Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung: Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit [1. Aufl.] 9783839417621

Die gegenwärtigen Transformationsprozesse erschüttern tradierte Erwartungssicherheiten und gesellschaftliche Stabilitäts

204 71 2MB

German Pages 356 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. THEORETISCHE PERSPEKTIVEN
Vom Orakel zur Risikoanalyse: Figurationen von Sicherheit und Risiko
Auf dem Weg zur Beteiligungsgesellschaft
Wohlfahrtsstaatsentwicklung und soziale Unsicherheit im Risikokapitalismus
Von »Marienthal« zu »Hartz IV«. Zur Geschichte und Gegenwart des Regierens von ›Langzeitarbeitslosen‹
Ungewisses Risiko. (Un-)Sicherheit und Risiko in entscheidungs- und gegenwartsdiagnostischer Perspektive
Risikoattributionen und Soziale Arbeit – eine systemtheoretische Skizze
II. HANDLUNGSFELDER DER SOZIALEN ARBEIT
Kriminalitätskontrolle in der Hochsicherheitsgesellschaft. Das Beispiel der Risikoorientierten Bewährungshilfe in der Schweiz
Die gefährliche Straße. Raumtheoretische Betrachtung eines ambivalenten Verhältnisses von öffentlichem Raum und Aufmerksamkeit generierenden Gruppen in der Sozialen Arbeit
Programmatischer Professionalitätsverzicht als Reaktion auf die Individualisierung von Risikolagen. Das Beispiel der aktivierenden Beschäftigungspolitik
Prävention als Form sibyllinischer Weissagung. Das Beispiel der Suchtprävention
Autorenverzeichnis
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Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung: Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit [1. Aufl.]
 9783839417621

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Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung

Sozialtheorie

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.)

Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Claudia Züger Satz: Mathias Lindenau Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1762-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

I. THEORETISCHE PERSPEKTIVEN Vom Orakel zur Risikoanalyse: Figurationen von Sicherheit und Risiko Mathias Lindenau, Herfried Münkler | 21 Auf dem Weg zur Beteiligungsgesellschaft

Gregor Husi | 75 Wohlfahrtsstaatsentwicklung und soziale Unsicherheit im Risikokapitalismus Christoph Butterwegge | 121 Von »Marienthal« zu »Hartz IV«. Zur Geschichte und Gegenwart des Regierens von ›Langzeitarbeitslosen‹ Matthias Bohlender | 141 Ungewisses Risiko. (Un-)Sicherheit und Risiko in entscheidungs- und gegenwartsdiagnostischer Perspektive Thomas Kron | 167 Risikoattributionen und Soziale Arbeit – eine systemtheoretische Skizze Horst Uecker | 201

II. HANDLUNGSFELDER DER S OZIALEN ARBEIT Kriminalitätskontrolle in der Hochsicherheitsgesellschaft. Das Beispiel der Risikoorientierten Bewährungshilfe in der Schweiz Marcel Meier Kressig | 217 Die gefährliche Straße. Raumtheoretische Betrachtung eines ambivalenten Verhältnisses von öffentlichem Raum und Aufmerksamkeit generierenden Gruppen in der Sozialen Arbeit Christian Reutlinger | 253

Programmatischer Professionalitätsverzicht als Reaktion auf die Individualisierung von Risikolagen. Das Beispiel der aktivierenden Beschäftigungspolitik Peter Schallberger | 291 Prävention als Form sibyllinischer Weissagung. Das Beispiel der Suchtprävention Mathias Lindenau | 325

Autorenverzeichnis | 351

Einleitung M ATHIAS L INDENAU , M ARCEL M EIER K RESSIG »Wird’s besser? Wird’s schlimmer?« fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich. KÄSTNER/ZUM NEUEN JAHR (1969: 319)

Im Zuge der sicherheitspolitischen Erschütterungen wie 9/11, ökologischer Katastrophen wie der Ölpest im Golf von Mexiko oder dem Reaktorunglück in Japan, sowie des Abbaus ehemals als unverbrüchlich angesehener Wohlfahrtspolitiken, haben die Begriffe Sicherheit und Risiko gegenwärtig Konjunktur. Beschäftigten sich in der Vergangenheit vorrangig die Versicherungsbranche und die Technikfolgeabschätzung mit den Problemen von Sicherheit und Risiko, so ist momentan kaum ein wissenschaftliches Gebiet zu finden, in dem nicht über die genannten Begriffe reflektiert wird. Das hat seinen Grund nicht allein im Reflexivwerden des Kontingenzbewusstseins der Moderne. Der Boom zeugt eher davon, dass wir uns in einer Umbruchsituation befinden, die scheinbare Gewissheiten in (kaum abschätzbare) Ungewissheiten transformiert. Solchen Herausforderungen stehen nicht nur gesellschaftliche, staatliche und marktwirtschaftliche Akteure gegenüber, sie betreffen selbstredend auch jedes Individuum. Sicherheit scheint dabei eine Grundkonstante anthropologischer Bedürftigkeit zu sein: Ausgehend von der Kontingenz der Moderne verfügt der Mensch aufgrund der Enttraditionalisierung über zahlreiche, vielleicht auch unzählige Handlungsoptionen. An ihn wird in der Moderne die Anforderung und sicherlich zuweilen auch Zumutung der Wahl des Sich-EntscheidenKönnens und -Müssens gestellt. Die Alternative, eine entscheidungsabstinente Haltung einzunehmen, verbietet sich hierbei. Auch wenn das zur Handlung genötigte Subjekt sich nicht entscheiden würde, steht der Entscheid nach wie vor zur Disposition. Entscheidungsabstinenz könnte zwar durchaus eine Entlastungsfunktion für das zur Handlung genötigte Subjekt mit sich bringen, würde aber zugleich die Heteronomie voraussetzen und zur zwingenden Lebensgestaltung erheben. Dem steht die Potenzialität des Subjektes entgegen, die Situation, die des Entscheides bedarf, zu seinen Gunsten und Vorstellungen zu beeinflussen. Die zur Verfügung stehenden

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Optionen werden damit, neben der bereits angesprochenen Zumutung, attraktiv. Diese Wahl wiederum soll möglichst rational im Sinne des Verstandes und der Reflexionsebene der Vernunft erfolgen und somit mindestens für das handelnde Subjekt begründungsfähig sein. Hierbei stellt sich die Frage, an welchen erfolgsversprechenden Kriterien sich das zur Handlung genötigte Subjekt orientieren kann. Fallen transzendentale, ethischmoralische, politische und ideologische Sinnstiftungsangebote oder persönliche Vorbilder als Leitplanken zur Entscheidungsfindung aus, müssen andere Entscheidungskriterien in Stellung gebracht werden. Infolgedessen kommt die Frage des subjektiven Kalküls in den Focus: das Abwägen und Abschätzen. Mit anderen Worten ließe sich von einer Kostenabwägung mittels einer Prognose der einzelnen Handlungsoptionen sprechen: Je nachdem, welche Wahl entweder die Erfolgsaussichten als am höchsten erscheinen oder die Negativbilanz am wenigsten anschwellen lässt, wird versucht, eine optimale Wahl zu treffen, diejenige, die am meisten Sicherheit im Sinne des Geschütztseins vor Gefahren oder Schaden verspricht. Auf diese Weise geht das Subjekt ein Wagnis ein, da nicht mit absoluter Gewissheit vorhergesehen oder -gesagt werden kann, ob die erstellte Prognose tatsächlich das gewünschte Resultat aufweist, oder welche nicht bedachten und/oder nicht vorhersehbaren Ereignisse auf die gewählte Alternative einwirken. Erst dann zu handeln, wenn feststeht, dass die Entscheidung nicht mit einem Risiko verbunden ist, ist für das Subjekt somit kein gangbarer Weg. Damit wird die Risikoanalyse im Sinne einer Risikofolgenabschätzung zum Blick in die Kristallkugel: Das Sicherheit versprechende Kausalprinzip und mit ihm die lineare Berechnung versagen. Das vom Subjekt einzugehende Wagnis kann zwar abgeschätzt, aber nicht verlässlich berechnet werden. Solche Abschätzungen müssen zudem auf der Grundlage von Erkenntnissen erfolgen, die teilweise ebenfalls sehr ungewiss und nicht eindeutig sind. Adams (2003) unterscheidet deshalb zwischen »directly perceptible risks«, »risks perceived through science« und »virtual risks«. Aufgrund dieser Unsicherheit kann das Wagnis negativ interpretiert und die Gefahrenabwehr zum höchsten Gut deklariert werden. Dadurch wird die Suche nach Sicherheitsversprechen, Sicherheitsgarantien und sicherheitsgenerierenden Maßnahmen jenseits der subjektiven Verfügbarkeit befeuert und auf das gesellschaftliche Umfeld fokussiert. Sicherheitserwartung wird so nicht nur zu einem subjektiven Tatbestand, sondern gleichzeitig notwendig für die soziale, wirtschaftliche und öffentliche Ordnung. Das Bedürfnis nach Verlässlichkeit und das Streben nach höchstmöglichem Freisein von Gefährdungen werden zum Beurteilungsmaßstab für die gesellschaftliche Stabilität und die Handlungsfähigkeit der Akteure. Problematisch wird dieser Umstand, wenn die Gemeinschaft und/oder die Gesellschaft ihr Sicherheitsversprechen auf Verlässlichkeit nicht mehr einzulösen in der Lage ist. Stehen als verlässlich geltende Karrierewege, materielle Grundsicherungen oder positive Zukunftserwartungen zur Disposition, gilt nichts mehr als sicher. Folglich sind die individuellen

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Akteure wieder verstärkt auf sich selbst geworfen und beauftragt, eine unsichere Zukunft nach ihrem Können und Vermögen (Vermögen im doppelten Sinn) möglichst planbar und absicherungstechnisch zu gestalten. Autonomie und Selbstverantwortung werden zu den Kernkompetenzen erklärt; die Versicherungsgesellschaft tritt in den Hintergrund und verspricht, je nach landesspezifischer Ausstattung, nur noch eine minimale Grundsicherung. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Gedanke der Vorsorge und der Vorbeugung derart an Gewicht gewinnen konnte. Vorsorge zu betreiben wird zur Pflicht eines jeden Individuums in der Gesellschaft. Hierbei ist eine Risikofolgenabschätzung für den Akteur unverzichtbar, da er selbst für die Versicherung der bestehenden Risiken und die erwartbare Zukunft verantwortlich ist; Schicksalsschläge sind davon ausgenommen. Gleichwohl besitzt er nun – durch den Vertragsabschluss – nicht mehr die volle Autonomie, alle denkbaren Alternativen zu wählen. Aus der Vertragsversicherung gibt es kein Entrinnen. Wird somit einerseits das »unternehmerische Selbst« (Bröckling 2007) gefordert und für sein Schicksal selbst verantwortlich, so wird andererseits der Vorsorgeaspekt zunehmend auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt. Die Vorsorge materieller Versicherungen wird nun zum vorbeugenden Paradigma einer selbst verunsicherten Gesellschaft; die präventive Zäsur hält ihren Einzug in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche. Der vorrangig in den pädagogischen und sozialen Feldern beheimatete Präventionsgedanke reicht nun vom Sicherheitsgurt bis zum Präventionskrieg. Damit das Präventionsparadigma greifen kann, müssen die Bedrohungsszenarien entindividualisiert und verallgemeinert werden. Nur so lassen sich mögliche Sicherheitsstrategien generieren. Gleichwohl lösen all die Sicherheitsversprechen vom Vertrag über die Vorsorge bis hin zur Prävention das Entscheidungsdilemma der Handlungsakteure nicht. Deshalb wird selbst auch dann an den Sicherheitsstandards gezweifelt, wenn das objektive Sicherheitsniveau, wie in den westeuropäischen Gesellschaften, ohne Beispiel in der Geschichte ist. So sind Zweifel an einer einseitigen Betonung der Sicherheit und den entsprechenden Sicherheitskonzepten dergestalt angezeigt, ob sie die Handlungsakteure zu einem bewussten und verantwortungsvollen Leben in der kontingenten Moderne befähigen. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit eine Risikokompetenz vonnöten ist, die sich nicht allein auf den Aspekt der Gefahrenabwehr konzentriert, sondern die dazu beiträgt, dass Akteure mit Unsicherheit und Ungewissheit in Zeiten umzugehen lernen, in denen Sinnstiftungsmonopolisten ihren Sicherheitsnimbus eingebüßt haben (vgl. Bonß 2010). Von derartigen Problemstellungen ist auch die Soziale Arbeit betroffen. Durch den Gegenstand ihrer Profession und Disziplin schiebt sie sich in den Raum zwischen Risikoerfahrung und Sicherheitserwartung. Denn Soziale Arbeit kann als ein Sicherheitsversprechen der Gesellschaft an ihre Mitglieder gelesen werden. Das ist nicht unproblematisch, stellt sich doch die Frage, ob sie tatsächlich in der Lage ist, diese Sicherheitsleistung zu erbringen. So muss Soziale Arbeit ihren Umgang mit Risiko und Sicherheit hinterfra-

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gen: Wie geht Soziale Arbeit mit dem Spannungsfeld von Sicherheit und Risiko bzw. Gefahr um? Wie konnotiert sie die Begriffe von Risiko, Gefahr, Sicherheit und Gewissheit? Wie viel Sicherheit erachtet sie als unerlässlich, um überhaupt Risiken eingehen zu können? Was »kostet« es, Gefahren in Sicherheiten zu transformieren und diese Gefahren unter Kontrolle zu halten? Wie legitimiert sie ihre Sicherheitsversprechen? Wie sieht sie das Zusammenspiel von Sicherheit mit anderen Werten wie Freiheit, Gleichheit bzw. Gerechtigkeit? Betrachtet sie ihre Klientel als potent genug, um Wagnisse eingehen zu können? Oder gibt es verordnete und verdeckte Sicherheitsanweisungen und -instruktionen? Ändern sich im Lebensverlauf die Vorstellung von Gefährdung und die Risikobereitschaft? Wie entlastet sich Soziale Arbeit von der Unsicherheit der nicht vorhersehbaren Zukunft, obwohl ihr als diagnostisches Mittel einzig die Prognose bleibt? Was folgt daraus, wenn Soziale Arbeit generell in Risiken allein Gefahren sieht? Führt das Sicherheitsstreben der Klientel und der Sozialen Arbeit schlussendlich zu einer Form »milder Heteronomie«? Und schließlich: wie thematisiert sie die Risiken der eigenen Entscheidungen bzw. Interventionen? Somit ergibt sich die Frage, was für eine Sicherheit im Sinne einer Absicherung qualitativ und quantitativ vonnöten ist. Sicherheit dabei allein holistisch als das absolut zu erstrebende Gut zu begreifen und damit Unsicherheiten und den Verlust von Sicherheit möglichst vermeiden zu wollen, ist nicht unproblematisch. Nicht nur die im Zuge der Modernisierung erfolgte Enttraditionalisierung steht dieser Lesart entgegen. In einer differenzierten Gesellschaft kann etwa das Streben nach größtmöglicher Sicherheit und damit verbundener Maßnahmen auch erhebliche Einschränkungen für gesellschaftliche Gruppierungen (z.B. religiöse Gruppen) und Individuen nach sich ziehen. Derartige Problemkonstellationen zeigen sich gegenwärtig in den sicherheitspolitischen Diskursen. Ähnliche Unklarheiten beziehen sich auf das Bedeutungsfeld des Risikobegriffs. Die unterschiedliche Definitionsweise, was als Risiko gelten kann, inwiefern dieses von der Gefahr zu differenzieren ist und welche positiven Aspekte hierbei zur Geltung gebracht werden können, führt zu einem Pendeln der Bedeutungskomponente zwischen Gefahrenabwehr und Wagnis. Sind die Diskussionsstränge zu solchen Problemstellungen in der Soziologie und der Politikwissenschaft recht unübersichtlich geworden, so scheint die Debatte dazu in der Sozialen Arbeit noch in den Kinderschuhen zu stecken. Der Blick in die soziologischen Arbeiten zur Sicherheit zeigt etwa, dass die Zeitlichkeit als zentrales Definitionsmerkmal betont und auf Sicherheit als verfügbare Zukunft verwiesen wird (vgl. Kaufmann 1973; Husi/Meier Kressig 1998). In sozialer Hinsicht wird Sicherheit als klassisches Problem der (doppelten) Kontingenz bzw. als Frage der Koordination unterschiedlicher Perspektiven thematisiert, wobei hier auch der Strukturbzw. Strukturierungsbegriff einen zentralen Platz einnimmt. Darüber hinaus wird Sicherheit als Sicherstellung von positiv Bewertetem in der Zukunft bzw. als Abwendung von Negativem in der Zukunft verstanden, wobei sich

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die soziologischen Untersuchungen insbesondere mit der sozialen Sicherung auseinandersetzen. Das zu Sichernde kann damit in der sozialen Welt verortet sein, aber auch in der objektiven und subjektiven Welt. Quer dazu ließe sich auch eine materielle von einer symbolischen Dimension unterscheiden (vgl. van Dyk/Lessenich 2008: 17). Die Auseinandersetzung um solche Sicherheitsaspekte ist allerdings eher in den Hintergrund getreten, hat sich doch die neuere Soziologie dem Thema in erster Linie über den Risikobegriff angenähert. Wie die Literaturstudie von Zinn (2004, 2006) aufzeigt, hat die Risikosoziologie seit 1995 schwergewichtig folgende drei Ansätze verfolgt: a) die Einbettung von Risiko und Ungewissheit in den Kontext der reflexiven Moderne und damit in die Modernisierungstheorie, b) die soziokulturelle Fokussierung auf die Risikokultur, die Bedeutung von Risiken im Alltag und Fragen der Identitätsbildung und Gruppenkonstitution usw., c) die von Foucault inspirierte zeitdiagnostische Verknüpfung von Gouvernementalität und Risiko. Neben diesen Hauptströmungen finden sich auch Untersuchungen, welche die Bedeutung der Medien bei der Konstruktion und Kommunikation von Risiken beleuchten. Im deutschsprachigen Raum ist die systemtheoretische Auseinandersetzung mit Risiken prominent vertreten, welche die konstruktivistische Perspektive favorisiert und in der Luhmann’schen Unterscheidung von Risiko und Gefahr nachhaltige Wirkung hinterlassen hat. Aus einer ideengeschichtlichen Perspektive der politischen Theorie wurden die politischen, sozialen und technischen Umgangsweisen mit der komplexen gesellschaftlichen Problematik von Sicherheit und Risiko evaluiert und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Imaginationen analysiert. Der Focus wird hierbei nicht allein auf das Verständnis von Sicherheit, Gefahr, Bedrohung, Unsicherheit und riskantem Verhalten gerichtet, sondern auch, wie und in welchen Formen das bislang institutionell arrangierte Verhältnis von Sicherheit und Risiko neu bestimmt und neu arrangiert werden kann (vgl. dazu Münkler/Bohlender/Meurer 2009, 2010). Insbesondere die (organisierte) Kriminalität und der internationale fundamentalistische Terrorismus haben die innere Sicherheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Politikwissenschaft hat sich damit intensiv beschäftigt, wobei in ihren Untersuchungen vor allem institutionentheoretische bzw. -kritische Aspekte beleuchtet wurden. Einen breiteren Zugriff bieten Politikfeldanalysen zur inneren Sicherheit, welche zusätzlich auch Entscheidungsprozesse und Programme thematisieren (vgl. als Überblick Lange 2011). Schon seit längerem ist das Thema Sicherheit im Fokus der Politikwissenschaften mit Blick auf die internationale Politik. Die nachgerade klassische Ausrichtung auf diese Sicherheitspolitik wird nun überlagert durch die Auseinandersetzung mit dem Wandel der Sicherheitskultur. Angesprochen sind damit »Überzeugungen, Werte und Praktiken, die das Sicherheitsund Unsicherheitsempfinden von Staaten, Gesellschaften und internationalen Organisationen bestimmen und ihre Sicherheitspolitik prägen« (Daase 2011: 141).

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Mit Blick auf die Soziale Arbeit sind die Konturen der Arbeiten zum Thema Sicherheit und Risiko, insbesondere im deutschsprachigen Raum, weniger klar zu erkennen. Unsere im Jahr 2010 durchgeführte Literaturrecherche in 24 deutschsprachigen Fachzeitschriften ergab, dass im Diskurs der scientific community der Sozialen Arbeit das Thema nur marginal vertreten ist und insgesamt ein Forschungsdesiderat offenbart. Dieses zeigt sich in verschiedenen Dimensionen: In historischer Hinsicht sind bislang keine Untersuchungen erkennbar, die sich mit den Figurationen von Sicherheit und Risiko auseinandersetzen und die Bedeutungsgehalte von Sicherheit und Risiko in unterschiedlichen Zeitabschnitten beleuchten. Trotz vielversprechender Ansätze (vgl. etwa Rauschenbach 1992) finden sich auch keine Beiträge, die sich mit den modernisierungstheoretisch geprägten Aspekten von Gefahren, Risiken und Gefahren zweiter Ordnung befassen. Analytisch betrachtet zeigt sich ein großes Forschungsdesiderat: Semantisch werden die Begriffe Sicherheit, Risiko, Gefahr relativ unreflektiert als Schlagwörter verwendet, unsystematisch gebraucht und nicht weiter differenziert. Der Risikobegriff wird fast durchgängig negativ konnotiert und auf den Teilaspekt der Gefahr/Gefährdung abgestellt; vom Wagnis/Wagemut als einem positiven Aspekt ist nicht die Rede. Die Luhmann’sche Unterscheidung von Risiko und Gefahr wird kaum wahrgenommen. Ähnliches ist für den Sicherheitsbegriff festzuhalten, der kaum näher bestimmt und dessen wesentliche zeitliche Komponente nicht kenntlich gemacht wird. Normativlegimatorisch lassen sich keine Beiträge finden, die sich aus der disziplinären Sicht mit der Ordnung der Werte oder einer Hierarchie von Sicherheit und ihrer (Wechsel-)Wirkung zu anderen Werten der Gesellschaft befassen. Auch bleibt bislang unthematisiert, welche Werteinterpretationen von Sicherheit mit Blick auf konkrete Adressatinnen und Adressaten vorherrschend sind und wer die Träger dieser unterschiedlichen Ideen sind. So erstaunt es auch nicht, dass sich keine Aussagen dazu finden lassen, welche institutionellen Arrangements in der Sozialen Arbeit herausgebildet wurden, um sich der Beherrschung von Risiko und Sicherheit zu versichern. Ebenso sind keine Beiträge dazu erkennbar, wie die Soziale Arbeit auf die zunehmende Verlagerung der Risiken von Systemen auf das Individuum reagiert und wie sie mit den daraus abgeleiteten moralphilosophisch-ethischen Fragen von Schuld und Verantwortung umgeht. Sozialdiagnostisch lassen sich einige Verweise zu den Begriffen Sicherheit und Risiko erkennen, die vorrangig den Bezug zur Gouvernementalität herstellen. Stichworte hierzu sind der aktivierende Staat und der aktive Bürger in der civil society. Risikogruppen werden schnell benannt (Stichwort: dangerization), jedoch wird nicht genauer hergeleitet, wodurch sich diese Gruppe diese Konnotation erwerben und wie die Prozesse der Sozialkonstruktion und Zuschreibung zu analysieren wären. Welche Konsequenzen sich aus der Gefährdungsausweitung und den damit verknüpften Fragen um Ausgrenzung und Teilhabe für die Soziale Arbeit ergeben, ist erst in Ansätzen erkennbar und müsste weiter eruiert werden. Dies gilt auch für die Problematik, wie die Soziale Arbeit

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auf die öffentliche Forderung nach Sicherheitsmaximierung und Risikominimierung reagiert. In methodischer Hinsicht schließlich werden vor allem die Themen von risk assessment und Risikomanagement bearbeitet, wobei der Blick auf größere Zusammenhänge und semantische Bezüge verloren geht. Der Risikobegriff wie auch die verwendeten Anglizismen dienen dabei oftmals eher als Label, um der Alltagspraxis einen bestimmten Nimbus zu verleihen. Eine längere Tradition hat die Feststellung der Ungewissheit der Wirkungen von Interventionen, welche aus systemtheoretischer Perspektive mit dem Stichwort des Technologiedefizits gefasst wurde und nun schon fast als Gemeinplatz gehandelt wird. Erstaunlich ist daher umso mehr, dass aus professionstheoretischer Perspektive kaum die Verbindung von Entscheidung und Sicherheit/Risiko hergestellt und einer differenzierten Analyse unterzogen wird. Hierfür, wie auch für andere methodischen Fragen, wäre aus unserer Sicht die Erarbeitung handlungstheoretischer Grundlagen und Bezüge notwendig. Mit Blick auf die Klientel wäre etwa zu klären, wie Menschen befähigt werden können, mit Risiken umzugehen und welcher Kompetenzen es dazu bedarf. Im angelsächsischen Raum scheint die Debatte schon weiter vorangeschritten, so könnte zumindest die große Zahl an Veröffentlichungen zu diesem Thema gedeutet werden. Warner & Sharland (2010) haben diese in drei Gruppen gebündelt: Auf der Mikro-Ebene beziehen sie sich in erster Linie auf risk assessment im Hinblick auf verschiedene Klientelgruppen, auf der Meso-Ebene auf organisationale bzw. inter-organisationale Aspekte des Risikomanagements und auf der Makro-Ebene auf theoretische Fragen der Sozialen Arbeit in der Risikogesellschaft. Trotz dieser zahlreichen Beiträge ziehen die Autorinnen im Editorial der Sondernummer des British Journal of Social zu »risk and social work« allerdings das ernüchternde Fazit, dass die Forschung und theoretische Entwicklung zu diesem Themenfeld unterentwickelt ist und ohne Bezug zur außerdisziplinären Diskussion stattfindet. Das Ziel des Sonderhefts war deshalb die Lancierung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Risikokonzept und dessen Bezug zu Theorie, Forschung, Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit. Die ausgewählten Artikel beleuchten die folgenden Aspekte: moralische und ethische Fragen in Bezug auf die vorherrschende Politik der Angst sowie auf die Logiken von Risikomanagement und risk assessment; die Kontrastierung von Risiken und Alltäglichkeit; die Herausforderung von Risiken und Fehlern sozialarbeiterischer Entscheidungen im Hinblick auf den Kindesschutz; die Betrachtung von Risiko und Innovation mit der Betonung, dass letztere immer auch risikohaft sind und die Möglichkeit von Fehlern beinhalten; die kritische Analyse von Risikoorientierung und Risikorationalität in der gegenwärtigen Sozialpolitik bzw. im neoliberalen Wohlfahrtsstaat; die Konzeptionalisierung von Risiken in der professionellen Praxis hinsichtlich Supervision sowie der (Wahrnehmung von) Gewalt gegen Sozialarbeitende.

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Angesichts des Standes der Debatte innerhalb der Sozialen Arbeit erheben die folgenden Beiträge den Anspruch, einige der festgestellten Erkenntnislücken zu verringern. Damit ist freilich erst ein Anfang gemacht. So kann hier, anders als üblich, schon am Anfang des Buches festgehalten werden: ›More research is needed‹. Um das Spannungsfeld von Sicherheit und Risiko differenzierter zu umreißen und für die Auseinandersetzung in der Sozialen Arbeit fruchtbar zu machen, wurde eine Zweiteilung des Buches vorgenommen. Die Beiträge eröffnen bewusst ein breites Spektrum an Ansatzpunkten zur Reflexion. Dadurch sollen in nicht-systematischer Absicht unterschiedliche Facetten des hier behandelten Gegenstands diskutiert werden. Im ersten Teil wird das benannte Spannungsfeld aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven ausgelotet. Im zweiten Teil werden die Phänomene Risiko/Gefahr und Sicherheit mit stärkerem Bezug zu unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit beleuchtet. Die Beiträge von Mathias Lindenau und Herfried Münkler sowie von Gregor Husi beleuchten die Dialektik von Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung auf einer allgemeinen Ebene. Einleitend untersuchen Herfried Münkler und Mathias Lindenau, inwieweit Sicherheit und Risiko in den unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Epochen dramatisiert wurden. Bereits in der Antike zeigt sich ein Reflexivwerden von Sicherungsstrategien im Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit, das im Mittelalter im funktionalen Effekt der Ummauerung mündet; einer bis in die Gegenwart fortdauernden Sicherheitsimagination. Das mit der Neuzeit immer stärker einsetzende Bestreben, die Frage der Sicherheit der Sphäre des Unverfügbaren und des Schicksals systematisch zu entziehen, erfährt seine Konkretisierung in der Ausprägung einer Solidargemeinschaft und der institutionellen Ausgestaltung des Sozialstaates, der wiederum bedeutsame Modifikationen erfährt. So stellt sich auch für die gegenwärtige Gesellschaft die Herausforderung, eine ausgewogene Balance zwischen Sicherheitsfixierung und Risikoorientierung zu finden. Anschließend bettet Gregor Husi auf modernisierungstheoretischem Hintergrund den Wert der Sicherheit in den Wertekanon der Moderne ein, welcher vom Geist des Demokratismus durchdrungen ist. Drängen diese Werte ihrem Anspruch nach auf Verwirklichung, so stellt sich die Anschlussfrage nach ihrer Verwirklichtheit, die er mit Blick auf unterschiedliche Demokratiediagnosen diskutiert. Das so erkennbar gewordene unvollendete Projekt wird nun auf der Basis einer modal- und strukturierungstheoretisch geprägten Gesellschaftstheorie stärker konturiert. Als Ergebnis zeigt sich eine normativ gehaltvolle Konzeption einer Beteiligungsgesellschaft, worin sich die radikale und plurale Verwirklichung der sechs demokratischen Grundwerte verorten lässt. Je spezifischen Sichtweisen um die komplexen Fragen der Sicherheit und des Risikos wenden sich die Beiträge von Christoph Butterwegge und Matthias Bohlender zu.

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Welche Auswirkungen die gegenwärtige Wohlfahrtsstaatsentwicklung auf die soziale Unsicherheit hat, analysiert Christoph Butterwegge. Ausgehend von der Fragestellung, nach welchen Prinzipien der Wohlfahrtsstaat transformiert wird, eruiert er unter der Metapher des »Risikokapitalismus«, welche Folgen daraus für die Betroffenen selbst wie für die Gesellschaft erwachsen. Er kommt zu dem Schluss, dass die Transformation des Wohlfahrtsstaates unter einem neoliberalen Duktus zur Abkehr von gesamtgesellschaftlicher Solidarität führt, die eine Verschärfung der sozialen Asymmetrien nach sich zieht. Daraus erwächst eine Gefahr für die Demokratie, wenn an die Stelle der kollektiven Absicherung die soziale Verunsicherung von Millionen Menschen tritt. Der Beitrag von Matthias Bohlender problematisiert die Regierungstechnologie der Langzeitarbeitslosigkeit anhand einer genealogisch angelegten Skizze. Er zeigt, dass »Langzeitarbeitslose« als Subjekte einer »psychosozialen Deprivation« dargestellt und so als eine gesellschaftliche Bedrohung, als personifizierte Negation der modernen Arbeitswelt, aufgefasst werden. Die Verknüpfung von Erwerbsarbeit und psychosozialer Gesundheit wird als alternativloser Vergesellschaftungsmodus eingestuft, was schließlich zur Produktion konkreter Regierungstechnologien führt, um die »Langzeitarbeitslosen« zu re-aktivieren. Dazu werden die Sicherungsstrategien des »aktivierenden Staates« wie auch des »aktiven Subjekts« eingesetzt, um so auf legitime Weise einen psychopolitischen Raum des Eingreifens, Veränderns und Aktivierens zu schaffen, der in die gesamte Lebensführung von Individuen, Familien, Partnerschaften etc. interveniert. Danach erfolgen eher konzeptionell ausgerichtete Überlegungen von Thomas Kron aus einer entscheidungstheoretischen und Horst Uecker aus einer systemtheoretischen Perspektive. Thomas Kron fragt aus einer entscheidungstheoretischen Perspektive, ob Handeln unter Risiko anders gefasst werden muss, als dies bisher der Fall gewesen ist. Wird bislang davon ausgegangen, dass Ungewissheit und Risiko einander ausschließende Begriffe sind, so fordert er eine neue Denkweise zur Analyse der Gesellschaft und zur Modellierung des Entscheidungshandelns. Mit der Metapher der »Hybride« wird darauf verwiesen, dass aufgrund der Komplexität der Gegenwartsgesellschaft vielmehr von Handeln unter ungewissem Risiko ausgegangen werden muss: Obwohl scheinbar alle notwendigen Informationen und damit die Grundlage für Wahrscheinlichkeitsabschätzungen vorliegen, können trotzdem Ungewissheiten vorhanden sein, die Entscheidungen blockieren. Deshalb, so seine Prognose, wird sich die Gegenwartsgesellschaft zunehmend auf ungewisse Risiken einstellen müssen und Handeln unter ungewissem Risiko zum Normalfall werden. Gegenüber einer vorschnellen Ontologisierung von Risiken verwehrt sich der Artikel von Horst Uecker. Er betont mittels systemtheoretischen Unterscheidungen deren Attributionscharakter und die unausweichliche Verkoppelung von (Nicht-)Entscheidungen und Risikobeobachtungen. Die Risikosemantik gewinnt insbesondere in modernen Gesellschaften eine be-

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sondere Dramatik, welche auch die Soziale Arbeit tangiert – als Betroffene wie Produzenten von Gefahren bzw. Risiken. Er fordert daher eine verstärktes Kontingenz- bzw. Risikobewusstsein im Wissen darum, dass dies nicht zu mehr Handlungssicherheit führt. Sodann nehmen die Beiträge von Marcel Meier Kressig, Christian Reutlinger, Peter Schallberger und Mathias Lindenau unterschiedliche Handlungsfelder der Sozialen Arbeit in den Blick und eruieren ihren Umgang mit Sicherheit und Risiko. Der Beitrag von Marcel Meier Kressig beleuchtet die Risikoorientierung im Kontext des neuen kulturellen Musters der Hochsicherheitsgesellschaft. Nach einer Darlegung des neuen Umgangs mit Kriminalität bzw. der neuen Kultur der Kontrolle diskutiert er diese allgemeinen Entwicklungen exemplarisch an der Risikoorientierten Bewährungshilfe in der Schweiz. Er kritisiert die ihr zugrundeliegende Preisgabe des Resozialisierungsgedankens, die dominante Fokussierung auf den Schutz der Bevölkerung und das veränderte Verständnis von Sozialer Arbeit und fordert dazu auf, alternative Rehabilitationsmodelle und Erkenntnisse aus der Ausstiegsforschung stärker zu berücksichtigen. Die aktuelle Sicherheitsdebatte zu Kriminalität ist ebenfalls Gegenstand des Artikels von Christian Reutlinger. Aus raumtheoretischer Perspektive beschäftigt er sich mit einem für die Soziale Arbeit bedeutsamen Bild, demjenigen der Straße als Gefahren- und Risikoort. Er verwehrt sich gegen diese mediale und teilweise auch kriminologische Bestimmung von gefährlichen Orten und fordert gegenüber einer derartigen kriminalisierenden Raumideologie einen eigenständigen, raumwissenschaftlich angereicherten Umgang mit Gruppen (meist Jugendlicher), welche im öffentlichen Raum Aufmerksamkeit erzeugen. Notwendig wäre dazu die Schaffung einer professionellen Raumsensibilität, als Bedingung für eine ermöglichende, kritisch-reflexive und damit letztlich auch politische Position, welche – durchaus kompatibel mit dem Konzept der Beteiligungsgesellschaft (vgl. Husi) – die Schaffung von selbstbestimmten öffentlichen Räumen der Beteiligung unterstützt. Ausgehend von zeitdiagnostischen Befunden zum flexiblen Kapitalismus zeigt der Beitrag von Peter Schallberger zunächst auf, dass die dem Idealprofil eines erfolgreichen unternehmerischen Selbst nicht entsprechenden Konstellationen von Arbeitslosigkeit auf eine Individualisierung und Pluralisierung von Risiken verweisen. Dass der dadurch naheliegende Bedarf an professionellen und fallbezogenen Unterstützungsangeboten nur bedingt gestillt werden kann, zeigen seine Auseinandersetzung mit der Umsetzung des Aktivierungsparadigmas und die Darlegung der Erkenntnisse seiner empirischen Untersuchungen zu Arbeitsintegrationsprogrammen in der Schweiz. Eine vernichtende Kritik erfahren dann die als Erfolgsmodell propagierten »Sozial«firmen, die explizit auf professionelle Unterstützung verzichten wollen: Diese »staatlich geförderte Resteverwertung peripherer Arbeitskraft«, welche Arbeit als Allheilmittel propagiert, wird hinsichtlich ih-

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res rechtlichen und ökonomischen Settings, ihrer Haltung gegenüber den Beschäftigten und ihrer (alltags-)theoretischen Prämissen hinterfragt. Abschließend diskutiert Mathias Lindenau am Beispiel der Suchtprävention die Problematiken dieser Sicherungsstrategie. Häufig wird die Prävention als ein Panazee zur Unsicherheitsreduktion in Stellung gebracht. Jedoch verweisen verschiedene inhärente Paradoxa darauf, dass sie trotz aller Extrapolationen statistischer Wahrscheinlichkeiten nicht über den Status eines Sicherheitsversprechens hinaus kommt. Deshalb plädiert er für eine neue Risikokultur, in der die Suchtprävention ihre Fixierung auf Gewissheit aufgibt und lernen muss, mit einem unterschiedlichen Ausmaß an Unsicherheit und Ungewissheit umzugehen. Ihre spezifische Logik kann dann nicht mehr darin bestehen, für sich das einzig wahre Wissen über den Umgang mit Drogen zu reklamieren und daraus gewissermaßen eine »Naturgesetzlichkeit« abzuleiten. So besehen ist die Erzeugung von Sicherheit nicht länger alleinige Aufgabe von »Experten«, sondern ebenso von »Laien«. Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir uns entschlossen, durchgängig die mänliche Form zu verwenden. Selbstredend ist mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Es ist uns ein Anliegen, diese Einleitung nicht zu beenden, ohne unseren Dank auszusprechen. Wir danken unseren Autoren für die unkomplizierte Zusammenarbeit und Alexander Masch vom transcript-Verlag für die freundliche Unterstützung. Der FHS St. Gallen danken wir für die großzügige finanzielle Unterstützung, die das Erscheinen dieses Bandes erst möglich werden ließ. Schließlich haben wir Claudia Züger für ihre gewohnt zuverlässige und gewissenhafte Mitarbeit zu danken.

Mathias Lindenau Marcel Meier Kressig

St. Gallen/Balgach, im Januar 2012

L ITERATUR Adams, John (2003): »Risk and Morality. Three Framing Devices«, in: Richard V. Ericson/Aaron Doyle (Eds.): Risk and Morality, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, S. 87-104.

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I. T HEORETISCHE P ERSPEKTIVEN

Vom Orakel zur Risikoanalyse: Figurationen von Sicherheit und Risiko M ATHIAS L INDENAU /H ERFRIED M ÜNKLER Die gesellschaftliche Relevanz von Sicherheit und Risiko wird oft als ein Charakteristikum der Gegenwart betrachtet. Gleichwohl ist die Einhegung möglicher Gefährdungen kein Spezifikum der Moderne, sondern eine anthropologische Grundkonstante der Sicherheitsbedürftigkeit, denn alle gesellschaftlichen Formationen sind mit der Frage der Sicherung ihres weiteren Bestehens konfrontiert. Die spezifische Ausprägung der Begriffe Sicherheit und Risiko und ihr expliziter Bedeutungsgehalt sind erst aus den historischen Transformationen und dem damit einhergehenden Bedeutungswandel hervorgegangen. 1 Trotz Variationen in ihrer Bedeutung, zielen Sicherheit und Risiko letztlich auf die Domestizierung von Gefahren (vgl. Münkler 2009: 11).

1

Davon zeugt die Variationsbreite der beiden Begriffe: Der Begriff der Sicherheit kann sowohl auf die lateinischen Begriffe ›certitudo‹, Gewissheit, als auch auf ›securitas‹, Sorgenfreiheit, zurückgeführt werden (vgl. Makropoulos 1995: 746; zur Ausdifferenzierung von ›certitudo‹ gegenüber ›securitas‹ durch christliche Autoren vgl. Schrimm-Heins, 1991: 141ff.). Die Dimensionen der Sicherheitserwartung reichen von der ›securitas‹ im Sinne des Geschütztseins vor möglichen Gefährdungen und Schäden zur ›certitudo‹ im Sinne der ohne Zweifel bestehenden Zuversicht und Hoffnung. Der Begriff des Risikos lässt sich nach Mehrheitsmeinung allein auf das italienische Wort ›rischiare‹ zurückführen, womit ein unternommenes Wagnis gekennzeichnet wird, um möglichen Gefährdungen zu entgehen. Nach dieser Deutung ist Risiko ein vom menschlichen Verhalten abhängiges und damit beeinflussbares Ergebnis. Eine alternative Deutung, auch wenn diese umstritten ist, leitet den Begriff des Risikos aus dem griechischen ›rhiza‹ und dem arabischen ›risq‹ ab, was als »Lebensunterhalt, der von Gott abhängt« (Kluge/Mitzka 1967: 602) übersetzt werden kann und damit auf das Schicksal verweist. Hier ist dem menschlichen Akteur die Beeinflussung einer Situation entzogen.

