die nichts übrig lassen, die das ganze Feld der Anthropologie, der Gesellschaft und des Staates ausfüllen. Statt Name Sage, statt Sprache Logos, statt Gesetz Fug, statt Wahrheit λθεια, statt Staat Polis, statt Kontraktversprechen und Herzensschrift Seinsversprechen. Die Analyse dieser abendländischen kontraktuellen Verhängnisse, das von Heidegger nacherzählte Erscheinen des Versprechenstieres Mensch aus den Ruinen Roms, treibt aber dennoch alle Begriffe der naturrechtlichen Herzensschrift durch ein Recycling. Wenn auch nur beiläufig, so verankert Heidegger auch das Versprechen in jenen Rätseln, die die Fragmente der Vorsokratiker aufgegeben haben. In einem Kommentar zum Fragment 50 des Heraklit schreibt er: »Das Wort des Denkens ruht in der Ernüchterung zu dem, was es sagt. Gleichwohl verändert das Denken die Welt. Es verändert sie in die jedesmal dunklere Brunnentiefe eines Rätsels, die als dunklere das Versprechen auf eine höhere Helle ist.« (Heidegger 1954: 221) Das Heideggersche Versprechen kommt also aus diesen Resten, einem Grundparadigma der Moderne, und was das heideggersche Versprechen verspricht, ist die blitzartige Aufhellung der Dunkelheit, die es als Geheimnis verbreitet. Die Polis, die λθεια lassen sich nicht wiederherstellen. Das Versprechen hüllt das Sagen in das Geheimnis, worin das, was geborgen bleibt, auch gerettet ist, aber das Versprechen verspricht auch eine blitzartige Sichtbarkeit. Es tilgt aus dem lapsus falsae linguae nur das falsum, diese furchtbare römische Entstellung des griechischen ψεδος. Heideggers Versprechen verspricht daher nur mit einem entriegelten ver-. Was wird im Blitz der Entriegelung dann sichtbar werden? Der νµος µψυχος.

IV. Walter Benjamin: Trümmer der Geschichte Trümmer, Reste, Spuren, Fragmente, Namen, Silben, Blitze: Alle Elemente, die das 20. Jahrhundert einsammelt und arrangiert, um Geschichte neu zu schreiben und um das alte Versprechen dem modernen »Abfall« neu zu entwinden, kommen aus Walter Benjamins Texten. Viele der offenen und untergründigen Verbindungen, die Benjamins Apotheosen des Abfalls und der Spur mit dem Denken Martin Heideggers unterhalten, wurden bereits zur Sprache gebracht.6 Hier soll eine andere Verknüpfung angedeutet werden.

6. Siehe dazu Willem van Reijens »Der Schwarzwald und Paris. Heidegger und 73

2005-09-20 17-08-29 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

Wie Heidegger, der die Intervention der römischen falsum, die »Einmauerung der λθεια im romanischen Bollwerk der veritas, rectitudo und iustitia«, für die seinsgeschichtliche Katastrophe namhaft macht, so bearbeitet auch Benjamins Geschichtsmetaphysik einen juristischen Unfall, der die Geschichte zerteilt: den Sündenfall. Die frühen Aufzeichnungen »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (Benjamin 1974-92: II, 152f.) verstehen den Sündenfall als eine Katastrophe der Sprache. Der Unterscheidung von gut und böse folgte die Errichtung der Justiz. Als in paradiesischer Zeit Adam den Tieren und Dingen ihren Namen gab, da hielt sich die Sprache fern von aller Konventionalität. Die Namen, die Adam vergab, waren rein und zufallslos wie platonische Ideen: Diese Lampe heißt Lampe, weil sie Lampe ist. Dann zerriss der Sündenfall die Methexis von Namen und Dingen, und der Mensch trat aus der reinen Namensprache in die Funktionssprache über. Der Sündenfall ist nach Benjamin ein lapsus falsae linguae. Die Paradieseskatastrophe und die babylonische Verwirrung bilden ein Ereignis. Der Sündenfall, der juristische Unfall, brachten Urteil und Begriff hervor. Diesem Ereignis fiel die Namensprache zum Opfer. Denn die »Erkenntnis, zu der die Schlange verführt, das Wissen, was gut sei und böse, ist eben namenlos« (Benjamin 1974-92: II, 152). Mit dem Ende der Namensprache suchte das Geschwätz die Welt heim. Der linguistische Müll überfiel das Sprechen und vollendete die Katastrophe: die Entstellung der Sprache zum Mittel. Nun ragt ein riesiger babylonischer Turm aus Geschwätzabfall zum Himmel. Die Anhäufung dieses Wortmülls bildet den Inhalt der Geschichte. Denn der juristische Sprachunfall riss die ganze Welt aus den Angeln der Zeitlosigkeit und trieb sie in die leere Weltzeit, wo sie, mit einer schwachen messianischen Hoffnung versehen, dem Ende dieser Zeit entgegen geht. Erst wenn die »Verwirrung, die vom Turmbau zu Babel herrührt« (Benjamin 1974-92: I, 1239), geschlichtet ist, kann vielleicht die messianische Welt beginnen. Diesen Gedanken, dass die Welt nur ein einziges Ereignis, eine einzige Katastrophe erlebte und dass sich unsere Jetztzeit von diesem Ereignis und von seinem Vergessen her schreibt, teilen Benjamin und Heidegger. Ein juristisch-metaphysischer Unfall entzog der Sprache das Vermögen zur Offenbarung der Wahrheit und be-

Benjamin« (1998), Stefan Knoches »Benjamin – Heidegger. Über Gewalt. Die Politisierung der Kunst« (2000) und Werner Hamachers »›Jetzt‹. Benjamin zur historischen Zeit« (2002). 74

2005-09-20 17-08-29 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

schränkte sie auf die Funktion der Mitteilung. Das seinsgeschichtliche Ereignis des falsum und die Vertreibung aus dem Paradies brachten diese gleiche Geschichte hervor, der die Philosophie nun ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Wie aber steht es mit den Resten? Während sich Heidegger auf den Abfall der griechischen Denker besinnt, entfaltet Benjamin sein ganzes Werk als Theorie der Reste. Die paradiesische Sprachkatastrophe erfasste nach seiner Lesart sowohl die Wörter als auch die Dinge, denn »zur Verknechtung der Sprache im Geschwätz tritt die Verknechtung der Dinge« (Benjamin 1974-92: II, 154). Was nicht »ohne Rest« (Benjamin 1974-92: II, 213) in die Sprache Eingang findet, das fällt auf den Trümmerhaufen, den die Weltgeschichte errichtet. Der Gedanke trägt in sich selbst die Hinterlassenschaft des naturrechtlichen Sprachkonzepts, wonach alle Wörter und Begriffe restlos mit der vollständigen Darstellung der Welt in names beschäftigt sind. Dieser Zustand der Sprache fiel für Benjamin jedoch in die Urzeit einer Vorgeschichte. Die Philosophie will aber jetzt diese Zeit, will die Ideen, die Sprache, die Welt wiederherstellen. Gemäß dem »Ursprung des deutschen Trauerspiels« geht die Genealogie der Philosophen direkt auf den Namengeber Adam zurück (Benjamin 1974-92: I, 217). Jeder philosophische Sohn Adams tritt an, um die Zerstreuung der Worte und Dinge aufzuheben, er begibt sich an die »Einsammlung der Phänomene«, um die Welt wieder in ihren Ursprungszustand zu versetzen. So trägt die Tätigkeit der Philosophen selbst ein messianisches Versprechen in sich, das Versprechen des Messianischen: die gefallene Natur, die zerstreuten Dinge, die ihrer alten Nennkraft beraubte gefallene Sprache wiederherzustellen. Den lapsus falsae linguae, Adams Fall, soll sie rückgängig machen und die Ideen in »philosophischer Kontemplation […] erneuern.« (Benjamin 1974-92: I, 217) Der »Ursprung des deutschen Trauerspiels« nimmt eine etwas andere Haltung zu jenen Resten und Ruinen ein, die das Kunstwerk verstreut. Die Reste, die die Geschichte aus Wörtern und Dingen anhäuft, sind ja die Trümmer, denen Benjamins berühmter Engel der Geschichte sein Antlitz zuwendet: »Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.« (Benjamin 1974-92: I, 697) Wie der Autor des Sprachaufsatzes, wie Heidegger kann dieser Engel die Geschichte nur als »eine einzige Katastrophe« sehen. Hingegen gehören die zerstückten Körper, Leichen, Ruinen, Skelette, Torsi, Sprachfetzen, die den Schauplatz des Trauerspiels füllen, einer anderen zerstreuten 75

2005-09-20 17-08-30 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

Dingwelt zu, die im barocken Theater den »Grund einer Neugeburt« legt. Aus ihnen montiert sich das Versprechen immer wieder neu. Dem Engel der Geschichte will es nicht gelingen. Er will zwar »die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen«, aber der »Sturm des Fortschritts«, der vom Paradies und vom Sündenfall her weht, hindert ihn daran. Doch das Passagenwerk zerschlägt diesen Fortschrittsgedanken und versucht, »das neunzehnte Jahrhundert so durchaus positiv anzusehen wie […] in der Trauerspielarbeit das siebzehnte« (Benjamin 1974-92: V, 571). Was dort die Ruinen und Leichen als Embleme und als Elemente des allegorischen Verfahrens zu leisten hatten, das wird nun in der Betrachtung des 19. Jahrhunderts buchstäblich auf »Lumpen« und »Abfall« übertragen (Benjamin 1974-92: V, 574). Benjamins Theorie der Reste, seine Vision der »Geschichte als Abfall«, entfaltet sich in ganz unterschiedlichen Gedankenreihen. Zu den wichtigsten Konzepten zählt die Theorie des Sammlers, die im Passagenwerk skizziert wird. Der Sammler nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf. Allerdings bleibt sein Werk auf ewig unvollendet. Dies unterscheidet ihn vom Allegoriker, dem er in Verwandtschaft verbunden ist, denn dem Allegoriker liefern die Dinge nur »Stichworte eines geheimen Wörterbuches«, denen sein Tiefsinn am Ende eine eigene Bedeutung verleiht. Sammler wie Allegoriker stehen im Dienste jenes Restes, der das weltliche Äquivalent einer messianischen Hoffnung darstellt, die – wieder nicht anders als bei Heidegger – nur in blitzartigen Momenten sich zeigt. Diese Abfälle ähneln den Ruinen, aber ihre schiere Masse erzwingt seit dem 19. Jahrhundert einen neuen theoretischen Zugang. Der Allegoriker, dessen Tiefsinn auch durch die marxistische Analyse der Ware bereichert wurde, entziffert die Masse der Dinge als gefallene Waren, als Spuren jener ersten Katastrophe, der alle Namen und Dinge zum Opfer fielen. Die Ware ist das gefallene Ding, so wie das Wort der gefallene Name ist. Benjamins Plan der Passagenarbeit sah nun vor, die Bilder dieser Warenwelt, die Bewohner der Passagen, die Prototypen der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, Moden, Reklamen, Waren, Konstruktionen, Stimmungen, Gedanken, den gewaltigen Auswurf und Kehricht dieser Epoche, so zu konfigurieren und so zu montieren, dass jedem Leser solche blitzhaften Bilder ins »Jetzt der Erkennbarkeit« zufielen (Benjamin 1974-92: V, 578). Giorgio Agamben hat die Anregungen aus Benjamins Philosophie der Reste und ihren messianischen Träumen aufgegriffen und fortentwickelt. Sein Buch »Il tempo che resta« gibt einen Kommen76

2005-09-20 17-08-30 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

tar zum biblischen Römerbrief und entfaltet die Frage des Restes als Frage nach den Erwählten in Römer 11,5. Dabei greift er Überlegungen von Jacob Taubes auf, der in seinem Kommentar zum Römerbrief behauptet, in Benjamins so genanntem »Theologisch-politischen Fragment« Paulus-Spuren gefunden zu haben: »Benjamin, das ist die erstaunliche Parallele, hat einen paulinischen Begriff der Schöpfung. […] Römer 8,18. Darüber spricht Benjamin« (Taubes 1993: 101). Indem Agamben seinerseits nachzuweisen versucht, dass Benjamin paulinische Gedanken und Zitate verwendet, beruft er sich außer auf Taubes auch auf Taubes’ Lehrer und Benjamins Freund Gershom Scholem. In seinem Kommentar zu Benjamins Selbstportrait »Aegesilaus Santander« entzifferte Scholem bekanntlich den geheimnisvollen Namen als Anagramm von »Angelus Satanas«. Hierzu gab Scholem den Hinweis, dass sowohl hebräische Texte wie auch Paulus im 2. Korintherbrief 12,7 von seinem solchen satanischen Engel wissen. Für Agamben indessen verbirgt sich in einem gesperrten Wort des II. Stücks aus »Über den Begriff der Geschichte« ein kryptisches Paulus-Zitat. Dort ist die Rede von einer »schwachen messianischen Kraft«, die »uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war«, mitgegeben ist (Benjamin 1974-92: I, 694). In diesem Wort schwach erkennt Agamben eine Formel aus dem zweiten Korintherbrief 12,9-10 wieder, wo es heißt, Gott habe zu Paulus gesagt: »Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist den Schwachen mächtig« ( γρ δναµις εν σθεναα τελεται (Agamben 2000: 128ff.). Die sehr differenzierte Argumentation Agambens überzeugt dennoch nicht ganz, da Benjamin in seiner eigenhändigen Übersetzung der Thesen »Über den Begriff der Geschichte« ins Französische die Anlehnung an Luthers Wortlaut nicht kenntlich machte. Dort heißt »die schwache messianische Kraft« ohne Sperrung und metaphorisch »une parcelle du pouvoir messianique« (Benjamin 1974-92: I, 1260f.). Triftiger scheint ein anderer Bezug zwischen Paulus und Benjamin. Er betrifft die Frage des Gesetzes und der Sprache nach Römer 2,14. Gericht, Urteil, Gesetz bilden ja die Folge der Sprachkatastrophe. Die gefallene Sprache, die gefallene Natur haben die Geschichte der leeren Zeit in Gang gesetzt. Diese leere Zeit ist die Zeit des Rechts und des Gesetzes. Daher erklärt Benjamin auch, dass der Historismus »von rechtswegen« in der Universalgeschichte gipfelt (Benjamin 1974-92: I, 702). Das Esperanto, nämlich die gefallene Universalsprache, und die Universalgeschichte seien eine Rechtsfolge. Insofern also »ist diejenige Natur aber, in welche sich das Bild des Geschichtsverlaufs eindrückt […] die gefallene« (Benjamin 77

2005-09-20 17-08-30 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

1974-92: I, 356). Der Gedanke der Heilsgeschichte oder die Idee des Fortschritts (sie sind das gleiche) entstammen der gefallenen Natur. Diese Gedanken artikulieren sich daher als lapsus falsae linguae. Wenn sich das Ende der leeren Zeit ankündigt, wenn die Revision der babylonischen Verwirrung erfolgt, wenn die messianische Welt einsetzt (Benjamin 1974-92: I, 1238), dann heißt dies auch die Erlösung vom Gesetz. Diese Lesart, wonach tatsächlich eine paulinische Strömung durch Benjamins Denken geht, nimmt eine Bemerkung auf, die zu den Vorstufen der XVII. These in »Über den Begriff der Geschichte« zählt. Danach wird erst in der messianischen Welt der universalen Verständigung auch eine Universalgeschichte möglich sein: »sie ist diese Sprache selbst« (Benjamin 1974-92: I, 1239). Die Universalgeschichte ist Universalsprache. Woran, wenn nicht an den paulinischen Universalismus knüpft diese Idee einer Einheit von Zeit und Sprache an? Wo wurde dieser Gedanke zum ersten Mal ausgesprochen, wenn nicht in der stoisch-paulinischen Allgemeinheit des ungeschriebenen Gesetzes, des νµος µψυχος? das Gesetz wieder ungeschrieben zu machen: das ist die messianische Verheißung, an der alles hängt. Das ist das Versprechen des Justiziars Paulus. Das ist die paulinische Stimme in Benjamins Denken. Zieht man also diesen Bogen »vom Versprechen zum Versprechen« auch durch das Denken Walter Benjamins, dann erweist sich, dass er die Umkehr der Theoriebewegung vollzieht, die sich in der Verbindung von Hobbes zu Freud als Signatur der Moderne überhaupt abzeichnet. Bei ihm steht der Sprachunfall, die Paradieseskatastrophe, der lapsus falsae linguae, am Anfang. Aus den Sprachtrümmern und aus den Resten dieses Falls der Sprache und der Natur stellt sich der vage Wortlaut einer messianischen Umkehr her, eine promissio, die die rechtliche Grundlage des Staates nach dem Naturrecht sichert. Diese Umkehrung also bildet den Umriss einer neuen Konzeption der Geschichte. Ihr Material schöpft sie aus der Zerstreuung, aus den Trümmern, aus den Resten, die buchstäblich die alten Versprechen übrig gelassen haben.

V. Die Signatur der Theorie im 20. Jahrhundert Diese fragmentarischen Bemerkungen wollen ihrerseits in der Sprache der Reste einen Zug der Philosophie im 20. Jahrhundert herausarbeiten. Was für Freud, Heidegger, Benjamin angedeutet wurde, erweist sich als ein kollektiver Zug des Denkens in dieser Zeit. Die Begründung, mit Pierre Legendre zu sprechen, die Referenz dieses 78

2005-09-20 17-08-31 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

Denkens, sind nicht die großen Universalien der Metaphysik, Gott, Wahrheit, Staat, Sein, sondern kleinformatige Begriffe, Fragmente, Reste, Spuren, Trümmer, Ruinen. Gewiss setzte die Aufwertung der Reste bereits früher ein, man findet sie bereits im 17. Jahrhundert. Aber als durchgehenden Zug einer Epoche zeigt sich diese Wendung erst seit etwa 1900. Mehr als ein linguistic turn ist es ein residual turn. Den Beispielen bei Freud, Heidegger und Benjamin ließen sich andere zur Seite stellen. Man denke an die Ausnahme bei Carl Schmitt, an die Emanzipation des Schreis bei Artaud oder Foucault, an den Blick bei Sartre, an den Aufstieg des Signifikanten, man denke an die différance Derridas, an das punctum bei Barthes, an das Ding und an so viele andere aus der Peripherie der Universalien gespeiste Theorien. Die Wendung also zu Randphänomenen, zum Jenseits nicht nur des Lustprinzips, sondern auch zum Jenseits des Gesetzes. Wird man dies nicht als eine neue Epoche beschreiben müssen? Gibt es eine Theorie dieser Signaturtheorie? Der Bogen, der »vom Versprechen zum Versprechen« gezogen wurde, gibt dafür auch die Spur eines Hinweises. In seiner Tiefe, in seinem Kern, in seinem Unbewussten kämpft dieses 20. Jahrhundert immer noch mit dem Gesetz. Wo Sprache, Medien, Fehlleistungen, Wille, Blitze stehen, stehen jeweils Substitute des Gesetzes. Es ist paulinisches Erbe: Es ist der Fluch Nietzsches: dem Versprechenstier zu entkommen, das Gesetz zu leugnen und Auswege zu suchen, Substitute. Ihr Emblem ist der νµος µψυχος. Das Gesetz ungeschrieben zu machen, ist der Wille in der Bewegung zur Peripherie. Vielleicht findet sich in den Resten, wie es Benjamin dachte, jenes Versprechen wieder, das sich das 20. Jahrhundert nur noch als lapsus falsae linguae denken wollte. Die Signatur der Epoche gab Gottfried Benn in dem Gedicht Fragmente. Die letzte Strophe lautet: »Der Rest Fragmente, halbe Laute, Melodieansätze aus Nachbarhäusern, Negerspirituals Oder Ave Marias.« (Benn 1960: 246)

79

2005-09-20 17-08-31 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

MANFRED SCHNEIDER

Literatur Agamben, Giorgio (2000): Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani. Torino: Bollati Boringhieri.

Benjamin, Walter (1974ff.): Gesammelte Schriften/R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser (Hg.), unter Mitwirkung von Th. W. Adorno und G. Scholem, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Benn, Gottfried (1960): Gesammelte Werke in vier Bänden/Dieter Wellershoff (Hg.), Gedichte, Bd. 3, Wiesbaden: Limes-Verlag. Condillac, Etienne Bonnot de (1947): »Essai sur l’origine des connaissances humaines«. In: Œuvres philosophiques de Condillac. Texte établi et présenté par Georges le Roy, Vol. I, Paris 1947, S. 1-118. Freud, Sigmund (1954): Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt/Main: Fischer. Ders. (1969-1975a): Die Traumdeutung. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. II, Frankfurt/Main: Fischer. Ders. (1969-1975b): Die Verdrängung. In: Freud. Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt/Main: Fischer Ders. (1969-1975c): Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt/Main: Fischer, S. 213-272. Ders. (1969-1975d): Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/Main: Fischer, S. 455-581. Gebelin, Court de (1776): Histoire naturelle de la parole ou Précis de l’origine du Langage et de la Grammaire universelle, Paris: L’Auteur. Hamacher, Werner (2002): »›Jetzt‹. Benjamin zur historischen Zeit«. In: Benjamin Studien/Studies 1, S. 145-183. Heidegger, Martin (1954): Logos (Heraklit, Fragment 50). In: Ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske, S. 199-221. Heidegger, Martin (1992): Parmenides. In: Ders., Gesamtausgabe. II. Abt.: Vorlesungen 1925-1944, Bd. 54, Frankfurt/Main: Klostermann. Hirzel, Rudolf (1900): »Agraphos Nomos«. In: Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. XX, 1. Hobbes, Thomas (1959): Vom Menschen – Vom Bürger (Elemente der Philosophie II/III)/Günter Gawlick (Hg.), Hamburg: Meiner. Ders. (1981): Leviathan, or The Matter, Form, and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civil/C.B. Macpherson (Hg.), London: Penguin Books. Knoche, Stefan (2000): Benjamin – Heidegger. Über Gewalt. Die Politisierung der Kunst. Wien: Turia und Kant. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Pufendorf, Samuel (1994): De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo 1683/Klaus Luig (Übers. und Hg.), Frankfurt/Main, Leipzig: Insel. 80

2005-09-20 17-08-31 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

VOM VERSPRECHEN ZUM VERSPRECHEN. DIE ABFÄLLE DER MODERNE

Reijen, Willem van (1998): Der Schwarzwald und Paris. Heidegger und Benjamin. München: Fink.

Rousseau, Jean-Jacques (1964): Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. In: J-J.R.: Oeuvres complètes III. Du contrat social. Écrits politiques/Bernard Gagnebin und Marcel Raymond (Hg.), Paris: Bibliothèque de la Pléiade. Schneider, Manfred (1997): Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München: Hanser. Ders. (Hg.) (2005): Die Ordnung des Versprechens. Recht – Institution – Sprechakt. München. Spinoza (1979): Tractatus Theologico-Politicus. In: Ders.: Opera, Werke. Lateinisch und deutsch, Bd. I/Günter Gawlik (Hg.) und Friedrich Niewöhner (Hg.), Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Steinwenter, Artur (1947): νµος µψυχος. Zur Geschichte einer politischen Theorie. In: Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-hist. Klasse 83, Nr. 1-23, S. 250-286. Taubes, Jacob (1993): Die politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg 23.27. Februar 1987/A. u. J. Assmann (Hg.), München: Fink.

81

2005-09-20 17-08-31 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

59- 81) T02_04 schneider.p 95224308054

2005-09-20 17-08-32 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

82

) vakat 082.p 95224308262

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

Unrat, Ungeziefer und die Sprache der Literatur Burkhardt Lindner

»Weil aber die vergessenste Fremde unser Körper – der eigene Körper ist« […] (Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestags)

I. Der Autor als Müllproduzent »Da läutet auch schon der Kollege von der Müllabfuhr. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« (Goetz 2003: 205) Diese selbstironische Notiz eines Schriftstellers über seinen Kollegen entstammt Rainald Goetz’ Textbuch »Abfall für alle. Roman eines Jahres«. Hier flüchtet ein Autor sich für ein Jahr ins Internet, weil dies die optimalste Mülldeponie bildet, die es je gab, und er den klaustrophobischen Papieranhäufungen seines Arbeitszimmers entkommt. »Das System meiner Tüten, die immer irgendwo anwachsen, unauffindbar werden, dann werden neue angelegt, ähnliche, gleiche. Dann funktioniert die Ordnung wieder kurz, dann wuchern sofort die neuen Zeitungsmassen darüber hinweg, urwaldmäßig.« – »Bilder vom Eingewachsensein und Zuverwachsensein von BERGEN von Papier, Büchern, vom Überwuchertsein von Müll letztendlich doch. Gräßlich.« (Goetz 2003: 77 u. 204) Nun ist Müll eine ganz und gar moderne Kategorie. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm hat der Eintrag »Müll« noch nicht diese alle Abfallreste subsumierende Bedeutung, sondern weist spezifische Bezüge auf, nämlich zu zerreiben, zermalmen, zerstoßen, zu Müller und Mühle, dann auch zu Mull, Mulm, mulmig u.a. im Sinne von zerfallendem Holz und Stein. Müll bezeichnet nur eine bestimmte Abfallart. Wenn man weiter nachschlägt, stößt man auf viele weitere Begriffe. Man findet »Unrat« mit vielfältiger Semantik, 83

2005-09-20 17-08-33 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

BURKHARDT LINDNER

die mit dem Stammwort ›Rat‹ zusammenhängt, stößt weiter auf »Aas«, »Abschaum«, »Dreck«, »Schmutz« (mit Übergängen zu Schmutzen als Küssen und Schmatzen), »Lumpen« mit vielerlei Bezügen, auf »Abfall« (abfallen, abfällig) mit einem breiten Spektrum bis zu Abfall von Gott, und schließlich auf den heute vergessenen »Unflat« mit einem riesigen Eintrag, der von Kot, Mist, Dreck, Schlamm, Ekelhaftem, Gift, Verpesten, Stinken bis hin zu sittlicher Verkommenheit reicht. Müll als Universalkategorie für Abfallreste aller Art dürfte sich wohl erst mit der Einführung staatlicher Müllabfuhr und der industriellen Konsumgüterproduktion gebildet haben.1 Es wäre sehr verlockend, von den historischen Belegen des Grimmschen Wörterbuchs aus die Sprache des Drecks in der Literatur zu verfolgen und nach historischen Diskursverschiebungen zu suchen. Hier ist Bachtins Karnevalbuch2 mit seiner Theorie des grotesken Körpers als einem vitalen Schmutz-Universum, dem wir heute ganz entfremdet sind, unbedingt heranzuziehen. Im Folgenden soll aber eine andere Annäherung an das Thema versucht werden.

II. Heldengeschichten und Ekelproduktion Man kann Literatur zu ihrem größten Teil, den epischen wie den dramatischen Formen, als variantenreiches Narrationsschema mit Helden3 definieren. Dementsprechend lassen sich Typologien der Helden und Heldinnen gewinnen (sozial hoch, niedrig; gut, böse; unglücklich; krank usw.) und ihnen bestimmte Kausalitäten, die das Ende der Geschichte bestimmen, zuordnen (Zufall, Gerechtigkeit,

1. Dies greift dann wieder in die Literatur zurück. Der Skandal von Samuel Becketts »Endspiel« (1957) beruhte nicht zuletzt darauf, dass Nagg und Nell, die greisen Eltern von Clov, in zwei Mülleimern untergebracht sind. – Zum Verhältnis von häuslicher Müllentsorgung und eigenem Schreiben siehe auch die wunderschöne Geschichte von Italo Calvino (1994) in dem gleichnamigen Band »Die Mülltonne und andere Geschichten«. 2. Eine materialreiche Diskursgeschichte des Stinkens im 18. und 19. Jahrhundert findet sich bei Alain Corbin (1984). 3. Der Wortgebrauch ›Literarischer Held‹ klingt heute altmodisch. Er bleibt aber unverzichtbar. Zur Frage nach dem historischen Verschwinden des Heldens und seiner Unersetzbarkeit siehe Josef Früchtl (2004). 84

2005-09-20 17-08-33 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

Selbstverschuldung, Bekehrung usw.). Aus dem Faktum, dass in der Narration bestimmte Figuren auf der Strecke bleiben und andere überleben und am Ende Ordnung neu stabilisiert wird, gewinnt der Text seine sinnhafte Kohärenz. In diesem Strukturalismus der Narration bleibt außer Betracht, was man die ›Verdinglichung‹ des Helden nennen könnte. Die Körperlichkeit des Helden (als Handlungsträger) wird desintegriert, was paradoxerweise das Körperliche umso drastischer hervortreten lässt. Darum soll es im Folgenden gehen. Die beiden Texte, Heinrich Manns »Professor Unrat« (1905)4 und Franz Kafkas »Die Verwandlung« (1912)5, werden daraufhin betrachtet, dass der Held als Ekliges6 erfunden wird und nicht vordefiniert ist durch Kriterien wie böse, unglücklich, krank7. Damit wird zu überlegen sein, ob der Held oder nicht vielmehr das Eklige, als eine eigene Körperlichkeit, das Zentrum der Erzählung ausmacht. Weiter wird zu betrachten sein, ob und wie das Eklige wieder entsorgt wird. Im Text, so kann man vorgreifend sagen, vollzieht sich nicht nur der Vorgang einer Erzeugung und Beseitigung des Abfalls, sondern es entsteht auch eine hartnäckige Resistenz des Abfalls, die eine genauere Analyse verdient. Die Stigmatisierung des schmutzigen Helden ist in beiden Texten schon im ersten Satz beschlossen; ein Auftakt, den Mann wie Kafka meisterhaft beherrschen.

4. Heinrich Mann (2004). Im Folgenden direkt im Text zitiert mit der Seitenangabe und der Sigle U. 5. Franz Kafka (2003). Im Folgenden direkt im Text zitiert mit der Seitenangabe und der Sigle V. 6. Um kein Missverständnis zu erzeugen, sei angemerkt, dass mit der Textwahl nicht behauptet wird, eine solche Heldenfigur sei erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts möglich. Der stinkende Philoktet hat über Jahrhunderte hinweg geradezu ein literarisches Paradigma des ekligen Helden gebildet. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist ebenso Victor Hugos Quasimodo im Roman »Der Glöckner von NotreDame« (»Notre Dame de Paris«). Auch Mary Shelleys Frankenstein-Roman wäre heranzuziehen. 7. Das Eklige des Helden ist nicht als personale Eigenschaft gegeben, sondern konstituiert sich durch die Art, wie erzählt wird. Auch eine ›an sich‹ völlig harmlose Geschichte kann abstoßend oder peinigend beschrieben werden. (Viele Texte Kafkas operieren so.) Dies entgeht der strukturellen Erfassung von Heldentypen und Narrationsschemata, die von der konkreten Textualität, also der Wörtlichkeit des Textes abstrahieren. 85

2005-09-20 17-08-34 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

BURKHARDT LINDNER

»Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat.« (U 9) Mit dieser verblüffenden Logik beginnt Heinrich Manns Roman »Professor Unrat«. In diesem einen Satz ist das Wesen des humanistischen Gymnasiums der wilhelminischen Kaiserzeit in nuce enthalten. Unrat, diesen Namen wird die Geschichte nun nicht mehr los werden. Ebenso trifft Kafkas erster Satz der »Verwandlung«. »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.« (V 23) Das dreifache »Un« im ersten Satz wirkt wie ein Brandmal, das dem Text von Anfang an aufgedrückt wird. Es geht also um Unrat und Ungeziefer. Beide Protagonisten ruinieren als Unflat ihre Umgebung. Und beide müssen am Ende entsorgt werden. Am Ende des Mannschen Romans wird der ruinierte Unrat unter allgemeinem Gejohle mit einem Schlauch weggespritzt. »Die Stadt war in Jubel, weil Unrats Verhaftung beschlossen war. Endlich! Der Druck ihres eigenen Lasters ward von ihr genommen, da die Gelegenheit dazu entfernt ward. Man warf, zu sich kommend, einen Blick auf die Leichen ringsumher und entdeckte, daß es höchste Zeit sei«. (U 238) Nun erfolgt die reinigende Entsorgung. »Herr Dröge, der Krämer schleppte den Gummischlauch herbei. […] Einer hinterm Lederschurz, der Bierkutscher, reckte seinen bleichen Schlingelkopf heraus und quäkte: »›’ne Fuhre Unrat!‹ […] Unrat warf sich herum, nach dem Wort, das nun kein Siegeskranz mehr war, sondern wieder ein ihm nachfliegendes Stück Schmutz […]. Er schüttelte die Faust, er schnappte, den Hals vorgestreckt, in die Luft: aber Herrn Dröges Strahl prallte ihm gerade in den Mund. Er sprudelte Wasser, empfing von hinten einen Stoß, stolperte das Trittbrett hinan und gelangte kopfüber […] ins Dunkel«. (U 238f.) So wird denn am Ende die Stadt von diesem Unrat entsorgt. Er wird weggespritzt und zum Schweigen gebracht. Damit schließt der Roman. In Kafkas Erzählung wird zum Schluss der verhungerte und vertrocknete Gregor von der Bedienerin als das »Zeug von nebenan« (V 89) entsorgt. Auf welche Weise, will die Familie nicht mehr genau wissen. Auch hier fällt zuvor das Wort »endlich«. Es wird von der Schwester gesprochen: »ein ›Endlich!‹ rief sie den Eltern zu, während sie den Schlüssel im Schloß umdrehte.« (V 85) Die »Tür« wurde 86

2005-09-20 17-08-34 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

hinter Gregor »festgeriegelt und versperrt«. Am anderen Morgen: die Bedienerin, die zunächst mit ihrem »langen Besen« an Gregor herumgeschubst hatte, »riß die Tür des Schlafzimmers auf und rief mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: ›Sehen Sie nur mal an, es ist krepiert; da liegt es, ganz und gar krepiert!‹ Das Ehepaar Samsa saß im Ehebett aufrecht da.« (V 86) Man umsteht die ›Leiche‹, Herr Samsa und die drei Frauen bekreuzigen sich, nachdem durch das Besenschubsen der Tod festgestellt war. »Tatsächlich war Gregors Körper vollständig flach und trocken […]«. (V 87) Kurze Zeit später fährt die von Gregor befreite Familie mit der Elektrischen vor die Stadt, und die Eltern bemerken, dass die Tochter »zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war«. (V 91) Die Entsorgung am Ende setzt beiden Geschichten einen brutalen Schlusspunkt. Er lässt sich nicht aus der moralischen Natur der Helden ableiten und rechtfertigen. Deshalb verfehlen Interpretationen, die darauf ausgerichtet sind, den Text. Denn sie verschließen die Augen vor der eigenständigen, sozusagen wertfreien Faszination des Ekligen, die in beiden Geschichten wirksam ist. In Kafkas Erzählung erfahren wir über den Helden Gregor Samsa, dass er »altes halbverfaultes Gemüse« (V 48) liebt und »gierig« an dem verschimmelten Käse »saugt« und ihn »mit vor Befriedigung tränenden Augen« (V 49) verzehrt. Oder an anderer Stelle, dass »eine braune Flüssigkeit […] ihm aus dem Mund« (V 37) kommt und auf den Boden tropft. Nach der Wurf-Attacke des Vaters bleibt ihm ein »Apfel […] im Fleisch sitzen« (V 68), so dass die Verwundung ständig eitert. Über seine Behausung heißt es: »Schmutzstreifen zogen sich die Wände entlang, hie und da lagen Knäuel von Staub und Unrat«. (V 73) Alles, was nicht gebraucht wurde, wandert »in Gregors Zimmer. Ebenso auch die Aschenkiste und die Abfallkiste aus der Küche.« (V 75) So bietet er einen »traurigen und ekelhaften« (V 50) Anblick; »denn infolge des Staubes, der in seinem Zimmer überall lag und bei der kleinsten Bewegung umherflog, war auch er ganz staubbedeckt; Fäden, Haare, Speiseüberreste schleppte er auf seinem Rücken und an den Seiten mit sich herum.« (V 78) In Heinrich Manns Roman wird der Held so geschildert: »Unrat pfauchte. Er hatte die Augen einer wütenden Katze. Sein Hals war vorgestreckt mit höckrigen Sehnen; vor seinen Zahnlücken erschien Geifer; sein Zeigefinger drang, am Ende des im Winkel ausgelegten Armes, mit gelbem Nagel auf den Feind ein.« (U 140) Vollends entstellt sieht Lohmann ihn auf sich eindringen: »Wie dieses Wesen dort aussah! Etwas zwischen Spinne und Katze, mit wahnsinnigen Augen, über die farbige Schweißtropfen rannen, und mit Schaum 87

2005-09-20 17-08-34 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

BURKHARDT LINDNER

auf dem klappenden Kiefer. Es war keine angenehme Lage, es [!] mit gekrümmten Fangarmen überall um sich her zu haben.« (U 237) Ich möchte hier Julia Kristevas Theorie des Abjekts (1980)8 heranziehen. Was sie mit dem Neologismus »Abjekt« bezeichnet, ist etwas fundamental Verdrängtes, dem Freud’schen Unbewussten noch Vorgängiges, das aber als Fundament nicht zugänglich ist: der verworfene mütterliche Körper der kindlichen Dyade. Die reale Mutter ist damit nicht gemeint, sondern das in der sprachlichen Subjektbildung (und der Lacanschen Ordnung des Symbolischen) Verworfene. Vereinfacht lässt sich sagen: Kristeva ›entthront‹ das die Psychoanalyse dominierende Paradigma des Vaters als Instanz des Verbotes, des Gesetzes, des Zeichens. Sie radikalisiert damit den Anspruch der Psychoanalyse, in den vorsymbolischen semiotischen Mechanismen des Sprechens (vgl. Kristeva 1978: 35) dem Schicksal der Triebe, des Körpers und der Affekte nachzuspüren. Dabei tritt das Literarische als besondere Textpraxis in den Blick. Aufgegriffen wird also Kristevas Einsatzpunkt, dass die Region des Abjekten in Figurationen des Literarischen eine eigene Formation findet. Die Sprache der Literatur gewinnt ihren Impuls aus der Ambiguität des Abjekts, im Zwiespalt von Verdrängung und Wiederkehr, Faszination und Abwehr. Für die weitere Analyse ist also wichtig, dass das Abjekt gerade nicht als etwas restlos Ausgeschiedenes (wie Müll) oder intentional Böses (der Verbrecher) erscheint und sich nicht als abgegrenzte Figur oder Objekt darstellt, sondern als etwas, das in die Beziehungen zwischen Figuren eindringt. Dies wiederum ist nur möglich auf Grund dessen, dass die Person (der literarische Held) das Eklige (als Symptom des Abjekts), das sie inkorporiert, auf die anderen überträgt. Durch die Übertragung9 kann sie eine kontaminative Wirksamkeit auf die Personen ihrer Umwelt entfalten.

8. Meine Lektüre ist orientiert am Kristeva-Kapitel aus Winfried Menninghaus (1999: 516ff.) von wo ich auch übersetzte Zitate entnehme. 9. Dieses Übertragungsgeschehen überträgt sich auch auf den Leser, dem beide Texte trotz ihrer Absurdität ganz vertraut vorkommen. Der seltsamen Vertrautheit wird im Folgenden nachgegangen. 88

2005-09-20 17-08-35 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

III. Stigmatisierung des Helden und Umweltvergiftung: Gregor Samsa Gregor Samsa, erinnern wir uns an den ersten Satz, wacht eines Morgens als ungeheures Ungeziefer auf. Dadurch verändert sich mit einem Schlag nicht nur sein Leben, sondern das der Familie Samsa insgesamt. Denn wie sich nachträglich aus dem Text ergibt, fußte das Leben der Familie auf einer an Gregor angeschlossenen Parasiten-Struktur. Als Reisender in Tuchwaren war er der einzige Ernährer der Familie. Nun verliert er seine Anstellung, so dass der Vater, die Mutter, die Schwester niedrige Arbeiten annehmen und ein Zimmer an drei Zimmerherrn untervermieten müssen. Bald wird die Gegenwart des Monstrums, das einmal Gregor war, unerträglich; man beschließt, es zu vernichten. Da Gregor trotz der Verwandlung sein menschliches Wahrnehmen und Denken nicht verliert, laden die aus seinem Erleben erzählten Passagen, anders als die anfangs zitierten Ekel-Passagen, dazu ein, sich in Gregor als Opfer einzufühlen. Selbst ein so kluger Leser wie Nabokov (1995: 73-133) liest »Die Verwandlung« so, als sei Gregor Samsa über Nacht ein Unglück zugestoßen, das die Familie sich mitzutragen weigere. Der zum Käfer verwandelte Gregor sei, so Nabokov, in die Hände von Schurken gefallen, als die sich Vater, Mutter und Schwester erweisen. Schon lange, seit dem Bankrott des Vaters, waren sie Ausbeuter des geldverdienenden Sohnes gewesen, der selbst wiederum im Geschäft ausgebeutet wird. Da das Ausbeutungssystem nicht mehr funktioniert, verraten sie ihn. Demgegenüber werde Gregor von Kafka als selbstlose, einfühlsame, fürsorgliche Menschennatur beschrieben; eine Charaktereigenschaft, die sich durch sein Käfertum eher noch steigere. Nabokov bedenkt nicht in letzter Konsequenz, dass, wie der Text sagt, Gregor ein ungeheures Ungeziefer ist, und keineswegs ein verzauberter Menschen-Käfer. Völlig konsequent erzählt Kafka nicht allein aus Gregors Innenperspektive und endet nicht mit Gregors Einverständnis und Sterben, was der Geschichte einen süßlichen Schluss gegeben hätte. Das Geschehen wird so beschrieben, dass eine eindeutige Täter-Opfer-Zuordnung nicht möglich ist. Was immer Gregor denkt, fühlt, tut: er ist für die andern etwas, das mit ihnen auf verstörende Weise kommuniziert. Umso heftiger sind die affektiven, kommunikationszersetzenden Folgen, die sein Dasein bewirkt. Kristeva schreibt:

89

2005-09-20 17-08-35 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

BURKHARDT LINDNER

»Will man sich ein Bild von der ›Person‹ machen, die zum Schauplatz eines solchen Prozesses wird, so ist man auf die dem normativen Bewußtsein unerträgliche Vorstellung einer Polymorphie angewiesen, die alle Perversionen kennt und doch keiner anhängt […]: nicht identisch, nicht authentisch, List und Verstand, ohne Innerlichkeit, ständiges Verwerfen.« (Kristeva 1978: 161)10 Besser kann man die Funktion Gregors nicht beschreiben. Nehmen wir die Szene mit dem »Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame« (V 63). Gregor »kroch eilends hinauf und preßte sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat« (V 63), was wiederum von der anderen Seite nur als Schmutz erblickt wird: »die Mutter erblickte den riesigen braunen Fleck auf der geblümten Tapete«. (V 64) Gregors Verhalten, das durchgängig als Perversion wahrgenommen wird, betrifft die Nahrungssuche und das Verstecken ebenso wie das inzestuöse Begehren nach der Schwester: Er »würde sich bis zu ihrer Achsel erheben und ihren Hals küssen, den sie, seitdem sie ins Geschäft ging, frei ohne Band oder Kragen trug.« (V 80) Der Text lässt im Zweifel, ob die Familie Gregor überhaupt nicht oder nicht vielmehr in einer ihr unbewussten Weise zu gut versteht. Vom ersten Klopfen an der Tür an spielt sich eine verdeckte Kommunikation ab, in der sich die Verwandlung auf die ganze Familie überträgt. Präziser gesagt, die Mehrdeutigkeiten, subkommunikativen Ausdrucksformen und psychischen Automatismen, die an jeder Alltagskommunikation mitbeteiligt sind (aber hier in der Regel normalisiert werden), geraten nun außer Kontrolle. Die verdeckte Kommunikation zwischen Gregor und der Familie verläuft über eine Kette von sinnentstellten Handlungen und Sätzen. Nicht allein die Verhaltensweisen Gregors erscheinen durch den Einbruch der Verwandlung entstellt, auch die der Familie: Angefangen vom Holen des Arztes, der nie eintrifft, weiter über den absurden Apfelwurf des Vaters, über hysterische Umarmungen, die Einstellung der Bedienerin und die Aufnahme der drei Zimmerherrn, dem Ausräumen des Zimmers, dem Geigenspiel usw. bis zum Abschließen des Zimmers. Benjamin hat die Weise, in der dies beschrieben wird, im Kafka-Essay und in den nachgelassenen Notizen dazu als Verfahren der Sinnabzapfung bezeichnet.11

10. Kristeva spricht hier mit Bezug auf Freuds Analyse des Masochismus von einer Rückkehr der Verwerfung. Den Ausdruck Abjekt verwendet sie hier noch nicht. 11. Wenn Kafka den Vorgängen mittels literarischer Beschreibung den Sinn 90

2005-09-20 17-08-36 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

Was Nabokov psychologisch-moralisch als Verrat deutet, ist tatsächlich ein Prozess zwanghafter Zerrüttung, in dem die ganze Familie gefangen ist und die erst jene ›Eigenschaften‹ hervorbringen, die als Verrat an Gregor erscheinen. Das Abjekt legt für den Leser die Einsicht frei, dass die symbolischen Ordnungen selbst es sind, welche schicksalhaft, so wie Freud von Triebschicksal spricht, den Abfall von ihnen veranlassen und die Verworfenheit herbeiführen. Es ist also nicht Gregor allein, an dem sich das Abjekt-Werden isoliert vollzieht, sondern die Familie, die dieses Abjekt-Werden allererst herstellt, indem sie ihn im Verlauf der Geschichte immer mehr zu isolieren und in ihn als ›Fremdkörper Gregor‹ einzuschließen sucht. Wie bereits zitiert, wandern die Aschenkiste und die Abfallkiste aus der Küche in Gregors Zimmer. Nunmehr geht es nur noch um die Entsorgung Gregors, der zunächst noch sorgsam versorgt wurde. Und es geht mehr noch um die Entsorgung der Besorgnis, es könnte ein Rest bleiben. Deshalb muss die Verwandlung zu etwas gemacht werden, das nie geschehen ist. Das spurenlose Verschwinden Gregors12 setzt sich fort in der Entfernung der Zeugen, nämlich der drei Zimmerherrn, denen gekündigt wird, und der Gregor entsorgenden Bedienerin, die ebenfalls entlassen wird.

abzapft und sie damit aus den affektiven Zusammenhängen herauslöst, bleibt nichts weiter als der Gestus übrig. Derart entsteht eine Sammlung »von Gesten […], die immer wieder neu vom Verfasser inszeniert und beschriftet werden, ohne ihren Gehalt einer bestimmten Stelle auszuliefern.« (Walter Benjamin 1977: 1229, 1201, 1264 sowie 418, 427 und 435f.) 12. Bemerkung zu Kafkas Parabolik: Die spurenlose Auslöschung des Abjekts ist nötig, um Gregor als heiles Bild zu konstituieren. Die Fotografie, die die ganze Zeit im Wohnzimmer hängen bleibt, zeigt den schönen Gregor als Leutnant aus dem Militärdienst (V 22), wie ihn sich die Familie bewahren möchte. Von dem Foto aus lässt sich eine ganz andere politische Lesart der Verwandlung gewinnen, die vermutlich bei ihrer zeitgenössischen Rezeption im Spiel war. Das Foto zeigt dann einen künftigen Gefallenen des Weltkriegs, dessen Rückkehr aus den Schützengräben als KäferKrüppel die Familie nicht zulassen kann. Dazu passt das Wort »Krepieren« am Schluss: Es geht zurück auf das Zerplatzen von Sprenggeschossen, ehe es dann verenden, verrecken meint. Das Parabelhafte bei Kafka, worüber Benjamin und Brecht debattierten, kann also eine durchaus praktische Bedeutung auslösen. Die parabolische Auslegung kann isolierte, unverständliche Details herausgreifen. Hierzu würden auch die Zeitungen, die der Vater liest, gehören. 91

2005-09-20 17-08-36 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

BURKHARDT LINDNER

Aus der Entsorgung der Entsorgung »ergibt sich folgende Paradoxie. Auf der Ebene des Erzählten verschwinden die Protagonisten […], ohne Spuren zu hinterlassen. Die Erzählung hingegen hält die Spuren ihres Untergangs fest.« (Wohlfahrt 2003: 140f.)13 Und zwar so, dass das Geschehen nicht als nachträgliche Erzählung eines einmaligen Vorgangs erscheint, sondern als jederzeit wiederholbares Unheil.

IV. Stigmatisierung des Helden und Umweltvergiftung: Professor Unrat Gymnasialprofessor Raat, Altphilologe, ist fixiert auf die Vorstellung, er müsse schlechte und unbotmäßige Schüler »fassen«, und zwar nicht bloß einer Strafe zuführen, sondern sie am besten als Unrat aus dem Gymnasium entfernen. In seinem Spitznamen »Unrat« ist diese Funktion, sozusagen als Schülerrache, zurückgespiegelt. »Da ist Unrat in der Luft« (U 10), ruft jemand auf dem Schulhof, als er vorübergeht: »sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, immer mit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen grünen Blick […]. Sein hölzernes Kinn mit dem dünnen, graugelben Bärtchen daran klappte herunter und hinauf. Er konnte dem Schüler, der gerufen hatte, ›nichts beweisen‹ und mußte weiterschleichen auf seinen magern, eingeknickten Beinen […]«. (U 9) Aber er wird sich bis zur nächsten Versetzung rächen. Dieses Spiel ist über Schülergenerationen hinweg eingespielt. Es hätte immer so weiter gehen können, wenn er nicht an die Tingeltangel-Künstlerin Rosa Fröhlich geraten wäre, die er wiederum in einem verrufenen Lokal kennen lernte, wo er einen verdorbenen Schüler »zu fassen« suchte. Damit erfährt er eine Verwandlung ins Unsittliche, die genauso erklärungslos (wenn auch nicht derart schockhaft drastisch) bleibt wie die Käferverwandlung bei Kafka. Denn keineswegs verfällt er einer späten sexuellen Hörigkeit, wie das die verkitschende Verfilmung herausstellt. Nicht Unrat wird sexualisiert14, sondern die Stadt.

13. Diese Paradoxie wird an einer Reihe von Erzählungen Kafkas erörtert. 14. Die Sexualität tritt bei Unrat nur in Form abgespaltener Perversionen in Erscheinung. Beim Umziehen für den Auftritt sagt Rosa zu ihm: »›Da, halten Sie mal 92

2005-09-20 17-08-36 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

Das geschieht so. Aus dem Schulamt entlassen, macht Unrat durch Heirat die Künstlerin Fröhlich zur Frau Professor und gibt in seiner Villa große Gesellschaften. (U 194) Beim Glückspiel ruinieren sich ehrbare Bürger. Und dies ist nicht der einzige Ruin, den er verbreitet. (U 194) »Bald sickerte durch die Stadt die Kunde, daß bei Unrats Orgien gefeiert würden«, heißt es in einer wunderbaren Passage, die die Abstufungen dieses Einsickerns beschreibt. Man müsste sie eigentlich vollständig zitieren, ebenso wie die andere, die mit leichten Strichen Unrats neue Geldquelle schildert: seine »Villa vorm Tor, wo hoch gespielt, teuer getrunken wurde, wo man mit weiblichen Wesen zusammentraf, die nicht ganz Dirnen und auch keine Damen waren; wo die Hausfrau, eine verheiratete Frau, die Frau des Professors Unrat, prickelnd sang […] und, wenn man es richtig anstellte, sogar für Dummheiten zu haben sein sollte. […] Die Künstlerin Fröhlich betrieb den Ehebruch mit all der Umsicht und dem ganzen Zeremoniell der im Ernst verheirateten Frau.« (U 207, 208). Damit ergibt sich eine andere Dynamik als bei Kafka, die vollständig in Richtung einer immer aussichtsloseren Einengung Gregors verläuft, während Unrat, nach der Entlassung aus dem Amt15, zum Mittelpunkt der Stadt wird, der er durch seine Soireen den prickelnden Anstrich der großen Welt verleiht. Es passiert etwas: »Bevor der Sommer anbrach, zogen drei Frauen der guten Gesellschaft sich plötzlich zurück, zu einem, wie man fand, verfrühten Landaufenthalt. Drei neue geschäftliche Zusammenbrüche erfolgten. Der Zigarrenhändler Meyer am Markt beging Wechselfälschung und erhängte sich. Über Konsul Breetpoot ward gemunkelt […]«. (U 213) Jedes Verderben nährt Unrats Wahn. Sein psychischer Automatismus, Schüler »fassen« zu müssen, transformiert sich, aus dem Schutz der Schule herausgedrängt, zu grandiosen Vernichtungs-

das.‹ Unrat nahm es, ohne zu wissen, was es war. Es war schwarz […] und fühlte sich merkwürdig warm an, warm wie ein Tier. Plötzlich entwischte es seinen Händen, denn er hatte durchschaut, warum es so warm war, es war die schwarze Hose« (U 95). Auch hier zeigt sich eine Parallele zu den perversen und inzestuösen Szenen in Kafkas Erzählung. 15. Mit Bezug auf Heinrich Manns Roman notiert Adorno, dass dem Lehrer der Makel des Infantilen, des nicht ganz Erwachsenen anhaftet und dessen Macht, die wirkliche Macht nur parodiert. (Vgl. Adorno 1969: 68-84) Dem entspricht, dass Unrat erst nach seiner Entlassung gesellschaftsfähig wird. 93

2005-09-20 17-08-36 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

BURKHARDT LINDNER

phantasien. »Und diese Entsittlichung einer Stadt […] geschah durch Unrat und zu seinem Triumph.« (U 212f.) Unrat trägt nun den »Schmutz« seines ›Spitznamens‹ »eitel« wie einen »Siegeskranz« (U 212, 238) vor sich her. Und diese Phantasie überträgt sich. Denn nicht anders erklärt sich die Stadt im nachhinein die Verwandlung, die sie erfahren hat: als Werk eines Verderbers. Das wird in der Schlusskonstruktion deutlich. Der einzige, der die Banalität dieser Sittenverderbnis lebemännisch durchschaut, war Lohmann, der Ästhet und Freigeist, der als Schüler Pennälerhaftes immer verschmäht hatte. Aber gerade er ist es, der vor Unrat kapituliert und ihn nun der Polizei ausliefert.16 »Lohmanns Geist […] warf alle Eigenart ab und antwortete auf ›Verbrechen‹ ganz bürgerlich mit ›Polizei‹ […] und schritt stramm über das Bedenken hinweg. Ja, Lohmanns Schritt ward stramm […].« (U 237)

V. Die Zersetzung der Sprache: Der Autor als Übertragungsagent »Der Schriftsteller ist fasziniert vom Abjekt […] und pervertiert aus diesem Grund die Sprache, stilistisch wie inhaltlich. […] Man könnte auch sagen, diese Literatur durchkreuzt die Dichotomien von rein und unrein, Verbot und Sünde, Moral und Unmoral.« (Kristeva 1980: 535) Damit wird keine neue Wertordnung errichtet, nicht einmal die gegebene aufgehoben, sondern ein Zwischenraum eröffnet, in dem sich die literarische Sprache artikuliert. Wir wollen abschließend diesen Zwischenraum genauer ins Auge fassen. Er bewirkt, dass gerade das Ungeziefer und der Unrat haften bleibt. Von Anfang an wird Unrats Auftreten als automatenhaft und verdinglicht beschrieben. Dies betrifft nicht allein die Gestik, sondern auch das Sprechen. Die Würde seines Sprechens wird zusammengehalten durch sinnlose Satz-Partikel wie »immer mal wieder«, »nun doch immerhin«, »freilich denn wohl« und »traun fürwahr«.

16. Man darf nicht übersehen, dass der eigentliche Gegenspieler Unrats Lohmann ist. An ihm macht Mann seine Ästhetizismus-Kritik fest. Lohmann hat zunächst Unrats Verwandlung »wie in einem Buch« (U 236), wie einen interessanten Roman, verfolgt. Als Unrat vor seinen Augen Rosa würgt, bekommt er es mit der Angst zu tun und wird zum Spießer. 94

2005-09-20 17-08-37 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

Lateinische Sentenzen und Zitate aus griechischen Klassikern werden wie Bannformeln eingefügt. So verkündet er zunächst auch der Künstlerin Fröhlich: »verlassen Sie mit ihrer Gesellschaft diese Stadt, ziehen Sie in großen Tagesmärschen davon […].« (U 58) Einzig aber an der Künstlerin Fröhlich setzt diese Sprachmaschinerie aus: »Unrat hatte […] anfangs noch zu Worte zu kommen gesucht. Allmählich wurden […] seine fertigen Gedanken, die schon zwischen den Kiefern hervordrängten, zurückgestoßen bis in eine Tiefe, wo sie ihm selbst verloren gingen. […] Sie war eine fremde Macht und augenscheinlich fast gleichberechtigt.« (U 59) Es ist nicht die Sexualität, sondern die Komplizenschaft gegen das übrige Pack, die nun beide aneinander bindet. Und diese Komplizenschaft verläuft über den Namen. Deshalb bleibt Rosa für Unrat immer »die Künstlerin Fröhlich«; deshalb fühlt er sich ihr verbunden, als sie ihn in seinem Namen erkennt: »›O Sie Unrat! […] Jawoll: Unrat!‹ Sie tanzte um ihn her. Und darauf lächelte er glücklich […] Sie wusste seinen Namen […]«. (U 112) Es fällt auf, dass der ganze Roman um den Namen kreist. Von der ersten bis zur letzten Seite geht es geradezu obsessiv um die Gewalt des Namens. Dies bedarf der Erläuterung. Der Lehrer hat die Macht, den Schüler jederzeit beim Familiennamen (Vaternamen) anrufen zu können und ihn in den Stand des Sich-Rechtfertigen-Müssens zu versetzen. Im Sich-RechtfertigenMüssen nicht als Individuum, sondern als Namensexemplar gründet die gewaltsam-identifizierende Disziplinarik der Institution Schule. »Von Ihnen habe ich hier schon drei gehabt« (U 17), bemerkt Unrat einmal verächtlich. Der Spitzname, den die Schüler dem Lehrer geben, stellt demgegenüber eine Mischgebilde aus Idealisierung17 und ihrer Enttäuschung dar. Aber dieses schulische Binnenverhältnis ist nicht das Thema des Mannschen Romans. Mit dem äußerst wirksamen Kunstgriff des ersten Satzes nennt der Autor seinen Helden im ganzen Roman konsequent nur »Unrat«. Dialoge, in denen eine korrekte Anrede vorkommen müsste, werden durchgängig durch indirekte Rede ersetzt. Alles, was sich auf Professor Raat bezieht, bezieht sich ir-

17. Darauf verweist Adorno in dem zitierten Aufsatz: Im Lehrer tritt nach den Eltern dem Heranwachsenden ein neues Ich-Ideal entgegen, mit dem sie sich zu identifizieren hoffen. 95

2005-09-20 17-08-37 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

BURKHARDT LINDNER

gendwie auf Unrat. Auf diese Weise wird dem Leser das Wort »Unrat« im Text sozusagen zum kleinsten gemeinsamen Sprachnenner, auf den sich alle Verhältnisse reimen. Das macht seine Ambiguität, sein bengalisches Leuchten, aus. Erzeugt Unrat Unrat, hat man ihn als Unrat erzeugt, ist Unrat ein Eigenname, ein Familienname, eine Bezeichnung für Dreck? (Oder gar ein Odadrek, wie Kafka die Sorge des Haus-und Familienvaters umschreibt?). Alles steht in einem undurchschaubaren Verhältnis zu »Unrat«, einschließlich Unrat selbst. Heinrich Mann schreibt in »Professor Unrat« keine Satire. Er tritt als Sittenschilderer auf. Mit einer geradezu ungehörigen sprachlichen Leichtigkeit, die im deutschen Sprachraum fremd ist und ihm bis heute verübelt wird, skizziert er die Scheinhaftigkeit des Bildungshumanismus und der bürgerlichen Wohlanständigkeit. Scheinhaft ist auch der lächerliche Reinigungsprozess, der am Ende veranstaltet wird. Für den Leser hat sich die Galerie der Figuren längst in einen Haufen Unrat verwandelt. Auch bei Kafka spielt der Name eine wichtige Rolle, nämlich als Entnamung des Vornamens Gregor zum »es«. Die Schwester sagt: »Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen, und sage daher bloß: wir müssen versuchen, es loszuwerden. […] Vater, sagt die Schwester, Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Gregor ist.« (V 83, 82) Aber darum geht es nicht allein. Kafkas gewissermaßen sprachruinöses Verfahren besteht darin, dass er gerade nicht zwei getrennte Beobachtungssysteme etabliert – also ein Wahrnehmungssystem Gregor und ein Wahrnehmungssystem Familie – und beide vom Autor aus kontrolliert auseinander hält. Ich möchte dies kurz an einem Motivkomplex demonstrieren, der die ganze Geschichte strukturiert: das Schließen und Öffnen der Türen. Man könnte an ihm detailliert den Verlauf des Geschehens als ein Widerspiel von Exklusionen und Inklusionen des Verworfenen rekonstruieren. Türen errichten in materieller wie symbolischer Hinsicht eine Grenze zwischen dem Eigenen und dem Gemeinsamen. Mit Gregors Verwandlung bricht dieses sich durch familialen Takt regelnde System der Türen zusammen. So beginnt die Geschichte. »Als er dies alles in größter Eile überlegte, […] klopfte es vorsichtig an die Tür am Kopfende des Bettes. ›Gregor‹, rief es – es war die Mutter – »›es ist dreiviertel sieben. Wolltest Du nicht wegfahren?‹ Die sanfte Stimme!« (V 26) Der sich lang hinziehende Anfang dreht sich darum, ob Gregor den innen steckenden Schlüssel umdreht und öffnet. 96

2005-09-20 17-08-37 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

Gleichzeitig werden Schwester und Dienstmädchen zum Arzt bzw. Schlosser geschickt. Es geht, wofür zahllose Belege sich anführen ließen, fortwährend um das Öffnen und Schließen der Türen, einschließlich des Fensters in Gregors Zimmer und der Wohnungstür zum Treppenhaus, ebenso um das Abschließen18 oder die heimliche Öffnung eines Türspalts. Dem Befremdlichwerden der Türen korrespondiert eine Verzerrung des Hörens und Sehens. Gregors Verhalten ist zunächst beherrscht vom Horchen auf Stimmen: »wo er nur einmal Stimmen hörte, lief er gleich zu der betreffenden Tür und drückte sich mit ganzem Leib an sie.« (V 51) Wir sehen ihn lauschen und spähen: Unterm Kanapee versteckt auf das Geräusch des Öffnens der Tür und auf das Tappen der Füße oder durch den Türspalt hinauslugend auf das Bild der Familie oder das der seltsamen Gruppe der drei Zimmerherrn und dem Geräusch ihrer kauenden Zähne. Aber es wäre falsch, allein aus der Diskrepanz beider Beobachtungssysteme die Geschichte zu deuten. Etwas schiebt sich dazwischen. Wie in Manns Roman (und noch verstärkt) funktioniert der Autor als Medium der Übertragung. »Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte […], in die sich […] ein schmerzliches Piepsen mischte, das die Worte förmlich nur im ersten Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im Nachklang derart zu zerstören, daß man nicht wußte, ob man recht gehört hatte.« (V 26) Dieses zweimalige »man« rückt vom Beobachtungsort ›Gregor‹ ab und eröffnet eine Zwischenzone zwischen Gregor und der Familie, zwischen Leser und Text, die einzig von einer anonymen Autorrede hergestellt wird. Dadurch hält die literarische Sprache mittels des Aufschreibens19 Wahrnehmungen fest, die der alltäglich codierten Wahrnehmung und Kommunikation entzogen sind. Auf fast unmerkliche Weise, wie fortlaufend am Text gezeigt werden könnte, übernimmt der Autor die Funktion eines Mediums, das die verstörenden Kommunikationsabläufe ermöglicht. Immer wieder wird diese Zwischenzone des Man (oder anderer Versionen des indirekten Sprechens) hergestellt.