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Seit der Antike lässt sich ein Reflexivwerden von Sicherungsstrategien im Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit nachverfolgen. Die Unterscheidung zwischen Ungewissheit und Unsicherheit besteht in der Zielsetzung und Qualität der möglichen Sicherheit. Während in der Antike die Absicherung primär auf eine Frage des persönlichen Verfügens über Sicherheit hinausläuft, wird im Laufe der Geschichte versucht, die Frage der Sicherheit der Sphäre des Unverfügbaren und des Schicksals systematisch zu entziehen. Damit geht eine Säkularisierung der zuständigen Sicherheitsinstanzen einher: Sind bis zum Mittelalter transzendente Sicherheitsinstanzen vorrangig für die Bearbeitung von Unsicherheit und Ungewissheit zuständig, so beginnt sich dies seit der Neuzeit auf den Menschen und die von ihm beeinflussbaren Ordnungsagenturen zu verschieben. Dafür werden Vertragstheorien entworfen, die ihre qualitative Ausprägung im Vorsorgekonzept moderner Staaten und Gesellschaften finden. Komplementär zu Vertrag und Versicherung sind die Tugenden der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, die später zu einer säkularisierten Variante der Solidarität transformiert werden. Freilich sind derartige Vorsorgekonzepte mit dem Aspekt der potenziellen Gefahrenabwehr nur um einen hohen Preis zu haben. Sobald die materielle Grundlage dafür zu erodieren droht, gleichzeitig jedoch die Absicherung gegen mögliche zukünftige Ereignisse beibehalten werden soll, muss die Vorsorge anders kalkuliert werden, woraus in der Gegenwart ein paradoxaler Effekt erwächst: Einerseits wird Vorsorge von den zuständigen Ordnungsagenturen zur Vorbeugung transformiert und der Präventionsgedanke, der nicht mehr auf dem Solidaritätskonzept des Ausgleichs nach einem eingetretenen Schaden basiert, zum Allheilmittel gesellschaftlicher Bedrohungslagen stilisiert. Er operiert mit Bedrohungsszenarien, die mit Dramatisierungseffekten bestückt sind. Zu deren Verhütung legitimieren die zuständigen Sicherheitsagenturen Eingriffe in das klassische Vorsorgemodell ebenso wie sie die individuellen Freiheitsrechte einschränken. Die Individuen müssen ihren Beitrag leisten und nun mehr Eigenverantwortung übernehmen. Diese Entwicklung korrespondiert mit dem Spekulationsprinzip der Gegenwart: Das Individuum ist aufgefordert, die Verantwortung für die Unsicherheitsreduktion zu übernehmen und zum Unternehmer seiner Selbst zu werden – sei es im Hinblick auf seine Gesundheit, lebenslanges Lernen oder generell die materielle Absicherung für unvorhersehbare Ereignisse sowie für die vorhersehbare, aber nur begrenzt kalkulierbare Phase des Alters. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Figurationen von Sicherheit und Risiko sich im Laufe der Zeit beschreiben lassen. Anhand einer ideengeschichtlichen Skizze soll aufgezeigt werden, welche Kosten mit der Einhegung von Gefahren verbunden und welche Kalküle dafür ausschlaggebend sind.

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1. S CHICKSAL , V ORSEHUNG DER ANTIKE

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Schicksal und Gewissheit sind die Pole des Kontinuums in der Antike, auf dem sich verschiedene Abstufungen der Sicherheit manifestieren. Sie differenzieren sich in Aspekte der materiellen und der immateriellen Sicherheit. Beispielgebend hierfür sind Athen, Jerusalem und Rom. Da bei den Griechen auf die Götter infolge ihrer Launenhaftigkeit kein wirklicher Verlass ist (vielleicht mit Ausnahme der Narrationen um die Göttin der Athener, die als zuverlässige Helferin der kühnen und entschlossenen Männer dargestellt wird) und außerdem die Götter selbst einem für sie unverfügbaren Schicksal unterworfen sind, fällt den Menschen selbst die Aufgabe der Sicherheitsgenerierung zu. Im Gegensatz dazu sind bei den antiken Juden Gewissheit und Sicherheit nur von Gott her möglich, was die Menschen allerdings nicht ihrer Verantwortung enthebt; das Schicksal wird als Prüfung durch Gott interpretiert; Gott steht hier, im Unterschied zu den Griechen, über dem Schicksal. 1.1 Athen Im antiken Griechenland wird das Schicksal, die Moira, als unerbittliche Macht apostrophiert, der nicht nur die Menschen, sondern selbst die Götter des Olymps unterworfen sind. So kann es in Bezug auf die Götter keine absolute Gewissheit und damit auch keine stabile Sicherheit geben. Sicherheitsgewinn durch Opfergaben ist nur in begrenztem Umfang möglich – dies nicht nur, weil die Götter launisch sind und von Lastern, Begierden und Trug getrieben werden, sondern auch, weil sie das Schicksal nicht bezwingen können, also nicht allmächtig sind. Gleichwohl sind die Götter potent genug, als entscheidende Lenker der menschlichen Geschicke in Erscheinung zu treten und den Ausgang einer Handlung zu beeinflussen. Sie fungieren damit als ein Einflussfaktor, der in die Berechnung einer Unternehmung einkalkuliert werden muss, und führen den Menschen vor Augen, wie wenig sie sich in Sicherheit wiegen dürfen. Zeus und das Schicksal, in einer wechselvollen Machtbalance stehend, sind letztlich für den Verlauf der Geschehnisse verantwortlich, die der Beeinflussung durch die Menschen entzogen sind. Hinzu kommt, dass die Gunst der Götter ungewiss ist; sie sind dem Menschen nicht gleichbleibend wohlgesinnt, sondern handeln willkürlich und sind damit unberechenbar (vgl. Grant 2004: 58 ff.; Meier 2009). Insofern können die Götter nicht ausgeblendet werden; es sind Investitionen in Form von Opfern nötig, um sie milde zu stimmen, ihre Gunst zu erwerben und sich ihrer Zustimmung zu Handlungen zu versichern. Aber wirklich verlassen kann man sich auf die Götter nicht. Umso wichtiger wird die Deutung der Vorsehung, die in Erfahrung bringen soll, welches Los die Götter den Menschen bestimmt haben. Dafür

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bedarf es bestimmter Techniken der Wahrsage- und Auslegekunst (Mantik), wie das Orakel, die Traumdeutung, die Deutung des Vogelflugs oder das Lesen zukünftiger Ereignisse aus den Eingeweiden geopferter Tiere. Damit gewinnen die Techniken der Mantik als ›prähistorische Form der Risikokalkulation‹ eine besondere Bedeutung: Zwar können sie zum Teil intuitiv erfolgen, doch bedarf es zur sicheren Auslegung des kundigen Fachmanns, der Kenntnisse über zukünftige Geschehnisse zu erlangen versucht und daraus Weisungen für das Handeln ableitet (vgl. Zintzen 1979). Ein Beispiel dafür gibt Homer in der Ilias: »Wieder erhob sich Kalchas, der Thestoride, der weiseste Vogelschauer, der erkannte, was ist, was sein wird oder zuvor war« (Homer, Ilias, 1, 69-70). Ähnlich den Riskoanalysten der Gegenwart, versuchen die Seher im antiken Griechenland eine Risikoabschätzung vorzunehmen, welche i.d.R. darauf hinausläuft, die Menschen vor Leichtsinn und Übermut zu warnen. Freilich ist der Mensch dem Lauf der Geschehnisse nicht vollkommen ausgeliefert: er ist in der Lage, seine Geschicke mitzubestimmen und mitzugestalten. Plastisch wird dieser Umstand an der Figur des Odysseus. Der in der Odyssee geschilderte Menschentyp ist ein Held, der sich durch Klugheit und Erfindungsgabe auszeichnet, den Stürmen des Lebens trotzt und so über die äußeren Umstände triumphiert. Wohl greifen die Götter nach wie vor in den Lauf der Geschehnisse ein, wie in diesem Fall die Odysseus wohlgesonnene Athene, doch hat der Mensch seine Abenteuer selbst zu bestehen und, in moderner Analogie, seine Risiken selber zu tragen sowie für seine Sicherheit zu sorgen. Der Mensch wird durch göttliches Einwirken nicht seiner eigenen Verantwortung enthoben (vgl. Raaflaub 1988: 204). Dementsprechend sind die Götter auch nicht für das von Menschen verschuldete Unheil verantwortlich. Vielmehr trifft ihr Strafgericht denjenigen, der Unrecht getan hat, auch wenn er, wie im Falle des Ödipus eindringlich dargestellt, alles unternommen hat, um das ihm vorhergesagte Unrechttun zu vermeiden. Das führt zu der Idee der antiken Griechen, dass der Mensch potenziell in der Lage ist, seine Geschicke selbst zu meistern und sich dem göttlichen Ideal dadurch anzunähern, dass er seine Persönlichkeit entfaltet – wozu er klug, tapfer und, wenn nötig, listenreich vorgehen muss. Es ist für die Vorstellungswelt der Griechen bezeichnend, dass die Selbstverantwortlichkeit des Odysseus mit einem erheblichen Identitätsgewinn einhergeht: Er ist der Erste, der um sich selbst weiß, wenn er in der Fremde sagt: »Ich bin Odysseus« (Seidensticker 2000). Durch die insbesondere in der Odyssee vollzogene Aufwertung des Verantwortungsgefühls der Menschen, ihrer Umsicht und Selbstbeherrschung sowie dadurch, dass die Mantik durch die aufkommende rationale Philosophie in den Hintergrund gedrängt wird, erfährt die Sicherheitsgenerierung einen ›Säkularisierungsschub‹. Sicherheit steht bei den antiken Griechen aufgrund der »Eigenständigkeit der Einzelnen und der Unmittelbarkeit der Teilhabe am Ganzen« (Meier 2009: 71) sowohl für das subjektive Gefühl der Freiheit von Sorgen als auch für die objektive Dimension des Zusammenhalts und Fortbestands der Polis.

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Seinen Ausdruck findet dieses Sicherheitsverständnis in der aristotelischen Betrachtung des Menschen als ›zoon politikon‹. Der Mensch ist ein auf Gemeinschaft hin angelegtes Lebewesen, das seine Vervollkommnung nur in der politischen Gemeinschaft erfahren kann: Ähnlich wie jedes einzelne Glied des Körpers, auch wenn es eine unersetzbare Funktion besitzt, nicht ohne den Gesamtorganismus existieren kann, ist auch für den Einzelnen, sofern er »nicht autark für sich zu leben vermag« (Aristoteles, Politik, 1253a, 25), die Bindung an das Ganze existenziell. Deshalb wird die Polis von Aristoteles als bedeutendste Form der Gemeinschaft definiert, die alle anderen Vergesellschaftungsformen in sich einschließt. Da die Polis bzw. der Staat des vollkommenen Lebens wegen besteht und das Ziel die Verwirklichung einer guten politischen Ordnung ist, hat sich der Einzelne ihr/ihm unterzuordnen. Nur innerhalb der bürgerschaftlichen Gemeinschaft ist es dem Einzelnen möglich, ein gelingendes und glückseliges Leben zu führen. Der Staat wird damit zum Sicherheitsgaranten für die Eudämonie des Einzelnen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Freiheit des Einzelnen über Gebühr eingeschränkt werden darf. Aristoteles präferiert eine Selbstregierung der Bürger, die auf dem Prinzip des Reihendienstes beruht. Die Selbstregierung der ebenbürtigen Freien und Gleichen garantiert, dass das Staatsziel nicht einer hegemonialen Deutung unterliegt, sondern eine sozialintegrative Wirkung entfalten kann, indem »die Herrschenden die Interessen der jeweils Beherrschten mitberücksichtigen, sich am Gemeinwohl orientieren« (Nippel 1993: 26). Diese Konzeption soll die politische Ordnung der Polis auf Dauer stellen und so Sicherheit und Verlässlichkeit ermöglichen. Dazu bedarf es einer gewissen Regelhaftigkeit des Lebens, wenn die Polis nicht einem der ›politischen‹ Beeinflussung entzogenen Schicksal überlassen bleiben soll. Politik ist für die Griechen also immer auch eine Vergewisserung gegen die Macht des Schicksals. Freilich sind mit dem Kalkül einer stabilen und auf Dauer gestellten Polis Kosten für die politische Gemeinschaft wie für den Einzelnen verbunden. Für die unterschiedlichen Aspekte materieller Sicherheit zu sorgen, ist eine Aufgabe des Einzelnen wie der Polis. Neben die von Aristoteles besonders betonte Selbstgenügsamkeit (›autarkeia‹) tritt die Haushaltsverwaltungskunst (›oikonomia‹). Hierzu gehört (unter anderem) die Erwerbskunst: »Sie muß vorhanden sein oder beschafft werden, damit von den Gütern, die in der Gemeinschaft des Staates oder des Hauses für das Leben notwendig und nützlich sind, diejenigen zur Verfügung stehen, die aufgespeichert werden können« (Aristoteles, Politik, 1256a, 30). Damit gewinnt der Vorsorgegedanke im Sinne der Bekämpfung eines möglichen Mangels bereits hier an Bedeutung. Im Prinzip ist für die physische Reproduktion der ›oikos‹ und nicht die ›polis‹ zuständig: Der Hausherr/Hausvater (›oikoudespotes‹) ist für die Befriedung grundlegender Bedürfnisse verantwortlich. Für den Fall großer Gefahren, fundamentaler Ungewissheiten und Unsicherheit tritt jedoch die Polis ein, und der Verbund der Bürger übernimmt die Aufgaben, die die Leistungsfähigkeit des einzelnen ›oikos‹ übersteigen.

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Materielle Absicherung dient in Bezug auf die Polis jedoch nicht allein der Subsistenzsicherung, sondern wird von Aristoteles als eine Grundvoraussetzung der politischen Teilhabe betrachtet. Aus diesem Grund müssen verarmte Bürger von der Polis unterstützt werden; müssten sie arbeiten, hätten sie keine Zeit, um an den politischen Diskussionen teilzunehmen und wären somit vom politischen Meinungsbildungsprozess ausgegrenzt. Zwar wären diese Bürger immer noch in der Lage, über die Belange, die die Gemeinschaft betreffen, mit abzustimmen, aber ihre Entscheidungen würden nicht mehr auf einem ausgewogenen Urteil beruhen. Zudem hätten die Mächtigen und Reichen dann eine Möglichkeit, die verarmten Bürger zu manipulieren und ihre Stimmen zu kaufen. Darin sieht Aristoteles eine Gefahr für die stabile politische Ordnung, die es zu vermeiden gilt. Daraus erklärt sich Aristoteles Präferenz für die ›mittleren Bürger‹, deren Herrschaft insgesamt ein erhöhtes Sicherheitsniveau hervorbringt (vgl. Münkler 2010b: 82ff.). Konsequenterweise kann zwecks Sicherung der politischen Ordnung nur eine begrenzte Freiheit ökonomischen Agierens zugelassen werden. Die Erwerbskunst allein um des Reichtums willen auszuüben, die sich nur an der egoistischen Nutzenmaximierung orientiert, das Gemeinwohl hingegen ignoriert und keine Grenze kennt, ist für Aristoteles ebenso ein Skandalon wie der Wucher beim Geldverleih. Um eine stabile politische Ordnung zu errichten oder sie zumindest nicht zu gefährden, erkennt Aristoteles dem Ideal der Mitte und des Maßhaltens eine besondere Bedeutung zu (vgl. ebd.). Plädiert er generell dafür, dass eine verfassungstreue Mehrheit vorhanden sei, so liegt das sicherheitsgenerierende Mittel in einer maßvollen Politik auch gegenüber denjenigen, die je nach Verfassung als potenzielle Feinde der bestehenden Ordnung gelten. Modern gesprochen geht es um die Einbindung aller relevanten Kräfte in die politische Ordnung. Dementsprechend favorisiert Aristoteles einen mittleren Besitz der Bürger, der die Extreme, die sich aus Armut und Reichtum ergeben, vermeidet. Aristoteles entwickelt hierfür die Mischverfassung der Politie, die »die Funktion [hat], soziale Gegensätze, welche die politische Stabilität bedrohen, auf der Ebene der politischen Institutionen auszugleichen« (Spahn 1988: 435). 1.2 Jerusalem Im altjüdischen Verständnis ist Gott die höchste Autorität. Er ist allmächtig und erfährt deswegen keine feste Attribution oder Abgrenzung seiner Kompetenzen. Folglich gebietet er über das Schicksal und über die Gewährung oder den Entzug von Sicherheit; nur er kann letztlich Gewissheit und damit absolute Sicherheit garantieren. Das hat seinen Grund nicht vorrangig im Fehlen konkurrierender Götter, die im griechischen Pantheismus den ›Gottesdienst‹ mit einer Fülle von Unwägbarkeiten für die Menschen überzogen haben, unter anderem wegen des gegenseitigen Neides der Götter über die Opfergaben. Doch heißt es auch von dem Gott der Juden verschiedentlich,

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er sei ein ›eifersüchtiger Gott‹. Entscheidend ist die Trias der Funktionalität, die Jahwe in sich vereinigt: er ist Schöpfergott, Richter und König. In ihm sind Legislative, Exekutive und Judikative vereint. Folglich ist keine weltliche Herrschaftsform in der Lage, eine derartige Qualität der Sicherheit zu generieren oder auch nur zu garantieren. Doch nicht nur seine Hegemonie macht diesen Gott als Sicherheitsgaranten attraktiv, die er, »El Schaddai«, der Mächtige (vgl. Malamat 1995: 41), immer wieder unter Beweis stellt: beispielsweise mit der Sintflut, der Intervention gegen den Turmbau zu Babel, als siegreicher Gott gegenüber dem ägyptischen Pharao oder als Unterstützer bei der Eroberung des Landes Kanaan. Ebenso ist die heilige Ordnung, die von Gott ausgeht, positiv aufgeladen und steht für Recht, Gerechtigkeit und Wohlergehen. Gottes hegemonialer Führungsanspruch bleibt somit unangefochten. Er ist ein universeller Gott, der nicht nur über die Völker der Welt gebietet, sondern, wenn schon nicht alleiniger Gott, auch über die Götter der anderen Völker herrscht. Dementsprechend ist auch der Bund, den Gott mit dem Volk der Israeliten geschlossen hat, kein Vertrag zwischen gleichrangigen Vertragspartnern. Die Vertragsbestandteile werden nicht diskursiv ausgehandelt, sondern von Gott oktroyiert und sie sind, da heilig, für die Menschen unveränderbar. Somit setzt die Vertragsannahme durch die Israeliten ihre aktive Unterwerfung und ihren Gehorsam voraus (vgl. Weber 1980: 253). Solange der Vertrag durch die Israeliten eingehalten wird, werden sich die Verheißungen des göttlichen Vertragspartners bezüglich des gelobten Landes, die Garantie des Friedens, des Wohlstands und der Sicherheit erfüllen. Will also das Volk Israel in den Genuss einer solchen Sicherheitsgarantie gelangen, so muss es die rituellen, sakralrechtlichen und sozialethischen Pflichten einhalten, die im Dekalog und dem Bundesbuch festgeschrieben sind. Sobald das Volk sich seiner Unterwerfung widersetzt, die Gebote nicht einhält oder seine Pflichten missachtet, ist die Strafe Gottes unausweichlich, wie es der Prophet Micha (6,9-16) beschreibt: »So schlage auch ich, Mann, dich nun krank, verstarrt deiner Sünden wegen. Wohl issest du, aber du wirst nicht satt, die Faulheit bleibt dir im Innern. Du schwängerst, aber sie kann hervorbringen nicht, bringt sie doch hervor, geb ichs dem Schwert. Wohl säest du, aber erntest nicht, wohl kelterst Oliven du, aber salbst nicht mit Öl, und Most, aber trinkst nicht Wein.« (Buber o.J.: 124)

Gefährdungen der Sicherheit resultieren demgemäß aus dem eigenen schuldhaften Verhalten der Israeliten; sie sind kein Versagen Gottes. Das gilt sowohl für militärische Niederlagen und das babylonische Exil als auch für die Verwerfungen der sozialen Ordnung und die Ungerechtigkeiten. Dennoch ist der Mensch berechtigt, Gott an seine Verheißungen zu gemahnen, wenn sie nicht in Erfüllung gehen und ihn Schicksalsschläge treffen. Das Schicksal fungiert hierbei allerdings als Prüfung Gottes, wie die Figur des Hiob zeigt. Besteht der Mensch die Prüfung und bleibt den Geboten

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treu, dann ist ihm Gottes Heil gewiss – so die Versicherung der Erzählungen vom Handeln Gottes und dem Schicksal seines Volkes. Die Kosten, die vom Gottesvolk, den Hohepriestern als intermediärer Vermittlungsinstanz und den weltlichen Regenten für die Sicherheitsgarantien Gottes zu tragen sind, liegen ausnahmslos in der Einhaltung der göttlichen Gebote und damit in einer Limitierung der möglichen Handlungsoptionen. Daraus erwachsen für die Funktionsträger ebenso wie für das Gottesvolk Aufgaben: Der König ist zwar herausgehobener Repräsentant seines Volkes, kann jedoch nie die Stufe der Vergöttlichung erreichen. Mit seiner Salbung wird lediglich »die göttliche Bestimmung (Designation) der Einzelperson zum Ausdruck« gebracht (Herrmann 1988: 173), womit der König als Garant der göttlichen Ordnung auftritt. Er hat als durchsetzungsfähige Instanz dafür Sorge zu tragen, dass die göttlich gesetzte Rechtsordnung im Alltag anerkannt und eingehalten wird. Verletzt er diese Funktion, so wird er und mit ihm das Gottesvolk zur Rechenschaft gezogen. Ein Beispiel dafür ist König Salomon: Auch er wird als fehlerhafter Mensch dargestellt, ist aber, da er sich an Gottes Gebote hält, mit Weisheit gesegnet und schenkt dem Volk Frieden und Wohlstand und auf diese Weise auch Sicherheit. Ist damit die weltliche Komponente sozialethischer Pflichten zur Absicherung der rechtlichen und materiellen Sicherheit abgedeckt, so bedarf es darüber hinaus der Einhaltung ritueller und sakralrechtlicher Verpflichtungen. Diese Aufgabe kommt den Priestern zu (vgl. Horkheimer/Adorno 1989: 200). Die Priester erfüllen damit die Funktion von Sicherheitsbeamten, die im Auftrag und Interesse der Allgemeinheit tätig sind und von dieser finanziert werden. Durch die peinlich genaue Beachtung der Rituale und Kulte haben sie die Funktion, das Volk zu entsühnen und den Zorn Gottes abzuwenden. Zudem kommt ihnen über die Opfergaben die Aufgabe zu, »eine ›communio‹, eine als Verbrüderung wirkende Tischgemeinschaft zwischen den Opfernden und dem Gott« (Weber 1980: 258) herzustellen. Da die Hohepriester zunehmend an Macht neben dem König gewinnen, immer tiefer in die weltliche Politik verstrickt sind und Gottes Gebote missachten, wird ihre religiöse Sicherheitsfunktion immer wieder infrage gestellt. Diese wird in bestimmten Situationen von den Propheten übernommen, die weder vom König abhängig noch mit den Priestern identisch sind und in Gottes Auftrag auftreten – jedenfalls nehmen sie das für sich in Anspruch. Insofern ist das Wirken der Propheten als Ermahnung zur Einhaltung der von Gott gegebenen Ordnung und damit auch der Stabilität der weltlichen Ordnung zu lesen. Immer dann, wenn gesellschaftliche Verhältnisse ein derartiges Maß an Unsicherheit hervorbringen, dass dies die Ordnung infrage stellt, treten diese Mahner auf. Häufig wiederkehrende Motive sind dabei die soziale Ungerechtigkeit und der Rechtsmissbrauch (vgl. Weber 1980: 268ff.). Propheten können damit als ein konkurrierender Typ des Sicherheitsexperten beschrieben werden: Die gegenwärtige Lage wird analysiert, Ursachen für die katastrophale Konstellation werden benannt und Handlungsempfehlungen zur Gefahrenvermeidung, wie Wohlverhalten und Gerechtigkeit,

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ausgesprochen. Ihre Sicherheitswarnungen besitzen keinen prognostischen Charakter, lassen jedoch zumeist den Weg zur Umkehr offen, da Gott Gnade walten lässt. 2 Dieser Umstand ist bedeutsam, da das gesamte Gottesvolk einen heilsgeschichtlichen Auftrag besitzt: »Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen« (Genesis 12,3). Als Träger der Erwählung kommt dem Gottesvolk somit nicht allein die Sicherung des Alltags zu. Es besitzt darüber hinaus eine Verantwortung für das Heil der Welt und entscheidet darüber durch seinen Gehorsam oder Ungehorsam. Es soll eine Vorbildfunktion für die anderen Völker übernehmen: »Gewöhnt Euch an, Gutes zu tun, fördert das Recht, steht bei den Vergewaltigten, sprecht Recht der Waise, nehmt euch der Witwe an« (Jes 1,18; zit. in Böckler 2002: 453). Damit sind nicht allein Aspekte der Rechtssicherheit angesprochen, sondern ebenso der materiellen Absicherung, wie sie in den unterschiedlichen Geboten des Dekalogs festgeschrieben sind. In diesem Sinn ist auch der Vorsorgegedanke zu lesen, der in der Josephsgeschichte enthalten ist. Dieser Auftrag verweist nicht nur auf eine kollektive Verantwortlichkeit und Solidarität, sondern zugleich auch auf die Eigenverantwortlichkeit des Individuums, das über einen freien Willen verfügt und sich zu entscheiden hat zwischen dem rechten Weg und dem Weg, der ins Verderben führt. Gerade weil es auf den Einzelnen ankommt, findet das Individuum, ähnlich wie in der aristotelischen Konzeption, seine Bestimmung erst in der Erfüllung des Gemeinschaftsauftrags (vgl. Maier 1988: 109, 152). Das Ziel ist die Verwirklichung einer von Gott gewollten sozialen und politischen Ordnung, ein neuer Äon immerwährender Sicherheit, wie er in den Verheißungen des Jesaja beschrieben ist. Sowohl bei den Griechen als auch bei den Juden lassen sich bereits Konzepte zur Vorsorge und zur Herstellung materieller Sicherheit finden. Sie verweisen auf die Verantwortlichkeit des Menschen, für seine Sicherheit zu sorgen, legen die Sorge um Sicherheit aber unterschiedlich an. Beide Sicherheitskonzepte verweisen zudem auf die Bedeutung der Stabilität der jeweiligen politischen Ordnung, um Sicherheit zu erlangen. Athen und Jerusalem unterscheiden sich jedoch hinsichtlich des Weges der Sicherheitsgene-

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Prophetie und Prognose unterscheiden sich in ihrem Status hinsichtlich des Wissens von Zukünftigem auch darin, das die Prognose reines Wissen präsentiert, der Prophetie aber zumeist ein Appell zur Verhaltensänderung innewohnt (vgl. Mayer-Tasch 2000). Zu beachten ist, dass Gott sich jedoch die Entscheidung über die prophetisch angekündigten Entscheidungen vorbehält und gelegentlich durch menschliche Buße dazu gebracht wird, das Angekündigte nicht eintreten zu lassen. Das bringt manchen Propheten zur Verzweiflung und er verweigert, wie Jona, Gott den Dienst (vgl. Ebach 1987). Gegenüber dem Handeln Gottes hat die Prophetie also ein Gewissheitsdefizit.

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rierung: Da es für die Griechen keine Gewissheit gibt, müssen mitunter Wagnisse eingegangen werden, um Sicherheit zu erlangen. Für die Juden hingegen ist Gott der Garant von Sicherheit, und in dieser Gewissheit müssen Wagnisse nicht eingegangen werden. Der Gehorsam ist hier entscheidend. Damit stehen sich eine auf Kalkulation und eine auf Gehorsam beruhende Sicherheitskonzeption idealtypisch gegenüber. Was bleibt, ist die Frage nach der Abwehr und/oder Beherrschung möglicher Gefahren: Was liegt in der Verfügbarkeit des Menschen, und was ist, wenn es um die Generierung von Sicherheit geht, den Menschen unverfügbar, weil es Schicksal ist oder Gottes unergründlichem Wille entspringt? 1.3 Imperium Romanum und ciceronische Philosophie Mit der Durchsetzung der römischen Herrschaft im mediterranen Raum kommt es zu einer folgenreichen Veränderung der Sicherheitserwartungen und der Sicherheitsreichweite. Die ›pax Romana‹ als Legitimationsanspruch wie Gütesiegel der imperialen Ordnung stützt sich auf zwei Leitbegriffe: ›libertas‹ und ›securitas‹, Freiheit und Sicherheit (vgl. Conze 1984: 833f.). Nicht als Oppositionsbegriffe, sondern als Komplementärsemantik (dazu Münkler 2010a; 13ff.) qualifizieren sie die römische Reichsidee; sie avancieren zum Maßstab, an dem das Funktionieren des Imperium Romanum gemessen werden kann. Sicherheit und Freiheit sind jedoch gleichermaßen durch die moralische Degeneration der Kaiser bedroht, die in geistiger Verwirrung oder sittlicher Verwahrlosung ihrer Willkür freien Lauf lassen und dadurch die ökumenische Ordnung des Reichs in Gefahr bringen. Der Tod dieser Kaiser wird von den Historikern der imperialen Ordnung dementsprechend als Wiederherstellung von Sicherheit und Freiheit begriffen. So feiert Tacitus das Ende des Kaisers Domitian als Wiederkehr der privaten und öffentlichen Sicherheit, während Plinius wiederum Frieden und Sicherheit zusammenrückt. Sicherheit, ›securitas‹, wird zur Personifikation der politischen Stabilität (vgl. Schrimm-Heins 1991: 139f.). Die in Münzen der römischen Kaiserzeit symbolisierte ›pax Romana‹ ist Sicherheitsversprechen und Freiheitsgarantie in einem. Seinen konkreten Niederschlag findet dies in einer Rechtsordnung, die für sich in Anspruch zu nehmen jedem römischen Bürger offensteht. Für den Genuss von Sicherheit und Freiheit ist also der Bürgerstatus ausschlaggebend, wobei es zur Geschichte des Imperium Romanum gehört, dass dieser Bürgerstatus immer stärker ausgeweitet wird und zuletzt ökumenischen Charakter besitzt. Die imperiale Sicherheitszusage Roms unterscheidet sich von der Athens oder Jerusalems also in zweierlei Hinsicht: Sie ist wesentlich nicht exklusiv, sondern inklusiv, und sie gründet sich weniger auf politische Partizipation oder religiöse Praktiken, als auf rechtliche Regelungen, die eine bemerkenswerte Selbständigkeit gegenüber politischer Partizipation und religiösen Praktiken erlangen. Die juridisch fundierte Verbindung von Sicherheit und Freiheit, wie sie in Rom entwickelt wurde, ist für moderne Verfassungen paradigmatisch geworden.

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Die Gültigkeit dieser Rechtsordnung, d.h. die Möglichkeit ihrer Inanspruchnahme und die Sicherstellung ihrer Zuverlässigkeit, ist im imperialen Frieden garantiert, der wiederum durch den Kaiser verbürgt wird. Fußt die griechisch-politische Vorstellung von Sicherheit immer auf einem Element des Agonalen, so gründet sich die römisch-juridische Sicherheitskonzeption auf die Vorstellung eines Verzichts auf eigenes Tun und setzt stattdessen ein großes Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Rechtsprechung bzw. des rechtsgemäßen administrativen Handelns der Beamten. Im römischen Verständnis resultiert Sicherheit aus der Stabilität der politischen Verhältnisse. Bei der Durchsetzung dieser Vorstellung im augusteischen Zeitalter hat die Erinnerung an die vorangegangenen Jahrzehnte des Bürgerkriegs und der revolutionären Umwälzungen als Epoche erhöhter Unsicherheit eine zentrale Rolle gespielt. Ruhe und Sicherheit, ›tranquilitas et securitas‹, gehen nunmehr Hand in Hand. Die Epoche erhöhter Unsicherheit vor der Durchsetzung des augusteischen Friedens hat freilich zu einem intensivierten Nachdenken über die Merkmale bzw. Eigenschaften von Sicherheit geführt, wobei der Redner und Popularphilosoph Marcus Tullius Cicero das bis heute vorherrschende Verständnis von Sicherheit geprägt, wenn nicht ›erfunden‹ hat (vgl. Makropoulos 1995: 746; Schrimm-Heins 1991: 133ff.). Für Cicero ist Sicherheit die Freiheit von Angst und Sorge: »Securitas nunc appello vacuitatem aegritudinis, in qua vita beata posita est« (Cicero, Disp. Tusc. V, 14, 21). Bei dieser Definition orientiert sich Cicero an dem epikureischen Begriff der ›ataraxia‹, womit ein Seelenzustand des Freiseins von Triebhaftigkeit und Erregung gemeint ist, und verbindet dies mit dem stoischen Konzept der ›apatheia‹, der Leidenschaftslosigkeit, sowie Demokrits Vorstellung von der ›euthymia‹, der Heiterkeit und Gelassenheit. Seneca hat die Vorstellung der ›euthymia‹ als ›tranquilitas animi‹ übersetzt und diese als Komplementärbegriff zu ›securitas‹ positioniert. Bei dem Begriff der ›securitas‹ handelt es sich also um einen von Cicero geprägten Neologismus, in dem er zunächst den Seelenzustand der Sorglosigkeit (se = sine-cura) zum Ausdruck bringen wollte. Die ciceronische Begriffsprägung bezeichnet somit eine Seelenhaltung, die wesentlich dem Philosophen eigen ist und an der sich die anderen orientieren können. Sie bringt weiterhin eine Abwendung von bzw. Distanz zu den Händeln des politischen Betriebs wie des städtischen Lebens zum Ausdruck, die sich auch räumlich im Rückzug in die Villa auf dem Lande und das der Betrachtung gewidmete Leben (›vita contemplativa‹) manifestiert, das bevorzugt in der Zurückgezogenheit des Landes möglich ist. Diese Vorstellung findet sich noch in der Benennung seines Potsdamer Lustschlosses Sanssouci durch den Preußenkönig Friedrich II. Fragt man nach den Figurationen von Sicherheit und Risiko, die in dieser Begriffsbildung und ihrer Durchsetzung zum Ausdruck kommen, so reflektiert sich darin eine Selbstbeschreibung der politischen Klasse Roms, nachdem das Projekt eines konkurrenten Strebens nach Ruhm und Ehre als

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Antriebsmoment des Dienstes für die ›res publica‹ in einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg umgeschlagen war. Mit der Zusammenführung der Macht in den Händen des Augustus korrespondiert die Einwilligung in diese Neulagerung der Macht seitens der bisherigen politischen Klasse, die sich entweder aus der Politik zurückzieht oder in eine administrative Klasse verwandelt. Als Gegenleistung für diesen Verzicht garantiert der Kaiser ›tranquilitas et securitas‹, Ruhe und Sicherheit. ›Securitas‹ bezeichnet hier also die figurative Gegenposition zu ›ambitio‹, Ehrgeiz und Ruhmesstreben, die bislang die Psychodynamik der römischen Elite geprägt hatte. Das politische Programm des Kaisers Augustus beschränkt sich jedoch nicht darauf, ›securitas‹ als Kompensation für den Verzicht auf ›ambitio‹ zu lancieren, sondern läuft programmatisch darauf hinaus, Ciceros elitäre Sicherheitsvorstellung zu verallgemeinern und Sicherheit als kollektives Gut, das durch den Frieden innerhalb des Reichs verbürgt wird, möglichst vielen Reichsbürgern zugänglich werden zu lassen. Dazu muss die Sicherheitsgenerierung aus einer wesentlich individuellen in eine politische Veranstaltung umgewandelt werden. Während die Herstellung äußerer, physischer Sicherheit immer ein Wert bleibt, der nicht in Zweifel gezogen wird und bei dem nur in Frage steht, ob er in hinreichendem Maße verwirklicht werde, wird über den Nutzen der inneren Sicherheit, der Sorglosigkeit, sehr bald gestritten: Schon bei Seneca tut sich ein negatives Konnotationsfeld auf, indem von einem Zustand falscher Sicherheit, einem ›Sich-allzu-sicher-Fühlen‹ die Rede ist. Sicherheit birgt die Gefahr einer Selbsttäuschung über die tatsächliche Lage und wird damit zu einem Zustand unbegründeter und insofern gefährlicher Sorglosigkeit. Der Spannungsverlust, der mit einer um sich greifenden Sorglosigkeit einhergeht, führt zum Wiedereintritt der Gefahr in die politische Arena. Seneca hat als Erster die zuvor unbestrittene Opposition von Sicherheit und Gefahr in Zweifel gezogen und die Wiederkehr des Gefährlichen in der Ummantelung der Sicherheit ins Auge gefasst. An diesen Gedanken hat der Kirchenvater Aurelius Augustinus anknüpfen können, als er trügerische Sicherheit und Gottesfurcht als einander entgegengesetzte Haltungen des Christen bezeichnete: Während sich der Eine in trügerischer Sicherheit wiegt, weiß der Gottesfürchtige, dass es eine solche Sicherheit um des Seelenheils willen nicht geben darf. Augustinus hat den zunächst politischen Diskurs über Nutzen und Nachteil von Sicherheit als Sorglosigkeit/Sorgenfreiheit ins Religiöse gewendet und damit ein weiteres Mal entpolitisiert: An die Stelle der Selbstzerstörung einer politischen Ordnung durch Ruhe und Sicherheit tritt der Verlust des Seelenheils und des Verspielens der Erlösung durch religiöse Nachlässigkeit.

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2. D AS M ITTELALTER : DIE W IEDERKEHR DER U NSICHERHEIT , DIE G EWISSHEIT DES H EILS UND DIE ANFÄNGE DES V ERSICHERUNGSWESENS 2.1 Wiederkehr der Unsicherheit Mit dem Untergang des Römischen Reichs im Westen zerfielen auch die mit ihm verbundenen Sicherheitsstrukturen. Das Leben in der frühmittelalterlichen Welt der germanischen Königreiche war unsicher und gefährlich, vor allem auf den Wegen und Straßen (vgl. Borst 1973: 61ff., 146ff.). Die Herrschaftsordnung, die aus dem Zerfall der imperialen Ordnung hervorgegangen ist, bleibt regional oder lokal begrenzt. Für alle, die Reisen über größere Entfernungen antreten müssen, ist es ratsam, bewaffnet und in Gesellschaft mit anderen zu reisen, um sich bei Überfällen zur Wehr setzen zu können. Die Heldenepik des Mittelalters kann als ein einziger großer Bericht über die Gefährlichkeit des Lebens außerhalb der schützenden Burgmauern gelesen werden (vgl. Bonß 1995: 117ff.). Gleichzeitig macht sie aus der Not eine Tugend und berichtet von der Bewährung des Kämpfers in einer unendlichen Abfolge von Abenteuern. Unsicherheit und Gefahr werden hier narrativ in Abenteuer verwandelt, die von den Tapferen und Gottesfürchtigen mit Bravour bestanden werden. 3 Bis heute ist das Abenteuer ein Narrativ, mit dem in der Literatur bzw. im Film Unsicherheit und Gefahr bewältigt werden. Mit der narrativen Transformation der Gefahr in das Abenteuer verbunden ist die Entwicklung eines ritterlichen Ethos, demzufolge sich der Held immer wieder neuen Gefahren zu stellen hat. Wer ihnen aus dem Weg geht, indem er die sichere Burg nicht verlässt, verliert Ehre und Anerkennung (vgl. Eifler 1970). Solche Formen der Unsicherheitsbewältigung mögen literarisch attraktiv sein; für die Entwicklung gesellschaftlichen Lebens und wirtschaftlichen Austauschs sind sie jedoch wenig förderlich. Um gesellschaftliche Bindungen und ökonomische Prosperität zu fördern, beginnen die Herrscher mit der Ausstellung von Schutzversprechen, die Angreifer und Gewalttäter mit schweren Strafen bedrohen. Solche Schutzversprechen werden bevorzugt an die Personen ausgestellt, die der Unsicherheit der Wege und Straßen in besonderem Maße ausgesetzt sind: Pilger, Kaufleute und Scholaren. Zugleich versuchen sie, wenn sie schon nicht die Sicherheit ganzer Landstriche zu garantieren vermögen, die Sicherheit bestimmter Straßen (›sicheres Geleit‹), Orte und Märkte zu gewährleisten. Aber auch dies ist zunächst nicht über

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Eine diachrone Darstellung des Abenteurers und der Reflexion des Abenteuers in Literatur und politischer Theorie bietet aus einer marxistischen Sicht Nerlich (1977). Bis auf Weiteres handelt es sich dabei um die gründlichste und am breitesten angelegte Studie zu diesem Themenfeld.