18. Auch in Manns Roman bildet die von Unrat aufgestoßene Tür (U 235) und Frau Fröhlichs Flucht, indem sie sich hinter einer Tür absperrt (U 237, 238), den vorläufigen Schlusspunkt. 19. Zu bemerken ist, dass Gregors »Leiche« am Schluss als »vollständig flach und trocken« beschrieben wird: diese Ausdrucksweise gemahnt an ein Blatt Papier, das beschrieben wird. 97

2005-09-20 17-08-38 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

BURKHARDT LINDNER

So heißt es: »Man hörte gar nicht die Tür zuschlagen; sie hatten sie wohl offen gelassen, wie es in Wohnungen zu geschehen pflegt, in denen ein großes Unglück geschehen ist.« (V 36) Unbestimmbar ist der Ort, von dem aus die Feststellung des »auffallend leise« getroffen wird: »Das war eine Tierstimme«, sagte der Prokurist »auffallend leise« (V 36). Oder der Ort, von dem aus sein restlicher Laut charakterisiert wird: ein lautes »Oh! […] – es klang, wie wenn der Wind saust« (V 38). Nicht Gregor, nur dem Autor lässt sich die Wahrnehmung eines »besonderen Lärms« zuordnen: Der Vater »trieb […], als gäbe es kein Hindernis, Gregor jetzt unter besonderem Lärm vorwärts«. (V 44) Nur mittels dieses auktorialen Man können wir uns vorstellen, dass Gregor, obschon eingesperrt, weiß, dass »nebenan die Frauen ihre Tränen vermischten oder gar tränenlos den Tisch anstarrten.« (V 53) Auch ohne eine ausführliche Referenz auf die Psychoanalyse kann der Begriff der unbewussten Übertragung erklären, warum die Unverständlichkeiten beider Texte uns, dem Leser, so seltsam vertraut vorkommen. Denn darin besteht das eigentlich Schockierende: nicht im Grotesken und Absurden des Geschehens, sondern in der vollendeten Selbstverständlichkeit, in der es sich vollzieht. Erst eigentlich unter der Nötigung zu einer kohärenten Deutung, die das Erzählte zur Geschichte eines Helden vereinfacht und durch moralische Wertungen normalisiert, wird diese unheimliche Vertrautheit wieder vergessen. Die Unheimlichkeit der literarischen Sprache kündigt die Annahme auf, die Literatur bestünde in einer Idealisierungsarbeit. Es wäre deshalb zu zeigen, dass in dieser Unmöglichkeit die Qualität der literarischen Sprache überhaupt besteht, dass also die hier aufgewiesenen Strukturen auch dort aufzuweisen sind, wo der Text restlos aufzugehen scheint in der Identität des Inneren und des Äußeren, der integren Gestalt des Helden. Ohne Zweifel bringt die Literatur Gestalten hervor, die als fiktive oder fiktionalisierte immer schon ein (ewiges) Leben haben. Aber sie sind ebenso immer schon durchkreuzt von einer sprachlichen Artikulation, die nichts anderes ›verkörpern‹ kann als den Text. Insofern liefe eine psychologisch-moralische Lektüre auf eine ›Entsorgung‹ der literarischen Sprache selbst hinaus. Manns »Professor Unrat« und Kafkas »Die Verwandlung« gaben Gelegenheit, diese Problematik unter verschärften Bedingungen zu analysieren. Die Ekelabstempelung löscht den Helden nicht aus dem LektüreGedächtnis. Der Text lässt sich nicht wie ein Mülleimer zuklappen.

98

2005-09-20 17-08-38 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

UNRAT, UNGEZIEFER UND DIE SPRACHE DER LITERATUR

Im Gegenteil: Die Entsorgung ist skandalös, das Entsorgte fasziniert weiter. Es bleibt der Stachel des Textes, der im Leser haftet.

Literatur Adorno, Theodor W. (1969): »Tabus über dem Lehrberuf«. In: ders., Stichworte, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Benjamin, Walter (1977): Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u.a., Bd. II, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Calvino, Italo (1994): Die Mülltonne und andere Geschichten, München: Hanser. Corbin, Alain (1984): Pesthauch und Blütenduft, Frankfurt/Main: Wagenbach. Früchtl, Josef (2004): Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Goetz, Rainald (2003): Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Kafka, Franz (2003): Die Verwandlung, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Oxforder Quartheft 17/Franz Kafka-Heft 4, Frankfurt/Main: Stroemfeld.

Kristeva, Julia (1978): Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Kristeva, Julia (1980): Pouvoirs de l’Horreur. Essai sur l’abjection, Paris: Editions du Seuil.

Mann, Heinrich (2004): Professor Unrat, Reinbek: Rowohlt. Menninghaus, Winfried (1999): Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Nabokov, Vladimir (1995): »Franz Kafka: Die Verwandlung«. In: Franz Kafka: Die Verwandlung, Frankfurt/Main: S. Fischer.

Wohlfahrt, Irving (2003): »Ein geradezu unendlicher Verkehr«. Zu einem Motiv Franz Kafkas. In: Harald Hillgärtner/Thomas Küpper (Hg.), Medien und Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner, Bielefeld: transcript.

99

2005-09-20 17-08-39 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S.

83- 99) T02_05 lindner.p 95224308422

2005-09-20 17-08-39 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 100

) vakat 100.p 95224308598

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

Der Zufall als Kategorie der kulturellen Bedeutungsproduktion Florian Mundhenke

I. Zufälligkeit als bleibender Rest – der Ausschluss des Unbekannten im traditionellen philosophischen Diskurs In Bezug auf das menschliche Individuum und seinen Umgang mit dem Zufall kann man philosophiegeschichtlich von einer Bewusstwerdung und Selbstfindung sprechen. War für den geschichtskritischen Blickwinkel der Terminus der Befreiung von einer relativen historischen Determination von Bedeutung und wurde in naturwissenschaftlicher Hinsicht im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend von Wahrscheinlichkeit, Chaos und Komplexität geredet, die langsam in die etablierten Modelle integriert werden mussten, so scheint der Zufall aus einer philosophischen Perspektive zunächst wenig Platz im Gefüge der auf Ganzheit und innere Kohärenz gerichteten Denkmodelle gehabt zu haben. Zwar durfte das Akzidentielle als schöpferischer Faktor bei der Weltwerdung im Sinne Demokrits auftauchen, auch als Bestandteil eines subjektiven freien Willens des Einzelnen, so schloss man aber aus Gründen der Herstellung eines logischen Gesamtzusammenhangs den Zufall aus den Vorstellungen der Weltdeutung lieber aus. Was der Glaube an die starke Eingebundenheit in der Natur im antiken Denken und die Macht göttlicher Vorbestimmung im Mittelalter vermittelten, waren jene Totalitäten in Form von kollektivem Volkswillen oder den vernunftbasierten Erklärungsansätzen der Aufklärer, in denen kein Platz für situative und willkürliche Kräfte war: Es galt mithin die Vorstellung einer vollendet organisierten Weltwerdung. Beispielhaft sei hier auf Arthur Schopenhauer hingewiesen, der im Wirken des Zufälligen die Tendenz einer schicksalsmächtigen Autorität vermutete. Es ist 101

2005-09-20 17-08-41 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

vor allem die kleine Schrift »Transzendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen« aus den »Parerga und Paralipomena«, in der sich der Philosoph mit der Eventualität des Daseins auseinandersetzt und hierbei eine fundamentale Notwendigkeit im menschlichen Streben ausmacht (vgl. Schopenhauer 1986). Schon zu Eingang stellt er fest: »Dass alles ohne Ausnahme, was geschieht, mit strenger Notwendigkeit eintritt, ist eine a priori einzusehende, folglich unumstößliche Wahrheit.« (Ebd. 247) Nach einer Reihe von Beispielen, die zeigen, wie Zufälle Menschen auf etwas aufmerksam gemacht haben, oder in denen es Bezüglichkeiten und Analogien von Handlungen und Einfällen bei durch Verwandtschaft oder enge Bekanntschaft verbundenen Menschen gegeben hat, folgert Schopenhauer: »[S]osehr der Lauf der Dinge sich als rein zufällig darstellt, [ist] er es im Grunde doch nicht, da vielmehr alle diese Zufälle selbst […] von einer tief verborgenen Notwendigkeit […] umfasst werden, deren bloßes Werkzeug der Zufall selbst ist.« (Ebd. 248) In Bezug auf diese sichtbare Notwendigkeit spricht Schopenhauer von einem »transzendenten Fatalismus« (ebd. 249), welcher sich im Durchschauen eines menschlichen Lebensweges und der vermeintlichen Zufälle seines Lebens einstellen kann. Mithin ist für ihn die allgemeine, globale »Weltgeschichte« eine »zufällige Konfiguration«, während »der Lebenslauf des einzelnen, so verworren er auch scheinen mag, ein in sich übereinstimmendes bestimmte Tendenz und belehrenden Sinn habendes Ganzes sei sogut wie das durchdachteste Epos.« (Ebd. 249) Bei diesem wie all den vergleichbaren Ansätzen der Einreihung und Nivellierung des Zufälligen in einen zumeist unsichtbaren, imaginären Kontext ist es vor allem die Gesamtheit der kulturellen Tätigkeiten, die als Einrichtung zur Integration und Stabilisierung der menschlichen Kollektivleistungen dient und die das Unkategorisierbare, Akzidentielle ausschließen muss. Kultur ist damit eine ›Maschine mit konstanter Restproduktion‹, die jene nicht assimilierbaren Reste als Produkte hinter sich lässt, die außerhalb ihrer großen, miteinander verketteten Symbolstruktur liegen, die nicht verknüpft oder angeschlossen werden können. Die Reste der fortwährenden kulturellen Bedeutungsproduktion bleiben als Isolate zurück und gehen in der Evolution der weiter anwachsenden Sinnstruktur verloren. Angeregt jedoch durch die Bestrebungen der Naturwissenschaftler, den Zufall als Wirkfaktor bei der Menschwerdung oder in der Materiebewegung anzuerkennen oder jener Künstler, die das Zufällige und Willkürliche im Sinne von arbiträrer Objektwahl oder Sichtbarmachung der Umwelt – wie etwa Marcel Duchamp oder 102

2005-09-20 17-08-41 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

John Cage –, befürworteten und in den künstlerischen Schaffensprozess einzubinden versuchten, mussten sich auch die philosophischen und kulturellen Auffassungen dazu äußern und jenen Prozessen Aufmerksamkeit zollen. Hierzu sollen drei zeitgenössische Modelle diskutiert werden, die diese Veränderung beispielhaft abbilden. Zunächst soll ein von Stanisław Lem gezeichneter Entwurf vorgestellt werden, welcher den Zufall als Grenze der menschlichen Einsicht ansieht, die bei stetigem kulturellen und ästhetischen Schaffen immer weiter nach hinten verschoben wird, so dass die ausgeschlossenen Reste von einst im Laufe der Zeit sinnhaft gemacht werden, in die Reflexionssysteme integriert werden und so eine notwendige Daseinsberechtigung erhalten. In Gilles Deleuzes Beschäftigung mit den Termini von Kontingenz und Chaos wird eine Öffnung zum Zufallsphänomen hin bewerkstelligt, welches hier zumindest im imaginären Spiel des Denkens eine wichtige Rolle bei der Genese der Sinnsysteme und der konstanten Neuadaption des Menschen an seinen veränderlichen Lebensraum einnimmt. In Jean Baudrillards Erwägung des Zufalls als ›Neuverkettung‹ wird dieser als eine Art blinder Determinante markiert, der einen Ausbruch aus den immergleichen, erstarrten Routinen heutiger Gesellschaftsentwicklungen ermöglicht. Gerade hier wird der Zufall nicht erklärt und angepasst, sondern erhält die Rolle einer eigenen schöpferischen Kraft, die die Homogenität des Etablierten zu unterbrechen vermag; damit wird dem Rest, der in der kulturellen Praxis entsteht, eine Rolle der Unterwanderung und Hinterfragung des allgemeinen kulturellen Diskurses zugesprochen.

II. Der Zufall als Horizont der negentropischen Grenze im menschlichen Wissen bei Stanislaw Lem Fasst man Kultur als sinnschaffenden und den Einzelnen in die soziale Gemeinschaft integrierenden Gesamtzusammenhang auf, so wird die Evolution von zivilisatorischen Verständnismerkmalen zu einem dauerhaften Entwicklungsgang der Sinnneuschöpfung und -einverleibung zuvor noch sinnfremder und bedeutungsbefreiter Botschaften und Inhalte. In diesem Sinne kann die Kunst – im speziellen die so genannte Avantgarde – als Generator von ›Sinnvorschlägen‹ bezeichnet werden, die dann von der Gesamtheit der Kultur bewertet und gegebenenfalls integriert werden. Die negentropische Grenze kulturellen Handelns zur Einverleibung des zufällig Erscheinenden setzt also zunächst bewusst auf Beliebiges, Heraus103

2005-09-20 17-08-42 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

forderndes, Unharmonisches, scheinbar nicht zu Klassifizierendes. Erst mit dem beginnenden Verständnis für die neuen Formen wird dann versucht, eine Brücke zwischen den beiden Seite der Grenze von sinnhafter und (noch) nicht sinnvoller Disposition zu schlagen, in dem beide Elemente verknüpft wurden und somit eine Hand gereicht wird, um von der Ausgangsbasis des Bekannten das Unbekannte zu erklimmen und verstehbar zu machen. Stanisław Lem beschreibt in seiner literarisch-empirischen Abhandlung »Philosophie des Zufalls« die Mechanismen der Rezeption von Literatur (vgl. Lem 1986a und 1986b). Der der Abhandlung den Titel verleihende Zufall taucht in diesem äußerst umfangreichen Werk Lems unsystematisiert an zahlreichen Stellen auf. Man kann aber drei Haupttendenzen des Lem’schen Zufallsverständnisses ausmachen, die das gesamte Werk wie Fluchtlinien durchziehen: Zunächst versteht Lem den Zufall als wirkenden Faktor bei der Kreation des literarischen Werkes im Sinne des Unwägbaren und jedes Werk voneinander Differenzierenden. Zwar beziehen sich Bücher auf reale Umstände, historische Begebenheiten und räumliche Konstellationen, auch auf Mythen, bewährte, wiederholt auftretende Konflikte und Erzählmuster, doch die ›Auffüllung‹ dieser Rahmenbedingungen mit Charakteren, ihren Beziehungen und spezifischen Lösungen ist zufällig, entsteht während des Schreibprozesses in jedem Werk verschieden und ist meistens vom Schriftsteller in seiner endgültigen Gestalt noch nicht im Voraus determiniert. Das zweite Wirkmoment des Zufälligen besteht in der Rezeption des einmal kreierten Werkes. Lem vergleicht das Leseverhalten und die Interpretation von Büchern mit dem evolutionsbiologischen Modell Darwins und seiner Nachfolger. So kann man jedes Werk als zufällig entstandene ›Mutante‹ mit einem Bezug auf die gesellschaftlichen und durch die Umwelt vorausgesetzten Bedingungen auffassen, das sich danach durch die Lektüre jedes einzelnen Lesers in der Rezeption stabilisiert, wobei auch wieder Zufallsfaktoren zum Tragen kommen. Ob ein Buch als Meisterwerk bezeichnet wird, ob es Bestand hat und welche Interpretation als die wahrscheinlichste und weitreichendste angesehen wird – also als ›dauerhafter Lesezustand‹ fungiert –, hängt wiederum zufällig von zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Faktoren ab, manchmal sogar einfach von der Verbreitungssituation des Werkes, welches vielleicht im richtigen Moment auf die richtige Leserschaft trifft; so redet Lem von einer Korrespondenz des ›nouveau roman‹ mit seinen strukturalistischen Exegeten. Zuletzt kommt der Theoretiker im zweiten Band seiner Untersuchung auf die Funktion der Kultur und ihr Wachstum zu 104

2005-09-20 17-08-42 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

sprechen. Er interpretiert die Kultur als den Menschen schützendes System, welches den Zufall schon von Anfang an durch Mythen und Beschreibungszusammenhänge zu assimilieren versucht hat. So wurden Schicksalsschläge oder Naturkatastrophen durch narrative Systeme sinnhaft gemacht, ihnen wurde eine göttliche oder außerweltliche Bedeutung zugeschrieben. Kultur definierte sich mithin also als zufallsfeindliche Einrichtung, die den Menschen vor der Situation der ›reinen Kontingenz‹ zu bewahren sucht und ihn in einem Gewissheit herstellenden Bedeutungsgefüge absichern will. Um diesen dritten Aspekt bei Lem soll es im folgenden gehen. Unterliegen also Kreation und Rezeption mehrfach indeterministischen Einflussfaktoren, ist die Kultur selbst als notwendiges Ganzes und die menschlichen Handlungen begleitendes und verantwortendes Korrelat an keiner Stelle zufällig, es geht darum, durch kulturell-symbolische Praxis »die Ungewissheit zu minimieren.« (Lem 1986b: 24) Oder anders ausgedrückt: Die kulturellen Leistungen »versagen dem Zufallscharakter der Umwelt und der dadurch bedingten Zufälligkeit ihres eigen Daseins systematisch ihre Anerkennung.« (Ebd. 26) Dies geschieht einmal durch instrumentelles Handeln, also die konsequente Eroberung und Kontrolle der uns umgebenden Umwelt mithilfe naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Operationalisierung, und zum anderen durch symbolische Interpretation, also durch die Einreihung der zufälligen Ereignisse in die Ganzheit der kulturellen Sinnstruktur, in denen den Akzidenzien eine Bedeutung zugesprochen wird; Zufallserscheinungen werden »uminterpretiert, in irgendeine Ordnung übersetzt und damit ›wegerklärt‹« (ebd. 28). Damit steht für den Theoretiker fest, dass »der menschliche Geist den Begriff des Zufalls seit jeher abgelehnt hat« (ebd. 30). Die Ausschließung der Zufälligkeit ist Ausdruck aller kulturellen Systeme: »Der Mensch ist jenes Geschöpf, das mit der mehrdimensionalen Zufälligkeit seiner Entstehung nicht einverstanden ist.« (Ebd. 30) Durch die Definition und Festschreibung von Werten und normativen Regulationen soll in den menschlichen Interaktionskreisen als auch in der Sicht auf die Welt keine Zufälligkeit möglich sein: »Die Setzung von Werten […] ist deshalb gleichbedeutend mit der überschießenden Zufallsfeindlichkeit aller Kulturen« (ebd. 36) oder anders ausgedrückt: Die Kultur »bevorzugt Ordnungen, die möglichst eindeutig, möglichst klar und möglichst determiniert sind.« (Ebd. 37) Dabei kommt es aber im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem »Anwachsen zufallsfeindlicher Aktivitäten«, einmal durch die Steigerung der »instrumentellen Effizienz« (ebd. 31) der technischen Möglichkeiten, aber auch durch die Rückkehr 105

2005-09-20 17-08-42 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

fundamentalistischer Glaubensvorstellungen, die in ihrer erstarrten Regelhaftigkeit die radikalisierte Form symbolischer Interpretation des Zufälligen repräsentieren. Sie verlangen, dass man »unsicheres Wissen für ein sicheres nimmt und zugleich den Menschen für fähig hält, gesichertes Wissen ein für allemal zu erlangen.« (Ebd. 33) Somit sieht sich die Kultur einerseits mit größerer Ungewissheit konfrontiert, reagiert aber andererseits mit einer Schließung ihrer zuvor elastischen Bedeutungssysteme. Was die neuen instrumentellen Bedingungen der Naturwissenschaften anbelangt, so hat die Kultur Probleme, diese zu integrieren, »weil ihre noch unbekannten späten Formen und Folgen mit den höchsten Werten der Kultur ungeahnt heftig in Konflikt geraten können.« (Ebd. 34) Es kommt zu einem Autonomieverlust der Kultur, weil die »nicht zur Kultur gehörende innere Logik des instrumentellen Fortschritts bei existentiell wichtigen Entscheidungen zugelassen wird.« (Ebd. 34) Mag diese Logik für die Naturwissenschaft noch kausal nahvollziehbar sein – »denn sie besteht in der Ordnung, die bruchstückweise der Natur entrissen und in die gesellschaftliche Arbeit überführt wird« – findet sie – bedingt durch den Normenkonflikt einer zufallsverneinenden kulturellen Ordnung – keine Rechtfertigung im Zivilisationssystem, »für die Kultur ist diese Logik zufällig, weil sie für niemanden vorhersehbar und berechenbar ist« (ebd. 34) und für die durchschnittlichen Mitglieder der Gesellschaft auch selten nachvollziehbar. Lem zufolge kommt es durch diese Operationalisierung der lebensweltlichen Gegebenheiten zu einer Umstrukturierung der kulturellen Totalität, da sie den Prozess der Assimilation dieser neuen Normen nicht mehr adäquat leisten kann: »Wenn die Verinnerlichung der maßgebenden Werte nachlässt, schwindet auch der Widerstand. Verbote fallen, die Enttabuisierung wird zu einem autokatalytischen Prozess. […] Die maßgebenden Werte werden zu unzusammenhängenden Isolaten, geraten in Kollision miteinander und beginnen abzudriften. Ihre zufallsfeindliche Wirkung schwindet, weil sie mittlerweile selbst zufälligen Verwerfungen unterliegen.« (Ebd. 44f.) Dies jedoch betrachtet Lem – im Gegensatz zur Anerkennung der Zufallswirkung bei dem Prozess der kulturellen Genese durch intuitive Kreation und akzidentielle Selektion – nicht als Gewinn, denn er sieht die Kultur als Sinnsystem selbst bedroht. Damit warnt er vor einer »immer vergeblicheren Mutabilität« (ebd. 45) technischer Instrumentalismen, die die Kultur nicht mehr aufnehmen kann:

106

2005-09-20 17-08-43 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

»So verfällt die Kultur in ein Mutationschaos, das keinerlei prospektive Tendenzen enthält […] Die kaputte Kultur vermag weder die instrumentelle Beschleunigung zu zügeln noch sie zu steuern, […] denn nicht nur, dass sie den Wandel nicht kontrolliert und nicht Schritt mit ihm hält – sie begreift ihn nicht einmal.« (Ebd. 45f.) Die Assimilation und sinnvolle Einverleibung der Instrumentalismen ist dann nicht mehr möglich – das Problem der Selbstzweckhaftigkeit der Wissenschaft stellt sich ein, weil diese keinen überzeugenden Bezug zu den menschlichen Problemstellungen mehr aufweist. Das heißt konkret, dass die natürliche Grenze des Anstiegs von semantischer Information und der zugrunde liegende Prozess von Selektion und Antizipation erreicht wird, damit auch des biologisch gegebenen Auffassungsvermögens der Menschen. Zufälle und Notwendigkeiten werden schließlich ununterscheidbar: »Es gibt eine Obergrenze der Komplexität, die für zunehmend komplizierte Organismen ebenso unüberschreitbar ist wie für die Kultur. Diese Obergrenze bilden die subjektiven Beschränkungen jener Wesen, die den Code, sei es der Biologie, sei es der Kultur, realisieren. Ein biologischer oder kultureller Organismus von beliebiger Kompliziertheit ist nicht möglich, und das heißt: Die informationale Vielfalt eines biologischen oder gesellschaftlichen Organismus kann nicht unbegrenzt zunehmen.« (Ebd. 48) Lem nennt dies auch »die Grenze kulturellen Wachstums« (ebd. 9), die seines Erachtens nicht nur durch die fehlende Möglichkeit der Angleichung und Deutung wissenschaftlicher Einsichten im kulturellen System gegeben ist, sondern auch im Wachstum des evolutionär-semantischen Prozesses erreicht ist: Eine Kultur kann nicht jede Form von Zufälligkeit beliebig erklären und einnehmen. Wird sie mit einem zu großem Maß von Akzidentialität konfrontiert, gerät sie als festgefügtes Normen- und Wertesystem in Gefahr, selbst beliebig und willkürlich zu werden, denn Kultur muss jene für sie unverständlichen Reste abstoßen. Dann ist die Kultur keine »Überlebensstrategie vernunftbegabter Wesen« (ebd. 50) mehr. Stanisław Lem schlussfolgert aus diesen Ausführungen: »Die bislang nur quantitativ verstandenen Grenzen des Wachstums der Kultur werden unbemerkt erreicht, ohne dass es zu einem plötzlichen Zusammenbruch, einer Börsenpanik oder einem erkennbaren Kollaps kommt. Die bislang aus der Kultur verbannte Zufälligkeit kehrt ganz einfach still und leise zurück und übernimmt die Steuerung der menschlichen Einstellungen sowie der gesellschaftlichen Zirkulation der Werte.« (Ebd. 72) 107

2005-09-20 17-08-43 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

Darf der Zufall als konstituierender Faktor der Genese und der Neuschöpfung bei der evoluierenden Bewegung einer Kultur dienen, so kann er Lem zufolge nicht Grundlage ihres Wertekanons sein, da dieser sonst der Regellosigkeit anheim fällt. »[D]em Zufall [muss] verstärkt entgegengewirkt werden« (ebd. 71), wie Lem folgert, wenn die Dynamik der Kultur erhalten werden soll, die das zufällig Entstandene und von den Rezipienten Angenommene seit jeher in einer notwendigen Ordnung verankert: »Die Dynamik der Kultur besteht in der selektiven Verwirklichung von Werten. Das Problem ist, wie diese Selektion erfolgt. Zufallsbedingt darf die Auslese nicht sein. Wenn das Wachstum und die Auslese seiner Wirkungen, wenn der Aufstieg und Niedergang von nur zeitweilig gültigen Werten vom Zufall bestimmt werden, verwandelt die Kultur sich in eine zitternde, breiige Masse, welche die Einstellungen der Menschen nicht zu formen und zu integrieren vermag.« (Ebd. 94) Am Ende seiner Abhandlung bezieht Lem diesen Sachverhalt auf eine Spielmetapher: »Wenn wir jemanden in ein neues Spiel einführen möchten, müssen wir ihm dessen Regeln in einer Weise beschreiben, die für ihn nicht ebenfalls neu ist, weil er sonst das Spiel überhaupt nicht erlernen wird.« (Ebd. 307) Insofern muss die oben beschriebene Brücke zwischen reiner Zufälligkeit und kultureller Sinnhaftigkeit, durch die Künstler, Rezipienten und Exegeten die beiden Seiten der Grenze verbinden, immer einen Raum zur Entfaltung enthalten, welche als Korrelat zu gesellschaftlichen Begebenheiten funktioniert. Es muss immer noch sinnvolle Bedeutung geschaffen werden können, weil sonst keine Information mehr selegiert wird, sondern nur noch Rauschen. Die Prozesse der Anverwandlung des Neuen, Unharmonischen stehen immer im engen Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, sei es als Affront, als Kommentar oder als Hilfestellung für den Rezipienten zur Orientierung in den neuen Lebenswelten, die etabliert werden sollen. Wird die Grenze der Sinngebungsmöglichkeit überschritten – ob als Darstellung reiner Nicht-Information oder im Sinne zu großer, für den Betrachter undurchschaubarer Komplexität – weicht auch das Interesse, an das kulturelle Leistungen gebunden sein müssen. Lems »Philosophie des Zufalls« stellt also einen intermediären Ausgangspunkt dar, der dem Zufall als evolutionäre und spieltheoretische Trial-and-Error-Methode einem Raum zuspricht, ihn aber aus dem Kern kultureller Bedeutungsproduktion in 108

2005-09-20 17-08-43 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

jedem Fall ausschließen möchte. Kultur dient mithin als System für die Eindämmung der lebensweltlichen Kontingenz und kann sich dem Unbeabsichtigten nur bedingt weit öffnen. Lem durchschaut zwar die – unter Umständen unnachgiebigen – Mechanismen von Kultur, wozu auch Religion, Mythologie und Literatur zählen, die seit Anbeginn der Menschheit Eindeutigkeit an die Stelle von Beliebigkeit und Offenheit setzen, betont aber dabei die Wichtigkeit einer geschlossenen und integrierenden Totalität für das individuelle wie kollektive menschliche Selbstverständnis. Aus dieser Perspektive sieht er noch nicht die Möglichkeit eines kontrollierten Einsatzes des Zufalls als Faktor bei der Unterbrechung der starren und Homogenität behaupteten, im Grunde genommen immer artifiziellen und damit bis zu einem gewissen Grade arbiträren Sinn- und Wertesysteme. Zwar spricht er sich für mehrdeutige Kunstwerke aus, verneint aber rein aleatorisch generierte Werke, die nur noch chaotische Muster darstellen, weil sie die Gefahr einer Aufweichung des kulturellen Wertekanons mit sich bringen können. Dass die Rezipienten durch eine selbstständige Öffnung hin zum Zufallsphänomen und zu den ausgegrenzten Resten wieder ein Stück der doktrinären und ihren Händen entglittenen, vermassten Kultur zurückgewinnen und so die kulturelle Dynamik unter der Hand technischer Instrumentalismen und widerstreitender Werteskalen stabilisieren können – auch ohne dass sie dabei sogleich der Ungewissheit der Kontingenz anheim fallen – hat Lem noch nicht vorausgesehen.

III. Die Philosophie der Integration und Bejahung des Zufälligen im Denken von Gilles Deleuze Die Termini von Zufälligkeit oder Chaos tauchen in den Texten des französischen Philosophen eher vermittelt auf und bleiben zumeist dem aktuellen Argumentationskontext als metaphorisches, indirektes Begriffssystem verhaftet, aber innerhalb der gesamten Philosophie der poststrukturalistischen Denktradition in Frankreich hat kein anderer Theoretiker dem Zufälligen, Akzidentiellen, Indifferenten und Schöpferisch-Neuen einen so großen Raum gegeben wie Gilles Deleuze. Dabei verfolgt er einen vergleichbaren Ansatz der Beschreibung einer verschiebbaren Grenze der Zufalls- oder Chaosinkorporation, bei dem das Zufällige in die menschlichen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge immer weiter aufgenommen und dort verarbeitet wird wie es auch von Lem angedacht wurde. Bleibt die Argumentation des polnischen Theoretikers aber dem naturwissen109

2005-09-20 17-08-44 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

schaftlichen Vokabular eines evolutionstheoretischen Versuchsmodells verhaftet, so versucht Deleuze, das Differente, Unkategorisierte auch als schöpferische Quelle auszumachen, das bei der Umwandlung bzw. Aktualisierung zwar angeglichen und eingegliedert wird, dabei aber auch immer auf das System als solches zurückwirkt, es verändert und dabei einen dauerhaften Bezug zur gesellschaftlichen bzw. wissenschaftlichen Ordnung an sich etabliert und dies auch im Laufe der Zeit aufrecht erhält. Das Zufällige verschwindet damit nicht, sondern wird gewinnbringend genutzt und wirkt beständig mit seinem erratischen Potential im Zentrum der symbolischen Geschlossenheit weiter. Zunächst ist der Zufall bei der Genese des differentiellen Denkens nur mittelbarer Wirkfaktor des Noch-Unbekannten, Anderen, Verschiedenen. »Das Unbestimmte ist völlig indifferent«, so Deleuze, erst die »Differenz ist jener Zustand, in dem man von DER Bestimmung sprechen kann.« (Deleuze 1997: 49) Diese ist Formgebung und Determinierung des noch Unbestimmten in einem. Dabei kommt dem (menschlichen) Denken die Rolle des Vermittlers und Koordinators zu, »denn das Denken ist jener Moment, in dem die Bestimmung eins wird«, und zwar – hier wird der alternative Ansatz Deleuzes erstmals deutlich – »durch die Stützung eines einseitigen Bezugs zum Unbestimmten.« (Ebd. 50) Der oben vorgeschlagene Doppelcharakter der Grenzverschiebung, die einerseits auf der Ebene des Kulturellen, Schon-Kategorisierten operiert, aber andererseits immer einen Bezug zum Chaotischen und Differenten bewahrt, ist hiermit dauernd gegeben: »DIE Bestimmung [ist] genau jener Punkt, an dem das Bestimmte seine wesentliche Beziehung zum Unbestimmten unterhält, jene strenge abstrakte Linie, die vom Helldunkel gespeist wird.« (Ebd. 50) Es geht Deleuze innerhalb dieser Argumentation darum, das Denken der Repräsentation und begrifflichen Identität, die Wiederkehr und Reproduktion des Gleichen, durch die Vermittlung einer Anerkennung der Differenz aufzulösen. Es geht darum, »in den Zwischenräumen zwischen den Aktionsfeldern« zu wirken, die »verwirrenden Erschütterungen« spürbar zu machen, »die die nomadischen Verteilungen in den sesshaften Strukturen der Repräsentation stiften.« (Ebd. 60) Christian Jäger betont bei diesen Ausführungen den schöpferischen Charakter des Chaotischen, der diese Erschütterungen und begrifflichen Verwerfungen hervorzubringen vermag: »Chaos: Wildheit und Unordnung bergen sich mithin im Differenzbegriff, der nur im Rahmen des Repräsentationsdenkens domestiziert scheint, der jedoch weiterhin ein 110

2005-09-20 17-08-44 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

Unruhepotential, einen kritischen Punkt möglicher Innovation oder Revolution darstellt, wenn er diesem Denken entbunden wird. Dieses produktive Potential beabsichtigt Deleuze wiederzugewinnen«. (Jäger 1997: 71) Es geht also darum, das Unbestimmte, Unorganisierte kontrolliert nutzbar zu machen, seinen Ausschluss zu unterbrechen, die in ihm vorhandenen Kräfte frei zu legen und nutzbar zu machen: »Das Unbestimmte ist nicht länger eine bloße Unvollkommenheit in unserer Erkenntnis oder ein Mangel im Objekt; es ist eine objektive, vollkommen positive Struktur, die als Horizont oder Brennpunkt bereits in der Wahrnehmung wirkt. Das unbestimmte Objekt, das Objekt in ideeller Hinsicht dient uns nämlich dazu, andere Objekte (die der Erfahrung) zu repräsentieren, denen es ein Maximum an systematischer Einheit verleiht.« (Deleuze 1997: 218) Die Anerkennung des Ungewissen, Nicht-Determinierten vollzieht sich also in der Sichtbarmachung der Chancen und Neuorientierungen, die darin verborgen liegen. Die Abkehr vom Gewöhnlichen dient als Energiequelle der schöpferischen Hervorbringung des genuin Neuen. Dabei kommt das Setzen auf den Zufall, das Vertrauen auf die ausgeschlossenen, scheinbar nur willkürlichen Reste, ebenfalls in das Blickfeld des schöpferisch Tätigen: »Wir fragten nach dem Ursprung der Ideen, nach der Herkunft der Probleme; und wir berufen uns auf Würfelwurf, auf Imperative und Fragen des Zufalls anstatt auf ein apodiktisches Prinzip, auf einen aleatorischen Punkt, wo alles zu-Grunde-geht, anstatt auf einen soliden Grund. Wir stellen diesen Zufall dem Willkürlichen in dem Maße gegenüber, wie er bejaht, imperativistisch bejaht wird […]; diese Bejahung selbst aber bemessen wir an der Resonanz, die sich zwischen den aus dem Würfelwurf stammenden problematischen Elementen herstellt.« (Ebd. 247) Die Vorstellung eines bejahenden Zufallsvertrauens, das sich vom bloß Willkürlichen, mithin Indifferenten abhebt, einen Zwischenraum zwischen Kategorie, Erkenntnis und blindem Zutrauen an die Macht des Unbestimmten öffnet, bestimmt den gesamten Diskurs des Denkens der Differenz, »der gute Würfelwurf [bejaht] den ganzen Zufall mit einem Mal« (ebd. 255). Dabei geht es um eine »Erschließung der ursprünglichen, bislang verborgenen Möglichkeiten« (ebd. 255), welche auf die Fragestellung zurückwirken, sie herausfordern und unter Umständen vollständig modifizieren. Es soll auch das Widerständige und Eigene nutzbar gemacht werden, es handelt sich um ein Streben, sich den Meinungen und Hypothesen entge111

2005-09-20 17-08-44 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

genzustellen, durch »die Potentialität der Idee, ihre bestimmbare Virtualität.« (Ebd. 256) Denn die Ideen enthalten in ihrer virtuellen Anlage schon die Lösungen für die gestellten Probleme, sie »enthalten alle Varietäten von Differentialverhältnissen und alle Verteilungen singulärer Punkte, die in verschiedenen Ordnungen koexistieren und einander ›perplizieren‹.« (Ebd. 261) Als Beispiel nennt Deleuze die Idee einer Farbe auf der einen Seite und ihre je unterschiedlichen Realisierungen, Aktualisierungen in tatsächlichen Kontexten oder die Idee eines Lauts, die in der Gesamtheit des Rauschens schon enthalten ist: »Mit der Aktualisierung nimmt also ein neuer, artbildender und partitiver Unterscheidungstyp den Platz der fließenden ideellen Unterscheidungen ein.« (Ebd. 262) Dabei werden die »Probleme einer Gesellschaft, wie sie in der Infrastruktur in Form der sogenannten ›abstrakten‹ Arbeit bestimmt sind, […] durch den Prozess der Aktualisierung oder Differenzierung […] gelöst.« (Ebd. 263) Wie die von Lem explizierte Versuchs-und-Irrtums-Methode der mutativen Neubildung und Erprobung von Sinnstrukturen, werden auch im Aktualisierungsprozess beizeiten die falschen Möglichkeiten aktualisiert und Pseudoprobleme angegangen, »die Geschichte ist darum ebenso sehr Schauplatz des Unsinns und der Dummheit wie Prozess des Sinns« (ebd. 263), so Deleuze. Dabei ist das von ihm bestimmte Virtuelle weniger eine abstrakte oder imaginäre Entität, sondern die virtuelle Idee besitzt als Problemkomplex schon volle Realität, die »Realität des Virtuellen besteht in den differentiellen Elementen und Verhältnissen und in den singulären Punkten, die ihnen entsprechen.« (Ebd. 264) Dem Kunstwerk oder der wissenschaftlichen Methode bzw. dem neuen Denkansatz bleibt es dann überlassen, diese Punkte und virtuellen Anlagen durch ihre spezifische Problemlösungsstrategie zu verwirklichen und anzuwenden: »Wenn sich das Kunstwerk auf eine Virtualität beruft, in die es eingelassen ist, so macht es keinerlei verworrene Bestimmung geltend, sondern die vollständig bestimmte Struktur, die durch seine genetischen differentiellen Elemente […] gebildet wird.« (Ebd. 265) In der Gesamtheit der unterschiedlichen Lösungen auf ein Problem, welches an verschiedenen Stellen zur gleichen Zeit angegangen wird, entsteht eine potenzielle Ganzheit der Möglichkeiten und Herangehensweisen, die ein Problem beizeiten als abgeschlossen ausweisen kann: »Jede Differenzierung ist eine lokale Integration, eine lokale Lösung, die sich mit anderen in der Gesamtheit der Lösung oder in der globalen Integration zusammenfügt. Auf diese Weise zeigt sich im Bereich des Lebendigen der Aktualisierungspro112

2005-09-20 17-08-45 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

zess zugleich als lokale Differenzierung von Teilen, globale Ausbildung eines inneren Milieus, Lösung eines Problems, das im Konstitutionsfeld eines Organismus gestellt wird.« (Ebd. 267) Die individuellen Anpassungen und Abgleichungen der Problemstellungen mit den lokalen Bedingungen lassen in der Gesamtheit eine imaginäre Totalität aller Lösungen entstehen, die ein Problem verlangen kann und welche im Verlaufe der Zeit dem Virtuellen abgetrotzt wurden. In dieser Vielheit von Lösungen auf ein singuläres Problem liegt auch der Unterschied zwischen dem Virtuellen und dem Möglichen begründet, »der Prozess des Möglichen ist also eine ›Realisierung‹«, die nach dem Prinzip der Identität abläuft: eine einzelne Möglichkeit (das Haus zu verlassen) wird realisiert, vollzogen und ist damit abgeschlossen, »dagegen vollzieht sich die Aktualisierung des Virtuellen stets über Differenz, Divergenz oder Differenzierung. Die Aktualisierung bricht mit der Ähnlichkeit als Prozess ebenso wie mit der Identität als Prinzip.« (Ebd. 268) Damit exemplifiziert die Virtualität auch die Kontingenz einer Entwicklung. Durch ihren Vollzug in den verschiedenen lokalen Wirkungszentren vollzieht sich die Aktualisierung »in drei Reihen, im Raum, in der Zeit, aber auch in einem Bewusstsein«, auf das es als kollektiver Angelpunkt dieser dynamischen Bewegung konstant zurückwirkt, denn »jede raum-zeitliche Dynamik« ist auch »die Emergenz eines elementaren Bewusstseins«, das sich durch diese Vorwärtsbewegung stets neu konstituiert und abstimmt (ebd. 278). In den je unterschiedlichen Strategien zum bewältigen eines Problem – z.B. der Auflösung des menschlichen Harmoniestrebens in der Musik durch Cages aleatorische Kompositionstechniken – werden die Fragen mit den Problemen verknüpft, erhalten sie eine Realisierung, die sich in einer spezifischen Herangehensweise ausdrückt, »[d]ie Frage entwickelt sich in Problemen und die Probleme wickeln sich in eine grundlegende Frage ein.« (Deleuze 1993: 81) Das Setzen auf den Zufallspunkt funktioniert dabei als halbzufällige Strategie im Sinne eines Umhertastens im unkartografierten Raum: Die Erkundung und Behandlung des Gesamtzusammenhangs erfolgt wie auf einem Spielfeld durch strategische (in ihrer Problemorientierung) aber auch erratische (d.h. willkürlich gewählte) Züge. Hierfür wählt Deleuze die Bezeichnung des ›idealen Spiels‹, welches der Kreativität und dem Denken vorbehalten bleibt. Die gesellschaftlichen Spiele, bei denen es um Sieg und Niederlage, um die Verfolgung spezifischer Ziele geht, setzen immer »nur in bestimmten Punkten« auf den Zufall und überlassen »den Rest der mechanischen 113

2005-09-20 17-08-45 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

Entwicklung der Konsequenzen oder der Geschicklichkeit als Kunst der Kausalität« (ebd. 83). Diese Spiele sind von der Gewinnintentionen geleitet und befolgen Regeln, die im Verlaufe der Spielsituation nicht verändert werden können. Zwar weisen sie ein erratisches Moment auf, aber dieses bleibt durch die Kausalität der Bestimmungen und ihre Geschlossenheit immer in einem fassbaren Rahmen, weil am Ende Sieger und Verlierer feststehen müssen. Diese Vorstellung gilt auch für die Lem’sche Methode der literarischen Kreation und Rezeption, die den Zufall als spielerischen Einflussfaktor während der noch beweglichen Genese zwar anerkannte, ihn aber aus der internen Normensetzung der Kultur ausschloss. Das ›ideale‹ oder ›reine Spiel‹ hingegen kennt »keine vorgängigen Regeln, jeder Spielzug erfindet sich seine Regeln neu, beruht auf seiner eigenen Regel.« (Ebd. 84) Es geht darum, den Zufall nicht unter die Dogmen von Ursächlichkeit und Gesetzmäßigkeit zu stellten, sondern ihn auf eine unverstellte Art zu entfesseln und so sein Potential hervorzukehren. Durch die Flexibilität dieses Spiels ist es viel eher dazu geeignet, die Ganzheit des zugrunde liegenden Möglichkeitsfeldes gedanklich zu antizipieren: »Das eine Werfen ist ein Chaos, dessen Fragmente aus den einzelnen Würfen bestehen. […] Anstatt […] einen geschlossenen Raum den Hypothesen gemäß zwischen feststehenden Ereignissen aufzuteilen, sind es die beweglichen Ereignisse, die sich im Raum des einen und ungeteilten Werfens neu verteilen: nomadische und nichtsesshafte Verteilung, in der jedes Singularitätensystem mit den anderen kommuniziert und in Resonanz steht, gleichzeitig von den anderen impliziert wird und sie ihrerseits im größten Werfen impliziert. Es handelt sich um das Spiel der Probleme und der Frage und nicht mehr um das des Kategorischen und des Hypothetischen.« (Ebd. 84f.) Beim Operieren in diesem offenen Raum kommt es zu heterogenen, undeterminierbaren Neuverteilungen, die in ihrer Unabgeschlossenheit und Ambivalenz auch Möglichkeiten zulassen, die zuvor nicht für eine Realisierung erwogen wurden, da sie den kulturell gegebenen Rahmen sprengen. So kann man z.B. beim kreativen Antizipieren verschiedener Alternativen noch ungedachte Entwicklungsverläufe gedanklich vorwegnehmen und so zu einer differenten Abschätzung der Ausgangssituation kommen. Das ›reine Spiel‹ bleibt allerdings dem Denken vorbehalten, »ein solches regelloses Spiel ohne Sieger oder Verlierer, ohne Verantwortlichkeit, unschuldiges Spiel und Proporz-Wettlauf, in denen sich Geschicklichkeit und Zufall nicht mehr unterscheiden, scheint in der Wirklichkeit 114

2005-09-20 17-08-46 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

nicht vorzukommen«, stattdessen kann man es aber »die Wirklichkeit des Denkens selbst« (ebd. 85) nennen. Bei der Gedankenarbeit sind eben auch imaginäre Lösungen möglich, die ein Austesten sich in der Realität ausschließender kontingenter Verwirklichungen desselben Problemkomplexes zulassen, die auf dem Feld realer Spielentwürfe, die den Zufall unter eine Regel stellen, nicht möglich sind. Nur durch diese weite Öffnung gegenüber dem Zufallsphänomen können die beiden Bereiche von Denken und Kunst eine Neuverteilung und Andersbewertung bekannter Wirkungsfelder bewerkstelligen und damit sogar die etablierten und entfesselten Diskurse von beispielsweise Normensetzung und ökonomischer Dynamik hinterfragen oder gar auflösen: »Und alle Gedanken kommunizieren in einem langen Gedanken, der alle Formen oder Gestalten nomadischer Verteilung seiner Verschiebung entsprechen lässt, indem er überall den Zufall einflösst und jeden Gedanken verzweigt, indem er das ›jedesmal‹ für ›allemal‹ in einem ›einmal‹ vereint. Denn den ganzen Zufall bejahen, aus dem Zufall ein Objekt der Bejahung machen kann nur das Denken. Und wenn man dieses Spiel anders als im Denken zu spielen versucht, ereignet sich nichts; und wenn man ein anderes Ergebnis als das Kunstwerk hervorzubringen versucht, entsteht nichts. Es ist also ein dem Denken und der Kunst vorbehaltenes Spiel, in dem es nur noch zu Siegen für diejenigen kommt, die zu spielen, das heißt den Zufall zu bejahen und zu verzweigen wussten, anstatt ihn zu teilen, um ihn zu beherrschen, zu wetten, zu gewinnen. Dieses Spiel, das nur im Denken abläuft und zu keinem anderen Ergebnis als dem Kunstwerk führt, ist zugleich dasjenige, wodurch das Denken und die Kunst wirkliche sind und die Wirklichkeit, die Moralität und die Ökonomie der Welt stören.« (Ebd. 85) Die etablierten und Konventionen herstellenden Sinnsysteme können mit den Mitteln der Vorstellungskraft und der Fiktion relativiert werden, sei es durch Affront, Subversion oder Sichtbarmachung von Fehlentwicklungen sowie der Exemplifizierung zukünftiger Entwicklungen, auch durch fiktionale Vervollkommnungen und Vorwegnahmen möglicher Veränderungen, die eben auch das Differente, Absurde, im Grunde Widersinnige mit einbeziehen können. Damit können diese Praxisbereiche Strategien entwickeln, die ihnen die Exklusivität einer Chance der imaginären Transzendenz des Wirklichen zukommen lassen, da sie die Irreversibilität und Linearität der Realität auf ideelle Weise zeitweilig auflösen. Durch das Setzen auf den Zufall, auf neue Felder und leere Positionen kommt es zu einer erratischen Erprobung von Unerforschtem, wobei in der Vorstellung Angelegenheiten und Stellungen eingenommen werden 115

2005-09-20 17-08-46 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

können, die sich erst in der Realität bewähren müssen, die aber letztendlich zu genuin Neuem, von der Wirklichkeit noch nicht Organisiertem führen können. Statt einer stetigen, aber bestimmt voranschreitenden Zufallsinkorporation durch die kulturellen Bedeutungssysteme spricht Deleuze von einer Herausforderung und Kritisierung des Etablierten durch das Einlassen auf das Chaotische, durch die unkontrollierte und unreglementierte Bejahung des Zufalls. Dass diese erratische Strategie des Verstandes seine Wurzeln schon im menschlichen Denkapparat selbst hat, darauf kommt Deleuze zusammen mit Félix Guattari in ihrem letzten gemeinsamen Werk zu sprechen (vgl. Deleuze/Guattari 1996). »Wir wollen doch nichts anderes als ein wenig Ordnung, um uns vor dem Chaos zu schützen« (ebd. 238) heißt es dort zunächst. So üben sich die drei Felder der künstlerischen Arbeit, der Philosophie und der Wissenschaft daran, Ebenen aus dem Chaos zu ziehen, das Unorganisierte des Anarchischen zu bestimmen und zu bannen. Doch die Arbeitsweise dieser drei Operationsweisen ist in sich völlig unterschiedlich. Während es das Bestreben der Wissenschaft ist, durch Herstellung von Referenz die Geschwindigkeit des Chaos zu bannen, das Virtuelle zu aktualisieren und damit greifbar und bestimmbar zu machen, üben sich Philosophie und Kunst darin, sich die Energie und fehlende Strukturierung des Chaotischen zunutze zu machen: Sie schaffen zwar ebenfalls Konsistenz, ohne aber den »Faden zum Unbestimmbaren« (ebd. 144) völlig aufzugeben. Die Wissenschaft möchte dazu beitragen, dass wir »uns eine Meinung […] bilden, als eine Art ›Sonnenschirm‹ zum Schutz gegen das Chaos«, während das Denken und kreative Schaffen das Chaos nicht als rein Amorphes ansehen, welches eingereiht zu werden hat, sondern als Gegner ernst nehmen und so auch die etablierten und tradierten Meinungen der Ausschließung des Zufälligen selbst hinterfragen können, »[m]an könnte sagen, dass der Kampf gegen das Chaos nicht ohne Affinität zum Gegner vonstatten geht, weil sich ein anderer Kampf entwickelt, der wichtiger wird: gegen die Meinung, die doch vorgab, uns gegen das Chaos zu schützen.« (Ebd. 239f.) Im kreativen Akt bemächtigt sich der Künstler des Chaos’, sei es auf intuitiv-meditative Weise oder durch völlige Übergabe der Schaffensimpulse an die Kraft des Akzidentiellen. Dahinter steht »der Traum ein Stück vom Chaos zu fassen, auch wenn die unterschiedlichsten Kräfte darin wirken« (ebd. 244) und dies geht eben nur über den Weg des Kreativen, Schöpferischen, da seine Referenzen und Bestimmtheiten immer relativ und beweglich bleiben, sie können ›chaoid‹ wer116

2005-09-20 17-08-46 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

den, also einen Schwebezustand zwischen dem Anarchischen und dem schon Gefügten einnehmen: »Kreation, Schöpfung sind die ästhetischen Varietäten […], die auf einer Ebene erscheinen, die einen Schnitt durch die chaotische Variabilität zu legen vermag.« (Ebd. 245) Durch die Schaffung von Begriffen, die einerseits auf einen chaotischen Zustand hindeuten, andererseits aber Meinungsäußerungen, also Sinnverfestigungen auf der Immanenzebene des gesamten Denkens darstellen, verweisen diese aktualisierten Emanationen des Zufälligen im Realen auf den aleatorischen Charakter des menschlichen Denkens selbst: Der Begriff als Kategorie des Verstandes »verweist auf ein konsistent gemachtes und zum Denken, zum mentalen Chaosmos gewordenes Chaos. Und was wäre denken, wenn es sich nicht unablässig am Chaos messen würde?« (Ebd. 247) Mithin führt uns das Chaos zum Kern unseres eigenen Vorstellungsvermögens zurück. Damit stehen für Deleuze und Guattari fest, dass der Ursprungsort der gedanklichen Heterogenese und der menschlichen Gestaltungskraft, dem beständigen Spiel mit den ausgegrenzten Zufallsresten, in den Mechanismen und Strategien des Denkapparates zu finden ist: »Die Verknüpfung (nicht Einheit) der drei Ebenen ist das Gehirn.« (Ebd. 247) Dabei spielt vor allem die emotionale Seite der Gehirnaktivität eine Rolle, die im wissenschaftlichen Denken zumeist ausgeblendet wird: Nur sie kann die chaotischen Fluktuationen antizipieren und sich ihrer angleichen, »weil die Empfindungen die Schwingungen zusammenzieht, schwingt sie selbst.« (Ebd. 251) Deshalb vermag das denkende, empfindende und schaffende Subjekt Grenzlinien aus dem Chaotischen, Zufälligen zu ziehen, »[d]as Subjekt stellt sich jetzt als ein ›Ejekt‹ dar, weil es Elemente herauszieht« (ebd. 256) und sich aneignet und so zu anderen Sicht- und Funktionsweisen kommt: Die »Paradigmen des Gehirns machen rhizomatischen Figuren Platz, azentrischen Systemen, endlichen Automatennetzen, chaoiden Zuständen. Sicher wird dieses Chaos durch die Verstärkung meinungserzeugender Bahnungen unter der Einwirkung von Gewohnheiten oder Rekognitionsmodellen kaschiert; es wird aber desto spürbarer, je mehr man schöpferische Prozesse und die darin implizierten Abzweigungen berücksichtigt.« (Ebd. 258) Die Kreativität als solche bleibt also im Argumentationszusammenhang von Deleuze und Guattari die Rückzugsmöglichkeit des Chaotischen und Zufälligen, da es im (philosophischen) Denken und künstlerischen Schaffen einen Hort freien Wirkens findet und dort – durch seine Korrespondenz zu den Mechanismen des menschlichen 117

2005-09-20 17-08-46 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

Gehirns – seine Dynamik des Noch-Unbekannten durch chaotische Reflexe, Neuverknüpfungen und alternative Lösungsmodelle entfalten kann. Somit bahnt sich hier eine latente Neubewertung des Zufälligen an. Es wird aus der kulturellen Bedeutungsproduktion nicht mehr ganz herausgehalten, sondern zwischen kreativer Kontrolle zum einen und Ordnungs- bzw. Organisationsstreben zum anderen unterschieden. Auf dieser Skala erscheinen die Naturwissenschaften durch das Streben nach Durchsicht und Referenz das eine Ende auszumachen, während Denk- und Schaffensprozesse – seien sie rein experimenteller oder aber formenschaffender, fiktionaler Natur – durch Inkorporation und Nutzbarmachung des Chaotischen, auch durch Betonung der Korrespondenz von Kreativität und Gehirnaktivität, die andere Seite darstellen. Das Denken selbst funktioniert als Heterogenese, weil es bestehende Formen hinterfragt, aber auch immer wieder mithilfe des Zufalls zur Schaffung neuer Verbindungen und Modelle hervortritt, »[d]er Zufall ist also eine konstruktive Macht, er ist nichts, was erst sekundär zu den Dingen hinzutritt und ihre von der Notwendigkeit bestimmten Formen verdeckt oder zerstört« (Balke 1999: 53), so Friedrich Balke. So gelingt es dem Denken als kritische Instanz eine konsequente Distanz zu den schon geschaffenen und in der Wirklichkeit verankerten Dingen zu bewahren, es kann »die bestehenden Wissensformen, die Paradigmen ›durchlöcher[n]‹, den konstituierenden Logos durch eine paralogische Attacke destabilisie[en]« (ebd. 56). Die oben erwähnte distinkte Grenze zwischen Wissen und Nicht-Wissen, zwischen Sinn und Anarchie, Kultur und unbeständiger Natur, Bedeutung und Rest, beginnt sich damit aufzulösen, da das Jenseits dieser Linie durch die Formen seiner Bejahung und das Einstellen der Gleichschaltung nicht mehr in einem Gegensatz zum Kulturellen steht, sondern über das Denken sein integraler Bestandteil wird. Damit wird der Zufall bei der Sinn- und Bedeutungsproduktion nicht mehr angeglichen, es werden keine Mittel zur Zufallsdekonstruktion mehr gesucht, Mythen und Allegorien aufgestellt, die akzidentielle Ereignisse sinnhaft zu machen versuchen. Stattdessen dient das kreative und willkürliche Element den Sinnsystemen als Injektion des Anarchischen zur Unterbrechung der Wiederholung des Immergleichen und Etablierten.

118

2005-09-20 17-08-47 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

IV. Die Rückkehr des verfemten Teils und die fatalen Neuverkettungen des Zufalls bei Jean Baudrillard Der französische Theoretiker Jean Baudrillard hat versucht, einige Ansatzpunkte, die sowohl die gesellschaftlichen Veränderungen als auch die Rolle des Zufalls und den Umgang des Subjekts mit diesen beiden Erscheinungen berücksichtigen, zu formulieren. Baudrillard spricht von einer Zivilisation, in der die ausgeschlossenen Reste allmählich zu einem Problem werden: Durch die Erhöhung der Objektivität und Durchschaubarkeit wurde das Andere, Differente, mithin auch das Böse völlig aus den Beschreibungszusammenhängen gestrichen, er nennt dies die »weiße Sozialität«, die »einer Weißwäsche der Körper wie des Geldes, des Gehirns und des Gedächtnisses bis zur totalen Asepsis« (Baudrillard 1990: 53) anheim gefallen ist. Aus diesem »Übermaß an Positivität« resultiert auch eine fundamentale Absage an den Zufall, deren theoretische Fixierung – wie oben gezeigt – recht früh statt fand, die aber erst heute technisch umsetzbar erscheint, so wird »der Zufall eines Gesichts, seine Schönheit oder Hässlichkeit […] repariert« (ebd. 53), angeglichen, nach Idealen und Normen geformt. Dies bringt auch die Entkopplung der Freiheit vom menschlichen Zugriff mit sich, »[e]s gibt keine Wahl, keine Entscheidung. Jede Entscheidung in Fragen des Netzes, des Bildschirms, der Information, der Kommunikation ist seriell, partiell, fragmentarisch, fraktal.« (Ebd. 67) Es gibt nur noch die Ungewissheit der vermittelnden Instanzen, denen wir ausgeliefert erscheinen, »die unserer Freiheit ein Ende« (ebd. 67) setzen. Die Menschen haben ihre Autonomie für die Sicherheit eines determinierten Schicksals aufgegeben, es geht nur noch um eine allumfassenden Regelhaftigkeit. Dabei kommt es in den Systemen völliger Transparenz durch die Ausschaltung des Willkürlichen zur Rückkehr des Unberechenbaren, des Verfemten an ungewohnter Stelle, so z.B. in der »absoluten Andersheit des Virus«, ein Begriff, den Baudrillard mit Rechensystemen wie heutigen Krankheiten in Verbindung bringt: »In Systemen, die auf dem Weg zu totaler Positivierung und somit zur Entsymbolisierung sind, entspricht das Böse in all seinen Formen einfach der Grundregel der Umkehrbarkeit.« (Ebd. 76) Oder anders ausgedrückt: »So dienen die extremen Phänomene«, zu denen der Theoretiker die Viren, den Terrorismus und den wiedererstarkenden Fundamentalismus zählt, »in ihrer geheimen Unordnung als Prophylaxe per Chaos gegen die extreme Zunahme der Ordnung und Transparenz.« (Ebd. 79) Das von der Kultur Ausgegrenzte und Marginalisierte kehrt – auch ohne menschli119

2005-09-20 17-08-47 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

ches Zutun – in all seiner Radikalität in die Bedeutungssysteme zurück. Baudrillard fasst dieses Phänomen als ›Theorem des verfemten Teils‹, womit er die »Untrennbarkeit von Gut und Böse« meint und »damit die Unmöglichkeit, das eine ohne das andere zu befördern.« (Ebd. 121) Gerade in den Netzen und Verschaltungen der hochempfindlichen Datentransportsysteme und ein nur labiles Gleichgewicht schaffenden Mechanismen des Warentauschs können die Fehler und erratischen Elemente in den Nischen und unbeobachteten Bereichen wiedererstehen. Die gegenläufige Energie des Bösen, Irreduziblen ist »überall dort am Werk, wo Dinge aus der Bahn geraten, in der Viralität, der Beschleunigung, der Hochtourigkeit der Wirkungen, […] im Exzess und Paradox, in der radikalen Fremdheit, in den seltsamen Attraktoren, in den unartikulierten Verkettungen«, diese Reaktionen und Rückkopplungen stellen »letzten Endes die wahren Zeichen der Freiheit und einer natürlichen Unordnung der Welt« (ebd. 121ff.) wieder her. In seinem Essay »Das Fatale oder der umkehrbare Lauf der Dinge« verstärkt Baudrillard jene Erkenntnis der Fehlentwicklung, denn es »muss den Zufall geben, damit die Dinge sich nicht zwangsläufig und unablässig miteinander verketten, was für die Menschen […] unerträglich wäre.« (Baudrillard 1983: 79) Der geradlinige, regelgeleitete Charakter der Abläufe, der durch die Medien und maschinellen Operationsmechanismen geprägt ist, ist Bestandteil der Schaffung einer Welt, die einem absoluten, vollverschalteten Kausalnexus folgt. Dieser wurde zunächst behauptet und abstrakt postuliert, konnte aber erst in den letzten zwanzig Jahren durch die Erweiterung der Techniken und die Globalisierung der Wirkungen und Kontrollmechanismen durchgesetzt werden. Wir unterstellten der Welt eine Kausalität, die wir – als man immer mehr Gegenbeweise für die Vorstellung des ›Laplace’schen Dämons‹ gefunden hatte – schließlich selbst herzustellen versuchten. So lange der Glauben an eine solch determinierte und völlig logisch verkettete Welt bestand, war es sinnvoll und erstrebenswert, diese auch real zu praktizieren, doch eine solche Welt war von einer Dichotomie zwischen »Magie und Grausamkeit« gekennzeichnet, durch die Willkür ihrer Verteilungsprozesse und die fehlende Chance der Selbsterneuerung. Heute wird zunehmend erkannt: »Der Zufall lässt uns aufatmen« (ebd. 80), da er auch alternative Aussichten und Neuverkettungen tradierter Formen erlaubt. Der Zufall schafft es mithin, eine Bedeutung herzustellen, die über die bloße Produktion des vernunftorientierten Sinns hinausreicht:

120

2005-09-20 17-08-47 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

»Das zufällige Ereignis nimmt einen Sinn und eine Intensität an, den wir vernünftigen Ereignissen nicht mehr beimessen. In einer allzu geordneten und determinierten Welt schafft der Zufall besondere Wirkungen, ja er ist sogar selber ein Spezialeffekt, denn er bedeutet für das Imaginäre die Perfektion des Zufalls. […] Wir befinden uns in einer paradoxen Welt: das Zufallsprodukt hat mehr Sinn und Reiz als die intelligiblen Verkettungen.« (Ebd. 80) Der Zufall löst die Kraft der gewohnten, kausalen Verknüpfungen auf und bringt diese auf einen höheren Level, der gerade – wie oben schon gezeigt – im Imaginären seine Wirkung entfalten kann, denn hier offenbart er seine Perfektion, die jener der tradierten Formen und Zusammenhänge letztlich überlegen ist. »Die Welt wird buchstäblich zugrunde gehen, wenn alle verführerischen Verkettungen den rationalen das Feld überlassen« (ebd. 85), so Baudrillard, deshalb geht es darum, »erratische Elemente zu schaffen, die dann dazu bestimmt sind, ihren Grund zu finden oder ziellos herumzuirren. Den ständigen Kreislauf des Scheins durchbrechen. Der Zufall resultiert aus dieser Zerschlagung; er ermöglicht sogar die Unbestimmtheit der Elemente, ihre respektive Gleichgültigkeit bzw. kurz: ihre Freiheit.« (Ebd. 85) Der Mensch wird zum Spieler, der auf die leeren, unbesetzten Felder setzt und die Lebenswelt so herausfordert, »[w]ir alle sind Spieler, d.h. wir hoffen ganz stark, dass sich von Zeit zu Zeit die schrittweisen rationalen Verkettungen (auf)lösen« (ebd. 88). Im Sinne von Baudrillards Verführungstheorie werden die Mechanismen des objektiven Kausalitätsprinzips durch verführerische, unhintergehbare, letztlich erratische ersetzt: »Wenn man die Kreisläufe der Kausalität überlisten will, muss man code-artige arbiträre Zeichen wie bei den Spielregeln einführen; es müssen Trugbilder aufgestellt werden, die das kausale System und den objektiven Lauf der Dinge umgehen und ihre fatale Verkettung wieder in die Wege leiten.« (Ebd. 88f.) Diese fatale Verkettung steht der rationalen, objektiven wie auch der fraktalen, d.h. sich in Auflösung befindenden, neben- statt miteinander ablaufenden Verflechtung im menschlichen Miteinander diametral entgegen. Sie führt die Andersheit wieder ein, lässt die Dinge sich wieder begegnen, ohne dass eine Voraussicht möglich wäre, führt zu neuen Verknüpfungen und unbekannten Plänen, die das unverfälscht Andere in sich tragen. Sie ist in der Logik der Träume enthalten, kann aber auch (wieder) im Alltagsleben erste121

2005-09-20 17-08-48 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

hen, ihr Kennzeichen ist eine fundamentale Unkalkulierbarkeit und Rätselhaftigkeit: »Die unberechenbaren Verkettungen bilden nicht nur die Grundlage unserer Träume, sondern auch unseres Alltagslebens. Nichts mögen wir mehr als dieses verrückte Missverhältnis zwischen Ursache und Wirkung – es eröffnet uns phantastische Perspektiven über unseren eigenen Ursprung und unsere mögliche Stärke. Die Verführung soll angeblich eine Strategie sein, doch nichts ist falscher. Sie beruht gerade auf unvorhersehbaren Verkettungen, die jede Strategie höchstens zu reproduzieren versucht.« (Ebd. 99) Das Missverhältnis von Ursachen und Wirkungen drückt sich in der Abhängigkeit eines Verlaufs von den minimalen Veränderungen aus, die ihn in der Zeit treffen und verändern können. Das Spiel mit diesen Effekten und Veränderungen zu erlernen und diese Ludizität wieder in die Welt zurückzutragen, darum geht es Baudrillard. Der Sinn, das rationale Denken muss sich zeitweilig zurückziehen, es geht um »all das, was nicht über die Umwege des Sinns abläuft, sondern über die ultra-schnellen Wege des Scheinhaften.« (Ebd. 93) Dies durchzusetzen ist allerdings nicht einfach, da die Menschen die verselbständigten Diskurse und Modularitäten eben nicht geschaffen haben, um sie einige Jahrzehnte später wieder aufzugeben, sondern weil diese ihnen Sicherheit suggerieren und ihnen die Freiheit, die auch eine ›Tyrannei der Möglichkeiten‹ beinhaltet, abnehmen und unter das Postulat des vermeintlich Sinnvollen und Notwendigen stellen, eine Richtigkeit der Weltwerdung vorgeben: »Wir mögen das eine und bevorzugen das andere. Ebenso gern hätten wir, dass sich alle Wirkungen an ihre Ursachen orientieren, und doch ist es uns schließlich lieber, wenn es dabei überall Zufall und freie Koinzidenz gibt. Ich glaube einfach, dass wir vor allem die fatale Verkettung wollen. Der Determinismus wird niemals den Zufall abschaffen können«. (Ebd. 100) Obwohl die eigene Trägheit gerne die Objektivität und die vernünftigen Verbindungen favorisiert, ist das eigentliche Telos des Seins doch jenes Vertrauen auf das Akzidentielle sowie die Durchsetzung und Behauptung des eigenen Willens, auch wenn man erst lernen muss, mit der erreichten Freiheit umzugehen. Durch das Erstreben des Zufalls erlangt man – wie auch schon Deleuze formulierte – schließlich die Chance einer Reversibilität der Dinge in der eigentlich linearen Ordnung, »[d]iese Reversibilität […] ist die Grundregel des Spiels und der Metamorphose der Erscheinungen, gegen die 122

2005-09-20 17-08-48 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

irreversible Ordnung der Zeit, des Gesetzes und des Sinns.« (Ebd. 104) Das Verschwinden und Auftauchen der Ereignisse ohne Unterstellung einer finalistischen Ordnung ist das Ziel der Wiedereingliederung des Zufalls in die Systeme, dies jedoch kann nur durch »eine reversible Ordnung, eine Ordnung des Kreislaufs« erreicht werden; die Aufgabe des Menschen besteht nun darin, »seinen Platz in diesem Kreislauf zu finden.« (Ebd. 108) Die Vielheit der Möglichkeiten und die Unübersichtlichkeit der Lebenswelt lassen eine passive erratische Strategie letztlich als die fruchtbarere erscheinen, da sie den Zufall in die ebenfalls schon funktionalisierten Lebensbeziehungen und zwischenmenschlichen Interaktionsprozesse zurückträgt. Das bedeutet nicht, sich blind und ohne Zielsetzung dem Zufälligen zu überlassen, der reinen Unbestimmtheit anheim zu fallen, sondern einen Einklang zwischen der eigenen Lust am Spiel und dem akzidentiellen Charakter der Umwelt herzustellen, die Zufälligkeit der Episoden und Chancen in sich selbst wie in der Welt zu finden: »Mit der Chance zu paktieren, heißt nicht, auf den Zufall zu spekulieren, sondern heißt, mit der Welt zu harmonieren, ihre Folgereihen und geheimen Zusammenhänge zu erforschen, heißt, gewissermaßen initiiert zu werden. Und jeder gewonnene Wurf ist ein Zeichen für das Gelingen dieser Initiation. Dieses erhabene Gefühl, das den Rausch des Spiels ausmacht, ist das einer totalen Komplizenschaft zwischen dem aleatorischen Spiel der Welt und dem Ihren, das Spiel einer Umkehrbarkeit zwischen der Welt und Ihnen, einer übernatürlichen Konsonanz zwischen Ihrer Option und der einer anderen Ordnung, auf die Sie keinerlei Einfluss haben, die Ihnen aber Zeichen zu geben scheint und die Ihnen mühelos zu gehorchen scheint. An diesem Punkt übernimmt die Welt die ganze Verantwortung für das Spiel. Die Welt wird zum Spieler, der Spieler wird zur Welt.« (Baudrillard 2000: 121) Es geht dabei um das Vertrauen auf den Zufall, die Hoffnung auf den Gewinn und das Kennen- und Spielenlernen der Regeln der natürlichen Prozesse. Dabei weist die in diesem Zitat angedeutete fundamentale Harmonie zwischen dem Subjekt und der Welt einmal mehr auf den gemeinsamen Ursprung der Akzidentialität der natürlichen Ordnungen einerseits und der Erratizität der menschlichen Sinnsysteme andererseits hin, die in der Anerkennung des Chaotischen durch den Einzelnen im Einklang zu sein scheinen, da dieser die unberechenbare Außenwelt und seine eigene spielerische Innenwelt im Spiel kurzzuschließen vermag.

123

2005-09-20 17-08-48 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

FLORIAN MUNDHENKE

V. Fazit Man kann also innerhalb der philosophischen Denkmodelle eine allmähliche Öffnung zum Diskurs des Zufälligen und Chaotischen beobachten, die von Vorstellungen einer integrierenden Sinnhaftigkeit des Ganzen wegführen und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eine Autonomie und Emanzipation des menschlichen Subjekts in Bezug auf seine Handlungs- und Denkweisen zulassen. Mit dieser Anerkennungsbewegung des Akzidentiellen, mit der schrittweisen Möglichkeit einer Integration der zufällig erscheinenden Reste kommt es auch zu einem Bedeutungsgewinn für die inhärenten Kräfte dieser Abfälle, zur Negation von Ordnung und Konventionen zugunsten von radikaler Störung und Sinndestruktion sowie Herstellung von Anarchie und Neuordnung in Form einer Rückkehr des ausgegrenzten Erratischen und der einhergehenden Möglichkeit der Neuverkettung durch den Zufall. Dabei wird die Schließung durch soziale Faktoren sukzessive abgebaut: Umso weniger die Probleme der Menschen Ungewissheit und Unkenntnis sind, umso emanzipierter sie in ihren Denk- und Vorstellungsweisen sind und je bedrückender sie die entkoppelten und sie fremdbestimmenden Vermittlungsinstanzen empfinden, desto mehr hoffen und setzen sie auf die konstruktive und Neues ermöglichende Kraft des Zufälligen. Dabei erhält die Kultur, die zunächst als zufallsfeindliche, integrierende Instanz gesetzt wurde, die Aufgabe, das Akzidentielle auch als konstruktive Macht (wieder) anzuerkennen und ihre starren Regulierungsprozesse allmählich zu flexibilisieren. Auch die Übereinstimmung zwischen dem zufälligen Charakter der Umwelt, den erratischen Denk- und Kreationsmustern sowie den indeterministischen Gehirnprozessen, entspricht dieser Entdeckung einer Pluralität durch Akzidienz und den damit verbundenen neuen Aussichten: Dynamik und Weiterentwicklung erscheinen letztlich nur möglich durch ein Vertrauen auf das Noch-Unbekannte, ein Hoffen auf das ›terra incognita‹ des Denkens, Schaffens wie Aktualisierens von Virtuellem. Kulturelles Wachstum, Umweltaneineignung wie Selbstkonstitution rechnen mit dem Chaos und verwenden es als schöpferischen Lebensimpuls. Die zunächst explizierte Vorstellung einer Grenze der Bedeutung und kulturellen Sinnproduktion, die sich langsam in Richtung auf das Unassimilierte, Zufällige verschiebt, wurde durch die diskutierten Ansätze allmählich relativiert, da sich zeigte, dass das Chaotische und Unorganisierte gleichermaßen auf beiden Seiten dieser Grenze zu finden ist und sich zunehmend in Vermischung mit den sinnhaften, wissenschaftlichen, phi124

2005-09-20 17-08-49 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

DER ZUFALL ALS KATEGORIE DER KULTURELLEN BEDEUTUNGSPRODUKTION

losophischen und sozialen Konstruktions- und Distinktionsfaktoren befindet. Eine rigide Aufteilung in eine sinnvolle Ordnung auf der einen und die unintegrierbaren Reste auf der anderen Seite ist damit obsolet geworden.

Literatur Balke, Friedrich (1999): »Den Zufall denken. Das Problem der Aleatorik in der zeitgenössischen französischen Philosophie«. In: Gendolla, Peter, Thomas Kamphusmann (Hg.): Die Künste des Zufalls. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 48-76. Baudrillard, Jean (1983): »Das Fatale oder der umkehrbare Lauf der Dinge«. In: Ders.: Lasst’ euch nicht verführen! Berlin: Merve, S. 73-108. Baudrillard, Jean (1990): Die Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin: Merve. Baudrillard, Jean (2000): Der unmögliche Tausch. Berlin: Merve. Deleuze, Gilles (1993) : Logik des Sinns. Reihe ›Aesthetica‹. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1997): Differenz und Wiederholung. München: Wilhelm Fink Verlag. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1996): Was ist Philosophie? Frankfurt/Main: Suhrkamp. Jäger, Christian (1997): Gilles Deleuze. Eine Einführung. München: Wilhelm Fink Verlag. Lem, Stanislaw (1986a): Philosophie des Zufalls. Zur einer empirischen Theorie der Literatur. Band 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Lem, Stanislaw (1986b): Philosophie des Zufalls. Zur einer empirischen Theorie der Literatur. Band 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Schopenhauer, Arthur (1986): »Transzendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Band IV: Parerga und Paralipomena 1, S. 243-272.

125

2005-09-20 17-08-49 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 101-125) T02_06 mundhenke.p 95224308774

2005-09-20 17-08-50 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 126

) vakat 126.p 95224308910

Reste sammeln

2005-09-20 17-08-50 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 127

) T03_00 respekt 3.p 95224309006

2005-09-20 17-08-51 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 128

) vakat 128.p 95224309094

RESTE DER STADT: GORDON MATTA-CLARK UND DIE WIRTSCHAFTSKRISE

Reste der Stadt: Gordon Matta-Clark und die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre Philip Ursprung

Von heutiger, europäischer Warte aus erscheinen die 1950er und 1960er Jahre in den USA als Zeit ungehemmten Wachstums. Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Politik und Gesellschaft befanden sich in einer Phase der fortwährenden Expansion. Reste, so scheint es, hatten in der »Wohlstandsgesellschaft« wie der Ökonom John Kenneth Galbraith sie nannte (vgl. Galbraith 1958), keinen Platz. Es gab nur Produktion, Neuerung, Wachstum. »New Frontiers« hieß das Schlagwort, das John F. Kennedy Anfang der 1960er Jahre prägte. Die Autos waren nach Jahrgängen benannt, und die Lebensdauer der Konsumgüter war lediglich wegen der »planned obsolesence« beschränkt. Die Künstler bemühten sich, mit der Dynamik des Fortschritts schrittzuhalten. Die Skulpturen der Minimal Art besetzten das Terrain als Monumente schierer Größe. Um der explodierenden Nachfrage zu entsprechen, delegierten Künstler wie Donald Judd den Prozess der Produktion an Manufakturen und kleine industrielle Betriebe. Die Protagonisten der Land Art, etwa Michael Heizer oder Robert Smithson, markierten schließlich gegen Ende der 1970er Jahre den Triumph der expandierenden Kunstwelt, indem sie die Räume der Museen und Galerien verließen, und noch die entlegensten Winkel der amerikanischen Wüsten künstlerisch artikulierten. Natürlich gab es innerhalb dieser Dynamik der Expansion auch Anwälte für die Überreste, den Abfall, das Unproduktive. Der PopKünstler Claes Oldenburg richtete den Blick zurück in die Zeit vor dem wirtschaftlichen Boom, in die Jahre seiner Kindheit in der Depressionszeit der 1930er Jahre. Seine Karriere hatte mit Happenings 129

2005-09-20 17-08-52 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

PHILIP URSPRUNG

begonnen, also ephemeren, theaterähnlichen Kunstaufführungen vor Publikum. Den Durchbruch erreichte er allerdings damit, dass er diese vergänglichen Aktionen in handfeste Plastiken aus Gips und Emaillefarbe verwandelte, die er in seinem »Store« 1961 ausstellte.1 Er schreibt dazu in seinen Notizen: »Restobjekte werden im Verlauf der Performance und während der WiederholungsPerformances geschaffen. […] Beim Aufsammeln nach einer Performance sorgfältig darauf achten, was weggeworfen werden kann und was auch unabhängig überlebt. Langsames Studium und Respekt für die kleinen Dinge.« (Oldenburg 1996: 143) Im Unterschied zum Diplomatensohn Oldenburg, welcher der amerikanischen Konsumgesellschaft gegenüber eine gewisse europäische Skepsis, ja Herablassung, nie ganz loswurde, war Andy Warhol als Sohn tschechischer Einwanderer in Pittsburgh mit den Facetten des Amerikanischen Traums von Kindsbeinen an vertraut. Er machte in den 1950er Jahren eine erfolgreiche Karriere als Werbegrafiker und baute eine bedeutende Kunstsammlung auf, bevor er sich ganz der Praxis als Künstler zuwandte. Er entwickelte Anfang der 1960er Jahre seine »Resteverwertungsphilosophie«, die darauf hinauslief, dass es auch für den Künstler ökonomischer sei, die Überreste der anderen zu verwerten und meinte; »Ich arbeite gern an Sachen, die irgendwie übriggeblieben und in Vergessenheit geraten sind. Für diese LEFTOVERS habe ich eine Vorliebe. Ich habe schon immer gedacht, dass hinter den beiseite gelegten Resten, die keiner mehr haben will, etwas Lustiges stecken könnte. Ein Leftover hat’s oft in sich – und ausserdem wird Arbeit wiederverwertet. Alles, was irgendwo übrig geblieben ist, hat irgendwie Witz.« (Warhol 1991: 93) Er bewegte sich ab Mitte der 1960er Jahre nie ohne sein Tonbandgerät, mit dem er alles aufnahm, was ihm begegnete. Sein Film »Empire« (1964), eine achtstündige Projektion des Empire State Building vom Einnachten bis zum Morgengrauen, montierte er aus den gesamten gedrehten Filmspulen, ohne Schnitt – auch hier ging es ihm darum, das Material restlos zu verwenden. Aber auch wenn Oldenburg und Warhol kein ›Restchen‹ verkommen ließen: Die Bedeutung der »Reste« entstand in ihrem Werk

1. Vgl. dazu Oldenburg (1967), »Store Days, Documents from The Store« (1961) and »Ray Gun Theater« (1962). 130

2005-09-20 17-08-52 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

RESTE DER STADT: GORDON MATTA-CLARK UND DIE WIRTSCHAFTSKRISE

einerseits durch den Kontrast zu der Ökonomie des Überflusses der Wohlstandsgesellschaft, andererseits in dem, was Arthur C. Danto mit »Verklärung des Gewöhnlichen« (vgl. Danto 1991) beschreibt: Also der genuin modernistischen Idee, dass die Kunst prädestiniert sei, das kapitalistische Ideal der Verwandlung vom Wertlosen zum Wertvollen darzustellen, ja selber zu verkörpern. Nach dieser Idee oblag der Kunst im 20. Jahrhundert die Aufgabe, die einst den Alchimisten übertragen worden war, nämlich die Verwandlung von Dreck zu Gold, beziehungsweise zu Kunst. Artikuliert wurde dies in Werken wie Marcel Duchamps Skulptur »Fountain« (1917) oder Piero Manzonis »Merda d’Artista« (1961), ein Multiple, das angeblich aus konservierten Künstlerexkrementen besteht, die damals zum Preis von Gold verkauft wurden. Anfang der 1970er Jahre ging die Phase unbeschränkten Wachstums in den USA zu Ende. Die »Grenzen des Wachstums«, so der in Deutschland ungemein erfolgreiche Titel des 1972 erschienenen Buchs des Systemtheoretikers Dennis Meadows, waren erreicht. Das Buch, das unter dem Originaltitel »Limits to Growth« erschien, war neben der damals einsetzenden Gesetzgebung für den Umweltschutz und der Gründung von Greenpeace nur ein Beispiel für die Sensibilität im Umgang mit Resten und Ressourcen (vgl. Meadows 1972). Zur selben Zeit erfuhr die amerikanische Öffentlichkeit den langsamen Zerfall ihrer einstigen Privilegien. Der Dollar verlor nach der Aufhebung der festen Wechselkurse Anfang der 1970er Jahre innerhalb weniger Jahre einen großen Teil seines früheren Wertes. Der Watergate-Skandal erschütterte das politische Selbstbewusstsein der USA. Und der verheerende Krieg in Vietnam spaltete die Bevölkerung im Inland. Diese Faktoren markierten den Beginn einer ökonomischen Rezession in den USA, welche die 1970er Jahre prägen sollte (vgl. Miller 1999). Nicht nur für die amerikanische Bevölkerung, sondern auch für die Kunstwelt hatte die »stagflation«, also die Verbindung von wirtschaftliche Stagnation und Inflation, Folgen – namentlich für diejenigen Künstler, die just um 1970 das Terrain der Kunstwelt betraten. Dieses Terrain war weitgehend besetzt. Künstler wie Andy Warhol, Robert Smithson und Donald Judd waren etabliert und bei den mächtigen Galerien wie Virginia Dwan und Leo Castelli unter Vertrag. Einer jüngeren Generation blieb, überspitzt gesagt, nichts anderes übrig, als sich mit den Resten zufrieden zu geben, mit denjenigen Stoffen und Verfahren, welche die Vorgänger übrig gelassen hatten. Die Generation, die Ende der 1950er Jahre und in den frühen 1960er Jahren das Parkett der Kunstwelt betreten hatte, ging avant131

2005-09-20 17-08-53 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

PHILIP URSPRUNG

gardistisch beziehungsweise neo-avantgardistisch mit ihren Vorgängern um. Emblematisch dafür ist Robert Rauschenbergs Zeichnung »Erased de Kooning« (1953). Es handelt sich um eine Zeichnung de Koonings, die Rauschenberg ausradierte. Indem Rauschenberg mit de Koonings Einverständnis eine von dessen Zeichnungen in mühseliger, anderthalb Monate dauernder Kleinarbeit auslöschte, beging er keinen wirklichen Ikonoklasmus, sondern ein Pastiche des künstlerischen Vatermordes. De Kooning hatte absichtlich eine mit Ölkreide und Tinte ausgeführte Zeichnung gewählt, die sich nicht vollständig ausradieren ließ.2 Dieses Vorgehen ist charakteristisch für die Historizität innerhalb der amerikanischen Kunst, also dafür, dass Kunst ihren Wert in der (konstruktiven) Kritik früherer Kunst erhält. Die jüngeren negierten ihre Vaterfiguren nicht, sondern sie kommentierten sie und bestätigten damit natürlich deren historischen Rang. Deleuze/Guattari bezeichnen dieses Vorgehen in ihrem Buch »Anti-Ödipus« ironisch als »ödipal nur zum Spass« (Deleuze/ Guattari 1974: 507). Ende der 1960er Jahre hatte sich diese Ausgangslage wegen des viel größeren Tempos, mit dem sich die Kunstwelt wandelte, geändert. Es gab keine Vaterfiguren im Sinne der Kunst der 1950er Jahre mehr, die von ihren Nachfolgern symbolisch entthront werden konnten, sondern allenfalls Konkurrenten, die um wenige Jahre älter waren. Diejenigen Künstler, die den Aufbruch Mitte der 1960er Jahre verpassten – beispielsweise weil sie noch gar nicht fertig studiert hatten – fanden sich nun in einer historischen Situation einer saturierten Kunstwelt, in der sie fast zwangsläufig die Ideen und Formen ihrer etablierten Kollegen rezyklieren mussten. Es waren fast ausschließlich männliche Künstler, zum Beispiel Vito Acconci, Chris Burden, William Wegman, Dennis Oppenheim, Bas Jan Alder, sowie – als Ausnahme eine weibliche Künstlerin – Adrian Piper, welche in jener Zeit vergleichbar vorgingen. Ihnen gemein ist, dass sie die eigene Person performativ in ihre Kunst einbringen und zwar ganz explizit als unbeholfene, teilweise komisch wirkende Anfänger, die mit bewusst unangemessenen Aktionen Aufmerksamkeit erregen möchten. Während die Protagonisten der Kunst der 1960er Jahre ihr Frühwerk fast ausnahmslos zerstörten oder verdrängten, inszeniert die neue Generation die eigene Arbeit selbstironisch als ein solches Frühwerk, beziehungsweise als betont

2. Robert Rauschenberg in einer mündlichen Mitteilung an Philip Ursprung, Zürich, 30. April 1999. 132

2005-09-20 17-08-53 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

RESTE DER STADT: GORDON MATTA-CLARK UND DIE WIRTSCHAFTSKRISE

naives, spielerisches, um Beifall heischendes Werk. Typisch dafür ist etwa Vito Acconcis »Broadjump« (1971), eine Performance, in der er demjenigen im Publikum, welcher weiter springen kann als er, eine seiner beiden Freundinnen als Belohnung anbietet. Oder Chris Burdens »747« (1973), eine Performance, in der er mit einer Pistole mehrere Schüsse auf einen startenden Jumbo Jet schießt, weil er, wie er meinte, sich am Boden zurück gelassen fühlte. Die Haltung von Gordon Matta-Clark (1943-1978), Sohn des surrealistischen Malers Roberto Matta, ist in mancher Hinsicht ebenfalls charakteristisch für die Künstler dieser Generation. Im Unterschied zu Kollegen wie Oppenheim, Acconci oder Burden ist seine Haltung allerdings weder ambivalent noch ironisch, sondern vielmehr pragmatisch zu nennen. Matta-Clark eignet sich als Gegenstand für die Reflexion zum Thema Reste aus mehreren Gründen. Erstens aus der Perspektive der Biographie, von wo aus wir ihn, überspitzt gesagt, als eine Art »Rest« des Œuvres seines weltberühmten Vaters auffassen können. Matta hatte ihn bereits in der Geburtsanzeige als ein ›Kunstwerk‹ inszeniert und ihn in die Arme von Alberto Giacomettis Statue »L’Objet inconnu« (1934) gelegt. Matta verließ zwar seine Frau Anne Clark und die beiden Zwillinge Gordon und Sebastian als diese erst drei Monate alt waren. Aber er blieb der Familie verbunden. Er bezahlte die Ausbildung der Söhne, entschied dass Gordon an der Cornell University Architektur studieren sollte und nahm sogar Einfluss auf die Entscheidung, wen sein Sohn, der 1978 unheilbar an Krebs erkrankt war, kurz vor seinem Tod heiraten sollte.3 Matta-Clark schloss sein Architekturstudium, unterbrochen durch einen einjährigen Aufenthalt an der Sorbonne in Paris ab. 1969, nach einem kurzen Praktikum in einem Büro für Städteplanung, entschloss er sich allerdings, nicht als Architekt, sondern als Künstler zu arbeiten. Man könnte spekulieren, dass der Sohn die Entscheidung der Vaters, die Architektur aufzugeben und zur Kunst zu wechseln, wiederholte – Roberto Matta, ebenfalls Architekt, hatte in den 1930er Jahren bei Le Corbusier gearbeitet und sich danach entschlossen, Maler zu werden. Ja, man könnte sogar spekulieren, dass der Sohn ein Stück modernistischer Kunstgeschichte noch einmal aufführte und quasi rezyklierte. Sobald sein Entschluss feststand, Künstler zu werden, änderte er

3. Gwendolyn Owens in einer mündliche Mitteilung an Philip Ursprung, Juni 2004. 133

2005-09-20 17-08-53 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

PHILIP URSPRUNG

seinen Namen von Gordon Matta zu Matta-Clark. Mit dem Vater wollte er nicht verwechselt werden, aber er wollte auch nicht auf den Namen des großen Surrealisten verzichten, der ihm die Türen der Kunstwelt öffnete. Zurück aus Cornell in New York, wo er mitten in der Kunstwelt aufgewachsen war – Marcel und Teeny Duchamp waren Nachbarn, Teeny Duchamp seine Patentante – holte er tief Luft und kündigte seine Karriere pünktlich zu Beginn des neuen Jahrzehnts an. Er führte sich auf wie ein gelehriger Schüler, der den Grundkurs des Modernismus beherrschte – die Periodizität. Anfang 1970 verschickte er als Weihnachtsgrüsse an wichtige Figuren des Kunstbetriebs Fotos von Weihnachtsbäumen, die er gebraten und mit Goldfolie beträufelt hatte. Am 1. Januar 1971 beschloss er, im Ausstellungsraum 112 Greene Street nicht in der Galerie auszustellen, sondern ein Loch im Keller zu graben, um die Fundamente des Gebäudes freizulegen. Dieser Plan konnte jedoch, wie er einräumte, nicht ausgeführt werden, ohne die Bewohner zu gefährden. Statt die Fundamente freizulegen, pflanzte er einen Kirschbaum. Er säte Grassamen auf den Aushub und vergrub, als der Baum im Frühling einging, ein Symbol von dessen Frucht, nämlich ein Glas Marmelade wie eine Zeitkapsel. Das Werk taufte er »Time Well«. Er eignete sich damit ein weiteres modernistisches Stereotyp an, nämlich das Thema des Anfangs, des Wachstums und des natürlichen Zyklus‘. Matta-Clark begann auch das nächste Jahr pünktlich. Nachdem seine Haare ein Jahr lang wuchsen, ließ er sie für die Performance »Hair« am 1. Januar 1972 abschneiden. Um auch als angepasster Künstler später jederzeit auf den Zustand des Bohèmien rekurrieren zu können, wurde dabei jede Strähne im Hinblick auf die Herstellung einer Perücke etikettiert. Matta-Clark imitierte und rezyklierte Prinzipien des Modernismus – und führte diese damit ad absurdum. Es ging also, wie gesagt, nicht darum, Reste aufzuwerten, sie zu Kunst zu veredeln. Es ging vielmehr darum, diese Reste als symbolische Stoffe für das Verdrängte, Unterdrückte, Ausgeschlossene darzustellen. Sein mimetischer Akt beschränkte sich nicht nur auf die Imitation der modernistischen Bedeutungsökonomie. Er imitierte auch verschiedene Verfahren der kapitalistischen Wirtschaft, von den Kniffen der Kleinunternehmer bis zu den Schachzügen der Immobilienspekulanten. Anlässlich des Earth Days, am 22. April 1970, errichtete er aus Müll seine »Garbage Wall«. Müll wurde mittels Gips in eine Form gegossen, die als Kulisse für eine Performance diente. Nach Abschluss der Performance warf Matta-Clark das Material in eine Mulde. 134

2005-09-20 17-08-54 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

RESTE DER STADT: GORDON MATTA-CLARK UND DIE WIRTSCHAFTSKRISE

Abbildung 1: Gordon Matta-Clark, Food, Künstlerrestaurant, New York, 1971-1974, Aufnahme vor dem Restaurant, 1971. Die Aktion »Food« (1971 bis 1974) bestand darin, dass er zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ein Künstlerrestaurant führte, wo 135

2005-09-22 11-44-58 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 021495377731432|(S. 129-143) T03_07 urspung.p - Seite 135 95377732006

PHILIP URSPRUNG

Künstler kochen und essen konnten. Auch bei dieser Aktion verwertete er, wenn man so will, jeden Rest. Nach dem Bankrott von »Food« zersägte er den Innenraum und stellte Fragmente davon als Skulpturen aus. Er publizierte eine Abrechnung in der Kunstzeitschrift »Avalanche«. Im Unterschied zu Oldenburgs Abrechnung des »Store«, die er in seinem Buch »Store Days« publizierte, ist MattaClarks Abrechnung allerdings offensichtlich fingiert. Formal ist es eine Anspielung – und abermals eine Wiederverwertung – von Formen der Conceptual Art. In »Reality Properties: Fake Estates« (1973) erwarb er bei Versteigerungen für geringe Summen Reststücke von Land, welche New York von säumigen Steuerzahlern übernommen hatte, die aber wegen ihrer isolierten Lage und ihren Dimensionen praktisch wertlos waren. Die Käufer der Kunstwerke erhielten das jeweilige Grundstück, den Plan, sowie eine Fotografie. Sie durften hoffe, am Mehrwert der Kunst zu partizipieren. Sie luden sich aber zugleich eine kleine Hypothek als Grundbesitzer auf, die selbst dann für die Reinigung und Sicherung ihres Terrains verantwortlich sind, wenn dieses unzugänglich ist (vgl. Lee 2000: 56-112, Kap, »Improper Objects of Modernity«; Walker 2005).

Abbildung 2: Gordon Matta-Clark, Reality Properties Fake Estates, Collage, 1973.

136

2005-09-22 11-45-00 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 021495377731432|(S. 129-143) T03_07 urspung.p - Seite 136 95377732014

RESTE DER STADT: GORDON MATTA-CLARK UND DIE WIRTSCHAFTSKRISE

Matta-Clark imitierte auch das Prozedere des Abbruchs. Für die »Bronx Floors« (1972) zog er in unbewohnte Häuser in der Bronx, wo er mit einer Kettensäge, zusammen mit einem Assistenten, große Teile von Wänden und Böden heraussägte. Er fotografierte die Eingriffe und stellte die Relikte als autonome Skulpturen aus. Für sein berühmtestes Werk, »Splitting« (1974), zersägte er mit einer Motorsäge ein Haus aus den 1930er Jahren und kippte die eine Hälfte um einige Grad ab, indem er das Fundament schräg herausbrach. Matta-Clark hatte Mitte der 1970er Jahre den internationalen Durchbruch geschafft. Namentlich die Bilder der zersägten Häuser machten ihn berühmt. Es ist allerdings ein Missverständnis, anzunehmen, dass er sich prinzipiell dem Todgeweihten widmete und sich grundsätzlich der vom Abriss bedrohten Häuser, eben der Reste, annahm. Mehrmals betonte er, dass er lieber neue Bauten zerschnitten hätte, und dass er vorhatte, die Eingriffe permanent zu erhalten. Als er 1975 eingeladen war, an der Pariser Biennale teilzunehmen, schlug er vor, das eben errichtete Centre Georges Pompidou zu zersägen. Dies wurde nicht bewilligt. Er erhielt stattdessen für seine Intervention zwei Häuser aus dem späten 18. Jahrhundert, die dem Neubau weichen mussten. In »Conical Intersect« schnitt er eine konische Öffnung in die Häuser, von denen aus sich der Blick auf die Strasse öffnete und durch die hindurch die Passanten umgekehrt den Blick auf das herannahende Centre wie durch ein Teleskop werfen konnten. Als er ein Jahr darauf eine Einladung nach Berlin annahm, schlug er vor, die Berliner Mauer zu zersägen. Auch dieser Plan war natürlich nicht durchführbar, und so bemalte er sie, die er ironisch als Höhepunkt der Bauhausarchitektur bezeichnete, mit dem Siegel »Made in USA«. Allerdings ist trotz seiner Bemühungen, sowie diejenigen seiner Freunde nach seinem Tod, kein Gebäude erhalten geblieben. Somit stehen auch die Historiographen von Matta-Clarks Kunst vor dem Problem, dass sie mit Resten und Fragmenten operieren müssen. Das Haus, in dem »Splitting« durchgeführt wurde, war ein Spekulationsobjekt seines Galeristen und wurde noch im selben Jahr abgerissen, um einem Neubau Platz zu machen. Erhalten sind die vier Ecken, als skulpturale Installation; außerdem zahlreiche Fotografien, Fotocollagen und ein Film, welche die Aktion dokumentieren und welche sich als autonome Kunstwerke in öffentlichen und privaten Sammlungen befinden. Ohne die Berichte von Matta-Clark selber sowie den wenigen Zeugen, die damals mit einem Bus zur Vernissage nach Englewood, New Jersey, gefahren 137

2005-09-20 17-08-59 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

PHILIP URSPRUNG

sind, wäre das Werk unvollständig. Oder besser: Für die Historiographie lässt sich zwischen der Produktion und der Rezeption, der Intention des Künstlers und der Interpretation durch Kritiker, Kollegen und Historiographen im Falle von performativen Werken noch schwerer unterschieden, als bei objekthaften Kunstwerken. Es gehört zu den genuinen Eigenschaften der seit den 1950er Jahren blühenden zeitbasierten Kunstformen, Happening, Performance und Body Art, die ihrerseits auf avantgardistische Kunstformen wie das ballet mécanique zurückgeführt werden können, dass das Werk der Ort ist, wo sich diverse Ebenen der Repräsentation treffen. Dass die Medien ephemer sind, dass die Kunstwerke als Handlungen nur kurze Zeit dauern, muss für die Kunstwerke selber kein Nachteil sein. Im Gegenteil, gerade der ephemere Charakter der Performance ruft zur historiographischen Nacherzählung auf. Die Performances sind untrennbar mit den Wieder- und Nacherzählungen verwoben. Die fragmentarische Fixierung im Medium der Fotografie und teilweise des Films oder Videos ist von Anfang an eine Bedingung ihrer Existenz. Matta-Clark war sich bald bewusst, dass die wachsende Nachfrage der Kunstwelt nach spektakulären Zersägungen von Gebäuden dazu führen würde, dass er sich zu wiederholen begann. Als Ausweg aus dem drohenden Dilemma, mit dem Akt des Häuserzersägens einem Formalismus zu verfallen, setzte er von Anfang an auf Filme. Er produzierte insgesamt 19 Filme und Videos. Einer der umfangreichsten und komplexesten ist der 1976 produzierte, 30-minütige 16-mm-Film »Substrait (Undergrund Dailies)«. Zusammen mit einigen Gefährten und jeweils unterschiedlichen Führern untersucht er in sechs Exkursionen obsolete Räume, die unterhalb der Metropole Manhattan liegen. Er besucht aufgegebene U-Bahn-Tunnels, nicht mehr benutzte Wasserstollen, Lagerräume unter einer Kirche sowie die Infrastrukturen der Grand Central Station. Die Sequenzen wurden jeweils an einem Tag gedreht, dann einzeln, tagebuchartig in einer Galerie präsentiert und später, anscheinend erst nach seinem Tod, zu einem Film montiert.4 Die Zuschauer können ihm auf diesen Reisen in die Unterwelt folgen und

4. Jane Crawford, die Witwe Matta-Clarks, betont, dass sie als Tonfrau bei einigen der Exkursionen mitgewirkt habe. Ihren Angaben zu Folge hat Matta-Clark selber die Filmsequenzen montiert, allerdings nur notdürftig. Sie selber habe die Montage fertig gestellt. Jane Crawford, mündliche Mitteilung an Philip Ursprung, Mai 2003. 138

2005-09-20 17-08-59 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

RESTE DER STADT: GORDON MATTA-CLARK UND DIE WIRTSCHAFTSKRISE

die Faszination für das Vergessene, das Verdrängte, teilen. Eine der Sequenzen führt in die Unterwelt unter Grand Central Station. Als Tonspur läuft das Telefongespräch, das Matta-Clark mit einer Beamtin führte, die ihn abzuwimmeln versucht und ihm erklärt, dass für diese Art von Besichtigungen keine Bewilligung erhältlich sei. Die Reise in die Unterwelt wurde zugleich zu einer Reise durch die Geschichte der Stadt, zu einer, wie er meinte »lebendigen Archäologie«5. Woher rührt die Faszination, die Matta-Clark bis heute – und heute mehr denn je – auf Architekten und Künstler, auf Architekturhistoriker wie auf Kunsthistoriker ausübt? Was macht heute seine Aktualität aus, und wie können wir dies in Zusammenhang mit der Thematik der Reste bringen? Matta-Clark, so meine Hypothese, rührte an den Grundfesten zweier zentraler Pfeiler der modernistischen und postmodernistischen Werteökonomie, nämlich einerseits der Autonomie, andererseits der Historizität. Er operiert nicht innerhalb einer absoluten Bedeutungsökonomie, welche Reste zu etwas Wertvollem veredelt, raffiniert, konzentriert. Er teilt also nicht jene für die Moderne wie auch die Postmoderne grundlegende Vorstellung, dass eine Kontinuität von Werten bestehe und dass Rohstoffe und Kunstwerke, Produkte und Abfall quasi als verschiedene Aggregatszustände aufzufassen seien. Er teilt ebenfalls nicht jene Überzeugung, dass der Prozess der Werteumwandlung als solcher schon ästhetischen Genuss bereitet. Seine Haltung unterscheidet sich somit, wenn diese Hypothese trägt, radikal von derjenigen eines Marcel Duchamp – der ja diese Wertekontinuität über den gesamten Zeitraum des 20. Jahrhunderts gleichsam verkörpert. Er unterscheidet sich ebenso von der Haltung der Nouveaux Réalistes, etwa Daniel Spoerri, oder, in deren Nachfolge, Dieter Roth. Und er unterscheidet sich klar von den amerikanischen Pop Künstlern, welche die Verwandlung der Reste zu Kunst in einer Art durchspielen, welche der Werteökonomie der Alchimisten entspricht, die Dreck zu Gold verwandelt haben. Er imitiert und übertreibt diesen Prozess vielmehr, führt ihn ad absurdum – und macht dadurch den Kontext sichtbar, innerhalb

5. »I would like to underline that my treatment of this subject is strictly within the boundaries of History and Living Archeology.« Gordon Matta-Clark, Brief an James McCarthy, Department of Community Relations, MTA, 20. April 1976. Archiv Gordon Matta-Clark, Canadian Centre for Architecture, Montreal. 139

2005-09-20 17-09-00 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

PHILIP URSPRUNG

dessen er seine Bedeutung erhält. Die Ökonomie der Veredelung, der Prozess der Resteverwertung, ist für ihn keine Lösung des Problems, sondern ein Teil davon. Matta-Clark interessiert sich somit nicht für das Wesen der Kunst, sondern für deren Ort. Reste sind für ihn nicht als etwas vorübergehend Wertloses interessant, welches das Potential der Wertsteigerung enthält, sondern vielmehr als Indikatoren für Diskontinuität, Ausschließlichkeit, Unterdrückung und Verdrängung. In seinen Händen wird der Rest nicht zu Gold oder Kunst, sondern er macht den Kontext deutlich, aus dem er stammt. Wenn man will, kann man Matta-Clark ihn einer Tradition von realistischen Künstlern sehen, die ihrer Umgebung den Spiegel vorhalten und denen die genaue Lokalisierung ihres Sujets wichtiger ist als deren Verklärung.

Abbildung 3: Fotografie von Donald Trump, Ausschnitt aus Business Week, 26. Mai 1975, S. 70. 140

2005-09-20 17-09-02 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

RESTE DER STADT: GORDON MATTA-CLARK UND DIE WIRTSCHAFTSKRISE

Und im Unterschied zu den meisten seiner Zeitgenossen unterwarf er sich dabei nicht dem modernistischen Autonomieanspruch von Kunst. Als ausgebildeter Architekt sowie als Künstler, der stets mit der Praxis des Bauens und Abreißens verbunden blieb, musste er sich seit jeher bewusst gewesen sein, wie illusorisch diese Autonomie ist. Seine Kunst zielte nicht so sehr auf die Reflexion der Mechanismen und Bedingungen von Kunst. Sie suggerierte vielmehr eine räumliche, zeitliche, ökonomische und emotionale Kontinuität zwischen dem, was innerhalb und außerhalb der Ausstellungsräume geschah. Als alerter Beobachter seiner Umgebung standen die Veränderungen, welche die Städte in den 1970er Jahren durchliefen, zweifellos im Zentrum seiner Aufmerksamkeit.6 Indem er mittels seiner Performances die Prozeduren der Immobilienspekulation imitierte, artikulierte er die Rohheit der »gentrification«, den brutalen Prozess der Werteumwandlung, sowie die Schaffung von neuen Werten innerhalb von verlassenen Orten. Er legte außerdem seinen Finger auf einen Punkt, der seine Zeitgenossen verunsichert haben muss und der bis heute gerade Architekten berührt: Nämlich die Tatsache, dass sie unvorbereitet waren, mit der Veränderung der Stadt in der Phase der wirtschaftlichen Rezession in den 1970er Jahren umzugehen, mit dem finanziellen Ruin New Yorks, dem Wohnungsproblem, den sanitären Problemen, den Problemen der Ökologie. Sie waren nicht aktiv beteiligt, sondern waren gelähmte Beobachter eines Prozesses, der die Welt vor ihren Augen veränderte. Wie Hasen starrten sie beispielsweise auf Schlagen vom Schlage eines Donald Trumps. Trump betrat die Bühne 1975 als Immobilienspekulant.7 Mit dem Projekt, ein verlassenes Gleisfeld in ein neues Wohnprojekt zu verwandeln, also von den Resten des Booms zu profitieren, indem er diese günstig kaufte und teuer wiederverkaufte, legte er den Grundstein seines Imperiums. Im Sinne von Manfredo Tafuri, der in seinem 1973 erschienen, 1975 auf englisch und 1977 auf deutsch übersetzten Buch »Kapitalismus und Architektur« Piranesis Stiche als »epische Darstellung einer Schlacht, die die Architektur gegen sich selbst führt« in der Phase der frühen Aufklä-

6. Das Phänomen des Zerfalls der Städte war bereits in den 1960er Jahren ein virulentes Thema (vgl. Jacobs 1963; Blake 1964). 7. Vgl. die Beschreibung von Trumps Plan, ein ehemaliges Gleisfeld am Hudson in 30.000 Wohneinheiten umzuwandeln und sich diese Operation vom Staat und der Stadt finanzieren zu lassen. »Don Trumps’ real estate formula«. In: Business Week, May 26, 1975, S. 70. 141

2005-09-20 17-09-03 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

PHILIP URSPRUNG

rung, als das Rationale und das Irrationale sich nicht mehr gegenseitig ausschlossen (Tafuri 1977: 20, 22) liest, möchte ich deshalb Matta-Clarks Kunst als einen weiteren Kampf der Architektur gegen sich selber lesen, diesmal in der Phase ihrer großen Verwundbarkeit in den 1970er Jahren. Diese Zeit wurde und wird mangels anderer theoretischer Modelle als Zeit des endenden Modernismus bezeichnet. Matta-Clarks Kunst steht, so möchte ich behaupten, für ein verdrängtes Problem der architektonischen Kultur in den 1970er Jahren. Ich gehe von der Hypothese aus, dass Matta-Clark, vor allem aus architektonischer Perspektive gesehen, dieses Problem gleichsam verkörpert. Er bleibt bestehen wie ein unaufgelöster Rest, ein Phantomschmerz, wie ein Irrlicht, das keine Ruhe findet. Mit seinen Werken umriss Matta-Clark eine Zukunft, in der die scheinbar sicheren Werte der Kunst und Architektur seiner Zeit verpuffen würden. Aber er umriss zugleich einen möglichen Ausweg, er ließ einen Spalt offen, gerade genug, um etwas Licht hereinzulassen. Nämlich, indem er das Bewusstsein historischer Prozesse und historischer Räume reaktivierte. An den Relikten und Resten, die er sicherte, haftet stets auch ein Teil von Geschichte. Sie sind Indizien für einen historischen Raum, welcher durch die modernistische und postmodernistische Kunst in ihrer Fixierung auf die autonome Kunstgeschichte ebenfalls verdrängt wurde. Die Beschreibung dieser Räume, die von Künstlern wie Matta-Clark erst sichtbar gemacht wurden, gehört nach wie vor zu den Herausforderungen der Kunstgeschichtsschreibung.

Literatur »Don Trumps’ real estate formula«. In: Business Week, May 26, 1975, S. 70. Blake, Peter (1964): God’s Own Junkyard, The planned deterioration of America’s landscape, New York: Holt Rinehart and Winston.

Danto, Arthur C. (1991): Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/Main: Suhrkamp. (Englisch 1981, The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge, Mass.: Harvard University Press). Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1974): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Galbraith, John Kenneth (1958): The Affluent Society, Boston: Houghton Miffin Company. Jacobs, Jane (1963): Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Braunschweig: Vieweg. (Englisch zuerst 1961)

142

2005-09-20 17-09-03 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

RESTE DER STADT: GORDON MATTA-CLARK UND DIE WIRTSCHAFTSKRISE

Lee, Pamela (2000): Object to be destroyed, The work of Gordon Matta-Clark, Cambridge, Mass.: MIT Press.

Meadows, Dennis (1972): Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. (Englisch 1972, The Limits to Growth, New York: Universe Books.)

Miller, Sephen P. (1999): The Seventies Now, Culture as Surveillance, Durham: Duke University Press.

Oldenburg, Claes (1967): Store Days, Documents from The Store (1961) and Ray Gun Theater (1962), selected by Claes Oldenburg and Emmett Williams, New York: Something Else Press. Oldenburg, Claes (1996): Eine Anthologie, Bonn: Kunsthalle der Bundesrepublik Deutschland. Tafuri, Manfredo (1977): Kapitalismus und Architektur, Von Corbusiers ›Utopia‹ zur Trabantenstadt, Nikolaus Kuhnert/Juan Rodriguez-Lores, aus dem Italienischen von Thomas Bandholtz, Nikolaus Kuhnert und Juan RodriguezLores, Hamburg: Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung (Italienisch 1973, Progetto e Utopia, Bari: Laterza & Figli). Walker, Stephen (2005): »Gordon Matta-Clark: Drawing on Architecture«. In: Grey Room, vol. 18, Winter 2005, S. 109-131. Warhol, Andy (1991): Die Philosophie des Andy Warhol. Von A bis B und zurück, München: Knaur (Englisch 1995, The Philosophy of Andy Warhol from A to B and Back Again, New York: Harcourt Brace Jovanovich).

143

2005-09-20 17-09-03 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 129-143) T03_07 urspung.p 95224309182

2005-09-20 17-09-04 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 144

) vakat 144.p 95224309350

RESTE DER INDUSTRIE. UMWERTUNGSPROZESSE

Reste der Industrie. Umwertungsprozesse Susanne Hauser

Rest und Abfall Aufgegebene Industrieareale und -regionen sind Gebiete, die in vielerlei Hinsicht als Reste, als Überreste einer überwundenen Produktionsweise, als Abfall imaginiert werden. In den letzten Jahrzehnten sind an vielen Stellen Anstrengungen unternommen worden, die verbrauchten Gelände, oder auch großräumiger, die von ihrer Industrie verlassenen Regionen wieder aus der Rest- oder Abfallkategorie zu lösen und ihnen neuen Sinn, neue Zwecke und neue Brauchbarkeit zu geben. Die Planungen für alte Industriegelände und -regionen sind Versuche, aus dem Rest wieder eine Hauptsache zu machen. In Entwürfen der Architektur, der Stadt- und Landschaftsplanung, die Industriegebiete von Brachen und marginalisierten Nutzungen zu befreien suchen, finden sich aufwendige und experimentelle Umgangsweisen mit Obsoleszenzen aller Art. In keinem anderen Diskurs, in keiner anderen Praxis ist im Laufe der letzten Jahrzehnte eine solche Vielfalt von Fragen und einfallsreichen Antworten zum Umgang mit den unbrauchbar gewordenen Resten der Industriegesellschaft entstanden: Schließlich ist die Überwindung von Abfallimages eine wichtige Voraussetzung dafür, sie wieder in die Brauchbarkeit zu überführen. Entwürfe für den Umgang mit den Überresten der Industrie thematisieren umfassend die Beziehungen, in denen Ordnungen und ihre Reste konstituiert und aufgelöst werden. Sie sind befasst mit der Frage nach Nutzen und Liegenlassen, Funktionalität und Dysfunktionalität, Sinn- und Bedeutungsgebung, Ökonomie und Ökologie, Wahrnehmen und Nicht-Wahrnehmen, Bedeutungen von Materie, Material, Stoffen aller Art, Abschreiben und Wiederholen,

145

2005-09-20 17-09-05 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

SUSANNE HAUSER

Leben und Tod, Erinnern und Vergessen, Kultur und Natur, Integration, Ausschließen und Einschließen. An Beispielen des reflektierenden Diskurses wie der Praxis der Planung für unbrauchbare Reste der Industriegesellschaft lässt sich deshalb zeigen, auf welche Weise die Vorstellung von Ordnungen und Resten zur Debatte steht. Denn sie ist an Überlegungen zur Wiedernutzung von unbrauchbar gewordenen Arealen zum Gegenstand der Reflexion geworden. Planungen für alte Industrieareale und -regionen sind konkrete Beispiele von Verfahren, in denen die Auflösung und Befriedung obsoleter Momente realisiert werden soll. Entwürfe für diese Gelände können als Ergebnisse von Prozessen gelesen werden, in denen neuer Sinn und neue Kontexte für das bedeutungslos und unbrauchbar Gewordene erzeugt werden. Wie werden auf Industriebrachen Abfall und Ruinen transformiert? Welche Rolle spielen Prozesse, die im weitesten Sinne als ästhetische begriffen werden können? Welche Kontextualisierungen des Vorgefundenen finden statt, um aus etwas, das aus der Ordnung gefallen ist, einen neuen Gegenstand zu erzeugen? Wie transformieren sich Musealisierung, Denkmalschutz, Naturalisierung und Verlandschaftung im Prozeß ihrer Adaption für alte Industriegelände und -regionen? Und schließlich: Wie sehen die Modelle der Umwelt aus, in denen die neu erzeugten Gegenstände bestehen können?