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das ganze Jahr möglich, sondern beschränkt sich auf bestimmte Zeiten, etwa sakral herausgehobene Zeiträume oder die Zeit der großen Messen, zu denen sich Händler und Kaufleute treffen, um Waren zu tauschen und Schuldverschreibungen einzulösen. Kaiser Friedrich I. etwa garantiert in seinem Scholarenprivileg sichere Wohnungen für Studenten und Professoren, was eine Voraussetzung dafür ist, den Austausch des Wissens über den engen Umkreis der Klöster und ihrer Bibliotheken hinaus in Gang zu bringen (vgl. Contze 1984: 835). Aber solche Sicherheiten sind räumlich und zeitlich sowie personell limitiert; allein die kirchliche Liturgie sorgt dafür, dass die Vorstellung von einer allgemeinen Sicherheit nicht verschwindet oder in die Pluralität personaler Sicherheiten aufgelöst wird. Erst mit dem Wiederaufleben der Städte in Mittel- und Westeuropa im 12. und 13. Jahrhundert kommt es zu einer räumlichen wie zeitlichen Ausweitung der Sicherheitsräume. Was zuvor nur Burg- und Klostermauern vermochten, leisten nun auch Stadtmauern, die einen sehr viel größeren Raum der Sicherheit schaffen und deren Schutz nicht exklusiv auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist. Mit dem Wachstum der Städte wird die Sicherheit über den Schutz hinaus erweitert, den die Herrschaftsträger ihren Untertanen gewähren. In den Städten wird Sicherheit nämlich wieder zu einem kollektiven Gut. Dennoch gilt insgesamt: Im Mittelalter war Sicherheit ein funktionaler Effekt der Ummauerung, und diese Vorstellung lebt im Symbolhaushalt unserer Sicherheitsimaginationen bis heute fort. 2.2 Gewissheit des Heils Im Anschluss an die Bedenken des Augustinus gegenüber einer zu Sorglosigkeit führenden innerlichen Sicherheit hat die mittelalterliche Theologie Sicherheitsgefühle bezüglich Heil und Erlösung ausgesprochen negativ akzentuiert und sie mit dem Begriff der ›acedia‹, der Trägheit im geistlichen Sinn, belegt. Insofern solche Sicherheitsvorstellungen vorzugsweise bei denen ausgeprägt sind, die sich einer religiös bestimmten Lebensführung befleißigen, ist ›acedia‹ auch als ›Mönchsträgheit‹ übersetzt worden: Sie steht für eine notorische Nachlässigkeit in der Sorge um das eigene Seelenheil. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich bereits in der Spätantike die semantische Unterscheidung zwischen Sicherheit und Gewissheit, ›securitas‹ und ›certitudo‹. Letzteres ist eine Begriffsprägung christlicher Autoren, die, wie Augustinus und vor allem Papst Gregor der Große, in Fragen des Seelenheils Hoffnungsgewissheit gegen Erwähltheitsgewissheit absetzen wollen (Schrimm-Heins 1991: 143ff.). Furcht und Hoffnung, so Gregor, müssten in geistlichen Angelegenheiten gemischt sein, um Nachlässigkeiten bei der Sorge für das Heil der Seele zu unterbinden. Tatsächlich jedoch hat die institutionelle Kirche während des Mittelalters immer wieder für sich in Anspruch genommen, solche Heilssicherheit gegen entsprechende Gegenleistungen, von den Kriegstaten der Kreuzfahrer bis zum Kauf von Ablassbriefen, distribuieren zu können. Gleichzeitig ist

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die Geschichte der christlichen Kirche während des Mittelalters durch eine lange Abfolge reformatorischer bzw. ketzerischer Bewegungen gekennzeichnet, die gegen solche Praxen machtpolitischer wie geldmobilisierender Kapitalisierung von Heilssicherheit rebellieren. Der ›arme Mann‹ macht den Reichen und Mächtigen deren angeeignete bzw. gekaufte Sicherheit mit theologischen Argumenten streitig. Wenn schon nicht, wie in manchen franziskanischen Predigten, die Armut selbst eine Sicherheit in Fragen von Heil und Erlösung darstellt, dann soll wenigstens die Unsicherheit über den Status nach dem Tode egalitär verteilt sein und kein weiteres Privileg der Reichen und Mächtigen darstellen. So verbinden sich die seit dem Spätmittelalter vermehrt auftretenden Rebellionen gegen die sozio-politische Ordnung mit theologischen Debatten über die Sicherheit bzw. Gewissheit von Heil und Erlösung. Der folgenreichste Widerspruch gegen die kirchlichen Praxen monetarisierter Distribution von Heilssicherheit stammt von Martin Luther, der Heilssicherheit als eine verderbliche Haltung begreift, weil sie den beständigen Kampf gegen die Sünde als unnötig erscheinen lässt, wohingegen für ihn Heilsgewissheit mit dem Glauben an Jesus Christus identisch ist (vgl. Schrimm-Heins 1991: 189ff.). Der Wiederaufnahme der Augustin’schen Gewissheitsfrage bei Luther liegt also kein erkenntnistheoretisches, sondern ein theologisches, um nicht zu sagen seelsorgerliches Interesse zu Grunde. Deswegen gelten die Angriffe des Reformators gegen die (aristotelische) Philosophie auch nicht dieser an sich, sondern zielen auf ihre hegemoniale Stellung in der Theologie, seitdem Thomas von Aquin Theologie und Philosophie in eine Verbindung gebracht hat, in deren Folge philosophische Erkenntnisgewissheit in theologische Heilssicherheit überführt worden ist (vgl. Gilson 1950). Luther dagegen besteht darauf, dass das menschliche Erkenntnisvermögen gegen die göttliche Wahrheit bloße Torheit sei, und spätestens seit den 1530er Jahren achtet er auf eine präzise terminologische Unterscheidung zwischen ›securitas‹ und ›certitudo‹, zumal er sich der etymologischen Herkunft von ›securitas‹ aus dem semantischen Feld der Sorglosigkeit bewusst ist (vgl. Schrimm-Heins 1991: 207f.). Nicht durch eigenes Tun und Lassen ist der Mensch, Luther zufolge, in der Lage, seiner Sorge(n) Herr zu werden, sondern allein indem er diese Gott anheim stellt. Die Beschäftigung mit der Sorge (›Frau Sorge‹) wird im Anschluss an Luther zu einem festen Bestandteil der protestantischen Homiletik (vgl. Kranz 1995: 1086f.). Hinter diesen theologischen Fragen stehen freilich Probleme, die Selbstverständnis und Handlungsmächtigkeit der hoch- und spätmittelalterlichen Gesellschaft als Ganzes betreffen. Allgemein formuliert: Infolge der starken theologischen Imprägnierung sperrt sich das mittelalterliche Denken gegen die Freigabe von Ereignissen an den Zufall; es lässt, mit anderen Worten, keinen Raum für Kontingenz, und demzufolge sind ihm auch kognitive Strategien der Kontingenzbewältigung fremd. Fortuna gilt, wie in Dantes Divina Comedia (vgl. Doren 1924), als die Schaffnerin Gottes, und insofern ver-

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birgt sich hinter ihrer Willkür die Unergründlichkeit des göttlichen Willens. Wer auf den Gang der Ereignisse Einfluss gewinnen will, ist gut beraten, wenn er sich nicht mit den Launen des Glücks, sondern mit dem Ratschluss Gottes beschäftigt und im Falle eines Unglücks (von Krankheit und Seuchen bis zu militärischen Niederlagen) nach Verantwortlichen Ausschau hält, die durch ihr sündhaftes Verhalten für dieses als Strafe interpretierte Unheil verantwortlich gemacht werden können (vgl. Brunold 2011: 65ff.). Die Formen der Unheilsvermeidung bzw. die Bemühungen zur Beendigung von Seuchen reichen dementsprechend von individuellen Bußübungen bis zu kollektiven Pogromen, die sich gegen Gruppen und Minderheiten richten, die man für Unglück und Unheil verantwortlich macht. Die zahllosen Judenpogrome der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften gehören in diesen Kontext. 2.3 Anfänge des Versicherungswesens Die Entdeckung der Kontingenz als Einspruch und Alternative zu einer providentiell geordneten Welt und deren Geschehen vollzieht sich, was den praktischen Umgang damit anbetrifft, im kommerziellen Bereich, bevor sie in der Theorie dann auch für die Ordnung des Wissens bedeutsam wird. Es kommt nicht von ungefähr, dass Seefahrt und Seehandel die Felder sind, in denen sich erstmals Zufall und Glück aus der Einbettung in die göttliche Providenz befreien und als etwas auftreten, das weder notwendig noch unmöglich ist (so die im Anschluss an Aristoteles vorgeschlagene Definition von Kontingenz bei Makropoulos 1990: 409). Bereits Epikur hat die Metaphorik des Nautischen genutzt, um dem Unberechenbaren und Willkürlichen einen Platz im Denken zuzuweisen. Vor allem der Weg aufs Meer wird immer wieder als Grenzverletzung und der Schiffbruch als Folge dieser Grenzüberschreitung begriffen (vgl. Blumenberg 1979: 9ff.). Im antiken und mittelalterlichen Denken wird die Seefahrt zum Inbegriff von Kontingenz: Sie ist Glückssuche, weil hier sehr viel höhere Gewinne zu erzielen sind als in dem sich auf Wegen und Straßen vollziehenden Handel, und zugleich ist sie eine Herausforderung des Glücks, weil die Gefahren des Seehandels infolge der Stürme und Riffe sehr viel größer sind als bei allen anderen wirtschaftlichen Aktivitäten (vgl. Makropoulos 1990). Hier kommt die zweite der oben angesprochenen etymologischen Ableitungen von Risiko ins Spiel, die vom ital. ›rischiare‹, in dem das griech. ›rhiza‹ (= Klippe) enthalten ist, so dass die ursprüngliche Bedeutung von ›rischiare‹ wohl »Klippe umsegeln, sich den Klippen aussetzen« gewesen ist (vgl. Rammstedt 1992: 1046). Die ersten Strategien der Berechnung und Beherrschung von Kontingenz entwickelten sich dementsprechend in der Seeversicherung, wo der Geist der Rechenhaftigkeit dem Wagnis der Gefahr gegenübertritt und dieses Wagnis auf der Basis erfahrungsgestützter Kalküle handhabbar macht. Der sich von Italien aus in West- und Mitteleuropa ausbreitende Begriff des Ri-

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sikos transportiert eine doppelte Bedeutung: Die Gefahr im Sinne des zu vergegenwärtigenden Schadens bei einem Fehlschlag oder dem Scheitern des Vorhabens und das Wagnis als die zu vergegenwärtigende Ungewissheit des Ausgangs der Unternehmung (ebd.). Können die Kaufleute beim Handel auf Wegen und Straßen von der verantwortlichen Obrigkeit erwarten, dass sie für (relative) Sicherheit sorgt, indem sie gegen Räuber und Wegelagerer vorgeht (was sie, da sie an den Zoll- und Steuereinnahmen aus dem Handel interessiert ist, auch in wachsendem Maße tut), so sind derlei Erwartungen im Seehandel sinnlos – ausgenommen davon ist das Problem der Piraterie, aber deren Bekämpfung ist nur Mächten mit einem raumübergreifenden Ordnungsanspruch und entsprechenden maritimen Fähigkeiten möglich. Den italienischen Seerepubliken Venedig und Genua fällt die Aufgabe zu, die Piraterie zu bekämpfen und so die Sicherheit der Seefahrt zu erhöhen. Unwetter und Untiefen freilich bleiben ein Problem, dem mit machtpolitischen Mitteln nicht beizukommen ist. Da die Seehandelskaufleute ihre Wetter und Untiefen betreffenden Sicherheitserwartungen nicht delegieren können, müssen sie nach eigenen Antworten suchen, und daraus entwickelt sich das Versicherungswesen (vgl. Kellenbenz 1986: 303ff.). Dabei kollidiert die Seeversicherung zunächst jedoch mit dem kanonischen Wucherverbot, das jede Form des Zinsnehmens unter Strafe stellt und mit ewiger Verdammnis bedroht. Zahlreiche Fresken italienischer Kirchen bilden sogenannte Wucherer ab, die wegen ihres Tuns der ewigen Verdammnis überantwortet werden. In einer providentiellen Weltsicht gelten Vorsorgetechniken, die auf Zins und Versicherung setzen, als frevelhaft und als Versuchung Gottes. So wird das zunächst praktizierte Seedarlehen, das sich als ›foenus nauticum‹ aus der antiken Rechts- und Handelstradition herleitet (vgl. Schuster 2005) und bei dem es darum geht, das Risiko der Seefahrt auf einen Darlehensgeber zu übertragen, der dafür einen hohen Zinssatz von 25 bis 30 Prozent erhebt, unter Verweis auf das Wucherverbot untersagt. In Reaktion darauf entwickelt sich der Seeversicherungsvertrag, der allein der Risikoübernahme ohne eigene Gewinnabsicht dient (vgl. Mahr 1989: 712f.). Als erstes heben die Genuesen in den 1360er Jahren das Verbot der Seeversicherung auf, und im 15. Jahrhundert hat jeder Genuese oder in Genua lebende Fremde das Recht, Handelsware zu versichern. Das führt zu einer Minderung der auf den Einzelnen entfallenden wirtschaftlichen Risiken, senkt dadurch den Kapitalzins, erhöht die unternehmerische Initiative und führt zu längeren Planungsperioden in den wirtschaftlichen Unternehmungen. Der Aufschwung des Handels und der wirtschaftlichen Aktivität ist durch die Anfänge des Versicherungswesens entscheidend begünstigt worden. In den Handelsstädten sind sehr bald eigene Behörden für die Überwachung des Versicherungsbetriebs verantwortlich, und diese sorgen schließlich für die Verschriftlichung der Versicherung in Gestalt der Police. Durch die Kombination mehrerer Versicherungen wird es möglich, eine größere Risikostreuung zu erreichen, während die Kaufleute wiederum die Praxis

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entwickeln, nur einen Teil der Waren zu versichern, um so ihre Gewinne zu erhöhen. Sie kalkulieren die Risiken und entwickeln Strategien, in denen sie das Eingehen und Vermeiden von Risiken miteinander mischen (vgl. Kellenbenz 1986: 304). Es sind der Seehandel und die Seeversicherung, die zu neuen Bearbeitungsformen der Ungewissheit führen und im Begriff des Risikos als einer operativen Kategorie gipfeln. Eine Theorie der Kontingenz findet sich hingegen erstmals in Niccolò Machiavellis Principe, in dem Machiavelli auch über den Einfluss der Fortuna auf das menschliche Handeln nachgedacht hat. Er vergleicht antike und zeitgenössische Entwicklungen miteinander und kommt zu dem Ergebnis, dass Fortuna zur Hälfte den Gang der Ereignisse bestimme. Machiavelli will dies aber keineswegs als Grund zur Resignation gegenüber der Kontingenz verstanden wissen, sondern denkt über Strategien der Kontingenzbegrenzung nach. Zunächst müssen ein kluger Politiker und seine Berater in der Lage sein, zwischen notwendigen und zufälligen Ereignissen zu unterscheiden, wozu das gründliche und vergleichende Studium der Geschichte befähigt. Wer hingegen ›necessitas‹ und ›fortuna‹ nicht auseinanderhalten kann, ist im Spiel der politischen Mächte verloren (vgl. Münkler 1982: 302ff.). Auch die Macht der Fortuna lässt sich vorbeugend durch gute Gesetze und gute Institutionen begrenzen. Wo auch dies nicht mehr hilft, so Machiavellis Rat, ist ein entschlossenes, ja geradezu draufgängerisches Handeln gegenüber Zögerlichkeit und Bedächtigkeit zu bevorzugen, denn Fortuna sei ein Weib und sie liebe die jungen Männer (Machiavelli, Principe, Kap. 25). Man müsse sie darum schlagen und stoßen und dürfe ihren Launen keinen Raum geben (vgl. Brunold 2011: 81ff.). Machiavelli setzt also auf ein politisches Risikomanagement, das im Umgang mit dem Kontingenten seinerseits von Elementen der Überraschung und der Unberechenbarkeit durchzogen ist und vor gewaltsamen Mitteln nicht zurückschreckt. Nicht zuletzt durch den Verweis auf die Macht der Fortuna rechtfertigt Machiavelli den von ihm gutgeheißenen Gebrauch der Gewalt. Es ist vor allem die Entdeckung der Kontingenz des politischen Geschehens, die bei Machiavelli zum Bruch mit dem humanistischen Diskurs seiner Zeitgenossen führt, insofern diese weiterhin der Überzeugung folgen, dass gute Absichten zu guten Wirkungen führen (vgl. Münkler 1987: 42ff.). Vor allem die Entdeckung der Kontingenz politischer Ereignisse hat Machiavelli dazu veranlasst, die Differenz zwischen Intentionalität und Funktionalität des Handelns herauszustellen und die Orientierung an letzterem zum Imperativ guter Politik zu machen.

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3. V ERSICHERUNGSWESEN , T ERRITORIALSTAATLICH KEIT UND S OUVERÄNITÄTSLEGITIMATION DURCH V ERTRAG Machiavellis brachiale Antwort auf die Herausforderung durch den Zufall konnte auf Dauer ebenso wenig zufriedenstellen wie die intuitiven Kalküle der Kaufleute. Indem sich die Mathematik des Risikokonzepts annahm, brachte sie begrenzte Formen der Antizipation in das prinzipiell Kontingente ein, etwa in Gestalt der Stochastik oder der Wahrscheinlichkeitstheorie, in deren Folge die binäre Gegenüberstellung von Sicherheit und Gefahr, Gewissheit und Ungewissheit aufgelöst und durch eine Reihe von Hybriden dynamisiert wird: Es gibt unterschiedliche Grade von Gewissheit, und je größer die Anzahl gleichartiger Ereignisse ist, desto zuverlässiger lässt sich die Wahrscheinlichkeit des Ereigniseintritts prognostizieren. Mit Blick auf das Erfordernis der Gleichartigkeit eines Ereignisses kommt es nicht von ungefähr, dass die ersten Wahrscheinlichkeitskalküle auf der Grundlage von Spielsituationen entwickelt wurden, wobei vor allem der Fall des Würfels den Anforderungen der Gleichartigkeit genügt (vgl. Bonß 1995: 132ff.; Bernstein 2004: 55ff.). 3.1 Ausgestaltung des Versicherungswesens Der mathematische Umgang mit Kontingenz, mit dessen ständiger Verfeinerung sich das Versicherungswesen weiterentwickelt, setzt nicht auf Kontingenzvermeidung, sondern auf Kontingenzmanagement. Risiko wird hier nicht als das nach Möglichkeit zu Vermeidende begriffen, sondern man sucht Risiken zu nutzen, indem man sie berechnet und damit handhabbar macht. Die Versicherung kann als eine Technologie unvermeidlicher oder systematisch eingegangener Risiken begriffen werden, wobei ein langer Weg von den ersten Anfängen der Seeversicherung über die Feuerversicherung bis zu der zunächst noch unter religiösem Vorbehalt stehenden Lebensversicherung führt: Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte man in einigen Ländern darauf bestanden, dass nur Güter und Waren, nicht aber das Leben von Menschen versicherungsfähig sei. Einmal mehr zeigt sich hier, dass die Ausbreitung von Techniken des Kontingenzmanagements auf eine Zurückdrängung von Glaubensgewissheiten hinausläuft. Sobald dies den religiösen Instanzen klar geworden ist, suchen sie Grenzen zu ziehen, die von den fortschreitenden Technologien menschlicher Selbstbehauptung nicht überschritten werden sollen. Man kann hier von einer Konkurrenz zweier Typen der Gewissheit sprechen, die aber auch komplementär miteinander verbunden werden können. Die Entwicklung immer neuer Versicherungen findet jedoch nicht nur in Auseinandersetzung mit den religiösen Autoritäten statt, sondern auch in Konkurrenz zu den sozial gewachsenen, in der Lebenswelt der Menschen

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tief verankerten Solidaritätsverbänden, wie den Familien bzw. Verwandschaftsordnungen oder auch kommunalen bzw. ständischen Treugemeinschaften, bei denen Solidarität und gegenseitige Unterstützung bisher angesiedelt waren. Man kann diese Entwicklung dahingehend beschreiben, dass die »moralische Ökonomie« der alten Gesellschaft, bei der Hilfe in Gefahr und Not an den Grad sozialer Nähe gekoppelt war (vgl. Thompson 1980: 66ff.; Levi 1986: 42ff., 75ff.), schrittweise durch eine merkantile Ökonomie abgelöst wird, in der mittels Markt und Vertrag der Zufall gebändigt und in ein System der Risikoabsicherung verwandelt wird: In der Versicherung stehen Menschen füreinander ein, die nichts miteinander zu tun haben, die sich weder kennen noch füreinander interessieren, sondern die bloß über die Wahrscheinlichkeitskalküle des Schadensfalles miteinander verbunden sind. Versicherungen setzen auf die Ablösung verwandtschaftlicher bzw. traditionaler Solidarität durch ein rationales Arrangement von Eigeninteressen. Das Versicherungswesen hat den Zerfall herkömmlicher Sozialbeziehungen sicherlich beschleunigt, aber es hat die Auflösung dieser Beziehungen, die mit dem sozialen Wandel einhergeht, zugleich abgefedert und erträglich gemacht. Die Entwicklung der Versicherung und der Prozess der Individualisierung gehen Hand in Hand, insofern die Versicherung die Risiken der sozialen Entkopplung, den Verlust an Sicherheit durch die Verabschiedung aus dem Schutz wie den Zwängen der Familie, auffängt. Die Ordnung der Verwandtschaft wird durch eine berechenbar gemachte Kontingenz abgelöst. Die versicherungsmathematisch eingeholte Kontingenz, in der die Absicherung des Einzelnen das Ergebnis aufsummierter Egoismen ist, ist einer der vielen Schritte bei der gesellschaftlichen Umstellung von Tugend auf Interesse, die in sozialethischer Hinsicht den Übergang von vormodernen zu modernen Gesellschaften markiert. Bei dieser Entwicklung spielt die Zwangsgewalt des Staates eine beachtliche Rolle, insofern sie in einer Reihe von Fällen die zunächst freiwillige Form der Versicherung in eine Pflicht- bzw. Zwangsversicherung umwandelt. Paradigmatisch hierfür ist die Feuerversicherung, bei der die Kontingenz des Schadensfalles nur handhabbar ist, wenn sämtliche Hauseigentümer einer Stadt zum Abschluss einer Versicherung gezwungen werden können, da aufgrund der Bauweise in den Städten Brände schnell auf Nachbargebäude übergreifen und häufig ganze Straßenzüge ein Opfer der Flammen werden. Indem die Obrigkeit Pflichtversicherungen durchsetzt, ermöglicht sie den Einsatz von Immobilien zur Absicherung von Krediten (seit dem 18. Jahrhundert können Häuser beliehen werden, jedoch nur dann, wenn sie gegen Feuer versichert sind) und trägt so zu einer Kapitalmobilisierung bei, in deren Folge die frühneuzeitliche Gesellschaft die Grundlagen für die Entstehung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise legt. Gleichzeitig sorgt sie durch entsprechende Bauvorschriften (wie bspw. das Bedecken der Dächer mit Ziegeln anstatt mit Stroh) dafür, dass die Wahrscheinlichkeit von Bränden bzw. die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines Brandherdes erheblich vermindert wird. Insofern sorgen die Kalkulationen der Versiche-

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rungen nicht nur für eine möglichst breite Verteilung der Kosten von Schadensfällen, sondern nehmen auch Einfluss auf die Entwicklung und Durchsetzung von Sicherheitsdispositionen, durch die das Risiko des Schadensfalles real gesenkt wird. Durch die Beleihung von Immobilien kommt es zu einer gesamtgesellschaftlichen Risikoverschiebung, in deren Gefolge die Gefahren von Naturkatastrophen deutlich gesenkt werden, und das wiederum hat zur Folge, dass erhöhte Risiken bei der Wahrnehmung von wirtschaftlichen Chancen eingegangen werden können. Die allmähliche Umstellung der gesellschaftlichen Absicherungsarrangements von familialer, kommunaler oder ständischer Solidarität auf die Bändigung des Zufalls durch die Aggregation großer Fallmengen geht einher mit einer sich ebenfalls langsam vollziehenden Ablösung von Heilsbzw. Glaubensgewissheit durch Erkenntnisgewissheit. Paradigmatisch hierfür ist der methodische Zweifel des René Descartes, in dem die sich ausbreitende Skepsis gegenüber traditionaler Überzeugungen radikalisiert und methodisiert wird. Indem an allem gezweifelt wird, auch an den unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen, bleibt zuletzt nur noch das zweifelnde Ich, das gerade durch seinen Zweifel zum Ausgangspunkt einer neuen Selbst- und, daraus folgend, einer neuen Weltgewissheit wird (»dubito, cogito, ergo sum«). Indem der methodische Zweifel den skeptischen Zweifel eines Michel de Montaigne ablöst, verlagert sich die Gewissheit von der Welt aufs Ich und die moderne Selbstgewissheit tritt an die Stelle der vormodernen Heilsgewissheit, die in der Bündelung der Gewissheitsformen bei Thomas von Aquin ihren philosophisch prägnantesten Ausdruck gefunden hat: Die Gewissheit der Erkenntnis, des Glaubens und des Handelns werden bei Thomas im Vertrauen auf die ›veracitas‹ Gottes zusammengeführt. Das Ende der mittelalterlichen Gewissheitsbegründung durch die Dissolution von Heil und Wissen, wie sie auf der einen Seite von Luther und dem Protestantismus und auf der anderen Seite von Descartes und der Begründung der neuzeitlichen Subjektphilosophie vollzogen werden (vgl. dazu SchrimmHeins 1992: 120ff.; Blumenberg 1966), mündet in ein neues Arrangement der Wissensordnungen, auf dem die Sicherheiten und Gewissheiten der Neuzeit errichtet werden. Diese epistemischen Veränderungen korrespondieren mit sozio-politischen Veränderungen: Der Wandel in der Ordnung des Wissens ist mit dem Wandel der gesellschaftlichen Sicherheit verbunden, indem beide aufeinander reagieren und sich wechselseitig verstärken. Aber es ist in der wissenschaftlichen Debatte seit mehr als einem Jahrhundert umstritten, ob die Gewissheitskrise den Beginn eines veränderten Sicherheitsarrangements dargestellt hat oder ob es umgekehrt gewesen ist. 3.2 Souveränitätslegitimation durch Vertrag Die politiktheoretische Konsequenz aus diesen Veränderungen zieht als erster der Engländer Thomas Hobbes, als er im Anschluss an die erkenntnistheoretischen Innovationen und unter Zugrundelegung eines sozio-

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politischen Individualismus die Ordnung des Staates und die Begründung von Souveränität nicht mehr auf politischen Traditionsbeständen, sondern auf dem Vertrag eines Jeden mit Jedem begründet. Durch diesen Vertrag soll die inhärente Unsicherheit des Naturzustandes überwunden und mit dem Eintritt in den Gesellschaftszustand eine verlässliche Form von Sicherheit hergestellt werden. Im Vertrag verzichtet jeder definitiv und endgültig auf sein ursprüngliches Recht auf alles, das Konstellationen wechselseitiger Gewaltbereitschaft zur Durchsetzung konkurrierender Rechtsansprüche hervorgebracht hat. Hobbes hatte das als »Krieg eines jeden gegen jeden« (›bellum omnium contra omnes‹) bezeichnet. Es ist jedoch nicht der kollektive Gewaltverzicht in Folge des Rechtsverzichts, der bei Hobbes den inneren Frieden als einen Zustand garantierter Sicherheit hervorbringt, sondern der Umstand, dass Einer an diesem Vertragsschluss nicht teilnimmt, wodurch die Vertragschließenden ihre ursprünglichen Rechte auf diesen Einzigen übertragen und ihn so zum Garanten des Vertrags machen: Sie verpflichten sich ihm gegenüber zu bedingungslosem Gehorsam, und er verspricht ihnen dafür Schutz und Sicherheit (›pro protectione oboedientia‹). Bei Hobbes legitimiert sich die Souveränität des Herrschers weder aus der Herkunft seiner Familie (Tradition) noch durch das Glück, das einer in vergangenen Kämpfen gehabt haben mag (Charisma), sondern durch die funktionalen Effekte, die seine uneingeschränkte Macht für die Gesellschaft der Vertragschließenden hat. Staat und Souveränität sind die Produkte einer rationalen Interessenabwägung, in deren Folge sich die ursprünglich Gleichen um ihrer Sicherheit willen in Herrschaftsunterworfene verwandeln. Die an Hobbes anschließende politiktheoretische Entwicklung hat sich wesentlich um die Frage gedreht, ob die durch den Souverän garantierte Sicherheit des Lebens hinreichend sei, einen so weitreichenden Rechtsverzicht zu rechtfertigen, oder ob in den Vertrag nicht auch die Sicherheit des Eigentums (John Locke) sowie der persönlichen und politischen Freiheit (JeanJacques Rousseau) eingeschlossen sein müsse. Locke geht es dabei um die Zustimmung der Eigentümer bei Eingriffen des Souveräns in dieses Eigentum, also um die Beantwortung der Frage, bei wem das Recht der Steuererhebung liege, beim Parlament oder beim König. Jean-Jacques Rousseau sorgt sich um die politischen Partizipationsrechte der Bürger und erklärt die Freiheit im Sinne des Eigentums eines Menschen an sich selbst für inalienabel, unveräußerlich. Ein Vertrag, der dies nicht berücksichtige, sei unrechtmäßig. Die Geschichte des Kontraktualismus im Anschluss an dessen politiktheoretische Begründung durch Thomas Hobbes lässt sich als eine kontinuierliche Ausweitung der Zweckbestimmungen des Vertrags beschreiben, und dies kann sowohl als sukzessive Ausweitung der Staatsaufgaben als auch als immer stärkere Beschränkung der souveränen Machtposition begriffen werden. Während Carl Schmitt (1953/1958) und seine Schule Letzteres herausgestellt und darin ein Strategem zur Entmachtung des Souveräns und zur Vergesellschaftung des Staates gesehen haben, haben der Liberalismus und die Theorie der Bürgerrechte (vgl. Th. H. Marshall 1992) darin

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einen sich schrittweise vollziehenden normativen Fortschritt gesehen. Schmitt hat die destruktive Dimension der Normausweitung für die ursprüngliche Staatsaufgabe der Sicherheitsgenerierung herausgestellt und dahinter die unkontrollierbare Gefahr einer Wiederkehr des Bürgerkriegs gesehen. Liberale dagegen sorgen sich weniger um die Leistungsfähigkeit des Staates, sondern ihnen geht es vor allem um die Herstellung von Sicherungen gegen dessen Ansprüche und Übergriffe. Im Unterschied dazu setzt die Konzeption des modernen Wohlfahrtsstaats wiederum auf die Expansion der Sicherungsansprüche gegenüber dem Staat und dessen diversen Sicherheitsschirmen. Damit stellt der Wohlfahrtsstaat ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit über die Imperative der persönlichen Freiheit. 3.3 Territorialstaatlichkeit Der neuzeitliche Staat, der in Absetzung vom Personenverbandsstaat der Antike und des Mittelalters als institutioneller Flächenstaat bezeichnet wird (vgl. Münkler 1987: 171ff.), ist über den Rechtsanspruch der Souveränität, also die Inappellabilität seiner Entscheidungen, hinaus durch die Professionalisierung von Erfüllungs- und Erzwingungsstäben gekennzeichnet, wodurch sich die Einlösung der Sicherheitserwartungen grundlegend verändert. Das allgemeine Sicherheitsniveau wird nunmehr allgemein angehoben. Das beginnt mit der schrittweisen Durchsetzung des Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit und endet in einem zunehmend dichter werdenden System von Regelungen und Vorschriften, durch die einerseits das Verhalten der einzelnen reglementiert, andererseits aber auch eine Sicherheit von Verhaltenserwartungen hergestellt wird, die das Niveau einer auf Ethos und Gepflogenheiten begründeten Erwartungssicherheit deutlich übertrifft. Die Ausbildung des institutionellen Flächenstaates in Europa ist insofern mit einem beispiellosen Prozess der Sozialdisziplinierung verbunden, der sich in einer Reduzierung innergesellschaftlicher Gewalt und einer allgemeinen Zivilisierung des Verhaltens äußert (vgl. Elias 1976, Bd. 1: 263ff.). Die Geschichte des institutionellen Flächenstaates ist – auch – die Geschichte einer Pluralisierung von Sicherheit bzw. deren Aufspaltung in unterschiedliche Zuständigkeiten und Kompetenzen. Am Anfang dieser Entwicklung steht die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit (›securitas publica interna et externa‹), für die jeweils eigene Imperative und Handlungslogiken entwickelt werden. Der Schutz im Innern (›protectio‹) und die Sicherheit nach außen (›defensio‹) sind von nun an zwei Seiten von Sicherheit, mit deren Gewährleistung einerseits die Verwaltung und andererseits Militär und Diplomatie betraut sind. In der staatsrechtlichen Literatur tritt der Sicherheitsbegriff mitsamt seinen Verzweigungen an die Stelle des alten Friedensbegriffs, der zu allgemein und zu unspezifisch ist, um der neuen Entwicklung zu genügen. Andererseits zeigt sich darin auch die Entwicklung eines Militärstaates, der die Gewährleistung von Sicherheit nicht länger an die Wahrung des Friedens bindet, sondern für sich die Fähigkeit

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zur Führung von Kriegen in Anspruch nimmt, um für Sicherheit zu sorgen. In der politisch-diplomatischen Sprache setzt sich ›securitas‹ zunehmend gegen ›pax‹ durch (vgl. Conze 1984: 842ff.). Dass sich diese Entwicklung seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges mit der Etablierung des ›westfälischen Systems‹ und seiner völkerrechtlichen Normen durchzusetzen beginnt, verweist auf die veränderten Rahmenbedingungen, unter denen Sicherheit nunmehr großräumlich hergestellt wird: Nicht länger ist die Doppelspitze der lateinischen Christenheit, Kaiserund Papsttum, mit der Friedenswahrung beauftragt – einem Auftrag, dem sie wegen der beständigen Auseinandersetzungen um die Suprematie und der notorischen Defizite bei der Gewährleistung des Landfriedens nur notdürftig nachgekommen ist –, sondern diese Aufgabe geht an eine Pluralität von Staaten über, die sich in einem permanenten Konflikt miteinander befinden. Mit der Etablierung des ›westfälischen Systems‹ wird die Sicherheitsgenerierung in Europa also von einer hierarchisch-vertikalen auf eine horizontalzwischenstaatliche Struktur umgestellt: Durch die Territorialisierung der Staatlichkeit wird zwar die Reichweite der Anordnungen begrenzt, aber deren Verbindlichkeit erhöht. Während sich das Niveau der Sicherheit im Innern eines Staates erhöht, werden die zunehmend schärfer markierten Grenzen des Staates gleichzeitig zu Zonen erhöhter Unsicherheit, an denen Kriege mit wachsender Intensität ausgetragen werden. Zur Sicherung der Grenzen werden in nicht von Natur (etwa Bergzügen oder Flüssen) geschützten Gegenden Festungsgürtel angelegt, die im Sinne einer Barriere den schnellen Vorstoß feindlicher Truppen ins Innere des eigenen Staatsgebiets bremsen und brechen sollen. Äußere Sicherheit wird von nun an als Sicherung der staatlichen Außengrenzen verstanden. So wird der Krieg im 17. und 18. Jahrhundert über weite Strecken zum Festungs- und Belagerungskrieg, der gewaltige Summen verschlingt, in politisch-militärischer Hinsicht jedoch nur sehr begrenzte Ergebnisse hervorbringt (vgl. Eichberg 2010: 133ff.) Der institutionelle Flächenstaat investiert durch den Festungsbau und die Aufstellung eines stehenden Heeres (›miles perpetuus‹) vor allem in die äußere Sicherheit. Um diese gewaltigen Summen aufbringen zu können, entwickelt sich der Staat zum Militärstaat und parallel dazu auch zum Steuerstaat (vgl. Stolleis 1983). Dies ist nicht möglich ohne ein präzises Wissen über seine Ressourcen und die Potenziale der Bevölkerung, welches durch die neue Wissenschaft der Statistik (=Staatsbeschreibung) bereitgestellt, in den Archiven verwahrt und als eines der wichtigsten Staatsgeheimnisse behandelt wird (vgl. Rassem/Stagl 1980, 1993). Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse werden zur unverzichtbaren Grundlage außenpolitischer Entscheidungen und zur Basis gezielter Reformanstrengungen, um statistisch identifizierte Schwächen und Defizite nach Möglichkeit zu beheben und auszugleichen. Auf die Rationalisierung der Sicherheitserwartungen seitens der Bürger in Gestalt der Vertragstheorie folgt die Rationalisierung staatlicher Sicherheitsgenerierung durch Aufga-

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benteilung, Kompetenzzuweisung, Professionalisierung und die Verfügbarmachung des erforderlichen Wissens. Der sicherheitspolitische Erfolg dieser Entwicklung bleibt freilich an eine Form der Sozialdisziplinierung gebunden, die sich zunächst auf das Personal der Erfüllungs- und Erzwingungsstäbe konzentriert (Militär und Verwaltung), mit der Zeit aber auch den Rest der Bevölkerung erfasst. Es geht um die Durchsetzung einer Form von Affektkontrolle und Selbstbeherrschung, durch die das Verhalten der Menschen vorhersagbar und berechenbar wird. Michael Makropoulos (1990) hat daher Sozialdisziplinierung und Versicherung als zwei komplementäre Formen im Umgang mit Kontingenz bezeichnet: Erst die Sozialdisziplinierung, von der Verhaltenssozialisierung über das Hygieneverhalten bis zur Sozialethik, bringt hinreichend gleichförmige Verhaltensweisen hervor, dass diese versicherungsmathematisch erfasst und antizipiert werden können. Vor allem richtet sich diese Disziplinierung gegen abweichendes Verhalten, also gegen Irre und Aufsässige, Leichtsinnige und Verschwenderische, die in Irren- und Zuchthäusern ›zur Raison gebracht‹ werden sollen. 4 Neben den Zucht- und Irrenhäusern ist das Militär schon vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Gefolge der Französischen Revolution die wichtigste und gesellschaftlich am stärksten formgebende Institution der Sozialdisziplinierung, insofern es einen Großteil der männlichen Gesellschaftsmitglieder erfasst, insbesondere die aus den unteren Schichten, und hierbei vorzugsweise noch einmal jene, die ein auffälliges oder delinquentes Verhalten an den Tag legen. Auch in den bäuerlichen Familien wird mindestens ein Sohn zum Militärdienst herangezogen und ihm die Prägeform des Militärischen aufgedrückt. Insofern ist das Militär seit dem 18. Jahrhundert tatsächlich so etwas wie eine ›Schule des Staates‹ für die Gesellschaft, in der Verhaltenserwartungen gegebenenfalls auch mit rigiden Strafregimen durchgesetzt werden. Unter dem Einfluss des Neustoizismus, wie er vor allem durch den Niederländer Justus Lipsius ausgeformt wird (vgl. Oestreich 1969: 35-79), kommt es dabei zu einer Zweiteilung der Gesellschaft in diejenigen, die der Selbstdisziplinierung fähig sind oder als solche angesehen werden, und jene, bei denen man davon ausgeht, dass sie der Fremddiszipli-

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Das frühneuzeitliche Projekt der Ausgrenzung, Einschließung und Zwangsnormalisierung war eine der großen wissenschaftlichen Entdeckungen der 1970er und 1980er Jahre, die vor allem durch die Arbeiten Michel Foucaults (1973, 1976) angestoßen wurde; vgl. auch Dörner (1969). Sicherheit wurde hier hergestellt durch das Wegsperren und Einschließen der Unberechenbaren und Gewalttätigen. Daneben gab es aber noch eine weitere Form fürsorglicher Sozialdisziplinierung, bei der Väter und Ehemänner, die ihr Vermögen verspielten oder verprassten und Kinder und Frau darben ließen, in landesväterlichen Gewahrsam genommen und ohne Rechtsurteil zeitweilig weggesperrt wurden; vgl. Foucault/Farge (1989).