Transformationen der Reste: Typologie Die Areale, um die es geht, sind Flächen, die nach dem Ende des Bergbaus oder dem eines verarbeitenden Gewerbes, etwa der Textilindustrie aufgegeben worden sind. Es handelt sich um Gelände, auf denen Rohstoffe abgebaut wurden oder industrielle Produktionsanlagen standen. Dazu kommen Gelände, die zur Unterstützung dieser Produktion vonnöten waren. Denn mit der Aufgabe der Produktion werden auch Einrichtungen und Flächen nutzlos, die der Erzeugung von Elektrizität, der Lagerung oder Bereitstellung von Gas und Wasser, dem damit zusammenhängenden Transport, der Lagerhaltung oder Wohnzwecken der Beschäftigten gedient haben. Es gibt keine national noch international verbindliche Definition von Industrie- oder Gewerbebrachflächen. Kriterien, nach denen Bearbeitungsverfahren und ihre öffentlichen Finanzierungen ausgerichtet werden, beziehen sich auf die Lage, etwa im Zentrum der Stadt, Vergiftungen und Gefährdungen der Umwelt, das Erscheinungsbild, Kosten der Aufarbeitung bis zu einer möglichen neuen 146

2005-09-20 17-09-06 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

RESTE DER INDUSTRIE. UMWERTUNGSPROZESSE

Nutzung, die Bedingungen, die Flora und Fauna bieten, auch auf die Frage, ob für die Wiedernutzung ein öffentlicher Handlungsbedarf gegeben ist, auch auf den Zeitraum, über den ein Grundstück nicht genutzt worden ist. Aufgegebene Industriegelände in diesem Sinne gab und gibt es in unüberschaubarer Zahl, nicht nur in den Ländern West- und Osteuropas oder Nordamerikas, sondern in allen Erdteilen. Sehr viel kleiner, doch ebenfalls unüberschaubar ist die Zahl der Revitalisierungsprojekte, die es mit den Resten aufnehmen, um sie in eine Wiedernutzung zu überführen. Die häufigsten Formen der Wiedernutzung sind unspektakulär und führen, meist ohne umfangreiche Planung, Instandsetzung und Konzeptentwicklung, zu weniger ertragreichen Verwendungen als den vorherigen. Dann werden nach Aufräumaktionen und geringen Umbauten Produktionsgebäude zu Lagerstätten für Waren und Rohstoffe, zu Sitzen von Getränkemärkten und Großhandelsfirmen. Grundstücke werden als Baugrund parzelliert oder dienen in ländlicheren Milieus als Weiden. Neben dem schlichten Verlassen ist dies wohl der häufigste Fall der Behandlung von Brachen. Das Ergebnis sind oft erkennbar Provisorien. Anschauungsbeispiele für Umnutzungen dieser Art bietet nahezu jede Stadt, jeder von traditionellen Industrien berührte Ort der alt-industrialisierten Länder. Veröffentlichungen über Revitalisierungsprojekte, die mit größerem Ehrgeiz und Einsatz betrieben worden sind, zeigen, dass es vor allem drei Strategien für die Reste gibt, die aufgegebene Gelände darstellen. Diese drei Herangehensweisen sind typisch und als Muster zu begreifen. Die erste Strategie zielt auf die erneute gewerbliche, zumindest aber gewinnbringende Nutzung des Gebietes. In fast allen Fällen besteht darin das zuerst verfolgte Ziel. Immer seltener ist es allerdings möglich, frühere Industrieareale erneut für industrielle Produktion zu nutzen, auch wenn öffentliche Unterstützung und Planungen dafür vorhanden sind. Weder der Platzbedarf der alten Industrien noch die Menge der Anlagen entsprechen heutigen Anforderungen. Häufiger sind seit den 70er Jahren, seit eine postindustrielle Gesellschaft denkbar wurde und die Dienstleistungsgesellschaft als neues Leitbild Gestalt annahm, andere Nutzungen. Prominentes neueres Beispiel in Deutschland ist die »Neue Mitte Oberhausen«, ein Einkaufs-, Vergnügungs- und Dienstleistungszentrum auf einem alten Hüttengelände. Dieses Zentrum verbindet drei Funktionen und Konzepte, die auch einzeln für die wirtschaftliche Entwicklung von früheren Industriearealen genutzt worden sind. 147

2005-09-20 17-09-06 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

SUSANNE HAUSER

Weitere Entwicklungen, die hier zu subsumieren wären, sind der Aufbau von forschungs- und entwicklungsintensiven Technologiezentren wie in den »Technopôles« Frankreichs und die Technologieund Gründerzentren, die in vielen deutschen Städten entstanden sind. Ein markantes und international bekanntes Beispiel anderer Art ist die Entwicklung der Londoner Docklands zu einem neuen Geschäfts- und Bürostandort mit zahlreichen Wohnungen. Auch die Entwicklung neuer Wohnstadtteile durch private Entwicklungsgesellschaften mit staatlicher Unterstützung ist hier zu rubrizieren, etwa der Ausbau der Java-Insel in Amsterdam, oder der des alten Hafengebietes »Kop van Zuid« in Rotterdam, das Teil eines neuen Stadtzentrums mit Administrationen, Büros und Wohnungen geworden ist. Charakteristisch für diese Entwicklungen ist, dass Investitionen größeren Ausmaßes mit dem direkten Ziel der wirtschaftlichen Restrukturierung getätigt werden und dabei mit Erfolg gerechnet wird. Eingriffe in das Bestehende verändern das Gelände oder Gebiet stark. Häufig ist das Vergessen der industriellen Vernutzung wie der Geschichte von Arbeit und Industrie ein explizites Ziel. Die Betonung liegt auf dem Neuanfang, ohne Reste und Abfälle sowieso, oft auch ohne Erinnerung. Diese Strategie überbaut das Alte und führt Imagekampagnen gegen seine Reste. Sie sucht einen alten Industriestandort unmittelbar in einen neuen, postindustriellen Wirtschaftsstandort der immer noch erwarteten Dienstleistungsgesellschaft zu transformieren. Einen Sonderfall stellt hier die Überbauung eines weiträumigen Gebietes im alten Industriehafen von Bilbao mit einem spektakulären Museum Frank Gehrys dar, das einen Teil der GuggenheimSammlungen aufnimmt. In diesem Falle dient die alte Industrieumgebung als pittoreske Kulisse für ein neues Museum, das die Stadt zu einem Ziel des Tourismus machen soll, ein Programm, das unmittelbar eine neue Industrie zu erschließen sucht, aber die alte als Staffage braucht. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass diese Strategie nicht in der Lage sein wird, Bilbao insgesamt eine neue wirtschaftliche Perspektive zu geben. Eine zweite Strategie stellt die Vergangenheit des Grundstückes oder Gebietes in ihr Zentrum. Sie setzt auf Unterschutzstellung, Denkmalschutz und außerdem auf die teilweise oder völlige Musealisierung, auf die Bewahrung von Bauwerken, von oberirdischen wie unterirdischen Anlagen der Produktion, von Hochöfen, Fördertürmen und Kohleschächten, und sucht möglichst auch die technische Ausstattung des Betriebes oder der Betriebe zu erhalten, die sich auf 148

2005-09-20 17-09-06 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

RESTE DER INDUSTRIE. UMWERTUNGSPROZESSE

dem aufgegebenen Areal befinden. Aktivitäten, die normalerweise mit dieser Strategie verbunden sind, sind Ausstellungstätigkeit, die Anlage und der Aufbau von Sammlungen sowie Dokumentationswie Archivarbeiten, die sich auf die Vergangenheit des Geländes beziehen. Typische Beispiele für diese Strategie sind Industriemuseen. Dazu gehört beispielsweise das Bergbaumuseum in Bochum, das bereits in den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts gegründet worden ist und dessen Wahrzeichen ein dislozierter Förderturm ist. Das wohl international bekannteste Museum dieser Art ist wohl das über mehrere Gemeinden sich erstreckende Gebiet »Ironbridge« in der Nähe von Shrewsbury in England, das ein frühes Zentrum der Industriearchäologie ist. Ebenfalls zu nennen wären hier das zum National Park ausgebaute ehemalige Textilzentrum »Lowell« in Massachusetts, die Anlagen von »Bergslagen« in Schweden. Auch die an früheren Industriestandorten entwickelten Écomusées Frankreichs und Walloniens folgen dieser Strategie. »Le Creusot«, »FourmisTrélon« in Frankreich, »Bois-du-Luc« in Belgien sind heute größtenteils musealisiert. Einigen Industrieanlagen ist insofern besondere Aufmerksamkeit und besonderer Schutz zuteil geworden, als sie in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen worden sind wie Ironbridge (1986), die »Völklinger Hütte« im Saarland (1995) oder (2001) der von Fritz Schupp und Martin Kremmer entworfene »Schacht 12« der Zeche Zollverein in Essen. Ebenso dieser Gruppe zuzurechnen sind Erhaltungsversuche von einzelnen Landmarken, dem Gasometer Oberhausens im Ruhrgebiet, Fördertürmen in neuen Einkaufszentren wie in Liévin, Nord – Pas de Calais, außer Gebrauch genommenen Wassertürmen in nahezu allen früheren Industrieregionen Europas. Dazu gehören auch Nutzungen, die Industriegelände als relativ preiswerte Orte für künstlerische Aktivitäten bewahren wie das beispielsweise über mehrere Jahre in der »Westergas-Fabriek« in Amsterdam der Fall war. Diese Strategie hat den Erhalt von ansonsten verlorenen und aufgegebenen Dingen und Bauten als primäres Ziel und ist oft mit dem Anspruch einer touristischen Nutzung verbunden. Gewinnerzielung kann beabsichtigt sein, ist aber oft unrealistisch. Projekte, die dieser Strategie folgen, beginnen und definieren sich häufig über künstlerische Aktionen, industriearchäologisches oder technikhistorisches Interesse und setzen sich mit einer Finanzierung über Spenden, Stiftungen und ehrenamtliche Arbeit fort. Sie sind und bleiben oft von öffentlichen Finanzierungen abhängig, auch wenn sie touris149

2005-09-20 17-09-07 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

SUSANNE HAUSER

tische Anziehungspunkte werden und zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Region beitragen, indem sie diese zum anerkannten Ziel eines ›Kulturtourismus‹ machen. Die dritte Strategie wendet sich weder vordergründig der wirtschaftlichen Zukunft, noch dem Erhalt materieller Anhaltspunkte für die Geschichte des Ortes zu, sondern richtet die Anstrengungen auf ›grüne‹ Lösungen verschiedener Qualität. Die Verfahren reichen von der völligen Umgestaltung des Geländes durch Parkanlagen oder Gartenschauen mit Freizeiteinrichtungen bis hin zu Begrünungen oder Bewaldungen ohne genau definierte Nutzungsansprüche, von Entwürfen, die übriggelassene Strukturen und neu entstandene Biotope integrieren, bis hin zu rein konzeptuellen Umdeutungen, die das Vorgefundene als ›neue Natur‹ verstehen. Zu dieser Gruppe gehören auch Strategien, die sich aus der Perspektive des Naturschutzes mit alten Industriegeländen befassen und Sekundärbiotope zu erhalten suchen, die auf Industriebrachen entstanden sind, auch Unternehmungen, die Teile von alten Industriegeländen zur neuen Wildnis, zum neuen Industriewald erklären. Beispiele für die Entstehung eines völlig neuen Parks auf altem Industriegelände sind der »Parc André Citroën« in Paris, in dem nur noch der Name an die frühere Automobilproduktion erinnert, der »Parc de la Villette« in Paris auf dem Gelände des alten Schlachthofes oder, mit einem ganz anderen Konzept, der »Peoples Park« in Liverpool, der auf einer städtischen Müllhalde liegt. Weiträumige Grüngebiete mit wenig definierten Nutzungsansprüchen sind die sich über mehrere Quadratkilometer erstreckenden Gebiete um Wigan bei Manchester, die teilweise als Vogelschutzgebiete ausgewiesen sind. Sie bedecken heute ein ehemaliges Industriegebiet, das Gebiet Englands, das vor fünfzig Jahren den höchsten Prozentsatz an vergiftetem, unbrauchbarem und zu behandelndem Land aufwies und auch heute noch einen leichten Geruch nach Koks verströmt. Auch die Wiederverwaldungen größerer Areale, die zuerst im Gebiet der »Internationalen Bauausstellung Emscher Park« im Ruhrgebiet wichtiger Teil der Entwicklungsstrategie geworden sind, folgen diesem Muster. Andere Gelände werden ›naturalisiert‹ und allenfalls gärtnerischer Pflege überantwortet, indem ihre Bauwerke und Strukturen unter dem Aspekt des Verfalls gesehen werden und als Ruinen in die Natur eingehen; so etwa im Landschaftspark Duisburg-Nord oder auf der Hafeninsel in Saarbrücken. Die Einbeziehung von Sekundärbiotopen und die Nutzung der Mittel des Naturschutzes mit dem Ziel, die Natur der Brache zu erhalten, findet sich beispielsweise in den River Valleys um Manchester realisiert. Mas150

2005-09-20 17-09-07 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

RESTE DER INDUSTRIE. UMWERTUNGSPROZESSE

sive Eingriffe, Befestigungen von Rändern und Flutungen, haben die Restlöcher des Braunkohletagebaus in der Lausitz im Osten Deutschlands hinter sich, die zu einer riesigen Seenlandschaft umgewandelt werden. Wenn das in diesem Falle äußerst kostspielige ›grüne‹ Projekt beendet sein wird, wird es die Gesamtfläche der deutschen Binnenseen um etwa 25 Prozent vergrößert haben. Die drei als typisch charakterisierten Strategien kommen in Reinform nicht vor: Planer und Planerinnen stützen sich heute auf eine Fülle von Überlegungen und Erfahrungen und integrieren, besonders seit den 80er Jahren, Momente aus allen drei Strategien in ihre Entwürfe, ob sie sich nun auf einzelne Grundstücke beziehen oder aber große Konzepte für ganze Region entwerfen.

Entdeckung und Vernichtung der Reste: Eine Chronologie Das jeweilige staatliche oder kommunale politische Interesse an der Bearbeitung alter Industrieareale hat sich zuerst in Reaktion auf Unglücksfälle, dann in Reaktion auf Landbedarf und auf strukturpolitische Ziele hergestellt. In England war der Auslöser öffentlichen Interesses an der Bearbeitung liegen gelassener Areale das Abrutschen einer Bergehalde in Wales, die 1966 eine Schule unter sich begrub, in Deutschland war es die Entdeckung der gesundheitlichen Folgen ›bewohnter Altlasten‹ wenige Jahre später. Flächenverbrauch und die Verhinderung von Abwanderungen aus deindustrialisierten Gebieten boten und bieten immer noch weitere Motive für öffentliches Engagement. Modelle für Gestaltungen sind heute wesentlich komplexer als in den Anfängen der Behandlung von altem Industrieland. Ziele und Visionen für alte Areale haben sich geändert. Die Schwerpunkte stimmen in den alt-industrialisierten Ländern weitgehend überein, wenn auch nicht die Zeitpunkte, zu denen sich bestimmte Probleme stellten oder als politisch relevant erachtet wurden. Für Deutschland bzw. die Bundesrepublik beispielsweise sind vier Phasen mit typischen Schwerpunkten in Planungen für ehemalige Industrieareale unterscheidbar. In der unmittelbaren Nachkriegszeit sind im Gegensatz beispielsweise zu Großbritannien kaum Industriebrachen entstanden. Entweder konnten aufgegebene Industriegelände gleich wieder für neue Produktionen umgebaut werden, oder die Produktionsanlagen wurden absichtlich aus Städten heraus verlegt, um anderen Funktionen – vornehmlich dem Wohnungsbau – Platz zu machen. Mit den ersten Krisenerscheinungen 151

2005-09-20 17-09-08 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

SUSANNE HAUSER

in Gebieten mit Textil- und Schwerindustrie entstehen Brachen in nennenswertem Umfang. So fallen zwischen 1958 und 1967, der Zeit des ›großen Zechensterbens‹, im Ruhrgebiet allein 1673 Hektar an stillgelegtem Zechengelände an, von denen 1979 erst knapp ein Drittel neu genutzt werden konnten. Dennoch bleibt die verfolgte Strategie zunächst die der weiteren Ausweisung der aufgegebenen Flächen als Gewerbe- und Industriegebiet, verbunden mit dem Versuch, neues Gewerbe auf den alten Betriebsflächen anzusiedeln: Die Idee, dass diese Reste bleiben und viele weitere dazu kommen werden, ist lange Zeit nicht denkbar und akzeptabel. In den 1970er Jahren werden Altlasten entdeckt und, etwa zeitgleich in allen industrialisierten Staaten, zum öffentlich diskutierten Thema. Die Gefährdung von Umwelt und Gesundheit wird nun mit produzierenden, aber eben auch alten Industrieanlagen in Zusammenhang gebracht. Ab Mitte der 1970er Jahre wird die Behandlung alter Industriegelände als spezifische Frage in Kommunen diskutiert und als eigener Gegenstand der Planung begriffen, denn hier wird ein Problem aufgedeckt und angesprochen, das die Vermarktung gebrauchter Flächen über das bisherige Maß hinaus erschwert. Es entstehen Pläne eigens für Industriebrachen, die der Spezifik der baulichen und ökologischen Struktur, auch den mittlerweile unübersehbaren sozialen Folgen des Industrie- und also auch Arbeitsplatzabbaus gerecht zu werden suchen. Die kommunalen Planungen und Entwürfe zielen nicht mehr nur auf industrielle, gewerbliche Wiedernutzung, sondern lassen jetzt auch andere Verwendungen zu. Umgesetzte Planungen dieser Zeit richten sich neben der weiteren Neuansiedlung von Gewerben auf die Nutzung von Brachflächen für Wohnbebauung im Sozialen Wohnungsbau, wie in den 1960er Jahren, dazu treten aber schon erste aufwendige Umbauten von ehemaligen Fabrikgebäuden für öffentliche Einrichtungen und für finanzstarke Wohnungssuchende. Manche Gelände werden auch nur gesichert und erst einmal aufgegeben. Überlegungen zur Musealisierung, zum Industriedenkmalschutz, in England schon seit den 1950er Jahren begonnen und in allen Industriestaaten gegen Ende der 1970er Jahre diskutiert, werden auch in Deutschland von Einzelnen rezipiert: Die Umwertung der Reste der Industriegesellschaft von Abfall in mögliches Kulturgut beginnt. Das Spektrum der angestrebten Nutzungen erweitert sich auf Nutzungen für Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie für Grünanlagen. Auffallend ist die durch Bürgerinitiativen und Alternativprojekte durchgesetzte Zunahme teils öffentlich geförderter, 152

2005-09-20 17-09-08 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

RESTE DER INDUSTRIE. UMWERTUNGSPROZESSE

oft sozialer Einrichtungen auf Brachland für als marginal betrachtete Gruppen. Es entstehen dort Begegnungshäuser, Kinder-, Jugend-, Frauenhäuser, Ausländerzentren und andere Orte der Alternativkultur. Zusätzlich wird Klein- und Kleinstgewerbe auf dem altem Industrieland angesiedelt. In den 80er Jahren nimmt die Zahl verfügbarer Industrieareale wie die Zahl schwer zu beseitigender nutzloser Anlagen weiter zu. Eine 1985 veröffentlichte Umfrage unter bundesdeutschen Städten mit mindestens 50.000 Einwohnerinnen und Einwohner ergibt, dass zwei Drittel der befragten Städte Gewerbebrachen haben, ein Drittel eine deutliche Zunahme in den letzten fünf Jahren erlebte, ein weiteres Drittel erwartet eine Zunahme. Etwa zu diesem Zeitpunkt wird von Kommunen und planenden Institutionen mehrheitlich akzeptiert, dass die Brachen der Industrie ein eigenständiges und eigenartiges Restphänomen sind. Es richten sich aber Hoffnungen darauf, dass Brachen als Landreserve einen erwarteten weiteren Flächenverbrauch eindämmen können. Fünf Schwerpunkte bilden sich in den 1980er Jahren im Umgang mit Industriebrachen aus: Sanierungen und Wohnungsbau werden unter Nutzung von bestehenden Gebäuden, häufig im Hinblick auf eine zahlungsfähige Käuferschicht, vorgenommen. Denkmalschutz und Musealisierung von Industrieanlagen nehmen einen starken Aufschwung, die Ansiedlung von Ausstellungsgeländen oder anspruchsvollen Museen, nicht nur der Technik und Industrie, wird üblich. Die enormen Kapazitäten alter Industriehallen lösen darüber hinaus die Platzprobleme in den Magazinen einiger Museen, die sich nicht gleich auf Industriearealen ansiedeln. Alte Gewerbeflächen und -gebäude werden für neue Gewerbe umgebaut, wie beispielsweise für den ›Technologie- und Innovationspark Berlin‹. Öffentlich geförderte Arbeitsbeschaffungsprogramme werden mit Revitalisierung verbunden. Und es gibt eine Fülle von Planungen, die an Natur- und Umweltschutz orientiert sind und der Sanierung von Boden und Wasser, der Pflege von Flora und Fauna den Vorrang einräumen. Unterstützt wird dieser Zugang durch die Rezeption der Befunde der Stadtökologie, die seit den 1950er Jahren Erstaunliches aus städtischen und industriellen Gegenden zu berichten weiß: Ihr verdanken wir die Beschreibung der Artenvielfalt auf Bahngeländen, die Auffindung von salzliebenden Pflanzen am Fuß von alten Bergehalden wie die Beobachtung tropischer Vegetation in ihren teilweise über Jahrzehnte vor sich hinschwelenden oberen Teilen. Der Umstand, dass es Pflanzen gibt, die industrieverträglich sind, prägt sich ein, es ist sogar die Rede von industriophilen Pflanzen. 153

2005-09-20 17-09-08 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

SUSANNE HAUSER

Sanierungsprogramme entstehen, die auf die Ästhetik der Stadtund Industrienatur setzen. Es gibt definierte Rückzüge von besonders vergifteten Flächen. Mitte der 1990er Jahre setzt eine Umorientierung ein. Grund ist die Menge aufgegebener Gelände in teilweise exponierter stadträumlicher Lage im Osten Deutschlands. Beplant werden mehrere Industriebrachen, die inmitten von Städten liegen, mit dem Ziel, auf ihnen neue Zentren entstehen zu lassen. Angesichts von Zahl und Umfang der Brachen sowie im Hinblick auf die schwache wirtschaftliche Entwicklung und die damit einhergehenden Schrumpfungsprozesse der Städte und Orte setzt sich allmählich – und dann nicht nur im Osten Deutschlands – die Erkenntnis durch, dass viele Industriegelände und Konversionsflächen auf absehbare Zeit schlicht nicht gebraucht werden. Entwickelt hat sich seitdem eine neue Tendenz zu minimalen Eingriffen. Der Rekurs auf naturästhetisch inspirierte Lösungen hat sich verstärkt. Daneben entstehen große Umbaumaßnahmen, die aus Sicherungsgründen unabwendbar sind, wie etwa die Sicherung und Flutung der Restlöcher des Tagebaus, von denen bereits die Rede war. – Einschränkend ist zu dieser Chronologie natürlich anzumerken, dass es auch heute Vorgänge gibt, die nach dem vorgeschlagenen Zeitraster eher typisch für die erste, zweite oder dritte Phase wären.

Umweltmodelle Seit die Frage nach den Beziehungen zwischen Kultur und Natur, zwischen Natur und Gesellschaft unter dem Eindruck der irreversiblen Vernutzung der Lebensgrundlagen gestellt wird, häufen sich mehr oder weniger explizierte, wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche Modelle, nach denen die Beziehungen zwischen Gesellschaften, Kulturen und ihrer Produktionen einerseits und ihren Lebensgrundlagen andererseits beschrieben und gelebt werden. Auch Modelle, nach denen günstige Lebensbedingungen zu gestalten sind, sind in einer Pluralisierung begriffen. Heterogene Modelle von Umwelt konkurrieren. Wo alte Industrieareale transformiert worden sind, haben sie aufgrund ihres Zustandes die Konzepte von Natur und Kultur gleichermaßen auf die Probe gestellt. Die Konsequenz war, dass die Entwürfe, die in den 1980er und 1990er Jahren entstanden sind, oft neue Modelle von Umwelt erfunden haben. Sie haben konzeptionel-

154

2005-09-20 17-09-09 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

RESTE DER INDUSTRIE. UMWERTUNGSPROZESSE

le Grenzen und ästhetische Gewohnheiten in Frage gestellt, um neuen Sinn zu erzeugen und abgeschriebene Gelände als neue Gegenstände – des Gebrauchs, der Anschauung – zu konstituieren. Städtebauliche und landschaftsplanerische Entwürfe für alte Industrieareale artikulieren Entscheidungen darüber, wie unter den jeweils als gegeben angenommenen Umständen Lebensbedingungen für Menschen beschaffen sein sollen. Ihre Artikulationen in Gestaltungen und Bauten sind Ergebnisse gesellschaftlicher, kultureller und politischer Auseinandersetzungen. Die Entwürfe entsprechen als Ergebnisse von Auseinandersetzungen zwischen vielen mehr oder weniger wirksam durchgesetzten Interessen niemals allein einzelnen Interessen. In ihnen schlagen sich Ergebnisse von Auseinandersetzungen um Vorstellungen von Investoren, von Behörden und Städten nieder, sie folgen ästhetischen Stilen und reflektieren philosophische Entwicklungen. Ideen von historisch Interessierten wie von Umweltschützern und Stadtökologen gehen in sie ein. Planungen und damit auch die in ihnen artikulierten Umweltmodelle Ergebnisse komplexer Entscheidungsprozesse. Die erzeugten Gegenstände sind hybride Konstruktionen, lokale, soziale, technische, institutionelle, instrumentale und epistemische Dinge. Sie öffnen einen Raum der Repräsentation und erzeugen etwas, was danach als Reales für weitere Planungsprozesse verstanden und bedingend werden kann. Diese Erzeugung neuer konzeptueller Gegenstände ist gebunden an die Geschichte des Sinns und an ein Arsenal von Motiven, das erst die Möglichkeit der Erzeugung von neuem Sinn bietet. Planer und Planerinnen, die sich mit alten Industriearealen befassen, greifen auf ein Archiv verfügbarer Motive zurück, um dort Möglichkeiten der Neukontextualisierung und damit der Produktion von neuem Sinn für die alten Areale zu gewinnen. Sie beantworten die Frage, welches symbolische Material recycelt und umgeschrieben wird, damit aus Resten Material und Stoff für etwas anderes werden kann. Indem sie das tun, tragen sie zu diesem Archiv bei und schreiben es um. Die schließlich umgesetzten Planungen sind diejenigen, deren Analyse heute Aufschluss über die Modelle gibt, die die Gestaltung menschlicher Umwelten bestimmen. Konzeptionell sind die spannendsten Projekte diejenigen, für die keine unmittelbaren, allenfalls mittelbare Erfolgsaussichten in ökonomischer Hinsicht angenommen werden können, die also der oben beschriebenen zweiten und der dritten Strategie entsprechen. Denn diese Projekte sind es, die die spektakulärsten konzeptionellen An-

155

2005-09-20 17-09-09 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

SUSANNE HAUSER

strengungen erfordert haben. Hier vor allem sind die Strategien entwickelt und angepasst worden, die die Revision im Umgang mit Resten zeigen. An ihnen hat sich die Neubewertung und Ausweitung des ›kulturellen Erbes‹ vollzogen, zu dem wir heute mit großer Selbstverständlichkeit auch alte Industrieanlagen rechnen. An ihnen ist auch eine Revision dessen zustande gekommen, was wir als Natur bereit sind zu akzeptieren und als Landschaft zu goutieren wissen. Dass die Industrienatur einen eigenen Reiz hat und kein Unkraut ist, dass die Industrielandschaft eine Kulturlandschaft besonderer Art ist, die Schutz und Würdigung verdient, konnte in diesem Prozess der Erzeugung neuen Sinns für alte Reste erlernt werden. Man könnte fast vermuten, dass es keine Reste mehr gibt. Der Text ist eine Kurzfassung meines Buches Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale, Frankfurt/Main, New York: Campus, 2001.

156

2005-09-20 17-09-09 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 145-156) T03_08 hauser.p 95224309486

DAS MUSEUM UND DIE RESTE. VOM SAMMELN, BEWAHREN UND VOM ÜBRIGBLEIBEN

Das Museum und die Reste. Vom Sammeln, Bewahren und vom Übrigbleiben Ulrich Krempel

Das Museum sammelt. Es bringt Dinge zusammen, die in ihrem Zusammensein mehr Sinn machen als vereinzelt. Der Ursprung dieses Zusammentragens von Übriggebliebenem, von in der Gesellschaft existierenden Resten aller Arten von Wirklichkeit liegt in der Idee der Sinnhaftigkeit des Sammelns. Das Gesammelte wird im Museum mit verschiedenen Blicken betrachtet; solche sind der klassifizierende oder der biologische Blick, der historische oder kunsthistorische. Alle Arten dieser Blicke haben ihre Geschichte in den Sammlungen der Vergangenheit, und alle haben sie zu ausdifferenzierten Systemen musealer Präsentation von vorgefundenen Dingen, von Kunstwerken und Naturobjekten geführt, die im 19. Jahrhundert in Museen aller Art entwickelt wurden. Sammeln ist das Ergebnis von Welteroberung. Als die europäischen Seeleute auf der Suche nach neuen Ländern, Ressourcen und Reichtümern die Fläche Europas und die Scheibe der alten Welt verließen, um auf der Weltkugel voranzukommen, hatten sie die Eroberung von Dingen, Gegenständen, Ländern, Menschen und Reichtümern im Sinn. Die Situation des alten Europa erlaubte solche Ausflüge, ja machte sie dringend notwendig. Welteroberung hieß, sich in der Folge der Dinge zu bemächtigen, die in den neuen Territorien zu finden waren, nachdem die siegreichen europäischen Armeen abzogen. Die Sammlungen vieler europäischer Museen fußen auf den Restesammlungen in den besiegten Ländern Europas, Asiens, Afrikas, Amerikas. Damit die Welt begreifbar wurde, musste sie dringend klassifiziert werden, mussten die vorgefundenen Dinge unterschieden wer157

2005-09-20 17-09-10 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

ULRICH KREMPEL

den. Die erste grundsätzliche Unterscheidung der Dinge gründet auf dem Blick für das Kuriose und das Seltene, der in den Sammlungen der Wunderkammern mündete. Hier geschah zunächst die Klassifizierung der Dinge in solche, die den Bereichen der Raritas und Curiositas zugehörten. In diesen frühen naturwissenschaftlichen Sammlungen blieben solche gefundenen Objekte, Gegenstände aus den neuen Ländern der Welt, von Muscheln über Tiere bis hin zu den Produkten ferner Menschenstämme, Gegenstand der interessierten Betrachtung durch Laien; sie waren Mitbringsel von Reisen, Überbleibsel und Reste eines komplexen und langen, sinnvollen menschlichen Handelns, Gegenstände, in denen mehr erblickt werden konnte als das, was sie selber repräsentierten. Die Notwendigkeit einer umfassenden Welterkenntnis, die schließlich in der Ausbildung wissenschaftlicher Aneignung von Wirklichkeit mündete, machte im Ergebnis die Systematisierung von Weltbetrachtung notwendig. Der naturhistorische klassifizierende Blick auf die uns umgebende biologische Wirklichkeit führte zur Ausbildung von systematischen Wegen, Natur zu klassifizieren und zu kategorisieren. Die Wissenschaften entstehen so, mit ihnen das wissenschaftlich fundierte Museum. Der große Rest von Welt, der damals außerhalb der Wissenschaft lag, war eigentlich der, der Gesamtheit von Erkenntnis. Mit der Differenzierung der Betrachtung und der Ausarbeitung von Systemen, die sich in Schausystemen wieder finden ließen, wurde die Erklärbarkeit der Welt größer, ihre Verständlichkeit angestrebt, der enzyklopädische Blick allmählich einer, in dem die vorhandenen Reste, nämlich die weißen Flecken der erkenntnisfreien Bereiche der Wirklichkeit kleiner und kleiner wurden. Anders dagegen das Museum für die Künste, das Museum, das die Kunstwerke der Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft transportiert. Werner Schmalenbach, ein prominenter Museumsmann, hat einmal vom »Überleben der Kunst« im Museum gesprochen, das dem Leben der Kunst in Ausstellungen, Richtungsstreit, Manifesten und Kunstmarkt wie Kunstszene folgt.

Institution Museum

»Mnemosyne ist die Göttin der Erinnerung und des Gedächtnisses. Sie selbst erinnert sich an nichts. Erst als sie die Geliebte des Zeus ist und neun Nächte hindurch die

158

2005-09-20 17-09-11 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

DAS MUSEUM UND DIE RESTE. VOM SAMMELN, BEWAHREN UND VOM ÜBRIGBLEIBEN

neun Musen für Kunst und Wissenschaft gebiert, wird die Erinnerung zur tätigen schöpferischen Kraft.« (Katalog Wunderkammern des Abendlandes, 1994) Erinnerung und Erkenntnis durch Bewahrung und Entzeitlichung der Dinge: das ist die aktive Kraft, die das Ergebnis der Versammlung der Dinge im Museum ist. Dass dabei Reste bleiben, ist klar. Die positive Entscheidung für einen Sammlungsgegenstand setzt voraus, dass er bezeichnend ist, dass er in einem zu definierenden Sinne für ein großes Ganzes, ein anderes steht. In jedem Fall bleibt ein Rest von Dingen, der nicht den Sammlungen zugeschlagen wird, etwas bleibt außerhalb des Museums oder als zunächst Restliches in den Depots. Aber solche Reste verändern sich. Mit der Entwicklung der Institution Museum sind immer neue Dinge, in immer neuen Variationen und immer neueren Tiefenerkundungen in den Fokus der Betrachtung, der Sammlung und der Erinnerung geraten. Das hat mit dem grundsätzlichen Unterschied zu tun, der zwischen dem privaten Sammeln der Menschen und dem Museum besteht. »Das Museum ist […] eine öffentliche Sammlung. Öffentlich vor allem in dem Sinne, dass es im Gegensatz zur Privatsammlung nicht einem bestimmten Individuum gehört. Es ist abhängig von einer juristischen Person – dem Staat, einer Kommune, einer religiösen Institution, einem Verein, einer Universität oder einer Stiftung –, was ihm eine wesentlich längere Lebensdauer garantiert als dem Menschen. Das älteste europäische Museum feiert bald seinen 500. Geburtstag, ein anderes hat unlängst das 400. Jubiläum begangen, ein drittes erreicht dies in einigen Jahren […]. Die überwiegende Mehrheit der europäischen Museen ist zwar weitaus jünger, aber all diese Museen sind darauf angelegt, dass sie noch sehr lange fortbestehen können.« (Pomian 1994: 114) Wenn auch im Namen des Museums noch die Erinnerung an den griechischen Tempel auftaucht, in dem die Bilder der Gottheiten verwahrt wurden, so unterscheidet sich sich das Museum trotz vieler Anklänge an religiöse Orte der Aufbewahrung von Kunst, wie den Tempel oder die Kirche, vor allem durch sein Verhältnis zur Zeit von solchen sakralen Orten. Pomian hat auf den Gegensatz zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen der Zeit und der Ewigkeit als spirituelle Dimensionen sakraler Orte hingewiesen und dagegen konstatiert: »Das Museum dagegen bezieht sich in jeder Hinsicht auf die voranschreitende und

159

2005-09-20 17-09-11 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

ULRICH KREMPEL

begrenzte Zeit, genauer gesagt: auf deren Dreiteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es hat die Aufgabe, die Gegenstände der Vergangenheit zu bewahren und an zukünftige Generationen, so weit entfernt diese auch sein mögen, weiterzugeben; gleichzeitig soll es dem heutigen Publikum zurückliegende Epochen vor Augen führen. Es ist also nicht auf das Jenseits, sondern auf die Zukunft ausgerichtet.« (Ebd. 114) Der Ursprung der Kunstmuseen liegt in jener neuen Spiritualität, die schließlich in der Renaissance die Schöpfungskraft des Menschen zum Kultgegenstand erhob. »Die Kunst der Antike, insbesondere die Skulptur, wurde nun als herausragende Manifestation dieser Schöpfungskraft angesehen. Damit werden die Reste der klassischen Antike, wie sie in den Städten Italiens oder Griechenlands sichtbar geblieben waren, in eine neu bewertete Sinndimension überführt, damit dem Restesein entzogen.« (Ebd. 114) Pomian beschreibt die Kunstmuseen jener Zeit als: »die Tempel einer anthropozentrischen Religiosität, die auf der Überzeugung basierte, dass die Kunst der idealisierten griechischen und römischen Antike, das heißt, die Kunst eines implizit mit einer vergangenen historischen Epoche gleichgesetzten Jenseits, ihren exemplarischen Wert für alle Ewigkeit bewahren könne, wobei diese Ewigkeit implizit mit einer unendlichen weit entfernten Zukunft gleichgesetzt würde. Diese Werke […] verkörperten auch Tugenden, die jeder zu befolgen hatte, der – auch im Leben – herausragende Leistungen zu vollbringen suchte.« (Pomian 1994: 115) Ein solcher Schönheits- und Tugendkult führte in der weiteren Existenz des Museums schließlich zu Ausweitungen des Thematischen und Exemplarischen. Die Kunst des Mittelalters mit ihren Beispielen von Schönheit und Tugend im Kanon der christlichen Kunst wurde seit den frühen 20er Jahren des 19. Jahrhunderts auch in den Museen vorgestellt. Die Institution Museum hat so dazu beigetragen, dass das Aufarbeiten von Resten, von übrig gebliebenen und nicht beachteten kulturellen Leistungen solche kulturellen Restbestände innerhalb der Gesellschaft immer wieder minimierte. Die Aufwertung der Kunst des Mittelalters ist nur ein Aspekt, der hier zu nennen ist. Die Erweitung des Betrachtungsfokus der Kunst, wie sie etwa mit der Entdeckung der mesopotamischen, japanischen, prähistorischen, präkolumbischen und afrikanischen Kunst wie auch der Volkskunst im späteren 19. Jahrhundert stattfand, spricht von der Fähigkeit des Museums, aktiv mit dem Restbestand an Un160

2005-09-20 17-09-11 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

DAS MUSEUM UND DIE RESTE. VOM SAMMELN, BEWAHREN UND VOM ÜBRIGBLEIBEN

aufgearbeitetem diversifizierend umzugehen, d.h. im Sammeln von Gegenständen, im Bewahren und Aufarbeiten allmählich auch die Kategorien für eine Umbewertung dieser Überreste von bislang nicht konnotierten und bewerteten Kulturen zu entdecken. Die Diversifizierung der Institution Museum in immer spezialisiertere Institutionen ist ein Prozess des 19. Jahrhunderts, ein quantitativer wie ein qualitativer Schritt dieser Zeit, der sich bis heute fortsetzt. »Man sammelte Gegenstände aus immer früheren Epochen, immer entlegeneren Gegenden, immer fremderen Kulturen, immer schärfer von den oberen Gesellschaftsschichten abgegrenzten Sozialgruppen, und diese Gegenstände unterscheiden sich immer stärker von den traditionellen Vorstellungen entsprechenden Kunstwerken. Unsere Museen zeigen heutzutage die Knochen der Australopithecinen und die grob bearbeiteten Steine, die diesen als Werkzeuge dienten, und die bei archäologischen Ausgrabungen gefundenen Relikte untergegangener Kulturen vermitteln uns ein immer vollständigeres Bild von den verschiedenen Entwicklungsstadien seit dem Ursprung der Menschheit. Am anderen Ende der Zeitskala findet das 18. Jahrhundert im späten 19. Jahrhundert Eingang in die Museen, wird das 19. Jahrhundert nach dem Ersten und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg in die Museen aufgenommen, erleben wir selbst, wie die fünfziger und sechziger Jahre unseres Jahrhunderts und die Gegenwartskunst selbst ins Museum gelangen. Das Museum birgt also repräsentative Artefakte aus allen Geschichtsepochen, von den archaischen Steinwerkzeugen bis hin zu den neuesten Flugzeugmodellen, Satelliten und Computern.« (Pomian 1994: 116) So werden Reste im Kontext des Museums zu überlebenden Sinneinheiten.

Sammeln und Reste Dass das Museum mit den Resten seines eigenen Sammelns immer wieder neu erfindend und kreativ umgeht, mag hier bereits deutlich werden. Heute hat sich die Institution Museum generell so ausdifferenziert, dass es fast unmöglich wird, ihre Komplexität in einer kurzen Beschreibung wiederzugeben. Für alle Arten von sammelnder Tätigkeit, für alle Arten spezifischer Betrachtung von Aspekten von Wirklichkeit gibt es eigene Museen. Sammlermuseen sind nicht nur in der bildenden Kunst dabei zunehmend in den Vordergrund getreten, Museen also, die Ergebnis von privatem Zusammentragen von Kunst oder ähnlichem sind. Hier wäre wichtig festzuhalten, wie sich privates Sammeln und systematisches Sammeln im Museum ten161

2005-09-20 17-09-12 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

ULRICH KREMPEL

denziell voneinander unterscheiden. Und es sollte betont werden, wie sehr das Sammeln überhaupt als Strategie der Vorbereitung von Erhaltung oder Entfernung von Resten in der Gesellschaft zu einer Arbeitsstrategie geworden ist. »Der umweltbewusste Zeitgenosse sammelt mittlerweile vieles akkumulativ, ohne dass das, was er da sammelt, ihm als Mittel zu etwas anderem dienen würde: Unrat, Kehricht, Müll. Altpapier in diese Kiste, leere Flaschen in jene Schachtel, Plastikverpackung und Konservendosen in diesen Sack, verrottbare Abfälle in jenen Topf und, zu guter Letzt, Restmüll in die Tonne. Und periodisch wiederkehrend kommen Müllwerker, die das derart Gesammelte wiederum sammeln; anderes wird nicht geholt, sondern muss gebracht werden: zu Containern, in denen dann viele gemeinsam dann etwas sammeln. Abfälle sammeln wir nicht, um sie nötigenfalls als Mittel zur Verfügung zu haben, sondern um sie auf geordnete Weise loszuwerden. Dass mancher Müll, den ich sammle, einem anderen als Mittel dienen kann, ist nicht der Grund meines Sammelns, sondern seines. Für ihn mögen meine alten Zeitungen ein Mittel sein, Papier für neue herzustellen. Ich aber will sie nur loshaben. Und für den Müll, mit dem gar keiner mehr etwas anzufangen weiß, gilt das erst recht. Auch ihn sammle ich, damit er wegkommt.« (Sommer 1999: 33f.) Sammeln zielt also, wie wir sehen, absichtsvoll auch auf Reste und schließlich auch auf deren Entsorgung; solche Reste, die ausgeschieden werden, die den Abfall darstellen, die von heute aus betrachtet verzichtbare Elemente menschlichen Handelns sind. Abfall als Rest ist in anderer, historisch sichtender Dimension wichtiges Medium für die Erkenntnis über das Leben weit zurückliegender menschlicher Gemeinschaften. Denken wir nur an die Ur- und Frühgeschichtler, die aus den Speise- und Lagerresten der Bewohner unserer Regionen aus der Steinzeit wichtige Rückschlüsse auf die Lebensweise unserer Vorfahren ziehen können. Aber wir werden vorläufig in unseren Museen späteren Generationen unser eigenes Bild unserer Zeit hinterlassen. Sammeln ansonsten, das Umgehen mit den Überbleibseln der künstlerischen und technologischen Entwicklung unserer Gesellschaft, richtet sich auf das Erhalten, Bewahren und Stehen lassen all dessen, was der homo collector für erhaltenswert erachtet. Der sammelnde private Mensch reduziert die Menge an Resten, die durch das klassifizierende wissenschaftliche Sammeln der Institutionen entsteht. Immer wieder ergänzt der private Sammler mit seinen privaten Fragestellungen die Fragestellungen der Wissenschaft, hält Gesammeltes bereit, reduziert die Menge der unbearbeiteten Reste 162

2005-09-20 17-09-12 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

DAS MUSEUM UND DIE RESTE. VOM SAMMELN, BEWAHREN UND VOM ÜBRIGBLEIBEN

durch sein Handeln. Aber immer auch fokussiert er spezifische Fragestellungen in einer Breite, wie sie verantwortungsbewusstes gesellschaftliches Sammeln nicht zu erreichen vermag, weil sie ansonsten die natürliche Begrenzung des Sammelns und Zusammentragens außer Acht ließe. Denn das ist deutlich: Mag auch privates Sammeln tendenziell uferlos sein und auf eine Akkumulation von allem Denkbaren hinauslaufen und so schließlich in einer notwendigen Zwangsentrümpelung münden; das gesellschaftlich verantwortliche Sammeln der Institutionen, wie des Museums, ist eine, die auf Beschränkung setzt und damit auf das Übriglassen von Resten.

Leben und Überleben Giorgio Agamben schreibt: »Der Ausdruck ›Überleben‹ enthält eine unaufhebbare Zweideutigkeit. Er impliziert den Verweis auf etwas oder jemanden, der überlebt wird. […] Doch von Anfang an lässt das Verb, wenn es sich auf menschliche Wesen bezieht, auch eine reflexive Verwendung zu: die ungewöhnliche Vorstellung eines Überlebens seiner selbst und seines eigenen Lebens. Der Überlebende und derjenige, der überlebt wird, fallen hier zusammen. Kann Plinius von einer Person des öffentlichen Lebens behaupten, dass sie ›ihren Ruhm dreißig Jahre überlebte‹, findet sich bei Apuleius bereits explizit die Vorstellung einer wirklichen posthumen Existenz, eines Lebens, das sich selbst überlebend lebt.« (Agamben 2003: 116) Agamben schreibt von einer schrecklichen Dimension des Lebens, des Überlebens und der »Reste«. Seine Betrachtung von Auschwitz führt ihn am Beispiel des apathischen Häftlings, des Muselmanen, zu der Feststellung, dass es nicht möglich ist, »das Menschliche vollständig zu zerstören, dass immer ein Rest übrig bleibt. Dieser Rest ist der Zeuge« (Agamben 2003: 117). Letztlich geht es bei allen Selektionssystemen, seien sie auf Erhaltung oder Vernichtung, auf das Ganze oder den Rest gezielt (und auch das Sammeln im Museum ist eines), um das Weiterleben der Dinge oder der Menschen, die sie verfertigt haben. Die Menschen treten dabei im Museum hinter den Dingen zurück. Wir sehen, dass es einen Begriff des Restes gibt, der mit der jüdischen Tradition zu tun hat und in dessen Zentrum der Mensch steht: In der Interpretation dieses Begriffs birgt der Überlebende, der, der Teil des Restes ist, eine fast unfassbare Dimension von menschlichem Leid und Erleben in sich und doch auch das Überleben in der Zeit außer und in ihm in mehrfachem Sinne. 163

2005-09-20 17-09-13 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

ULRICH KREMPEL

Angesichts einer solchen Dimension des Begriffes scheint es schwer, den Weg zurückzufinden zu den einfacheren Dimensionen von Leben und Überleben in unserer Gesellschaft. Museum ist eine Institution, die als Archiv funktioniert. Als solches wächst es fort. Alle Dinge in ihm legen Zeugnis ab von ihrer Anwesenheit in der Welt, von ihrem Gemachtsein, von ihrer Beziehung zu den Menschen, die mit ihnen zu tun hatten. Dinge, die bleiben, sind ausgewählt worden; sie stehen in enger, aber nicht immer in verstehbarer Beziehung zu jenen Dingen, die nicht mehr existieren, die nicht mehr da sind, nicht überleben. So gehört zu jedem Ding in unseren Archiven und Depots eine Menge von Vergleichbarem, das nicht mehr existiert oder nicht hier oder nicht in diesem Zusammenhang. Wir kennen die Geschichten vom Umgang der Künstler mit bestimmten Werken ihres Œuvres, mit denen sie in einer späteren Bewertungssituation nicht mehr zufrieden sind und deren Überleben sie verhindern wollen: Die Zerstörung ganzer Werkblöcke durch den Künstler etwa im Œuvre von Picasso, soweit es das Frühwerk betraf, im Œuvre von Rouault, soweit es das Werk außerhalb der religiösen Thematik betraf, und anderer ist Legion. Dabei dient diese Vernichtung von Resten einer Fokussierung auf die Qualität, einer Intensivierung auf einen bestimmten Blick auf das eigene Werk, die der Intensivierung der Qualitätsdiskussion und damit dem künstlerischen Überleben dient. Niemand aber kann sein Werk selbst redigieren, kann so komplett darüber verfügen, dass er sämtliche Aspekte davon tilgen könnte, die ihm nicht gefallen. Es bleiben immer irgendwo Reste unterschiedlicher Bedeutsamkeit. Auch wenn es nur marginale Hinterlassenschaften sind, so fügen sich doch zu den großen Künstlernamen des 20. Jahrhunderts auch im Nachhinein, oft viele Jahrzehnte nach dem Ableben der Autoren, noch viele frei flottierende Reste zum Gesamtwerk hinzu. So etwa das Beispiel Kurt Schwitters, dessen Lebenswerk durch die erzwungene Emigration aus Nazideutschland weitestgehend beschränkt wurde, durch Unglücksfälle und erzwungene zweifache Emigration weiter reduziert wurde und dessen Hauptwerk (Merzbau) in der Bombardierung Hannovers durch alliierte Flieger vollständig zerstört wurde. Bis heute tauchen aus diesen Vernichtungen eines Großteils seines Œuvres immer noch einzelne Fundstücke auf, erscheinen aus Kellern oder Nachlässen Arbeiten, oft beschädigt und versehrt, oft nur noch Reste einstiger tatsächlicher Intensität. Aber dennoch ist es möglich, in ihnen einen Rest jener alten Qualität wieder zu finden, das Rudiment eines Wer-

164

2005-09-20 17-09-13 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

DAS MUSEUM UND DIE RESTE. VOM SAMMELN, BEWAHREN UND VOM ÜBRIGBLEIBEN

kes und damit ein Zeugnis, das dem Bild des gesamten Œuvres zugehört. Sind solche Reste, wenn sie uns einholen, tatsächlich bemerkenswert, notwendig für die Erweiterung unseres Bildes vom Werk eines Künstlers oder von der Gestalt der Welt? Sind nicht viele dieser Dinge notwendigerweise bereits ausgeschieden aus einem Bewertungszusammenhang, der die Integrität und Intaktheit des Œuvres verlangt, weil er mit dessen Zerstörtheit und Resthaftigkeit nicht umzugehen weiß? Oder gehört solchen Resten als »Zeugen« gerade eine erhöhte Aufmerksamkeit? Da das Museum hierauf keine deutliche Antwort weiß, neigt es dazu, auch die ihm bekannt werdenden Reste zu wichtigen Sammlungszusammenhängen in die Sammlungen aufzunehmen. Reste, die den Bodensatz eines Bestandes ausmachen, werden einem größeren Sinnzusammenhang zugeführt. Damit werden sie möglicherweise aufhören, Reste zu sein, werden Zeugen oder Zeugnisse, die sich dem Restsein entziehen.

Literatur Agamben, Giorgio (2003): Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Jensen, Michael (Hg.) (1994): Wunderkammern des Abendlandes: Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit, Ausstellungskatalog Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn. Pomian, Krzysztof (1994): »Das Museum: Die Quintessenz Europas.« In: Michael Jensen (Hg.), Wunderkammern des Abendlandes: Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit, Ausstellungskatalog Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn. Sommer, Manfred (1999): Sammeln – ein philosophischer Versuch, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

165

2005-09-20 17-09-13 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 157-165) T03_09_krempel.p 95224309590

2005-09-20 17-09-14 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 166

) vakat 166.p 95224309694

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

Bildreste. Womit Goyas Arbeiten nicht fertig werden Vera Beyer

Goyas Arbeiten produzieren Reste. In seinen Bildern gibt es immer wieder etwas, das nicht aufgeht, das nicht verarbeitet ist, das übrig bleibt. Seien es Darstellungen der ›Industrie‹, des Krieges, des Organismus – jeweils ist in Goyas Bildern zu beobachten, dass Reste –

Abbildung 1: Francisco Goya, Alegoría de la Industria, 1797-1800, Öl auf Leinwand, ø 227 cm, Madrid, Prado. 167

2005-09-20 17-09-17 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

Materialreste, Zonen, Exkremente – produziert werden, mit denen nicht fertig zu werden ist. Es wird zu sehen sein, inwiefern diese Restbestände etwas Neues sind, das einer klassischen Werkkonzeption entgeht, und sie somit ein spezifisch modernes Verständnis künstlerischer Arbeit begründen.

Stoffreste – ›industrielle‹ Restproduktion In Goyas »Industria«, genau gesagt in seinem Gemälde »Alegoría de la Industria« (1797-1800, Abb. 1) werden Reste produziert. Meines Erachtens präsentiert und repräsentiert Goya Arbeit, die keine Vollendung mehr kennt, sondern sie ist nur noch als Prozess der Produktion zu verstehen, dem immer etwas übrig bleibt. In dem Moment, in dem sich ein Werk nicht mehr als abgeschlossen präsentiert, sondern als Prozess ohne Ende zu sehen ist, bleiben Reste – quelque chose reste, wie es die Franzosen treffend formulieren.

Abbildung 2: Diego Velázquez, Las Hilanderas, 1644-1648 (?), Öl auf Leinwand, 225 x 293 cm, Madrid, Prado.

Ein solches Verständnis von Arbeit ist möglicherweise ein modernes Phänomen. Um den Unterschied zur ›restlosen‹ Vollendung klassischer Gemälde genauer zu bestimmen, vorab ein Blick in die Vorgeschichte der Produktion von Resten, am Beispiel von Stoffresten, im Bild. Genauer gesagt: auf ein Bild eines Vorgängers Goyas, Diego 168

2005-09-20 17-09-19 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

Velázquez’ (1599-1660). Er hatte gut 150 Jahre vor Francisco Goya (1746-1828) den Posten des ersten Hofmalers am spanischen Hofe inne und diente Goya immer wieder – und so auch im folgenden Gemälde – als Vorbild. Würde man angesichts der Wollfetzen auf dem Boden von Velázquez’ »Hilanderas« (~ 1644-1648, Abb. 2) von Stoffresten sprechen? Wohl kaum. Schließlich wird daran gearbeitet, und es ist zu sehen, was daraus wird: Zuerst, im Vordergrund, ein Faden und dann, der Hintergrund demonstriert es, ein Teppich, eine Bildtapisserie. Versuchsweise hat man die Wolle rechts vorne auch schon einmal an die Wand gehängt. Fertigung und Fertiges sind zugleich zu sehen, der Kreis der Herstellung ist – restlos – geschlossen. Dieser Kreislauf von Fertigung und Vollendung ist jedoch nicht so profan, wie er auf ersten Blick aussehen mag: Die vollendeten Teppiche stellen mythische Szenen dar, so beispielsweise den Raub der Europa. Damit begründet dieser Hintergrund den Verdacht, dass auch auf anderen Ebenen des Bildes mythische Szenen zu sehen sind. So hat man die Szene im Hintergrund als Verurteilung Arachnes durch Pallas Athene identifiziert, nachdem erstere behauptet hatte, ebenso gut weben zu können wie die Göttin der Künste. So bleibt dann auch im Vordergrund nicht etwa eine profane Spinnerei zu sehen, sondern es erschließt sich zugleich eine mythische Szene, oder besser gesagt ein Hybrid aus zwei Szenen Ovids: derjenigen, in der Pallas Athene in menschlicher Gestalt Arachne ermahnt, die Götter nicht herauszufordern, und derjenigen des Wettstreits der beiden in der Teppichproduktion. So rücken die mythischen Konnotationen ausgehend vom vollendeten Teppich bis in den Vordergrund vor, bis das ganze Bild – restlos – in die mythische Narration integriert ist. So wird die Wolle in diesem Bild auf zwei Ebenen zum Mythos: Zum einen wird sie zum Teppich mit mythischen Szenen verarbeitet und zum anderen wird sie rückwirkend dann selbst in einer mythischen Szene lokalisiert. Man bekommt in diesem Bild also den Stoff, aus dem Mythen gemacht werden, zu sehen. Übrig bleibt davon allerdings nichts, vollständig wird er zum Mythos verarbeitet; es bleiben keine profanen Reste übrig. In der Verknüpfung von Hinter- und Vordergrund in diesem Bild kann man eine Entsprechung zur Produktion des Gemäldes selbst sehen. In beiden Fällen wird der einfarbige Stoff einer Oberfläche in bunte mythische Bilder im dargestellten Raum transformiert. Das heißt, dass auch das Gemälde selbst als Material anzusehen ist – jedoch als eines, das vollends zum Mythos verarbeitet wird, auch wenn es vordergründig nach profanem Material aussieht. Ma169

2005-09-20 17-09-19 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

terial und Mythos gehen restlos ineinander auf: Keine Stoffreste also bei den Spinnerinnen von Velázquez. Goya nimmt sich anderthalb Jahrhunderte später dieses mythischen Stoffes wieder an und verarbeitet ihn weiter – jedoch nicht vollständig: In seiner »Alegoría de la Industria« greift er die Spinnerinnen aus dem Vordergrund der »Hilanderas« wieder auf. Er beraubt sie allerdings der Ergebnisse ihrer Arbeit, ihres mythischen Hintergrundes: Weder sind Spindeln oder Knäule voll Garn zu sehen, noch Teppiche. In den lichtdurchfluteten Bögen im Hintergrund sind schlicht Fenster zu sehen. Es wird also eine Arbeit ohne Produkt, eine Fertigung ohne Gefertigtes dargestellt. Darstellungen der Vollendung fehlen. Konsequenterweise ist hier das Gemälde dann auch nicht mehr wie in den »Hilanderas« mit einem vollendeten Teppich zu vergleichen, das Bild kann sich nicht mehr mit seinem Produkt identifizieren. Stattdessen entspricht das Bild in seinem runden Format dem dargestellten Spinnrad – dem Instrument der Fertigung. An die Stelle des vollendeten Hand-Werkes tritt der ›industrielle‹1 Arbeitsprozess.2 Zudem fehlt Goyas Arbeit ob der fehlenden Teppiche der mythische Hintergrund. Folglich kann man auch der Szene keinen mythischen Hintergrund mehr zuordnen; man ist mit profaner Industrieproduktion konfrontiert. Jeder Hinweis darauf, dass die vorliegenden Textilien Stoff seien, aus dem man Mythen schaffen könne oder dessen Verarbeitung gar einen Mythos darstelle, fehlt. Es wird nicht einmal mehr angegeben, wozu dieser Stoff verarbeitet wird. Dieser Entzug von mythischem Zweck oder mythischer Bedeutung nimmt dem Material jedes Telos, es bleibt dabei (übrig), was es ist: schlicht

1. Ich spiele hier mit der Übersetzung des spanischen Titels des Bildes »Industria« durch den Begriff der »Industrie« – wohl wissend, dass dieser im Deutschen mit spezifischen modernen Produktionssystemen assoziiert ist und für das, was Goya hier abbildet, die Übersetzung als Gewerbe zutreffender ist. Ich will mit dieser Übersetzung keinerlei Aussage über die abgebildeten Produktionsbedingungen machen – wohl aber die Frage aufwerfen, ob sich nicht in der Produktion des Gemäldes eine Verschiebung zu beobachten ist, die in Punkto eines Umganges mit Resten vergleichbar ist mit dem, was im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Entwicklung der industriellen Produktion passiert. 2. Fred Licht hat die Bedeutung des Motivs der Arbeiter in Goyas Œuvre betont und deutet in einem Satz an, dass auch Goya seine Kunst als Arbeit verstanden habe. Er bringt diese motivischen Beobachtungen jedoch nicht in Zusammenhang mit strukturellen Veränderungen der Bildkonzeption (vgl. Licht 2001: 330-335). 170

2005-09-20 17-09-19 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

und profan unverarbeitetes Material, inklusive aller Möglichkeiten, etwas daraus zu machen. Diese materiellen Möglichkeiten gibt es im Gegensatz zum Gefertigten zu Hauff. Wolle scheint sich hinter den Spinnrädern zu häufen, es bleibt also noch massenhaft Stoff zu verarbeiten. Es sieht demnach nicht so aus, als ob die Arbeit ausgehe; es gibt Arbeit ohne Ende und ohne Ergebnis – und ohne Mythisierung. Eher hat man den Eindruck, dass die beiden Figuren mit diesem Stoff nicht fertig werden, ihn nicht restlos verarbeiten können. Stoffreste drohen, übrig zu bleiben. Wenn das Material nicht mehr, wie in den »Hilanderas«, zu Teppichen verarbeitet wird, dann erscheint es nicht nur als unverarbeitet, sondern auch als unverarbeitbar, da nicht mehr zu sehen ist, was das Endprodukt sein soll. Das Material präsentiert sich als potentieller Rest. So bekommt man es mit Resten zu tun – und das im direkten Sinne des Wortes: denn es geht, zumindest bei Goya, nicht darum, diese Reste endgültig liegenzulassen. Vielmehr stellen sie das Potential, immer weiter zu arbeiten, dar. Reste bleiben zu verarbeiten (restes restent à travailler) – und zwar immer. Reste sind also (Neben-)Produkte einer unabgeschlossenen Verarbeitung – und stellen zugleich ihre Voraussetzung dar. Reste entstehen folglich in dem Moment, in dem ein Werk sich nicht mehr über Vollendung definiert, sondern als Prozess und Progress andauernder Arbeit. In der Verschiebung von restloser hand-werklicher Vollendung zur unendlichen »industriellen« Arbeit, ist Goyas »Alegoría de la Industria« zugleich eine Allegorie seiner künstlerischen Arbeit. In diesem Begriff der Arbeit sind Prozess und Werk nicht mehr zu unterscheiden.3 Goya stellt der restlosen Mythenproduktion Velázquez’ eine restanfällige ›industrielle‹ Produktion entgegen. Bei Velázquez hatte ich vom Motiv des vordergründig profanen, hintergründig aber sehr wohl mythisch eingebundenen Stoffes Rückschlüsse auf die textile Stofflichkeit der Bildoberfläche gezogen. So besteht der Verdacht, dass auch bei Goya das Motiv des unverarbeiteten Stoffes etwas über den Zustand der Bildoberfläche aussagt: Dabei kommt der Bildoberfläche weniger die Wolle im Hintergrund nahe als die Kleider der Frauen. Diese sind den Körpern an einigen Stellen noch so wenig angepasst, sind so wenig räumlich modelliert, dass man den Eindruck hat, dass die Verarbeitung dieser

3. Vgl. zur Einführung des Begriffes der Arbeit in die ökonomische Theorie am Ende des 18. Jahrhunderts auch Foucault 1999: 274-279. 171

2005-09-20 17-09-20 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

Kleider noch nicht abgeschlossen ist. Sie wirken an einigen Stellen so unabhängig von den Körpern, die sie bekleiden, dass man sie zuerst einmal als farbige Flecken auf der Bildoberfläche sieht – bevor man ihnen eine Gegenständlichkeit zuschreibt. Diese bunte Fleckigkeit der Bildoberfläche wirkt ebenso unverarbeitet wie die Stoffreste. Die Beziehung von Kleidung und Figuren, flachem und körperlichem, gestaltlosem und geformtem Stoff kann mit dem Verhältnis zwischen dem textilen Material der Bildoberfläche und den dargestellten Figuren eng geführt werden. Bernd Growe verortet in diesem instabilen Zustand des Unvollendeten und der Nähe der Figuren zum unverarbeiteten Bildmaterial das eben schon angedeutete Potential des Recyclings dieser Reste: »Die gegenständlichen Elemente sind bei Goya rückgebunden an das amorphe Material der Malerei selbst, und zwar so, daß ihre Genese Bestandteil einer anschaulichen Analyse bleibt und ihre Form schließlich nur an jene Grenze gelangt, von der der Weg zum Gestaltlosen ständig mitpräsent ist. Die Elemente der Bildlichkeit sind geradezu auf diese Grenze hin entwickelt. Ich nannte sie Brechungserfahrung, jedoch nicht in dem negativen, defizitären Sinn, daß durch sie etwas nicht erreicht ist, sondern daß gerade durch ihr defizitäres Potential ein ›Immer-Wieder‹ offengehalten bleibt, daß die Grenze zwischen Bildlichkeit und dem Rückfall ins pure Material (stofflich technisch) instabil gehalten ist und unablässig neue Aktualisierungen an den Betrachter stellt.« (Growe 1985: 43) Reste erscheinen hier zugleich als von der Vollendung Ausgeschlossenes aber auch Immer-Wieder-zu-Verarbeitendes. So kann der Betrachter angesichts dieser Reste verschiedenes »aktualisieren«: Man kann in den Stoffresten der »Industria« Gesichter sehen – von Frauen, die den beiden bei der Verarbeitung des Materials helfen? Oder ist es umgekehrt und es sind Frauen, in denen man Stoffreste sehen kann? Man kann also – selbst als Betrachter – etwas aus diesen Stoffresten machen. So sind sie, möglicherweise, »der Stoff, aus dem die Träume sind«.

Tagesreste – kriegerische Restproduktion Stoff aus dem Träume sind, sind nach Freud auch das aus verschiedenen Gründen »während des Tages […] nicht zu Ende Gebrachte, […] das durch Erlahmen unserer Denkkraft Unerledigte, das Ungelöste« und die »unerledigt gebliebenen Eindrücke des Tages«, 172

2005-09-20 17-09-20 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

kurz: »Tagesreste« (vgl. Freud 1972: 529). Man kann in Goyas »Caprichos« (1797-1798) Manifestationen solcher Tagesreste sehen. Emblematisch hierfür ist das Blatt 43 (Abb. 3), das in einer früheren Fassung als Titelblatt einer Serie mit dem Titel »Sueños«, »Träume«, geplant war.

Abbildung 3: Francisco Goya, »El sueño de la razon produce monstrous«, Caprichos, Blatt 43, 1797-1798, Radierung und Aquatinta, 21,6 x 15,2 cm. Fliegende Bestien, die aus dem Dunkel der Aquatinta aufsteigen und in den hellen Vordergrund vordringen, attackieren einen Mann, der sein Gesicht vor ihnen versteckt. Goya hat diesen in der Unterschrift 173

2005-09-20 17-09-23 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

der Vorzeichnung als Autor, sprich als sich selbst identifiziert.4 Auf der Vorderseite des Tisches, auf den er sich stützt, steht: »El sueño de la razon produce monstruos« – »der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«. War man sich angesichts des materiellen Hintergrundes von Goyas Arbeiterinnen nicht ganz sicher, wo das Material aufhört und die Figur anfängt – und wie viel von den Gestalten, die man sieht, dem Bild und wie viel der Phantasie des Betrachters zuzuschreiben ist, so werden diese Übergänge hier inszeniert: In der Körnung der Aquatinta zeichnen sich mit zunehmender Nähe immer deutlicher die Silhouetten und Züge der Monster ab, bis diese im Vordergrund die Aquatintaschicht durchbrechen und der weißen Oberfläche der Figur nahe kommen. Der dunkle Hintergrund bringt Monster hervor. Hier ist der Übergang von unverarbeiteten zu motivisch verarbeiteten Resten zu beachten, bzw. kann man in den Motiven der Monster eine Verarbeitung von Resten sehen. Tagesreste nehmen in Phantasmen und Träumen Gestalt an. Dabei bleibt offensichtlich, vor und aus welchem Hintergrund sie entstehen: aus dem unstrukturierten Material der Aquatinta. Dabei war in der früheren Version der »Sueños«, die als Vorzeichnung vorliegt, die leere d.h. von den Monstern ausgesparte Fläche links oben nicht dunkel sondern weiß gelassen. André Stoll schreibt dieser Fläche »die Suspendierung aller Bildhaftigkeit und Diskursivität« (Stoll 192: 228) zu. Anschließend wird dieser weiße Rest unverarbeiteten Papiers dann mit Aquatinta gefüllt und dadurch mit dem Hintergrund gleichgestellt. Es bleibt jedoch dabei, dass diese Stelle nicht figurativ besetzt wird. Es werden keinerlei Angaben gemacht, wie man sie füllen kann. Nicht einmal mehr eine traditionell allumfassende Raumkonstruktion bestimmt diese Stelle als leeren Raum. Neben den Tagesresten, die die Gestalt von Monstern angenommen haben, gibt es in diesem Bild also auch Stellen des dunklen Hintergrundes, die nicht als Grund der Monster fungieren, sondern die als Unverarbeitete stehen bleiben. Solche unverarbeiteten Restflächen breiten sich in späteren Serien Goyas weiter aus. Insbesondere in einigen Blättern der »Disparates« (1812-1815) greifen sie auf das gesamte Bildfeld über. So sind die Figuren nicht mehr von Monstern umzingelt, sondern von unverarbeiteter Aquatinta, nicht von motivisch gestalteten Tagesresten, sondern von unverarbeitetem Material. Die Tatsache allein

4. In einer zweiten Vorzeichnung stützt sich diese Figur auf eine Radierpresse. 174

2005-09-20 17-09-23 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

aber, dass unverarbeitetes Material im Bild zu sehen ist, könnte die Graphik als schlicht unvollendet ausweisen. Entscheidend aber ist in Goyas Bildern, dass sie gar nicht vollendet werden können, dass eine Vollendung nicht vorstellbar ist, dass sie nicht als unvollendet, sondern unvollendbar erscheinen und das Unverarbeitete als Unverarbeitbares eine konstitutive Funktion in der Bildgestaltung übernimmt. Unverarbeitete Reste sind dann kein zufälliges, sondern ein konstitutives Phänomen.

Abbildung 4: Francisco Goya, »De qué sirve una taza?«, Desastres, Blatt 59, 1812-1815, Radierung, Aquatinta, Kaltnadel, 15,3 x 20,3 cm.

Zu erkennen ist der Unterschied meines Erachtens am Verhältnis zwischen Verarbeitetem und Unverarbeitetem, zwischen figurativem Bestand und dem Rest des Bildes. Deshalb eine genauere Analyse am Beispiel des Blattes 59 (Abb. 4): Der Kampf scheint hier zu Ende zu sein; Verletzte liegen am Boden; ihre Anzahl ist schwer zu bestimmen – die Gliedmaßen sind nicht eindeutig zuzuordnen. Eine Frau beugt sich zu ihnen hinab – und hält ihnen eine Schale hin. Zwei der Verletzten scheinen das Angebot der Schale wahrzunehmen und sich daraufhin aufzurichten. Durch diese Ausrichtung wird auf der einen Seite die relativ mittig platzierte Tasse zum zentralen Objekt der Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite lässt die Auf175

2005-09-20 17-09-26 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

und Ausrichtung auf die Schüssel in der Masse zwei Figuren entstehen. Es ist also in diesem Bild eine Interaktion zwischen Figuren zu beobachten und in eben dieser Interaktion werden in der Masse Figuren erkennbar. In diesem Sinne spendet die Schüssel Leben. Theodor Hetzer hat ein Bildkonzept, dessen Zusammenhalt auf der Interaktion von Körpern basiert und so ein relationales Bildgefüge ergibt, in dem sich die Teile aufeinander beziehen, als »Bildleib« bezeichnet (vgl. Hetzer 1987: 46-53).5 Im Zentrum dieses Bildes ist eine solche »leibhaftige« Interaktion zu beobachten. Daneben allerdings bleiben andere Teile unbeteiligt liegen. Es scheint diesem Zentrum die Kraft zu fehlen, das ganze Bildfeld an sich zu binden, es zu fesseln – oder es fehlt dem Rest des Bildes die Kapazität, sich auf etwas auszurichten: Beim »Rest« der Verletzten ist keine Regung auszumachen. Zwei mögliche Gründe für dieses Szenario: Eine Tasse reicht nicht für alle. Oder: Der Großteil der Gruppe hat ›den Löffel schon abgegeben‹. Jedenfalls erfasst die Interaktion innerhalb der Gruppe nicht mehr alle; diese (Mit-)Glieder sind nicht Teil des »Bildleibes« sondern Überreste von Körpern, die nicht mehr zu Leibern werden. Tote Materie, die nicht mehr in einen »Bildleib« im Sinne einer relationalen Komposition, die auf der Beziehung ihrer Teile basiert, integriert werden kann, bleibt nach dem Kampf im Bild liegen. So scheint der Erfolg der Geste zweifelhaft. »De que sirve una taza?«, »Wozu dient diese Schale?«, fragt Goya im Unterton. Nicht aber nur einzelne Glieder sind nicht mehr in die Bezüge eines »Bildleibes« integriert – selbst inklusive der teilnahmslosen Körper beherrschen die Körper nicht mehr die ganze Bildfläche. ›Zusammengeballt‹ liegen die Figuren in der Mitte, ohne Raum zwischen ihnen. Diese Klumpenform ermöglicht es dem Betrachter nicht, ausgehend von den Positionen der Figuren einen Raum zu konstruieren, der über diese hinausginge. So beschränken sich die Raumabgaben auf die Körper selbst. Keinerlei Einordnung in das Umfeld wird vorgenommen. Einzelne Linien stoßen in dieses Feld vor, enden jedoch im Nichts. Ebenso wenig geht aber auch vom Bildrand eine Struktur – wie beispielsweise eine perspektivische Raumordnung – aus, die ein Verhältnis zwischen dem gesamten Bildfeld und den darin platzierten Figuren etablieren würde. Es wird kein Raum zwischen den Figuren geschaffen, der Interaktion er-

5. Vgl. zum Verhältnis von Goyas Bildern und dem Konzept des »Bildleibes« auch Growe 1985: 38-41. 176

2005-09-20 17-09-26 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

laubt. »Endlich fehlt jede Verankerung der Szene an den Bildrändern.« (Growe 1985: 38) Auf zwei Ebenen bleiben also Partien unintegriert: Die Schüssel erreicht nicht den Rest der Gruppe, und die Gruppe erreicht nicht den Rest der Bildfläche. Man kann dies auch umgekehrt sehen: Die Figuren am Rand beziehen sich nicht auf die Schüssel, und die Bildränder schaffen keinen Bezug zur Figurengruppe mehr. Jedenfalls bleiben sowohl auf figurativer als auch auf formaler Ebene unbelebte Partien übrig, die nicht in das relationale Gefüge eines »Bildleibes« integriert werden können. Die relationalen Gefüge von »Bildleib« und Raum sind zerstört worden, es bleibt nichts anderes übrig als unbelebtes Material. Es fehlt eine umfassende Ordnung, die die Teile des Bildes zusammenhalten würde, eine umfassende Gesetzmäßigkeit, die ihre Anordnung bestimmt; gesetzlose Zonen entstehen. Das Fehlen von Raumangaben hat dabei auch zur Folge, dass die unstrukturierte Aquatintaschicht aus dem Hintergrund in den Vordergrund rückt. Hier stellt sie nicht mehr wie in den »Caprichos« als unbestimmte Tiefe den irrealen Ort und unverarbeiteten Grund für phantastische Produktion. Sondern die Aquatinta nimmt die Position eines materiell vorhandenen Gegenstandes ein, den man am eigenen Leibe erfahren kann: der sehr realen und konkreten Erfahrung des Schlachtfeldes. Hintergrund wird zum Grund. In diesem Feld ist zu sehen, was nach der Schlacht vom Lebensraum dieser Menschen übrig geblieben ist. Man bekommt die Reste, die Überreste ihrer Heimat zu sehen: Felder, denen jede Strukturierung fehlt und denen nur Materialität bleibt. Diese Erfahrung kann trotz oder gerade wegen ihrer Realität nicht verarbeitet werden. Aus diesem Grund entstehen keine phantasmatischen Monster mehr (menschliche Monster bringt er allerdings hervor). Die Schwarzgründe der »Desastres« entziehen sich einer figürlichen Verarbeitung. Folglich erübrigt sich auch jede Engführung von motivischen und materiellen Resten im Bild: Parallelen, wie ich sie beispielsweise zwischen dargestellten Stoffresten und der Stofflichkeit der Bildoberfläche aufgezeigt habe, fallen hier in sich zusammen, da zwischen Bildoberfläche und Schwarzgrund der Aquatinta kein Unterschied mehr besteht, sie decken sich.6 Goya führt in dieser Graphik somit zwei Zerstörungsakte tradi-

6. Christian Spies’ Beitrag in diesem Band beschreibt, wie im 20. Jahrhundert nicht mehr viel anderes als diese materielle Oberfläche als Rest des Bildes übrig bleibt. 177

2005-09-20 17-09-26 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

tioneller räumlicher Ordnung eng: Einerseits die Zerstörung spanischer Territorialordnung und andererseits die der klassischen Raumkonzeption des Bildes. Beide bleiben bei Goya unverarbeitet. Goya verarbeitet den Krieg nicht, sondern konfrontiert den Betrachter mit seinen – unverarbeitbaren – Ergebnissen: Resten. Körperresten, Raumresten, Materialresten. Wäre ein Bild schlicht unvollendet, dann wäre vorgesehen, wie der Rest integriert werden soll, die Figuren würden das Potential zeigen, auf – noch unverarbeitete – Reste der Fläche überzugreifen. Goyas Figuren fehlt diese Kapazität, sich den Rest des Bildes anzueignen. So erscheint dieser Rest nicht nur unverarbeitet, sondern auch unverarbeitbar. So realistisch einem heute die Darstellung von Krieg als unverarbeitetem und unverarbeitbarem erscheinen mag, so stellt die Weigerung von Goyas Bildern, als Instrumente der Verarbeitung zu fungieren, doch einen Bruch mit ihrer traditionellen Funktion dar: Jacques Callots Serie »Les Miseres et les Malheurs de la Guerre« (1633 erschienen) mögen als Paradebeispiel der Funktion von Bildern als Verarbeitung eines Krieges dienen. Während in der ersten Hälfte der Serie unrechtmäßige Kriegsvergehen dargestellt werden, demonstriert die zweite Hälfte, dass die Verbrecher ein ebensolches Schicksal ereilt – nun werden sie brutal getötet. So mag Oscar Ivar Levertin zwar recht haben, dass Callot »der erste moderne Künstler [ist], der anstatt der Kraftentwicklung des Kampfes, der Poesie des Mutes und der Todesgefahr programmatisch das Grauen und Elend des Krieges dargestellt hat« (Oscar Ivar Levertin, zitiert bei Schröder 1971: 1325). Es wird jedoch versprochen, dass dieses Grauen am Ende Gerechtigkeit erfährt; die Gewalt findet ihre Entsprechung in der Rechtsgewalt. Entsprechend wird auch die bildliche Grundordnung nie angegriffen: So rührt das Feuer in Blatt 4 (Abb. 5) das Raster der Gebäudestruktur nicht an; Plünderer laufen in regelmäßigen Mustern durchs Bild – man achte auf die Parallelen ihrer Waffen. Die regelmäßigen Strukturen der räumlichen Ordnung bleiben bestehen. Nichts entwischt den Strukturen rechtmäßiger Ordnung; die Serie verspricht, dass Unrecht in rechtmäßige Ordnung integriert wird. So wird der dreißigjährige Krieg in all seiner Grausamkeit von Callot – restlos – verarbeitet. Diese Verarbeitung leistet Goya nicht mehr. Unrecht bleibt unfassbar. Das Bild stellt keine umfassende Ordnung mehr (dar). Überbleibsel der Gerechtigkeit sind im Hintergrund des 69. Blattes der »Desastres« zu finden: Man sieht hier eine Waage. Die Figur allerdings, die sie hält, ist kaum mehr zu erkennen – ihr Körper geht 178

2005-09-20 17-09-27 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

im Dunkel der Aquatinta des Hintergrundes auf. Diese Auflösung der Figur ist in diesem Blatt verbunden mit dem Moment des Todes – Figuren verfallen zu Staub, in diesem Falle zu den Spuren des Staubes, der die Aquatinta schafft. Demnach gehen Überreste menschlicher Körper im Grund des Schlachtfeldes, den Überresten ihres Landes auf. Tote Körper werden zu unförmigen Materialresten. »Nada«, Nichts – hinterlässt der Tote auf dem Papier.7

Abbildung 5: Jacques Callot, Les Miseres et les Malheurs de la Guerre, Blatt 5, 1633, Radierung, 8,3 x 18,7 cm.

Überreste – organische Restproduktion Mehr hinterlässt auch die Figur Goyas selbst nicht: An ihrer Stelle bleiben nur Farbreste. So zumindest kann man die unförmige gelbbraune Masse verstehen, die auf einem der ›schwarzen Gemälde‹, »La Leocardia« (1820-1823, Abb. 6), zu sehen ist: Pierre Gassier identifiziert sie als Grab Goyas. Daneben, in Trauer, Leocardia, die damalige Lebensgefährtin Goyas; darüber ein Gitter, wie es für spanische Gräber üblich ist (vgl. Gassier 1971: 317). Dieses Gitter umfasst das Terrain des Grabes jedoch nicht mehr, die Erde, die die sterblichen Überreste Goyas bergen soll, scheint aus dieser Fassung herauszuquellen, die vorgegebene Form nicht annehmen zu wollen. Zu viel scheint von Goya übrig zu sein, zu unförmig sind seine Überreste.

7. Sowohl im bildlichen als auch im wörtlichen Sinne – die Figur löst sich in Nichts auf und schreibt das Wort Nichts auf ein Stück Papier. Der Betrachter bekommt das Nichts also sowohl schriftlich als auch bildlich präsentiert. 179

2005-09-20 17-09-28 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

Abbildung 6: Francisco Goya, La Leocardia, 1820-1823, Öl auf Putz, 147 x 132 cm, Madrid, Prado.

Goya stellt also das, was von ihm auf Erden übrig bleibt, als unförmige braun-gelbe Masse dar – die keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einem Körper hat und nur an ihrer traditionellen Rahmung, die sie kaum mehr erfasst, als Grab zu erkennen ist. Sterbliche Überreste sind hier also nichts als unförmiges Material. Wieder mag das realistisch sein. Wieder aber ist man aber auch mit einer Weigerung konfrontiert, Bilder in ihrer traditionellen Weise zu nutzen. Üblicherweise nämlich hatte Malerei sehr wohl die Funktion, dem sterblichen Körper einen Rahmen zu geben, in dem er Tod und Zerfall überdauert. Malerei diente zur dauerhaften Fixierung der menschlichen Figur, damit die Hinterbliebenen sich auf etwas stützen können. Leocardia stützt sich auf einen Materialberg. Die Malerei, die Goya hinterlässt, ist offensichtlich Material, unverarbeitete Farbberge – Farbreste. Auch seinen eigenen Tod scheint Goya nicht zu verarbeiten, indem er ihn gestaltet. Unverarbeitet konfrontiert er sich

180

2005-09-20 17-09-30 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

in seiner Malerei damit, dass nichts von ihm übrig bleibt als Materialreste. Diese Einführung des Todes als unförmigem und materiellen Rest ins Bild stellt das Ende einer Malerei dar, die sich als Organismus versteht: Seit der Renaissance – Leon Battista Alberti ist einer der ersten Zeugen (vgl. Alberti 2002: 117-129)8 – werden Gemälde mit lebendigen Körpern verglichen. Theodor Hetzers Begriff des »Bildleibes« gibt dies wieder. Entscheidend ist für Alberti sowie für Hetzer, dass die Einzelteile einem Ganzen untergeordnet sind. Es gibt nichts, das sich nicht in diesen Organismus einordnen ließe; alles geht im Ganzen auf. Kurz: »Bildleiber« kennen keinen Rest. Bei Goya konstatiert Hetzer den Zusammenbruch dieser Bildordnung: Zwar stehen menschliche Körper im Zentrum seines Interesses, doch »hinter all ihrer Vitalität lauert das Nichts. Ihre frappierende Lebendigkeit führt uns nicht zu einer organischen Struktur« (Hetzer 1998: 150). Stattdessen tritt der Tod ins Bild. Anstelle einer Bildorganisation, in der der Tod in einem allumfassenden Organismus aufgehoben ist, tritt ein Bildkonzept, das mit dem Tod arbeitet, wo aus totem Material Malerei entsteht.9 Das heißt, mit Goya verschiebt sich das Bildkonzept von einem allumfassenden Organismus à la Velázquez zu einem Bildkonzept, in dem sich Figur und Rest gegenseitig konstituieren, in den der Rest nicht einverleibt, sondern übrig gelassen und in gewissem Sinne ausgeschieden wird. So kann man in einem der letzten Skizzenbücher Goyas (18241828, Abb. 7) ein Recycling des Titelblattes der »Sueños« und insbesondere des Kubus, auf den sich der Autor stützt, sehen: Spiegelbildlich gewendet steht auch hier ein heller Kubus im Vordergrund des Bildes – und auch er trägt frontal eine Aufschrift. Allerdings lautet diese nicht mehr: »Ydioma universal«, wie in der ersten Zeichnung dieses Blattes, noch »El sueño de la razon produce monstruos«, wie in der radierten Version, sondern »Comer mucho« – der Beginn

8. So schreibt er beispielsweise: »Teile der istoria sind die Körper, Teile der Körper sind die Glieder, Teile der Glieder sind die Flächen.« (Alberti 2002: 117 und nochmals auf 121) 9. Foucault verortet die Entstehung des Gegensatzes von Organischem und Anorganischem am Ende des 18. Jahrhunderts – und damit im gleichen Moment wie die Einführung der Arbeit in die Ökonomie und dem Auftauchen der modernen Doppelseitigkeit von Cogito und Ungedachtem, auch Unbewusstes genannt. Vgl. Foucault 1999: 286-287. 181

2005-09-20 17-09-30 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

des jedem Spanier wohlbekannten Diktums, das endet: »…y c… mejor.« – »viel essen und um so besser sch…« Bernd Growe sah schon in der Inschrift »Ydioma universal« das Programm einer künstlerischen Arbeit formuliert, in der »die gegenständlichen Elemente […] rückgebunden [sind] an das amorphe Material der Malerei selbst, und zwar so, dass ihre Genese Bestandteil einer anschaulichen

Abbildung 7: Francisco Goya, Comer Mucho, 1824-1828, schwarze Kreide, 19,1 x 14,8 cm, Madrid, Prado. Analyse bleibt und ihre Form schließlich nur an jene Grenze gelangt, von der der Weg in die Gestaltlosigkeit ständig mitpräsent ist.« (Growe 1985: 43) In dieser Bewegung von der Gestaltlosigkeit zur Figur und zurück erscheinen die beiden Zeichnungen, die relativ am Anfang und am Ende von Goyas Arbeiten stehen, als zwei Seiten derselben Medaille: Der Tisch als Ort der künstlerischen Kreation einer universellen Sprache, auf den sich die Figur in der ersten Zeichnung mit ihren Armen stützt, findet sein Gegenüber in der 182

2005-09-20 17-09-34 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

BILDRESTE. WOMIT GOYAS ARBEITEN NICHT FERTIG WERDEN

Kiste, auf die die Figur in der zweiten Zeichnung ihren Hintern setzt, um hier das zu deponieren, was übrig bleibt von dem, was Menschen sich einverleiben, um ihre Figur zu erhalten: Exkremente. Die Nebenprodukte menschlicher Körper, die bis dahin aus dem Bild ausgeschlossen waren, werden nun als notwendige Bedingungen einbezogen. Eine solche Integration des Unverdaubaren, nicht in den Leib Integrierbaren ins Bild erscheint paradigmatisch für ein Bildkonzept, das Reste produziert. Die Schaffung von Figuren geht bei Goya zwingend mit der Produktion von Resten einher. Das »large sourire [der Betrachterfigur im Hintergrund] montre que les résultats de l’opération sont satisfaisants« (Gassier 1973: 572). Entsprechend könnte die Kiste der zweiten Zeichnung auch ebenso signiert sein, wie es der Kubus in der Vorzeichnung für die »Sueños«10 war: Reste – produziert von Goya. Goyas Arbeiten ließen sich so verorten zwischen »Universalsprache« und »Restroom«11.

10. Auf dieser hier nicht abgebildeten Version steht dort: »Ydioma Universal. Dibujado y Grabado pr. Fco. de Goya ano 1797«. In einer Vorzeichnung zum Blatt 41 der Caprichos ist eine gleich große und ebenso positionierte Kiste zu sehen. Diese trägt die Aufschrift »No moriras de ambre« – »Du wirst nicht verhungern« – was in gewissem Sinne der späteren Aufschrift »Comer mucho« entspricht. Wobei der Affe, der auf dieser Kiste sitzt (noch, wenn auch monströse Figuren), malt statt zu scheißen. 11. Interessanterweise treffen sich im heutigen Englischen und Französischen zwei Etymologien des Stammes rest: eine geht zurück auf das germanische rasta, das anfänglich eine Wegstrecke bezeichnete (nach der man eine Rast einlegte) und dann zunehmen die Rast. Rest bedeutet hier also Rast. Die andere auf das lateinische Verb restare, ein Kompositum aus re – rück – und stare – stehen. Rest heißt hier also Rückstand. Das Chambers’s Etymological English Dictionary registriert aber auch Konvergenzen und Vermischungen aus beiden Bedeutungen. Es treffen sich somit gewissermaßen der rest, der bleibt (rastet) und der, der übrig bleibt (restat). So kann man sich fragen, ob eine solche Konvergenz zwischen Rast und Rückstand nicht auch den restroom (Ende des 19. Jahrhunderts in den USA) prägte. Vgl. Barnhart 1988: 918. 183

2005-09-20 17-09-34 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

VERA BEYER

Literatur Alberti, Leon Battista (2002/1435), Über die Malkunst/Della Pittura, hrsg. v. Oskar Bätschmann u. Sandra Gianfreda, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Barnhart, Robert K. (Hg.) (1988): The Barnhart Dictionary of Etymologie, o. O.: H. W. Wilson Company.

Foucault, Michel (1999/1966): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Freud, Sigmund (1972/1900): Studienausgabe, Band II: Die Traumdeutung, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt/Main: Fischer. Gassier, Pierre (1971): Francisco Goya. Leben und Werk, Fribourg/Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Office du Livre/Ullstein/Propyläen. Gassier, Pierre (1973): Les Dessins de Goya. Les Albums, Fribourg: Office du Livre. Growe, Bernd (1985): »›Ydioma universal‹. Goya und die Sprachlichkeit der Kunst«. In: Giessener Beiträge zur Kunstgeschichte VII, S. 33-56. Hetzer, Theodor (1987/1929): »Das deutsche Element in der italienischen Malerei des 16. Jahrhunderts«. In: Gertrude Berthold (Hg.). Schriften Theodor Hetzers. Bd. 3: Das Ornamentale und die Gestalt, Mittenwald/Stuttgart: Mäander/Urachhaus, S. 17-286. Hetzer, Theodor (1998/1932): »Francisco Goya und die Krise der Kunst um 1800«. In: Gertrude Berthold (Hg.). Schriften Theodor Hetzers. Bd. 9: Zur Geschichte des Bildes von der Antike bis Cézanne, Mittenwald/Stuttgart: Mäander/Urachhaus, S. 143-163. Licht, Fred (2001): Goya. Die Geburt der Moderne, München: Hirmer. Schröder, Thomas (1971): Jacques Callot. Das gesamte Werk. Druckgraphik, Bd. 2, München: Rogner & Bernhard. Stoll, André (1992): »Goyas Zylinder. Der ästhetische Genesisbericht der ›Caprichos‹ und das Medienpublikum«. In: Merkur 5/6, S. 219-236.

184

2005-09-20 17-09-35 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 167-184) T03_10 beyer.p 95224309838

2005-09-20 17-09-38 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 185

) T03_11 a - reble bild.p 95224309958

2005-09-20 17-09-38 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 186

) vakat 186.p 95224310030

ZWISCHEN RESTEN VON BILDERN

Zwischen Resten von Bildern Publikumsgespräch mit Jürgen Reble über den Film »Instabile Materie« (1995) Gefundenes Filmmaterial, Found Footage, bildet den Ausgangspunkt der Arbeiten Jürgen Rebles. Durch chemische, mechanische und optische Verfahren werden aus filmischen Resten Bilder freigelegt, die der Phantasie des Zuschauers Raum lassen, zwischen ihnen zu nisten.1 Pulsierende Formen und verwaschene Farben verbinden sich zu Schemen, die ihre Herkunft nur noch erahnen lassen. Sie fordern dazu auf, selber Sinn in den Film ›hineinzuprojizieren‹. Mit der Gegenständlichkeit löst sich auch die gewohnte Sichtweise auf, die das Bild als Abbild eines Vorgangs begreift. In dem Film »Instabile Materie« (1995) stellt Reble Dokumentarmaterial über das Deutsche Elektronensynchrotron (DESY), einen Teilchenbeschleuniger in Hamburg, an den Beginn. Zersetzt bis auf die Grundbestandteile des Kinematografischen involviert der Film die Zuschauer in ein alchemistisches Spiel, das sich zwischen Innen und Außen, Form und Farbe, Gesehenem und Ungesehenem vollzieht. Das hier wiedergegebene Publikumsgespräch wurde am 8. Juli 2004 im »Mal Seh’n Kino« (Frankfurt/Main) geführt. Jürgen Reble: Ich hatte mir zur Aufgabe gesetzt, einen Film über das Thema Materie zu gestalten. Ein Teil des Ausgangsmaterials des Films zeigte die Forschungsstätte in Hamburg. Interessant in diesem Zusammenhang war für mich zu sehen, wie Physiker heutzutage mit dem Objekt Materie umgehen. Das war eigentlich auch der Ausgangspunkt, an dieses Thema heranzugehen. Weil ich hier mitverfolgen konnte, wie Physiker die Materie erklären, welche Hilfsmo-

1.

Zur Geschichte des Found Footage Films siehe Hausheer/Settele (1992). 187

2005-09-20 17-09-40 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

PUBLIKUMSGESPRÄCH MIT JÜRGEN REBLE

delle oder was für Hilfsmittel sie zur Verfügung haben, um das anschaulich zu machen. Ich hatte diese Video-Kassetten aus Hamburg bekommen, die die unterschiedlichen Atommodelle zeigten. Die darin gezeigten Elementarteilchen haben auch alle Namen, sie heißen zum Beispiel Gluon und Hadron und Pion. In dem Teilchenbeschleuniger werden Protonen und Elektronen auf riesigen Bahnen mit einem Umfang von sechs Kilometern in Gegenrichtung beschleunigt und in einer Halle, in der ein riesiger Detektor steht, aufeinander geschossen. Der Detektor heißt ›ZEUS‹, der Ring ›HERA‹. An diesem Detektor ›ZEUS‹ kollidieren die Elementarteilchen, und dann spricht man vom ›Event‹. Aus diesem ›Event‹ versuchen die Physiker, etwas heraus zu lesen. Und letztendlich versuchen sie, weil der augenblickliche Zustand der Materie nicht vollständig erklärbar ist, eben einen zerfallenden, instabilen Zustand zu Hilfe zu nehmen. Genauer gesagt einen, der sich in einer unglaublich kurzen Zeitspanne nach dem Urknall des Universums ereignet hat. Bei dieser Art der Forschung entstehen sehr viele Ungereimtheiten, weil immer wieder Teilchen Spuren hinterlassen, die man nicht erklären kann. Bestehende Modelle müssen ständig mit mathematischen Theorien ergänzt werden und schließlich kann der überwiegende Teil der gesammelten Informationen überhaupt nicht mehr bewältigt werden. Praktisch werden alle Forschungsergebnisse von Computern gefiltert. Ein winziger Bruchteil, der den augenblicklichen Theorien standhält, wird bewahrt, der Rest wird gelöscht und überschrieben. Da habe ich gedacht, dass ich in diesem heillosen Chaos keinen Film machen kann. Mit dem Material oder dem, was ich zur Verfügung hatte, ging das einfach nicht. Ich wollte eine Aussage über die Materie machen, also über das, was ich mir unter Materie vorstelle oder was mir die Materie erzählen könnte. Und nichts lag natürlich näher, als die Materie auszuwählen, mit der man als Filmemacher täglich zu tun hat. Das sind in diesem Fall etwa 1000 Meter Filmmaterial und ein Pfund Salz verschiedenster Art. Grob gesagt, kippt man das ineinander. Man sollte sich dabei nicht das große Bild auf der Leinwand vorstellen, sondern das Ausgangsmaterial ›Film‹. Es spielt sich schließlich alles auf der Größe eines Daumennagels ab. Auf der Leinwand erscheinen nicht die aufgenommenen Bilder selber, sondern auskristallisierte Leuchtspuren, die von bestimmten Materiekonstellationen durch dieses Bildfenster durchgeschossen werden. So habe ich das Thema gefunden. Die mit der Kamera gefilmten Bilder rück188

2005-09-20 17-09-40 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

ZWISCHEN RESTEN VON BILDERN

ten in den Hintergrund und das bearbeitete Filmmaterial in den Mittelpunkt meines Interesses. Ich verwendete einen großen Fundus Bildmaterial, einfach um verschiedenste Schichten im Hintergrund zu haben. In diesem Fall waren das nicht nur Atommodelle. Man hat auch manchmal makrokosmische Bilder gesehen, Planetenbewegungen. Der Saturn war auch einmal andeutungsweise im Spiel. Aber es gab eben auch viele Bilder, die sich da hineingemogelt haben, die da eigentlich gar nicht hineingehörten: Ausschnitte von Spielfilmen, wissenschaftliches Material, Dokumentarfilme über afrikanische Völker, Tintenfische. Dies ist alles mehr oder weniger in eine Serie von Bildern hineingerutscht, die ich alle unter diesen Chemikalien begraben habe. Die sind letztendlich nur der Vorwand dafür gewesen, aus dem eigentlichen Material heraus, also aus den Chemikalien, mit denen ich arbeiten wollte, eine Form entstehen zu lassen, in die ich hineinarbeiten konnte. Denn das ist manchmal wesentlich leichter, als etwas in einem blanken Film oder in einen schwarzen Film einzugravieren. Das ist natürlich auch eine Geschichte der Materie oder des Universums, dass Bilder nie einzeln auftauchen, sondern immer in einer Verkettung von Prozessen stehen. Und das ist auch ein ganz wichtiger Bestandteil des Films: Zu zeigen, dass ein Bild nie alleine oder isoliert auftauchen kann, sondern immer nur in einem Prozess, in einer Verbindung. Natürlich auch in einer fragilen Verbindung, aus der heraus jede Fortsetzung möglich ist. Ich habe versucht, das Ganze möglichst offen zu halten. Vielleicht können wir auf Fragen des Publikums eingehen. Zuschauer: Ja, also ich sage vorweg, das war der erste Film, den ich wirklich ohne Brille gut habe sehen können. (Gelächter) Reble: Tatsächlich? Auch gut. Zuschauer: Das heißt, ich habe die Brille wohl etwa nach einer halben Stunde tatsächlich abgesetzt – und dadurch wurden die Bilder noch dreidimensionaler. Reble: Sehr gut. Zuschauer: Was mich bei dem Sehen am meisten beschäftigt hat, war die Frage, wo die Bewegung herkommt. Weil ich das nicht so richtig habe lokalisieren können. Einerseits, vor allem im ersten Teil des Films, blieb es undeutlich. Da hat man das Gefühl, es wird eine Art 189

2005-09-20 17-09-40 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

PUBLIKUMSGESPRÄCH MIT JÜRGEN REBLE

vergrößerter Ameisenhaufen fotografiert, bei dem ohnehin eine bestimmte Bewegung abläuft und der Film hält diese Bewegung fest. Und andererseits denkt man aber auch, dass das so nicht funktionieren kann, weil wir lauter Einzelbildchen sehen. Die müssten Sie aber dann in einem furchtbaren Aufwand aneinander geklebt haben, weil die nur ganz minimal zeitversetzt werden, damit diese ruckartigen Bewegungen entstehen. Und ich bin bis zum Ende des Schauens nicht zu einem Ergebnis gekommen. Reble: Ja, ich habe gerade schon versucht, das anzudeuten. Diese chaotische oder manchmal explosive Veränderung von einem Bild auf das andere, die kommt einfach dadurch zustande, dass hier eine Grundbedingung des Films einfach ignoriert wird und zwar die Illusion der kontinuierlichen Bewegung. Wir haben es beim Film mit einer Apparatur zu tun, die das Sehvermögen des Menschen täuscht, weil man weiß, dass sein Wahrnehmungsvermögen die Abläufe nur begrenzt auflösen kann. Man könnte den Film sicher auch Insekten zeigen, z.B. Libellen. Die würden da eine Einzelbild-Diashow sehen und hätten vielleicht auch genug Zeit, alles genau anzuschauen Aber man hat den Filmapparat so konstruiert, damit das träge menschliche Auge die etwa 24 Bilder pro Sekunde, die jeweils von zwei Schwarzphasen unterbrochen sind, als kontinuierliche Bewegung wahrnimmt. Noch bevor man den ersten Projektor gebaut hat, war der erste wichtige Schritt, diese Grenze der Wahrnehmung durch Versuche zu bestimmen, sie erfahrbar zu machen. Dort setzt der Film, der klassische Film, an. Indem man diese Augentäuschung nutzt, bekommt man den Eindruck, eine kontinuierliche Bewegung zu sehen. In Wirklichkeit ist die aber nicht da. Viele Filmemacher haben den Film Bild für Bild transportiert, Ken Jacobs zum Beispiel. Er hat lange Zeit Filme am optischen Printer gemacht. Der optische Printer ist ein Gerät, mit dessen Hilfe man den Film arritieren kann. Man kann jedes Bild einzeln bearbeiten, einen Rotfilter hinzufügen oder eine Abblende auf ein anderes Bild setzen. Kurz gesagt: Man kann mit dem einzelnen Bild machen, was man will. Man kann es beliebig lange stehen lassen und letztendlich sogar Ornamente auf das Bild eingravieren, darauf sogar herumkritzeln. Der Film liegt offen im Projektor und man hat ihn praktisch aus der Zeit herausgenommen und für sich verfügbar gemacht. Und das ist die Methode, mit der ich hier auch arbeite. Ich gehe in die einzelnen Bilder hinein und nehme Veränderungen vor. Während der Arbeit habe ich den Film dann auf einem 190

2005-09-20 17-09-41 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

ZWISCHEN RESTEN VON BILDERN

Leuchttisch abgespult, immer so etwa zwei Meter Stücke, und habe mir dann überlegt, welchen Teil ich verwende. Meistens waren das keine einzelnen Streifen, sondern zehn Streifen hintereinander. Diese zehn Streifen à zwei Meter liegen dann auf dem Leuchttisch und lassen sich bearbeiten. Bei manchen geht man etwa diagonal mit Chemikalien hinein, die haben eine rote Tonung und bestehen aus Würfelkristallen, und dann nimmt man eine Säge oder ein Schleifpapier und ritzt diagonal von der anderen Seite dagegen und fängt an, die Filmfläche nach beliebigen Vorgaben, die man sich eben in diesem Moment setzt, kaderartig zu bearbeiten. Und dadurch gerät natürlich das, was im Filmbild zu sehen ist – oder vorher zu sehen war – in den Hintergrund. Deswegen auch der Titel meines Beitrags »Zwischen Resten von Bildern«. Man erkennt eben Reste oder Strukturen zwischen Resten von Bildern. Die Filmbilder geben also die Bewegungsrichtung vor. Im Moment der Materialbearbeitung folgen sie natürlich keiner Bewegung, sondern sind Einzelereignisse auf meinem Leuchttisch, und genau da gehe ich mit den Chemikalien hinein. In jedem Bild prallt ein Einzelereignis auf eine Bewegung. Manchmal geht das auch ineinander über. Es gibt da beim Film, der ja noch analog arbeitet, genügend Graubereiche oder Zwischenbereiche. Das sind genau die Bereiche, die mich auch bei dieser Art der Arbeit immer interessieren – einfach in Bereiche hineinzugehen, die man nicht kennt, die visuell neu sind, die natürlich auch eine Dynamik und eine Bewegung entstehen lassen, die man auch nicht unbedingt in der vollen Schärfe sehen soll oder braucht. Die Brille abzunehmen finde ich gut. Ich habe sie auch nicht aufgesetzt, ich habe auch eine leichte Sehunschärfe. Und ich empfinde es eigentlich als angenehmer, den Film auch mit einer leichten Unschärfe zu sehen.

191

2005-09-20 17-09-41 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

PUBLIKUMSGESPRÄCH MIT JÜRGEN REBLE

192

2005-09-20 17-09-44 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

ZWISCHEN RESTEN VON BILDERN

Das führt uns auf einen wirklich interessanten Kernpunkt: Was ist das überhaupt: das Sehen? Und inwiefern knüpft so ein Film an eine bestimmte Form des Sehens an? Kann man eine Seherfahrung mit so einem Film machen? Ich lege das natürlich auch zugrunde, weil ich mich sehr viel mit dem Sehenlernen des Menschen beschäftigt habe. Während der Mensch beim Hören eine Art embryonaler Antenne hat und akustische Eindrücke bereits früh wahrnimmt, ist das Sehen eine ganz spezifische Sache, die sich eigentlich in den ersten Wochen nach der Geburt ereignen muss. Und wenn man das Sehen in diesem Zeitraum nicht lernt, dann lernt man es in der Regel im ganzen Leben nicht mehr. Jedenfalls gibt es diese Fälle, dass Menschen blind geboren wurden, dann später an den Augen operiert werden und durch die plötzliche Lichtwahrnehmung in eine unglaubliche seelische Krise stürzen, weil sie eben eine Möglichkeit, die Welt zu bestimmen, schon erlernt haben und durch das Sehen, das sie nicht mehr lernen können, wieder völlig zurückgeworfen werden. Sie werden wieder auf eine Form oder auf irgendetwas in ihrer Wahrnehmung hingewiesen, das sie nicht mehr verarbeiten können. Und das sind Gebiete, die mich unglaublich stark interessieren. Es gibt da auch einige Filme, die sich mit dem Thema sehr intensiv auseinandersetzen, beispielsweise Stan Brakhages Film »The Text of Light«, Anfang der 70er Jahre gemacht. Bei diesem sieht man nur relativ unscharfe Bewegungsabläufe, auch abstrakter Art, die immer wieder in ein Schwarz fallen, man macht hier eine ähnliche Erfahrung. Er ist etwa eine Stunde lang und hat mich sehr stark beeindruckt. Zu versuchen, wieder an diese Punkte anzuknüpfen, wie man Sehen gelernt hat, oder was man mit dem visuellen Apparat verbinden kann. Das geht natürlich nicht, wenn man das schon gelernt hat und alle die Bilder in seinem Kopf drinnen hat. Man kann natürlich nicht wieder an diesem Ausgangspunkt ansetzen, aber man kann mit dem Gehirn wieder in Bereiche zurückkommen, von denen aus man aus diesem analytischen Sehen herausfindet. Und sich auf diese Weise wieder an diese ursprüngliche Art des Sehens annähert. Die hat auch sehr stark damit zu tun, dass man im Grunde genommen nur verschwommene Farbflächen sieht, die man nicht zuordnen kann. Und mit diesem Film versuche ich, solche Prozesse wieder aus dieser Frühphase des Sehens auszubuddeln. Zuschauer: Ein anderer Filmemacher, den Sie, glaube ich, auch kennen, Christoph Keller, der auch in Köln an der Kunsthochschule für 193

2005-09-20 17-09-44 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

PUBLIKUMSGESPRÄCH MIT JÜRGEN REBLE

Medien war, vielleicht haben Sie den einmal getroffen, jedenfalls hat der auch einmal fast dasselbe gezeigt. Allerdings ist er ganz anders dazu gekommen. So hat nämlich die SS, als die Rote Armee Berlin erobert hat, die Filmaufnahmen des Krankenhauses Charité in Berlin, in dem Euthanasie-Experimente durchgeführt und medizinisch auf Film dokumentiert wurden, im Stößensee von Berlin versenkt. Und die sind bei Taucherarbeiten vor wenigen Jahren wieder gefunden worden.2 Reble: Spannend. Zuschauer: Und die sehen exakt so aus. Das ist die reine Entropie. Also daran musste ich denken. Das Material ist auf einem ganz anderen Weg zustande gekommen, nicht durch künstlerische Intention, sondern durch die reine Entropie des Films. Reble: Man kann das auch so nehmen wie es ist und gar nichts daran machen. Zuschauer: Das ist ja auch in Ihrem Sinne. Reble: Natürlich. Zuschauer: Also das scheint mir auch das wesentliche Element zu sein, dass der Film selbst an sich, also das Filmmaterial an sich mit chemischen und physikalischen Mitteln bearbeitet ist. Und in zehn Jahren könnten Sie so einen Film gar nicht mehr machen, weil das Filmmaterial nicht mehr hergestellt wird. Sie haben eigentlich nur ein Zeitfenster von vielleicht 70 Jahren, so einen Film machen zu können. In ungefähr zehn Jahren ist das Filmemachen bereits ein Relikt einer vergangenen Epoche. Also ein Rest. Reble: Ja, das stimmt. Ich würde den Rahmen allerdings nicht ganz so eng stecken. Zuschauer: Na gut, ich habe jetzt mal die Zeitperiode des Farbfilms genommen, jetzt sagen wir mal von den 1930er Jahren bis irgendwo Anfang diesen Jahrhunderts –

2. Keller hat die medizinischen Filme der Charité von 1903-1990 auf seiner Homepage dokumentiert (www.medfilm.de). 194

2005-09-20 17-09-44 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

ZWISCHEN RESTEN VON BILDERN

Zuschauer: Nein, das ist aber nicht der Farbfilm, sondern das ist das, was wirklich in den alten Stummfilmen gemacht worden ist. Das muss man noch mal festhalten. Also das ist eben dieses farbige Eintönen, dieses farbige Unterlegen, das bereits in den alten Stummfilmen gemacht wurde, und zwar vor dem Farbfilm. Reble: Was wir jetzt gesehen haben, die Kopie, war ein Farbfilm, natürlich. Zuschauer: Aber auch das Basismaterial, das Sie verwendet haben? Reble: Nein, das war alles Schwarzweißmaterial. Ich habe da überhaupt nicht mit Farbfilm gearbeitet – Zuschauer: Ach so – Reble: – sondern nur mit Schwarzweiß. Zuschauer: Und dass z.B. Kratzer in dem Filmmaterial waren, wo sich dann mehrere Schichten am Band abgebildet haben? Reble: Das liegt einfach daran, dass ich in der Regel das Salz oder die Farbstoffe nicht in einem Durchgang, sondern oft in fünf, sechs oder mehr Durchgängen aufgetragen habe. Und dann hat man von vorneherein schon eine Menge Schichten. Wenn man dann anfängt, mit Sandpapier einzugravieren oder mit Sägen oder mit anderen Mitteln arbeitet, dann entstehen auch ähnliche Kratzer wie beim Farbfilm mit starkem Abrieb. Zuschauer: Verändert sich der Originalfilm eigentlich durch die chemischen Prozesse? Gehen die weiter? Reble: Die gehen weiter. Teilweise lösen sich die Bilder nach Jahren auch ganz auf. Vielleicht ist jemand von Ihnen schon mal in den Genuss gekommen, diese alten Nitratfilme, die im Zerfall sind, zu sehen. Das Filmmuseum in Amsterdam hat sich zur Aufgabe gemacht, viele von diesen halb zerstörten Filmen noch im Zerfall zu kopieren und das sind zum Teil ganz tolle Sachen, die da entstehen, obwohl das alles von den Filmemachern nicht vorgesehen war. Das sind wirklich wertvolle Zeitdokumente. (Transkription: Caroline Schmidt, Einleitung: Andreas Becker, Screenshots aus »Instabile Materie«) 195

2005-09-20 17-09-45 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

PUBLIKUMSGESPRÄCH MIT JÜRGEN REBLE

Literatur Hausheer, Cecilia/Settele, Christoph (Hg.) (1992): Found Footage Film, Luzern: VIPER/zyklop Verlag.

196

2005-09-20 17-09-45 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 187-196) T03_11 b - reble.p 95224310190

2005-09-20 17-09-48 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 197

) T03_11 c - reble bild.p 95224310374

2005-09-20 17-09-49 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 198

) vakat 198.p 95224310526

Reste nutzen

2005-09-20 17-09-50 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 199

) T04_00 respekt 4.p 95224310622

2005-09-20 17-09-50 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 200

) vakat 200.p 95224310686

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

»Das läßt nicht mehr allzu viel übrig.« 1 Bildreste der Moderne Christian Spies

Mit dem Überschreiten scharf umrissener Zielsetzungen und motivischer Gegenstandsbereiche wendet sich die bildende Kunst seit dem Beginn der Moderne ihren vormaligen Randbereichen zu. Marginalisiertes tritt im direkten Sinne des Wortes ins Bild und wird von seiner Stellung als außerhalb liegender Rest nun ins Zentrum des künstlerischen Interesses gerückt. Beispiele für solche Umgangsweisen mit dem vormals nicht Präsentablen, dem Unbedeutenden, Unverarbeiteten und Übrigen ließen sich entsprechend der Entwicklung der Moderne in zunehmender Anzahl anführen – bis zu einem Umkehrpunkt, der hier im Folgenden interessieren wird: Gemeint ist jene Entwicklung, die vor allem in der US-amerikanischen Kunst der 1950er Jahre einsetzt, wo nicht mehr ein wie auch immer gearteter Rest von außen ins Bild tritt, sondern wo das Bild selbst systematisch bis auf einen immer kleineren Rest reduziert wird. Es geht um die damit einsetzende Frage, was und wie viel vom Bild übrig bleiben muss, um überhaupt noch ein Bild zu sein. Zunächst waren es bis ins 20. Jahrhundert hinein noch vornehmlich die unverarbeiteten Elemente, die Leerstellen, Farbspuren, Gegenstände und Materialien, die nicht mehr in der einen Bildsynthese aufgehen und so im Rahmen einer klassischen Werkkonzeption als Fehlstellen und Irritationen übrig bleiben.2 Später treten Reste zunehmend auch als Motive und Material direkt ins Bild.

1. Vgl. Glaser 1995: 47. 2. Vgl. dazu den Text von Vera Beyer in diesem Band. 201

2005-09-20 17-09-52 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

Von Darstellungen des Randständigen und Übersehenen reicht die Spanne dann bis zu solchen des Missfallenden und Abstoßenden. Damit wird der Rest nun in Form des Mülls, als das ausdrücklich Überflüssige und zu Entsorgende zum Emblem für ein verändertes künstlerisches Interesse, und die Suche nach je entsprechenden Darstellungsformen führt dazu, dass dieser Rest endlich auch tatsächlich als Material ins Bild tritt. Van Goghs euphorischer Bericht von einem Besuch auf dem Müllplatz etwa – »Donnerwetter, war das schön« (van Gogh 1968: 174) – oder die Materialcollagen Kurt Schwitters, in denen eine Vielzahl scheinbar wertloser Fundstücke zu einem neuen ›Bildganzen‹ zusammengefügt werden, sind dafür nur zwei berühmte Beispiele. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass der bildkünstlerische Umgang mit dem Rest in der Moderne bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als eines von vielen Experimentierfeldern in der Auseinandersetzung mit vertrauten ästhetischen Normen zu verstehen ist, bei dem es immer wieder zu einem Umwertungsprozess kommt: Der Rest und der Müll wird nicht nur entgegen den bestehenden Konventionen ins Bild gesetzt, sondern er bleibt auch kein solcher mehr. Er wird nun zum maßgeblichen und zentralen Gegenstand; zugleich wird er dabei jedoch nicht so verarbeitet, dass er im Sinne des Recycelns zum wertvollen Material umgewertet wird, sondern er muss zugleich Rest bleiben.3 Auch in der neuen Position im ›Bildzentrum‹ muss die ursprüngliche randständige Position – zumindest im Sinne der konventionellen Bewertung als Rest – doch strategisch aufrecht erhalten bleiben. Nur so entsteht jenes intendierte Spannungsverhältnis, das den Rest im Bild auszeichnet: Wie weit kann das Randständige ins Zentrum gerückt werden, um dort weiter als Marginalie aufzufallen? Mit dieser Frage jedoch bleibt der Rest in der Kunst der Moderne jedoch nur in einer Hinsicht thematisiert: und zwar in derjenigen, wie der Rest ins Bild gesetzt wird, wie er zum Motiv oder Material des Bildes wird und dabei seine Randposition zugunsten einer Position im Zentrum verschoben wird. Unbeachtet bleibt dabei jedoch die umgekehrte Perspektive, die zwar möglicherweise weniger prominent, aber doch keinesfalls weniger bedeutsam ist: Gemeint ist die Entwicklung, dass das Bild selbst zum Rest wird – und dies eben

3. Vgl. dazu den Text von Phillip Ursprung in diesem Band, der dieses Spiel mit der Umwertung des Rests durch Kunst speziell bei dem US-amerikanischen Künstler Gordon Matta-Clark thematisiert sieht. 202

2005-09-20 17-09-53 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

nicht nur deshalb, weil es sich entgegen der vertrauten Konventionen den Resten zuwendet. Sie steht vielmehr im Zusammenhang jener zentralen Motivation der bildkünstlerischen Moderne, die durch das stetige Infragestellen und Überschreiten der bestehenden Konventionen von Bildern, durch die schrittweise Selbstreflektion und zunehmende Reduktion bestimmt ist, mit der das Bild schließlich systematisch um all dasjenige ›bereinigt‹ wird, was es bis dato auszumachen schien. Damit stellt sich die Frage nach Bild und Rest im Horizont dieser programmatischen Zurichtung von Moderne und Modernismus auf eine umgekehrte Weise: »Wie viel Bild kann man bei einem Bild weglassen, ohne dass es aufhört ein Bild zu sein?«4 So lautet sie zumindest in der skeptischen Formulierung Odo Marquards. Im Hinblick auf die leitende Frage nach dem Rest müsste man sie umformulieren: Welcher und wie viel Rest des Bildes muss übrig bleiben, damit ein Bild nicht aufhört, ein Bild zu sein? Das Aufkommen dieser Frage nach dem Rest des Bildes im USamerikanischen Modernismus der späten 1950er und frühen 1960er Jahre war zunächst immer wieder mit der Frage nach der Qualität des Bildes verbunden gewesen – wie viel Rest des Bildes muss übrig bleiben, damit bestimmten Qualitätsansprüchen und Normen entsprechen kann? Und doch stellt sie sich darüber hinaus primär in medientheoretischer Hinsicht: Sie geht mit der Frage nach den medialen Bedingungen der Möglichkeit des Bildes – speziell des gemalten Bildes – einher und reicht in ihrer Bedeutung deshalb auch über diesen unmittelbaren historischen und programmatischen Zusammenhang hinaus. Im strengen Sinne einer modernistischen Entwicklungslogik der Malerei in den 1950er Jahren ging es darum, das Bild auch im Anschluss an Moderne und Abstraktion in der europäischen Malerei in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nochmals kontinuierlich um überflüssige Bildkonventionen und Illusionsstrategien zu reduzieren, um dann einen jeweils verbleibenden Rest ebenso immer weiter – bis zu seinem völligen Verschwinden – zur Disposition zu stellen. Dabei muss dann zwangsläu-

4. Vgl. Marquard 1991, S. 25. Marquard formuliert diese Frage im Rahmen einer kritischen Revision der Position Hans Blumenbergs unter dem bezeichnenden Titel »Entlastung vom Außen« und fügt freilich auch die entsprechenden Fragstellungen für die anderen künstlerischen Medien hinzu: »Wieviel Theaterstück kann man von einem Theaterstück substrahieren, ohne dass es aufhört, Theater zu sein? Oder »Wieviel Musik kann man bei der Musik weglassen, ohne dass sie aufhört, Musik zu sein?« 203

2005-09-20 17-09-53 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

fig die Grenze in den Blick genommen werden, an dem die übrig bleibenden Bildreste tatsächlich nicht mehr weiter reduziert werden können – ohne, dass das Bild aufhört, ein Bild zu sein. Dann geht es um den Rest, der bestehen bleiben muss, um einen Rest, der gerade als ein solcher Rest in der Lage ist, zum Bild zu werden.