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nierung bedürfen. Das ist – zugleich – eine Rechtfertigung für die Spaltung der Gesellschaft in eine (adlige) Elite und den zu disziplinierenden Rest (mit dem zunächst zahlenmäßig noch sehr kleinen Bürgertum als Zwischenschicht, dessen Sozialdisziplin im Kontor und durch Rechenhaftigkeit geprägt wird); vor allem aber ist es ein Disziplinierungsmodell, das sich bruchlos mit der Institution des Militärs verbinden lässt: Während die Masse der Soldaten durch Drill ›in Form gebracht‹ wird, wozu Lipsius die Kommandos der römischen Berufsarmee einzusetzen vorschlägt, so dass sich die in Reih und Glied formierten Truppenkörper auf die entsprechenden Kommandos hin wie eine Maschine bewegen, entwickeln die angehenden Offiziere im Fecht- und Tanzunterricht eine Selbstkontrolle ihres Körpers, welche die Voraussetzung dafür ist, dass der Affekt der Angst im Angesicht des Feindes nicht durch ›Gegenangst‹ überwunden werden muss, um die Truppen in Bewegung zu setzen, sondern die Offiziere dies selbständig und aus eigenem Antrieb tun (vgl. zur Lippe 1974, Bd. 2: 149ff., 159ff.). Das ändert sich erst mit der Französischen Revolution, als in Gestalt von Patriotismus und Nationalismus die zuvor allein dem Adel und dem Offizierskorps zugeschriebenen Fähigkeiten der Selbstmotivation und Selbstkontrolle auf die Masse des Heeres übertragen werden. Das aus der Epoche des Ancien Régime stammende Disziplinarregime wird freilich noch lange beibehalten bzw. nach den ersten Jahren politischer Begeisterung auch in den Revolutionsarmeen wiederhergestellt. Das Sicherheitsregime des neuzeitlichen Staates ist jedoch keineswegs auf die diversen Formen der Sozialdisziplinierung beschränkt, sondern umfasst komplementär dazu auch Institutionen der sozialen Fürsorge und Wohlfahrt, die Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts von dem aufkommenden Liberalismus und der durch ihn forcierten Gegenüberstellung von Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat einer scharfen Kritik unterzogen werden. Das Fürsorge- und Wohlfahrtsregime ist für die Liberalen ein Ausbund des politischen Patriarchalismus, durch den die Bürger in Kinder verwandelt und entmündigt werden. Retrospektiv wird man das landesherrliche Wohlfahrtsregime als eine Variante der »pastoralen Regierungsform« bezeichnen können. 5 Es geht um die Ruhe, Zufriedenheit und Bequemlichkeit wohlbe-

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Der Begriff der pastoralen Regierungsform oder des pastoralen Regierens ist maßgeblich durch Michel Foucault in seiner Geschichte der Gouvernementalität (2004, Bd. 1: 185-277) geprägt worden. Im Zentrum steht die Idee des Hirten bzw. des guten Hirten, der sich um das Wohl seiner Herde sorgt, der – im Gegensatz zur Herde selbst – weiß, was gut und schlecht für sie ist und dessen Aufgabe neben der Abwehr räuberischer Feinde auch in der Aussonderung räudiger und kranker Tiere besteht. Die gesunden und folgsamen Tiere aber pflegt und hegt er. Das Innovative an der Herangehensweise Foucaults besteht darin, dass er das Pastorat nicht als Ideologie, sondern als Anleitung zur Regierungspraxis verstanden hat.

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hüteter Untertanen, und so wird unter den Stichworten von Wohlfahrt und Glückseligkeit die Sicherheitskonzeption des frühneuzeitlichen Staates normativ aufgeladen und ausgestaltet. Das sind zugleich die Konstellationen, unter denen es dem an den Universitäten wohletablierten Aristotelismus (vgl. Denzer 1985) gelingt, sich gegen den vordringenden Kontraktualismus zu behaupten: Lautet die Leitfrage der Hobbes’schen Vertragstheorie, wie das nackte Leben der Menschen unter den naturzuständlichen Konstellationen eines ›bellum omnium contra omnes‹ gesichert werden könne, so verschiebt der Aristotelismus die Aufgabenstellung der Politik vom bloßen Überleben auf das gute Leben (›‹): Der Staat, so hatte Aristoteles erklärt (Pol. I, 1-3), sei zwar gegründet um des bloßen Überlebens willen, aber er bestehe fort und habe Dauer um des guten Lebens der Menschen willen. 6 Die schärfste Wendung gegen diese pastorale Regierungspraxis des Obrigkeitsstaates, der in Deutschland in einem breit angelegten Verständnis von ›policey‹ seinen Niederschlag findet (Maier 1986: 92ff.), ist bei Immanuel Kant zu finden, der dem Wohlfahrts- und Policeystaat den Rechtsstaat entgegenstellt, wobei er die Gewährleistung von Sicherheit radikal an die Rechtlichkeit des Staates bindet und anstelle der Wohlfahrtspflege auf Gefahrenabwehr setzt (vgl. Conze 1984: 850ff.). An die Stelle der, so Kant, ausufernden und bevormundenden Sorge des Staates für den Einzelnen und die Gemeinschaft tritt die Sicherung der Bürger gegen gefährliche Individuen. So und nur so ist der Staat in der Lage, Sicherheit und Freiheit miteinander zu verbinden: Er überlässt die Gestaltung und Führung des Lebens dem Individuum und mischt sich in sie weder vormundschaftlich noch fürsorglich ein. Das meint Kant, wenn er davon spricht, man erstrebe eine vaterländische, aber keine väterliche Regierung. In der kleinen Schrift Über den Gemeinspruch (1793) schreibt er: »Nicht eine väterliche, sondern eine vaterländische Regierung (imperium, non paternale, sed patrioticum) ist diejenige, welche allein für Menschen, die der Rechte fähig sind, zugleich in Beziehung auf das Wohlwollen des Beherrschers gedacht werden kann.« (Kant 1970, Bd. 9: 146) Und einige Seiten weiter: »Der Satz: Salus publica suprema civitatis lex est, bleibt in seinem unverminderten Wert und Ansehen; aber das öffentliche Heil, welches zuerst in Betrachtung zu ziehen ist, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert: wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht jener allgemeinen gesetzmäßigen Freiheit, mithin dem Rechte anderer Mituntertanen, Abbruch tut.« (ebd.: 154f.)

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Wobei hier in Rechnung zu stellen ist, dass der Begriff des Staates bei Aristoteles eine andere Bedeutung und andere Konnotationen hat, als dies im Aristotelismus des 17. und 18. Jahrhunderts der Fall ist.

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Die Umstellung vom obrigkeitlichen Wohlfahrtsstaat auf den bürgerlichen Rechtsstaat ist eine der grundlegenden Änderungen im institutionellen Arrangement von Sicherheit und Freiheit, und bei dieser Veränderung gehen die europäischen Staaten je eigene Wege: Dort, wo die industrielle Revolution eine Masse notleidender Proletarier hervorbringt, kommt es schon bald zur Entwicklung eines Sozialstaats, der – mitunter im Anschluss an die Traditionen des obrigkeitlichen Wohlfahrtsstaats – ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit herstellt (vgl. Metzler 2003: 17ff.). Soweit die soziale Sicherheit auf dem Solidarverband freier Bürger beruht, tut dies dem Freiheitsanspruch des Rechtsstaats keinen Abbruch. Aber schon Max Weber sieht hinter der von Bismarck forcierten Sozialversicherung in Deutschland eine Form des Sozialpaternalismus, den er als eine ernstzunehmende Bedrohung der Freiheit begreift.

4. S OZIALSTAATLICHE S ICHERHEIT DER S OLIDARGEMEINSCHAFT Bleibt auch die Frage der Bevormundung durch den Staat, also die Balance zwischen garantierter Freiheit und gewährter Sicherheit, Gegenstand zahlreicher Kontroversen, so kommt es im 20. Jahrhundert doch zunehmend zu einer Verschiebung vom Freiheitsanspruch zur Sekurität: Sicherheit wird zum »zentralen Wertbegriff der modernen Menschen« (Schrimm-Heins 1992: 213), insbesondere, was die soziale Sicherheit anbetrifft. Neben sozialen Kämpfen, Wirtschaftskrisen und anderen politisch bedrohlichen Situationen sind es nicht zuletzt die Erfahrungen zweier verheerender Weltkriege und der daraus resultierenden massiven Unsicherheiten, die dazu führen, dass neben die klassischen Staatsaufgaben der Garantie bürgerlicher Freiheitsrechte sowie der inneren und äußeren Sicherheit die soziale Sicherheit hinzutritt. Hierbei avanciert das Versicherungsprinzip zur beherrschenden Strategie der Vorsorge, um gegenwärtige und zukünftige Sicherheit zu garantieren. Seinen Niederschlag findet die Vorsorgestrategie im Sicherungssystem der kollektiv angelegten Sozialversicherungen. Die Absicherung erfolgt hier als Investition in eine zumindest sorgenreduzierte Zukunft, die nicht präventiv, sondern nachsorgend – im Sinne des Ausgleichs und der Wiedergutmachung – angelegt ist. Ihre Konkretisierung findet diese Sicherheitsstrategie in der Ausprägung einer Solidargemeinschaft und der institutionellen Ausgestaltung des Sozialstaates. Auch wenn mit den Maßnahmen der Sozialversicherungen nicht der Anspruch verbunden ist, mit unverbrüchlicher Gewissheit alle denkbaren Bedrohungssituationen eliminieren zu können, so wird mit ihnen doch ein weitgehendes Sicherheitsversprechen gegeben: Das bereits erreichte Sicherheitsniveau soll gehalten und, wenn möglich, quantitativ und qualitativ gesteigert werden. Derartige Vorsorgekonzepte werden als Stabilitätsgarant

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gesellschaftlicher Ordnungen betrachtet, da sie Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Sicherheitsleistungen generieren. Der Preis einer solchen Konzeption besteht in einer sich selbst antreibenden Spirale stetig wachsender Sicherheitsbedürfnisse, die wiederum die Frage nach der Überdehnung und Überforderung wohlfahrtsstaatlicher Arrangements und damit der Verlässlichkeit dieses Sicherungssystems aufwirft. Der Wohlfahrtsstaat schafft Erwartungen, die permanent wachsen und ab einem bestimmten Niveau die Leistungsfähigkeit einer auf der Sozialversicherung der Beschäftigten beruhenden Finanzierung überfordert (vgl. Kaufmann 1997). Indem der Wohlfahrtsstaat die Versorgungsversprechen von der unmittelbaren demografischen Reproduktion entkoppelt hat, hat er zu einer Veränderung im demografischen Aufbau der Gesellschaft beigetragen, in deren Folge ein höheres Maß an Selbst-Vorsorge erforderlich geworden ist. 4.1 Sozialversicherung als Vorsorgestrategie Wie bereits erwähnt, setzen Versicherungen nicht auf Kontingenzvermeidung, sondern auf Kontingenzmanagement: Insofern sie Gefahren in Risiken transformieren, basieren sie nicht auf dem Prinzip der Schadensvermeidung, sondern der Kompensation von Schäden. Sie werden damit zu einer Technologie der kalkulierten Bewältigung unvermeidlicher oder systemisch auftretender Risiken: »Von den Mißhelligkeiten der Existenz entlastet die Versicherung. Sie mindert die Folgen des Schicksals, die Wagnisse des Handelns, die Lasten des eigenen Unvermögens. […] Diese Aufgaben übernimmt die Versicherungsgesellschaft. […] Als zivile Institution trifft sie Vorkehrungen für das, was Menschen widerfahren kann und was sie einander mit oder ohne böse Absicht antun können.« (Sofsky 2005: 48)

Die Versicherung befriedigt folglich das anthropologische Grundbedürfnis nach Sicherheit durch Unsicherheitsreduktion über die Verbindung von Personen, die sich wechselseitig verpflichten, im Schadensfall füreinander aufzukommen. Die daraus resultierende Kollektivhaftung wird vertraglich abgesichert, mit einem Rechtsanspruch versehen und damit einklagbar, wozu die Versicherer die zu Versichernden zu Risikogruppen zusammenfassen und mittels Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung deren Risiken kalkulieren. Unerlässlich ist dafür der »Verzicht auf jede Form der moralisierenden Verantwortungszuschreibung: Es geht hier nicht (mehr) um (individuelle) Schuld und Sühne, sondern um ein (kollektives) Risiko und Kompensation.« (Lessenich 2008: 31) Parallel dazu verschwindet auch die »moralische Ökonomie« der Absicherung gegenüber Gefahren und Unglücksfällen, wie sie in der traditionalen Gesellschaft in (Groß-)Familien, Zünften oder religiösen Gemeinschaften verankert war.

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Wohl geht die Kollektivhaftung mit einem Freiheitsverlust der Individuen (der Einschränkung aller möglichen und denkbaren Wahloptionen) einher, insbesondere dann, wenn die zunächst privatwirtschaftlich freiwillige Form der Versicherung durch die Zwangsgewalt des Staates in eine Pflichtversicherung überführt wird, wie das (nach der Feuerversicherung) bei den Sozialversicherungen der Fall ist, doch bietet die Form der ›anonymen Risikohaftung‹ gegenüber den ›moralischen Ökonomien‹ auch einen Freiheitsgewinn, weil sie von den damit immer verbundenen Verpflichtungen befreit. An die Stelle persönlicher Verpflichtungen tritt die allgemeine Verpflichtung, die mit staatlichen Mitteln durchgesetzt wird. Gleichwohl liegt darin die besondere gesellschaftspolitische Bedeutung: Mit der Übernahme des Versicherungsprinzips als staatlich gesteuerte Vorsorgestrategie kann die Sicherheitsproduktion nur mehr kollektiv organisiert erfolgen, auch wenn sie auf dem rationalen Arrangement von Eigeninteressen der Einzelnen beruht. Was dabei im Gegensatz zum individuellen als soziales Risiko anerkannt und damit der gesellschaftlichen Bearbeitung zugeführt wird, ist freilich eine Definitions- und Ermessensfrage, über die politisch anhand von zwei Merkmalen entschieden wird: Es geht um Risiken, denen sich niemand entziehen kann und die als gesellschaftlich produziert gelten (vgl. Bonß 1995: 210). 7 Folglich sind die Sozialversicherungen nicht allein »eine bloße technische Lösung gesellschaftlicher Sicherheitsbedarfe«, sondern »vielmehr ein spezifischer Typus sozialer Rationalität, eine Deutung der sozialen Welt, die Individualität und Kollektivität in eine neue – gesellschaftsverändernde – Beziehung zueinander setzt: Das Individuum wird zum Teil des Ganzen« (Lessenich 2008: 31); es wird Bestandteil des Versicherungskollektivs und hat Anteil daran. So gesehen deckt die Versicherung nicht allein »bestimmte Sicherheitsbedürfnisse« ab, sondern kann auch als das entscheidende Instrument zur Sicherheitsgenerierung, als »Wesen des Gesellschaftsvertrages« angesehen werden und »konstituiert [somit] den realen Kern der modernen Gesellschaft« (Ewald 1989: 385), neben den klassischen Grundpfeilern von Staat und Markt. Sie versetzt die Menschen in die Lage, aus einer abgesicherten Position heraus erhöhte Risiken bei der Wahrnehmung wirtschaftlicher Chancen eingehen zu können. 8 So wird die Sozialversicherung zu der ent-

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In einer auf Erwerbsarbeit beruhenden Gesellschaft zählen klassisch als soziale Risiken: Krankheit, Alter, Unfall, Mutterschaft, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit, da sie zum Verlust des Einkommens aus aktiver Erwerbsarbeit führen können. Bezugspunkt für die Anerkennung als soziales Risiko bleibt somit die aktive Erwerbsarbeit. Es sei hier nur am Rande bemerkt, dass das »wirtschaftsliberale Konzept eines sich selbst regulierenden Marktes« zwar »eine langfristige Zukunftsperspektive« (Hölscher 1999: 53) fortdauernder wirtschaftlicher Prosperität und damit Sicherheit eröffnet, gleichwohl aber der (Sozial-)Versicherung bedarf, um daraus ent-

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scheidenden Sicherheitsstrategie in marktvermittelten und marktgesteuerten Gesellschaften, zu einer Institution der Absicherung, die es erlaubt, kleinere Risiken einzugehen und erwartbare Sicherheit herzustellen. Was generell für die Versicherungen gilt, gilt auch für die Sozialversicherungen: »Sie entstehen als Gefahrenabwehr und Daseinsvorsorge gleichermaßen und beziehen sich auf eine ›unwirkliche‹, weil unsichere Wirklichkeit, die ›noch nicht‹ Realität ist und von der in der Regel jeder hofft, daß sie es auch nie werden wird.« (Bonß 1995: 178f.) Ihren Niederschlag findet die »Versicherungsgesellschaft« (Ewald 1989) in der Figur der Solidargemeinschaft, die nicht mehr auf dem kooperativen Schutz von Solidaritätsverbänden, wie der Familie oder ständischen Treuegemeinschaften, beruht, sondern auf dem Risikoschutz unter Unbekannten. Sie agiert nach dem Solidaritätsprinzip im Sinne eines sozialen Ausgleichs: Aufgrund der wechselseitigen Verpflichtung im Rahmen der Kollektivhaftung steht die Solidargemeinschaft pauschal und ohne Einschränkung für die Risikohaftung der einzelnen Versicherten (normalerweise auch ihrer Angehörigen) ein – auch wenn dies von dem Einzelnen eine höhere Gegenleistung erfordert, als sie die tatsächliche Leistungsgewährung ausmacht. Die Verantwortung für die Sicherheitsgenerierung im Sinne der Absicherung vor Risiken wird auf der Grundlage vertraglicher Vereinbarungen und jenseits moralischer Obligationen vergesellschaftet. Im Anschluss an die Unterscheidung von Ferdinand Tönnies (1991) kann man sagen, Risiken würden nicht mehr ›vergemeinschaftet‹, sondern ›vergesellschaftet‹. Dennoch wird auf der reziproken Verpflichtung der Mitglieder gegenüber der Solidargemeinschaft bestanden: Wenngleich das Äquivalenzprinzip von Leistung und Gegenleistung hier keine Anwendung findet und es auch nicht zu moralisierenden Verantwortungszuschreibungen kommt, so ist die Gewährung der Solidarität in der Solidargemeinschaft doch nicht voraussetzungslos. Vielmehr muss das Recht, Sozialversicherungsleistungen in Anspruch nehmen zu können, erworben werden, was in aller Regel über die Beitragszahlung der Versicherungsnehmer erfolgt. Diese als »welfare contractualism« bekannte Übereinkunft verweist auf das Recht der Gemeinschaft, den Empfängern von Hilfen adäquate Anstrengungen abzuverlangen, um von ihrer Seite ein Recht auf Risikoteilung geltend machen zu können – eine Position, die der kommunitaristischen Ansicht nahe kommt (vgl. Offe 2003: 26f.). Auch diese Konvention dient dazu, das erreichte Sicherheitsniveau der Mitglieder der Solidargemeinschaft abzusichern: Es geht dabei um den Effekt einer ›Ummauerung‹, um nichtbezugsberechtigte Personen von den Sicherheitsleistungen der Solidargemeinschaft fernzuhalten. Diese ›Ummauerung‹ beruht jedoch nicht mehr auf der Zugehörigkeit zu Stand,

stehende Nachteile, wie z.B. die (vorübergehende) Freisetzung aus dem Arbeitsmarkt, kompensieren zu können und so die Akzeptanz dieses Wirtschaftsmodells zu steigern.

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Beruf oder Familie, sondern wird, indifferent gegenüber solchen Zugehörigkeiten, durch Vertrag und Beitragszahlung hergestellt. Im Falle der Sozialversicherung ist die Zugehörigkeit freilich nicht freiwillig, sondern verpflichtend. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Sozialversicherung die Mitglieder der Solidargemeinschaft in die Lage versetzt, sich mindestens basal gegen soziale Risiken abzusichern und sich so ein gewisses Maß an Erwartungssicherheit für die Zukunft zu garantieren. Die Bestätigung dafür zeigt sich in der Ausweitung der Sozialversicherungen: »Immer mehr Kategorien von Versicherten sind gegen immer mehr Risiken mit immer höheren Lohnersatzleistungen abgesichert.« (ebd.: 17) Problematisch wird diese Vorsorge- und Sicherungsstrategie jedoch dann, wenn ein Erwartungsüberschuss an die zu erstrebende Sicherheit besteht, der mit den zur Verfügung stehenden Sicherheitsarrangements nicht befriedigt werden kann. Dabei geht es nicht bloß darum, dass das einmal erreichte Sicherheitsniveau unter keinen Umständen abgesenkt werden soll. Gerade wenn der bestehende Sicherheitslevel als gefährdet erscheint, wird versucht, ihn um nahezu ›jeden Preis‹ abzusichern, was heißt, dass um den bereits angesprochenen Effekt der Ummauerung politisch gekämpft wird: Wer gehört zur Solidargemeinschaft dazu und wer nicht – d.h. für wen müssen Leistungen aus allgemeinen Steuermitteln und nicht aus Beitragszahlungen finanziert werden? Angestrebt wird zudem ein höherer Sicherheitslevel, sprich der Einbezug neuer Risiken in die sicherungspolitischen Kernaufgaben und damit eine Erhöhung des Sicherheitsniveaus. Die damit verbundene Sicherheitsfixierung hat freilich ihren Preis. Dieser ist nicht nur materieller Art, sondern besteht auch in einer ›Sicherheitsmentalität‹, die politische Akteure dazu verführt, »mehr zu verheißen, als gesellschaftlich und politisch eingelöst werden kann, und dadurch eine notorisch fordernde Erwartungshaltung zu befördern« (Münkler 2009: 23). Damit wird die Frage nach den Grenzen der Versicherbarkeit im Sozialstaat und generell nach der Robustheit seiner Sicherheitsarchitektur virulent. 4.2 Sicherheit durch den Sozialstaat 9 Der Sozialstaat wird während einer Phase anhaltender wirtschaftlicher Prosperität seit Mitte des 20. Jahrhunderts zum entscheidenden Vorsorge- und Sicherheitsgaranten. Die vom Staat erwarteten und zu erbringenden Sicherheitsleistungen bestehen nicht mehr nur in den klassischen Sicherheitspolitiken einer Gewährleistung innerer und äußerer Sicherheit sowie der Garantie bürgerlicher Freiheitsrechte, sondern ebenso in der Herstellung und Garantie

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Die Begriffe »Wohlfahrtsstaat« und »Sozialstaat« werden hier synonym verwendet (zum Disput über den Bedeutungsgehalt dieser Begrifflichkeiten vgl. u.a. Butterwegge 2010: 2528ff.).

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sozialer Sicherheit. 10 Prinzipiell besteht – im Kontext von Sicherheit und Unsicherheit – die maßgebliche Aufgabe des Sozialstaats in der Verringerung von Unsicherheit und komplementär dazu in der Erhöhung der Sicherheit für seine Bürger. Damit einhergehend bekommt der Sozialstaat die Aufgabe zugewiesen, regulierend, korrigierend und gestaltend in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zu intervenieren, um soziale Sicherheit zu generieren und die Absicherung des erreichten Wohlstands zu garantieren. Der Sozialstaat geht damit über das klassische bürgerlich-liberale Staatsverständnis eines ›Nachtwächterstaates‹ hinaus und wird zum modernen Interventionsstaat. Derart ausgestattet wird der Sozialstaat häufig in symbiotischer Verbindung mit einem politisch erreichbaren Niveau von Sicherheit gedacht und gilt in aller Regel als identifizierbarer Akteur, der für fehlende oder unzulängliche Unsicherheitsreduktion verantwortlich gemacht werden kann. Gerade weil die Welt als prinzipiell unsicher erlebt wird, erwarten die Bürger vom Staat die Entwicklung entsprechender Sicherheitsstrategien, »die gegen den Einbruch von Gefahren und das Auftauchen von Bedrohungen absichern, diese ›draußen‹ […] halten und so Räume […] schaffen, die sich von ihrer Umgebung durch ein deutlich höheres Sicherheitsniveau unterscheiden« (Münkler 2009: 11). 11 Gelingt es dem Staat, diese Sicherheitserwartungen zu erfüllen und möglichst viele Unsicherheiten zu reduzieren, kann er sich gegenüber den Bürgern als Sicherheitsgarant legitimieren. Dadurch erzeugt er für diese einen doppelten Effekt: Sie können sich in einer als unsicher erlebten Welt sicher fühlen und sind aus dieser abgesicherten Position heraus in der Lage, sich auf neue Unsicherheiten einzulassen. Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass der Staat immer mehr Aufgaben übernimmt, die in den traditionalen Gesellschaften familialen oder ständischen Solidargemeinschaften sowie Barmherzigkeitsregimen oblagen oder aber auf die Religion als Kontingenzmoderator verwiesen waren. Judith Shklar (1992: 87ff.) hat diese Entwicklung als Ablösung von Unglücksakzeptanz durch Ungerechtigkeitsvermutungen beschrieben. Gerade weil keine andere politische Institution die Lebenschancen der Bürger so nachhaltig prägt, obliegt es dem Staat als Ordnungsagentur, die Voraussetzungen dafür zu schaffen: »Über die (Re)produktion ›sicherer‹

10 Freilich beschreiten die einzelnen Staaten in der Ausprägung ihrer Sozialstaatlichkeit unterschiedliche Wege. Zur Vorstellung einiger dieser Varianten vgl. Kaufmann (2003). 11 Plastisch wird dieser Umstand z.B. an der Systemkonkurrenz bis zum Ende des sogenannten ›Ostblocks‹: Das erreichte Sicherheitsniveau kann als eine Leistungsschau in der Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Systemen (Ost-West) verstanden werden – bezogen auf Deutschland zwischen Staatssozialismus und sozialer Marktwirtschaft.

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Rahmenbedingungen trägt der Staat somit entscheidend dazu bei, Risiken nicht zu einer Bedrohung, sondern, im Gegenteil, zu einer Produktivkraft werden zu lassen, auf die zumindest entwickelte Gesellschaften nicht verzichten können.« (Bonß 1995: 207) Bei der Ausgestaltung seiner sozialpolitischen Instrumente kann der Wohlfahrtsstaat auf das Fürsorge-, das Vorsorge- und/oder das Prinzip der Sozialversicherung zurückgreifen. Während das Fürsorgeprinzip auf eine bedarfsorientierte staatsbürgerliche Grundversorgung und die mit ihr verbundenen Risiken ausgerichtet ist, zielt das Vorsorgeprinzip auf eine konsequente Ergebnisorientierung, was eine vorausschauende Planung erforderlich macht, um bei Eintritt unerwünschter Ereignisse über adäquate Mittel zur Abhilfe zu verfügen. Die Sozialversicherungen dienen, jedenfalls über einen festgelegten Zeitraum, dem Erhalt des sozialen Status, insbesondere bei aktiv Erwerbstätigen (vgl. Opielka 2004: 25f.). Es sind jedoch nicht allein die genannten Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik, die dem Sozialstaat zu seiner Garantenrolle bezüglich der sozialen Sicherheit verhelfen. Er tritt ebenso in die Garantenposition ein, wenn das Subsidiaritätsprinzip – der Vorrang familiär-gesellschaftlicher Leistungen vor staatlicher Fürsorge – versagt. Subsidiarität und Gestaltungsprinzipien sind keine Oppositions-, sondern Komplementärstrategien zur Generierung von Sicherheit: Sie bieten den Bürgern ein Netz mit doppelter Absicherung. Dadurch, so das Kalkül, können Risiken und die ihnen immanenten Unsicherheiten eingegangen werden, ohne die gesellschaftliche Stabilität in ihrer Substanz zu gefährden. Die erstaunliche Karriere des Sozialstaats beruht nicht zuletzt darauf, dass dieser sich bei der Risikoreduktion für die Bürger als erfolgreich erwiesen hat. Die Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik sowie die vertraglich garantierten Einkommensquellen führen zu einer Verlässlichkeit, die Sicherheit gibt. Beruhend auf der Annahme »immerwährender Prosperität« (Lutz zit. in Kaufmann 1997: 9), schien der qualitative und quantitative Ausbau der Absicherung nur eine Frage der Zeit. Und tatsächlich konnte bis in die 1970er Jahre hinein der Lebensstandard für das Gros der Bevölkerung auf ein historisch beispielloses Sicherheitsniveau angehoben werden. Der Sozialstaat wurde aber auch zum Garanten dessen, dass soziale Konflikte, wenn sie schon nicht gänzlich stillgestellt werden konnten, sich zumindest pazifizieren ließen. Dem »stets zur Verunsicherung führenden Leistungswettbewerb« (Honneth 2011: 6) konnte so ein erheblicher Teil seiner Schärfe genommen werden. Die »finanziellen Kompensationen« schufen im Versicherungsfall durch die »staatliche Gewährleistung von existenzsichernden Lebensbedingungen« (ebd.: 8) eine wesentliche Voraussetzung für den breiten sozialen Aufstieg der Bürger. Die Zukunft erschien somit plan- und ge-

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staltbar. Mittels der modernen Sozialplanung, die eine Art Risikoanalyse darstellt, konnte ein effektives Kontingenzmanagement betrieben werden. 12 Mit dem zunehmenden Wohlstand wuchsen bei den Bürgern freilich die Risikosensibilität und die Sicherheitsbedürfnisse: »Abrupte Wendungen der gesellschaftlichen Entwicklung verbanden sich […] schnell mit apokalyptischen Ängsten […] vor Einbrüchen im mühsam errungenen Niveau sozialer Sicherheit. ›Keine Experimente‹ war […] eine der Grundmaximen der Nachkriegspolitik.« (Hölscher 1999: 220) Die Sicherheit sollte auf Dauer gestellt und, wenn immer möglich, erhöht werden. Entsprechend wurden evolutionäre Wachstumsideale zu einem Gradmesser des Sicherheitsstandards. Dieser Erwartungshaltung begegnete der Sozialstaat mit dem impliziten Versprechen, für eine ›sichere Welt‹ zu sorgen; eine Zusicherung, an der er immer auch gemessen wird. Indem der Staat als Vorsorge- und damit als Sicherheitsgarant immer umfassender in Erscheinung tritt und seinen sozialregulativen Zugriff permanent erweitert (vgl. Castel 2000), wird aber auch Kritik an ihm laut: »Die Mehrzahl wünscht sich eine Gesellschaft der bloßen Sekurität, in der das Leben und Denken überschaubar, gemütlich und unterhaltsam ist. […] Je mehr Verantwortung für die eigene Lebensführung an fremde Instanzen abgetreten ist und je größer das Bedürfnis nach umfassender Sicherheit, desto höher der Grad der gesellschaftlichen Passivität.« (Sofsky 2005: 38)

Das Schlagwort von der ›Vollkaskomentaliät‹, als einem Übermaß an sozialer Sicherheit, ist eine kritische Bezeichnung für diesen Zustand. Arnold Gehlen hatte diese Entwicklung im Blick, als er davon sprach, dass der »Staat ›mehr und mehr die Züge einer Milchkuh‹ annehme und unfähig sei, seine Bürger zu irgendetwas zu verpflichten« (zit. nach Hacke 2009: 64). Die Expansion des Wohlfahrtsstaates, so die Befürchtung, führe auf Dauer zu einer Auflösung des Gleichgewichts von Rechten (Ansprüchen) und Pflichten (eigenen Leistungen). Daraus resultiere eine saturierte Gesellschaft, 13 die einzig am Erhalt oder der Verbesserung des Status quo interessiert sei, Veränderungen ablehnend gegenüberstehe und sich grundsätzlich risikoavers verhalte. Mehr noch: In dem Maße, wie die Bürger gegen soziale Risiken, aber auch gegen alle anderen Bedrohungen und Gefährdungen, abgesichert sein wollen, sind sie bereit, für diese Absicherung erhebliche Teile

12 Die moderne Sozialplanung für die Sozialpolitik beruht auf den Überlegungen von Lambert Adolph Quételet (1796-1874). Er schuf mit seinem Idealtyp des ›homme moyen‹ die Verbindung von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik, die auch heute noch die theoretische Grundlage vorausschauender Sozialpolitik darstellt (vgl. Hölscher 1999: 108). 13 Die Metapher dafür war die Formel Helmut Schelskys von der »nivellierten Mittelschichtsgesellschaft« (dazu Münkler 2010b: 216).

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ihrer Selbstbestimmung und Freiheit gegenüber dem Staat aufzugeben und sich staatlichen Regulierungen vorbehaltlos auszusetzen, selbst wenn diese die Form der Bevormundung annehmen oder tief in die Privatsphäre eingreifen. Dem von Max Weber befürchteten Sozialpaternalismus schien so Tür und Tor geöffnet. So lauteten die konservativen und liberalen Einwände gegen die Expansion des Wohlfahrtsstaats und die damit verbundene Unsicherheitsreduktion und Risikoübernahme. Trotz dieser Warnungen geriet mit dem Erfolg des Sozialstaates die Fragilität dieses Modells aus dem Blick. Um seine Rolle als zuverlässiger Sicherheitsgarant wahrnehmen zu können, der nicht nur gegen die sozialen Risiken einer kapitalistischen Marktgesellschaft absichert, sondern auch die Einhaltung sozialer Mindeststandards gewährleistet, ist der Sozialstaat in wachsendem Maße auf staatliche Finanzmittel angewiesen. 14 Die Solidargemeinschaft der Sozialversicherten wurde vom Steuermittelzufluss abhängig. Hierin liegt die Achillesferse des Systems. Solange der Risikoschutz mittels der auf Lohnarbeit beruhenden sozialen Sicherungssysteme funktioniert, kann der Sozialstaat den an ihn gestellten Sicherheitserwartungen größtenteils genügen. Problematisch wird dies, wenn die durch Lohnarbeit generierten Finanzmittel massiv einbrechen und die Erwerbsarbeit »infolge von Prozessen der Deregulierung und Entberuflichung ihren Charakter als vertraglich abgesicherte, verlässliche Einkommensquelle« (Honneth 2011: 11) mithin also ihren Sicherheitswert verliert. Mit dem Ende des keynesianischen Wirtschaftsmodells wurde offensichtlich, »dass nicht nur das eigene Beschäftigungsverhältnis, sondern darüber hinaus das Kollektivgut eines hohen Beschäftigungsstandes maßgeblich ist für die Haltbarkeit des Netzes der sozialen Sicherheit, das bei unzulänglichen Beschäftigungsstand in die Schere von Beitragssteigerungen und gleichzeitigen Leistungskürzungen zu geraten droht.« (Offe 2003: 30)

Der Sozialstaat gerät dann in Gefahr, die gegebenen Sicherheitsversprechen nicht mehr einhalten zu können; gleichzeitig muss er sich den Bürgern gegenüber jedoch als enttäuschungsresistent erweisen, will er seine Legitimation als zuverlässiger Garant von Sicherheit und notfalls auch als Ausfallbürge aller anderen Sicherheitsgaranten, nicht verlieren. Dabei wird er mit

14 So verweisen Schumann/Grefe (2008: 83f.; 23, FN 22) auf die Transformation der nationalen Ökonomien, deren Ergebnis eine immer weiter fortschreitende Ausdehnung der Finanzindustrie zur Folge hatte, mit dem Resultat, dass Sicherungssysteme – wie bspw. die Pensionsfonds – nicht mehr als Sicherungsreserve dienen, sondern zum festen Bestandteil ökonomischer Krisen geworden sind. Andererseits müssen diese Pensionsfonds darauf aus sein, an den Zugewinnen der Finanzindustrie teilzuhaben, wenn sie ihre Versprechen einer dynamischen Teilhabe am Wirtschaftswachstum einlösen wollen.

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dem subjektiven Sicherheitsempfinden seiner Bürger konfrontiert: »Je höher das Sicherheitsniveau und die Sicherheitsansprüche, desto mehr Unsicherheiten werden realisiert und desto mehr ›neue‹ Unsicherheiten werden entdeckt, die ihrerseits nach mehr Anstrengungen bei der Herstellung von Sicherheit verlangen.« (Bonß 2010: 37f.) Zeichnen sich hier die Grenzen der bisherigen Sicherungsstrategien ab, muss der Sozialstaat seine Sicherheitsarchitektur überdenken und versuchen, entweder seine Ressourcenausstattung zu erhöhen oder das Interventionsniveau zur Risikoreduktion zu verändern, indem er etwa die bislang obligat kollektive Risikovorsorge hin zu einer (teilweise) freiwilligen privaten Risikovorsorge verschiebt, ohne dabei den Regulierungs- und Kontrollanspruch preiszugeben. 15 Schließlich wird die Frage virulent, inwieweit die Unsicherheitsreduktion für elementare Existenzbedingungen der Individuen noch Gegenstand kollektiv verantworteter Absicherung ist, kurz: für welche Verantwortlichkeiten das Individuum und für welche die Allgemeinheit zuständig ist.

5. M ARKTGESELLSCHAFT DER G EGENWART

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Steht der Sozialstaat als solcher auch nicht zur Disposition, so sieht er sich doch zunehmend mit Problemen seiner Interventionsdimension konfrontiert. Wie gezeigt, lässt sich die jeweils gewählte Sicherungsstrategie nur solange aufrechterhalten, wie ihre finanziellen Kosten beglichen werden können. Sobald aufgrund fehlender Mittel die Grundlage dafür zu erodieren droht (»Finanzierungslücke«), das Niveau der Absicherung jedoch beibehalten werden soll, müssen die institutionellen Arrangements der Risikoabsorption anders kalkuliert werden. Dazu wird die Garantenrolle des Sozialstaats als »Staat der garantierten Sicherheit und Einkommensausgleichung« (Röpke 1958: 212) neu interpretiert: Der Erhalt des erreichten Sicherheitsniveaus wird geknüpft an die Bereitschaft unterschiedlicher Akteure zur (teilweisen) Übernahme der Kosten: »Im Zentrum des neuen Regierungsmodus steht der tendenzielle Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit, vom kollektiven zum individuellen Risikomanagement, von der Sozialversicherung zur Eigenverantwortung, von der Staatsvorsorge zur Selbstsorge« (Lessenich 2008: 82). Damit muss geklärt werden, welche bisherigen Sicherheitszusagen reduziert und welche sozialen Risiken weiterhin kollektiv abgefedert oder an die Bürger als ›Risikoträger‹ weitergereicht werden. Der

15 Dass diese Strategie nicht nur in der politischen Diskussion relevant ist, zeigen die Modelle zur privaten Rentenvorsorge. Gekoppelt mit dieser Strategie ist eine Modifikation des Finanzierungssystem, die Entkoppelung von Erwerbsarbeit und sozialen Sicherungssystemen, denkbar, wie sie etwa im Modell der »Grundeinkommensversicherung« besteht (ausführlich dazu Opielka 2004: 253ff.).