Restlose Bilder? Die programmatischen Debatten um diesen notwendigen ›Bildrest‹ in der US-amerikanischen Kunst der 1950er und 1960er Jahre zeichnen sich vor allem im Rahmen von Clement Greenbergs Bemühungen um den »Master Narrative of Modernism«5 ab. Genauer sind es die Reaktionen auf diese programmatische Zuspitzung der modernistischen Bildidee durch den ›Papst Greenberg‹, die sich in dem Augenblick abzeichnen, in dem die vorher vermittelte, strikte Entwicklungslogik des Bildes zu einem immer kleineren Bildrest hin, ins Stocken gerät: Dann nämlich, als Greenbergs Forderungen nach einer schrittweisen Selbstreflektion und Reduktion des Bildes zugunsten seiner grundlegenden Medialität in ihrer letzten Konsequenz eingelöst werden, kommen auch die Sorgen um den notwendigen Rest dieser Bilder auf, ohne den sich eine vertraute Bildlichkeit dann doch zu verflüchtigen drohe. Es ist vor allem Greenberg selber, der etwa 20 Jahre nachdem er seinen »Master Narrative of Modernism« unter den Vorzeichen einer kontinuierlichen Reduktion und Bereinigung des Bildes nun einen Rest bestimmt, der als Endpunkt dieses Reduktionsprozesses nicht weiter unterschritten werden darf: »Die Geschichte der Avantgarde-Malerei ist die Geschichte ihrer schrittweisen Anerkennung der Widerständigkeit ihres Mediums, welche hauptsächlich darin besteht, dass die plane Bildfläche den Versuchen widersteht, sie zu einem realistischen perspektivischen Raum hin zu ›durchstoßen‹.« (Greenberg 1997a: 75) So hatte Greenberg seine Entwicklungslogik anfangs in seinem 1940 veröffentlichten Text mit dem programmatischen Titel »Towards a Newer Laocoon« formuliert. Und er hatte dabei zugleich das maß-

5. Von einem solchen spricht Arthur C. Danto im Hinblick auf den besonderen Stellenwert von Clement Greenbergs modernistischer Entwicklungslogik. Vgl. Danto 1997, insb. Kap. 3. 204

2005-09-20 17-09-54 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

gebliche Bildelement bestimmt, auf das sich die modernistische Malerei in ihrem Reduktionsprozess zu orientieren habe: Die ›flatness‹ als die undurchdringliche, zweidimensionale Bildfläche muss schrittweise von allem bereinigt werden, wodurch sie vorher in mehreren Jahrhunderten der abendländischen Bildentwicklung zur transparente Ebene und in den dreidimensionaler Tiefenraum erweitert worden war. Übrig bleiben müsse die »reale, materielle Ebene der wirklichen Leinwandfläche«; sie stellt für Greenberg von Anfang an den Rest dar, der als mediale Basis des Bildes für seine Entwicklungslogik des Bildes ausschlaggebend ist. In dem ebenfalls programmatischen Text »Modernist Painting«, der dann 20 Jahre später und im Rückblick auf die für Greenberg zentralen Maler des Abstract Expressionism entstanden ist – Jackson Pollock und Barnett Newman – lautet die entwicklungslogische Aufgabenstellung und Zielsetzung dann nochmals folgendermaßen: »Das Wesen des Modernismus liegt, soweit ich sehe, darin, die charakteristischen Methoden einer Disziplin anzuwenden, um diese Disziplin ihrerseits zu kritisieren«. (Greenberg 1997b: 265) Und sein nun weiterentwickeltes Modell einer historischen Entwicklungslogik erweist sich als genau dasjenige, in dem das Bild unter den Vorzeichen von Selbstkritik und Reinheit reduziert werden muss: »Es wurde bald deutlich, dass der eigene und eigentliche Gegenstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau das ist, was ausschließlich in dem Wesen ihres eigenen Mediums angelegt ist. Die Aufgabe der Selbstkritik war es folglich, aus den spezifischen Effekten einer Kunst all jenes herauszufiltern, was eventuell auch von dem Medium einer anderen Kunst – oder des Mediums einer anderen Kunst entliehen werden könnte. So würden die einzelnen Künste ›gereinigt‹ und könnten in ihrer ›Reinheit‹ die Garantie für ihre Qualitätsmaßstäbe und ihre Eigenständigkeit finden. ›Reinheit‹ bedeutet Selbstdefinition, und das Unternehmen der Selbstkritik wurde in den Künsten zu einer rigorosen Selbstdefinition.« (Ebd. 267) Just zu diesem Zeitpunkt jedoch, zu dem Greenberg diese rigide Entwicklungslogik in »Modernist Painting« nochmals in programmatischer Weise fasst, wird für ihn zugleich auch die Frage nach dem verbleibenden Rest, über den die modernistische Reduktion nicht hinausgehen kann, dringlich. Die kontinuierliche Negation von bildlichen Norm- und Funktionsmodellen kann nun nämlich doch nicht mehr weiter als ein unendlicher Prozess gedacht werden, der 205

2005-09-20 17-09-55 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

schließlich notwendigerweise zum restlosen Auflösen des Bildes im bloßen Objekt führen müsste. Vielmehr geht Greenberg jetzt daran, jenen Rest genauer zu bestimmen, ohne den das Bild aufhört, ein Bild zu sein. »Der Modernismus hat entdeckt, daß diese Bedingungen [Normen und Konventionen der Malerei; C.S.] nahezu vollständig zurückgenommen werden können, bevor ein Bild kein Bild mehr ist, sondern zu einem beliebigen Objekt wird; aber er hat zugleich auch entdeckt, daß je weniger man von diesen Bedingungen beibehält, es um so notwendiger wird, sie einzuhalten und sichtbar zu machen.« (Ebd. 273) In dem Augenblick also, in welchem dem Bild bereits vieles genommen ist, wird es nun für Greenberg umso notwendiger, präzise zu bestimmen, was vom Bild übrig bleiben muss: ein Rest, der noch ein Bild ausmachen kann. Zwar spricht Greenberg in »Modernist Painting« immer noch davon, wie die normierten Bedingungen von Malerei ›unendlich‹ weit reduziert werden könnten, bis das Bild zum Objekt ›degradiert‹ werde. Doch ist die Grenze, die er kurze Zeit später in »After Abstract Expressionism« formuliert, bereits impliziert: Offensiv schreibt er nun im Hinblick auf die jüngere Entwicklung der New Yorker Malerei – etwa diejenige in Frank Stellas schwarzen Bildern: »Eine auf den Keilrahmen gespannte Leinwand existiert bereits als ein Bild.« Die beiden konstitutiven Konventionen oder Normen – Flächigkeit und deren Begrenzung – reichen bereits aus, um ein solches Objekt als Bild zu erfahren. Doch sein Einwand gegen diesen ›Minimalrest‹ ist überaus deutlich: »- allerdings nicht unbedingt als ein gelungenes Bild.« (Greenberg 1997c: 331) Mit der Malerei des frühen Minimalismus sieht sich Greenberg nun mit einer nicht mehr tragbaren Konsequenz seiner Entwicklungslogik – »with the hypothetical case of the blank canvas« – konfrontiert. Der ›legitime‹ Rest das Bildes ist damit für ihn unterschritten und das bedeutet für den Kritiker Greenberg nicht allein eine Neubestimmung seiner ästhetischen Normen, sondern er hätte damit, wie Thierry de Duve schreibt, beinahe sein gesamtes medienästhetisches Denken für obsolet erklären müssen (de Duve 1990: 260). Hier wurde für ihn deutlich, dass die Entwicklungslogik einer modernistischen Malerei nur von begrenzter Dauer sein konnte und dass ein Medienpurismus in letzter Konsequenz nie ihr eigentliches Ziel sein dürfte. Ebenso strikt, wie vorher der Medienpurismus zum Programm erklärt worden war, musste nun auch festgelegt werden, welcher und wie viel Rest des Bildes übrig bleiben muss, damit es nicht aufhört, ein Bild zu bleiben. 206

2005-09-20 17-09-55 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

Genau diese Problemstellung, die sich mit der US-amerikanischen Kunstentwicklung am Anfang der 1960er Jahre unweigerlich stellt, soll im Folgenden weiter interessieren. Einerseits wird im Kontext der modernistischen Programmatik jetzt offensiv für einen verbleibenden Rest des Bildes argumentiert, in dem sich eine vertraute Form von Bildlichkeit weiter artikulieren kann. Andererseits wird unter denselben Vorzeichen von einer jüngeren Künstlergeneration die modernistische Entwicklungslogik doch weiter gedacht – und dies dezidiert über die neuerdings eingezogenen Grenzlinien hinaus – bis zu dem Punkt, wo auch der letzte Rest des Bildes, der auch im Modernismus übrig geblieben war, noch einmal auf den Prüfstand gestellt wird. Es sind deshalb genau diese Bilder, die die Frage nach dem Bildrest in der Moderne nochmals unmissverständlich stellen: Wird hier tatsächlich der Schritt bis zum ›restlosen Bild‹ – so paradox dieser Terminus dann auch sein mag – vollzogen, oder bleibt trotzdem ein weiterer Rest übrig und werden gar neue Reste erschlossen, die dafür bürgen, dass das Bild ein Bild bleibt? Denn, so offensiv die weitere Reduktion auf ein ›restloses Bild‹ im Minimalismus zweifellos antizipiert ist, so machen die entsprechenden Bilder wiederum deutlich, dass doch jeweils eine konstitutive Restmenge besteht, das heißt, dass sie bestehen bleibt und neu erschlossen wird. Gerade da, wo der letzte Rest des Bildes in einem Bild eliminiert werden soll, da kommt die »Dialektik der ästhetischen Grenze« (Boehm 1973) nochmals aufs Schärfste zum Ausdruck. So wie Gottfried Boehm schreibt, »ist [sie] nur um den Preis einer kunstlosen Kunst auf die Wirklichkeit hin zu überschreiten« (ebd. 120), was freilich auch mit der Rede vom bloßen Objekt, zu dem sich Bild und Skulptur zu Beginn der 1960er Jahre entwickelt haben, zunächst der Fall zu sein scheint. Doch schon die Bestimmung dieses Objekts als specific object, in dem ein inszeniertes ›visuelles Erlebnis‹ zu einem Betrachtungsprozess führt und so eine Bildhaftigkeit des bloßen Objekts erreicht wird, zeugt davon, wie hier die Grenze zwar verschoben wird, aber dennoch aufrecht erhalten bleibt. Die Grenze steht nicht fest, sie wird vielmehr als Übergang ins Bild gesetzt; als eine »Grenze, die als Grenze existiert und nicht darin aufgeht, Etwas zu begrenzen, d.h. diesem Umriss und Bestimmung zu verleihen« (ebd. 119). Vielmehr kann die Grenze hier im verschwindend kleinen Rest zum Gegenstand bildlicher Erfahrung selbst werden. Die eingangs gestellte Frage: Welcher und wie viel Rest des Bildes muss übrig bleiben, ohne dass es aufhört, ein Bild zu sein? wird konsequenterweise im Bild selbst themati207

2005-09-20 17-09-57 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

siert, gerade dort, wo es sich anscheinend restlos zu verflüchtigen scheint. Und es können dabei gerade in der Überschreitung dessen, was bis dato den Rest des Bildes ausgemacht hatte, neue Reste erschlossen werden, solche die außerhalb des Bildes selbst in seinem Dialog mit seinem Umraum und Kontext sowie dem Betrachter liegen. So sollen im Folgenden mit Robert Rauschenberg und Frank Stella zwei US-amerikanische Künstler der 1950er und 1960er Jahre angesprochen werden, die sehr früh mit jeweils einer Bildserie zu dieser ebenso historisch programmatischen wie bildästhetisch fundamentalen Problemstellung Position beziehen: Gemeint sind Rauschenbergs ›White Paintings‹ von 1951 und Frank Stellas ›Black Paintings‹ von 1959. Beide Serien nehmen innerhalb der Programmatik Clement Greenbergs einen ähnlichen Status ein. Beide sind für den Kritiker einerseits folgerichtige Entwicklungsschritte einer modernistischen Entwicklungslogik hin zur leeren Leinwand und dem bloßen Objekt. Doch erweisen sie sich damit andererseits noch keinesfalls auch als ›gute Bilder‹. Rückblickend beschreibt Greenberg 1967 das erste Zusammentreffen mit den weißen Leinwänden Rauschenbergs in ›Recentness of Sculpture‹ ausgesprochen nüchtern: »Ich war überrascht, wie eingängig sie wirkten, wie vertraut und sogar gekonnt sie aussahen. […] Eine monochrome Fläche von sichtbar begrenzten Ausmaßen, die keine Wand ist, erklärt sich von nun an automatisch zu einem Bild, zur Kunst.« (Greenberg 1997d: 363) Zunächst bleiben solche Bilder nur Ausnahmen in der Hochphase abstrakt expressionistischer Malerei im New York der 1950er Jahre, die sich noch einfügen und – so Greenberg – gewissermaßen domestiziert werden konnten.6 Bald jedoch, als Greenberg an den schwarzen Bildern Frank Stellas bemerkt, dass es sich nun tatsächlich um mehr handelt, als um eine weitere Spielart des Pollock’ schen all-over, reagiert er sehr viel deutlicher: »As for Stella’s black paintings: they’re plausible« bestätigte Greenberg Ende der 1980er Jahre im Brief an Thierry de Duve, »but not good enough: his alumi-

6. Das mag freilich mit daran liegen, dass bei Rauschenberg auf die weißen und schwarzen Leinwände der frühen 1950er Jahre bald solche folgen sollten, die sehr viel besser mit dem Abstrakten Expressionismus vereinbar waren. 208

2005-09-20 17-09-58 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

nium ones are better, but still not good enough.«7 Hier wird jener bereits benannte Konflikt unausweichlich, hin zum vermeintlichen Endpunkt einer leeren Leinwand und einem bloßen Objekt, die aber zugleich wieder den Ausgangspunkt für eine nachfolgende Entwicklung darstellen. Doch gerade bevor im Laufe der 1960er Jahre unter den Schlagwörtern der Concept-, Performance und Video-Art ganz neue Marginalien und Reste wieder mit ins Bild genommen werden, stellen die beiden benannten Serien im Sinne einer Engführung einen Testfall dar, wie diese zunächst restlos erscheinenden Bilder sich doch über einen konstitutiven Bildrest erschließen.

»Airports for Lights, Shadows, and Particles«

Abbildung 1: Robert Rauschenberg, White Painting, 1951, Öl auf Leinwand, 183 x 318 cm, Privatsammlung.

7. Vgl. dazu den Brief von Clement Greenberg an Thierry de Duve, zit. n. De Duve 1990: Fn. 5. 209

2005-09-20 17-10-01 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

Rauschenbergs Serie der »White Paintings« entsteht 1951 während eines Aufenthaltes des jungen Malers am Black Mountain College. Es handelt sich um mehrere einfarbig weiße Bilder, die überwiegend aus mehreren einzelnen Leinwänden zusammengesetzt sind. Außer diesen Strukturierungen im Format und den jeweiligen Binnengliederungen erscheinen sie weitgehend indifferent. Sie sind mit einem neutralen Weißton ohne weitere Handschriftlichkeit und ohne Interesse an einer differenzierten Oberflächenqualität gehalten. Rauschenberg hat sie sogar mehrfach neu übermalt, so dass bei jeder Präsentation wieder eine reinweiße Fläche vorhanden ist. Später ist er sogar so weit gegangen, dass er dieses Übermalen seinen Assistenten überlassen hat oder er die Bilder an anderen Orten für Ausstellungen nachbauen ließ, um lange und kostspielige Transportwege zu sparen. Die dafür notwendigen Angaben Rauschenbergs bestanden nur in den exakten Maß- und Materialangaben.8 Wichtig war die weiße Fläche. In dieser Form öffnen die Bilder für Rauschenberg Neuland, wie er in einem Brief an seine damalige Galeristin Betty Parson schreibt: »they [the white Paintings; C.S.] take you to a place in painting art has not been […] [to, C.S.] the point where a circle begins and ends.«9 Hier wird deutlich, welchen Status der junge Maler seinen Bildern beimisst: Einerseits ist er sich sehr bewusst, das sie in der Tradition letzter Bilder, etwa den Monochromen Kasimir Malewitschs, Aleksander Rodchenkows oder Władysław Strzeminskis in den 1910er bis 1930 Jahren stehen, die hier nun tatsächlich nicht mehr weiter, als bis auf die reinweiße Fläche reduziert werden können. Insofern handelt es sich hier bereits um die von Greenberg wenige Jahre später befürchtete leere Leinwand, die schon ein Bild ausmachen könne. Wie gesagt, sind die weißen Bilder nur durch ihr Format und ihre teilweise Binnengliederung aus mehrern zusammengesetzten Einzeltafeln definiert. Nur über diese Bildgrenzen etabliert sich die Minimalunterscheidung von Bild und Nicht-Bild, das heißt, von weißer Bildfläche und weißer Wandfläche, bei der selbst eine intendierte Oberflächendifferenzierung in der Weißfläche, die für die abstrakten Expressionisten noch als maßgebliches Kriterium für die

8. Mit diesem eigentümlichen Konzept und den Produktionsbedingungen von Rauschenbergs »White Paintings« sowie vor allem dem daran ersichtlichen Verhältnis von Struktur und Oberfläche habe ich mich an anderer Stelle genauer auseinandergesetzt. Vgl. Spies 2004. 9. Der Brief ist abgebildet in: Rauschenberg 1991: Abb. Nr. 59. 210

2005-09-20 17-10-02 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

Farbflächemalerei gegolten hatte,10 nun bewusst ausgeschlossen ist. Andererseits zeigt die in Rauschenbergs Brief an Betty Parson genutzte Metapher des Kreises, der an jedem Punkt zugleich beginnt und endet, wie die weißen Bilder keinesfalls nur als solche letzten Bilder zu verstehen sind, sondern zugleich auch gewissermaßen als erste Bilder verstanden sein wollen. Das heißt, es handelt sich nicht bloß um einen letzten Rest des Bildes, der möglicherweise auch schon überschritten ist. Vielmehr ist darin zugleich ein minimales Potential begründet, das wieder an den Anfang einer Entwicklungslinie von Bildern führt. In dem minimierten Rest des weißen Bildes ist zugleich wieder der Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung gelegt. Die weiße begrenzte Fläche ist einerseits der faktische Endpunkt einer Bildtradition, die um all das bereinigt zu sein scheint, was vorher das Bild ausgemacht hatte. Gerade deshalb kann sie sich aber andererseits als eine neue Projektionsfläche ausweisen: für all dasjenige, was auf die weiße Fläche einfällt und so von ihr reflektiert wird und was sich so in einem prozesshaften Dialog zwischen Bild und Betrachter erschließt. Es handelt sich so gewissermaßen wieder um die vertraute Idee eines Bildes als Spiegel. Nur ist diesem Spiegel nun seine vermeintliche Transparenz genommen. Er zeigt nicht mehr verlässlich das, was auf ihn einfällt und bleibt dabei selber doch unsichtbar. Er ist vielmehr im direkten Sinne des Wortes blind geworden, zeigt sich zuerst selbst als die übrige Fläche des Bildes und kann nur vermittelt dadurch das Licht und die Schatten – oder genereller – die Spuren seiner Umgebung wiedergeben, wird zum blinden Spiegel. Dieses Spezifikum der weißen Bilder Rauschenbergs hat zuerst John Cage beschrieben, als er von ihnen als »airports for lights, shadows, and particles« (Cage 1973: 102) sprach und in ihnen eine visuelle Entsprechung zu seinen zeitgleichen Überlegungen zu den ›Sounds of Silence‹ gesehen hat, die kurze Zeit später in seinem berühmten Stück »4:33« gipfelten. Ganz nach einem ähnlichen Prinzip wird auch hier das Musikstück bis auf einen minimalen Rest reduziert, der nur noch im inszenierten Öffnen und Schließen des Klavierdeckels besteht, so dass in der dazwischen auftretenden

10. So kommentiert Barnett Newman Rauschenbergs weiße Bilder, als er sie 1952 in der Betty Parson Gallery sieht: Sie seien zu ›einfach‹, was vor allem am offensichtlichen Desinteresse des Künstlers an der Oberfläche seiner Bilder liege. Vgl. Barnett Newman 2002: 45. 211

2005-09-20 17-10-03 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

Stille die übrigen Geräusche der Umgebung wahrnehmbar werden. In »4:33« reagierte John Cage auf den Besuch in einer schallisolierten Kammer 1952 an der Harvard University, in der er keinesfalls die Stille erlebte, mit der er gerechnet hatte, sondern in dieser Stille auf eine Vielzahl von Geräuschresten11 aufmerksam wurde. Ebenso handelt es sich auch bei Rauschenbergs weißen Bildern um eine ähnliche Form von Resten, die entsprechend der schallisolierten Kammer auf einem abgeschlossenen Feld sichtbar werden: Die exakte begrenzten und zusammengesetzten Leinwände stellen einerseits den Versuch dar, das Bild ›restlos‹ zu eliminieren. Sie weisen sich offensiv als Leerfläche aus. Andererseits jedoch wird gerade darin jenem Minimum bildlicher Phänomene, und eben im Besonderen jenem Minimum einer Einwirkung von Außen ein umso größeres Gewicht beigemessen. In der strukturellen Leere der weißen Leinwand öffnet sich ein phänomaler Raum, in dem die Bildreste zum Ausdruck eines neuen Bildes werden. Ganz im Sinne der langen Tradition Bildes als Schirm, der sich zwischen dem Gegenstand und dem blickenden Auge des Betrachters aufspannt, stellen sich hier die weißen Leinwände als Projektionsfläche aus, auf der die Reste des Bildes wieder zum zentralen Gegenstand werden können. Die Frage nach dem Rest, der übrig bleiben muss, damit das Bild noch ein Bild bleibt, beantwortet sich hier also in einem Paradox: Gerade indem die Grenze überschritten zu werden scheint, da die weiße Leinwand weder die Spuren einer künstlerischen Handschrift, noch diejenigen eines Alterungsprozesses des Bildes selber aufweisen darf, sondern sich nur noch im Sinne der notwendig materialen Basis als makelloses Bild ausweisen soll, wird sie um so stärker wieder zur hinreichenden Notwendigkeit für den visuellen Dialog. Anders als bei Clement Greenbergs Bedenken um das Überschreiten der Grenze, bei dem das Bild zum ›bloßen Objekt‹ wird und von daher ein Verschieben dieser Grenze unter normativen Ansprüchen einer Bildkonvention notwendig macht, ist es bei Rauschenbergs weißen Leinwänden gerade dieser Schritt zur weißen Leerstelle, der das Bild garantiert.

11. Dabei meint er vornehmlich die Geräusche seines eigenen Körpers. 212

2005-09-20 17-10-05 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

»… Man sieht das, was man sieht.«

Abbildung 2: Frank Stella, Marriage of Reason and Squalor, 2. Version, Lackfarbe auf Leinwand, 230 x 337 cm, Museum of Modern Art, New York. Im Rahmen einer kontinuierlichen Entwicklungslogik gedacht, führen Frank Stellas »Black Paintings« aus dem Jahr 1959 nochmals einen Schritt weiter als die weißen Leinwände Rauschenbergs. Nun ist es nicht einmal mehr die vom Künstler mit kalkulierte Wirkung der Bildumgebung, die sich jeweils aktuell auf der leeren, weißen Bildtafel abzeichnet. Vielmehr scheinen die schwarzen Leinwände die von Greenberg benannte Grenze zum bloßen Objekt jetzt offensiv überschritten zu haben; ihre schwarze Farbe und ihre streng kalkulierte Struktur markiert dies beinahe emblematisch. »… Man sieht das, was man sieht.« So lautet dann auch die bekannte Antwort, die Frank Stella 1973 im Interview auf Bruce Glasers Frage nach den Problemen und Lösungen gibt, die ihn in seinen frühen Bildern interessiert haben (Glaser 1995: 47). »Das, was man sieht«, das sind zuerst die schwarzen, dann die silbernen und später auch die mehrfarbigen, gestreiften Leinwände. Jeweils han213

2005-09-20 17-10-10 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

delt es sich um nichts anderes, als um einfache Abfolgen nebeneinander gesetzter, identischer Streifen in markanten Farben und einfache Aufteilungen der zunächst meist rechteckigen und später zunehmend vieleckigen und geformten Leinwände. Sie weisen sich durch eine beinahe ›plakative‹ Nüchternheit aus. Jedes einzelne Bild erscheint nicht nur sofort und unmittelbar durchschaubar. Per definitionem ›sieht man nun nur noch restlos das, was man sieht‹. Mit diesem tautologischem Kommentar Stellas könnte man – wie häufig genug geschehen – ganz davon ausgehen, nun sei das Bild restlos auf einen rein rational erfassbaren Gegenstand reduziert worden, der sich für Stella dadurch bestimmt, dass nichts über den unmittelbar sichtbaren Gegenstand hinausweist. Zumindest stellt der pragmatische Kommentar den Betrachter auf eine nüchterne Bestandsaufnahme ein: Das Sehen des Bildes scheint hier von vornherein auf eine eng umgrenzte Erfahrung beschränkt. Man ist geneigt, von einem Registrieren zu sprechen; von einer Bestandsaufnahme dessen, was nach dem eliminieren des Bildes übrig geblieben ist. Bei dem, was Stella zu zeigen beabsichtigt, handelt es sich jeweils um das ›bloß‹ Sichtbare des aktuellen Bildes – um nichts mehr und nichts weniger. Dies ist als absolute und maßgebliche Instanz gesetzt; alles, was im Sinne herkömmlicher Bilder darüber hinausgegangen war, sei es ein symbolischer Verweis oder auch eine gezielt provozierte Illusion, wird von vornherein ausgeschlossen. Genauso wird jeder möglichen Synthese mit anderen Sinnesreizen vorgebeugt. Stellas Bilder sollen sich alleine an das Auge richten. Und auch dessen Aktivität wird schließlich noch imperativisch zugunsten eines einfachen Nachvollzugs des ›Bildrests‹ eingeschränkt, den der Bildgegenstand in seinem Selbstbezug zum Ausdruck bringt. Das Gemälde erscheint so »mit sich selbst identisch« schreibt Johannes Meinhardt, »indem seine Wahrnehmung einfach und unteilbar ist.« (Meinhardt 1997: 153) Es soll als dasjenige gesehen werden, was es ohnehin schon ist, als eine Art »Bild-Ding«12. Alle Wahrnehmungswerte fallen in der vermeintlichen Objektivität der sichtbaren Oberfläche zusammen; sie liegt als letzter Rest des Bildes vollkommen offen. So verstanden mag es nicht zuletzt mit in diesem kondensierten Motto begründet liegen, dass das gesamte Interview Bruce Glasers

12. Den Begriff Bild-Ding nutzt Gottfried Boehm in seinem Text zu den schwarzen Bildern Frank Stellas als einen »Notnamen«, vgl. Boehm 1977, S. 11. 214

2005-09-20 17-10-11 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

mit Frank Stella13 rückblickend zu den unverzichtbaren Basisprogrammen für die künstlerische Entwicklung der 1960er Jahre unter dem Stichwort des Minimalismus gezählt wird. (Vgl. Stemmrich 1995: 20) Anfangs hatte man Stellas Verweis auf die reine Sichtbarkeit noch als eine arrogante oder provokante Äußerung gewertet, mit der sich der junge Künstler von der etablierten Malerei abzugrenzen versucht hatte. Überraschend schnell jedoch setzt es sich als eines der maßgeblichen und allgemein anerkannten Kriterien für die jüngere Künstlergeneration durch. Nun sollte es darum gehen, jeden eigenen ontologischen und medialen Anspruch der Malerei vollständig zu negieren. Dabei konnte logischerweise nichts anderes übrig bleiben, als eine mit Farbe, Linien und Flächenformen bedeckte Grundfläche, die nun endgültig von jedem Residuum einer visuellen Illusion bereinigt sein sollte. Entsprechend – so wieder die bekannte Argumentation – ging es nun nicht mehr nur darum, die konventionalisierten Strukturen von Malerei und Skulptur innerhalb des jeweiligen Mediums zu befragen. Vielmehr schien es geradezu vorprogrammiert, nun sowohl die Malerei als auch die Skulptur vollständig zur Disposition zu stellen. Denn das, was Stella mit dem »Man sieht das, was man sieht« für seine Malerei in einen Satz formuliert, führt – wie bereits der weitere Verlauf des Interviews zeigt – unmittelbar zu der Frage nach einem Defizit. »Das läßt nicht mehr allzu viel übrig« (Glaser 1995: 158) reagiert Bruce Glaser eher lakonisch und stellt damit den vorausgegangenen Imperativ Stellas mit der Frage nach dem notwendigen Rest eines Bildes zur Diskussion: Was bleibt nach dem radikalen Verweis auf das bloß Sichtbare des Bildes überhaupt noch übrig? Ist also nun mit Stellas »Man sieht das, was man sieht.« dem Bild endgültig jene Absage erteilt, der Rauschenbergs weiße Leinwände noch durch ihre Öffnung in den Raum entkommen waren? Denn wenn das zu Sehende vollständig mit seiner materialen Anwesenheit identifiziert werden muss, dann kann wenig oder auch überhaupt kein Spielraum mehr für ein Wahrnehmungsphänomen Bild auf Seiten des Betrachters übrig zu bleiben. Und ist damit möglicherweise endlich doch jener Rest des Bildes erreicht, an dem es tatsächlich kein solches mehr ist?

13. An dem bezeichnenderweise auch der Bildhauer Donald Judd beteiligt gewesen war, welcher zur gleichen Zeit seine Überlegungen zum specific object anstellt. Vgl. dazu Judd 1995. 215

2005-09-20 17-10-12 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

Dafür muss jedoch Stellas ebenso euphorische wie gleichzeitig ernüchternde Rede von der Faktizität des Sichtbaren nochmals mit einem direkten Blick auf die »Black Paintings« gelesen werden: Denn diese lassen das Ineinsfallen von Sehen, Bild und Objekt durchaus als einen Kurzschluss erscheinen. Der widerspruchsfreien Bildeinheit, die ganz im modernistischen Sinne um all das jenige bereinigt worden ist, was bis dato ein Bild ausgemacht hatte und die nun zum bloßen Objekt tendiert, stehen dann doch wieder Reste entgegen. Solche jedoch, die ganz in der von Stella beschworenen Sichtbarkeit des Bildes begründet sind und die nun gerade in dieser radikalen Form bildlicher Selbstbezüglichkeit zum Ausdruck kommen können. Auf der einen Seite ist es die noch nicht bekannte Konsequenz, mit der Stellas schwarze Leinwände in ihrer ersten öffentlichen Präsentation 1959 in der Ausstellung »Sixteen Americans« im Museum of Modern Art in New York überraschen. Zu sehen sind damals vier dieser schwarz gestreiften Leinwände. Sie weisen sich zwar durch das bereits seit Anfang der 1950er Jahre vertraute und geläufige Großformat aus. Ihre Keilrahmen sind jedoch mit etwa 3 inches deutlich dicker als gewöhnlich.14 Sie reichen reliefartig in den Raum hinein und ihre Bildfläche ist mit einer fast mechanisch wiederholenden Struktur gleichmäßiger Streifen überzogen, deren Breite mit der Tiefe des Bildträgers identisch ist. Mit einem handelsüblichen Anstreicherpinsel wurden Pinselspuren aus schwarzen, industriell hergestellten Emaillefarben dicht aneinandergesetzt. Dazwischen bleiben schmale, helle Linien der rohen Leinwand stehen. Die Formation der Streifen orientiert sich auf allen vier ausgestellten Bildern an den simplen Formprinzipien der rechteckigen Leinwände und deren Mittelpunkten: einfache rechte Winkel, Kreuzformationen oder Wiederholungen der zugrunde liegenden Rechteckformen. Die winkel- oder rahmenförmigen Streifen beginnen nahtlos mit den äußeren Leinwandrändern und setzen sich dann in der regelmäßigen Abfolge verjüngend in Richtung des Bildzentrums fort. Sie sind streng an den vorgegebenen Parametern der verwendeten Pinselbreite, des Formats und der Dicke des Keilrahmens und der im Voraus geplanten Flächeneinteilung orientiert und vermitteln – zumindest zunächst – den Eindruck, als handle es sich streng um die Realisierung einer präzisen Konzeption, in der sich jeder Gestal-

14. Stella nutzt die handelsüblichen Keilrahmenleisten nicht, wie gewöhnlich, flach liegend, sondern hochkant. 216

2005-09-20 17-10-13 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

tungsspielraum als unzulässige Fehlstelle erweisen müsste. Ihre nachvollziehbare Gleichförmigkeit widerstrebt nicht nur jeder gestischen Dynamik, sondern bietet auch genauso wenig Freiraum für disharmonische und ausdrucksstarke ›Setzungen‹. Gerade in diesem engen Korsett eines Objekts, dessen Oberfläche anscheinend ganz aus seiner inhärenten Struktur herreicht, kommt also einem verbleibenden Spielraum wieder eine umso größere Bedeutung zu. Jede Unregelmäßigkeit der per Hand aufgetragenen Streifen etwa, die in Bildern anderer Künstler zugunsten einer intendierten Bildwirkung übersehen oder darin integriert werden konnte, muss auf den offenliegenden Oberflächen von Stellas Leinwänden auffallen – und dabei machen sie sehr wohl deutlich, dass diese Unregelmäßigkeiten des ›handschriftlichen‹ Farbauftrags gegenüber der regelmäßigen Struktur sehr wohl mit intendiert waren. Ähnlich ist es mit der Tendenz zur Objekthaftigkeit der beinahe monolithischen Leinwände, mit der sie einerseits in den direkten Vergleich zu den ›bloßen‹ Objekten ihrer Umgebung rücken und somit andererseits die dazu verbleibende Differenz umso deutlicher hervortritt. Denn sie fügen sich eben gerade nicht nahtlos als ein Objekt unter anderen in den Umgebungsraum ein, sondern wahren eine deutliche Distanz dazu. Stellas schwarze Leinwände weisen sich so wieder ausdrücklich als Bilder aus; in dem Sinne, als dass der Schritt zum Objekt einerseits in der symmetrischen all-over Struktur und der Modularisierung des Bildformats unmissverständlich antizipiert ist. Zugleich wird dieser Schritt jedoch nicht realisiert. Das heißt, er wird nicht nur noch nicht vollständig realisiert, sondern in der radikalen Form der offen liegenden Bildoberfläche wird zugleich – ähnliche wie bei Rauschenberg – eine paradoxale Form bildlicher Sichtbarkeit vorgeführt, in der sich die Reduktion des Bildes zugleich als seine Steigerung erweisen kann: Im Anschluss an Rosalind Krauss Überlegungen zum ›Grid‹ und dessen repetitiver und gleichförmiger Struktur, handelt es sich deshalb mit Frank Stellas schwarzen Leinwänden weniger um ein Emblem für das »ghetto of modernism« (Krauss 1985: 9), sondern vielmehr um einen Emblem für die »infrastructure of vision«. Es handelt sich also auch hier keineswegs um den Rest, an dem das Bild seine ›Bildhaftigkeit‹ überschreitet, sondern um das ›Zusammenziehen‹ des Bildes auf einen solchen Rest, der dann zu nichts anderem mehr führen kann als nur wieder zu einem Bild, dessen Bildhaftigkeit vollständig offen gelegt ist. So wie Stellas Künstlerkollege Carl Andre dies im Vorwort der ersten Ausstellung der schwarzen Bilder formuliert hatte: »Seine Streifen sind die Wege 217

2005-09-20 17-10-14 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

CHRISTIAN SPIES

des Pinsels auf der Leinwand. Diese Wege führen allein in die Malerei.« (Andre 1995: 194) Beide Positionen, diejenige von Rauschenbergs weißen Bildern wie diejenige von Stellas schwarzen Bildern führen also für die Frage nach dem notwendigen Rest des Bildes zu einer paradoxalen Position: Jeweils ist es das in den Blick Rücken der Grenze, an dem der letzte notwendige Rest einer vertrauten Form von Bildlichkeit abhanden zu kommen droht. Zugleich wird jedoch deutlich, dass dieser Rest hier jeweils ausdrücklich im Bild vor Augen geführt wird. Man könnt gar sagen, nun wird er geradewegs als Bild vor Augen geführt. Insofern schließt hier der Rest, zu dem das Bild wird, auch wieder unmittelbar an den anfangs angesprochenen Rest an, der ins Bild gesetzt wird. Nur ist es hier nicht die von außerhalb kommende Marginalie oder der Müll, der ins Bild tritt, sondern bereits der Rest eines Bildes selbst, der erneut zum Bild wird. Und insofern bleibt es dann nicht mehr der Rest eines ursprünglichen Bildes, der unter dem modernistischen Vorzeichen der Reduktion steht und der möglicherweise noch weiter bis auf einen kleineren Rest reduziert werden könnte. Sondern es handelt sich um einen solchen Rest, der im Sinne der ins Bild gesetzten ästhetischen Grenze in der Lage ist, in der Reduktion auch wieder eine Erweiterung oder anders gesagt, im Minimum wieder ein Maximum in den Blick zu nehmen. Es ist ein solcher Rest, der nicht als fixe Größe beschreibbar wird und der – wie zu sehen war – nicht von der Reichweite einer Reduktion abhängig ist: Der Rest wird zum Impuls für ein neues Bild, das darin entsteht.

Literatur Andre, Carl (2002): »Zu den Streifenbildern Frank Stellas«. In: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art, eine kritische Retrospektive, Dresden: Verlag der Kunst, S. 194. (Erstveröffentlichung 1959) Boehm, Gottfried (1973): »Die Dialektik der ästhetischen Grenze«. In: Neue Hefte für Philosophie, H. 5, S. 118-138. Boehm, Gottfried (1977): »Bild-Dinge. Stellas Konzept der ›black-paintings‹ und einige ihrer Folgen«. In: Frank Stella. Werke 1958-1976, Ausstellungskatalog Kunsthalle Bielefeld, S. 9-19. Cage, John (1973): »On Robert Rauschenberg, Artist, and His Work«. In: ders: Silence, Middletown, Conn. Wesleyan University Press, S. 102.-108. Danto, Arthur C. (1997): After the End of Art, Contemporary Art and the Pale of History, Princeton: Princeton University Press. 218

2005-09-20 17-10-15 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

»DAS LÄSST NICHT MEHR ALLZU VIEL ÜBRIG.« BILDRESTE DER MODERNE

Duve, Thierry de (1990): »The Monochrome and the Blank Canvas«. In: Serge Guilbaut (Hg.) Reconstructing Modernism, Cambridge: MIT Press, S. 244-310.

Glaser, Bruce (1995): »Fragen an Stella und Judd«. In: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art, eine kritische Retrospektive, Dresden: Verlag der Kunst, S. 35-58. (Erstveröffentlichung 1964) Greenberg, Clement (1997a): »Zu einem neuen Laokoon«. In: Karlheinz Lüdeking (Hg.): Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden: Verlag der Kunst, S. 56-81. (Erstveröffentlichung 1940) Greenberg, Clement (1997b): »Modernistische Malerei«. In: Karlheinz Lüdeking (Hg.): Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden: Verlag der Kunst, S. 265-278. (Erstveröffentlichung 1960) Greenberg, Clement (1997c): »Nach dem Abstrakten Expressionismus«. In: Karlheinz Lüdeking (Hg.): Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden: Verlag der Kunst, S. 314-335. (Erstveröffentlichung 1964) Greenberg, Clement (1997d): »Neuerdings die Skulptur«, In: Karlheinz Lüdeking (Hg.): Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden: Verlag der Kunst, S. 362-372. (Erstveröffentlichung 1967) Judd, Donald (1995): »Spezifische Objekte«. In: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art, eine kritische Retrospektive, Dresden: Verlag der Kunst, S. 59-73. (Erstveröffentlichung 1965) Krauss, Rosalind (1995): »Grids«. In: diess: The Originality of the Avant-Garde and other Modernist Myth, Cambridge MA/London: MIT Press, S. 8-22. Marquard, Odo (1991): »Hans Blumenberg – Entlastung vom Außen«. In: Du, 11, S. 25. Meinhardt, Johannes (1997): Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, Ostfildern-Ruit: Canz. Newman, Barnett (2002): Ausstellungskatalog Philadelphia Museum of Art/Tate Modern, Philadelphia/London. Rauschenberg, Robert (1991): The Early 1950´s, Ausstellungskatalog Menil Collection, Houston. Stemmrich, Gregor (1995): »Minimal Art – eine kritische Retropektive. Vorwort«. In: ders: Minimal Art, eine kritische Retrospektive, Dresden: Verlag der Kunst, S. 11-30. van Gogh, Vincent (1968): Sämtliche Briefe, Bd. 5, Zürich: Henschel Verlag, S. 174.

219

2005-09-20 17-10-16 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 201-219) T04_12 spies.p 95224310822

2005-09-20 17-10-17 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 220

) vakat 220.p 95224310902

DER REST IST KITSCH. GEZA VON BOLVARYS ABSCHIEDSWALZER

Der Rest ist Kitsch. Geza von Bolvarys Abschiedswalzer Thomas Küpper

»Vor allem schütze man uns vor den Musiker-Filmen, die seit dem Aufkommen des Tonfilms florieren, mit dem Liebesleben berühmter Komponisten und der unvermeidlichen Liederflut […].« Lotte Eisner, Kitsch im Film »Kitsch« ist nicht nur eine abfällige Bezeichnung, Kitsch gilt buchstäblich als Abfall. Man begründet diese Zuordnung unter anderem etymologisch: Der Begriff soll auf das südwestdeutsche Wort »kitschen« zurückgehen, »den Straßenschlamm mit der Kotkrücke zusammenscharren«. Demzufolge bezieht sich der Ausdruck »Kitsch« anfangs auf Bilder, die durch ihr braunes Kolorit an diesen Schlamm erinnern (vgl. Koelwel 1937; Art. »Kitsch« 1943). Auch wenn dieser etymologische Ansatz umstritten ist und die Herkunft des Wortes »Kitsch« ungeklärt bleibt (vgl. Friedrich 2000; Kliche 2001; Schulte-Sasse 1976), trägt er dazu bei, Kitsch zum Abfall zu zählen – eine Sortierung, die seit dem Aufkommen des Begriffs gegen Ende des 19. Jahrhunderts üblich geworden ist. Vor allem wird Kitsch als Abfall der Kunst betrachtet: Kitsch, so die übliche Ansicht, macht sich einen Rest der Kunst zu Eigen, ohne ihren Wert zu erlangen (vgl. dazu Adorno 1993: 355). Der entsprechende Kitsch-Begriff hat zwei Dimensionen: Kitsch wird von Kunst abgeleitet und ihr gegenüber abgewertet. Zum einen erscheint Kitsch als Derivat der Kunst und in diesem Sinn als sekundär, zum anderen soll auch sein künstlerischer Rang sekundär sein. Um die Wertungsdimension außen vor zu lassen, ist man in einer Reihe von wissenschaftlichen Analysen dazu übergegangen, den Begriff

221

2005-09-20 17-10-19 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

THOMAS KÜPPER

»Kitsch« mit Anführungsstrichen zu versehen (z.B. Putz 1994: 1).1 Dann bleibt allerdings zu fragen, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, den Begriff in der Wissenschaft zu verwenden. Um eigene Wertungen zu vermeiden, könnte man sich darauf beschränken, die Geschichte der Kitsch-Wertungen aufzuarbeiten, ohne sich ihnen anzuschließen.2 So geriete man nicht in Verdacht, Kitsch verwerfen oder als Abfall geradezu wegwerfen zu wollen. Damit wäre jedoch noch nicht gesagt, ob beziehungsweise aufgrund welcher spezifischen Konturen der Kitsch-Begriff als wissenschaftliche Kategorie brauchbar ist. Die folgenden Überlegungen versuchen, solche Konturen herauszustellen. Als Kitsch lässt sich ein Restphänomen der Kunst bezeichnen, für das es keinen anderen Begriff gibt. Auf Wertungen kann dabei verzichtet werden; statt dieser wird allein die andere Dimension des Begriffs stark gemacht: diejenige des Derivats der Kunst. Das Augenmerk richtet sich auf die besondere Art, in der Kitsch sich auf Kunst bezieht und sich von ihr herschreibt. Kitsch greift auf die Reste vergangener Kunst zurück und beansprucht, in der Wieder-Holung Originäres zu bieten.3 Mit der von Niklas Luhmann gebrauchten Unterscheidung von Medium und Form (Luhmann 1986; Luhmann 1995: 165ff.) ist es möglich, dieses Prinzip näher in den Blick zu nehmen. Kunst profiliert sich durch die Formen, die sie in Medien bildet. Kitsch dagegen reklamiert solche Formen zwar auch für sich, doch er geht über viel verwendete Muster nicht hinaus. Er verlangt künstlerisches Ansehen, indem er das Schablonenhafte mit dem Nimbus des Authentischen und Besonderen versieht. Zunächst wird dieses Modell des Kitsches in Auseinandersetzung mit Vilém Flusser entwickelt. Flusser ordnet Kitsch als ein Abfallrecycling in die kulturelle Zirkulation ein: Kulturgegenstände zerfallen, sie werden zu Abfall und lösen sich schließlich

1. Zur Abstinenz der Intellektuellen in der Bewertung des Kitsches vgl. Gumbrecht 2004. 2. Systemtheoretisch formuliert, handelte es sich um eine Beobachtung zweiter Ordnung: Man beobachtete, wie andere etwas als Kitsch beobachten und welche Unterscheidungen sie dabei gebrauchen. Vgl. zum Begriff der Beobachtung zweiter Ordnung Luhmann 1995: 92ff. 3. Claudia Putz weist darauf hin, dass eine Gemeinsamkeit der meistbeachteten Beiträge zur Kitsch-Diskussion des 20. Jahrhunderts darin liegt, Kitsch im Spannungsfeld von Original und Kopie zu verorten (Putz 1994: 31f.; 37). 222

2005-09-20 17-10-20 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

DER REST IST KITSCH. GEZA VON BOLVARYS ABSCHIEDSWALZER

durch Entropie völlig auf. Kitsch aber führt den Abfall zurück in die Kultur (vgl. Flusser 1993b). In einem weiteren Abschnitt werden diese theoretischen Konzeptionen exemplarisch auf Geza von Bolvarys Film »Abschiedswalzer«4 angewandt. In diesem ist zu sehen, wie Chopin seine Jugendliebe Constantia Gladkowska in Warschau zurücklässt und in Paris George Sand kennen lernt, die ihm zur Anerkennung in der höheren Gesellschaft verhilft und seine neue Geliebte wird. Der Film zieht Reste der romantischen Kunst heran und verwendet sie zur nationalsozialistischen Propaganda. Er stellt Künstlertum, Liebe und Heimat mit oft gebrauchten Bildern und Melodien dar und gibt zugleich vor, man habe es mit dem Einzigartigen und Echten zu tun. Durch diesen Anspruch wird der Film kitschig, wie sich zeigen wird.

Zur Theorie des Kitsches In seinem Text »Gespräch, Gerede, Kitsch« verbindet Flusser mehrere Entwürfe miteinander: einen anthropologischen Ansatz, ein Modell des Kulturkreislaufs und eine Kommunikationstheorie. In der anthropologischen Konzeption ist der Mensch ein »gegen den Informationszerfall, gegen das Vergessen, gegen den Tod engagiertes Wesen« und gräbt »Informationen in Gegenstände, um sie im Kulturspeicher zu lagern« (Flusser 1993b: 226f.). Trotz dieser Bemühungen kann jedoch nicht verhindert werden, dass alle Informationen früher oder später wieder verschwinden. Der Mensch ist »dem Vergessenwerden, dem Tod ausgeliefert« (ebd.: 226), die Kulturobjekte des-informieren sich, sie zerfallen zum einen durch Konsum, zum anderen durch Entropie.5 Diese Aspekte werden im Modell des Kulturkreislaufs näher ausgeführt, in dem es vor allem zwei Bewegungen gibt: Informationen kommen zustande und lösen sich auf. Auf der einen Seite wird das Wahrscheinliche der Natur in das Unwahrscheinliche der Kultur verwandelt: Gegenstände verlassen ihren natürlichen Zustand und werden zu Folien, auf die Informationen geprägt werden. Auf der anderen Seite fallen die so erzeugten Kulturobjekte wieder der Natur zu, die Informationen verwi-

4. Geza von Bolvary (Regie): Abschiedswalzer. D 1934. 5. In »Dinge und Undinge« erklärt Flusser, »daß die Hand die informierten Dinge nicht etwa in Ruhe läßt, sondern daß sie weiter an ihnen herumfuchtelt, bis sich die in ihnen enthaltene Information abwetzt« (Flusser 1993a: 85). 223

2005-09-20 17-10-21 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

THOMAS KÜPPER

schen sich (vgl. Flusser 1993b: 227; 233). Bevor die Kulturgegenstände sich »völlig des-informieren – in die Natur zurückkehren –, bilden sie eine Durchgangsregion von halb-desinformierten Gegenständen zwischen Kultur und Natur, den Abfall« (ebd.: 226). An dieser Stelle setzt der Kitsch ein. Indem er den Abfall in die Kultur zurückführt, bietet der Kitsch Objekte, in die nur noch wenige Informationen eingegraben sind. Nur Informationen, die schon zersetzt sind, eignen sich zum Kitsch. Auch wenn Kitsch Neuerungen für sich beansprucht, greift er bloß auf die übrig gebliebenen, verwaschenen, ausgedünnten Informationen aus dem Abfall zurück (vgl. ebd.: 235f.; Flusser 1985: 93; Hillgärtner 2004). Dieses Wiedereinbringen der Reste macht für Flusser die Besonderheit des Kitsches in der kulturellen Zirkulation aus. Damit verbunden ist die anthropologische Auffassung, dass man sich beim Kitsch dem Vergessen und dem Tod überliefern will: Flusser definiert Kitsch als »eine Sehnsucht, sich aufzulösen«, sowie als »eine Methode, angesichts der Absurdität des Menschseins gemütlich zu sterben« (Flusser 1993b: 236). Kommunikationstheoretisch ordnet Flusser Kitsch dem »Gerede« zu (vgl. ebd.). Mit dem auf Martin Heidegger zurückgehenden Begriff meint Flusser Pseudokommunikation: Während Informationen im »Gespräch« erzeugt werden, zerfallen sie im »Gerede«. Letzteres ist darauf angelegt, sie »zu Amorphem, Wahrscheinlichem, Voraussehbarem zu zerreiben« (ebd.: 234). Die Grundlagen dieser Theorie sind – trotz der Verschiedenheit der Ansätze – in einem Punkt mit der Konzeption von Medium und Form bei Luhmann vergleichbar: Aus Flussers Sicht werden Informationen in Gegenstände eingegraben und zerfallen wieder, aus Luhmanns Sicht werden Formen vorübergehend in Medien gebildet. Unter »Medium« versteht Luhmann lose verknüpfte Elemente, unter »Form« stärker voneinander abhängige Elemente. Sand zum Beispiel kann als Medium für Formen verwendet werden, weil seine Elemente, die Körner, nicht fest miteinander verbunden sind und verschiedene Gestaltungen zulassen (vgl. Luhmann 1986: 8). Die eingezeichnete Form stellt eine In-Formation dar. An dem Beispiel wird auch ein zeitlicher Aspekt der Unterscheidung von Medium und Form deutlich. Das Medium ist beständiger als die Form: Die Figur aus Sand verwischt sich, aber der Sand bleibt und steht für Neubildungen zur Verfügung. Die längere Dauer des Mediums beruht darauf, dass es elastisch ist und nur lose miteinander zusam-

224

2005-09-20 17-10-22 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

DER REST IST KITSCH. GEZA VON BOLVARYS ABSCHIEDSWALZER

menhängt (vgl. ebd.: 7; Luhmann 1995: 171). Von diesem theoretischen Prinzip aus ergeben sich Verbindungslinien zu Flusser, insbesondere auch zu den Begriffen der Des-Information und des Abfalls. Wenn Flusser vom »Aufprägen« und »Auflösen«, ja »Zerreiben« der Informationen spricht, führt er ebenfalls ein Bild loser und fester zusammengefügter Elemente vor Augen. Mit der Unterscheidung von Medium und Form kann genauer dargestellt werden, wie Informationen ihre Prägnanz verlieren: Die Formen werden zu Medien, deren locker miteinander verbundene Einheiten redundant sind (vgl. Plumpe 2003: 174f.). Wenn etwa ein Musikstück mit einem noch ungehörten und unerhörten Klang, einer neuen Form, Aufmerksamkeit findet, können nachfolgende Werke es als Medium verwenden: Der Klang wird aus dem Zusammenhang herausgelöst und in ein rekombinierbares Element verwandelt. In der ersten Komposition der Reihe ist er noch gewagt und einzigartig, in den weiteren jedoch standardisiert; er überrascht nicht mehr, sondern wird zu einem geläufigen Schema. Die an das Stück anschließenden Werke können das Element jeweils anders aufgreifen und dadurch voneinander unterscheidbar sein; das Element, mit dem diese neuen Formen gebildet werden, ist hingegen wiedererkennbar. Nach Luhmann enthalten Medienelemente geringe Information, und erst durch Formbildung kommt diejenige Information zustande, die ein Kunstwerk auszeichnet (vgl. Luhmann 1995: 170). Wegen der leichten Trennbarkeit der Medienelemente wird das Medium selbst nicht wahrgenommen, sondern nur die Form, die die Elemente des Mediums enger miteinander verbindet (vgl. Luhmann 1986: 7). Insofern ist das Medium ›zerriebene‹ Information. Dieses Modell ermöglicht eine Präzisierung des Kitsch-Begriffs. Kitsch entspricht nicht Redundanz oder verminderter Information. Wenn eine Reihe von Formen in einem gleich bleibenden Medium gebildet wird, ist sie zwar in ihrer Variationsbreite eingeschränkt und die Elemente des Mediums kommen wiederholt zum Einsatz – im genannten Beispiel wird ein Klang immer von neuem verwendet. Aber diese Konstanz des Mediums ist kein hinreichendes Kriterium für Kitsch; andernfalls müsste jede Komposition, in der ein schon da gewesener Klang noch einmal verwendet wird, als kitschig gelten. Kitschig ist ein Werk erst, wenn es die viel gebrauchten Einheiten des Mediums als außergewöhnliche Formen ausgibt – als sei etwa ein übernommenes Klangelement, möglicherweise ein Tremolo,

225

2005-09-20 17-10-23 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

THOMAS KÜPPER

bereits Garant für Pathos, Gehalt und ›große Kunst‹.6 So liegt die Besonderheit des Kitsches darin, dass er die nicht-informativen Elemente des Mediums als informativ – neu und ursprünglich – hinstellt. Das Medium bietet sozusagen nur einen Abglanz von Informationen, der Kitsch führt diesen Rest jedoch in Hochglanz vor. Mit diesem theoretischen Ansatz wird im Folgenden der Film »Abschiedswalzer« analysiert.

Abschiedswalzer als Kitsch »Abschiedswalzer« ist 1934 unter der Regie Geza von Bolvarys entstanden und gehört zur nationalsozialistischen Filmpropaganda, die zu dieser Zeit ein vermeintliches »Freund«-Bild von Polen zeichnet, um die Sowjetunion als gemeinsamen »Feind« Polens und Deutschlands auszugeben. Zugleich lanciert der Film die »seit 1934 in der reichsdeutschen Presse hartnäckig verfochtene These einer Entfremdung zwischen Frankreich und Polen« (Roschke 2000: 315ff.). Chopin, die Hauptfigur des Films, heißt in ihm nicht von ungefähr Friedrich statt Frédéric und sympathisiert mit den Aufständischen von 1830/31 gegen die russische Besatzung in Warschau. Die nationalsozialistische Vereinnahmung von Kunst ist in der Forschung oft unter den Begriff des Kitsches gefasst worden.7 Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nicht, diese Diskussion zusammenzufassen; vielmehr soll »Abschiedswalzer« nur unter ausgewählten Gesichtspunkten betrachtet werden, die sich im Anschluss an Flusser und Luhmann ergeben. Um seinen propagandistischen Zweck zu erfüllen, muss der Film eingängig und leicht fassbar sein. Eingängig aber ist vor allem, was bereits in die Elemente der Medien eingegangen ist: die Reste vergangener Informationen statt neuer Informationen. Entsprechend liegt das Prinzip dieses Films insbesondere darin, Medienelemente in ihrer Redundanz zu wiederholen und die eigene Formgebung

6. Dass der Kitsch mit seinen Versatzstücken einen hohen Kunstanspruch erhebt, bemerken u.a. Walther Killy (1962: 32), Carl Dahlhaus (1967: 66ff.) und Umberto Eco (1986: 62; 71). 7. So setzt sich ein Großteil der Kitsch-Theorien mit dem Nationalsozialismus auseinander, z.B. Hermann Broch (1955: 308): »Es ist kein Zufall, daß Hitler […] ein unbedingter Kitsch-Anhänger war. Er lebte den blutigen und er liebte den Sacharin-Kitsch. Beides fand er ›schön‹.« 226

2005-09-20 17-10-24 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

DER REST IST KITSCH. GEZA VON BOLVARYS ABSCHIEDSWALZER

hinter ihnen zurücktreten zu lassen. Gleichzeitig hebt der Film jedoch hervor, dass er originäre Formen bietet, und er könnte gerade wegen dieses Anspruchs als kitschig bezeichnet werden. Bereits die Filmmusik während der Titelsequenz ist eine Aneinanderreihung von populären Chopin-Melodien: Die Melodie aus dem Prélude Opus 28 Nummer 20 wird gefolgt von der Melodie aus dem Walzer Opus 34 Nummer 2 und so weiter. Einerseits ist damit der Formgehalt von Chopins Kompositionen reduziert, aus den Werken sind einfachere, weniger fest verbundene Elemente geworden. Andererseits aber wird der Eindruck erweckt, dass es sich um große Kunst handelt, eben um »Chopins unvergängliche Melodien«8. Diese Prätention lässt die Zusammenstellung kitschig werden: Das Potpourri will nicht nur unterhalten, sondern auch etwas auf sich halten, es verlangt das hohe Ansehen des Klassischen. Der Film greift neben Chopins Kompositionen auch herkömmliche Formen der Künstlerbeschreibung auf, vor allem aus der Periode um 1800: Chopin erscheint als Genie, das sich von Regeln und Konventionen löst. Sein Lehrer Elsner kritisiert in einer Sequenz zunächst, dass Chopin an einer Stelle nicht C, sondern Cis in eine Komposition einfügt; dann aber sieht Professor Elsner ein, dass Cis »genial« sei. Auch wenn man die musikalischen Zusammenhänge der Diskussion um C oder Cis nicht nachvollziehen kann, wird deutlich, dass C für das Gewöhnliche steht und Cis für Abweichung. Das Genie setzt sich über gelehrte Muster hinweg; das Cis ist »revolutionär«, wie der Professor schließlich zugesteht. Das Wort »revolutionär« wird im Film sogleich auch mit der Freund/Feind-Unterscheidung verbunden: Chopins revolutionäre Tendenzen werden insbesondere darin gesehen, dass er sich für die Erhebung gegen die russische Besatzung in Polen stark macht. Unmittelbar vor Beginn eines Konzerts in Paris erfährt er, dass der Aufstand begonnen hat. Von dieser Nachricht bewegt, weicht Chopin vom geplanten Programm ab: Plötzlich wechselt der Pianist von einem Mozart-Menuett in ein nicht vorgesehenes, erregtes und aufgewühltes Stück9 über (Abb. 1). Doppelbelichtungen verdeutlichen:

8. Zu Silvester 1934 strahlte der Reichssender Leipzig einen Beitrag mit dem Titel »Aus neuen Tonfilmen« aus; unter dem Stichwort »Abschiedswalzer« lautete der erste Programmpunkt: »Chopins unvergängliche Melodien« (vgl. Roschke 2000: 318). 9. Es geht auf Frédéric Chopins Etüde Opus 25 Nummer 11 zurück. 227

2005-09-20 17-10-25 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

THOMAS KÜPPER

Abbildung 1: Geza von Bolvary, Abschiedswalzer, Filmstill.

Chopin ist dem Konzertsaal entrückt und visionär in das Warschauer Geschehen hineinversetzt. Die Klaviermusik vereint sich mit Hornsignalen und Trommelwirbeln aus dem Kampf. Später bemerkt der Pianist, dass er selbst nicht weiß, was er in dieser Situation gespielt hat. Damit rekurriert der Film auf den Topos der Inspiration; eine ähnliche Entrückung eines Pianisten ist etwa in Josef Danhausers Gemälde »Liszt am Flügel« von 1840 dargestellt: Liszt ist gänzlich in den Anblick einer Beethoven-Büste versunken, die eher einem anderen Ort als dem des Klavierzimmers anzugehören scheint (Abb. 2). Die Beispiele zeigen, dass sich die Figur Chopin in »Abschiedswalzer« aus bekannten Elementen von Künstlerbeschreibungen zusammensetzt. Dadurch, dass viele verschiedene solcher Elemente angesammelt werden, wird ihre Redundanz kaschiert. Es entsteht der Eindruck einer Informationsfülle, obwohl es sich nur um Überbleibsel von Informationen handelt. Flusser zufolge werden beim Kitsch gewöhnlich Objekte aus unterschiedlichen, sich überlagernden Schichten des Abfalls zusammengeklebt: Die Agglutinationen erwecken den Anschein von etwas Neuem und sind doch »leicht verdauliche Klumpen«, wie Flusser erklärt und am Nazismus exemplifiziert (vgl. Flusser 1993b: 235f.).

228

2005-09-22 11-44-56 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 021495377731432|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p - Seite 228 95377731598

DER REST IST KITSCH. GEZA VON BOLVARYS ABSCHIEDSWALZER

Abbildung 2: Josef Danhauser, Liszt am Flügel, 1840, Öl auf Leinwand, 162 x 122 cm, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin. In ähnlicher Weise häufen sich Informations-Reste in der Sequenz, in der Chopin Constantia Gladkowska seine Komposition »In mir klingt ein Lied« präsentiert. Zunächst überreicht er Fräulein Constantia, so ihre Anrede im Film, einen Blumenstrauß zum Geburtstag, allerdings stammelnd, denn das Genie ist nicht rhetorisch versiert, es ist unerfahren und ungeschickt. Auch an dieser Stelle wiederholt der Film Muster aus der Zeit um 1800 (vgl. zu den Vorläufern Stanitzek 1989: 201ff.). Die Ferne des Genies Chopin zur Alltagswelt zeigt sich überdies darin, dass es ihm nicht gelingt, Fräulein Constantia beim Lesen der Erbsenschoten zu helfen. Daraufhin aber glänzt Chopin am Klavier: Er spielt Fräulein Constantia »In mir klingt ein Lied« vor und versichert der Zuhörerin, nur an sie gedacht zu haben, als er das Werk schrieb. Der Text des Liedes »In mir klingt ein Lied« ist durch den Film bekannt geworden und wird dem Drehbuchautor Ernst Marischka zugerechnet; die Melodie stammt aus einer Chopin-Etüde.10 Von der Form der Etüde bleibt nur die Anfangsmelodie übrig – der kontrastierende Mittelteil des Werkes fällt weg. Diese Verringerung der Form wird sozusagen

10. Opus 10 Nummer 3. 229

2005-09-22 11-44-57 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 021495377731432|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p - Seite 229 95377731902

THOMAS KÜPPER

übertönt, indem andere Abbauprodukte hinzukommen: etwa der Liedtext, der aus Versatzstücken der Liebes- und Künstlerinszenierung besteht: »In mir klingt ein Lied, / ein kleines Lied, / in dem ein Traum von stiller Liebe blüht, / für dich allein. / Eine heiße ungestillte Sehnsucht / schrieb die Melodie.« Die gesamte Sequenz entspricht einer geläufigen Rollenkonstellation von Künstler und Muse. So ist die Klammer, die die redundanten Elemente zusammenhält, selbst redundant. Das Schema von Künstler und Muse folgt einer allgemeineren Typisierung des Männlichen und des Weiblichen: Das Männliche wird traditionell mit dem Geistigen, dem Prinzip des Himmels assoziiert, das Weibliche hingegen mit dem Natürlichen, dem Prinzip der Erde. Auf diese Gemeinplätze gehen die Figuren Friedrich Chopin und Constantia Gladkowska zurück: Der Künstler verewigt das Mädchen, indem er es in ein höheres, spirituell geschaffenes, unvergängliches Werk eingehen lässt. Das Mädchen selbst aber gehört dem einfachen, erdverbundenen ländlichen Leben an, das in dem Kontext mit einem »Blut-und-Boden«-Mythos konstruiert wird. Vorstellungen des Männlichen und des Weiblichen sind auch in der Kitsch-Diskussion bestimmend: Kitsch wird oft mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht. Zunächst scheint diese Zuordnung auf das Klischee zurückzugehen, dass Frauen leichter rührbar seien als Männer. Mit der Unterscheidung von Medium und Form kann jedoch ein weiterer Topos ausgemacht werden, der der Assoziation von Kitsch und Weiblichkeit zugrunde liegt. Das Form-Aufprägen gilt nach einer überkommenen Konzeption als männliches Prinzip, das Form-Empfangen als weibliches. So steht Weiblichkeit für Materialität und nimmt die Stelle des Mediums ein.11 Gerade angesichts dieses Stereotyps der Weiblichkeit ist zu erklären, dass sie mit dem Kitsch, der Hypostasierung des Medialen, in Zusammenhang gerückt wird. In »Abschiedswalzer« sind die Geschlechterschemata des Formgebenden Mannes und der Form-empfangenden Frau durch den Komponisten Chopin und dessen Muse Constantia vertreten: Das Genie schafft einzigartige Formen, seine Jugendliebe dient ihm dabei als Medium. So ist Chopin unverwechselbar, ein individueller Künstler, während das Mädchen gleichsam nur den Stoff zu den Werken hergibt und ausgetauscht werden kann. Als Chopin in die

11. Zur Verknüpfung von Medialität und Weiblichkeit vgl. Binczek 2004; Gruber 2004. 230

2005-09-20 17-10-31 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

DER REST IST KITSCH. GEZA VON BOLVARYS ABSCHIEDSWALZER

Pariser Gesellschaft aufgenommen wird und sich in George Sand verliebt, braucht er Constantia Gladkowska nicht mehr. Diese Überflüssigkeit stellt sich zum Schluss des Films heraus: Die Zurückgelassene nennt sich selbst »ein kleines Mädchen aus Warschau« und erkennt, dass sie für das große Genie Chopin nur eine begrenzte Zeit lang wichtig war. Auch Professor Elsner muss einsehen, dass Chopin das Mädchen und ihn nicht länger benötigt. Die letzten Bilder des Films zeigen die beiden übrig gebliebenen Figuren. Die Hommage auf Chopin wird zu einer Hommage auf diejenigen, die ihm in seine neue Welt nicht folgen können. Dem Publikum wird angeboten, mit den vertrauten Gestalten Professor Elsner und Fräulein Constantia mitzufühlen und dadurch ihre Bodenständigkeit zu belohnen. So avancieren sie zu den eigentlichen Hauptfiguren. Mit der Glorifikation derer, die sonst nicht im Rampenlicht stehen, ist der Film darauf angelegt, dem so genannten »Volk« entgegenzukommen. »Die Förderung des Kitsch«, bemerkt Clement Greenberg 1939, »ist bloß eine der billigen Methoden, mit denen totalitäre Regime sich bei ihren Untertanen einzuschmeicheln versuchen.« (Greenberg 1997: 52)

Literatur Adorno, Theodor W. (1993): Ästhetische Theorie, 13. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag.

Art. »Kitsch« (1943). In: Alfred Götze (Hg.), Trübners Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, Berlin: Walter de Gruyter, S. 152f.

Binczek, Natalie (2004): »Die Biologie der Medium/Form-Unterscheidung«. In: Sabine Kampmann/Alexandra Karentzos/Thomas Küpper (Hg.), Gender Studies und Systemtheorie. Studien zu einem Theorietransfer, Bielefeld: transcript, S. 7792. Broch, Hermann (1955): »Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches«. In: H.B., Dichten und Erkennen, Zürich: Rhein-Verlag, S. 295-309. Dahlhaus, Carl (1967): »Über musikalischen Kitsch«. In: C.D. (Hg.), Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts, Regensburg: Gustav Bosse Verlag, S. 63-69. Eco, Umberto (1986): »Die Struktur des schlechten Geschmacks«. In: U.E., Apokalyptiker und Integrierte, Frankfurt/Main: Fischer, S. 59-115. Eisner, Lotte (1977): »Kitsch im Film«. In: Gillo Dorfles, Der Kitsch, Gütersloh: Prisma Verlag, S. 197-215. Flusser, Vilém (1993a): Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen. Mit einem Nachwort von Florian Rötzer, München/Wien: Carl Hanser Verlag.

231

2005-09-20 17-10-32 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

THOMAS KÜPPER

Flusser, Vilém (1993b): »Gespräch, Gerede, Kitsch. Zum Problem des unvollkommenen Informationskonsums«. In: V.F., Schriften. Bd. 2, hg. von Stefan Bollmann/ Edith Flusser, Bensheim/Düsseldorf: Bollmann Verlag, S. 224-237. Flusser, Vilém (1985): Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography. Friedrich, Hans-Edwin (2000): Art. »Kitsch«. In: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, Berlin/New York: Walter de Gruyter, S. 263-266. Greenberg, Clement (1997): »Avantgarde und Kitsch«. In: C.G., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. von Karlheinz Lüdeking, Amsterdam/ Dresden: Verlag der Kunst, S. 29-55. Gruber, Bettina (2004): »Gender als Strategie der Dauer. Eine Lektüre von Baudelaires ›Une Charogne‹«. In: Sabine Kampmann/Alexandra Karentzos/Thomas Küpper (Hg.), Gender Studies und Systemtheorie. Studien zu einem Theorietransfer, Bielefeld: transcript, S. 93-115. Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): »Der Kitsch-Mensch ist ein Intellektueller«. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 276 vom 27./28. 11. 2004, Beilage »Wochenende«. Hillgärtner, Harald (2004): »Kulturrecycling auf Knopfdruck. Flussers Utopie der telematischen Gesellschaft«. In: Patrick Primavesi/Olaf A. Schmitt (Hg.), AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation, Berlin: Theater der Zeit, S. 107112. Killy, Walther (1962): »Versuch über den literarischen Kitsch«. In: W.K., Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen, 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 9-33. Kliche, Dieter (2001): Art. »Kitsch«. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 3, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 272-288. Koelwel, Eduard (1937): »Kitsch und Schäbs«. In: Muttersprache 52. H. 2, S. 58-60. Luhmann, Niklas (1986): »Das Medium der Kunst«. In: Delfin 7, S. 6-15. Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag. Plumpe, Gerhard (2003): »Evolution des Literatursystems«. In: Harald Hillgärtner/ Thomas Küpper (Hg.), Medien und Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner, Bielefeld: transcript, S. 166-184. Putz, Claudia (1994): Kitsch – Phänomenologie eines dynamischen Kulturprinzips, Bochum: Brockmeyer. Roschke, Carsten (2000): Der umworbene »Urfeind«. Polen in der nationalsozialistischen Propaganda 1934-1939, Marburg: Tectum Verlag. Schulte-Sasse, Jochen (1976): Art. »Kitsch«. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4, Basel: Schwabe, Sp. 843846. Stanitzek, Georg (1989): Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen: Max Niemeyer Verlag. 232

2005-09-20 17-10-32 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 221-232) T04_13 kuepper.p 95224311022

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

Kultur, Müll, Wissenschaft. Bewegungen im Grenzbereich Sonja Windmüller

I. Einordnungen Längst und wohl mittlerweile auch unwidersprochen ist Abfall (vielleicht das Restphänomen par excellence) als grundlegende Erscheinungsform moderner Gesellschaften identifiziert. In den einschlägigen Forschungsarbeiten firmiert er als basale »Kulturtechnik« (Faßler 1991: 198), als zentrale Kategorie, als umfassende »Kulturmetapher« (Kuchenbuch 1988: 155). Der Umgang mit Müll, lautet das Ergebnis und die ausgesandte Botschaft kulturwissenschaftlicher Abfallstudien, muss als symptomatisch für unser Verhältnis zu den Dingen (im weitesten Wortsinn) verstanden werden, als hochgradig aussagekräftiger Indikator gesellschaftlicher Verfasstheiten. Abfall liefert uns, so eine gängige heuristische Annahme, als unabsichtsvoll gelegte Spur – im Vergleich etwa zu Ego-Dokumenten – unverstelltere, »zufälligere Auskunft« (Korff 2002: 153; vgl. Assmann 1996) über vergangene und gegenwärtige Lebenswirklichkeiten. Er sei, so formuliert Michael Fehr in seiner Studie über den Zusammenhang von Müllhalde und Museum, »hoch geeignet, reflexives Verhalten und produktives Erkenntnisvermögen in Gang zu setzen.« (Fehr 1989: 187) Maßgeblich fundiert wird diese durchaus euphorisch gefärbte Vorstellung vom Müll als ganz besonderem analytischen Material durch zwei abfalltheoretische Grundannahmen: 1. Beim Abfall handelt es sich – und hierauf hat bereits eindrücklich Michael Thompsons frühe »Rubbish Theory« von 1979 hingewiesen – um keine den Dingen eigene, intrinsische Eigenschaft, sondern vielmehr um ein von außen auf sie gerichtetes Verhältnis. Als Zuweisungsmodell ist Abfall somit immer Ausdruck von 233

2005-09-20 17-10-35 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

Sozialbeziehungen und damit zugleich, wo er kollektiv produziert wird, stets auch mit gesellschaftlichen Verweisqualitäten ausgestattet. 2. Mit Mary Douglas’ grundlegender Studie »Purity and Danger« (1966) muss diese dem Abfall zugewiesene Aussagekraft zudem an seine Qualität als Randgebilde, als Phänomen im Grenzbereich geknüpft werden, das entsprechend spezifische, uns im Folgenden beschäftigende Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsprogramme freisetzt. Vor dem Hintergrund der gerade skizzierten Vorannahmen soll der Versuch unternommen werden, das Randphänomen Abfall über einen Blick auf seine (kultur- und sozial-)wissenschaftliche Bearbeitung zu betrachten, d.h. ich werde mich dem Forschungsgegenstand nicht direkt, sondern mittelbar, auf einem – so wird zu zeigen sein – nur scheinbaren Umweg annähern. Es geht also um die meines Erachtens höchst signifikanten Wechselwirkungen einer Wissenschaft mit ihrem Gegenstand, und es geht darum, diese für den Erkenntnisgewinn zu nutzen. Nach vertiefenden Bemerkungen zum Randund Grenzphänomen Abfall sollen auf der Basis dieser Verortung einige (thesenförmig gebündelte und zugespitzte) Beobachtungen zur kulturwissenschaftlichen Abfallforschung vorgestellt werden. Im letzten Teil der Überlegungen schließlich wird über erste, noch unsystematische Spuren und Befunde eine ergänzende Perspektivierung versucht, die als Beitrag zu einer körperlich-materiell rückgebundenen, um die physische Erfahrungsebene erweiterten reflexiven Müllwissenschaft verstanden werden will. Vorweg scheint es angebracht, noch einmal an den Stand sozialund kulturwissenschaftlicher Literatur zum Abfall zu erinnern. Ist er auch zum öffentlich viel diskutierten Thema geworden und – erinnert sei an die eingangs erwähnten Versuche – verschiedentlich in den Rang einer zentralen wissenschaftlichen Kategorie gehoben worden, muss das Wissen über die Dimensionen des Abfalls als Phänomen, Prinzip und Problem (in seinen synchronen und diachronen Verflechtungen) noch immer als erstaunlich gering eingeschätzt werden (vgl. Windmüller 2004: 23-29). So kann trotz einer gerade in jüngster Zeit steigenden Zahl einschlägiger Monographien, Sammelbände, Ausstellungsprojekte und Tagungen kaum von einem geschlossenen Forschungsfeld gesprochen werden; die Studien (disziplinär) unterschiedlicher Provenienz stehen eher unvermittelt nebeneinander. Diesen Befund der Disparatheit, der maßgeblich auch aus dem behandelten Phänomen selbst erwächst,

234

2005-09-20 17-10-36 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn im Folgenden verkürzt von der kulturwissenschaftlichen Abfallforschung die Rede sein wird.

II. Abfall als Grenzphänomen Schon früh wurde das moderne Müllphänomen vornehmlich als ein räumliches wahrgenommen und entsprechend über räumliche Kriterien definiert. Das heute noch theoretisch wirkmächtige Denkmodell vom Abfall als ›Materie am falschen Ort‹ lässt sich bereits für das 19. Jahrhundert im technischen Diskurs zur Städtehygiene an verschiedenen Stellen nachweisen. »Dirt is an object on a wrong place«, heißt es etwa so eingängig wie bestimmt bei Lord Palmerston, einem frühen Fürsprecher der englischen Kanalisation (zit. n. Pieper 1869: 36); auch in P.L. Simmons’ 1875 publizierter Schrift »Waste Products« findet sich eine vergleichbare Wendung (vgl. Faßler 1991: 198) und in einem Vortrag Hans Thiesings, Mitglied der Berliner Königlichen Versuchs- und Prüfanstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung, im Jahr 1905 auf einer Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege gehalten, bemerkt der überzeugte Vertreter einer wiederverwertenden Abfallbehandlung: »Müll ist kein wertloser Abfall, sondern Materie am unrechten Ort« (Thiesing 1906: 161) – ein Diktum, das im Anschluss geradezu inflationären Eingang in vor allem technisch-ökonomische Abhandlungen zur organisierten Müllbeseitigung fand (vgl. Windmüller 2004: 159-163). Mit Mary Douglas’ bereits erwähnter Studie über »Reinheit und Gefährdung« und in der Folge durch die theoretischen Abfallüberlegungen Michael Thompsons wurde das Interpretament auch für die neuere sozial- und kulturwissenschaftliche Abfallforschung populär gemacht. Douglas baut darauf eine Schmutzforschung als strukturanalytische Beschäftigung mit kulturellen Ordnungssystemen auf, die bei ihr als dichotomes Modell der Grenzziehung angelegt ist: dem »Komplex geordneter Beziehungen« steht »eine Übertretung dieser Ordnung« (Douglas 1985: 52) zur Seite. »Schmutz ist das Nebenprodukt eines systematischen Ordnens und Klassifizierens von Sachen, und zwar deshalb, weil Ordnen das Verwerfen ungeeigneter Elemente einschließt.« (Ebd. 53) Und die Sozialanthropologin verweist zugleich auch auf die (kultur-)wissenschaftlichen Zugangsmöglichkeiten und -schwierigkeiten zur »Residualkategorie« Unordnung bzw. Schmutz: »Wenn das Unsaubere etwas ist, was fehl am

235

2005-09-20 17-10-37 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

Platz ist, so müssen wir es von der Ordnung her untersuchen.« (Ebd. 59) Neuere Studien orientieren sich an Douglas’ Modell und nehmen es als Grundlage für weitere Differenzierungsversuche. In ihrer Habilitationsschrift zur Verwandlung und Resymbolisierung brachliegender Industrieareale verfolgt etwa Susanne Hauser eine Revidierung des binären Schemas und schlägt eine komplexere Beschreibung eines Grenzraumes vor, der sich auf Überschreitungen, auf Unschärfen, auf die »Auszeichnung eines Bereichs ›in between‹« einlässt – mit Auswirkungen auch auf die betrachtende Wissenschaft selbst, gebe sie doch »ein Denken vor, das nicht nur über Grenzen denkt, sondern sich seinerseits auf Grenzverläufen zu bewegen sucht.« (Hauser 2001: 32)1 Vergleichbar argumentiert der Agrarsoziologe Andreas Nebelung, der den Abfall – im sprachlichen Gerüst der Luhmannschen Systemtheorie – als »umweltliche Kategorie« auf der Grenze zwischen System und Umwelt verortet, in einem Zwischenraum, »in der Lücke, an der Bruchstelle, im Übergang« (Nebelung 1999a: 6) mithin, wo er Zugänge zu alternativen Wahrnehmungsformen ermögliche und alternative Bearbeitungsformen freisetze: »Wir brauchen den unscharfen Gebrauch, weil wir sonst nicht weiter kämen, keine weiteren Erfahrungen machen könnten, unendlich begrenzen müßten.« (Nebelung 1999b: 26) Wie aber sieht dieser »unscharfe Gebrauch«, sieht die kulturanalytische Arbeit auf der Grenze aus? Wie wird der Grenzbereich gefasst und wie formt der dort situierte Forschungsgegenstand die Versuche seiner analytischen Erfassung mit? Welche Effekte lassen sich also ausmachen?

III. Müllforschung im Grenzbereich 1. Verflüchtigung, Auflösung, Entzug Tendenz zur begrifflich-konzeptuellen Verflüchtigung Einen ersten Effekt auf seine (kultur-)wissenschaftliche Bearbeitung scheint die Unschärfe des Grenzphänomens Abfall bereits im Hinblick auf seine begriffliche Bestimmung zu haben. Nur am Rande sei hier auf die nicht wirklich überzeugenden, sich zum Teil widersprechenden und trotzdem immer wieder mit Nachdruck prak-

1. Siehe auch den Beitrag von Susanne Hauser in diesem Band. 236

2005-09-20 17-10-38 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

tizierten Differenzierungsversuche des Müll- vom Abfallbegriff hingewiesen (vgl. dazu Windmüller 2004: 18). Stärker als andere Gegenstandsfelder droht der Abfall den mit seiner Theoretisierung beschäftigten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aber auch grundsätzlich zu entgleiten. Als Grenzerscheinung bewegt er sich zugleich im Randbereich des analytisch Erfassbaren: Eine den spezifischen Dimensionen des Abfallphänomens angemessene Bestimmung scheint immer noch nicht vorzuliegen, ja sie scheint sogar ferner zu rücken, je weiter, und hier greife ich ein subjektives Erfahrungsmoment auf, man sich auf die Auseinandersetzung einlässt, je eingehender man sich mit ihm beschäftigt. »In dem Augenblick«, schreibt Helga Kämpf-Jansen über Abfall-Material in der Kunst, »in dem man es erblickt, auswählt und aufhebt, verläßt es bereits seinen Status als Müll und wird zum ›Fundstück‹. Im Abreiben der Schmutzteile, um die vermutete Schönheit zu erblicken, fällt gleichsam auch der Begriff ›Müll‹ ab.« (Kämpf-Jansen 2001: 237) Dass mit dem Begriff auch die durch ihn beschriebene ›Qualität‹ selbst von den Gegenständen abfällt, ist eine Beobachtung, die nicht nur für die künstlerische, sondern ebenso für die wissenschaftliche Bearbeitung in Anschlag gebracht werden kann. Entsprechend fragt sich auch Susanne Hauser, »ob es denn überhaupt noch Abfall gibt« (Hauser 2001: 20) und zumindest für das eigene Untersuchungsfeld scheinen ihr erhebliche Zweifel angebracht. Gründe sieht Hauser in einer stofflichen und diskursiven Differenzierung, in Diskursen, die »die Potentiale ästhetisierender und naturalisierender Verfahren für sein Verschwinden einsetzen« (ebd. 20) – und im Fortgang ihrer Studie lassen sich durchaus immer wieder Parallelen der beschriebenen Verfahrensweisen zu solchen des (kultur-)wissenschaftlichen Abfalldiskurses ausmachen (vgl. Windmüller 2003). Tendenz zur heuristischen »Schwebelage« Den Unschärfen in der Gegenstandsbestimmung stehen spielerische Grenzgänge der Zugangs-, Bearbeitungs- und Präsentationsformen zur Seite. Künstlerische Aufbereitungen des Abfalls sind augenscheinlich – im Vergleich etwa zu alltagsweltlichen Müllpraxen – nicht nur bevorzugtes Thema kulturwissenschaftlicher Abfallforschung. Sie strahlen zugleich auch – und das scheint mir bedenkenswert zu sein – auf wissenschaftliche Wahrnehmungsmuster, auf die gewählte Form der Annäherung und Darstellung ab. Johanna Rolshoven hat im Vorwort der von ihr herausgegebenen »Kulturtheoretische[n] Reflexionen zu den Rändern des sozialen Raumes« – so der Untertitel eines Bandes über »Hexen, Wiedergänger, Sans-Pa237

2005-09-20 17-10-38 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

piers« (2003) – auf die Affinität der beteiligten Autoren zum Denkund Schreibmodell des Essays hingewiesen: eine Beobachtung, die sich auch auf unseren Zusammenhang übertragen lässt. Abfallforscher und -forscherinnen wählen nicht selten offene, assoziative, auch relativierende, dabei aber sprachlich äußerst geschliffene Darstellungsformen. Das Umkreisen des Fragenkomplexes, die »diskursive Schwebelage« (Bude 1989: 536) wie die »langsame Einübung eines ›anderen Blicks‹« (ebd. 531) finden sich als offensichtlich angemessene Formen in der Abfallliteratur. Und wenn Heinz Bude in seinem aufschlussreichen Text über die essayistische Erkenntnis, aus dem auch die vorangegangenen Zitate stammen, weiterhin schreibt, diese bringe »in der Regel widersprüchliche Einheiten zum Ausdruck, die Zufall und Notwendigkeit, Freiheit und Verstrickung, Anpassung und Widerstand, Vernünftigkeit und Absurdität, Faszination und Schrecken, Einzelheit und Allgemeinheit zusammenbringen« (ebd. 532), dann liest sich diese Stelle geradezu wie eine Programmatik der kulturwissenschaftlichen wie künstlerischen Annäherungen an das Abfallphänomen gleichermaßen. So wäre zur genaueren Erfassung des Zwischenraums von Wissenschaft und Kunst, in dem kulturwissenschaftliche Müll- und Abfallforschung ihren angestammten Platz gefunden zu haben scheint, vielleicht auch eine nähere Betrachtung insbesondere der heuristischen Eigenverortung von abfalltheoretischen und -praxologischen Forschungsansätzen zu ästhetischen Fragestellungen weiterführend. Tendenz zur Immaterialisierung, zur physischen Verflüchtigung, zur Abstraktion Gerade an der eingangs kurz angerissenen sozialen Dimensionierung des Abfalls entzündeten sich verschiedene Theoretisierungsversuche. Für die deutschsprachige Literatur sind hier vor allem Autoren wie Manfred Faßler und Theodor M. Bardmann zu nennen, die unter Rückgriff auf systemtheoretische Ansätze und in kritischer Auseinandersetzung mit Mary Douglas und Michael Thompson Abfall als »allgemeine[n] Struktur- und Ordnungsbegriff« (Bardmann 1994: 190; Hervorhebung i. Orig.) fassen, als gesellschaftsstabilisierende und zugleich -gefährdende Ausdrucksform, als – insbesondere von Faßler – herausgearbeiteter Dynamisierungsfaktor moderner, kapitalistischer Gesellschaften. Aus arbeitssoziologischer Warte entwickelte Theodor M. Bardmann seinen Entwurf des Abfalls als Taxierungspraxis mit subversivem Potential, als »irritierende Informationen« (ebd. 174, 212), die interaktiv eingesetzt würden. 238

2005-09-20 17-10-39 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

Gesellschaftswissenschaftliche Abfalltheoretiker, für die hier stellvertretend trotz aller Differenzen in der Ausrichtung ihres Forschungsinteresses Faßler und Bardmann angeführt werden können, haben das moderne Abfallphänomen über die gängige technischmaterialistische Sichtweise hinaus erweitert – und zwar tendenziell hin zu einer abstrakt-symbolischen Konzeption. Für Manfred Faßler ist Abfall »längst zum immateriellen Sachstand geworden« (Faßler 1991: 206; Hervorhebung i. Orig.) und Theodor M. Bardmann spricht von einem »Bereich des symbolischen Abfalls« (Bardmann 1994: 42), von einem »weite[n] und abstrakte[n] Abfallbegriff«, den es »zu entfalten« gelte (ebd. 161). Mit dem vorgeführten analytischen Modell des Abfalls als »Konstrukte von Beobachtern« (ebd. 212), als »Information« (ebd. 173), als »Konstitutions- und Subversionsbegriff« (ebd. 191; Hervorhebung i. Orig.) wird eine auf hohem theoretischen Niveau betriebene Konkretisierung, zugleich aber auch eine tendenzielle Verflüchtigung insbesondere der materiell-physischen Aspekte des Massenphänomens Abfall forciert. Nur konsequent verschwindet dann in weiten Teilen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Abfallforschung auch der im Alltagsleben körperlich massiv präsente und stets als potentielles Problem virulente Hausmüll als »nicht unbedingt die hervorstechendste Form des Abfalls« (ebd. 194) aus dem analytischen Blickfeld.2

2. Massierung, Aufdringlichkeiten, Kampf Entgegen der herausgearbeiteten Tendenz kulturwissenschaftlicher Abfallforschung zur Entmaterialisierung und Abstrahierung, zur Hybridisierung und zum Oszillieren auf der Grenze möchte ich in meinen abschließenden Überlegungen einen vermeintlichen Schritt zurückgehen und den Versuch unternehmen, den Abfall in seinem Verhältnis zur Abfallforschung erneut zu konkretisieren – in diesem Fall stofflich-materiell. Die analytische Aufmerksamkeit soll dabei der zugegeben nicht ganz einfach zu fassenden, aber dennoch nicht zu vernachlässigenden affektiven, sinnlich-körperlichen Dimension von Abfallforschung gelten, der immer noch auffällig unreflektierten physischen Auseinandersetzung von Forscherinnen und Forschern mit ihrem Untersuchungsgegenstand. Es geht darum, den Abfallwis-

2. Bardmann bezieht diese Einschätzung primär auf soziologische Zugänge (Bardmann 1994: 194). 239

2005-09-20 17-10-39 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

senschaftler/die Abfallwissenschaftlerin wieder ins Spiel zu bringen, die Gefühls- und Stimmungslagen, Bedürfnisse, Wünsche, Ängste und Hoffnungen. Und es geht um die – wie Hans Ulrich Gumbrecht (2001, 2004) es nennt – »präsenzkulturellen« Aspekte des Abfalls als einem Phänomen, das sich immer auch massiv in seiner Gegenwärtigkeit, in seiner Körperlichkeit im Verhältnis zum Menschen substanziell realisiert. In einer ersten Annäherung, die sich eher auf Zufallsfunde denn auf eine systematische Materialerhebung stützen kann, möchte ich dieser Spur anhand schriftlicher und bildlicher Selbstrepräsentationen kulturwissenschaftlicher Abfallforschung nachgehen. Es geht also um die Randbemerkungen zu einem Randphänomen, um die gemeinhin ausgeblendeten, verschiedentlich aber aufscheinenden Eigenverortungen im Forschungsfeld3. Sie mögen uns vielleicht selbst zunächst als Ausdrucksform wissenschaftlicher Diskursivität befremdlich anmuten, führen gerade damit aber direkt ins Zentrum des vorgeschlagenen epistemologischen Programms. Aufgehängt werden die Überlegungen an Fotografien. Sie entstammen unterschiedlichen Kontexten, zeigen aber allesamt Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der am Bureau of Applied Research in Anthropology (BARA) der University of Arizona in Tucson angesiedelten Garbage Studies, die seit mittlerweile dreißig Jahren als gegenwartsarchäologisches Großprojekt mit kulturanalytischen Fragestellungen amerikanischen Hausmüll untersuchen (vgl. Rathje/Murphy 1994). Es handelt sich zugleich um seltene Fälle publizierten Bildmaterials, das die Beziehung von Abfallforschern zu ihrem Gegenstand objektiviert. »Müll«, leitete schon Michael Thompson die Danksagung im Vorwort seiner »Theorie des Abfalls« ein, »bleibt schließlich doch ein ziemlich widerwärtiges Zeug und hat die Tendenz, an Leuten hängenzubleiben, die mit ihm in Berührung kommen. Deshalb danken mir vielleicht nicht alle, denen ich danken möchte, wenn ich dies in einer allzu öffentlichen Weise tue« (Thompson 1981: 11).4

3. Diese finden sich zumeist in von außen angeregten, für ein breiteres Publikum konzipierten Dokumentationen der Forschungsprojekte sowie in den vorangestellten Bemerkungen, den Vorworten und Einleitungen der Fachpublikationen. 4. Thompson diagnostiziert gar eine grundsätzliche Inakzeptanz von Abfallstudien auf Seiten der institutionalisierten Wissenschaft, denn »der Sozialwissenschaftler, der den Abfall untersuchen will, muß zumindest darin ›herumwaten‹. Tut er dies jedoch, welche Chance besteht dann für ihn, ›so sauber durchzukommen‹ wie 240

2005-09-20 17-10-39 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

Diese Bemerkung ist mehr als eine Attitüde, sie ist zugleich Hinweis auf eine forschungsrelevante Beziehung, die eindrucksvoll in einem Porträt des US-amerikanischen Archäologen, Initiators und langjährigen Leiters des Tucsoner Garbage Projects, William L. Rathje, sichtbar wird (Abb. 1).

Abbildung 1: William L. Rathje, Projektinitiator und -leiter Das einer offiziellen Internetseite mit seinen biographischen Daten und universitärem Profil entnommene Foto zeigt den Wissenschaftler im Forschungsprozess, Kleidung und Kopf übersäht mit Spuren seines Erhebungsmaterials. Der Blick ist skeptisch, das Unwohlsein ist Rathje ins Gesicht geschrieben. Hier scheint auf, was Daniel Pick, der in Gießen in einem empirischen Abfallprojekt promoviert hat, als von der »sogenannten Materialität« ausgehendes »existenziale[s], dumpfe[s] Unbehagen« (Nebelung/Pick 2003: 106) bezeichnet hat. Abfall, vermittelt das Bild, drängt sich dem Forscher auf, ermächtigt sich seiner – eine Grenzsituation, deren emotive Aufladung, deren physische Spannung in dem Moment hervorbricht, wo

seine Kollegen? Wie kann er ein Mitglied der sozialwissenschaftlichen Gemeinschaft bleiben, wenn er, um Abfall zu studieren, die Form des Diskurses aufgeben muß, die das bestimmende Kriterium jener Gemeinschaft ist? Wie kann er sich am Morgen im Kot der Edinburgher Straßen wälzen und am Nachmittag an den Doktorandenseminaren der Edinburgher Universität mitwirken?« (Thompson 1981: 18f.) 241

2005-09-20 17-10-41 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

die eigenen Abfälle in die Forschungsperspektive einbezogen, die Distanz also noch einmal verringert werden soll, wie ein von der Tübinger Volkskundlerin Gudrun Silberzahn-Jandt dokumentierter Vorfall nahe legt. Auf einer 1998 in Münster abgehaltenen Tagung zu »Geschlecht und materieller Kultur« referierte Silberzahn-Jandt Erkenntnisse aus ihrem Forschungsprojekt zum Thema »Frauen und Müll«, in dessen Verlauf sie gemeinsam mit einer studentischen Projektgruppe umfangreiches empirisches Material gewonnen hatte. Silberzahn-Jandt spricht vor dem Hintergrund ihrer Erhebungen (vor allem Befragungen zu privatem Wegwerf- und Entsorgungsverhalten) von der Anstößigkeit des Mülls dort, wo »die Grenzen des Eigenen überschritten werden« (Silberzahn-Jandt 2000: 120) und gibt zur Verdeutlichung einen der seltenen Einblicke in konkrete Konfrontationsmomente und Affektlagen in der Erforschung des Abfalls: »Als ich meine studentischen Projektmitarbeiterinnen gebeten hatte, für eine Projektpräsentation im Rahmen des Institutskolloquiums in Tübingen eine Tüte voller Müll mitzubringen, erhielt ich eine Abfuhr. ›Der Müll ist etwas zu Intimes und Privates, da laß’ ich mir nicht reinschauen‹, war die erste Äußerung. Und um die Ablehnung nochmals zu bekräftigen, wurden doch Einzelheiten aus dem Inhalt der Mülltüte verbal aufgetischt. Es wurde von den angefressenen Mäusen berichtet, die die Katze anschleppte und die über den Hausmüll entsorgt würden. Und solches könne dem Auditorium des Kolloquiums nicht zugemutet werden«. (Ebd. 120) Die Momentaufnahme scheint mir im Hinblick auf die Beziehung von Abfallwissenschaft zu ihrem Gegenstand zweierlei zu vermitteln: Zum einen das von Thompson wie von Pick geäußerte Unbehagen im direkten Kontakt mit dem eigenen Forschungsgegenstand, zum anderen aber auch ein verbales Auffangen dieser Verweigerungshaltung, das zugleich als wissensgenerierendes Moment daherkommt. Wird eine physische Annäherung an den Abfall im Forschungsprozess akzeptiert oder sogar gesucht, ist eine augenfällige Installation wie symbolische Demonstration von Schutzmaßnahmen zu beobachten. In ihrer Ausgabe vom Mai 1991 veröffentlichte die Zeitschrift »National Geographic« eine mit etlichen Fotografien versehene Reportage über die Garbage Studies in Tucson (Rathje 1991). Eines der Bilder (Abb. 2) zeigt ein Mitglied des Forschungsteams, den vermummten und eingerüsteten graduate student Masakazu Tani, wie er ein Abfall-Fundstück untersucht – »masked against stench and dust« (ebd. 121), heißt es im Begleittext. Eindrucksvoll 242

2005-09-20 17-10-42 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

Abbildung 2: Masakazu Tani, Projektmitarbeiter werden hier die offenkundig als notwendig empfundenen Distanzierungszeichen fotografisch in Szene gesetzt: der uniformierende Schutzanzug, der an einen Helm erinnernde Hut, der wie eine Gasmaske wirkende Mundschutz.5 Aber auch das gewählte Abfallrequisit selbst, eine im Sonnen- oder Scheinwerferlicht glänzende Flasche des Getränkeherstellers Coca Cola, fungiert als weiteres Indiz, markiert sie in ihrer Unversehrtheit doch nicht nur ein zentrales, mit hohem identifikatorischen Wert aufgeladenes Positivsymbol eigener Kultur und deren Beständigkeit (vgl. Pendergrast 1993), sondern zugleich, folgt man der Einschätzung Jean Baudrillards, einen Gegenstand, der schon aufgrund seiner stofflichen Beschaffenheit, der gläsernen Materialität, nicht in den Müllstatus eintreten kann: »[…] überall und allgegenwärtig zielt das Glas auf ein immer schöneres und transparenteres Leben. Darüber hinaus und wie immer seine schicksalhafte Bestimmung sein mag, nie kann es zum

5. Die begrenzte Wirkkraft der Aufrüstung thematisiert der Projektleiter Rathje im Haupttext des Beitrags (Rathje 1991: 120): »[…] we acquired face masks to filter particulates and veil the pungent-sweet stench of exhumed refuse. But the odor stuck with us. One day when I took the crew to lunch at a Pizza Hut, it was crowded, and I worried about a long wait. I needn’t have. After ten minutes we were the only customers remaining. When we left, the manager called after us, ›Thanks for stopping by, but for you guys we’d be really glad to deliver.‹« 243

2005-09-20 17-10-44 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

Abfall werden: weil es keinen Geruch verbreitet.« (Baudrillard 1991: 57)

Abbildung 3: Projektleiterin Kathy Cisco bei der Dokumentationsarbeit

Deutlich erträglicher scheinen Müllkonfrontation dort zu sein, wo die massive physische Präsenz der Deponie auf einzelne Proben reduziert, der amorphe Rest dagegen ausgeblendet wird. In der unabhängigen Studierendenzeitung Arizona Daily Wildcat vom 5. Mai 1999 erschien ein Artikel über die Aktivitäten des Garbage Project, dem unter anderem ein Foto der Nachfolgerin Rathjes in der Projektleitung, Kathy Cisco, beigefügt wurde (Abb. 3), das sie bei der Erfassung, der Systematisierungsarbeit mit vertrautem analytischen Instrumentarium zeigt: Die im wesentlichen aus der Abfalldeponie entnommenen Proben werden in Tucson in Einzelgegenstände aufgelöst, nach einem detaillierten Kategoriensystem codiert, vermessen und gewogen und die so gewonnenen Werte in eine digitale Datenbank eingespeist. Der Müll wird also auch hier in einen immateriellen Zustand überführt – ein Vorgang, der, betrachtet man die abgebildete Forscherin, unübersehbar Sicherheit und wohl auch Zufriedenheit verschafft: Wir sehen Kathy Cisco in entspannter Körperhaltung, mit gelöstem Mundschutz und einem Lächeln im Gesicht. Zunächst nicht in das gerade aufgemachte Interpretationsmodell passend, ja geradezu gegenläufig scheint das einer Vortragsankündigung der Illinois Science Teachers Association im Jahr 2001 beigefügte Bild William Rathjes zu sein (Abb. 4). Es zeigt ihn wiederum, 244

2005-09-20 17-10-45 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

diesmal am ganzen Körper, von Schmutz bedeckt. Hinter und unter dem Wissenschaftler, zu jener Zeit Consulting Professor in Stanford, türmen sich zudem die Müllmassen einer Deponie, der für den Fototermin gewählten ›location‹. Es gilt auf Rathjes Körpersprache zu achten: Breitbeinig, mit verschränkten Armen, selbstbewusst, ja geradezu triumphierend steht er da. »War on Waste« lautet der martialische Titel einer 1989 erschienenen Abfallpublikation von Louis Blumberg und Robert Gottlieb, die in der Folgezeit in den USA auch in einer breiteren Öffentlichkeit einige Popularität erlangte und deren Untertitel die fundamentale Frage aufwarf: »Can America Win Its Battle with Garbage?« Rathje scheint auf diesem Bild die Antwort bereits gegeben zu haben: Der Kampf war schwer, der Mensch – hier der Forscher – ist zwar gezeichnet, aber doch als Sieger aus der Schlacht hervorgegangen. Ganz in der Tradition der Trophäenfotografie6 der Großwildjägerei posiert der Müllforscher, den linken Fuß vorgestellt und auf der zur Strecke gebrachten Beute platziert.

Abbildung 4: William L. Rathje auf der Mülldeponie

6. Gunnar Schmidt verweist auf die antike Wortbedeutung des Begriffs »tropaion« »zwischen Fundsache, Beute und Kunstobjekt« und spricht von Trophäen als »Sinnbausteinen«: »Wer sie in der Hand hält, zeigt sich als Überlebender und steht – imaginär – auf Seiten der Gewinner«, zugleich sei die Trophäe aber auch »Symptom für den manisch-melancholischen Komplex« (Schmidt 1993: 122, 125). 245

2005-09-20 17-10-47 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

Abbildung 5: William L. Rathje auf dem Cover der Zeitschrift »Discovering Archaeology« Die nächste und letzte Fotografie (Abb. 5) greift die gerade angesprochene Gebärde erneut auf. Zu sehen ist wiederum William Rathje, diesmal auf dem Titelblatt der Zeitschrift Discovering Archaeology. Das Foto, das die Titelreportage zum Tucsoner Garbage Project, »Talking Trash. Archaeologists Uncover the Surprising Truth About America’s Landfills«, illustriert, lässt sich wie eine Zuspitzung des vorangegangenen lesen. Die triumphale Geste ist noch ausgeprägter: Rathje ist erfolgreicher Großwildjäger und Gipfelstürmer in einer Person. Die Schwierigkeiten des zurückgelegten Weges sind dem Wissenschaftler nicht mehr anzumerken. Der Abfall türmt sich nicht mehr bedrohlich hinter ihm auf; Rathje hat vielmehr die zuvor aufdringlichen Materialmassen bezwungen, er 246

2005-09-20 17-10-50 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

hat sie unter sich zurückgelassen, er steht lässig in blütenweißem Hemd, die Haare gut frisiert, die Hände in den Hosentaschen versenkt. Die Gigantomanie des Augenblicks wird noch einmal durch die wie ein Schatten hinter Rathje stehende New Yorker Freiheitsstatue verstärkt, die zugleich eine Verortung der Szene vornimmt: Bei dem bezwungenen Gipfel handelt es sich demnach um keinen geringeren als den der New Yorker Abfalldeponie Fresh Kills, der riesigen und wohl bekanntesten Müllhalde der Vereinigten Staaten, die zuletzt eine neuerliche traurige Berühmtheit von nationaler Tragweite erlangte, als sie die Trümmer des Terroranschlags auf das World Trade Center im September 2001 aufnahm.

IV. Kraftfelder Abfall objektiviert sich in Material- und Handlungsformen, die nicht ohne Wirkkraft sind. Die vorgestellten Beispiele, die Selbstrepräsentationen in ihren jeweiligen Ausstaffierungen, haben eine Abfallforschung gezeigt, bei der sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf die physischen Dimensionen ihres Gegenstands eingelassen haben. Sie haben die Aufdringlichkeit und Massivität vermittelt, die expansiven Potentiale, die körperliche Präsenz und Aggressivität des Abfalls, die auch vor den Abfallexperten nicht halt zu machen scheint – und sie haben textlich oder bildlich eingefangen, wie diese Experten mit der Aufdringlichkeit umgehen, welche Wahrnehmungs- und Verhaltensstrategien sie entwickeln. Selbstverständlich konnte damit nur ein kleiner Ausschnitt möglicher physischer Mensch-Müll-Konfrontationen und ihrer Affektlagen dargestellt werden. Dennoch ließ das bisher Gesagte aufscheinen, dass vom Abfall als einem Rand- bzw. Grenzphänomen durchaus Effekte auf den wissenschaftlichen Umgang mit ihm ausgehen. Müllwissenschaft als Grenzwissenschaft, wie sie in einem ersten Anlauf skizziert wurde, zeichnet sich dabei vor allem durch eine Tendenz zum Ephemeren und zur Hybridität aus, zu den Mischformen und zur physischen Verflüchtigung. Bewegungen im Grenzbereich sind diffundierende, sind Wegwärtsbewegungen, immer in der Gefahr zu entgleiten. Daneben, und darauf kam es mir im letzten Teil der Ausführungen an, bedeuten Grenzen – und mit ihnen Grenzphänomene wie der Abfall – aber auch anders gelagerte,

247

2005-09-20 17-10-51 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

näher rückende, aufdringliche und aggressive Bewegungsverläufe7, die in der Analyse, aber auch in der Reflexion der Anlage ihrer Erforschung nicht vernachlässigt werden dürfen. Gerade (kulturwissenschaftliche) Abfallstudien, die sich mit einem hoch-affektiven, in seiner Massierung physisch virulenten Gegenstand auseinandersetzen, müssen diese Wirkpotentiale vielmehr als Forschungsdesign und -ablauf maßgeblich mitbestimmende Einflussfaktoren ernst nehmen, deren Brisanz weit über eine methodenkritische Problemstellung hinaus geht.

Literatur Assmann, Aleida (1996): »Texte, Spuren, Abfall: die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses«. In: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 96-111. Bardmann, Theodor M. (1994): Wenn aus Arbeit Abfall wird. Aufbau und Abbau organisatorischer Realitäten, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Baudrillard, Jean (1991): Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag (orig.: Le système des objets. Paris 1968). Blumberg, Louis/Gottlieb, Robert (1989): War on Waste. Can America Win Its Battle with Garbage? Foreword by Jim Hightower, Washington D.C.: Island Press. Bude, Heinz (1989): »Der Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse«. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3, S. 526-539.

7. Vgl. die Ausführungen des Volkskundlers Andreas Hartmann zu Grenzräumen, die er als »diffuse Übergangsräume« fasst, zugleich aber betont, dass »das Faktum der Grenze und der Grenzziehung, der Diskontinuität und ihrer Markierungen […] uns jedenfalls auch bei der Untersuchung von Grenzräumen – sogar in ausgeprägtem Maße – erhalten« bleibt (Hartmann 2000: 11f.). Auf das Abfallphänomen bezogen berichtet die Theologin und freie Publizistin Dorothee Sölle von einer entsprechenden Erfahrung: ihren Empfindungen beim Besuch eines Hilfsprojekts für Müllsammler und Abfallsortiererinnen in der Nähe von Porto Alegre im Süden Brasiliens. Thema ist der »Ekel, den ich nicht loswerde« in einer Situation, der die Autorin eigentlich mit Offenheit begegnen wollte: »Für Minuten ist es mir gelungen, diesen anderen Blick einzuüben, aber der Ekel schlug immer wieder zu. Das Bedürfnis nach Ordnung und das nach irgendeiner Form von Schönheit, einer Blume im Abfall, verfolgte mich regelrecht.« (Sölle 1992: 102f.) 248

2005-09-20 17-10-52 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

KULTUR, MÜLL, WISSENSCHAFT. BEWEGUNGEN IM GRENZBEREICH

Douglas, Mary (1985): Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin: Dietrich Reimer Verlag (orig.: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. London 1966). Faßler, Manfred (1991): Abfall, Moderne, Gegenwart: Beiträge zum evolutionären Eigenrecht der Gegenwart, Gießen: Focus Verlag. Fehr, Michael (1989): »Müllhalde oder Museum: Endstationen in der Industriegesellschaft«. In: ders./Stefan Grohé (Hg.), Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln: Wienand, S. 182-196. Gumbrecht, Hans Ulrich (2001): »Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung«. In: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 63-76. Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Hartmann, Andreas (2000): »Was ist eine Grenze? Eine kulturwissenschaftliche Vermessung«. In: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 45, S. 9-19. Hauser, Susanne (2001): Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale, Frankfurt/Main: Campus Verlag. Kämpf-Jansen, Helga (2001): »Kunst-Staub«. In: Gisela Ecker/Martina Stange/Ulrike Vedder (Hg.), Sammeln – Ausstellen – Wegwerfen, Königstein/Taunus: Helmer (= Kulturwissenschaftliche Gender Studies Bd. 2), S. 225-239. Korff, Gottfried (2002): »Fremde (der, die, das) und das Museum« (1997). In: ders., Museumsdinge: Deponieren – Exponieren, hg. v. Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König und Bernhard Tschofen. Köln u.a.: Böhlau, S. 146-154. Kuchenbuch, Ludolf (1988): »Abfall. Eine Stichwortgeschichte«. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Kultur und Alltag, Göttingen (= Soziale Welt Sonderband 6), S. 155-170. Nebelung, Andreas (o.J. [1999a]): Der Abfall des Fortschritts. Wie lassen sich Luhmanns Systeme für ihre Umwelt methodisch empfindlich machen? Unveröff. Manuskript. Masch. o.O. Nebelung, Andreas (1999b): Zwischenräume. Methode und Ästhetik einer ökologischen Soziologie, Gießen: Focus Verlag (= Ökologische Soziologie Bd. 1). Nebelung, Andreas/Pick, Daniel (2003): Der Rest ist Schweigen: Die Dinge und ihre Vernichtung. Empirische Abfall-Studien hin zu einer ökologischen Kultur-/Naturtheorie, Gießen: Focus Verlag (= Ökologische Soziologie Bd. 3). Pendergrast, Mark (1993): Für Gott, Vaterland und Coca-Cola. Die unautorisierte Geschichte der Coca-Cola Company, Wien: Zsolnay (orig.: For God, Country and Coca-Cola. New York 1993). Pieper, Carl (1869): Schwemmcanäle oder Abfuhr? Eine Frage und Abstimmung vor der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte. Mit sachlichen Erläuterungen, 2. Aufl. Dresden.

249

2005-09-20 17-10-53 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

SONJA WINDMÜLLER

Rathje, William L. (1991): »Once and Future Landfills«. Photographs by Louie Psihoyos. In: National Geographic 5, S. 116-133.

Rathje, William L./Murphy, Cullen (1994): Müll. Eine archäologische Reise durch die Welt des Abfalls, München: Goldmann Verlag (orig.: Rubbish! The Archaeology of Garbage. What Our Garbage Tells Us about Ourselves. New York 1992). Rolshoven, Johanna (2003): »Der Rand des Raumes. Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Thema Übergang. Eine Einführung«. In: dies. (Hg.), »Hexen, Wiedergänger, Sans-Papiers«. Kulturwissenschaftliche Reflexionen zu den Rändern des sozialen Raumes, Marburg: Jonas Verlag, S. 7-17. Schmidt, Gunnar (1993): »Trophäe. Ästhetisierung der Melancholie«. In: Andreas C. Bimmer (Hg.), Sich benehmen, Marburg: Jonas Verlag (= Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung N.F. Bd. 30), S. 121-128. Silberzahn-Jandt, Gudrun (2000): »Zur subjektiven Wortbedeutung von Müll und Abfall – Narrative Skizzen«. In: Gabriele Mentges/Ruth-E. Mohrmann/Cornelia Foerster (Hg.), Geschlecht und materielle Kultur. Frauen-Sachen, Männer-Sachen, Sach-Kulturen, Münster u.a.: Waxmann, S. 111-124. Sölle, Dorothee (1992): Gott im Müll. Eine andere Entdeckung Lateinamerikas, München: Dt. Taschenbuch-Verlag. Thiesing, Hans (1906): »Müllbeseitigung und Müllverwertung«. Vortrag bei der 30. Versammlung des D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege in Mannheim 1905. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 1, S. 147-161. Thompson, Michael (1981): Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Aus dem Englischen von Klaus Schomburg, Stuttgart: Klett-Cotta (orig.: Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value. Oxford 1979). Windmüller, Sonja (2004): Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem, Münster: Lit Verlag (zugl. Marburg, Univ. Diss. 2002). Windmüller, Sonja (2003): »Zeichen gegen das Chaos. Kulturwissenschaftliches Abfallrecycling«. In: Zeitschrift für Volkskunde 2, S. 237-248.

Abbildungen Abb. 1: http://www.leadingauthorities.com/search/biography.htm?s =3763; Stand: 09.06.2004. Abb. 2: National Geographic 5/1991, S.121; Foto: Louie Psihoyos. Abb. 3: http://wildcat.arizona.edu/papers/92/149/13_1_m.html; Stand: 09.06.2004. Abb. 4: http://www.ista-il.org/conventions/2001convention_keyspkr. asp; Stand: 14.08.2002. Abb. 5: http://www.stanford.edu/dept/anthsci/images.Rathje-1.htm; Stand: 14.08.2002. 250

2005-09-20 17-10-53 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 233-250) T04_14 windmueller.p 95224311110

2005-09-20 17-10-55 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 251

) T04_15 a - becker bild.p 95224311190

2005-09-20 17-10-55 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 252

) vakat 252.p 95224311358

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Die Hörstation ›Reste‹ und der akustische Raum der Cafeteria des I.G. Farben-Hauses Andreas Becker, Helen Seyd, Serjoscha Wiemer, Roman Wortreich

Akustische Medien erzeugen einen subversiven Raum, der sich unter den Alltagsraum schiebt. Das akustische Signal überlagert sich mit den Geräuschen und Stimmen aus der Umgebung. Es belegt die Sinne der Hörer nicht. Je nach Interesse kann deren Aufmerksamkeit umherschweifen und sich auf verschiedenste Eindrücke konzentrieren: Manche hören auf den Tonfall der Stimme, manche auf das Gesagte, wieder andere achten auf das Räuspern, auf die gemachten Pausen. Wenn die Lautstärke niedrig ist, schiebt sich die künstlich erzeugte Klangsphäre unter den Alltag und färbt dessen Stimmung ein. Akustische Medien inspirieren die anderen Sinne. Sie flüstern dem Auge zu: Schau doch dorthin. Sie lassen Atmosphären aus dem Unsichtbaren heraus entstehen und ermöglichen es sogar, sich frei im Raum zu bewegen. Die Rotunde ist einer der wenigen Begegnungsorte der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/Main im ehemaligen Hauptverwaltungsgebäude der I.G.-Farben. Der Saal dient als Cafeteria. Studierende gehen zwischen den universitären Veranstaltungen dorthin, um die Zeit zu vertreiben. Wegen seiner Höhe, der silbermetallenen Decke, der Verkleidung der Wände und den großen Fensterzeilen brechen und überschlagen sich die Schallwellen. Alles Akustische hält sich im Raum. Kein Ton vergeht wirklich, sondern hallt in diesem Raum wieder, interferiert mit anderen Quellen und kehrt bis zur Unkenntlichkeit verwandelt Momente später noch zurück. Zu den anderen Men253

2005-09-20 17-10-59 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

schen fühlt man sich deshalb eigenartig distanziert. Die stringente architektonische Gliederung des Raumes ästhetisiert den Alltag alleine nach visuellen Gesichtspunkten. Hans Poelzig, der Architekt des zwischen 1928 und 1931 errichteten Gebäudes, entwarf das monumentale Bauwerk auf optische Repräsentation hin. Die Gänge sind lang geschwungen und großzügig angelegt, die Blicke aus den Büros zeigen die Stadt so, dass sich die Ansichten zu mosaikartigen Veduten Frankfurts fügen. Aber der akustische Raum wurde nicht mit der gleichen Sorgfalt mitentworfen. Der Kopfhörer mit seinem privat gewordenen Hören schien uns das beste akustische Medium, welches sich an diesem Ort zur Präsentation unserer Inhalte eignen könnte. Auf einer der breit angelegten Fensterbänke luden daher drei dezente Hörplätze und Sitzkissen eine Woche lang dazu ein, verschiedenen Beiträgen zum Thema ›Reste‹ zu lauschen. HörerInnen berichteten uns, dass sie die diffuse Klangatmosphäre des Saals erst wahrnahmen, als sie sich auf unsere Beiträge konzentrierten. Die Hintergrundgeräusche traten offenbar besonders hervor, weil durch den Kopfhörer eine alternative akustische Quelle als Referenz diente. Vom 5. bis zum 9. Juli 2004, jeweils von 9 bis 18 Uhr, spielten wir dort akustische Aufnahmen, digitale Soundschnipsel und Gespräche von insgesamt 140 Minuten Dauer als Loop ab. Ein Banner machte auf die Hörstation und die Tagung aufmerksam. Um die Hörplätze herum schufen wir etwas Platz, änderten die Sitzordnung also geringfügig. Im Laufe des Tages stellte sich oft die alte Ordnung wieder ein. Im Folgenden geben wir einen Teil der Interviews und Beiträge wieder.