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Vorsorgestaat des 20. Jahrhunderts erfährt eine bedeutsame Modifikation. Hinzu kommt, dass die Bereitschaft zur (partiellen) Kostenübernahme nicht allein für die soziale Absicherung gilt, sondern ebenso für die ›Kosten‹ bei der Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit. Dafür müssen die Bürger bereit sein, auf Teile ihrer Freiheitsrechte bzw. die Garantie ihrer Privatsphäre 16 zu verzichten und diese als ›Verhandlungsmasse‹ bei der Aufrechterhaltung staatlicher Sicherheitszusagen einzusetzen. Es steht jedoch außer Frage, dass die den Staatsbürgern zugemuteten ›Aufwendungen‹ für die ›äußere Sicherheit‹ im Vergleich zu denen von der Herausbildung des institutionellen Flächenstaates bis weit ins 20. Jahrhundert hinein deutlich abgesenkt worden sind und als Ressorthaushalte im Staatsetat seit den 1970er Jahren von denen für die soziale Sicherheit weit übertroffen werden. Zur Verminderung dieser ›Aufwendungen‹ gehört schließlich auch die in fast allen europäischen Ländern inzwischen erfolgte Abschaffung der Wehrpflicht, die nicht nur als staatlicher Eingriff in die persönliche Lebensgestaltung, sondern als die Bereitschaft zur Aufopferung des eigenen Lebens bzw. der körperlichen Unversehrtheit zum Zwecke der kollektiven Sicherheit zu verstehen ist. Verglichen mit den Anforderungen von Wehrpflicht und Kriegsdienst sind die Eingriffe in die Sphäre des Privaten, die der Präventionsstaat zur Abwehr der Bedrohungen durch Terrorismus und organisierte Kriminalität für sich in Anspruch nimmt, als die mithin folgenreichste Veränderung im Sicherheitsarrangement des Staates anzusehen. Die neuen Sicherheitskonzeptionen changieren zwischen ›Marktgesellschaft‹ und ›Präventionsstaat‹. Während in der Marktgesellschaft das »unternehmerische Selbst« (Bröckling 2007) aufgefordert ist, aktiv die Verantwortung für die Unsicherheitsreduktion zu übernehmen, ist der Präventionsstaat als neuartige Ausprägung der Regulations- und Kontrollfunktionen des Staates zu begreifen. Sie sind komplementäre Konzeptionen, die als handlungsleitendes Paradigma zur Herstellung und Bewahrung von Sicherheit avancieren. Beide dienen dem Sicherheitskalkül, den (Sozial-)Staat ›leistungsfähig‹ zu halten und seinen Nimbus als Sicherheitsgarant weiterhin zu gewährleisten. 5.1 Die Marktgesellschaft In der Marktgesellschaft ist das Individuum zum größten Teil selbst für sein Risikomanagement zuständig – und damit ist es für die Folgekosten 17 eben-

16 Die Debatte über das ›Recht auf Privatheit‹ hat in den letzten Jahrzehnten erheblich an Bedeutung gewonnen, wobei das Private freilich stärker gegen den Sicherheitsstaat als gegen den Wohlfahrtsstaat konturiert worden ist (vgl. Geuss 2002; Sofsky 2007; Schaar 2007 sowie Hummler/Schwarz 2003). 17 Das Individuum kann auch für Folgekosten (Verluste) zur Verantwortung gezogen werden, für die es nicht verantwortlich ist, wie das im ›Casino-Kapitalismus‹

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so verantwortlich wie für seine generelle Vorsorge. Es erfolgt eine doppelte Verantwortungszuweisung an das Individuum, das gleichzeitig »der moralischen Pflicht persönlicher Verantwortung [...] sowie der gesellschaftlichen Verpflichtung, sich selbst zu schützen« (Walter 2010: 226) genügen muss. 18 Wird das kollektive Versicherungsprinzip auch nicht gänzlich aufgegeben, so wird es doch porös und in Teilen durch das Spekulationsprinzip ersetzt: Das Individuum muss selbst Annahmen über die Eintrittswahrscheinlichkeit von Risiken machen und diesen spekulativen Annahmen entsprechend Vorsorge treffen. Das Spekulationsprinzip (das hier nicht philosophisch, sondern wirtschaftlich zu verstehen ist) fungiert dabei als Modus des Kontingenzmanagements. Auch wenn das Individuum bestrebt ist, Kontingenz durch systematische oder dilatorische Risikovermeidung zu reduzieren, kann es sich dem soziopolitisch vorgegebenen Kontingenzmanagement nicht entziehen (vgl. Makropoulos 1990: 11). Die »Maxime ›Handle unternehmerisch!‹ [wird] zur übergreifenden Richtschnur der Selbst- und Fremdführung« (Bröckling 2007: 13). 19 Das Individuum muss sich als Marktsubjekt, als ›unternehmerisches Selbst‹ betätigen und operiert dazu mit auf Vermutungen beruhenden Überlegungen, wie sie im Marktgeschehen üblich sind: In der Wirtschaft erfolgt der Kauf/Verkauf von Gütern in der Erwartung, sie zu einem späteren Zeitpunkt mit Gewinn wieder (ver-)kaufen zu können. Ähnliche Überlegungen sind vom Individuum anzustellen, wenn es um die Entscheidung geht, in welcher qualitativen und quantitativen Form in die Sicherheitsvorsorge investiert werden soll, um daraus später Gewinne ziehen zu können und Fehlinvestitionen zu vermeiden. Voraussetzung dafür ist, dass das unternehmerische Selbst sein ›Humankapital‹ und seine Sonderqualifikationen möglichst gewinnbringend vermarktet und einsetzt. Folglich muss sich das Individuum in gewisser Weise wie die Figur des »speculative

der Fall ist: Auch wenn das Individuum nicht an den hochspekulativen Finanzgeschäften beteiligt war, muss es als Steuerzahler doch für die Verluste der Finanzmarktindustrie einstehen, wie dies beim Zusammenbruch von Banken zu beobachten war (vgl. Münkler 2009: 15). 18 Lessenich (2008: 14) gebraucht hierfür den Begriff »neosozial«. Im Kontext der hier erfolgten Darstellung einer Transformation der Sicherheitsregime von der Moral- zur Marktökonomie im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts könnte man auch von einer ›Remoralisierung‹ der Risikobegrenzung und Sicherheitsvorsorge sprechen, wobei diese jedoch im Unterschied zur ›moralischen Ökonomie‹ der traditionalen Gesellschaft radikal individualistisch ist. 19 Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Initiative der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren, im neuen »Lehrplan 21« bereits in der Primarschule das Wissen um Geld und Aktien zum Pflichtstoff zu erheben. Unter anderem gehört für die Erstklässler ein »Verständnis des Prinzips von Angebot und Nachfrage und des Geldflusses« (vgl. Bracher 2011: 11) dazu.

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merchant« (Smith 2006: 148) verhalten, der seine Investitionen und Entscheidungen an dem maximal zu erzielenden Gewinn ausrichtet – und die damit verbundenen Risiken in Kauf nimmt oder aber einer ›mittleren Linie‹ folgt, bei der die Risiken, aber auch die Gewinnaussichten niedriger sind. Das Individuum kann sich also nicht völlig risikoavers verhalten; mehr noch: Es muss bereit sein, auch Risiken zu akzeptieren, die es nicht beeinflussen kann: »Die Risiken, die jede Entscheidung mit sich bringt, mögen von Kräften verursacht sein, die jenseits des Begreifens und der Handlungsfähigkeit des Einzelnen liegen, und doch ist es das Schicksal und die Pflicht des Einzelnen, den Preis dieser Risiken zu zahlen.« (Baumann 2008: 10) Die Ungewissheit, ob die getätigten Investitionen in die ›richtigen‹ Bereiche erfolgen und ob sie sich jemals auszahlen werden (was aufgrund der Unverfügbarkeit aller dafür notwendigen Informationen nicht abschätzbar ist), führt zu Unsicherheitsempfindungen, die ein Bestandteil des so genannten Sicherheitsparadoxes sind, wonach das Gefühl der Unsicherheit parallel zur Höhe der Sicherheitsaufwendungen wächst. Das Individuum kann dabei unter Umständen auf Risikoanalysten 20 zurückgreifen, was allerdings nicht davon entbindet, bei Fehlinvestitionen die Konsequenzen seiner Entscheidungen zu tragen. Zudem stellen Investitionen, wie z.B. der Erwerb beruflicher Kompetenzen, keinen dauerhaft stabilen Wert dar, sondern unterliegen dem Risiko eines jederzeit möglichen Wertverlusts. Einmalige Investitionen in das Humankapital und Sonderqualifikationen genügen nicht mehr für eine lebenslange Absicherung. Vielmehr muss das unternehmerische Selbst permanent überprüfen, ob (erneut) investiert werden muss und gegebenenfalls reagieren. Nicht in die ›Optimierung‹ des vorhandenen ›Kapitals‹ zu investieren, ist hochriskant und wird gesellschaftlich in wachsendem Maße stigmatisiert. Plastisch wird dies bspw. an der Einforderung eines lebenslangen Lernens. Problematisch ist diese Art der Unsicherheitsreduktion für all jene, die aufgrund fehlender Sonderqualifikationen oder einer für den Markt ungünstigen Ausstattung mit Humankapital nur eine geringfügige Sicherheitsvorsorge und Absicherung erreichen können und sich, »[r]ückverwiesen auf sich selbst« (Vobruba 2009: 142), mit existentieller Unsicherheit konfrontiert sehen, wie sie anhand der Sozialfiguren der »Ausgeschlossenen« (Bude 2008), »Überflüssigen«, »Abweichler« und »Unsichtbaren« (Rüb 2010: 227) beschrieben werden. Das ›unternehmerische Selbst‹ ist nicht zu verwechseln mit dem Unternehmertyp, wie ihn Schumpeter entworfen hat: Dem Pionier, der neue Möglichkeiten schafft, wagt, »allein und voraus zu gehen, Unsicherheit und Wi-

20 Risikoanalysten sind aufgrund der Unüberschaubarkeit der Informationen unverzichtbar zur Identifizierung und Bewertung von Risiken, um erfolgversprechende Anlagestrategien zu erarbeiten. Auch Sozialprofessionelle können in diesem Sinn als Risikoanalysten betrachtet werden.

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derstände nicht als Gegengründe zu empfinden« (Schumpeter 1912: 129). Nicht die (wirtschaftliche) Avantgardefunktion steht beim ›unternehmerischen Selbst‹ im Vordergrund, sondern es geht darum, unter einer permanenten »Dynamik der Ökonomisierung« (Bröckling 2007: 11) für eine erfolgversprechende Selbsterhaltung zu sorgen. »Selbst-Kontrolle«, »SelbstÖkonomisierung« und »Selbst-Rationalisierung« (vgl. Voß/Pongratz 1998) charakterisieren das Anforderungsprofil dieses ›unternehmerischen Selbst‹. Eigeninitiative und Selbstverantwortung werden zum ›unternehmerischen Auftrag‹ für das Individuum, zur Grundlage des persönlichen Kontingenzmanagements. Über die Mechanismen der Marktgesellschaft wird das herkömmlich großbürgerliche (›bourgeoise‹) Modell der Selbstsorge zum gesamtgesellschaftlichen Standardmodell generalisiert. Der große Profiteur dieser Entwicklung ist die Versicherungsindustrie. Deren Vertreter agieren als die Risikoanalysten der Versicherungsnehmer, wobei, im Unterschied zu herkömmlichen Risikoanalysen, die Folgen von Fehleinschätzungen nicht das eigene Unternehmen, sondern dessen Kunden zu tragen haben. Unter der Perspektive von Sicherheitsgewinn und Unsicherheitsreduktion geht es hier nicht primär um die Rivalität zwischen den Unternehmern ihrer Selbst als »Schauplatz unkontrolliert wuchernder Selbstbehauptung« (Honneth 2011: 17). In der ›enterprise culture‹ der Marktgesellschaft stehen die Selbstverantwortung und die Verpflichtung des Individuums gegenüber dem Gemeinwohl im Vordergrund, was bedeutet, das das ›unternehmerische Selbst‹ alle Kräfte zu mobilisieren hat, um sozialstaatliche Leistungen zur Absicherung möglichst wenig in Anspruch zu nehmen: »Individuelle Aktivität, Mobilität, Bewegung zählen dann, wenn sie als gemeinwohldienlich gelten« (Lessenich 2008: 76) und die »Eigenverantwortung […] zugleich [als] Zeichen persönlicher Autonomie und Ausweis sozialer Verantwortlichkeit« (ebd.: 83, Herv. i.O.) anzusehen ist. Da Eigenverantwortung mit einer Steigerung von Autonomie und einer Zunahme der Freiheit des Individuums gleichgesetzt und ihm die Fähigkeit zur Unsicherheitsreduktion unterstellt wird, kann ihm auch das damit verbundene Kontingenzmanagement zugemutet werden. Gelingt die Unsicherheitsreduktion nicht oder nur unzureichend, sind in erster Linie das unternehmerische Selbst und erst anschließend der Sozialstaat gefordert. Entsprechend gilt es nicht nur als unvernünftig, sondern auch als unmoralisch und gemeinwohlschädigend, sich allein auf die Absicherung durch den Sozialstaat verlassen zu wollen, zumal die Imagination als »handlungsmächtiges Subjekt« (Bröckling 2007: 56) nahelegt, die jeweilige Sicherheitsausstattung in die eigene Verantwortung zu überführen. 21

21 Plastisch wird dieser Umstand insbesondere im Bereich des Arbeitsmarktes: Das Individuum ist aufgefordert, aktiv und eigenverantwortlich mittels seiner Arbeitskraft Vorsorge für seine Absicherung zu betreiben. Sozialstaatliche Leistungen sollen hierfür nur vorübergehend oder als Ergänzung in Anspruch genom-

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So erfährt der Sicherheitsdiskurs eine Remoralisierung, in deren Folge die Schuldfrage (Verursacherprinzip) in den Vordergrund rückt und sozialversicherungstechnische Lösungen immer mehr in den Hintergrund treten. Indes bedeutet dies nicht die Beendigung (sozial-)staatlicher Interventionen, sondern verweist auf die Aktivierung als neue staatliche Sicherheitsstrategie, »die passive Inaktivität, hervorgerufen durch unbedingte Wohlfahrtsleistungen, zugunsten einer erhöhten Aktivität und Selbstverantwortung […] ersetzen will. […] Sie verlagert die Bewältigung und damit Kompensation von sozialen Risiken vom Staat auf die Individuen oder sozialen Gruppen zurück« (Rüb 2010: 243f.), jedoch um den Preis, dass mit dem Ende wohlfahrtsstaatlicher Sicherheit die Sicherheitsniveaus der Individuen erheblich voneinander divergieren, die Verlässlichkeit solidargemeinschaftlicher bzw. staatlicher Sicherheitsgarantien brüchig wird und so ein wachsendes Gefühl der Unsicherheit und Ungewissheit entsteht – mit dem Resultat, dass die Zukunft als bedrohlich wahrgenommen wird (vgl. Castel 2005: 72). 5.2 Der Präventionsstaat Das mit der Rückführung kollektiver wohlfahrtsstaatlicher Sicherheit verbundene Absinken des Wohlstandsniveaus führt zu einer gestiegenen gesellschaftlichen Verunsicherung darüber, welchen (sozialen) Sicherheitsstandard die Individuen zukünftig als verlässlich ansehen können. Dabei spielt die Erosion des ›Generationenvertrags‹ infolge der demografischen Umbrüche eine erhebliche Rolle. Hinzu kommt die Rückkehr von Krieg und Terror in das Alltagsbewusstsein der Individuen sowie die Furcht vor einer Ausweitung der Kriminalität (vgl. Rosa 2009: 115). Ausschlaggebend ist hierbei nicht so sehr das objektive (materielle) Sicherheitsniveau, sondern das subjektive Sicherheitsgefühl der Individuen, das sich an den gängigen Sicherheitsdiskursen orientiert: Die Unvorhersehbarkeit der Auswirkungen (einschneidender) gesellschaftlicher Veränderungen auf den erreichten Sicherheitsstandard und die eigene Position des Einzelnen in der Gesellschaft führen zu immer neuen Sicherheits- und Abgrenzungsbedürfnissen, um das Erreichte zu verteidigen (vgl. Singelnstein/Stolle 2008: 38). Aufgrund der Unabsehbarkeit ihrer Folgen werden derartige Veränderungen in aller Regel als (potenzielle) Bedrohungen interpretiert, die vom Individuum nicht bearbei-

men werden. Dabei gilt nahezu jede Arbeit als zumutbar. Im Falle der Ablehnung zugewiesener Arbeit muss das Individuum mit der moralischen Schuldzuweisung rechnen, sich als Kostgänger der Gesellschaft zu verhalten (vgl. dazu die Beiträge von Bohlender und Schallberger in diesem Band). Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass die Solidargemeinschaft des sozialmoralischen Milieus der Arbeiterschaft ebenfalls über Strategien zur Begrenzung von »Kostgängertum« verfügte und dass diese sich keineswegs auf moralische Anklagen beschränkten (vgl. Thompson 1987, Bd. 1: 447ff.).

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tet werden können und entsprechend dessen Kontingenzmanagement entzogen sind. Das führt zu wachsenden Ansprüchen gegenüber dem Staat, im ›Existenzkampf‹ vor (potenziellen) Bedrohungen geschützt zu werden. 22 Damit kommt es zu einer Wiederkehr des Effekts der Ummauerung, wie er in den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Gesellschaften zu beobachten ist, der die als bedrohlich wahrgenommenen Fremden draußen halten soll und den paradoxalen Effekt nach sich zieht, dass, je mehr in die Ummauerung investiert wird, desto bedrohter die Sicherheitslage erscheint (vgl. Baumann 2009). Zu den ›Kosten‹ dieser Entwicklung zählt auch eine sich schnell ausbreitende Fremdenfeindlichkeit. Die Delegation des Schutzes und der Sicherheit an den Staat, der für sichere (Zeit-)Räume zu sorgen hat, gründet jedoch nicht allein auf die von ihm erwarteten und zu erbringenden Sicherheitspolitiken, sondern ist ebenso eine Folge einer Selbstinszenierung der politischen Klasse: Mit ihrer Symbolik der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit suggerieren sie, der Staat könne tatsächlich in einem umfassenden Sinn als Sicherheitsgarant dafür einstehen, dass die Zukunft planbar und damit die Kontingenz mittels seiner Kontroll- und Regulierungsfunktion politisch handhabbar seien: »Da das institutionell vermittelte Sicherheitsversprechen die individuellen Erwartungen nährt und ansteigen lässt, nimmt das Unsicherheitsgefühl selbst bei einem Anstieg der materiellen Sicherheitsleistungen zu, da diese systematisch hinter dem symbolischen Versprechen umfassender Sicherheit zurückbleiben müssen.« (van Dyk/ Lessenich 2008: 20)

Gerade aufgrund seiner Rolle als Sicherheitsgarant kann sich der Staat gegenüber den Forderungen seiner Bürger nicht abstinent verhalten; schließlich bezieht er seine Legitimation aus seiner Fähigkeit zur Herstellung verlässlicher Sicherheit (vgl. Bauman 2005: 73). 23 Die Sicherheitserwartungen, die an die ordnungspolitischen Agenturen gestellt werden, und die von diesen zum Erhalt eines bestimmten Sicherheitsniveaus als notwendig angenommenen Sicherheitsmaßnahmen verlangen nach einer Sicherheitsstrategie, die zwar keine Sicherheitsgewissheit bieten kann, aber dennoch als Vor-

22 Dieser Wunsch nach umfassender Sicherheit kann treffend mit dem deutschen Begriff der Geborgenheit gefasst werden: sich sicher, beschützt und behütet zu fühlen. Dem Staat fällt hierbei die Aufgabe zu, dafür Sorge zu tragen, dass Selbst- und Systemsicherheit gegeben sind und durch ihn als übergeordnete Instanz dauerhaft abgesichert werden. Der Staat tritt an die Stelle des ›pater familias‹, weshalb auch von einer paternalistischen Sicherheit gesprochen werden kann (vgl. Münkler 2009: 25). 23 Auch deshalb nicht, weil das Unsicherheitsgefühl keineswegs ein Phänomen der gesellschaftlichen Randgruppen ist, sondern sich aus der Mitte der Gesellschaft speist (vgl.van Dyk/Lessenich 2008: 21).

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aussetzung dafür angesehen wird, dass mögliche Bedrohungen auf ein Mindestmaß begrenzt werden. Dazu sind zwangsläufig Reglementierungen notwendig. Je bedrohter die Sicherheitslage eingestuft wird, desto höher fällt der Reglementierungsbedarf aus, und zwar in qualitativer wie quantitativer Hinsicht, was schließlich dazu führt, dass das klassische Vorsorgeprinzip als nicht mehr ausreichend für die Absicherung des Sicherheitsniveaus betrachtet wird. Der Staat reagiert mit einer Ausdehnung seiner Maßnahmen, um auch potenzielle Bedrohungen (der Sicherheit) ausschalten zu können. Es kommt zu einer Vorverlagerung seiner Interventionen; das Kontingenzmanagement wird auf das Präventionsprinzips umgestellt bzw. um dieses erweitert. Prävention ist hierbei als politische Programmatik zu verstehen, die auf dem Prinzip der Vorbeugung und damit des Vorausgreifens beruht (vgl. Graulich/Simon 2007). Auch Eingriffe in das Affektleben der Individuen, wie sie der Vorbeugung zugrunde liegen, werden unter Berufung auf die Sicherheitsdoktrin in Kauf genommen. Komplementär zu den oben skizzierten Mechanismen der Marktgesellschaft erfolgt die Sicherheitsgewährung auch über den Präventionsstaat, der Unsicherheitsreduktion über Kontroll- und Regulationsfunktionen betreibt. Dabei lassen sich Unterschiede in der Umsetzung des Präventionsprinzips bei der Sicherheitsgewährleistung durch den Staat beobachten. Wohl sind in allen Bereichen der politischen Steuerung Regulations- und Kontrollfunktionen anzutreffen, doch lässt sich eine stärkere Ausprägung der Kontrollfunktion in den klassischen Bereichen der Gewährleistung innerer und äußerer Sicherheit beobachten (vgl. dazu den Beitrag von Meier Kressig in diesem Band), während für die Gewährleistung sozialer Sicherheit stärker die Regulationsfunktion in Anspruch genommen wird. Regulation erfolgt nicht durch Zwang »mit Strategien des Überwachens und Strafens, sondern indem man die Selbststeuerungspotenziale aktiviert« (Bröckling 2007: 61). Die Handlungsspielräume des Individuums bleiben dabei bestehen, wobei jedoch »deren Handlungskontingenz als potentielle Disfunktionalität problematisiert und konkret als aktuelle oder zumindest virtuelle Gefährlichkeit codiert« wird (Makropoulos 1990: 7). Das Kalkül der Unsicherheitsreduktion besteht darin, dass die Individuen bereits im Vorfeld Anpassungsleistungen an die geltenden Standards und die Systemerfordernisse erbringen. Diese Anpassungsleistungen sollen freilich nicht als Vorgaben gesellschaftlicher Regulation, sondern als Formen individueller Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung interpretiert werden, damit sich der Einzelne subjektiv als aktiver und verantwortlicher Akteur seines Handelns begreift (vgl. Rathmayr 2009: 174). Dabei wird auf die ›freiwillige‹ Entscheidung des Individuums gesetzt, die im Sinne der Kant’schen Bestimmung nicht nur auf Selbstbestimmung, sondern auch auf Selbstgesetzgebung beruht – der autonomen Einsicht des Individuums zu präventivem Verhalten und Handeln: »Insgesamt laufen die Anforderungen an die Leute darauf hinaus, überindividuelle Zwecksetzungen in ihre Handlungskalküle

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zu integrieren und weitreichende Effekte ihres Handelns zu internalisieren.« (Vobruba 2010: 258) Die Folgen individueller Lebensführung besitzen unter diesen Umständen nicht länger eine ausschließliche Relevanz für das Individuum. Es soll vielmehr, im Rahmen seines Handlungsspielraums, zur Unsicherheitsreduktion in die Pflicht genommen werden. Dieser Umstand betrifft nicht nur den Bereich der materiellen Vorsorge (z.B. die private Vorsorge für das Alter), sondern nahezu alle Bereiche des sozialen Lebens, insbesondere jedoch den Gesundheitsbereich: Die Reduktion der als ungesund oder gesundheitsschädlich eingestuften Verhaltensweisen sowie generell die individuelle Lebensgestaltung sind nicht länger darauf begrenzt, dass der Einzelne die Verantwortung für seine eigene Gesundheit übernimmt, sondern nun gilt es auch, die Folgen des individuellen Verhaltens im Hinblick auf die Versichertengemeinschaft und das Gemeinwohl zu berücksichtigen. Derartige Regulationsmaßnahmen finden sich selbstredend auch im Bereich der inneren Sicherheit 24 im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die nicht allein an staatliche Akteure delegiert werden kann. So ist jeder Einzelne aufgefordert, zur Verhinderung von Terroranschlägen beizutragen, sich adäquat vor Kriminalität zu schützen und in diesem Sinne präventiv zu handeln. Allerdings überwiegt hier der Aspekt der präventiven Kontrollfunktion des Staates, der bestrebt ist, möglichst umfassend sämtliche Lebensbereiche (den öffentlichen Raum ebenso wie die Privatsphäre) zur Identifikation potenzieller Risiken zu durchleuchten, um so möglichst vielen Sicherheitsrisiken vorzubeugen: »Diese Entwicklung schlägt sich in einem massiven Ausbau von staatlichen Eingriffsbefugnissen nieder, wie insbesondere in den Möglichkeiten heimlicher Überwachung. Der Zugriff auf grundrechtlich geschützte Bereiche wird somit umfassender und zunehmend anlassunabhängiger, wie an der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten, dem automatischen Kennzeichenabgleich im Straßenverkehr, an den heimlichen Zugriffen auf Bestandsdatenbanken der Telekommunikationsanbieter und dem Anstieg der Telefonüberwachung ablesbar ist.« (Singelnstein/Stolle 2008: 65)

Aufgrund seiner Sicherheitsverantwortung kann der Staat nicht auf Sicherheitsmaßnahmen verzichten, um die unabsehbaren Konsequenzen von als bedrohlich eingestuften Handlungen im Vorfeld zu bekämpfen; zudem kann er in solchen Situationen Eingriffe in die Privatsphäre nicht unterlassen,

24 Auch bei der äußeren Sicherheit findet das Präventionsprinzip seine Anwendung im Sinne der Risikovorsorge: Präventive Kriegsführung, ob gegen einen Staat oder ein Terrornetzwerk, zielt darauf ab, potenziellen Bedrohungen durch den Gegner und seinem Angriff zuvorzukommen, auch wenn diese nicht direkt erkennbar sind.

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selbst wenn dabei individuelle Freiheitsrechte verletzt werden (vgl. Münkler 2010a: 19ff.). Auch ist in Rechnung zu stellen, dass die Sicherheitserwartungen der großen Mehrheit eine Prämie für die politische Partei darstellen, die sie einzulösen verspricht. Problematisch wird die präventive Kontrollfunktion im Bereich der inneren Sicherheit allerdings dann, wenn der Staat seinen Bürgern mit grundsätzlichem Misstrauen gegenübertritt, Sicherheit zum absoluten Wert erhebt und den Ausnahmezustand zur Normalsituation erklärt: »Weil nämlich das ›Risiko‹ immer und überall existiert, wird es zur Normalität, die Nichtgefährlichkeit bildet die Ausnahme, die der Bürger für seine Person beweisen muss.« (May 2007: 96) Die daraus resultierende diffuse Unsicherheit erzeugt in der Bevölkerung das Verlangen »nach einem entschlossenen staatlichen Vorgehen [und] die Bereitschaft, weitgehenden Freiheitseinschränkungen zuzustimmen.« (Huster/Rudolph 2008: 16) So werden dem Schutzverlangen von Teilen der Bevölkerung entsprechend, präventiv Freiheitsrechte zur Disposition gestellt bzw. ihre Begrenzung als unverzichtbar zur Sicherheitsgenerierung deklariert. Galt bis in die 1990er Jahre auch die soziale Sicherheit als wesentlicher Bestandteil des sozio-politischen Sicherheitsstandards, so hat sich dies in der jüngsten Vergangenheit verändert: »Der Staat garantiert den Schutz seiner loyalen Bürger gegen Gefahren von außen und innen – um ihre soziale Sicherung müssen sie sich verstärkt selber kümmern.« (Lange 2008: 71) Die materielle Absicherung gegen soziale und wirtschaftliche Risiken wird durch die ordnungspolitischen Agenturen auf ein gewisses Maß beschränkt und den unterschiedlichen Akteuren überantwortet. In gewisser Weise wird das Versicherungsprinzip mit seiner Entlastung von individuellen Fehlentscheidungen zurückgenommen und zugleich die Frage aufgeworfen, inwieweit es dem Staat als Sicherheitsgaranten noch darum geht, »staatsbürgerliche Teilhaberechte für alle sicherzustellen« (Crouch 2008: 34). In den Vordergrund tritt nun der persönliche Schutz vor potenziellen Bedrohungen jeder Art, besonders solchen der inneren und äußeren Sicherheit. Damit erfolgt eine Verschiebung von der sozialen zur primär persönlichen Sicherheit. Der Staat ändert die Interpretation seiner Rolle als Sicherheitsgarant: Die Perspektive verschiebt sich von seiner Zusicherung sozialer Wohlfahrt (›care‹), die er noch im 20. Jahrhundert aufrechterhielt, hin zum persönlichen Schutz seiner Bürger. Diese Schutzrolle vollführt er sowohl reaktiv im Sinne der Verteidigung (›defense‹) als auch proaktiv und damit präventiv im Sinne der Abwehr (›protection‹).

E PILOG Sowohl ›Sicherheit‹ als auch ›Risiko‹ sind gesellschaftlich erzeugte Wertideen, deren Bedeutungsgehalt in den unterschiedlichen Zeitabschnitten variiert und Pendelbewegungen zwischen den idealtypischen Polen erkennen

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lässt. Die hier skizzierten Figurationen zeigen, dass es absolute Sicherheit niemals gegeben hat und diese auch zukünftig nicht erreicht werden kann. Da das Streben nach Sicherheit prinzipiell eine unendliche Dimension besitzt und sich auf immer neue Bereiche richtet, ist mit diesem Streben die Identifizierung neuer Sicherheitslücken und neuer Unsicherheiten untrennbar verbunden. Das bedeutet keinesfalls, dass das Streben nach Sicherheit nicht berechtigt wäre, zumal Sicherheit ein Grundbedürfnis der Menschen darstellt. Allerdings ist hierbei die Balance zwischen Sicherheitsfixierung und Risikoorientierung ausschlaggebend: »Moderne Gesellschaften […] können bei Strafe der Selbstzerstörung [..] weder auf eine Maximierung von Risiken noch eine Maximierung von Sicherheit setzen, sondern müssen in komplementär angelegten Strategien der Sicherung Welten der Sicherheit mit Kulturen des Risikos verbinden, damit daraus eine nachhaltige 25 Sicherheit entsteht.« (Münkler 2009: 27)

Wie dabei die Sicherheitsarrangements ausgestaltet sind, welche Sicherheitskalküle verfolgt werden und welche Sicherheitskosten als gerechtfertigt gelten, liegt – wie hier an den unterschiedlichen Figurationen von Sicherheit und Risiko skizziert – maßgeblich in den Wahrnehmungsmustern der jeweiligen Gesellschaften begründet. Davon ist auch die gegenwärtige Gesellschaft nicht entlastet. Sie muss sich zur Bearbeitung der Kontingenz folgende Fragen stellen: Welches Sicherheitsverständnis besitzt sie überhaupt? Welche Sicherheitsausstattung wird als legitim erachtet? Welche Risiken ist man bereit, als Gesellschaft in Kauf zu nehmen und letztlich die Kosten dafür zu tragen? Welche Risiken sind den Individuen zumutbar und welche Sicherheiten unverzichtbar, damit überhaupt Risiken im Sinne eines persönlichen, aber auch eines wirtschaftlichen oder politischen Wagnisses eingegangen werden (können)? Schliesslich wäre zu fragen, ob unsere Gesellschaft einen neuen Gesellschaftsvertrag benötigt, um eine faire Verteilung der Kosten für die Sicherheitsleistungen zu erreichen. Zu berücksichtigen wäre dabei, dass die Generationen ein je unterschiedliches Arrangement zwischen Absicherung und Risiko präferieren können und dass (starke) Interessengruppen ihre jeweilige partikulare Sichtweise von Sicherheitsausstat-

25 Hierbei wäre aus einer globalen Perspektive danach zu fragen, was als ein unerlässliches Sicherheitsniveau für die Individuen und die Stabilität von Gesellschaften anzusehen ist. Die Verinselung und Abschottung von Staaten mit einer hohen Sicherheitsausstattung wird auf Dauer immer dazu führen, dass das erreichte Sicherheitsniveau durch Migrationsbewegungen, finanzielle Transferleistungen und terroristische Anschläge ein äußerst fragiles Konzept bleibt. Verteilungsdiskurse zur Erlangung von nachhaltiger Sicherheit würden demzufolge nicht allein als eine innerstaatliche Angelegenheit zu führen sein, sondern müssten ebenso die globale Perspektive in den Blick nehmen.

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tung und Risikozumutung im öffentlichen Diskurs als die einzig richtige durchzusetzen versuchen. Insofern geht es nicht bloß um eine Balance zwischen Ressourcen und Leistungsversprechen, sondern auch um ein Austarieren unterschiedlicher Interessengruppen, die je eigene Vorstellungen von erwartbarer Sicherheit und zumutbaren Risiken haben.

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Auf dem Weg zur Beteiligungsgesellschaft 1 G REGOR H USI Dene wos guet geit Giengs besser Giengs dene besser Wos weniger guet geit Was aber nid geit Ohni dass's dene Weniger guet geit Wos guet geit Drum geit weni Für dass es dene Besser geit Wos weniger guet geit Und drum geits o Dene nid besser Wos guet geit MANI MATTER

E INLEITUNG »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« – keine politische Formel hat je wieder dieselbe Bekanntheit erlangt wie jene Wertedreiheit aus der Zeit der Französischen Revolution. Freilich, wandelt man auf den Spuren politischer Werte im 18. und 19. Jahrhundert (Husi/Meier Kressig 1998: 148-158), stößt man auf viele andere Werte-Sammlungen, darunter oft Dreiheiten. Eine wichtige, historisch belegbare These lautet, dass Sicherheit – und nicht primär die »Fraternität« – gleichgewichtig neben Freiheit und Gleichheit die politische Moderne grundiert hat (Husi/Meier Kressig 1998: 158ff.). »Die Überzeugung, Sicherheit gehöre zusammen mit Freiheit und Gleichheit zur normativen Grundlage politischer Ordnung, entspricht dem Selbstverständ-

1

Für kritische Kommentare zu diesem Text danke ich ganz besonders Bruno Keller, Marcel Meier Kressig, Peter A. Schmid und Beatrice Windlin.

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nis der demokratischen Moderne«, hält Marti (2006: 105) fest. In dieser Moderne entwickelt sich das Bedeutungsfeld von Sicherheit und Unsicherheit, Risiko und Gefahr, Gewissheit und Schutz zunächst im politischen Diskurs und daraufhin auch in anderen Bereichen. Diese Entwicklung und der entsprechende Bedeutungszuwachs haben sogar dazu geführt, dass Menschen heutiger westlicher Demokratien in einer »Sicherheitsgesellschaft« leben, »die sich dadurch auszeichnet, dass Regieren zunehmend über Verunsicherung erfolgt und das Streben nach umfassender Sicherheit anderen Zielvorgaben vollständig übergeordnet und zum Wert an sich wird« (Singelnstein/Stolle 2006: 13). Begriffe wie »Gleichheitsgesellschaft« oder »Freiheitsgesellschaft« haben sich demgegenüber noch nicht gebildet. Werte – so auch Sicherheit – entfalten ihre Geltung nur im Kontext von und zuweilen in Konkurrenz mit anderen Werten. Grund genug, über Grundwerte von Demokratien nachzudenken und deren Platz in einer gesellschaftstheoretischen Konzeption zu bestimmen. Jener Denker, der das Fundament der – zumindest soziologischen – Reflexion von Werten legte, ist zweifellos Max Weber. Er verfolgte genau, wie der Geist des Kapitalismus menschliches Zusammenleben revolutionierte und schuf in seiner Handlungstheorie mit »wertrationalem Handeln« einen besonderen, in Werten gründenden Handlungstypus. Weber schenkte, verglichen mit dem Kapitalismus, dem »Demokratismus« weniger Aufmerksamkeit, wie man, in positiver Bedeutung, spätestens seit Friedrich Schlegels Versuch über den Begriff des Republikanismus von 1796 oder auch mit Max Scheler sagen kann, der den Demokratismus zu den »Weltanschauungsformen« zählte (Truhlar 2006: 166, 168; vgl. auch Husi/Meier Kressig 1998: 146). Webers geringeres Interesse erstaunt, denn Modernisierungsprozesse im Geist des Demokratismus haben die Moderne nicht minder geprägt und lassen sich mit seiner Konzeption der Verwirklichung von Werten einsichtsreich analysieren: In Webers Theorie (Husi/Meier Kressig 1998: 60-144) eignet Werten eine eigene Wirklichkeit, die Wertewirklichkeit (demokratische Grundwerte), d.h. Menschen verinnerlichen Werte in ihren Lebenszielen und wünschen sich demnach Zustände und Ereignisse in der subjektiven, sozialen und objektiven Welt, die den bevorzugten Werten entsprechen. Dabei entwickeln sie in Bezug auf dieselben Werte zuweilen sehr unterschiedliche Wertinterpretationen. Indem sich Menschen in ihrem Handeln an interpretierten Werten orientieren und ihre Lebensweise an ihnen ausrichten, tragen sie, mehr oder weniger erfolgreich, zum Prozess der Werteverwirklichung (Demokratisierung) bei, die stets vorläufige Ergebnisse, die Werteverwirklichtheit (Demokratiediagnose), zeitigt. Der nachfolgende Beitrag versucht, diese Zusammenhänge zu erschließen, und zwar auf der Grundlage einer handlungstheoretisch verankerten Gesellschaftstheorie. Zunächst wird aufgezeigt, welche Grundwerte den Geist des Demokratismus prägen. Daraufhin werden Demokratiediagnosen gesichtet, um die ›Verwirklichtheit‹ demokratischer Werte einzuschätzen. Diese Einschätzungen reichern zugleich die Auffassung von Demokratie

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und Demokratisierung an. Danach wird ein differenziertes Gesellschaftsbild in der Nachfolge von Giddens und Bourdieu, die Modale Strukturierungstheorie, skizziert. Es erlaubt, die gesellschaftlichen Orte zu bestimmen, wo die Grundwerte ihre Verwirklichung finden. Indem Prozesse zugleich radikaler und pluraler Demokratisierung in diesem theoretischen Licht betrachtet werden, zeichnen sich zum Schluss die Umrisse einer neuen Leitvorstellung ab; es handelt sich um die Beteiligungsgesellschaft.

D ER G EIST DES D EMOKRATISMUS : G RUNDWERTE DER M ODERNE »Wie Sterne am Himmel gibt es aber unzählige Werte, weshalb man Grundwerte braucht, um Emphase auszudrücken. Hier werden dann Traditionsbegriffe wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, Würde, Wohlfahrt, Solidarität benutzt, um Sonderrang zu markieren. Damit überhöht sich die Ordnung der Wertreferenzen selbst noch einmal.« Luhmann (1993: 19) zählt hier einige Werte auf, die er näher als Grundwerte charakterisiert, ohne sich allerdings auf einen allseits akzeptierten Kanon von Grundwerten beziehen zu können. Welche Werte empfehlen sich denn in systematischer Betrachtung als sogenannte Grundwerte? Im September 2000 trafen sich am Sitz der Vereinten Nationen in New York rund 150 Staats- und Regierungschefs. Sie erörterten die gemeinsamen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte. Es war das größte Treffen von Staatsund Regierungsoberhäuptern in der Geschichte überhaupt. Aus diesem Treffen resultierte die Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen (Generalversammlungsresolution 55/2). Hierin bekräftigen die Teilnehmenden ihre »Verpflichtung auf die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, die sich als zeitlos und universal bewiesen haben« (Vereinte Nationen 2000: 5). Die Globalisierung solle eine »positive Kraft für alle Menschen der Welt« werden. Die internationalen Beziehungen sollen im 21. Jahrhundert ausdrücklich von folgenden »Grundwerten« geprägt sein: • Freiheit (Freiheit von: Hunger, Furcht vor Gewalt, Unterdrückung, Unge-

rechtigkeit) • Gleichheit (Gleichberechtigung, Chancengleichheit, insbesondere von

Männern und Frauen) • Solidarität (Hilfe der größten Nutznießer an Leidende und Benachteiligte) • Toleranz (wechselseitige Achtung hinsichtlich Glauben, Kultur und Spra-

che; Dialog) • Achtung vor der Natur (nachhaltige Entwicklung bei der Bewirtschaftung

lebender Arten und natürlicher Ressourcen im Interesse der Nachfahren)

78 | G REGOR H USI • Gemeinsam getragene Verantwortung (Verantwortung für die Gestaltung

der weltweiten Entwicklung und die Bewältigung von Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit). Die ersten vier aufgelisteten Grundwerte beziehen sich allesamt auf menschliches Zusammenleben, während der fünfte Wert der Nachhaltigkeit auf das menschliche Naturverhältnis abzielt. Der sechste und letzte Punkt bricht mit der Logik der vorangehenden, indem er zunächst nicht das letztlich zu Verwirklichende, sondern die Verwirklichenden thematisiert und sie zur Verantwortung zieht. Freilich werden darin mit Frieden und Sicherheit gleich zwei weitere wichtige, das Zusammenleben betreffende Grundwerte angesprochen, die im Text unmittelbar danach unter dem Titel »Frieden, Sicherheit und Abrüstung« separat abgehandelt werden. Der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen lassen sich also sechs Grundwerte entnehmen, die sich auf menschliches Zusammenleben, auf Menschen in Gesellschaft beziehen: Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Toleranz, Frieden, Sicherheit. Wie gesagt betrachten die Verfasser der Erklärung selber diese Grundwerte offenbar als zeitlos und universal gültig. Es gibt keinen anderen aktuellen und einflussreicheren Text, der einen Kanon der Grundwerte enthält. Im Folgenden sei darum von den genannten sechs Grundwerten ausgegangen und versucht, sie zu systematisieren. Ganz ähnlich werden die Grundwerte Europas in einer neuen Buchreihe bestimmt (vgl. Sedmak 2010). Hier werden sieben Werte genannt, fünf Werte sind identisch, es fehlt aber Sicherheit, dafür werden Menschenwürde und Gerechtigkeit aufgeführt. Da sich Gerechtigkeit auf Freiheit, Gleichheit und Sicherheit beziehen lässt, besteht die wesentliche Differenz also bei Sicherheit und Menschenwürde. Um eine erste Ordnung in diese Grundwerte zu bringen, ist eine Unterscheidung von Milton Rokeach (1973: 7ff.) hilfreich. Er unterscheidet terminale und instrumentale Werte. Bei ersteren handelt es sich um Letztwerte, die auf Endzustände menschlicher Existenz abzielen, letztere stehen in deren Dienst und beziehen sich auf nützliche Mittel und Handlungen. Rokeach nennt sie daher auch Mittel-Werte (means-values) und End-Werte (endsvalues). In seinen empirisch gefundenen Werteaufzählungen finden sich Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Frieden explizit bei den terminalen Werten, Toleranz und Solidarität (»hilfreich«) bei den instrumentalen (ebd.: 28). An dieser Sichtweise ist allerdings eine kleine Korrektur anzubringen, denn tatsächlich scheint die Verwirklichung dreier Werte vor allem der Verwirklichung dreier anderer Werte zuzuarbeiten. Es bestehen nämlich folgende hauptsächliche Relationen: • Förderung von Gleichheit durch Solidarität: Solidarisierungen gleichen an • Förderung von Freiheit durch Toleranz: Tolerierungen befreien • Förderung von Sicherheit durch Frieden: Befriedungen sichern.