254

2005-09-20 17-11-00 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Ein einziger Strahlentreffer kann tödlich sein Gespräch mit dem Nuklearmediziner Prof. i.R. Dr. Horst Kuni über die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und die Bedeutung niedriger Strahlendosen Die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986 liegen, wie Horst Kuni im Gespräch mit Andreas Becker zeigt, nicht nur im Bereich hoher Dosen. Bereits niedrigste Strahlendosen reichen aus, um schwere gesundheitliche Schädigungen auszulösen. Kuni arbeitete von 1965 bis 2003 in der Abteilung klinische Nuklearmedizin im Medizinischen Zentrum für Radiologie der PhilippsUniversität Marburg. Neben methodischen Entwicklungen in der Nuklearmedizin liegt ein besonderer Schwerpunkt seiner Arbeit auf dem Gebiet des Strahlenschutzes. Herr Prof. Kuni, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist jetzt 14 Jahre her. Hat man eine Vorstellung davon, welche gesundheitlichen Folgen sie gezeitigt hat? Viele Folgen können wir nur aufgrund unserer Erfahrungen mit anderen strahlenbelasteten Kollektiven, insbesondere den Atombombenopfern von Hiroshima und Nagasaki, vorausahnen. Auch an den Atombombenopfern hat man viele Nachwirkungen erst nach vielen Jahrzehnten gesehen. Und das steht den Opfern von Tschernobyl erst noch bevor. Können Sie genauer sagen, was die Auswirkungen dieser Atombomben sind? Was heute relativ gut erforscht ist, ist die Erhöhung der Krebshäufigkeit auch durch niedrigste Dosen radioaktiver Strahlung. Aber dennoch hat uns die bisherige Beobachtung nach Tschernobyl schon erhebliche zusätzliche Lehren gebracht, insbesondere im Niedrigdosisbereich. Wirkungen, die bisher bestritten worden sind und die wir heute statistisch signifikant und wissenschaftlich hart nachprüfen können, weil eine so unglaublich große Zahl von Menschen durch die weit reichenden radioaktiven Wolken betroffen war. Was versteht man unter ›Niedrigdosen‹? Als niedrige Dosen werden diejenigen bezeichnet, die nur eine relativ geringfügige Erhöhung der Werte gegenüber der natürlichen Strahlungsbelastung gebracht haben. Sie werden häufig herangezo255

2005-09-20 17-11-02 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

gen, um niedrige Strahlendosen zu bagatellisieren, zum Beispiel in der Umgebung von Atomanlagen. Und was waren die Folgen des Tschernobylunfalls? Durch eine Zusammenführung der Geburtenstatistiken in der ehemaligen DDR und der westdeutschen Bundesländer, die auf einem vergleichbar guten medizinischen Standard geführt wurden – schon vor Tschernobyl und auch danach, konnte man zeigen, dass es zu einer signifikanten Steigerung der Säuglingsfrühsterblichkeit gekommen ist – und zwar korreliert mit der Strahlenbelastung aus Tschernobyl. Hat man ein solches Ergebnis also nicht erwartet? Dieses Ergebnis war nicht nur nicht erwartet worden, sondern auch noch heute gibt es zahlreiche Vertreter des herkömmlichen Strahlenschutzes, die die Augen verschließen und sagen: Was nicht sein darf, kann nicht sein, das kann unmöglich mit Tschernobyl zusammenhängen. Aber es ist ganz auffällig: Es handelt sich um eine zweimalige Erhöhung der Säuglingssterblichkeit, die dann zu verzeichnen war, wenn radioaktives Cäsium vermehrt in die Muttermilch gekommen war. Und zwar einmal direkt über die Verseuchung der Kuhweiden im Frühsommer nach der Reaktorkatastrophe 1986. Und dann im folgenden Winter, als das gehortete Heu verfüttert worden war, gab es noch einmal einen zweiten Anstieg der Radiocäsiumwerte in der Milch und der Muttermilch, auch gefolgt von einer signifikanten Steigerung der Säuglingssterblichkeit. Die Gefahr lag also nicht in der Strahlung, wie sie auch von der Wolke ausging oder von den Elementen, sondern darin, dass diese in die Nahrungskette gelangten und dort in den Körper aufgenommen wurden? Sehr richtig. Wir wissen vieles nicht. Wir können es nur ahnen, welche Wirkungen solche niedrigen Dosen von radioaktiven Elementen haben, die in alle lebenden Zellen hinein gelangen. Dieses Radiocäsium verhält sich wie Kalium. Und dies ist ein Element, das jede lebende Zelle braucht. Und was das im heranwachsenden Organismus, beim heranwachsenden Kind anrichtet, konnte man gar nicht richtig ahnen. Wir müssen annehmen, dass bei den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki die Kinder, an denen wir das hätten sehen können, aufgrund ihrer Strahlenempfindlichkeit einfach verstorben waren, dass sie nach vielen Jahren, nachdem die Beobachtungen begannen, gar nicht mehr da waren. Und damals, um 1945 herum, waren die Register noch nicht so gut ausgebaut, dass 256

2005-09-20 17-11-03 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

man solche Effekte hätte nachweisen können. Das ist klar, einen medizinischen Effekt kann man nur nachweisen, wenn die entsprechenden Register vorhanden sind, mit denen man die Wirkung messen kann. Und wenn jetzt ein Arzt ein totes Kind sehen würde, ein Individuum, könnte er dann Rückschlüsse ziehen auf die Todesursache? In keiner Weise. Das ist ja nur ein statistisches Phänomen. Wir wissen im Einzelnen auch gar nicht, woran die Kinder gestorben sind, sondern wir wissen nur, es sind Kinder vermehrt gestorben. Das ist strahlenbiologisch durchaus erklärbar. Es können in einem frühen Entwicklungsstadium, im Stadium des heranwachsenden Kindes im Mutterleib, einzelne Strahlentreffer lebenswichtige Zellen, aus denen sich später noch ganze Organe entwickeln, geschädigt worden sein. Und das führt dazu, dass eventuell die Schwangerschaft gar nicht ausgetragen werden kann, dass es eine Todgeburt gibt oder dass es so schwer geschädigt ist, dass es in den ersten Wochen stirbt. So etwas muss offenkundig stattgefunden haben. Und dazu reichen sicher niedrige Dosen. Die Zellen differenzieren sich vor allem beim Kind ja noch aus? Es ist so: Bei den Schäden durch niedrige Strahlendosen kommt es durch einen einzigen Strahlentreffer zu einem Eingriff im genetischen Material der Zelle. Und wenn das nur eine Zelle betrifft, ist das unerheblich. Der Körper verfügt über so viele Zellen, dass er das gar nicht merkt. Aber wenn aus dieser geschädigten Zelle viele andere Tochterzellen hervorgehen, zum Beispiel weil es sich um ein frühes Stadium eines differenzierenden Lebewesens handelt, dann werden alle Tochterzellen dieser einzelnen Zelle mitgeschädigt. Sie tragen dann auch diese genetische Schädigung. Und je nachdem, was diese genetische Schädigung im Code bedeutet, kann das dann zu einer Funktionsschädigung eines ganzen Organs führen. Es gibt, wenn man so will, eine Geschichte der Zellen. Diese reichen ihre Informationen an die nächsten Zellen weiter, wenn sie sich teilen. Sehr richtig. Jede Zelle enthält den Bau- und Lebensplan für sich, und natürlich in der Potenz für alle denkbaren Körperzellen. Wenn eine Schädigung an einer Schlüsselstelle, die für die konkrete Zelle wichtig ist, erfolgt, dann kann es dazu führen, dass diese Zelle sich noch weiter teilt und dies an ihre Tochterzellen weitergibt. Dann erben alle Tochterzellen diesen Schaden. Bisher hat das wesentlich nachweisbar nur bei der Tumorzelle eine Rolle gespielt. Da 257

2005-09-20 17-11-04 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

ist der Mechanismus jener, dass es zu einer Schädigung der Zellinformation kommt, die zusätzlich dazu führt, dass diese Zelle die Kontrolle über die Zellteilung verliert, und sich unbeschränkt weitervermehrt und dadurch ein Tumor heranwächst mit lauter Zellen, die diese unglückliche Eigenschaft des bösartigen Wachstum geerbt haben und dann eben eine bösartige Geschwulst entsteht. Aber bisher ist immer vernachlässigt worden, dass dieser Mechanismus sich grundsätzlich auch im gutartigen Bereich abspielen kann und immer dann von Bedeutung für ein Lebewesen ist, wenn es Zellen trifft, aus denen weitere Zellen hervorgehen, wie es eben auch beim heranwachsenden Lebewesen der Fall ist. Können Sie noch einmal anhand der Daten von Hiroshima und Nagasaki erörtern, wie man sich das vorzustellen hat? Die Daten wurden gesammelt, und man hat die Bevölkerung erfasst, die von der Strahlung betroffen war. Die Bedeutung dieser Daten liegt darin, dass man damals – wenn auch mit einer Verspätung von fünf bis sieben Jahren – mit einem unglaublichen Aufwand Tumor- und Krankheitsregister aufgebaut und die Bevölkerung beider Städte mit einem relativ hohen gesundheitlichen Standard weiterverfolgt hat und dadurch die Gesundheitsschäden überhaupt erst feststellen konnte. Außerdem hat man mit einem unglaublich hohen Aufwand, der eigentlich bis heute nicht vollkommen abgeschlossen ist, die Dosen, die die einzelnen Menschen erreicht haben, rekonstruiert. Nur mit einem solch großen Aufwand – und da steckten weitgehend militärische Interessen dahinter, mit zivilen Geldern wäre ein solcher Aufwand gar nicht realisierbar gewesen – ist es dann möglich, eine Verknüpfung von Dosen und Wirkungen herzustellen. Und das ist eines der großen Probleme: Viele Bevölkerungsteile, die von den Auswirkungen Tschernobyls betroffen sind, leben in Bereichen, bei denen wir keinen so hohen medizinischen Versorgungsstandard haben, dass wir die Wirkungen dieser Strahlen richtig messen können. Zum Beispiel besitzen wir in Deutschland, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute noch keine Krebsregister, die diese Jahre um 1986 erfassen. Da gibt es nur rudimentäre Register, mit denen einzelne Erkrankungen oder einzelne Bundesländer gemessen werden können. Und das sind einfach zu kleine Zahlen, um im Niedrigdosisbereich Wirkungen nachweisen zu können. Eine wesentliche Ausnahme habe ich schon genannt. Das waren die Geburtenregister und die Erkennung der Frühsterblichkeit. Das hat uns diese erschütternde Erkenntnis gebracht, dass schon im Niedrigdosisbereich einzelne 258

2005-09-20 17-11-04 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Schäden auftreten können, die erfreulicherweise selten sind. Aber für das betroffene Individuum ist das natürlich hundert Prozent, das darf man nicht vergessen. Hinter jeder Statistik – auch wenn es nur sehr wenige Opfer sind – stehen einzelne Menschen, für deren Eltern es auch ein absoluter Schicksalsschlag ist. In dieser Region sind die Wirkungen der Strahlung verheerend gewesen. Hat man das eigentlich so erwartet? Es fällt natürlich vielen leicht, diese Wirkung zu bagatellisieren. Weil in diesen Gebieten die Versorgung auf einem schlechten Standard sind und viele krankhaften Veränderungen gar nicht gemessen werden können. Ich will mich gar nicht auf ein hohes Ross schwingen, ich habe ja darauf hingewiesen, dass wir erst jetzt in der Bundesrepublik Deutschland dabei sind, Krebsregister in allen Bundesländern aufzubauen. Also da sind wir auch Entwicklungsland, da dürfen wir gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Aber es ist so, wenn ich kein Krebsregister habe, kann ich Veränderungen in der Krebshäufigkeit gar nicht messen. Wie soll ich das machen? Oder wenn ich ein Krebsregister habe, aber einen schlechten gesundheitlichen Versorgungsstandard mit einer schlechten Meldedisziplin und einer geringen Erkennungsrate von bestimmten Erkrankungen, dann nützt mir das beste Register nichts. Es sei denn, die Effekte sind so ausgeprägt, dass es offenkundig ist. Und da haben wir leider Gottes auch Effekte, zum Beispiel den Schilddrüsenkrebs bei Kindern, da haben wir bisher nur Erkenntnisse gehabt von der geringen Zahl der Eingeborenen des Bikini-Atolls, die damals verspätet evakuiert worden sind, als man dort die Wasserstoffatombombentests machte. Diese Kinder hatten erhöhte Dosen radioaktiven Jods abbekommen und dadurch eine erhöhte Schilddrüsenstrahlenbelastung. Und da hat man zum Teil die Erhöhung der Häufigkeit des Schilddrüsenkrebses erst im Erwachsenenalter sehen können, nach 30 bis 40 Jahren. Und bei den Kindern aus den niedrig belasteten Atollen, die man ursprünglich als so genannte Kontrollkollektive ›beschlagnahmt‹ hatte – das waren militärische Maßnahmen, die spätestens nach heutigen Standards gegen die Menschenwürde verstoßen –, auch da hat sich herausgestellt, dass sich auch bei niedrigen Dosen vermehrt Schilddrüsenkrebs und auch gutartige Schilddrüsenknoten entwickelt haben. Und es hat dann alle überrascht, dass schon nach wenigen Jahren in Weißrussland die Häufigkeit von kindlichem Schilddrüsenkrebs schließlich um das etwa Hundertfache angewachsen ist. Das war ein dramatischer Anstieg. Vorher war Schilddrüsenkrebs bei Kindern bis zu 14 Jahren ganz 259

2005-09-20 17-11-04 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

selten, in ganz Weißrussland waren pro Jahr vielleicht null bis zwei Fälle pro Jahr, also im Durchschnitt ein Fall, registriert worden. Und jetzt betrug deren Zahl dann das Hundertfache. Das sind natürlich so massive Effekte, dass man kein Krebsregister mehr braucht. Erfreulicherweise ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern eine sehr, sehr seltene Erkrankung. Und wenn das dann so vermehrt auftritt, kann man das nicht mehr wegdiskutieren. (Das Gespräch wurde am 21. März 2000 geführt. Transkription: Christian Tedjasukmana)

260

2005-09-20 17-11-05 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Reste. AudioCD. Die Wiederkehr des Datenmülls aus dem Geist von SimCity 100405v.06 I. Operation Datenlöschung Immer wenn für lange Zeit geschraubt, gefiltert, geschnitten und montiert wurde (der Computer ist eine Werkstatt, keine vollständige Fabrik), bleiben Schnipsel übrig, die niemand haben will. Stehen sie im virtuellen Speicher, dann landen sie nicht einmal im gnädigen Zwischenlager ENTFERNEN, sondern werden durch schlichtes Verschieben von Adressen ins Nichts gestoßen, ins Chaos der verfügbaren Speicherwerte. Sie sind des Speicherns nicht für wert befunden. PAPIERKORB LEEREN => LÖSCHEN VON MEHREREN DATEIEN BESTÄT... X. SOLLEN DIESE 51 ELEMENTE WIRKLICH GELÖSCHT WERDEN? JA => Es ist ge-resampelt worden. Jeden Tag wird irgend etwas von mir geresämpelt. Alle sämpeln den ganzen lieben langen Tag nur vor sich hin. Radio riesämpeln. Aus dem CD Player riesämpeln. Ständig wird Überschuss produziert. Mehr als man verwerten kann. Irgendwann kommt dann der Moment, wo die Festplatte voll ist und man sich entscheiden muss, den Papierkorb endgültig zu leeren. Datentod. Überlastung. »Lache nur nicht«, versetzte eine Stimme aus dem Zwischenlager ENTFERNEN; »es ist abscheulich, wie alles sich verändert und ein Ende nimmt! Sie nur, hier stand vor kurzem noch ein schönes Audioobjekt: wie eigen klang es! wie lebhaft ging es darin zu! und nun ist alles auf einmal verschwunden. Nur kurze Zeit werden die ungeschützten Speicherbereiche und die Datenstrukturen noch eine Spur zeigen; dann wird alles neu beschrieben sein, und die Gegenwart so vieler tausend Bits und Bytes der Samples auf diesem Computer werden nur noch in den Tiefen einiger flüchtiger Erinnerungen spuken.« »Still«, erwiderte der User, indem er einen Silbernen Datenspeicher von seinem Sockel aus dem durchsichtigen Turm nahm: »still!« GOETHE RIESÄMPELN. Große Dateien in kleine Dateien zerschneiden. Wiederholungen suchen und sie hübsch zurechtmachen. Die kleinen Datenschnipsel müssen dann aneinander geklebt werden, weil sie nur ganz minimal zeitversetzt laufen sollen, damit diese ruckartigen Bewegungen entstehen. Wenn die Montage nicht gelingt oder das Sample seine Ei261

2005-09-20 17-11-05 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

genart zu streng behauptet und sich deshalb nicht einbinden lassen will, wandert es per Tastendruck ENTFERNEN in den PAPIERKORB.

II. Operation Datenreduktion Zoom. Ortswechsel. Ein Zwischenreich der Festplattenregie, ein ungenügend geschützter Speicherbereich. Hash-Werte verschieben. Datengebäude zu Staub pulverisieren. Was geschieht beim ENTFERNEN? Die einzelnen Zellen einer Hashtabelle lassen sich als Behälter vorstellen. Im allgemeinen ist die Anzahl der möglichen Schlüssel weitaus höher als die verfügbaren Behälter. Es kommt daher schnell zu Kollisionen, d.h. verschiedene Schlüssel werden auf denselben Behälter abgebildet. Unter den Tisch fällt, was damit nicht findbar ist, es sei denn mit ›fuzzy search‹. Das offene Hashing löst dieses Problem ganz prinzipiell, nimmt aber Einbußen bei den Zugriffszeiten in Kauf. Das geschlossene Hashing ist hingegen auf explizite Strategien zur Kollisionsbehandlung angewiesen. Was sind die Kriterien für eine gute Hash-Funktion? Die wichtigsten VIER sind Datenreduktion, Zufälligkeit, Eindeutigkeit und Effizienz. Der Speicherbedarf des Hash-Wertes soll deutlich kleiner sein als der der Nachricht. (Datenreduktion) Ähnliche Quellelemente sollen zu völlig verschiedenen Hash-Werten führen. Im Idealfall verändert das Umkippen eines Bits in der Eingabe durchschnittlich die Hälfte aller Bits im resultierenden Hash-Wert. (Zufälligkeit) Die Funktion muss deterministisch von der Quellmenge auf die Zielmenge abbilden. Wiederholtes Berechnen des HashWertes desselben Quellelements muss also dasselbe Ergebnis liefern. (Eindeutigkeit) Die Funktion muss schnell berechenbar sein, ohne großen Speicherverbrauch auskommen und sollte die Quelldaten möglichst nur einmal lesen müssen. (Effizienz)

262

2005-09-20 17-11-06 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Beatles, Atem, Bass-Synthesizer, Virtual Instrument, Filterresonanzen, Bending. Carlos Santana ... »Ja, wir werden dieses herrliche, das ganze Weltall umfassende Sample re-integrieren! Wir werden die wilde, treppchenförmige Linie gerade biegen, sie zur Tangente, zur Asymptote machen. Denn das perfekte Sample ist die gerade Linie. Ich, Nr. D-503, der Konstrukteur des Sample, ich bin nur einer der vielen Digitalisierer des einzigen Samples. Meine an Zahlen gewöhnte Feder vermag keine Musik aus Assonanzen und Rhythmen zu schaffen. Kann die Zeit wie eine Lupe wirken? Wenn ich Santanas Schwingungen miteinander zu einem unendlichen Fluß verbinde, so dass sich ein Klang als Welle abzeichnet, so als stünde sie bewegungslos im Raum. Ich re-integriere die Reste. Zunächst entstehen bei der Rekonstruktion des Signals zahlreiche Amplitudendiskontinuitäten, die mit Wavelettransformation herausgefiltert werden. Doch durch Filterung geht ein Teil des Frequenzspektrums verloren, was den notorischen roboterhaften Klang ergibt. Konformismus. Konformismus. More. Konformismus. oh yeah. Botschaft. Neo-Boogiie. Neo-Boogiie. Neo-Boggiie stampft. Außerirdische. Jimi Hendrix. Banjo-Musik. Streicher wie anschwellende Zikadengesänge.« INSEKTENMUSIK setzt ein. Walzer. Trompeten, als würden Elefanten zum Angriff blasen. Der Auftakt nimmt kein Ende. Wo bleibt die Entwicklung? Warum baut kein Gedanke auf dem anderen auf? DARAN ERKENNT MAN RESTE. Dunkle Maschinenrhythmen. Der Stoffwechsel der Festplattentiere. Auch sie müssen ausscheiden. Ein Körper, der keine Öffnungen hat – ein unvorstellbarer Körper! Man kann nicht alles bei sich behalten. Reste sind Ausscheidungen. So stellen wir uns ein Ökosystem vor: Als immerwährendes Recycling. RÜCKSTANDSFREI. perpetuum mobile. Tonbandschleife sagt: »Ich bin die Stimme der Basis.« Unser Kopf ist unser privates Sendegebiet. Private Paradise. »Do you like landscapes? Do you like nature? Do you like landscapes and nature?« Wann war die Ölkrise? Was kostet mehr? Der Drucker oder die Tinte? Warum steht auf dem Datenspeicher kein Haltbarkeitsdatum? Nichts geht verloren. Eine immerwährende Verstopfung. Wir drehen uns im Kreise. Warum muss jedes System einen Rest produzieren? Lassen sich Erinnerungen speichern? Kann es Reste geben, die frei sind von Erinnerungen? 263

2005-09-20 17-11-06 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

III. Operation Datenrettung Papierkorb-Klänge sind wie Türen eines Raumschiffs. Sie können uns im Dunkeln entführen. Der Rest funktioniert schließlich als Spur von etwas Abgeschafftem oder Vergessenem und weist deshalb diese komplexe logische Struktur auf: Man muss das abwesende Datum reproduzieren, muss sich erinnern, vergessen zu haben – also erinnern und vergessen zugleich. Wir stoßen in Klänge hinein, wie in einen tiefen Schacht. Echotiefe. Tropfsteinhöhlen. Ein wiederkehrendes Hämmern. Die Echos überlagern sich. Die Reise nimmt ein Ende. Die Beatles tauchen auf. Einmal vorwärts, einmal rückwärts. Two-Step. Aus der Ferne nähert sich jemand. Ist es ein Mensch? Er bleibt auf Entfernung. Er ist uns nah, aber nicht so nah, dass wir ihn erkennen können. Seine Schritte umkreisen uns auf einer elliptischen Bahn. Er tritt auf uns zu, jedoch nur um sich im nächsten Moment wieder auf seiner Umlaufbahn zu entfernen. Am Ende verschwindet sein Schatten in die Lautlosigkeit. »Still,« erwiderte der User, indem er einen Silbernen Datenspeicher von seinem Sockel aus dem durchsichtigen Turm nahm: »still!« Maschinen sprechen. VIAVOICE IBM. Das Programm spricht meinen Text, wenn ich ihn mit der Maus markiere. Ich lasse den Computer »sexy« sagen. Er sagt: »6sieh, 6sieh, 6sieh.« Aber warum so diabolisch? Es gibt doch keine Datenhölle für die virtuellen Toten, oder? Ein schweres Atmen. »We will develop you. We will intergrate you!« Es ist wie ein immerwährender Testbetrieb. Es müssen immer mehr Versuchsergebnisse produziert werden, als für die eigentliche Aussage nötig sind. Der Sinn fängt nämlich nicht jedes Mal von Anfang an und stiftet seine Bezüge und seine Kriterien nicht stets von neuem. Der Sinn ist immer vor allem Wiederholung, aus der die Identität des jeweils betrachteten Inhalts entsteht. Das Versuchsergebnis verschlingt seine Vorgängergeneration. Die Quelle wird gelöscht, das Sample bleibt.

RESTE ist eine Rettungsboje auf dem Datenstyx. Hier verweilen diejenigen Samples, die das sterben schon hinter sich haben. Alle kennen den PAPIERKORB von Innen. 264

2005-09-20 17-11-07 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

St. Johnns Shopping-Center is about to close. Der Start in den Weltraum. KRAFTWERK. ART OF NOISE. »Du ahnst noch nicht, was dich erwartet, mein Freund«, sagt die Synchronstimme von JOHN WAYNE. SERGE GAINSBOURG und JANE BIRKIN schauen sich flüchtig an. Ein Kopfhöreradapter auf einer Glasplatte, versehen mit einem Rotoren-Echo, trägt die Nummer 54. More of more. Hm, that´s nice. Die Klospülung drücken und das Geräusch abfließenden und aufsprudelnden Wassers, das sich in die Kanalisation stürzt, mit dem Mikrofon aufnehmen. Das ganze anderthalb Oktaven tiefer abspielen. Ein SAMPLER ist eine feine Sache. »Ich komme sofort, wo sie auch sind, ich komme sofort hin. Haben sie sie gesehen, meine kleine Luciel? Meine kleine Luciel, meine kleine Luciel!« Drei Fragezeichen. Ein eingespielter analoger Bass. Ein Papagei am Telefon. Es endet mit einer Stimme. 51:46min. 61 Dateien. Sampling und Programmierung: Serjoscha Wiemer. PAPIERKORB ÖFFNEN => PAPIERKORBAUFGABEN: ELEMENT WIEDERHERSTELLEN =>

Quellmenge Becker, Andreas; Reither, Saskia; Spies, Christian (Hg.) (2005): Reste. Umgang mit einem Randphänomen, Bielefeld: transcript-Verlag.

Eshun, Kodwo (1999): Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin: ID-Verlag.

Goethe, Johann Wolfgang (1980): Wilhelm Meisters Lehrjahre. Mit sechs Kupferstichen von Catel, sieben Musikbeispielen und Anmerkungen/Erich Schmidt (Hg.), Frankfurt/Main: Insel. Goetz, Rainald (1999): Abfall für Alle. Roman eines Jahres, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Neumeister, Andreas (2002): Angela Davis löscht ihre Website. Listen, Refrains, Abbildungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 265

2005-09-20 17-11-09 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

Samjatin, Jewgenij (1984): Wir, Köln: Kiepenheuer und Witsch. Schmidt, Arno (1988): »Kühe in Halbtrauer«. In: Ders.: Schwänze. Fünf Erzählungen, Frankfurt/Main: Fischer, S. 7-26.

Wikipedia-Enzyklopädie, http://de.wikipedia.org

266

2005-09-20 17-11-11 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Den widerspenstigen Stand unter Kontrolle bringen Gespräch mit Dr. Peter Decker über das »Ende des Proletariats« Dr. Peter Decker hat über Adorno promoviert und lebt in Nürnberg. Er arbeitet unter anderem als Redakteur der Zeitschrift GegenStandpunkt und kritisiert die Wirtschaftsform des Kapitalismus mit marxistischem Vokabular. Roman Wortreich sprach mit ihm über sein Buch: ›Das Proletariat. Die große Karriere der lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende‹, zusammen mit Konrad Hecker, erschienen im GegenStandpunkt-Verlag 2002. Gibt es das Proletariat noch? Allerdings gibt es das noch; rein ökonomisch betrachtet hat sich an der Stellung der sogenannten »abhängig Beschäftigten« seit der Zeit des Manchester-Kapitalismus überhaupt nichts geändert. Geändert hat sich nur eines: Die einst verbreitete und dazu organisierte Kritik an der Lohnarbeit ist ausgestorben; den Kampf der Proletarier gegen die Rolle, die ihnen dieses Wirtschaftssystem zuweist, und gegen die Sorte Leben, die damit verbunden ist, gibt es nicht mehr. Die Rolle aber ist geblieben – ihre Wirkungen werden eher schlimmer als harmloser. Der einstige, längst aufgegebene ›Kampf gegen das Lohnsystem‹ hat einen guten, immer noch existierenden Grund. Der Lohn, den die Lohnarbeiter als Entgelt für ihre Arbeit bekommen ist und bleibt die negative Größe der Wirtschaft. Es ist nicht der Zweck der Unternehmen, den Lohn zu erwirtschaften. Der Lohn ist ein Kostenfaktor. Und dieser Kostenfaktor verringert in dem Maß, in dem er kostet, den Betriebserfolg. Der Standpunkt des Betriebserfolgs verlangt es heute wie früher, die Leute, die die Arbeit machen, möglichst gering zu entlohnen und dabei möglichst lange und ausgiebig auszunutzen. Deshalb hat es seinerzeit in Manchester und gibt es heute in China, den USA und immer mehr auch im sozialen Europa sogenannte »Working Poor«, Proletarier, die sich nicht ernähren, sich trotz Arbeit nicht über Wasser halten können. Die Löhne, die gezahlt wurden und die heute den Working Poor gezahlt werden, reichen nicht, um einen noch so bescheidenen Lebensunterhalt zu bezahlen; dabei waren und sind deren Arbeitzeiten so lange, dass sie in wenigen Jahren vernutzt und kaputt sind. Das alles hat seinen Grund darin, dass der Lohn nicht für den Lebensunterhalt des Arbeiters bezahlt wird. Der braucht Lohn, um davon zu leben, nur deswegen braucht er überhaupt Arbeit, nur deswegen ist er bereit, Arbeit 267

2005-09-20 17-11-12 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

für andere zu verrichten. Aber bezahlt wird der Lohn nach einem völlig anderen Kriterium als danach, ob der Mensch davon leben kann. Bezahlt wir er nach dem Gesichtspunkt, ob und wie viel Arbeit ein Unternehmer gerade gebrauchen und zu welchem möglichst niedrigen Preis er die Arbeit einkaufen kann. Nimmt das Bedürfnis des Unternehmens nach Arbeit ab, entfällt der Lebensunterhalt, nimmt es zu, entfällt die Freizeit. Dann wird 40 Stunden und länger gearbeitet. Was für die Extremfälle der Armut galt und gilt, und was im Wort von den Working Poor ja auch allgemein anerkannt ist, gilt prinzipiell auch für die Lohnabhängigen, deren Entlohnung über dem Minimalniveau liegt. Die Prinzipien der Beschäftigung und der Entlohnung bleiben die gleichen. Das Kriterium der Lohnzahlung, wie gesagt, ist rücksichtslos gegen den Lebensunterhalt dessen, der die Arbeit verrichtet. Und diese Rücksichtslosigkeit wirkt sich so aus, dass sich die arbeitende Klasse, rein ökonomisch gesehen, durch ihre Arbeit allein nicht reproduzieren kann. Aber der moderne Lohnabhängige steht doch anders da? Wie steht er denn da nach 100 Jahren politischer Emanzipation, nach seiner Verwandlung zum Bürger, nachdem ihm Rechte verliehen, Vertretungsorgane zuerkannt wurden und eine Sozialgesetzgebung entstand. Wie steht er jetzt eigentlich da? Der Proletarier, der außerhalb der Gesellschaft steht, verroht ist, sich als Feind der Besitzenden weiß, ja der ist verschwunden. Entstanden ist ein komplett verwalteter, gesetzlich definierter Stand, dessen Rechte und Pflichten durch staatliche Macht dahingehend geregelt sind, dass er als Instrument des nationalen Kapitalismus funktioniert und seine harte Rolle als Kostenfaktor Arbeit sowohl aushält wie ausfüllt. Das verrät zweierlei: Erstens zeugt die ganze Sonderbetreuung, die der Sozialstaat für den Arbeiterstand notwendig findet davon, dass es einige Nachhilfe und nicht wenig politischen Zwang gegenüber den Lohnbeziehern braucht, damit aus ihrem Lohn überhaupt ein Lebensmittel wird, von dem sie sich ein Leben lang irgendwie durchbringen können: Ihr Lohn wird vom Staat sozusagen zwangsverwaltet, nämlich zu einem Gutteil von öffentlichen Versicherungen eingezogen und in knapp bemessenen Rationen an diejenigen Mitglieder des besitzlosen Standes ausgezahlt, die in die unvermeidlichen Notlagen des kapitalistischen Arbeiterlebens geraten sind: Ohne Arbeitslosen-, Kranken- und Altersversicherung würden auch heute noch Proletarier auf der Straße verhungern. Zweitens zeugen diese humanen Vorkehrungen davon, 268

2005-09-20 17-11-14 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

dass diesem Stand nichts geschenkt, nichts unternommen wird, um seine Ausbeutung durchs Kapital zu korrigieren: Die Lohnarbeiter selber müssen die Versicherungen mit Teilen ihres Lohns bestücken, die in ihre Hand nur geraten, wenn sie sich als lohnende Lohnkosten in den Unternehmen schon bewährt haben – nicht profitbringende Arbeitskräfte stellt nämlich kein Unternehmer an, nicht lohnende Löhne zahlt er nicht. Die Einrichtungen des Sozialstaats organisieren für die Arbeiterklasse ein Überleben im Kapitalismus, indem sie ihr die Unkosten des zu dieser Klasse gehörenden Elends aufladen. Der Sozialstaat hatte nie etwas mit einer Überwindung der Übel des Kapitalismus zu tun: Er ermöglicht den Lohnarbeitern dauerhaft ihre Rolle als Instrument des Kapitalgewinns und legt ihr ganzes Leben auf die funktionale Bewältigung dieser Rolle fest. Der moderne Lohnabhängige ist ein verwalteter Mensch. Seine Lebensinteressen sind politisch geregelt und aufgeteilt in einerseits Träume, die man ja keinem verbietet – dafür ist Hollywood und das Lotto zuständig –, andererseits gesetzlich geschützte Ansprüche; die reichen immer gerade so weit wie Gesetzgebung und abgeschlossene Tarifverträge es vorsehen. Der Satz: »Der Lohnarbeiter ist eine unselbstständige Existenz. Er ist eine abhängige Größe vom Geschäftsgang«, gilt heute mehr denn je. So unselbstständig wie jetzt waren diese Menschen überhaupt noch nie. Alles, worum es ihnen geht, wird von denen verwaltet und geregelt, die an ihrer Funktion interessiert sind. Wenn einem »Mitarbeiter« heute etwas nicht passt, wird er auf den Instanzenweg verwiesen. Er bekommt gesagt: Für all deine Sorgen, sofern sie berechtigt sind, ist schon vorgesorgt. Reicht einem sein Lohn nicht, wird das automatisch übersetzt in: Vielleicht hat man dich ja in die falsche Lohngruppe einsortiert. Dann musst du dich an den Betriebsrat wenden; der rechnet das nach. Bist du wirklich falsch eingruppiert, kannst du mehr Lohn kriegen. Wenn nicht, tut uns das leid, dann hast du dich getäuscht. Oder: Du hast zu wenig Lohn? Bitte, gehe in eine Abendschule und verbessere das Angebot, das du deinem Unternehmer machen kannst. Oder suche dir einen zweiten Job am Abend. Oder meinst du tatsächlich, der Lohn überhaupt sei zu niedrig? In diesem Fall musst du dich an deine Gewerkschaft wenden. Die sagt dir einmal im Jahr, was die korrekte, verantwortliche Lohnfindung ist. Das ist das, was ich meine mit: rundherum verwaltet. Was hat dem Proletariat die Integration in die Gesellschaft gebracht? Wir erleben seit zehn Jahren ein interessantes Phänomen: Die 269

2005-09-20 17-11-15 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

Arbeiterklasse ist integriert. Die Arbeiterparteien verschwinden. Die SPD möchte keine Arbeiterpartei mehr sein. Sie möchte nicht einmal mehr die Partei der sozial Schwachen sein, sondern die Partei der neuen Mitte. Von unten droht dieser Gesellschaft kein Aufruhr, kein Widerstand, keine Opposition. Und was machen derweil die oben, die jetzt doch zufrieden sein könnten, dass das Proletariat funktioniert? Sie demontieren Zug um Zug die so genannten Errungenschaften und die Konzessionen, die dem rebellischen Stand gemacht worden sind, damit er brav, arbeitsam und bescheiden wird. Heute haben wir die Situation, dass man gesagt bekommt, die Rente sei nicht mehr finanzierbar. Die Krankenversorgung, wie bisher gekannt, sei nicht mehr finanzierbar. Die Arbeitslosenkasse ebenso. Nachdem die Produktivität der Arbeit seit 1950 vielleicht um das 100fache gestiegen ist, nachdem viel weniger Leute viel mehr materiellen Reichtum erwirtschaften, nachdem es materiell, gebrauchswertmäßig von allem viel mehr gibt, soll heute nicht mehr finanzierbar sein, was damals ging. Da merkt man eines: Die ganzen Konzessionen waren nur funktional berechnet. Sie waren eben nicht als Beteiligung, als Korrektur des Kapitalismus gedacht, sondern wirklich nur zu seiner Perfektionierung, damit man den widerspenstigen Stand unter Kontrolle bringt. Hat man ihn unter Kontrolle, erweist sich manches als überflüssig, was man gestern nötig befand.

270

2005-09-20 17-11-17 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Was passiert mit unseren Resten? Manfred Gebhard vom BUND Hessen über das Thema Abfallwirtschaft Was passiert mit dem Überschüssigen, Überflüssigen, das wir Tag für Tag wegwerfen? Und welche Bedeutung hat das für unsere Umwelt? In diesem kritischen Interview beantwortet Manfred Gebhard, als ein Mitglied des Arbeitskreises »Abfallwirtschaft und Stoffkreisläufe« des BUND Hessen, Fragen rund um das Thema Abfallwirtschaft. Das Interview führte Helen Seyd. Was passiert mit dem Müll, wenn er Zuhause abgeholt wird und in das Müllauto verfrachtet wird, wo kommt der Müll dann hin? Ja, im Gegensatz zu früher, wo der Müll direkt zur Deponie gefahren wurde, ist heutzutage eine Vorbehandlung erforderlich, die darauf abzielt, den Müll zu inertisieren, wie man sagt. Das ist notwendig, damit sich keine chemischen Reaktionen innerhalb des Mülls mehr abspielen und um ihn zu entgiften. Dazu gibt es verschiedene Verfahren. Eines, das sehr weitverbreitet ist, ist die Müllverbrennung. Ein anderes wäre zum Beispiel die biologischmechanische Abfallbehandlung. Ich würde gerne noch auf die Alternative zur Müllverbrennung eingehen, auf die mechanisch-biologische Vorbehandlung des Mülls. Ich kann mir das schlecht vorstellen. Wird da einfach alles zusammengeschmissen, oder wie wird der Müll da behandelt? Beide genannten Verfahren dienen nur zur Behandlung des Restmülls, der sich allerdings ähnlich zusammensetzt wie der Gesamtmüll, bevor Wert- und Störstoffe entfernt wurden. Der mechanische Teil besteht darin, z.B. Kunststoffe oder auch Metalle, Eisenmetalle, Nicht-Eisen-Metalle zu entfernen. Der biologische Teil des Verfahrens besteht entweder in einer Art Gesamtmüllkompostierung oder auch einer Vergärung. Der mechanische Teil dieser Abfallvorbehandlung sollte ja eigentlich schon im Haushalt passiert sein. Wenn man davon ausgeht, dass alle Leute Müll trennen, dass dann tatsächlich nur noch der Restmüll ankommt und Papier, Glas und Plastik vorher getrennt worden sind. Das ist im Prinzip richtig, allerdings kann man sich auf die Trennschärfe im Haushalt nicht verlassen. Es wird immer zu Fehlwürfen von Wertstoffen kommen, weil auch Kleinteile, wie Kronkorken oder Ringpullverschlüsse, im Restmüll landen. Auch müssen 271

2005-09-20 17-11-19 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

Störstoffe, das heißt schadstoffhaltige Fraktionen, wie zum Beispiel Batterien, Knopfzellen, abgetrennt werden. Man kann an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Mülltrennung sehr sinnvoll ist, vor allem für die Müllverbrennung und für den Umgang mit Müll. Die meisten Leute gehen doch davon aus, dass es irgendwie egal ist, weil am Ende der Abfall sowieso wieder zusammengekippt wird. Das ist offensichtlich ein Irrtum, dem die meisten Leute aufsitzen? Ja, das ist eine Argumentation von Leuten, die trotz allem gewohnt sind, Mülltrennung nur dort durchzuführen, wo es sich für sie rentiert. Die also ihre Mehrwegflaschen und ihre Aludosen sehr schön auseinanderhalten können und auch die bepfandeten Mehrwegflaschen nicht mit in den Restmüll schmeißen. An der Stelle, wo die Wertstofffraktion wirklich einen Wert darstellt, wie beim Papierrecycling, beim Metallrecycling, wird niemand auf die Idee kommen, das nachher wieder dem Gesamtmüll zuzuführen. Welche Probleme entstehen durch den Müll, durch die Müllverbrennungsanlagen und durch die Mülldeponien für die Umwelt? Das erste Problem, das mit dem Müll zusammenhängt, ist der Boden. Man kann eine Mülldeponie nicht einfach in eine Ackerbaufläche überführen, da einerseits z.B. durch die Methanentwicklung der Pflanzenwuchs sehr stark eingeschränkt ist, andererseits die Gefahr besteht, dass die darauf produzierten Nahrungsmittel durch die Schadstoffe, die sich im Müll befinden, belastet werden. Das nächste Problem liegt im Wasser. Es können aus der Deponie Schadstoffe ausgewaschen werden, die sich danach im Trinkwasser wiederfinden. Und wenn wir versuchen, diese Probleme durch Müllverbrennung zu beheben, so verlagern wir sie lediglich in die Luft, über die die Schadstoffe sich dann auf die Äcker verteilen. Andrerseits können sich auch neue Schadstoffe, wie zum Beispiel die sauren Gase, bilden, die dann zum sauren Regen beitragen. Wie kann man diese Probleme vermeiden oder möglichst gering halten? Vermeiden kann man diese Probleme zunächst dadurch, dass man den Müll vermeidet. Wenn er dann doch noch anfällt, müssen technische Maßnahmen greifen. Bei der Deponie besteht die Möglichkeit einer Basisabdichtung und Einkapselung, bei der Müllverbrennungsanlage gibt es die entsprechenden Techniken für die Reinigung der Abgase. Zwischen den an der Deponie angewandten 272

2005-09-20 17-11-21 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Techniken und der grundsätzlichen Vermeidung von Müll steht selbstverständlich noch die Mülltrennung. Große Fraktionen des Mülls kann ich von der Deponie oder Behandlungsanlage fernhalten durch die Biotonne oder durch Eigenkompostierung, durch Einsammlung von Wertstoffen, wie Papier, Glas, Metallen und durch Verwendung der Systeme des Dualen Systems Deutschland für die Verpackungsabfälle. Welche Konzepte oder welche Verbesserungsvorschläge kommen von der Umweltschutzseite für die Müllverwertung und welche Vorschläge kommen speziell vom BUND? Der BUND setzt an dieser Stelle etwas früher an. Ich bin vom Arbeitskreis Abfallwirtschaft und die Stoffkreisläufe fangen bei der Produktion an und hier muss mehr darauf geachtet werden, dass langfristig nutzbare Produkte produziert werden, damit die Stoffkreisläufe insgesamt von Schadstoffen entfrachtet werden. Dies ist zum Beispiel bei Batterien zum großen Teil schon geschehen. Auch bei dem Produktdesign kann auf größere Recyclierbarkeit geachtet werden. Das heißt also, dass man auf schwer zu recyclende Verbundmaterialien verzichten und praktisch nicht verwertbare Stoffe, wie z.B. PVC, nicht mehr einsetzen sollte. Stattdessen sollte man in den verschiedenen Bereichen auf alternative Materialien zurückgreifen.

273

2005-09-20 17-11-23 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

Ein Park für Lebende – und Tote Gespräch mit Dirk Bührmann über den Hauptfriedhof der Stadt Frankfurt/Main Der Hauptfriedhof der Stadt Frankfurt am Main ist nicht nur eine Trauerstätte, sondern mit seinen zirka 70 Hektar zugleich einer der größten Parks der Stadt. Stilistisch angelehnt an die Architektur eines englischen Landschaftsparks wurde der Garten 1828 vom Stadtgärtner Sebastian Rinz gegründet. Mäandrisch sich windende Wege, umsäumt von Grün, laden zum Spaziergang ein. Grabstätten berühmter Persönlichkeiten finden sich hier: Ricarda Huch, Arthur Schopenhauer, Alois Alzheimer und Theodor W. Adorno sind hier beigesetzt. Dirk Bührmann (Dipl.-Ing. TU Landschaftsplanung) ist im Frankfurter Grünflächenamt zuständig für Betrieb, Grünpflege, Denkmalschutz und die Öffentlichkeitsarbeit der Friedhöfe. Mit Andreas Becker sprach er über die Bestattungskultur und die Geschichte dieses Ortes. Warum betreibt man eigentlich den Aufwand, einen Grabstein anzulegen? Er ist doch sehr schwer zu transportieren, auch seine Bearbeitung ist sehr aufwendig. Warum macht man das eigentlich? Man könnte doch auch einfach ein kleines Kreuz aufstellen. Man kann das machen. Nur, sehr viele Leute achten darauf, was die Familie, was die Nachbarn und Angehörigen und was die Leute sagen, deren Angehörige auch in dem Grabfeld beerdigt sind. Die Menschen sind sehr eitel. Und wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Leute sich ein Beispiel daran nehmen, was die Nachbarn machen und haben. Und so wie jemand in einer Villengegend gewohnt hat, so möchte diese Person auch im Tode in einer sogenannten Villengegend leben. Man muss dazu wissen, dass wir auf dem Friedhof einfache Lagen und teurere haben. Das spiegelt sich hier auf dem Friedhof wider. Man kann selbstverständlich auch ein kleines Holzkreuz aufstellen. Das schreibt keiner vor. Und das verbietet auch keiner. Hat der Grabstein eigentlich auch noch eine Funktion? Sie sagten, der Name ist eingemeißelt. Aber warum ist er zum Beispiel so schwer? Wie kam es zu dieser Idee, dass ein Grabstein so schwer sein muss? Man kann sich auch vorstellen, dass man ein Grab prunkvoll macht, ohne dass es aus Stein gehauen ist und es so aufwendig ist. 274

2005-09-20 17-11-25 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Ein Grabstein soll ein Denkmal sein. Und ein Denkmal soll haltbar sein, soll überdauern und mindestens zwanzig Jahre halten. Das ist nämlich die Ruhefrist des Verstorbenen. Die Ruhefrist in Frankfurt bedeutet, dass der Verstorbene zwanzig Jahre im Boden bleibt, damit die Verwesung vollendet werden kann. Familiengrabstätten sollen praktisch ewig halten, sie sollen hundert Jahre halten, und das geht nur mit ausdauernden Materialien. Das geht nicht mit Kunststoff oder Beton, sondern man nimmt dann Naturstein oder Metall, es gibt auch gegossene aus Bronze oder Metallgrabsteine oder welche aus solidem Holz, Holzgrabsteine. Aber Stein hält am längsten. Und er hat auch eine Symbolkraft. Ein Denkmal ist symbolisch, man macht es nicht aus Plastik. Sie hatten schon erwähnt, dass es verschiedene Stile von Grabsteinen gibt. Also Jugendstil, sogar Expressionismus. Können Sie einmal beschreiben, wie denn ein Jugendstilgrab aussieht? Jugendstilgräber fallen vor allem auf, weil sie sehr viele Blumenmotive haben. Diese sehen oft aus wie Schmetterlinge. Oftmals werden sie von Glockenblumen verziert, auch von der Form her, sehr ›floral‹. Und ein expressionistisches Grab? Na ja, die sind sehr zackig. Haben also sehr viele Spitzen und Zacken. Die sind eben aus den zwanziger Jahren. Und dann gibt es noch klassizistische Gräber. Das sind die Tempel, mit einem Dach und Säulen. Das sind die typischen Tempel, so wie griechische Tempel aussehen. Was gehört nun alles zu einem Grab dazu? Da ist der Grabstein, da gibt es oftmals noch diese Art von Umrandung, die vor dem Grab liegt. Wie heißt das? Das sind die Einfassungen. Die sind auch erst seit einigen Jahren in Frankfurt erlaubt. Das sind Steineinfassungen. Viele Leute wollen eine Umrandung haben. Vielleicht ist es eine typisch deutsche Eigenschaft oder Angewohnheit, dass man seinen Jägerzaun haben will. Und so will man auch um sein Grab so eine Umgrenzung haben. Das hat allerdings auch Tradition. Vor hundert Jahren gab es auf dem Friedhof überall Schmiedeeisen mit kleinen Gittern. Das ist eben wieder in Mode gekommen. Und dazu gehört dann noch ein Grabbeet, also eine Bepflanzung. Das ist auch eine typische deutsche Eigenart. Wenn Sie sich im Ausland Friedhöfe anschauen und 275

2005-09-20 17-11-26 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

die dann mit den deutschen vergleichen: Der Hauptunterschied ist eigentlich, dass in Deutschland die meisten Friedhöfe sehr grün sind, mit vielen Bäumen, Sträuchern, Wegbepflanzungen und Blumen, die auf den Gräbern sind. Wenn Sie nach Frankreich oder Italien gehen, dann sehen die Friedhöfe aus wie kleine Städte, also Nekropolen. In Deutschland sind es eher kleine Parks. Und wie sehen diese Nekropolen aus? Das sind richtig kleine Straßen: eine Stadt im Miniaturformat. Wenn Sie dann die antiken kleinen Tempelchen sehen, dann können Sie sich fast vorstellen, in Pompeji herumzulaufen. So ein Grab wird angelegt. Bevor der Sarg eingelegt wird, gibt es eine Art Schacht. Da gibt es wahrscheinlich auch bestimmte Normierungen. Da gibt es einmal die Tiefgräber, die 2,30 Meter eingegraben werden, und einen Meter darüber, wie bei einem Hochbett, kann noch ein zweiter Sarg gelegt werden. Dann gibt es die Normalgräber, die 1,70 Meter tief sind. Man macht einen Erdaushub mit dem Bagger – früher wurde alles per Handarbeit ausgehoben, heute gibt es kleine Gräberbagger. Dann gibt es noch Urnenbeisetzungen, da wird die Urne nur einen halben Meter tief in die Erde gegraben. Bei Urnenbeisetzungen wird der Leichnam verbrannt. Es gibt auch ein Krematorium hier? Ja, wir haben in Frankfurt auch ein großes Krematorium, es ist sogar das größte im ganzen Rhein-Main-Gebiet. Es sind vier Öfen. Das Krematorium hat auch eine ganz teure, aufwendige Filteranlage bekommen. Denn die Krematorien unterliegen jetzt auch dem Bundesemissionsschutzgesetz, es ist eine sehr aufwendige Geschichte, dass die Emissionen so gering wie möglich gehalten werden. Wie ist es, wenn ein Mensch verbrannt wird. Wie schwer ist die Asche? Sie kommt in eine Urne hinein. Wie kann man sich das vorstellen? Es ist eine ganz feine, hellgraue Asche, die passt in eine kleine Urnenkapsel hinein. Da ist auch ein Nummernstein dabei, ein Schamottstein, damit eindeutig ist, dass die Asche von diesem Verstorbenen ist. Duftet oder riecht die Asche auf eine besondere Weise? Wie ist die Farbigkeit? Ist sie ganz fein? Das ist ganz feiner Staub, der manchmal auch in der Luft liegt.

276

2005-09-20 17-11-27 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Er riecht eigentlich nicht. Man riecht höchstens den Ofen, nicht aber die Asche. Es gibt noch die Familiengräber, Gemeinschaftsgräber. Und es gibt einige Grüfte hier. Wir haben hier einmal noch die alten Grüfte der reichen Familien in Frankfurt. Sie werden heutzutage kaum noch benutzt, weil in diesen Grüften die Zinksärge nicht unterirdisch eingegraben werden, sondern in einer Art Kellerraum gelagert sind. Das ist aus der Mode gekommen, weil es auch sehr kostspielig ist. Wir haben aber auch moderne Grüfte, und zwar von den Sinti und Roma, die nicht mit Erde zugeschüttet werden wollen, sondern einen unterirdischen Hohlraum bevorzugen. Diese Menschen haben also jetzt Grüfte. Was gehört eigentlich zu einer Gruft dazu? Es ist ein Hohlraum, da steht ein Zinksarg. Dieser soll gerade nicht verwittern. Könnte man vielleicht sagen, dass es das gegenteilige Modell zur Erdbestattung ist? Da gibt es ja doch eine Verwesung, weil Sauerstoff eintritt und es zur Luftzirkulation kommt. Das ist einfach eine langsamere Verwesung. Sie hatten erwähnt, dass es, gerade als deutsche Angewohnheit, eine Schmückung des Grabes gibt: Es einzufrieden mit kleinen Zäunchen und Einfassungen. Zum Grab gehört aber noch mehr dazu, zum Beispiel diese Grablichter. Was haben die für eine Bedeutung? Das ist auch eine traditionelle Geschichte. Vor allem die Katholiken haben diese roten Lichtchen gerne. Das »ewige Licht« gibt es auch in der Kirche. Es ist ein Erinnerungslicht. Wenn man zu einem Grab geht, leistet man Trauerarbeit, man versucht, die Trauer zu bewältigen. Man macht unwillkürlich symbolische Gesten wie Blumengießen oder Lämpchen anzünden. Das sind Sachen, die man macht, ohne sich dessen bewusst zu werden. Auf manchen Gräbern sind Bilder der Verstorbenen. Das ist neu. Das war vor ein paar Jahren sogar noch verboten durch die Friedhofsordnung. Das kommt vor allem aus Süd- und Osteuropa. Immer mehr Bildchen auf Porzellan. Das ist aber auch eine Modeerscheinung. Das kommt und geht. Der Grabstein selber ist beschriftet. Dort steht der Name, das Geburtsund Todesdatum. War das schon immer so gewesen? Gibt es vielleicht

277

2005-09-20 17-11-28 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

ANDREAS BECKER, HELEN SEYD, SERJOSCHA WIEMER, ROMAN WORTREICH

Grabsteine, auf denen noch mehr darauf steht? Wie wird das ausgeführt? Ältere Grabsteine, hunderte Jahre alte, als der Stundenlohn eines Steinmetz’ noch sehr gering ausfiel, waren vollkommen beschriftet. Heute beschränkt sich das auf den Namen oder gerade einmal das Geburts- und Todesdatum, aus Kostengründen. Sie sagten, als die Arbeit eines Steinmetz’ etwas preiswerter war, als man diese Freiheit noch hatte. Was hat man noch darauf schreiben lassen auf den Stein? Vor allem die Verwandtschaftsverhältnisse, wie viele Kinder man hatte, welchen Beruf man ausübte, mit wem man verheiratet oder verwitwet war, welche Ruhmestaten man vollbracht hatte als Mann und wie viele Kinder man in die Welt gesetzt hatte als Frau. Also, das ist schon eine kleine Biografie. Ist es wie ein Buch? Kann man sich das so vorstellen? Ja, wie ein Familienstammbuch. Einige Gebäude stehen hier, sehr große, auch architektonisch interessante Gebäude. Können Sie mal ein solches Gebäude beschreiben? Wir haben hier das größte Mausoleum der Stadt Frankfurt am Main. Es ist das Reichenbach’sche Mausoleum. Es ist aus rotem Sandstein gebaut worden und sieht aus wie eine kleine Kirche, gebaut um 1870. Neogotisch ist es, glaube ich. Es hat im Erdgeschoss einen Trauerraum, es sieht aus wie um einen Altar. Dort sind große Särge rechts und links. Man kann auch in den Keller gehen, das ist eine richtige Gruft, wie ein Weinkeller. Das Gebäude ist sehr schön. Wie kann man durch den Friedhof dazu beitragen, dass die Trauerarbeit von den Angehörigen auch geleistet werden kann? Wir versuchen durch Erfahrungswerte, dem Friedhof einen parkähnlichen Charakter zu geben. Mit allem, was dazu gehört: Dass hier möglichst keine Autos fahren, keine Hunde unterwegs sind und Fahrradfahrer fahren, dass Ruhe ist, hohe Mauern vorhanden sind und man möglichst abgeschirmt ist. Das hat zur Folge, dass viele Vögel auf dem Friedhof sind – wegen der vielen Bäume. Dass es eine gewisse Naturnähe in der Großstadt gibt. Wir stellen auch Parkbänke auf, um diesen Eindruck des Parks und der Meditation hervorzurufen, dass man hier auch verweilen kann.

278

2005-09-20 17-11-29 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

DIE HÖRSTATION ›RESTE‹ UND DER AKUSTISCHE RAUM DES I.G. FARBEN-HAUSES

Das heißt, es ist ein sehr sanfter Übergang von Kultur in Natur. Gerade bei der Trauerarbeit ist es typisch, und es ist auch Tradition, dass die Natur zeigt, dass es ein Sterben gibt, aber auch ein Wiederaufblühen. Darum haben so viele Leute Blumen auf dem Grab. Gerade im Frühjahr kommen viele, um neue Blumen zu pflanzen, damit das Leben weitergeht. (Transkription: Christian Tedjasukmana, Foto: Andreas Becker)

279

2005-09-20 17-11-30 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 253-279) T04_15 b - becker.p 95224311470

2005-09-20 17-11-31 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 280

) vakat 280.p 95224311590

Anhang

2005-09-20 17-11-33 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 281

) T05_00 respekt 5.p 95224311766

2005-09-20 17-11-34 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 282

) vakat 282.p 95224311854

AUTORINNEN UND AUTOREN

Autorinnen und Autoren Andreas Becker, Postdoktorand im Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/Main. Publikationen: »Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung« (2004). Aufsätze zur Filmgeschichte, zum Verhältnis von Zeit und filmischer Wahrnehmung.

Vera Beyer, Kunsthistorikerin, Stipendiatin am Graduiertenkolleg »Repräsentation-Rhetorik-Wissen« an der Europa Universität Viadrina, Frankfurt/Oder; Promotion mit dem Titel »Rahmenbestimmungen. Zur Position Goyas in einer Geschichte der Rahmen« an der Universität Hamburg, Arbeitsschwerpunkte: Rahmen, Goya, zeitgenössische französische Kunsttheorie sowie persische Buchmalerei. Wolfgang Ernst, Professor für Medientheorien am Seminar für Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Zeit als kritischer Parameter elektronischer Medien. Publikationen: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung (2002); Sammeln – Speichern – Er/zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses (2003).

Elena Esposito, Professorin für Kommunikationssoziologie an der Universität Modena-Reggio Emilia (Italien). Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziologischen Medientheorie, Gedächtnisforschung, Beobachtungstheorie.

Susanne Hauser, Professorin für Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften an der Fakultät für Architektur der Technischen Universität Graz. Forschungsschwerpunkte u.a. Ästhetik der urbanisierten Landschaft, Identität und Ort, Materialgeschichten.

283

2005-09-20 17-11-37 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 283-286) T05_01 autoren.p 95224311862

RESTE. UMGANG MIT EINEM RANDPHÄNOMEN

Ulrich Krempel, Direktor des Sprengel Museum Hannover. Honorarprofessur an der Hochschule für Bildende Künste, Braunschweig. Professeur associé an der Université de Paris-Sorbonne, Paris IV, 2004/05. Thomas Küpper, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/Main, Publikationen u.a. Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm (2004). Anja Lemke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der J.W. GoetheUniversität Frankfurt/Main, 2002-2003 Postdoktorandin des Graduiertenkollegs »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung«, Veröffentlichungen zu Celan, Heidegger, Hölderlin, Benjamin, Spiegelman, Ästhetische Theorie und Sprachphilosophie.

Burkhardt Lindner, Professor für Geschichte und Ästhetik der Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/ Main. Veröffentlichungen u.a. zu Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Peter Weiss, Bertolt Brecht, Franz Kafka und Jean Paul. Florian Mundhenke, Germanist, verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift MEDIENwissenschaft und Lehrbeauftragter an der Philipps-Universität Marburg. Derzeit Promotion über ein filmphilosophisches Thema. Forschungsschwerpunkte: Zufall, Geschichtlichkeit und Identität als Problemkomplexe im Film, zeitgenössische Medientheorien. Jürgen Reble, freischaffender Künstler in den Bereichen Film, Installation und Performance. Zentrales Thema seiner Arbeit ist die manuelle Bearbeitung des Filmmaterials unter Anwendung von mechanischen und chemischen Einwirkungen. Präsentationen u.a.: Museum of Modern Art, New York/Auditorium des Louvre, Paris/ Filmmuseum Amsterdam.

Saskia Reither, Germanistin, Assistentin des Rektors der Kunsthochschule für Medien Köln, 2002-2004 Postdoktorandin im Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/Main. Arbeitsschwerpunkte:

284

2005-09-20 17-11-38 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 283-286) T05_01 autoren.p 95224311862

AUTORINNEN UND AUTOREN

elektronische Literatur, Computerpoesie, Medienkunst, Kunst und Ökonomie.

Manfred Schneider, Professor für Neugermanistik, Ästhetik und Medien an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte sind Diskursanalyse, Literatur und Recht, Medientheorie, Kulturkritik und Medienbeobachtung.

Helen Seyd, Studium der Germanistik, Philosophie und Politologie an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/Main. Mitarbeit im freien und nichtkommerziellen Stadtsender Radio X/Frankfurt.

Christian Spies, Kunsthistoriker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt »Virtualisierung von Skulptur. Rekonstruktion, Präsentation, Installation« am Forschungskolleg »Medienumbrüche« der Universität Siegen, 2001-2204 Stipendiat im Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« J.W. Goethe-Universität Frankfurt/Main. Arbeitsschwerpunkte: Bildtheorie und Bildgeschichte der Moderne und der technischen Medien. Philip Ursprung, Nationalfonds-Förderungsprofessor für Geschichte der Gegenwartkunst am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich; Veröffentlichungen u.a. Herzog & de Meuron: Naturgeschichte (Hg.), Grenzen der Kunst: Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art. Zurzeit bereitet er zusammen mit Wendy Owens ein Quellenbuch zu Texten von Gordon Matta-Clark vor.

Serjoscha Wiemer, arbeitet derzeit an einem Dissertationsprojekt zur Medientheorie und Ästhetik von Computer- und Videospielen. Spezielle Forschungsinteressen: Körper und Massenmedien, Video, Kybernetik, Science Fiction.

Sonja Windmüller, Kulturwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte im Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Philipps-Universität Marburg, der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/Main und der Universität Hamburg, Geschäftsführerin der Hessischen Vereinigung für Volkskunde, Promotion 2002, Veröffentlichungen u.a.: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem (2004).

285

2005-09-20 17-11-38 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 283-286) T05_01 autoren.p 95224311862

RESTE. UMGANG MIT EINEM RANDPHÄNOMEN

Roman Wortreich, macht seit 2000 regelmäßig Sendungen im nichtkommerziellen Rundfunk Radio X/Frankfurt. Er befasst sich mit politischen Themen aus der Sicht der Marxistischen Theorie.

286

2005-09-20 17-11-39 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 283-286) T05_01 autoren.p 95224311862

Die Neuerscheinungen dieser Reihe:

Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock Oktober 2005, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-327-5

Heide Volkening Am Rand der Autobiographie Ghostwriting – Signatur – Geschlecht Oktober 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-375-5

Julia Glesner Theater und Internet Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhundert

Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.) Aus dem Takt Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur Oktober 2005, 338 Seiten, kart., mit DVD, 27,80 €, ISBN: 3-89942-292-9

Christian Schuldt Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems Literaturwissenschaftliche Analysen zu Laurence Sternes »Tristram Shandy« und den frühen Romanen Flann O’Briens Oktober 2005, 152 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 3-89942-402-6

Joanna Barck, Petra Löffler Gesichter des Films

Oktober 2005, 386 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-389-5

Oktober 2005, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-416-6

Andreas Becker, Saskia Reither, Christian Spies (Hg.) Reste Umgang mit einem Randphänomen

Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video Thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen

Oktober 2005, 292 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-307-0

Oktober 2005, ca. 500 Seiten, kart., ca. 250 Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-383-6

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2005-09-20 17-11-41 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 287-289) anzeige kumedi september 05.p 95224311950

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Christoph Ernst Essayistische Medienreflexion Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien

Markus Buschhaus Über den Körper im Bilde sein Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens

September 2005, 508 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-376-3

August 2005, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-370-4

Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.) IndustrialisierungTechnologisierung von Kunst und Wissenschaft

Veit Sprenger Despoten auf der Bühne Die Inszenierung von Macht und ihre Abstürze

September 2005, 322 Seiten, kart., ca. 50 Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-317-8

August 2005, 356 Seiten, kart., 39 Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-355-0

Natascha Adamowsky (Hg.) »Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet« Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis

Horst Fleig Wim Wenders Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie

September 2005, 288 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-352-6

August 2005, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-385-2

Andreas Sombroek Eine Poetik des Dazwischen Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge

F.T. Meyer Filme über sich selbst Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film

August 2005, 320 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-412-3

Juli 2005, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-359-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2005-09-20 17-11-42 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 287-289) anzeige kumedi september 05.p 95224311950

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Michael Manfé Otakismus Mediale Subkultur und neue Lebensform – eine Spurensuche Juli 2005, 234 Seiten, kart., ca. 10 Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-313-5

Georg Mein, Franziska Schößler (Hg.) Tauschprozesse Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen Juli 2005, 320 Seiten, kart., 28,00 €, ISBN: 3-89942-283-X

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2005-09-20 17-11-42 --- Projekt: T307.kumedi.becker.reste / Dokument: FAX ID 022b95224305914|(S. 287-289) anzeige kumedi september 05.p 95224311950