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Anders gesagt: Solidarisches Handeln macht gleich, tolerantes Handeln macht frei, friedliches Handeln macht sicher – je toleranter, desto freier; je solidarischer, desto ›gleicher‹; je friedlicher, desto sicherer. Daraus ist zu folgern: Freiheit, Gleichheit und Sicherheit können als primäre und Toleranz, Solidarität und Frieden als sekundäre Grundwerte gelten. Tolerantes, solidarisches, friedliches Handeln lässt Freiheit, Gleichheit und Sicherheit unter Menschen wirklich werden. Bestätigt wird diese Auffassung durch Offe, der einen »Kern von weitgehend unkontroversen Qualitätskriterien« ausmacht, mit denen politische Strukturen und Prozesse auf ihren demokratischen Anspruch hin beurteilt werden: »Dieser […] weithin unstrittige Kern setzt sich zusammen aus den Grundsätzen der bürgerlichen Freiheit, der politischen Gleichheit und der zugleich effektiven und verantwortlichen Regierung, welche die zwar nicht spezifisch demokratischen, aber in Demokratien besonders wirksam einklagbaren Staatsfunktionen, nämlich die Erfüllung der Ansprüche der Bürger auf Daseinsvorsorge, (Rechts-)Schutz und (militärische wie soziale, technische wie zivile) Sicherheit, zu erfüllen beauftragt ist. Diese Grundsätze der Freiheit (als Schutz vor der Staatsgewalt, bewirkt durch Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung), der politischen Gleichheit (als faire und egalitäre Mitwirkung an der Ausübung der Staatsgewalt) und der verantwortlichen und effektiven Gewährleistung von Sicherheit (als universalistische Teilhabe an den Leistungen der Staatsgewalt) sind dieselben, die sich als das kumulative Ergebnis der politischen Modernisierungsprozesse im Westen im 18. bis 20. Jahrhundert herausgebildet haben (vgl. T.H. Marshall) und die sich in der Verfassungsformel vom freiheitlichen und demokratischen Sozialstaat wiederfinden.« (Offe 2003: 12f.)

Offe thematisiert hier also dieselbe Wertetriade als primäres demokratisches Richtmaß: Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, während Marshall (1992) analysiert, wie bürgerliche, politische und soziale Rechte historisch aufeinander folgten: »Das bürgerliche Element besteht aus jenen Rechten, die notwendig sind, die individuelle Freiheit zu sichern […] Mit dem politischen Element bezeichne ich das Recht auf die Teilnahme am Gebrauch politischer Macht […] Mit dem sozialen Element bezeichne ich eine ganze Reihe von Rechten, vom Recht auf ein Mindestmass an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen.« (Marshall 1992: 40)

Habermas seinerseits zeichnet diese historische Verrechtlichung in vier Schritten nach (1981: 524-547) und formuliert im Anschluss daran die kritische »These der inneren Kolonialisierung« (ebd.: 539), wonach die kapitalistische Wachstumsdynamik Wirtschaft und Staat immer mehr in die Lebenswelt der Menschen eindringen lässt. Als Gegenmittel sieht Habermas vor:

80 | G REGOR H USI »Es geht darum, Lebensbereiche, die funktional notwendig auf eine soziale Integration über Werte, Normen und Verständigungsprozesse angewiesen sind, davor zu bewahren, den Systemimperativen der eigendynamisch wachsenden Subsysteme Wirtschaft und Verwaltung zu verfallen und über das Steuerungsmedium Recht auf ein Prinzip der Vergesellschaftung umgestellt zu werden, das für sie dysfunktional ist.« (ebd.: 547)

Habermas setzt auf »diskursive Willensbildungsprozesse und konsensorientierte Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren« (ebd.: 544); sie entsprechen verständigungsorientiertem Handeln. Ambivalenz kennzeichnet denn auch die Sozialpolitik, welche die Umsetzung der von Marshall thematisierten sozialen Rechte gestaltet. Ambivalent erscheint dabei die Verwirklichung der drei genannten primären Grundwerte: Die Sozialpolitik »eröffnet Freiheiten – und schränkt Optionen ein; sie schafft mehr Gleichheit – und neue Ungleichheiten; sie produziert mehr Sicherheit und – eben dadurch – immer neue Unsicherheiten. Sie verwandelt unüberschaubare Gefährdungen in kalkulierbare Risiken – und diese im Zweifel wieder zurück in Gefahren.« (Lessenich 2006: 557) An Marshalls Analyse knüpft auch Talcott Parsons (1970: 105) an, der entschiedener als viele andere – zunächst – die industrielle Revolution und die demokratische Revolution gleichgewichtig in seine theoretischen Überlegungen zur Entwicklung des »Systems moderner Gesellschaften« einbezieht (ebd.: 96-109). »Die demokratische Revolution umfasste in erster Linie den integrativen Aspekt der Gesellschaften; sie konzentrierte sich auf die politische Bedeutung der Mitgliedschaft in der gesellschaftlichen Gemeinschaft und damit auf die Rechtfertigung von Ungleichheiten des Wohlstands sowie, was wichtiger ist, der politischen Autorität und sozialer Privilegien.« (ebd.: 97)

Hinzu kommt später die »Bildungsrevolution«, welche »die Themen der industriellen und der demokratischen Revolution, Chancengleichheit und Gleichheit als Bürger, miteinander verbindet« (ebd.: 123) und Parsons »genauso wichtig« (ebd.: 120) wie die beiden vorangegangenen Revolutionen dünkt. Sämtliche sechs erwähnten Grundwerte haben sich mit der demokratischen Revolution allgemein durchzusetzen begonnen, mit der politischen Moderne, die die ›westlichen Nationen‹ ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfasste. Seither entwickeln sich zunächst nur wenige betroffene und im Laufe der Zeit immer mehr Länder im Geiste des Demokratismus. Von Samuel P. Huntington stammt der Ausdruck der Demokratisierungswelle. Laut Huntington (1991: 13-26) setzte die erste dieser Wellen im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts ein, dauerte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und führte zu rund 30 entwickelten demokratischen Staaten. Die zweite initiierten die Alliierten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sie

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endete mit der Entkolonialisierung in den 1950er und 1960er Jahren. Die dritte begann in den 1970er Jahren vor allem in Südosteuropa und Lateinamerika. Diese Periodisierung Huntingtons wird durch Klaus von Beyme (1994: 11f.) ergänzt, der eine vierte Welle in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren Ost- und Mitteleuropa erfassen sieht (und laut dem, von Huntingtons Periodisierung abweichend, die erste Welle nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte). Eine fünfte Welle kündigte sich im Jahre 2011 in der arabischen Welt an (vgl. Perthes 2011). »Die Demokratie ist wahrscheinlich die mächtigste und zündendste Idee des zwanzigsten Jahrhunderts«, vermutet denn Giddens (2001: 88). Damit stellt sich die Frage, welche Diagnose der Verwirklichung der Demokratie heute gestellt werden kann.

D EMOKRATIEDIAGNOSEN Allerdings kann nicht wirklich von der Verwirklichung der Demokratie in der Einzahl gesprochen werden: »Demokratien treten in einer Vielzahl von Strukturvarianten auf. Sie können präsidentiell oder parlamentarisch verfasst sein, sich auf eine unitarische oder föderale Staatsform beziehen, mit dem Mehrheits- oder dem Verhältniswahlrecht operieren, ein Zwei- oder ein Mehrparteiensystem aufweisen, nur repräsentative oder zusätzlich auch direktdemokratische (›plebiszitäre‹) Beteiligungsformen zur Verfügung stellen, zivilgesellschaftlichen und intermediären Assoziationen mehr oder weniger Raum geben, ein höheres oder ein geringeres Maß der Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung aufweisen und Ein- oder Mehrkammersysteme sein. Keine Demokratie ist ihrer institutionellen Struktur nach eine Kopie irgendeiner anderen.« (Offe 2003: 9)

Offe stellt, noch ganz allgemein, die Diagnose einer »eher abnehmenden demokratischen Inklusion« (ebd.: 14), um sie sodann zu differenzieren: »Nicht nur sind die neuen Demokratien ›noch nicht‹ auf dem Stand der vermeintlich konsolidierten alten; auch diese sind ›nicht mehr‹ das, was sie ihrem Anspruch und Selbstverständnis nach einmal waren oder zu sein wähnten.« (ebd.: 10) Im Diskurs über die heutige Verwirklichung der Demokratie finden sich einige prägnante Positionen: (a) Jean-Marie Guéhenno (1994) formuliert die These, wir seien am »Ende der Demokratie« angelangt. (b) Colin Crouch (2008) sieht Demokratien auf eine »Postdemokratie« zusteuern. Diesen beiden, in griffige Formeln gebrachten Diagnosen stehen jedoch andere Beobachtungen gegenüber. (c) Claus Offe (2003) nimmt mit anderen eine »Demokratisierung der Demokratie« wahr, (d) Oskar Negt erkennt die »Demokratie als Lebensform«, und ähnlich weisen (e) Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991) auf eine »Radikale Demokratie« hin. Alle drei letzt-

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genannten Einschätzungen enthalten keineswegs bloß normative Postulate. Was besagen die fünf Diagnosen genau? (a) Guéhenno umreißt das Ende der Demokratie mit Verweis auf ein folgenreiches Jahr: »Das Jahr 1989 bezeichnet nicht das Ende einer Epoche, die 1945 oder 1917 begonnen hätte, sondern das Ende dessen, was durch die Revolution von 1789 institutionalisiert wurde. Mit diesem Jahr endet das Zeitalter der Nationalstaaten.« (1994: 10) Guéhenno kontrastiert ein vergangenes »institutionelles Zeitalter«, das auf den Ideen der Aufklärungsphilosophen beruht, und ein künftiges »imperiales Zeitalter«. »Heute muss man sich fragen, ob es eine Demokratie ohne Nation geben kann.« (ebd.: 12) Guéhenno malt folgendes Zukunftsbild: »Die menschliche Gemeinschaft ist zu groß geworden, um noch ein politisches Gemeinwesen zu bilden. Die Bürger stellen immer weniger eine Gesamtheit dar, in der kollektive Souveränität zum Ausdruck kommen könnte; sie sind lediglich juristische Personen mit Rechten und Pflichten, sie befinden sich in einem abstrakten Raum mit zunehmend ungewissen territorialen Grenzen.« (ebd.: 13)

Der imperiale Charakter zeige sich überdies daran, dass das europäische Politikverständnis einem asiatischen weiche. Dieses Imperium sei »eine Welt, die gleichzeitig geeint und ohne Zentrum ist« (ebd.). Im kommenden »Zeitalter der Komplexität« könne kein Zentrum mehr auf eine »pyramidale Machtstruktur« bauen. Für Guéhenno war denn die »nationalstaatliche Epoche« nur eine »Episode der Menschheitsgeschichte«. Allerdings leben wir in einer Zeit des Übergangs: »Wir befinden uns in der vorgeschichtlichen Phase dieses neuen Zeitalters, und die Logik der Nationalstaaten wird noch lange neben der Logik einer imperialen Welt gelten, von der man nicht weiß, ob sie, wie die Imperien, die ihr vorausgingen, ihre Macht auszudehnen beabsichtigt, um die aus dem Umfeld drohenden Gefahren zu mindern, oder ob sie durch ihre eigene Logik gelähmt sein wird. […] Was wird geschehen, wenn die Diffusion der Macht in dieser Welt zu vollkommen geworden ist, als dass sich ein politischer Wille bilden könnte?« (ebd.: 172f.)

(b) Die These der Postdemokratie wird insbesondere von Colin Crouch vertreten. Dieser macht einen Widerspruch aus: Formal betrachtet scheinen heutige Demokratien durchaus intakt. Der Unterschied zu prädemokratischen politischen Verhältnissen zeigt sich nämlich an Parteienkonkurrenz, Wahlkämpfen, Wahlen und allfälligen Abstimmungen sowie Gewaltenteilung. Aber das Volk partizipiert kaum mehr wie vorgesehen am politischen Geschehen, und das mindert dessen Legitimation. Wahlkämpfe gehen als medial inszenierte, manipulative Spektakel über die Bühne, in denen Experten diskutierte Themen bestimmen, während der politische Prozess durch einflussreiche Lobbyarbeit hinter geschlossenen Türen korrumpiert wird. »Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar

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apathische Rolle.« (Crouch 2008: 10) Dies bezeichnet Crouch mit dem Begriff der Postdemokratie, der dafür steht, dass »wir gleichsam am anderen Ende der Parabel der Demokratie angekommen sind« (ebd.: 30). Crouch gibt sich »davon überzeugt, dass wir uns dem postdemokratischen Pol immer mehr annähern« (ebd.: 11). »Der Begriff Postdemokratie kann uns dabei helfen, Situationen zu beschreiben, in denen sich nach einem Augenblick der Demokratie Langeweile, Frustration und Desillusionierung breitgemacht haben; in denen die Repräsentanten mächtiger Interessengruppen, die nur für eine kleine Minderheit sprechen, weit aktiver sind als die Mehrheit der Bürger, wenn es darum geht, das politische System für die eigenen Ziele einzuspannen; in denen politische Eliten gelernt haben, die Forderungen der Menschen zu lenken und zu manipulieren; in denen man die Bürger durch Werbekampagnen ›von oben‹ dazu überreden muss, überhaupt zur Wahl zu gehen.« (ebd.: 30)

Womit wäre dem zu begegnen? »Erstens mit Maßnahmen, die darauf zielen, die wachsende Dominanz der ökonomischen Eliten zu begrenzen; zweitens mit Reformen der politischen Praxis als solcher; und drittens gibt es Handlungsmöglichkeiten, die den Bürgern selbst offenstehen.« (Crouch 2008: 133) Jörke (2005) folgt Crouchs These, setzt die Akzente indes etwas anders. Er bezweifelt die Möglichkeiten moderner Demokratien, besonders zwei Versprechen einzulösen: das Versprechen der politischen Gleichheit, wonach allen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen Wahlbeteiligung, politische Karriere und Interessenverfolgung möglich sein sollten – vor allem für untere Schichten trifft dies nicht zu; und das Versprechen des lebensweltlichen Einflusses, wonach Betroffene den Lauf der Dinge in der eigenen Lebenswelt nach eigenem Gutdünken mitgestalten können sollten – die dafür nötigen politischen Handlungsspielräume werden allzu sehr beschnitten durch Entscheidungen, die an gewählten Parlamenten weitgehend vorbei, aufgrund von Verhandlungen zwischen Exekutiven und potenten gesellschaftlichen Kräften (»Postparlamentarismus«) getroffen werden, durch supranationale Organisationen (z.B. Weltbank, Internationaler Währungsfonds, Welthandelsorganisation) und durch die internationalisierte Ökonomie, die Regierungen zu einem globalen Standortwettbewerb um ein »günstiges Investitionsklima« verleitet. Angesichts solcher Vermutungen haben die Universitäten Zürich und Bern sowie das Wissenschaftszentrum Berlin gemeinsam ein Demokratiebarometer entwickelt, das Qualitätsunterschiede von Demokratien messen helfen soll. Dem Messinstrument liegen drei »konstituierende Prinzipien« zugrunde: Freiheit, Gleichheit und Kontrolle. Im Aspekt der Kontrolle verbergen sich Aspekte des Werts Sicherheit. Aus diesen drei Prinzipien werden neun »grundlegende Funktionen« abgeleitet, die zu 18 Komponenten, 51 Subkomponenten und schließlich 100 Indikatoren weiter differenziert werden. Zur Konzeption werden drei Demokratieverständnisse unterschieden: Die liberale Demokratie (Locke, Montesquieu, Mill, Tocqueville)

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ist ein Mittel, um die Freiheitsrechte der Bürger vor staatlichen Übergriffen zu bewahren; freie und faire Wahlen lassen politische Eliten bestimmen, denen aufgegeben wird, Interessen wahrzunehmen. Die partizipatorische Demokratie (Rousseau) gewährt Bürgern möglichst viele Gelegenheiten zur Beteiligung und Mitsprache, um individuelle Selbstentfaltung, politisches Interesse und gesellschaftliche Integration zu fördern und politische Entscheide breit abzustützen. Die soziale Demokratie (Rawls, Sen) bezieht Voraussetzungen ein, die für die Realisierung der beiden obigen Demokratiemodelle, besonders für die Verwirklichung freier und fairer Partizipation, erfüllt sein müssen, gewährt deshalb Sozialrechte und bekämpft soziale Ungleichheiten. Eine neuere »Theorie der Sozialen Demokratie« entwirft z.B. Thomas Meyer, indem er »Formalgeltung« und »Realwirkung« konfrontiert, d.h. nicht nur die Legitimität und Gestalt politischer Institutionen betrachtet, sondern eine »Analyse der empirischen Voraussetzungen für die Entfaltung ihrer realen Wirksamkeit« (2005: 11) vornimmt. Zur »förmlichen Rechtsgeltung« von Grundrechten kommt »die tatsächliche Verfügung einer Person über die Chancen zur Nutzung ihrer Grundrechte« (ebd.: 12) hinzu. Meyer knüpft insbesondere an die Arbeiten von Hermann Heller an. So »basiert die Soziale Demokratie auf der Vorstellung, dass Demokratie in Verbindung mit den Grundrechten im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich einer ihnen gerecht werdenden Verfassung der geregelten Teilhabe, des Rechtsanspruchs auf soziale Sicherung und der gerechtigkeitsorientierten Distribution sowie einer diesen Werten verpflichteten regulativen und distributiven Politik des demokratischen Staates bedarf.« (ebd.: 13)

Das Demokratiebarometer basiert auf einem »Demokratiekonzept mittlerer Reichweite« und kombiniert Elemente des liberalen und partizipatorischen Modells. Es lässt das dritte Modell explizit außen vor, da es Outputs als genuin politische, durch Demokratie als Mittel erzeugte Entscheidungen betrachtet (und nicht als Bestandteil von Demokratie) und da Politikergebnisse im Sinne von Outcomes nicht nur aus demokratischen Entscheidungen resultieren, sondern auch aus anderen gesellschaftlichen (z.B. wirtschaftlichen) Faktoren hervorgehen. »Ausgangspunkt bildet die Prämisse, dass demokratische Systeme eine Balance zwischen den interdependenten Werten ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹ herzustellen versuchen und sich dazu einer dritten demokratieinhärenten Dimension bedienen: Kontrolle.« (Bühlmann/ Merkel/Müller/Giebler/Weßels 2011: 4)

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Abbildung 1: Qualitätselemente der Demokratie

Quelle: Bühlmann/Merkel/Müller/Giebler/Weßels 2011: 9

Gleiches im Sinn hat zuvor bereits das Konzept der »eingebetteten Demokratie« (Merkel 2003), das dem »komplexen Institutionengefüge« moderner Demokratien gerecht werden und deren »Defekte« erkennen will. Es besteht aus fünf Teilregimes. Im Zentrum steht (1) das »Wahlregime«: periodische, freie, allgemeine, gleiche und faire Wahlen. Zusammen mit (2) den »politischen Partizipationsrechten« (Recht auf Meinungs- und Redefreiheit, Assoziations-, Demonstrations-, Petitionsrecht), welche die Arena der Öffentlichkeit konstituieren, bilden sie die »vertikale Demokratiedimension« (»vertikale Verantwortlichkeit«), insofern »die ›harte‹ periodische Kontrolle durch Wahlen durch die ›weiche‹, aber stetige Kontrolle der Öffentlichkeit zwischen den Wahlen ergänzt wird« (ebd.: 50). (3) Die »bürgerlichen Freiheits- und Abwehrrechte« umfassen individuelle Schutzrechte gegenüber dem Staat hinsichtlich Leben, Freiheit, Eigentum sowie den gleichen Rechtszugang und die Gleichbehandlung vor dem Gesetz. (4) Die »horizontale Verantwortlichkeit« wird durch die »Gewaltenteilung« realisiert, die gleichzeitige, wechselseitige Abhängigkeit und Selbständigkeit von Legislative, Exekutive und Judikative. Hinzu kommt schließlich (5) die »effektive Regierungsgewalt«, die tatsächlich von gewählten Repräsentanten (und z.B. nicht vom Militär) ausgeübt werden soll und auch bedeutet, dass es keine »reservierten Politikdomänen« außerhalb ihres Einflusses gibt.

86 | G REGOR H USI »Die Dominanz […] eines der Teilregimes über ein anderes wird erschwert und so die Spannung zwischen Prinzipien der politischen Gleichheit, Freiheit und Kontrolle gemildert. Es ist also gerade die wechselseitige Einbettung der einzelnen Institutionen der Demokratie in ein Gesamtgeflecht institutioneller Teilregimes, die erst die Demokratie funktions- und widerstandsfähig macht.« (ebd.: 56)

Über diese »interne Einbettung« hinaus sieht das Konzept auch eine »externe Einbettung« vor. »Diese Einbettungsringe sind Möglichkeits- oder Unmöglichkeitsbedingungen, sie verbessern oder verschlechtern die Qualität rechtsstaatlicher Demokratie, aber sie sind keine definierenden Bestandteile der Demokratie selbst« (ebd.: 57). Zu ihnen zählen der sozioökonomische Kontext, die Zivilgesellschaft und die internationale Integration: Armut ist zu vermeiden, da sie bei der Wahrnehmung bürgerlicher Schutzrechte und politischer Partizipationsrechte benachteiligt; die Eigenschaften »der Zivilgesellschaft schützen das Individuum vor staatlicher Willkür (Locke), unterstützen die Herrschaft des Gesetzes und die Balance der Gewalten (Montesquieu), schulen Bürger und rekrutieren politische Eliten (Tocqueville) und institutionalisieren mit dem öffentlichen Raum ein Medium demokratischer Selbstreflexion (Habermas)« (ebd.: 61);

die »Kombination von marktwirtschaftlicher Interessen- und demokratischer Wertegemeinschaft« (z.B. EU), so Merkel, integriert international. Ähnlich gewinnt Vorländer (2003: 94f.) aus der Literatur des abendländischen politischen Denkens sechs Einflüsse, die demokratische Ordnungen stützen helfen, nämlich wechselseitige Bekanntheit durch beschränkte Größe des Gemeinwesens, kulturelle Homogenität, geringe soziale Ungleichheit, die Tugend der Gemeinwohlorientierung, ein geschicktes institutionelles Arrangement sowie eine starke bürgerschaftliche Zivilgesellschaft. Die Diagnosen des Demokratieendes und der Postdemokratie sowie deren empirische Überprüfung anhand des Demokratiebarometers, wozu die eingebettete Demokratie eine konzeptuelle Grundlage liefert, führen noch nicht sehr weit über den Horizont eines Demokratieverständnisses mit ›minimalem Gehalt‹ hinaus, den Norberto Bobbio einmal knapp so zusammenfasste: »Garantie der grundlegenden Freiheitsrechte, Existenz mehrerer, miteinander im Wettbewerb stehender Parteien, periodische Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht, kollektive Entscheidungen, die entweder […] im Einvernehmen der Beteiligten oder auf Basis von Mehrheitsentscheidungen getroffen werden.« (1988: 31) Dahinter steht das Interesse an kollektiven Entscheidungen: »Damit […] eine von Individuen (einem, wenigen, vielen, allen) gefällte Entscheidung als kollektive Entscheidung akzeptiert werden kann, muss diese Entscheidung auf der Grundlage von Regeln stattfinden (und es spielt keine Rolle, ob es sich dabei um schriftlich fixierte oder um Gewohnheitsregeln handelt), die festlegen, welche

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Individuen dazu berechtigt sind, für alle Gruppenmitglieder verbindlich zu entscheiden, und auf Basis welcher Verfahren dies geschieht.« (ebd.: 8f.).

(c) Für Anthony Giddens (2001: 88) umfasst Demokratie – wie für Bobbio – Parteienkonkurrenz, regelmäßige, faire, freie Wahlen sowie Partizipationsund Freiheitsrechte. Er erkennt ein »Paradox der Demokratie«, das darin besteht, »dass sich die Demokratie zwar überall in der Welt ausbreitet, wir jedoch in den alten Demokratien, die der Rest der Welt angeblich nachahmt, eine weitverbreitete Enttäuschung über demokratische Verfahren beobachten« (ebd.: 92). Als Lösung schlägt Giddens vor: »Was wir in den demokratischen Ländern brauchen, ist eine Vertiefung, gleichsam eine Demokratisierung der Demokratie. Außerdem muss die Demokratie die nationalen Grenzen überwinden. Wir brauchen eine Demokratisierung nicht nur innerhalb der Nation, sondern auch über die Ebene der Nation hinaus.« (ebd.: 95) Giddens (ebd.: 96ff.) nennt dazu Stichworte wie Dezentralisierung der Macht, Kampf gegen Korruption, Transparenz, Stärkung der »Zivilkultur« und fordert gar mit einer schönen Wendung den »Aufbau einer Demokratie der Gefühle« (z.B. Toleranz). Die Beiträge, die Claus Offe (2003) versammelt, lassen sich nun zum Teil gerade als Versuche interpretieren, das – neben dem liberalen und partizipatorischen – erwähnte dritte Modell, die soziale Demokratie, zu erkunden. Sie zehren von den Erfahrungen, welche die politische Moderne mit sich selber gemacht hat, und loten folgerichtig – in begrifflicher Hinsicht zumindest wie Giddens – Möglichkeiten einer Demokratisierung der Demokratie aus. (Auch das Konzept der eingebetteten Demokratie reiht sich hier ein.) »Demokratisierung der Demokratie« ist, so Offe, »im Sinne der Suche nach institutionellen Möglichkeiten zur qualitativen Aufbesserung demokratischer Regierungs- und Verfassungspraxis und ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen« (ebd.: 17) zu verstehen. Dieses Verständnis macht den Blick also auch frei für außerpolitische Bedingungen des Politischen. Das ist ein erster Schritt gleichsam auf die Gesellschaft zu. (d) Schreitet man in diese Richtung weiter, gelangt man zu einem umfassenderen Begriffsverständnis, nämlich zur Demokratisierung anderer Lebensbereiche als der Politik und ihrer Institutionen. Schmidt (2010: 167) erwähnt denn drei Bedeutungen von »Demokratisierung«: erstens »Bildung einer Demokratie«, zweitens »Erweiterung des demokratischen Prinzips auf zuvor nicht demokratisch organisierte Gesellschaftsbereiche« und drittens »Zunahme des aktiven Anteils der Beherrschten an der Herrschaft«. Nicht nur werden, um zwei zentrale Lebensbereiche, Wirtschaft und Gemeinschaft, als Beispiele zu nehmen, die »Demokratisierung der Marktwirtschaft« (Stein 1995) und eine »Neue Wirtschaftsdemokratie« (Martens 2010) debattiert, sondern ebenso die »Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse« (Schäfer 2001) und die »Demokratisierung der Familie« (Beck 1997).

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Der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt schlug entschieden diese Richtung ein. »Wir wollen mehr Demokratie wagen« (1979: 252), lautet ein berühmt gewordener Satz aus seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969. »Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an« (ebd.: 281), endet die Rede. Brandt suchte nach einer »Alternative zur konservativen und alt-liberalen Auffassung von Demokratie« (1973: 46), einer Alternative, die sich der Rationierung der Demokratie entgegen stellt: »Wir […] lassen uns auch heute von der Überzeugung leiten, dass die Demokratie nicht auf einen noch so wichtigen Bereich – wie den staatlichen – beschränkt bleiben, dass sie nicht auf Rationen gesetzt werden kann, sondern dass sie das gesamte gesellschaftliche Leben erfassen muss« (ebd.: 46). So prognostiziert Brandt: »Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein« (1979: 252), ohne dass dadurch die »perfekte Demokratie« entstehen könne. Auch für Fritz Vilmar ist denn »Demokratisierung: Herstellung von Gleichheit und Freiheit in allen Lebensbereichen. Demokratisierung ist also der Inbegriff aller Aktivitäten, deren Ziel es ist, autoritäre Herrschaftsstrukturen zu ersetzen durch Formen der Herrschaftskontrolle von ›unten‹, der gesellschaftlichen Mitbestimmung, Kooperation und – wo immer möglich – durch freie Selbstbestimmung.« (1973a: 21)

Sie tritt an gegen »ungerechtfertigte Bevormundung und materielle Diskriminierung der Unteren durch die Oberen, Selbstbehauptung der Oligarchien auf Kosten der übrigen Subsystem-Mitglieder und der System-Umwelt« (ebd.: 12). Vilmar (1973b) dokumentiert für seine »Strategie einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung« Texte zu »gut zwanzig Subsystemen in 6 funktionalen gesellschaftlichen Bereichen« (1973a: 107), und zwar, wie er betont, nicht »zur inhaltlichen, Entscheidungsziele betreffenden Demokratisierung«, sondern bloß zur »Demokratisierung des Entscheidungsprozesses« (ebd.: 11). Subsysteme definiert er als »alle normalerweise unterhalb und innerhalb des staatlichen Gesamtsystems einer Gesellschaft vorfindlichen sozialen Organisationsformen« (ebd.: 428, Anm. 18). Seine »Systematik der gesellschaftlichen Subsysteme« (ebd.: 108f.) gliedert er in folgende Bereiche: primäre Sozialisationssysteme, Bildungssystem, öffentliche Verwaltung, Fürsorgeinstitutionen, Wirtschaft, Verbände und freie Vereinigungen und Volksvertretungen. In einem Schaubild gewichtet Vilmar (ebd.: 111) die 24 unterschiedenen Subsysteme nach Kern-, sekundären und peripheren Bereichen der Demokratisierung. Vilmar knüpft dabei an ein norwegisches Aktionsprogramm an, das unter dem vielsagenden Stichwort Alltagsdemokratie (1973b: 13ff.) Demokratisierungsideen für zahlreiche Lebensbereiche skizziert. In den Blick gelangen auf diese Weise die Lebensbereiche Gemeinschaft, Bildung, Wissenschaft, Medien, Kunst, Verwaltung, Militär, Gesundheit, Soziale Arbeit, Recht, Wirtschaft, Politik und Religion; es fehlen allein Unterhaltung, Sport, Verkehr (Husi 2010: 117f.; vgl. auch

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die Beiträge in Greiffenhagen 1973). Deutlich wird dabei, dass Demokratisierungsprozesse eben auch mikro- und mesogesellschaftlich wirken, d.h. in Gruppen und Organisationen. Die Auffassung von Demokratie als politischer Institution erweitert sich dadurch, wie Oskar Negt sagt, zur Idee von Demokratie als Lebensform: Nicht nur weitet sich seit einigen Jahrzehnten das Spektrum politisierter Gesellschaftsthemen immer mehr aus; »1968 ist der Aufbruch zu einer Demokratisierung vieler Lebensbereiche« (Negt 2008: 37). Negt hebt somit zwei Aspekte dieser »Basis-Demokratisierung«, der »partizipatorischen Revolution der 1970er Jahre« (Beyme 1994: 9), hervor: »Zum einen ist es die Politisierung der Interessen und Bedürfnisse der Menschen, sodass sie in einer kritischen Öffentlichkeit in den Prozess politischer Urteilsbildung einbezogen sind. Zum anderen betrifft die Demokratisierung der Gesellschaft, wenn man von Basisdemokratie spricht, die Bereiche konkreten Lebens, welche die alltäglichen Erfahrungen der Menschen bestimmen: in den Betrieben, Büros, Schulen, Universitäten« (Negt 2008: 40)

und – über Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft hinaus – noch in anderen Lebensbereichen. Negt erkennt allerdings einen engen Zusammenhang zwischen der Demokratie als politischer Institution und als Lebensform. So stellt er fest, »dass es eine demokratische Gesellschaft ohne Demokraten nicht geben kann. Wenn die Menschen nicht in ihren Alltagsangelegenheiten Mitbestimmungsrechte haben, dann werden die besten demokratischen Institutionen ausgehöhlt« (ebd.); dann werden Menschen »Objekte manipulierender Eliten«. Negt spricht denn folgerichtig von »Demokratie als einer gesellschaftlichen Gesamtverfassung« (ebd.: 41) und lässt kein Missverständnis zu: »Eine konsequente Demokratisierung aller Lebensbereiche ist die einzige Möglichkeit, ein demokratisches System lebendig zu halten. […] Eine halbe Demokratie mit freien Wahlen, aber keinerlei Mitbestimmungsrechten in den eigenen, zentralen Lebensbereichen, ist nicht von Dauer. […] Nur als Lebensform hat Demokratie eine Zukunftschance.« (2010: 514f., Herv. i.O.)

An vorderster Stelle denkt Negt dabei an die »Wirtschaftsdemokratie«. Für Bobbio ist Demokratie ein »Ensemble von Regeln« (1988: 33). Sie ist nämlich »als ein Ensemble von (primären oder Grund-)Regeln zu begreifen, die festlegen, wer zur Teilnahme an den kollektiven Entscheidungen berechtigt ist und mit welchen Verfahren diese Entscheidungen getroffen werden« (ebd.: 8). Das bedeutet: Demokratie findet sich überall da, d.h. in allen Lebensbereichen, in denen sich demokratische Regeln etablieren. Dieses Ensemble von Regeln, dieses Regulativ grundiert, so können wir zusammenfassen, nicht mehr nur die Politik, sondern färbt mehr oder weniger alle Lebensbereiche, die sich in der Moderne ausdifferenziert haben – zumindest

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geraten alle Lebensbereiche unter Demokratisierungsdruck; und die Geltung dieses Ensembles von Regeln hängt von Voraussetzungen ab. Demokratisierung im engeren Sinne ist demnach jener gesellschaftliche Prozess, der die Geltung des demokratischen Ensembles von Regeln in verschiedenen Lebensbereichen institutionalisiert. Und Demokratisierung im weiteren Sinne ist jener gesellschaftliche Prozess, der zugleich unterstützende strukturelle Voraussetzungen dafür schafft. Es geht also um die Institutionalisierung als die Etablierung des demokratischen Ensembles von Regeln wie um die Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen, welche die tatsächliche Geltung der Regeln fördern und dabei zweckmäßige Ergebnisse hervorbringen lassen, sodass, wie Schmidt (2010) schreibt, der aktive Anteil der Beherrschten an der Herrschaft zunimmt. Moderne Gesellschaften wandeln sich demnach im engeren und weiteren Sinne im Geiste des Demokratismus, und zwar genau betrachtet auf vier Weisen: 1. Einrichtung der Demokratie als politische Institution 2. Einrichtung förderlicher Voraussetzungen für die politische Mitbestimmung 3. Einrichtung der Demokratie in Form außerpolitischer Institutionen 4. Einrichtung förderlicher Voraussetzungen für die außerpolitische Mitbestimmung. An dieser Stelle darf Karl Mannheims Begriff der Fundamentaldemokratisierung nicht fehlen. So »aktiviert die industrielle Gesellschaft immer mehr auch diejenigen Schichten und Gruppen, die früher am politischen Leben nur passiv teilnahmen. Ich möchte diese neue weitgehende Aktivierung der Massen die ›Fundamentaldemokratisierung der Gesellschaft‹ nennen«, schreibt Mannheim (1958: 51). Fundamental demokratisieren sich moderne Gesellschaften nicht nur in der von Mannheim angesprochenen Sozialdimension, sondern, denkt man über den Rand des Lebensbereichs Politik hinaus sowie an Demokratiebedingungen, auch in der Sachdimension. »Ohne Fundamentaldemokratisierung funktioniert die Demokratie nicht«, bringt Greiffenhagen (1973: 25) den Gedanken auf den Punkt. Zu Beginn des dritten Jahrtausends fragt sich nun, was diese Fundamentaldemokratisierung in der Raumdimension bedeutet. Zur Debatte stehen besonders drei Modelle (Vorländer 2003: 121ff.): Globales Regieren (global governance) verweist auf ein repräsentatives und demokratisches System der Vereinten Nationen, auf eine liberale Demokratie im Weltmaßstab, also auf einen Weltstaat mit einer demokratisch verfassten Weltregierung. Globale Demokratie setzt auf basisdemokratische oder gemeinschaftsorientierte Prinzipien von in bestimmten Themenbereichen aktiven inter- oder transnationalen Organisationen nach dem Vorbild sozialer Bewegungen. Kosmopolitische Demokratie beabsichtigt »einen transnationalen Ausbau der allgemeinen Struktur politischen Handelns […], der alle Ebenen und alle Mitwirkenden beim globalen Regieren umfasst, von Staaten, multinationalen Konzernen und internationa-

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len Institutionen bis hin zu sozialen Bewegungen und einzelnen Individuen« (ebd.: 122); sie zielt damit auf einen globalisierten Föderalismus gemäß dem Prinzip eines Bundesstaats oder Staatenbunds ab – ein föderalistisch aufgebautes Europa könnte hier als Muster dienen. (e) Ernesto Laclau und Chantal Mouffe begreifen diese Fundamentalisierung als Radikalisierung und Pluralisierung zugleich und nehmen sich des »Projekts für radikale Demokratie« (1991: 221) an. Es ist gekennzeichnet durch »die Ablehnung von privilegierten Bruchpunkten und der Vorstellung des Zusammenfließens der Kämpfe zu einem einheitlichen politischen Raum sowie im Gegensatz dazu die Anerkennung der Pluralität und Unbestimmtheit des Sozialen« (ebd.: 192). Mit dem Eigenschaftswort ›politisch‹ spielen Laclau und Mouffe nicht auf Parteien und Staat an, sondern auf einen »Handlungstyp, dessen Ziel die Transformation eines sozialen Verhältnisses ist, das ein Subjekt in einem Verhältnis der Unterordnung konstruiert. […] Was wir hervorheben wollen ist, dass Politik als eine Praxis des Erzeugens, der Reproduktion und Transformation sozialer Verhältnisse nicht auf einer bestimmten Ebene des Gesellschaftlichen verortet werden kann, da das Problem des Politischen das Problem der Einrichtung des Sozialen ist, d.h. der Definition und Artikulation sozialer Beziehungen auf einem kreuz und quer von Antagonismen durchzogenen Feld.« (1991: 193)

Für die ›demokratische Revolution‹ »musste sich zuerst das demokratische Prinzip der Freiheit und Gleichheit als neue Matrix des sozialen Imaginären durchsetzen bzw., in unserer Terminologie, einen fundamentalen Knotenpunkt in der Konstitution des Politischen bilden« (ebd.: 195). Laclau und Mouffe erkennen für die heutige Zeit »eine neue Ausdehnung egalitärer Äquivalenzen und dadurch eine Ausweitung der demokratischen Revolution in neue Richtungen« (ebd.: 199), mit anderen Worten: »eine Ausdehnung der demokratischen Revolution auf eine Reihe ganz neuer sozialer Verhältnisse« (ebd.: 201), die insbesondere durch die »neuen sozialen Bewegungen« vorangetrieben wird. Dieser Prozess vollzieht sich allerdings als ein Wechselspiel von Identität und Differenz, Kontinuität und Diskontinuität. Zum einen nämlich stellen sich solche gesellschaftlichen Kämpfe um der besseren Durchschlagskraft willen in die hegemoniale Tradition der Demokratisierung, zum anderen aber handelt es sich um unverbundene, je besondere Auseinandersetzungen, denn »alle Kämpfe […] haben […] einen partiellen Charakter und können mit ganz unterschiedlichen Diskursen artikuliert werden« (ebd.: 211). Laclau und Mouffe fokussieren unter den demokratischen Grundwerten auf Freiheit und Gleichheit: »Insoweit von den beiden großen Themen des demokratischen Imaginären – Gleichheit und Freiheit – die Gleichheit traditionell vorherrschte, verleihen nun die Forderungen nach Autonomie der Freiheit eine immer zentralere Rolle. Aus diesem Grund manifestieren sich viele dieser Widerstandsformen nicht in kollektiven Kämpfen, sondern über einen zunehmenden Individualismus.« (ebd.: 206)

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Wie Negt datieren auch Laclau und Mouffe und finden, »dass das demokratische Imaginäre seit den sechziger Jahren eine fundamentale Rolle für den Ausbruch neuer Forderungen gespielt hat« (ebd.: 207). Unter ihrem der Geschichte zugewandten Blick wird Demokratie radikal und plural: »In einem grundlegenden Sinne ist das Projekt einer radikalen und pluralen Demokratie deshalb nichts anderes als der Kampf um ein Höchstmaß an Autonomisierung von Bereichen auf der Basis der Verallgemeinerung der äquivalentiell-egalitären Logik.« (ebd.: 209) »Radikal und plural« insofern, als jedes Glied in der Kette demokratischer Kämpfe »in sich selbst das Prinzip seiner Geltung findet« (ebd.), und »demokratisch« insofern, als sich diese Selbstkonstitution aus der Verschiebung des »egalitären Imaginären« ergibt – Differenz und Identität, Diskontinuität und Kontinuität, wie gesagt. Laclau und Mouffe erkennen durchaus die hier angelegte »Unvereinbarkeit zwischen der Vermehrung politischer Räume, die einer radikalen Demokratie angemessen sind, und der Konstruktion kollektiver Identitäten auf der Basis der Äquivalenzlogik« (ebd.: 225). Sie behelfen sich angesichts dieser »offensichtlichen Dichotomie/Autonomie/Hegemonie« (ebd.) mit Wittgensteins Begriff der »Familienähnlichkeiten« (ebd.: 223) aus dessen Philosophischen Untersuchungen (vgl. 67. Abschnitt), um auf die grundlegende Verwandtschaft hinzuweisen. Keinen Zweifel lassen sie daran aufkommen, dass der demokratische Wandel unserer Zeit fundamentale Differenzierungen mit sich bringt: »Wir erleben eine Politisierung, die viel radikaler als jede uns bisher bekannte ist, weil sie dazu tendiert, die Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten aufzulösen – nicht im Sinne des Eingriffs in das Private durch einen einheitlichen öffentlichen Raum, sondern im Sinne einer Vermehrung radikal neuer und verschiedener politischer Räume.« (ebd.: 225) Schließlich zögern sie in Anbetracht neuer Hierarchisierungstendenzen nicht, eine politische Empfehlung zu formulieren: »Angesichts des Projekts zur Rekonstruktion einer hierarchischen Gesellschaft sollte die Alternative der Linken darin bestehen, sich selbst vollständig auf dem Feld der demokratischen Revolution zu verorten und die Äquivalenzketten zwischen den verschiedenen Kämpfen gegen Unterdrückung zu erweitern.« (ebd.: 219) Darum wollen sie nicht auf die »liberal-demokratische Ideologie« verzichten, sondern sie in Richtung radikaler und pluraler Demokratie ausweiten. Dabei warnen sie vor jeglichem »essentialistischen Apriorismus« (ebd.: 220), sei es Klassismus, Etatismus, Ökonomismus, oder was auch immer. Der »Respekt gegenüber den Gleichheitsrechten anderer untergeordneter Gruppen« (ebd.: 228), aber auch das Eigeninteresse an der »Verstärkung bestimmter demokratischer Kämpfe erfordert die Ausdehnung von Äquivalenzketten hin zu anderen Kämpfen« (ebd.: 226). Laclau und Mouffe erwähnen als Beispiel, dass Antirassismus, Antisexismus und Antikapitalismus aufeinander angewiesen seien. Da solche Äquivalenz jedoch stets unsicher ist, ergänzen Laclau und Mouffe deren Logik durch die »Logik der Autonomie«:

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»Aus eben diesem Grund reicht die Forderung nach Gleichheit nicht aus, sondern muss durch die Forderung nach Freiheit ausgeglichen werden, damit wir von einer radikalen und pluralen Demokratie sprechen können. Eine radikale und nicht-plurale Demokratie würde einen einzigen Raum von Gleichheit auf der Basis unbegrenzter Wirksamkeit der Äquivalenzlogik konstituieren und das irreduzible Moment der Pluralität von Räumen nicht anerkennen. Dieses Prinzip der Teilung von Räumen ist aber die Basis der Forderung nach Freiheit.« (ebd.: 228)

Es ist zugleich die Nahtstelle zum Liberalismus. Man könnte sagen: Wirksame Orientierung an Gleichheit radikalisiert, wirksame Orientierung an Freiheit pluralisiert. Letztlich plädieren Laclau und Mouffe für eine »Polyphonie der Stimmen«, in der sie den Abschied vom Universellen für entscheidend halten: »Es gibt keine radikale und plurale Demokratie ohne den Verzicht auf den Diskurs des Universalen und seiner impliziten Behauptung eines privilegierten Zugangspunktes zu ›der Wahrheit‹, die nur von einer begrenzten Zahl von Subjekten erreicht werden kann. […] Rechtsinstitutionen, das Erziehungssystem, Arbeitsbeziehungen, die Diskurse des Widerstands marginaler Gruppen konstruieren eigenständige und irreduzible Formen sozialen Protestes und tragen dadurch alle zur diskursiven Komplexität und Reichhaltigkeit bei, auf die sich das Programm einer radikalen Demokratie stützen sollte.« (ebd.: 237)

Laclau und Mouffe fokussieren auf Gleichheit und Freiheit, wenngleich es alle Grundwerte im Auge zu behalten gilt, welche der Demokratisierung Orientierung bieten. Ein etwas breiterer Wertebezug scheint z.B. bei Nancy Fraser durch, wenn sie versucht, »die Theorie kultureller Gerechtigkeit mit der Theorie der Verteilungsgerechtigkeit zu verbinden« (2001: 17). Wie Laclau und Mouffe erkennt Fraser in der »postsozialistischen Situation« nach 1989 eine Vielzahl von Kämpfen, d.h., viele unterschiedliche soziale und kulturelle Auseinandersetzungen. Die analogen, scheinbaren Gegensätze sozialistisch vs. postsozialistisch, ökonomisch definierte Klassen vs. kulturell definierte Wertegemeinschaften, Gleichheit vs. Differenz, Umverteilung vs. Anerkennung, Sozialpolitik vs. Kulturpolitik, Klassenpolitik vs. Identitätspolitik entlarvt sie (ebd.: 11f.) allerdings als »falsche Antithesen«. Laclaus und Mouffes Frage nach Autonomie und Hegemonie kehrt bei Fraser wieder als ein »Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma«: »Menschen, die sowohl von kultureller Ungerechtigkeit als auch von ökonomischer Ungerechtigkeit betroffen sind, benötigen Anerkennung ebenso sehr wie Umverteilung. D.h., sie müssen einerseits ihre Besonderheit geltend machen und andererseits verleugnen« (ebd.: 33). Fraser ordnet politische Strategien in einem Vier-Felder-Schema und hält die »Kombination aus Sozialismus und Dekonstruktion« (ebd.: 64) für die erfolgversprechendste Vorgehensweise.

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Tabelle 1: Maßnahmen gegen ökonomische und kulturelle Ungleichheiten Maßnahmen Gerechtigkeitsaspekt

Affirmation

Transformation

Umverteilung

Liberaler Wohlfahrtsstaat: Oberflächliche Neuzuteilungen vorhandener Güter an existierende Gruppen; unterstützt Gruppendifferenzierung; kann Missachtung erzeugen

Sozialismus: Gründliche Umstrukturierung der Produktionsverhältnisse; weicht Gruppendifferenzierung auf; kann manche Formen der Missachtung abschaffen helfen

Anerkennung

Üblicher Multikulturalismus: Oberflächliche Neuzuteilung von Respekt an bestehende Identitäten existierender Gruppen; unterstützt Gruppendifferenzierungen

Dekonstruktion: Gründliche Umstrukturierung von Anerkennungsverhältnissen; destabilisiert Gruppendifferenzierung

(Quelle: nach Fraser 2001: 55; vgl. auch Fraser 2002: 102ff.)

Nach unserem Durchgang durch wichtige zeitgenössische theoretische Positionen und empirische Einschätzungen erscheint die demokratische Revolution als ein offenes Projekt, das auch in unserer Zeit noch nicht zu seinem Abschluss gekommen ist. »Wenn Sie mich also fragen, ob die Demokratie eine Zukunft hat und gesetzt, sie habe eine, welcher Art diese Zukunft ist, so kann ich nur in aller Ruhe antworten: Ich weiß es nicht«, merkte Bobbio (1988: 8) einmal an. Führte die demokratische Revolution, beginnend im 18. Jahrhundert, zur Demokratie als politischer Institution, so die Erfassung vieler Institutionen weiterer Lebensbereiche durch den Geist des Demokratismus zur Demokratie als Lebensform. Die Demokratisierung der Demokratie schafft auch nötige Voraussetzungen für eine lebendige Demokratie. Bezugspunkt ist das ›demokratische Imaginäre‹, das immer wieder neu artikuliert wird. Die demokratische Revolution vollzieht sich nicht als einheitliches Projekt, gleichsam ›aus einem Guss‹, vielmehr realisiert sie sich durch eine Vielzahl einzelner Kämpfe. Zwei sich widersprechende Logiken sind zugleich am Werke: eine Logik der Vervielfältigung (Autonomie), die von zahlreichen einzelnen Negationen diskriminierender Verhältnisse lebt, und eine Logik der Vereinheitlichung (Hegemonie). Radikal wird Demokratie, wenn Mitbestimmung und mitbestimmungsförderliche Voraussetzungen sich in tendenziell allen Lebensbereichen ausdehnen. Plural wird Demokratie, wenn sich die Schauplätze dieses Geschehens nicht bloß vervielfältigen, sondern (auch) eigensinnig entwickeln. »Demokratie ist nicht, sondern wird ständig« (Beyme 1994: 9) – und der Tendenz nach überall. Die vielfältigen Kämpfe, die im Geiste des Demokratismus geführt werden, werden nicht mehr nur traditionell, im Zusammenspiel von Medienöf-

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fentlichkeit, Politik, Recht und Verwaltung, ausgetragen. Mediatisierung, Politisierung, Verrechtlichung, Bürokratisierung – was öffentlich diskutiert sowie politisch debattiert und entschieden wird, wird rechtlich durchgesetzt und administrativ umgesetzt – bleiben nach wie vor für Demokratien lebensnotwendige demokratisierende Prozesse. Aber die Rationalisierung als »kommunikative Verflüssigungtraditionsfester […] Institutionen« (Habermas 1981: 139), als »kommunikative Verflüssigung von traditionalen Pflichten und Loyalitäten« (Habermas 2004: 77) modernisiert tendenziell sämtliche Lebensbereiche und unterstützt in ihnen Demokratiediskurs wie Demokratiepraxis, und dies im Kleinen wie im Großen. Traut man demokratischen Werten theoretisch und praktisch zu, dass sie im menschlichen Zusammenleben verwirklicht werden, so müsste sich deren Wirklichkeit, Verwirklichung und Verwirklichtheit in Beschreibungen von Gesellschaft wiederfinden lassen. Im Folgenden sei ein theoretischer Rahmen, ein Gesellschaftsbild entworfen, das diese Verortung ermöglicht.

D AS G ESELLSCHAFTSBILD DER MODALEN S TRUKTURIERUNGSTHEORIE Die Modale Strukturierungstheorie (Husi 2010) beerbt insbesondere zwei Theorietraditionen. Von der Tradition der Praxistheorien (Reckwitz 2003), in der u.a. Pierre Bourdieu (1979, 1987) und Anthony Giddens (1984, 1988) stehen, bezieht sie den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen: die menschliche Praxis. Und von Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns lässt sie sich dazu anregen, von Sprachanalyse auszugehen, um letztlich eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Die Bezeichnung der im Weiteren zu beschreibenden Theorie enthält zwei Teile: ›modal‹ und ›Strukturierung‹, die die beiden genannten Erbschaften widerspiegeln. Uwe Schimank bezeichnet als »Gegenstand der Soziologie die fortlaufende wechselseitige Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen« (2000: 9). Präzisierend hält Hans-Peter Müller als »Grundfragen einer jeglichen Sozialtheorie« die folgenden fest: »Was heißt Handeln? Was meint Struktur? Wie sind Handeln und Struktur relationiert?« (2005: 21). Während in der Soziologie tatsächlich weitgehend Konsens darüber besteht, dass ihr Gegenstand Gesellschaftsstruktur und gesellschaftliche Praxis darstellen, so gehen die Meinungen auseinander, wie denn Struktur einerseits und Praxis andererseits sowie ihr Verhältnis zueinander, die Strukturierung, genau aufzufassen sind. Der führende englische Soziologe, Anthony Giddens, hat hierzu seine ›Theorie der Strukturierung‹ entworfen und mit dieser Namensgebung gleich auch ausgedrückt, dass Strukturierung besondere theoretische Aufmerksamkeit verdient. Zentral ist der Gedanke, dass Struktur und Praxis keine einander bloß gegenübergestellte, voneinander weitgehend unabhängige Pole bezeichnen – Giddens distanziert sich gleichermaßen von

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Theorieangeboten mit ›objektivistischer‹ wie ›subjektivistischer‹ Schlagseite, die entweder Struktur oder Praxis verabsolutieren. Vielmehr dient Struktur der Praxis medial, und Praxis reproduziert Struktur und kann diese zuweilen auch tiefgreifend verändern. Giddens (1988: 77ff.) nennt diesen Gedanken, dass Struktur sowohl Medium als auch Folge von Praxis ist, »Dualität von Struktur«. Er fasst Struktur als Regeln und Ressourcen auf. Zwischen Struktur und Praxis vermitteln »Strukturierungsmodalitäten«, und mit diesem Begriff gelangt man zum zweiten Teil der Theoriebezeichnung ›Modale Strukturierungstheorie‹ und zugleich zu Habermas’ Idee einer sprachwissenschaftlichen Grundlegung. Zentraler Gedanke der Modalen Strukturierungstheorie ist es nämlich, dass sich Strukturierungsmodalitäten – dasjenige also, das zwischen Struktur und Praxis vermittelt – durch nichts besser verstehen und wiedergeben lassen als durch Modalverben: Unsere Alltagssprache selber stellt uns die begrifflichen Mittel zur Verfügung, mit der die Vermittlung von Struktur und Praxis tatsächlich verstanden werden kann. Gleichzeitig lassen Modalverben präzise die grundlegenden Differenzierungen von Struktur und Praxis erscheinen. Damit kann das von Giddens so bezeichnete Problem der »doppelten Hermeneutik« elegant angegangen werden, das die Frage aufwirft, wie sich sozialwissenschaftliche Beobachtungen zweiter Ordnung auf alltägliche Beobachtungen erster Ordnung beziehen. Modalverben zählen, wie die Linguistik empirisch zu belegen weiß, zu den am häufigsten verwendeten sprachlichen Mitteln. Zugleich verweisen genau sie auf die wichtigsten, sozialwissenschaftlich zu erfassenden Differenzierungen gesellschaftlicher Struktur und Praxis und lassen letztere beide zueinander in Beziehung setzen. Linguistische Versuche zeigen, dass sich Modalverben auf unterschiedliche Art und Weise ordnen und verstehen lassen. Am überzeugendsten fällt jener Versuch aus, der die Modalverben auf menschliches Innenleben, Zusammenleben sowie Dinge bezieht, anders gesagt: auf die subjektive, soziale und objektive Welt. Bei diesem Bezug nämlich bilden sich drei Paare von Modalverben aufgrund dessen, dass zwei davon spezifische Weltbezüge aufweisen und ein Paar nicht: Mögen und wollen wurzeln in der einzelnen Individuen privilegiert zugänglichen subjektiven Welt, dürfen und sollen in der gemeinsam zugänglichen sozialen Welt – soweit die spezifischen Weltbezüge; können und müssen dagegen wurzeln in allen drei Bezugswelten, d.h. mithin, nicht nur in der objektiven Welt. Es sei nur nebenbei bemerkt und nicht näher ausgeführt, dass sich die paarweise Anordnung der Modalverben auch in den beiden genannten Praxistheorien erkennen lässt: Bei Giddens stehen dafür Regeln und Ressourcen als Strukturbestandteile sowie sein »Stratifikationsmodell der Handelnden«, das sich auf Kognition und Motivation bezieht; bei Bourdieu seine zentralen theoretischen Konzepte Kapital, Habitus und Feld. Mit den Modalverben lässt sich noch eine weitere zentrale Einsicht Giddens’ verknüpfen, die jeweils die Differenz zwischen den beiden zu Paaren zusammengefassten Modalverben erhellt: Struktur schränkt Praxis nicht nur

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ein – so eine gängige Vorstellung –, sondern ermöglicht sie auch. Ermöglichungen öffnen, Einschränkungen schließen Handlungsspielräume (und Erlebensspielräume). Beide sind, um es zu wiederholen, in die Praxis eingewoben und werden durch sie auch hervorgebracht, sei es bestätigt oder verändert. Gleich auf den ersten Blick lässt sich erkennen, dass können und dürfen Ermöglichung repräsentieren, müssen und sollen dagegen Einschränkung. Diese Modallogik zeigt sich auch darin, dass müssen ›nicht anders können‹ bedeutet, und analog dazu lässt sich sollen als ›nicht anders dürfen‹ begreifen. Bei mögen und wollen liegt der Fall ein wenig komplizierter, jedoch auch hier: Mögen eröffnet einem Menschen zunächst motivational Möglichkeiten, deren Vielfalt er durch sein entschiedenes Wollen wieder selber minimiert. Tabelle 2: Strukturierung und Differenzierung in der Modalen Strukturierungstheorie Modalverben

Medium

können

ermöglichend

müssen

einschränkend

mögen

ermöglichend

wollen

einschränkend

dürfen

ermöglichend

sollen

einschränkend

Bezug auf Welt

Strukturierungsmodalität

Differenzierung

subjektive soziale objektive

instrumentale

hierarchische

subjektive

motivationale

kulturelle

soziale

regulative

institutionelle

Indem man also Weltbezüge und Mediumsqualitäten kombiniert, erhält man ein vollständiges Tableau der Modalverben und somit der Strukturierungsmodalitäten. Giddens’ Theorem der Dualität von Struktur lässt sich demnach so interpretieren, dass Können, Dürfen und Mögen ermöglichend und Müssen, Sollen und Wollen einschränkend unablässig strukturierend in die Praxis von Menschen medial einfließen. Die Praxis ihrerseits reproduziert diese strukturellen Voraussetzungen und verstetigt sie auf diese Weise, wobei Veränderungen im Kleinen und Großen stets möglich sind. Diese Verstetigungen lassen sich mit einer lebenssoziologischen Begrifflichkeit ausdrücken, welche die relativ dauerhaften Teile der individuellen Lebensstruktur wiedergibt: Lebenslage steht für die Gesamtheit der Mittel und Zwänge, Lebensziele für die Gesamtheit der Wünsche und Ziele, Rollen für die Gesamtheit der Rechte und Pflichten eines Menschen. Welche Lebenslagen, Lebensziele und Rollen ein Mensch erwirbt und erhält, ist insbesondere durch Geschlecht, Alter und Ethnie beeinflusst. Aus der Denktradition des Strukturalismus stammt die Erkenntnis, dass einzelne Strukturelemente, hier also die konkreten, noch näher zu bestimmenden Bestandteile individueller

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Lebenslagen, Lebensziele und Rollen, ihre Bedeutung erst im Kontext aller anderen Elemente erhalten. Das bedeutet, der Vergleich mit anderen Menschen erst legt diese Bedeutungen fest. Das führt zur Betrachtung individueller Lebensstruktur im Kontext der Gesellschaftsstruktur. Der Vergleich klärt ferner empirisch darüber auf, inwiefern sich in einer gegebenen Gesellschaft große Gruppierungen von Menschen mit ähnlichen Lebenslagen und/oder Lebenszielen und/oder Rollen finden. Für diese Gruppierungen stehen zunächst die Begriffe Klasse und Milieu, während ein Lebensbereich Menschen versammelt, die darin aufeinander verweisende Leistungs- und Empfangsrollen spielen, die sich inhaltlich deutlich von anderen Rollen in anderen Lebensbereichen unterscheiden. Gesellschaften sind insofern hierarchisch, kulturell und institutionell differenziert, als sich solche Klassen, Milieus und Lebensbereiche empirisch finden lassen. Vor diesem Hintergrund der drei Differenzierungsweisen wird erkennbar, dass sich Menschen in unterschiedlichen Hinsichten begegnen können, nämlich als einander überoder untergeordnet; als miteinander vertraut oder einander fremd; und als solche, die denselben oder anderen Regeln unterworfen sind. Tabelle 3: Individuelle und gesellschaftliche Struktur in der Modalen Strukturierungstheorie Modalverben können & müssen mögen & wollen dürfen & sollen

individuelle Lebensstruktur

Gesellschaftsstruktur

Verhältnisse zwischen Menschen

Lebenslage

Klassen

Über- und Unterordnung

Lebensziele

Milieus

Rollen

Lebensbereiche

Vertrautheit und Fremdheit gleiche bzw. unterschiedliche Geregeltheit

Giddens schreibt der bis dahin beschriebenen Struktur eine ›virtuelle‹ Existenz zu. Praxis vollzieht sich dagegen konkret situativ in Raum und Zeit als ein Fluss des Handelns und Erlebens, der sich eingelebter Praktiken bedient. Praxis erweckt Struktur gleichsam zum Leben. Wie auf der Seite der Struktur kommt es zu Verstetigungen, d.h. zu Routinen, Gewohnheiten. Praxistheorien akzentuieren diesen Aspekt der Praxis, ohne zu leugnen, dass immer auch Überraschungen möglich sind. Zwischen Struktur und Praxis besteht demnach keine deterministische Beziehung, sondern eine Beziehung der Wahrscheinlichkeit, und zugleich wird auf diese Weise ersichtlich, dass Struktur und Praxis dazu tendieren, sich wechselseitig zu verstetigen. Auch hinsichtlich der Praxis kommt eine lebenssoziologische Begrifflichkeit zum Zuge: Individuelle Lebenspraxis verdichtet sich im Alltag zu einer Lebensweise als der Gesamtheit der Handlungen eines Menschen, die mit einem Lebensgefühl, als einer relativ dauerhaften Einschätzung des eigenen Lebens, einher geht. Man kann vermuten, dass ein gutes Lebensge-

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fühl dann entsteht, wenn es gelingt, Lebenslage, Lebensziele, Rollen und Lebensweise aufeinander abzustimmen. Abbildung 2: Struktur und Praxis in der Modalen Strukturierungstheorie Milieusstruktur

Klassenstruktur Hierarchische Differenzierung

Kulturelle Differenzierung

Lebensziele

Lebenslage (Mittel & Zwänge)

(Wünsche & Ziele)

Instrumentale Modalität

Motivationale Modalität

     Lebensgefühl

Regulative Modalität

Rollen (Rechte & Pflichten)

Lebensbereichestruktur Institutionelle Differenzierung

Legende:

Lebenspraxis

Strukturierung

Individuelle Lebensstruktur

Gesellschaftsstruktur

Der Routinecharakter der Alltagspraxis beinhaltet, dass Menschen ihre Praxis als einen Fluss des Tuns und Lassens leben. Es handelt sich dabei, so Giddens, mehr um ein Handeln als um Handlungen. Handlungen, als klar voneinander abgegrenzte, bilden eher die Ausnahme, sie treten hervor, wenn Störungen des Handlungsflusses aufmerken lassen, die Aufmerksamkeit wecken. Dem Handlungsfluss entspricht ein innerer Strom des Erlebens, d.h. des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens. Menschen erleben sich in ihrem Alltag wechselseitig als Handelnde, als Individuen also, die sich nicht auf eine völlig beliebige, zufällige Art oder im Gegenteil auf eine völlig determinierte Weise verhalten, sondern ihre Körperbewegungen und Sprechhandlungen wählen können und mit ihrer jeweiligen Wahl einen Sinn verbinden. Handeln geschieht demnach zwar wissentlich und willentlich, Praxistheorien bewahren jedoch davor, diese beiden Momente des Handelns zu überbetonen. Das Gewohnte minimiert den Energieaufwand der Praxis für Sinn und Wille. In Interaktionen stabilisieren Menschen wechselseitig ihre Lebenspraxen und schauen Praktiken voneinander ab. Missverständnisse und Konflikte bilden die Ausnahme. So gleichen sich bei ähnlichen strukturellen Gegebenheiten auch die Lebenspraxen. Entsprechend der von den Modalverben

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hergeleiteten drei Differenzierungsarten bilden sich besondere Klassenpraxen, Milieupraxen und Lebensbereichspraxen aus. Mit anderen Worten: Angehörige einer bestimmten Klasse, eines bestimmten Milieus oder Lebensbereichs handeln und erleben auf je ähnliche Art und Weise. Das ›Gesellschaftliche‹ der Praxis tritt indessen erst vollends zutage, wenn nicht nur solche Ähnlichkeiten festzustellen sind, sondern Ein- und Ausschlüsse in Betracht kommen. Die Differenzierung der Gesellschaftsstruktur widerspiegelt sich in der praktischen Differenzierung, die sichtbar wird, wenn sich Subsysteme bilden, die Grenzen aufweisen. Klassen, Milieus und Lebensbereiche, nun verstanden als Handlungszusammenhänge, schließen zugleich ein und aus. Menschen erleben in ihrem Alltag dauernd Inklusion in Handlungszusammenhänge und Exklusion aus ihnen, seien es Klassen, Milieus oder Lebensbereiche – man wird nicht überall zugelassen, man will auch nicht überall zugelassen werden, man bleibt aber oft unfreiwillig außen vor. Kurzum, Klassen-, Milieu- und Lebensbereichsangehörige, anders gesagt Gleichgestellte, Gleichgesinnte und Gleichgeregelte, neigen dazu, unter ihresgleichen zu bleiben. Was für die einen Eingrenzung bedeutet, bedeutet für die anderen Ausgrenzung. Menschen schauen nicht nur voneinander ab, sondern sehen auch voneinander ab. Alle individuelle und gemeinsame Praxis, jegliches Handeln und Erleben findet in Raum und Zeit statt, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort, im Hier und Jetzt eines bestimmten handelnden und erlebenden Menschen. Wie können nun die sechs demokratischen Grundwerte, Freiheit, Gleichheit, Sicherheit zunächst und sodann Toleranz, Solidarität, Frieden, im skizzierten Gesellschaftsbild der Modalen Strukturierungstheorie zur Darstellung gebracht werden?

D IE SECHS DEMOKRATISCHEN G RUNDWERTE IM R AHMEN DER MODALEN S TRUKTURIERUNGSTHEORIE Nicht nur über den Kanon der Grundwerte wird kontrovers diskutiert, sondern ebenso über die zutreffende Interpretation jedes Grundwerts. An dieser Stelle muss eine angemessene Darstellung nur schon der wichtigsten Wertinterpretationen ausbleiben, sie ist auch nicht das Ziel. Freilich lassen sich konsensfähige Bedeutungskerne herausschälen und dabei helfen zunächst Giddens‘ Unterscheidung von Struktur und Handeln und sein differenzierendes Verständnis von Strukturierung als Ermöglichung und Einschränkung weiter. Die Modale Strukturierungstheorie lässt anhand der Modalverben die Weltbezüge der Grundwerte sodann noch präziser erfassen. Freiheit (Husi/Meier Kressig 1998: 360ff., 371ff.) wird als negative und positive Freiheit interpretiert: Die ›Freiheit von‹ geht einher mit der ›Freiheit zu‹. Negative Freiheit ist die Freiheit von Einschränkungen, positive Freiheit ist die Freiheit durch Ermöglichungen. Dies kann noch nach Moda-

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litäten, insbesondere hierarchischer und institutioneller Modalität, aufgeschlüsselt werden: Negative Freiheit bezieht sich auf das Freisein von Zwängen und Pflichten, positive Freiheit auf das Vorhandensein von Mitteln und Rechten. In Bezug auf die motivationale Modalität, Wünsche und Ziele also, verhält es sich nicht ganz so einfach. Dem Wollen voran geht, was der Wille überhaupt vermag: sogenannte volitive Fähigkeiten (die noch der instrumentellen Modalität zugehören). Hier ist Willensfreiheit bedeutsam. Sie bezieht sich auf das Vermögen, eine Handlung und zugleich eine andere Handlung zu wollen (und nicht: zu mögen oder zu tun). Ein völlig unfreier Wille kann dagegen nicht anders wollen, muss so wollen, d.h. unterliegt einem Zwang. »Willensfreiheit ist in nuce ein Anders-Wollen-Können in Bezug auf Handlungen sowie den eigenen Charakter, wogegen sich Handlungsfreiheit in der Durchsetzung des eigenen Willens gegen innere und äußere Hindernisse manifestiert« (Husi/Meier Kressig 1998: 397). Mit Blick auf die motivationale Modalität sodann kann die Unterscheidung positiv/negativ folgendermaßen interpretiert werden: Wünsche wirken ermöglichend und verkörpern positive Freiheiten insofern, als sie Handelnden mögliche Beweggründe, die in ihren Werten gründen, vor Augen führen. Ziele wirken einschränkend und verkörpern, wenn man so will, negative Unfreiheiten insofern, als sie Handelnde auf eine Handlung festlegen. Gleichheit ist die Abwesenheit dessen, »dass einige Menschen gegenüber anderen nicht einfach als in bestimmter Hinsicht verschieden erscheinen, sondern dadurch gleichzeitig auch als besser- oder schlechter-, höheroder tiefer gestellt, bevorrechtigt oder benachteiligt« (Bolte/Hradil 1988, zit. nach Husi/Meier Kressig 1998: 206). Gleichheit zeigt sich also in Form gleicher Mittel und Zwänge sowie gleicher Rechte und Pflichten. Man könnte hier analog zu Freiheit von negativer Gleichheit in Bezug auf Zwänge und Pflichten und positiver Gleichheit in Bezug auf Mittel und Rechte sprechen. Von Gleichheit zu Gerechtigkeit führt kein weiter Weg. In der Gerechtigkeit sind Freiheit und Gleichheit vereint, denn »Gerechtigkeit bezieht sich auf die gleichen Freiheiten unvertretbarer und sich selbst bestimmender Individuen« (Habermas 1991: 70). Bereits Marx und Engels haben denn im 1848 veröffentlichten Manifest der Kommunistischen Partei eine künftige Gesellschaft vor Augen, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (1959: 482). Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind also Grundwerte, die sich auf Struktur beziehen, die über Strukturierung der Praxis als Medium dient. Auf dieselbe Weise lässt sich auch Sicherheit interpretieren (Husi/Meier Kressig 1998: 281ff.). Sicherheit ist dauerhaftes Geschütztsein, nämlich vor Einschränkungen und von Ermöglichungen: Erwünschtes besteht und hat Bestand, Unerwünschtes droht nicht. Dauerhaftigkeit, Beständigkeit zeitigt Erwartbarkeit. Sicherheit erweist sich also ebenso in erwartbarer Abwesenheit von Einschränkungen wie in erwartbaren Ermöglichungen. Hierbei lässt sich die bereits bei Freiheit hilfreiche Unterscheidung wieder aufgreifen:

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Negative Sicherheit ist demnach beständiger und darum erwartbarer Schutz vor Zwängen und Pflichten, und positive Sicherheit ist beständiger und darum erwartbarer Schutz von Mitteln und Rechten. Risiken und Gefahren lauern, wo Einschränkungen drohen und Ermöglichungen womöglich zu wenig geschützt sind. Eine Beziehung zwischen Freiheit und Sicherheit besteht insofern, als negative Sicherheit der Erwartbarkeit negativer Freiheit entspricht und positive Sicherheit der Erwartbarkeit positiver Freiheit. Der Blickwinkel der Sicherheit bereichert denn auch das Verständnis von Gerechtigkeit: Gerechtigkeit bedeutet schließlich sichere gleiche Freiheiten. Es kommt nicht von ungefähr, dass zum Rechtsstaat wesentlich auch Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit gehören, während Rechte an sich Freiheiten verkörpern. Gerechtigkeit lässt sich demnach mit Bezug auf Gesellschaftsstruktur begreifen als gleich sichere gleiche negative Freiheit von Einschränkung und positive Freiheit der Ermöglichung. Freiheit, Gleichheit, Sicherheit wie auch Gerechtigkeit beziehen sich auf erwünschte Qualitäten der Strukturierung von Praxis. Praxis erscheint im Lichte dieser primären Grundwerte als auf bestimmte, befriedigende oder unbefriedigende Weise ermöglicht und eingeschränkt. Drei weitere Grundwerte, die sekundären, beziehen sich auf Eigenschaften gelebter sozialer Beziehungen: Tolerantes, solidarisches, friedliches Handeln zeigt sich im Bezug auf andere Menschen – ohne Mitmensch keine Toleranz, keine Solidarität, kein Friede. Ein Individuum, das in seinem Handeln diese drei Grundwerte verwirklicht, richtet sich auf ein anderes Individuum, indem es dessen Handeln toleriert, sich mit ihm solidarisiert und sich ihm gegenüber friedlich zeigt. Abwertung, verweigerte mögliche Hilfe, Aggression stehen dem gegenüber. Menschliches Handeln befindet sich also im Spannungsfeld von anerkennen und abwerten, unterstützen und im Stich lassen, sich zurückhalten und verletzen. In den Wahlen der Handelnden in diesen Spannungsfeldern verwirklichen sich Toleranz, Solidarität und Frieden. Toleranz erweist sich im Verzicht auf negative Sanktion eines Handelns, das von einer geltenden Norm abweicht. Tolerantes Handeln ist norm- und abweichungsbewusstes, sanktionsloses Handeln gegenüber anderen. Es erstreckt sich von bloßer Duldung bis ausdrücklicher Förderung. Forst (2003: 42-48) findet denn in der Geschichte der Toleranz vier grundlegende Konzeptionen: die Erlaubnis-, Koexistenz-, Respekt- und WertschätzungsKonzeption. In der Toleranz zeigt sich »der grundlegende Respekt für andere als moralisch autonome Personen« (Forst 2003: 21). Im Spannungsfeld eigener und fremder Lebensziele und Rollen, genauer: ethischer Werte und moralischer Normen »ergibt sich die für die Frage der Toleranz konstitutive Differenzierung zwischen (1) den eigenen ethischen Konzeptionen des Guten, die man vollständig bejaht, (2) allgemein geltenden moralischen Normen, (3) anderen Konzeptionen des Guten, die man kritisiert oder ablehnt, aber tolerieren kann (und muss), weil sie nicht unmoralisch sind, und (4) solchen Auffassungen, die man nicht primär mit ethischen, son-

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dern mit moralischen Gründen verurteilt, weil sie die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit verletzen.« (Forst 2003: 21)

In diesem Spannungsfeld bietet daher die Unterscheidung von Moral und Ethos Orientierung. »Sich und die Welt mit toleranten Augen zu sehen heißt, zwischen dem unterscheiden können, was Menschen moralisch voneinander fordern können, und dem, was für sie vielleicht viel bedeutsamer ist, nämlich den Auffassungen davon, was ein Leben lebenswert und gut macht. Und es heißt zu sehen, dass bezüglich Letzterem unendlicher Streit besteht, der aber weder die Geltung der Moral noch die Wahrheit der eigenen Überzeugungen oder die Integration einer Gesellschaft in Frage stellen muss.« (ebd.: 23)

Solidarität erweist sich in der Sorge um das Wohl der Mitmenschen, in der ausgleichenden Hilfe an Hilfsbedürftige. Will man Solidarität von Wohltätigkeit unterscheiden, so ist solidarisches Handeln mehr um gerechten Ausgleich bemüht. Es ist ausgleichendes Handeln und nicht nur ein einfaches Geben. Eine umfassende Definition stammt von Wildt (1998: 212f.): »›Solidarität‹ bezeichnet eine engagierte Handlung oder Handlungsbereitschaft eines Akteurs gegenüber einem Rezipienten genau dann, wenn gilt I. Bezüglich der unmittelbaren Intentionen des Akteurs: (1) Akteur und Rezipient sind durch Gefühle der Zusammengehörigkeit oder Mitgefühl miteinander verbunden. (2) Die Motivation des Akteurs ist mindestens teilweise altruistisch. (3) Der Akteur versteht seine Handlung als Hilfe in einer Art Notlage des Rezipienten. (4) Diese Notlage wird vom Akteur als moralisches Problem verstanden, und zwar als Ursprung einer Verpflichtung (meist auch als Unrecht an dem Rezipienten). (5) Der Akteur glaubt, dass er selbst moralisch verpflichtet ist, entsprechend zu handeln. (6) Der Akteur glaubt nicht, dass der Rezipient seiner Hilfe ein – juridisches oder auch nur moralisches – Recht auf diese hat. II. Bezüglich der Annahmen des Akteurs über Intentionen des Rezipienten: (7) Der Akteur unterstellt, dass der Rezipient seine Notlage ähnlich beurteilt wie er selbst. (8) Der Akteur unterstellt, dass der Rezipient motiviert ist und, soweit möglich, ernsthaft versucht, seine Notlage zu bekämpfen. (9) Der Akteur unterstellt mindestens die Möglichkeit, dass es analoge Situationen gibt, in denen der Rezipient sich (aus ähnlicher Motivation) ihm oder Dritten gegenüber analog verhält, verhalten hat oder verhalten wird«.

Die meisten Begriffsauffassungen sind weniger anspruchsvoll; kontrovers diskutiert wird, ob es um Hilfe unter Gleichen oder Ungleichen geht: »Soli-

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darität soll hier ein gemeinsames soziales Handeln bedeuten, bei dem eine Vielzahl von Menschen aus einer ihnen gleichen und gemeinsamen Lebenslage heraus und um gemeinsamer und gleicher Ziele willen, einem ›sozialen Gegenpart‹ gegenüber füreinander einsteht« (Reitzenstein 1961, zit. nach Zoll 2000: 13; Herv. G.H.). Oder Solidarität bedeutet »Menschen, deren Lage man nicht teilt, dennoch bei der Verwirklichung derselben Chancen, Rechte und Ziele zu unterstützen, die man selbst geniesst bzw. als wertvoll erachtet« (Wildt 1996, zit. nach Zoll 2000: 17; Herv. G.H.). Bemerkenswerterweise macht sich der Unterschied der beiden Definitionen am Kriterium der Lebenslage fest. Frieden erweist sich im Verzicht auf Gewaltanwendung, im verträglichen Zusammenleben. Friedliches Handeln ist gewaltloses Handeln, genauer noch: beständiges und darum erwartbares gewaltfreies Handeln. Es handelt sich also um mehr als um einen bloß zufälligen oder situativen Gewaltverzicht. Dabei wird gehofft, »dass gerade in der Demokratie das Experiment der Institutionalisierung friedlichen Konfliktes dauerhaft gelingen könne« (Kielmansegg 1995: 112). Und mehr noch: »Demokratie ist nur Wirklichkeit, wo Politik als gewaltloser, geregelter Konflikt organisiert ist. Und umgekehrt: Die Institutionalisierung des gewaltlosen politischen Konfliktes ist gerade und nur in der Gestalt des demokratischen Verfassungsstaates gelungen.« (ebd.: 113) Tabelle 4: Grundwerte aus Sicht der Modalen Strukturierungstheorie

Strukturierung als Ermöglichung und Einschränkung

Sekundäre, instrumentelle Grundwerte Toleranz

Strukturierung als Differenzierung

Solidarität

Verzeitlichung

Frieden

Primäre, terminale Grundwerte Freiheit x negative »Freiheit von« Einschränkungen x positive »Freiheit zu« durch Ermöglichungen Gleichheit x negative Gleichheit negativer Freiheiten x positive Gleichheit positiver Freiheiten Gerechtigkeit x gleich sichere gleiche Freiheiten Sicherheit x negative »Sicherheit vor« durch erwartbare Abwesenheit von Einschränkungen x positive »Sicherheit durch« erwartbare Ermöglichungen

Bobbio (1988: 33f.) nennt vier Ideale, nach denen zu leben ist, wenn Demokratie funktionieren soll: Toleranz, Gewaltfreiheit, freien Gedankenstreit

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und Lebensformenwandel sowie Brüderlichkeit. Er nennt also neben der freien Konkurrenz von Ideen und Veränderung von Lebensformen nichts anderes als: Toleranz, Frieden, Solidarität. Diese Lebensideale finden sich denn auch in ethischen Betrachtungen. Im Anschluss an Arthur Schopenhauers Mitleidsethik z.B., lässt sich gut darstellen, wie Verletzen und Helfen mit sekundären Grundwerten zusammenhängen. In Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der Moral lassen sich vier Grundorientierungen ausmachen – er selber nennt ausdrücklich Egoismus, Mitleid, Bosheit (vgl. Fischer 2003: 111-116). Tabelle 5: Vier Grundorientierungen in der Mitleidsethik von Schopenhauer Positive und negative Selbstund Fremdorientierung Wohl Wehe

Eigenes

Fremdes

Egoismus Masochismus

Mitleid Bosheit

Die Orientierung des Handelns an Toleranz und Frieden, der Verzicht also auf negative Sanktion und Gewalt, verhindert Fremdschädigung, die Orientierung an Solidarität verhindert übertriebenen Egoismus (während ein ›gesunder Egoismus‹, d.h. wohlverstandene Selbstliebe, vermutlich Selbstschädigung verhindert). Ein respekt-, vertrauens- und liebevolles – echtes – Mitgefühl, das sich an Toleranz, Frieden und Solidarität ausrichtet, bildet ein Gegengift gegen Selbstsucht und Bosheit und wird dem Grundsatz der Schopenhauerschen Ethik »Verletze niemanden; vielmehr hilf allen, soweit du kannst« (Fischer 2003: 102) gerecht. Mit der Bosheit bringt Schopenhauer im Übrigen ins Spiel, dass die willentliche Negierung von Grundwerten bis zu lustvoller Schädigung, radikalem Exzess und kollektiver Auslöschung führen kann. Alle Grundwerte müssen genauer interpretiert werden, insbesondere auf die jeweilige Qualität von Einschränkung und Ermöglichung hin. Bei genauerem Hinsehen nämlich zeigen sich auch sinnvolle Einschränkungen und unsinnige Ermöglichungen. Was hier aber Sinn oder keinen Sinn macht, kann nur entschieden werden, indem die Grundwerte inhaltlich genauer interpretiert werden. Dies hat Forst im Blick, wenn er fordert, Toleranz sei »mit Inhalt zu füllen« (2003: 49). Forst meint nun aber gar, erst dadurch werde sie zu »etwas Wertvollem«. Dessen Schluss daraus, Toleranz sei, da »normativ abhängig«, kein Wert, ist nicht zwingend. Es gibt nicht nur »falsche Toleranz«, d.h. allgemein intersubjektiv nicht zustimmungsfähig interpretierte und verwirklichte Toleranz, sondern ebenso falsche Solidarität, falschen Frieden, und dasselbe gilt für die primären Grundwerte. Ist Sterbehilfe ein solidarischer Akt? Ist der Verzicht auf Notwehr eine friedliche Handlung? Ist die Anerkennung menschenfeindlichen Handelns tolerant? Um welche Freiheit, Gleichheit, Sicherheit soll es gehen? Nur wohlverstandene Grundwerte sind ihrer Verwirklichung wert. Fraglich ist, ob falsch begriffe-

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ne Toleranz usw. überhaupt Toleranz usw. sei, aber auch, ob sich Grundwerte universell letztgültig interpretieren lassen. Soviel zur Platzierung der demokratischen Grundwerte im ausgewählten gesellschaftstheoretischen Rahmen. Es fragt sich zum Schluss, ob der Begriff der Demokratie ausreicht, um den normativen Gehalt dieses Gesellschaftsbilds einzufangen. Welche konzeptuelle Alternative bietet sich an?

B ETEILIGUNGSGESELLSCHAFT : R ADIKALE D EMOKRATISIERUNG AUS S ICHT DER MODALEN S TRUKTURIERUNGSTHEORIE

PLURALE

Bruce Ackerman und Anne Alstott (2001) beschreiben in ihrem Buch zur Stakeholder-Gesellschaft ein, wie es im Untertitel heißt, »Modell für mehr Chancengleichheit«. Diese Idee greifen Gerd Grözinger, Michael Maschke und Claus Offe auf, um ihrerseits eine Teilhabegesellschaft zu entwerfen, in der ihr »Modell eines neuen Wohlfahrtsstaats« zur Entfaltung käme. Begründet wird dieses Modell deontologisch damit, dass in einer liberalen, dem »Grundsatz der gleichen realen Freiheit« (Grözinger/Maschke/Offe 2006: 17) folgenden Gesellschaft unter heutigen wirtschaftlichen Bedingungen die Einführung eines Grundeinkommens geboten scheint, sowie konsequentialistisch damit, dass die Einführung ökonomischer Bürgerrechte wünschenswert sei, da sie zur Lösung zentraler gesellschaftlicher Probleme (Bildungsferne, Erwerbslosigkeit, Kriminalität usw.) beitragen können. Die drei Autoren schlagen »den gesetzlichen Anspruch auf Auszahlung einer steuerfinanzierten ›Sozialerbschaft‹« (2006: 17) vor, da er dem Postulat gleicher Freiheit entspricht. Gleichheit wird hier zwar nicht nur minimalistisch als gleicher Schutz vor Diskriminierung bei der Zu- und Anerkennung von Rechten verstanden, aber auch nicht maximalistisch als Ergebnisgleichheit, sondern, so die mittlere Position, als Chancengleichheit. »Sie besagt etwa, dass alle Bürger durch nachweislich geeignete politisch-rechtliche Vorkehrungen in die Lage zu versetzen sind, von ihren Freiheitsrechten tatsächlich Gebrauch zu machen« (ebd.: 18). Dahinter steht die empirische These der Autoren, »dass die Entwicklung moderner Gesellschaften es mit sich bringt, dass der individuelle Freiheitsgebrauch immer voraussetzungsreicher wird und dass daher der Umfang der Vorkehrungen wächst, die im Interesse eines chancengleichen Zugangs zum Gebrauch von Freiheitsrechten erforderlich sind« (ebd.). Auch in Bezug auf die zweite Begriffshälfte »gleicher Freiheit« nehmen die drei Autoren eine mittlere Position ein: Freiheit wird nicht nur minimalistisch so aufgefasst, dass auch unter autoritärer Herrschaft noch zwischen Anpassung und Widerstand entschieden werden kann, aber auch nicht maximalistisch so, dass Bürger die Ordnung ihres Zusammenlebens gemeinsam und einvernehmlich, frei von Fremdherrschaft und Partikularinteresse bestimmen. Freiheit lässt sich vielmehr als »die

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Chance definieren, dass individuelle Bürger einen Lebensplan wählen und realisieren können, der einer von ihren Wünschen bestimmten Kombination von Lebensplänen und -tätigkeiten […] entspricht« (ebd.: 20). Strukturierungstheoretisch gesagt: Es sollen erforderliche Ermöglichungen bestehen (und Einschränkungen ausbleiben), um Lebensziele und Lebensweise einander entsprechen zu lassen. Diese Vorstellung knüpft empirisch an den gängigen soziologischen Thesen der Differenzierung und Individualisierung an. Für eine der wichtigsten »Determinanten der Chancen des Freiheitsgebrauchs« halten die Autoren materielles Vermögen, dessen »soziale Funktion« sie im »Gewinn an Unabhängigkeit, Sicherheit und Gestaltungsfreiheit« (ebd.: 21) erkennen. Die individuelle Aussicht auf ein »Mehr an Freiheit« durch Vermögensbildung wirkt sehr leistungsmotivierend, darum scheint es den Autoren völlig verfehlt, die »privatautonome Verfügungsmacht über Kapital« abzuschaffen. Die Teilhabegesellschaft rückt denn unter den Ermöglichungen die Lebenslage, genauer: die Mittel, und noch genauer: materielle Mittel, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Betrachtet man die Idee einer Teilhabegesellschaft indes aus der Perspektive der Demokratisierung der Demokratie und damit aus dem Blickwinkel förderlicher Voraussetzungen, erscheinen noch andere Mittel als bedeutsam. Mit Bourdieu (1983) gesprochen: Nicht nur ökonomisches, sondern ganz besonders kulturelles Kapital, aber auch soziales und schließlich symbolisches Kapital sind wichtig. Über Bourdieu hinaus können weitere Mittel in Betracht kommen, so ganz allgemein körperliche Gesundheit und verschiedene (motorische, perzeptive, kognitive, emotionale, volitive) Fähigkeiten (Husi 2010: 122f.). Eva Illouz (2009: 329ff.) fragt sich z.B., ob »emotionale Kompetenz« »eine neue Achse sozialer Schichtung« entstehen lässt. Teilhabe bedeutet, seinen Teil zu erhalten an den gesellschaftlich verfügbaren (materiellen, kulturellen, sozialen, personalen) Mitteln – und, wenn man sie auf die Lebenslage insgesamt bezieht, für seinen Teil von (sachlichen, sozialen, physischen, psychischen) Zwängen verschont zu bleiben. So weit reiche eigentlich die ›Teilhabegesellschaft‹. Wir leben indessen nicht nur in einer mehr oder weniger realisierten Teilhabegesellschaft, denn Zugehörigkeit realisiert sich nicht über Teilhabe, sondern über Teilnahme und, wie wir sagen könnten, Teilsein. Im Teilsein begegnen sich Werte und Normen, fliessen Wünsche und Ziele sowie Rechte und Pflichten ineinander; kulturelle Verschiedenheit und institutionelle Normalität werden aufeinander abgestimmt, Authentizität und Richtigkeit austariert. Habermas‘ »Diskurstheorie der Moral« (1991: 7) und Forsts »kritische Theorie der Toleranz« (2003: 22) wollen mitunter das Verhältnis von ethischen Werten und moralischen Normen klären. Erstere alimentieren das Mögen (und indirekt das Wollen), letztere das Sollen und Dürfen. Wenn Theodor W. Adorno übrigens in 17 Vorlesungen Probleme der Moralphilosophie erörtert, verweist er gleich zu Beginn auf seine berühmte Sentenz in den Minima Moralia, wonach es kein richtiges Leben im falschen gebe, und findet, man könne »durchaus ein berechtigtes Interesse

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daran haben, etwas über das richtige Leben zu erfahren« (1996: 10). Er meidet jedoch »die verlogene Situation eines Gurus, eines Weisen« (ebd.: 11) ebenso wie einen »Kurzschluss zur Praxis« (ebd.). »Aber es ist so, dass, je ungewisser die Praxis geworden ist, je weniger wir tatsächlich wissen, was wir tun sollen, je weniger verbürgt uns ein richtiges Leben ist, wenn es denn je verbürgt gewesen sein sollte, dass dann um so hastiger danach gegriffen wird.« (ebd.: 12) Für Adorno liegt dem »Nichts-damit-anfangen-Können« die Abwertung des Denkens und der Intellektuellen sehr nahe. Zwar will Adorno nicht »Normen, Werte oder wie die grauslichen Wörter alle heissen mögen« (ebd.: 15) nennen, aber er sucht nach dem »Moment der Freiheit, ohne das so etwas wie richtiges Leben gar nicht gedacht werden kann« (ebd.: 16). Dieselbe Zweiheit wie Habermas und Forst nach ihm thematisiert Adorno, wenn er schließlich Moralphilosophie der Ethik vorzieht: »Ethos […] ist ein sehr schwer zu übersetzender Ausdruck, den man im allgemeinen […] wiedergibt als Wesensart – also: wie einer ist, wie einer beschaffen ist. […] Durch die Nivellierung der Problematik von Moral und Ethik wird von vornherein das entscheidende Problem der Moralphilosophie, nämlich das Verhältnis des einzelnen Individuums zu dem Allgemeinen, eskamotiert, es wird weggeschafft. Es steckt darin schon das: dass, wenn man nur seinem eigenen Ethos, seiner eigenen Beschaffenheit nach lebe – wenn man, wie man so schön sagt: sich selbst verwirkliche oder wie diese Phrasen alle lauten mögen –, dabei schon das richtige Leben herauskomme; was eine pure Illusion und eine pure Ideologie ist. Eine Ideologie im übrigen, die sich mit einer zweiten paart, nämlich mit der Ideologie, dass die Kultur und das Sichanpassen an die Kultur die Selbstveredelung, Selbstkultivierung des Individuums eigentlich dort leiste, wo die Kultur selbst gegenüber der Moralphilosophie zur Diskussion steht und eigentlich ein zu Kritisierendes wäre.« (ebd.: 23)

Adorno verwahrt sich, so können wir sagen, Normen, die zwischenmenschlich gelten, einfach auf Werte zu reduzieren, die persönlich gelten. Es würde nämlich in diesem Fall, so findet Adorno »die Vorstellung des richtigen Lebens, des richtigen Tuns darauf reduziert, dass man so handle, wie man ohnehin ist. Es wird also, indem man seinem Ethos, seiner Wesensbeschaffenheit nach handeln soll, das bloße So-Sein, dass man so und nicht anders ›geartet‹ ist, zum Maßstab dessen gemacht, wie man sich verhalten soll« (ebd.: 26). Auf die Seite der Kultur schlagen mag sich Adorno jedoch auch nicht, denn er stellt »die Frage, ob die Kultur und das, wozu diese sogenannte Kultur geworden ist, überhaupt so etwas wie richtiges Leben zulässt oder ob sie ein Zusammenhang von Institutionen ist, der in zunehmendem Maß ein solches richtiges Leben geradezu verhindert« (ebd.: 28). Wie das »Verhältnis zwischen dem Guten und dem Rechten«, das »Verhältnis zwischen dem attraktiven Charakter der Werte und dem obligatorischen Charakter der Normen« (Joas 1999: 258) genau zu konzipieren ist, wird kontrovers diskutiert (ebd.: 252-293). Hans Joas favorisiert im Anschluss an John Dewey und Charles Taylor den »Gedanken eines Reflexi-

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onsgleichgewichts zwischen dem Guten und dem Rechten« (ebd.: 264), der ihn schließlich Habermas‘ Eintreten für einen »Primat des Rechten vor dem Guten« (ebd.: 274) kritisieren lässt: »In der Situation des Handelns gibt es demnach keinen Primat des Guten oder des Rechten. Hier herrscht kein Über- oder Unterordnungsverhältnis, sondern eine Komplementarität. In der Situation des Handelns stoßen die irreduziblen Orientierungen in Richtung des Guten, die bereits in unseren Strebungen enthalten sind, auf die Prüfinstanz des Rechten. Was wir in diesen Situationen erreichen können, ist immer nur ein Reflexionsgleichgewicht zwischen unseren Orientierungen.« (ebd.: 270)

Es geht also um eine Balance zwischen mögen sowie sollen und dürfen. Für den ›frühen und mittleren‹ Parsons, so dessen klassisch gewordene Ansicht, in der er Kants Idee der Freiheit als des Gehorsams gegenüber selbstgegebenen Gesetzen soziologisch wendet, »ist die symmetrische Beziehung zwischen der Autorität geltender Normen, denen der Aktor begegnet, und der in seiner Persönlichkeit verankerten Selbstkontrolle, ist die Entsprechung zwischen der Institutionalisierung und der Internalisierung von Werten wesentlich« (Habermas 1981: 310; vgl. auch Joas/Knöbl 2004: 96-106). Joas hält der bekannten theoretischen Position, dass Normen einfach Werte auf Situationen hin spezifizierten, »den idealistischen Fehlschluss einer Reduktion des Sozialen auf das Kulturelle« (1999: 273) vor. Stattdessen seien kulturelle Integration über Werte und soziale Integration über Normen klar zu unterscheiden – in der Begrifflichkeit der Modalen Strukturierungstheorie: kulturelle Differenzierung/Milieusstruktur und institutionelle Differenzierung/Lebensbereichestruktur. »Die normative Regelung der sozialen Integration entstammt teilweise den kulturellen Werten; sie ist aber aus diesen nicht einfach abgeleitet, sondern resultiert aus einem Reflexionsgleichgewicht zwischen der Besinnung der kooperierenden Akteure auf ihr Zusammenwirken und den kulturellen Interpretationen.« (Joas 1999: 273)

Joas argumentiert weiter, dass »der Gesichtspunkt des Rechten aber unvermeidlich in Konkurrenz tritt zu dem des Guten und seine Wirkung auf die Modifikation des Guten ausübt« (ebd.: 274). Auf diese Weise entfaltet sich also eine Dialektik von Werten und Normen. Die zunächst subjektive Geltung von Werten bildet den Ausgangspunkt für die intersubjektive Geltung von Normen. Und in jeder Sozialisation prägen geltende Normen die Ausbildung eigener Werte mit. Demokratisch gefärbte regulative Sozialisationsbedingungen sind deshalb sehr bedeutsam. Sie helfen, den Geist des Demokratismus, die Orientierung an den Grundwerten zu verinnerlichen, und machen die Ausbildung von Autoritarismus (vgl. Vester 2003) unwahrscheinlich. Die Geltung demokratischer Mitbestimmungsregeln ist indes auf den kulturellen Nährboden förderlicher Grundwerte angewiesen. Teilsein bedeutet, dass sich persönliche Werte in

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legitimen Normen aufgehoben finden, ohne in ihnen restlos aufgehen zu müssen. Das Toleranzgebot schafft, in einem bestimmten Rahmen, Freiräume für abweichende Wertvorstellungen; liberales Zusammenleben pflegt möglichst weitgehend die paradoxe Norm der Nicht-Norm, d.h. des Normierungsverzichts oder zumindest schwacher Normierung – aber eben in einem bestimmten Rahmen bloß, denn (selbst- oder fremd-)schädliche oder egoistische Nonkonformität wird negativ sanktioniert. Eine besondere Herausforderung für jede liberale Gesellschaft ist die Tolerierung der Intoleranten, des Fundamentalismus unterschiedlicher Art, d.h. der performative Widerspruch im Freiheitsgebrauch der Menschen mit unfreiheitlicher Gesinnung, der für sich beansprucht, was diese ablehnt. Nicht nur der – strukturbezogene – Aspekt des Teilseins erweitert die Perspektive einer Teilhabegesellschaft, sondern auch der – praxisbezogene – Aspekt der Teilnahme. Teilnahme ist Einbezug in Handlungszusammenhänge, in gesellschaftliche Systeme, sei es in einer Leistungsrolle oder in einer Empfangsrolle. Der Blickwinkel der Demokratisierung lenkt den Blick besonders auf Möglichkeiten der Mitbestimmung, der Einwirkung auf Entscheidungen, deren Folgen einen selbst betreffen. Solche Partizipation weist verschiedene Stufen, Teilnahmequalitäten gleichsam, auf und reicht von Information über Mitwirkung (Mitsprache, Mitarbeit) und Mitentscheidung bis zu Selbstverantwortung (vgl. z.B. das Modell mitsamt Einflussgrößen von Lüttringhaus 2000: 72). Fühlt man sich schließlich als Teil zugehörig, wird wahrscheinlicher, dass man auch echt Anteil nimmt. Praxis bedeutet ja nicht nur zu handeln, sondern auch gleichzeitig zu erleben. Bezieht sich Teilnahme auf Handeln, so Anteilnahme auf Erleben. Anteilnahme ist von Mitgefühl getragen. Wer die Beteiligung anderer wahrnimmt, deren Perspektive einnimmt, sich in sie hineindenkt und vor allem einfühlt, nimmt Anteil. Die Erkenntnis der Wichtigkeit dieses Aspekts ist keineswegs neu: »Nach Hume bildet die Sympathie im Sinne der Fähigkeit, die Empfindungen anderer nachzuvollziehen, die Grundlage moralischen Urteilens« (Pauer-Studer 2003: 60). Neuere Diskussionen erörtern die »Rationalität des Gefühls«, so z.B. Ronald de Sousa in seinem so betitelten Buch. Wer partizipiert, entwickelt in der Regel ein Verantwortungsgefühl. Sodann finden sich zwischen Handeln und gefühlsmäßigem Erleben Entsprechungen: • Sind soziale Beziehungen von tolerantem Handeln geprägt, stiftet dies im

Erleben der Beteiligten ein Gefühl des Respekts. – Empfindet man Respekt, handelt man tolerant. • Sind soziale Beziehungen von solidarischem Handeln geprägt, stiftet dies im Erleben der Beteiligten ein Gefühl der Liebe. – Empfindet man Liebe, handelt man solidarisch. • Sind soziale Beziehungen von friedlichem Handeln geprägt, stiftet dies im Erleben der Beteiligten ein Gefühl des Vertrauens. – Empfindet man Vertrauen, handelt man friedlich.

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Anteilnahme nährt sich also vornehmlich von Respekt, Liebe und Vertrauen. Man empfindet mehr oder weniger Respekt, Liebe, Vertrauen und zeigt sie durch mehr oder weniger tolerantes, solidarisches, friedliches Tun und Lassen. Wenn Praxis Handeln und Erleben bedeutet, dann also mitunter Teilnahme und Anteilnahme. Wie der Gesichtspunkt des Teilseins und derjenige der Teilnahme weitet jener der Anteilnahme den Rahmen einer Teilhabegesellschaft aus. Abbildung 3: Vier Aspekte von Beteiligung Demokratismus Freiheit Gleichheit Sicherheit Gerechtigkeit Toleranz Solidarität Frieden

Beteiligung

Von allen

Für alle

Praxis

Struktur

Lebensgefühl

Lebensweise

Lebenslage

Anteilnahme

Teilnahme

Teilhabe

Lebensziele

Rollen

Teilsein

In diesen Formen: Teilhabe und Teilsein, Teilnahme und Anteilnahme, manifestiert sich Beteiligung. Menschen nehmen, haben, sind: Teil, und sie nehmen Anteil. Wer Teil hat, Teil ist, wer Teil und Anteil nimmt (bzw. erhält), ist beteiligt. Eine bekannte Redewendung gilt hier ganz besonders: Demokratie (und ihre Demokratisierung) gelingt in dem Masse, wie Betroffene zu Beteiligten gemacht werden. An dieser Stelle soll nun das gesellschaftstheoretisch fundierte und normativ gehaltvolle Konzept der Beteiligungsgesellschaft eingeführt werden. Eine Beteiligungsgesellschaft – jenseits der überlieferten Wortbedeutung einer rechtlich geregelten Organisationsform natürlich – realisiert sich, insoweit sie auf gerechte Weise für alle Menschen, gegenwärtig und auch künftig, erwartbar Teilhabe und Teilsein, Teilnahme und Anteilnahme gewährleistet. Der Geist des Demokratismus verwirklicht sich mehr oder minder in einer Beteiligungsgesellschaft. Sie steht nicht im Spannungsfeld von ›nicht mehr‹ und ›noch nicht‹ – sie ist schon und wird noch, sie besteht bereits und ist, als offene Gesellschaft, be-

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reit für eine vielgestaltige weitergehende Demokratisierung. Sie stellt ein unvollendetes Projekt dar, das auch nicht vollendbar scheint. Insofern sich eine Gesellschaft radikal und plural im oben geschilderten Sinne demokratisiert, entwickelt sie sich zu einer Beteiligungsgesellschaft. Wenn die Moderne ein immer noch »unvollendetes Projekt« darstellt, wie Habermas (1981a) einst formulierte, dann hat dies wesentlich damit zu tun, dass weiterhin oder neuerdings wichtige Demokratisierungsdefizite bestehen und Demokratisierungspotenziale nicht ausgeschöpft werden. Dem Gedanken an Grade erreichter Demokratisierung entspricht, dass sich eine Beteiligungsgesellschaft in unterschiedlichem Ausmaß herausbilden kann. Die Begriffe der Demokratie und der Beteiligungsgesellschaft bilden keine Synonyme, da sich der Begriff der Demokratie nur auf die von demokratischen Regeln geprägten Institutionen (verschiedener Lebensbereiche) bezieht, der Begriff der Beteiligungsgesellschaft aber auf die Gesellschaft insgesamt, d.h. auf die gesellschaftliche Praxis und Struktur. In einer Beteiligungsgesellschaft sind allen Gesellschaftsmitgliedern Teilhabe und Teilsein, Teilnahme und Anteilnahme gegeben. Den Überflüssigen (Bude/Willisch 2008) mangelt es dagegen weitgehend an Teilnahme und Anteilnahme und infolgedessen an Teilhabe und Teilsein, während andere davon im Überfluss genießen. Demokratisierung in der doppelten Bedeutung der Institutionalisierung demokratischer Regeln (inner- und außerhalb der Politik) sowie der Schaffung gerechter günstiger Voraussetzungen für deren Entwicklung und praktische Geltung verweist also auf Beteiligung im umfassenden Sinne. Praxis im Geiste des Demokratismus bedeutet nicht nur einfach mitzubestimmen, sondern nach bestem Wissen und Gewissen sich wie andere zu beteiligen, d.h. durch sie, die Praxis, zugleich Teilhabe und Teilsein, Teilnahme und Anteilnahme zu realisieren. Demokratische Mitbestimmungsrechte bedürfen der Unterstützung durch Mitbestimmungsmittel und Mitbestimmungswünsche, damit Mitbestimmung faktisch realisiert wird: Die Gesellschaftsstruktur, in der individuelle Lebenslagen, Lebensziele und Rollen ihren Platz haben, enthält wichtige Voraussetzungen für eine lebendige Demokratie, insbesondere die verbreitete Verinnerlichung demokratischer Grundwerte jenseits aller kulturellen Differenzierung. Infolgedessen finden sich demokratische Gesinnungen in allen Milieus, und, in Bezug auf die hierarchische Differenzierung, die hinreichende (Gleich-)Verteilung von Machtmitteln. Gewiss kommt Bildung unter diesen Mitteln eine besondere Bedeutung zu: Nicht allein Wissen und kognitive Fähigkeiten sind hierbei wichtig, sondern ebenso, denkt man an die Anteilnahme, die sogenannte ›Herzensbildung‹, emotionale Fähigkeiten also. Eine Reflexion der Herzensbildung kann, nebenbei gesagt, auf die gefühls- und mitleidsethische Tradition zurückgreifen, die besonders von David Hume und Adam Smith, Jean-Jacques Rousseau und Arthur Schopenhauer geprägt worden ist; die neuere Debatte entfaltet sich um den Begriff der »emotionalen Intelligenz« von Daniel Goleman. Was die institutionelle Differenzierung betrifft, so sollten andere Regeln nicht der Geltung demokratischer Regeln zuwiderlaufen. Wenn man

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das, was Max Weber, wie am Anfang erwähnt, mit seiner wertetheoretischen Grundlegung im Sinn hatte, durch die Brille der Beteiligung im dargestellten Sinne betrachtet, gelangt also Folgendes in den Blick: • Ihre Wertewirklichkeit haben demokratische Grundwerte (Geist des De-



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mokratismus) in den Lebenszielen der Individuen, das demokratische Imaginäre konkretisiert sich in Wertinterpretationen. Werteverwirklichung (Demokratisierung) vollzieht sich in der und durch die Praxis: Institutionalisieren demokratischer Mitbestimmungsregeln sowie Schaffen günstiger Demokratiebedingungen. Die Werteverwirklichtheit (Beteiligung) manifestiert sich in Praxis und Struktur. Praxis umfasst Teilnahme und Anteilnahme und bedeutet mitunter, freiheits-, gleichheits-, sicherheitsförderlich zu handeln und daher andere tolerant, solidarisch, friedlich zu behandeln; diesem Tun und Lassen entspricht respekt-, liebe- und vertrauensvolles Erleben. Struktur umfasst Teilhabe und Teilsein und enthält Freiheiten, Gleichheiten, Sicherheiten, und dies bedeutet, als gerechte: gleich sichere gleiche negative Freiheiten von Einschränkung und positive Freiheiten der Ermöglichung.

Dies alles umfasst Zusammenleben im Geiste des Demokratismus, die Verwirklichung demokratischer Werte in der Beteiligungsgesellschaft. Tabelle 6: Grundwerte in der Beteiligungsgesellschaft STRUKTUR gleich sichere gleiche negative Freiheit von Einschränkung und positive Freiheit der Ermöglichung TEILHABE TEILSEIN hierarchische institutionelle kulturelle Differenzierung Differenzierung Differenzierung distributive Gerechtigkeit: regulative Gerechtigkeit: x gerechte Verteilung von x bürgerliche, politische, verinnerlichte GrundMitteln & Zwängen soziale Rechte werte x gerechte außerpolitische Mitbestimmungsregeln/ Rollenverteilung PRAXIS beteiligtes und beteiligendes Handeln und Erleben TEILNAHME ANTEILNAHME x demokratische politix verantwortungsvolles sche und außerpolitiErleben sche Mitbestimmung gesellschaftlicher x tolerantes, solidariZusammenhalt x respekt-, liebe-, und sches, friedliches Hanvertrauensvolles Erledeln ben

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Das Konzept der Beteiligungsgesellschaft gibt im Übrigen auch Antworten auf die Fragen, was die Gesellschaft zusammenhält und was sie auseinander treibt (Heitmeyer 1997a, 1997b). Soziale Kohäsion bzw. gesellschaftliche Integration (vgl. auch Husi 2010; Chiesi 2005) ergibt sich unmittelbar aus tolerantem, solidarischem, friedlichem Zusammenleben. Im Sinne von Giddens‘ Theorem der Dualität von Struktur dienen gesellschaftsstrukturell verwirklichte Freiheiten, Gleichheiten und Sicherheiten medial an jenen Werten orientiertem Handeln. Und umgekehrt wird eine solche Gesellschaftsstruktur ihrerseits durch eine Praxis hervorgebracht und reproduziert, die Toleranz, Solidarität und Frieden kennzeichnen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt gründet unmittelbar auf Teilnahme und Anteilnahme und erweist sich in einer Praxis, die geprägt ist von tolerantem, solidarischem, friedlichem Handeln sowie respektvollem, liebevollem, vertrauensvollem Erleben. Gelingendes Leben in einer Beteiligungsgesellschaft will gelernt sein. Ein erstes wichtiges Lernfeld ist bereits die Herkunftsfamilie. »Die Frage nach dem Geist der Demokratie verschiebt sich damit zu der Frage, wo und wie in einer Gesellschaft Freiheiten aus- und eingeübt werden können«, schreibt z.B. Beck (1997: 204) zur Demokratisierung der Familie. »Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss«. Was Negt (2008: 41) hier formuliert, gilt für die Beteiligungsgesellschaft insgesamt. »Demokratie macht Lernen notwendig; ohne Mitbestimmung in allen Lebensbereichen, die wichtige Angelegenheiten der Menschen regulieren, ist demokratisches Lernen nicht möglich« (Negt 2008: 41). D.h. also nicht nur: Demokratie macht Lernen notwendig; sondern auch: Lernen macht Demokratie notwendig. Zu erlernen ist die Kunst des Zusammenlebens. Das zur Beteiligungsgesellschaft gehörige Paradigma individuell-sozialen Lebens ist weniger dasjenige der Lebenskunst (Schmid 1998) als jenes der Zusammenlebenskunst. Die radikale und plurale Demokratie (mitsamt ihren Voraussetzungen) wäre nichts anderes als eine weitreichend verwirklichte Beteiligungsgesellschaft in der Zusammenlebenskünstler und -künstlerinnen lebten. Zusammenlebenskunst erweist sich darin, dass Menschen sich und andere am Zusammenleben beteiligen und dafür günstige Lebensbedingungen schaffen – frei nach Joseph Beuys: jeder Mensch eine Zusammenlebenskünstlerin, ein Zusammenlebenskünstler! Der Mensch, der die radikale und plurale Demokratie belebt, ist ein vielseitiger, achtsamer, kreativer Zusammenlebenskünstler. Es handelt sich letztlich um ein gemeinsames Erlernen der Zusammenlebenskunst – wo Einsamkeit war, soll Gemeinsamkeit werden. Demokratisierung, die Entwicklung zur Beteiligungsgesellschaft ist »auf längere Sicht als ein sich selbst korrigierender Lernprozess« (Habermas 2001: 144) zu verstehen. Sie zehrt von Großprojekten sozialer Bewegungen und in Organisationen ebenso wie von den unzähligen Kleinprojekten in Familien und anderen Gruppen, Freundschaften usw. Die Entwicklung zur Beteiligungsgesellschaft ist Alltagsdemokratisierung.

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Fassen wir zusammen: Als Grundwerte der Moderne kristallisieren sich während der demokratischen Revolution primär Freiheit, Gleichheit und Sicherheit heraus, die sich in einem anspruchsvollen Konzept der Gerechtigkeit vereinen lassen, und sekundär Toleranz, Solidarität und Frieden. All diese Werte bilden den Geist des Demokratismus und werden in Prozessen der Demokratisierung verwirklicht. Während Demokratisierung im engen Sinne zunächst in der Politik und dann in vielen anderen Lebensbereichen demokratische Regeln institutionalisiert, schafft Demokratisierung im weiten Sinne günstige strukturelle Bedingungen dafür. In der Orientierung an Gleichheit demokratisiert sich eine Gesellschaft radikal, in der Orientierung an Freiheit plural. Fokussieren Diagnoseinstrumente wie das Demokratiebarometer angesichts skeptischer empirischer Einschätzungen (Ende der Demokratie, Postdemokratie) auf die politischen Institutionen, so erfordert ein umfassendes Demokratisierungsverständnis, das auf Alltagsdemokratie abzielt, ein entsprechendes Gesellschaftsbild. Vor allem von Giddens (und Bourdieu) ausgehend lässt sich diesem Erfordernis mit einer Modalen Strukturierungstheorie begegnen, mit der die Weltbezüge der Grundwerte sichtbar gemacht werden können. Strukturierung (Ermöglichung und Einschränkung), Differenzierung und Verzeitlichung sind dabei wichtigste Aspekte. Diese theoretische Konzeption ist normativ gehaltvoll, indem sie eine Beteiligungsgesellschaft entwerfen und anstreben lässt. Beteiligung meint darin Teilhabe plus Teilsein plus Teilnahme plus Anteilnahme. Moderne Gesellschaften haben sich seit längerem auf den Weg zur Beteiligungsgesellschaft gemacht. An ein Ende des Wegs können sie nicht gelangen, da es sich um ein offenes Konzept handelt, das sich stetig selber vielfältig modernisiert. Die Beteiligungsgesellschaft bleibt ein unvollendetes Projekt wie ein unvollendbares Projekt. Zusammenlebenskünstlerinnen und Zusammenlebenskünstler, die fähig und willens sind, Beteiligung in mannigfaltiger Hinsicht zu realisieren, bringen eine Beteiligungsgesellschaft voran. Beteiligungsgesellschaft und Zusammenlebenskunst sind gesellschafts- und individuumsbezogene Utopien, die ihren Ort zur Entfaltung nicht im Nirgendwo, sondern in den real existierenden demokratischen Gesellschaften und individuellen Lebensentwürfen haben. Ihnen gehört nach dem Ende der Demokratie – die Zukunft der Demokratie.

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Wohlfahrtsstaatsentwicklung und soziale Unsicherheit im Risikokapitalismus C HRISTOPH B UTTERWEGGE Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 zeigt sich, dass der Kapitalismus durch die Herausbildung des europäischen Wohlfahrtsstaates vorübergehend gezügelt, aber nicht gezähmt und zivilisiert werden konnte. Zwar war die große Bevölkerungsmehrheit in der ›Wirtschaftswunder‹-Zeit vor den Standardlebensrisiken (Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Unterversorgung bzw. Pflegebedürftigkeit im Alter) halbwegs geschützt; diese Form der sozialen Absicherung existierte jedoch nur so lange, wie es hohe Wachstumsraten und die Systemkonkurrenz zwischen den westlichen Marktwirtschaften und dem östlichen Staatssozialismus gab. Mit dem beschleunigten ›Um-‹ bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates etwa seit der Jahrtausendwende war eine »Wiederkehr der sozialen Unsicherheit« (Castel 2009) verbunden, die den heutigen Finanzmarkt-, ›Raubtier-‹ bzw. Risikokapitalismus kennzeichnet. Gegen den fortdauernden Trend zur Flexibilisierung, Deregulierung und Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen kommt der gemäß neoliberaler Modellvorstellungen reformierte Sozialstaat nicht mehr an. Vielmehr schafft er dafür die gesetzlichen, institutionellen und mentalen Voraussetzungen, wodurch die Re-Privatisierung der sozialen Risiken selbst den Verlierern dieser Transformation als normal erscheint. Gegenwärtig befindet sich das europäische Sozialstaatsmodell in einem Erosionsprozess, der als neoliberal zu kennzeichnen ist, weil seine Protagonisten die Wettbewerbsfähigkeit des ›eigenen‹ Wirtschaftsstandortes durch marktkonforme Strukturreformen zu steigern suchen (vgl. hierzu Butterwegge u.a. 2007). Die soziale Gerechtigkeit spielt dabei entweder keine Rolle mehr, man begreift sie als »Standortrisiko« oder verkürzt sie auf Leistungs-, Chancen- bzw. Generationengerechtigkeit (vgl. dazu Reitzig 2008). Hier soll analysiert werden, nach welchen Prinzipien der Wohlfahrtsstaat transformiert wird und welche Folgen es für die Betroffenen selbst wie für die Gesellschaft hat, wenn an die Stelle der kollektiven Absicherung die soziale Verunsicherung von Millionen Menschen tritt. Abschließend geht es um die Frage, ob bzw. wie der wachsenden Unsicherheit im Risikokapitalismus durch Sozialarbeit/-pädagogik begegnet werden kann.

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1. S TRUKTURPRINZIPIEN

UND MEN EINES NEOLIBERALEN

F UNKTIONSMECHANIS W OHLFAHRTSTAATES

Auf der politischen Agenda des Neoliberalismus steht weniger, jedoch auch ein anderer Wohlfahrtsstaat. Zusammen mit dem Abbau des Sozialstaates findet ein Umbau seiner Strukturen statt (vgl. hierzu ausführlicher Butterwegge 2012). Es handelt sich dabei keineswegs um die Liquidation des Wohlfahrtsstaates, vielmehr um seine Reorganisation nach einem Konzept, das neben Leistungskürzungen auch substanzielle Veränderungen wie die Reindividualisierung sozialer Risiken bzw. die (Teil-)Privatisierung der staatlichen Altersvorsorge, die Erhöhung des administrativen Kontrolldrucks und die Ausweitung der Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Leistungsempfängern beinhaltet. 1.1 Aus dem Wohlfahrtsstaat wird ein neoliberaler Wettbewerbsstaat ›Eigenverantwortung‹ und ›Wettbewerbsfähigkeit‹ sind Schlüsselbegriffe, will man den Um- bzw. Abbau des Sozialstaates verstehen. Aus dem Wohlfahrtsstaat, wie man ihn bisher kannte, wurde im Rahmen der von Neoliberalen und Wirtschaftslobbyisten verlangten Reformmaßnahmen zunehmend ein »nationaler Wettbewerbsstaat« (Joachim Hirsch), und zwar in zweierlei Hinsicht: Nach außen fördert er die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandortes auf dem Weltmarkt und nach innen überträgt er die Marktmechanismen und Gestaltungsprinzipien der Leistungskonkurrenz bzw. betriebswirtschaftlicher Effizienz auf seine eigenen Organisationsstrukturen. Durch diese doppelte Transformation gewinnt der Wohlfahrtsstaat eine ganz andere Qualität, während das Soziale seinen Eigenwert verliert und dem Ökonomischen unter- bzw. nachgeordnet wird. ›Standortsicherung‹ kehrt das Verhältnis von Ökonomie, Staat und Politik, die zur abhängigen Variablen der Volkswirtschaft degradiert wird, um. In den Mittelpunkt sozialpolitischen Handelns rückt die (vermeintlich) akut bedrohte Wettbewerbsfähigkeit des ›Wirtschaftsstandortes‹. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer kompetitiven Sozialpolitik sprechen und sie gegenüber einer kompensatorischen (die Folgeschäden des Wirtschaftssystems für die Menschen ausgleichenden) und emanzipatorischen (die Menschen von ökonomischen Zwängen befreienden) Sozialpolitik abgrenzen. Bei dem durch neoliberale Prinzipien geprägten Wettbewerbsstaat handelt es sich um ein Staatswesen, das nicht mehr für alle sozialen ›Kollateralschäden‹ des kapitalistischen Wirtschaftens die Haftung übernimmt, die hierauf basierende soziale Ungleichheit verschärft und auf diese Weise den Boden für gesellschaftliche Ausgrenzungs- und Ethnisierungsprozesse bereitet. Auf die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Flexibilisierung und Ausdifferenzierung der Beschäfti-

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gungsverhältnisse sowie die (Re-)Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge gerichtet, nimmt der Neoliberalismus die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung zumindest billigend in Kauf. Die sozialen Sicherungssysteme werden zunehmend Markt-, betriebswirtschaftlichen Leistungs- und Konkurrenzgesetzen unterworfen. Genauso wie Unternehmen und Gebietskörperschaften sollen sie nach größtmöglicher kaufmännischer Effizienz streben, während ihr eigentlicher Zweck, Menschen in schwierigen Lebenslagen wirksam zu unterstützen, deutlich dahinter zurücktritt. »Ganz im Sinne der Ökonomisierung des Sozialen verdrängt dabei ein betriebswirtschaftlich orientiertes Leitbild von Qualitätsmanagement traditionelle Orientierungen von religiös oder ethisch motivierter Nächstenliebe, von Subsidiarität und Solidarität.« (Kelle 2007: 113) Wettbewerb sowie Wahlfreiheit (für von Klienten zu ›Kunden‹ avancierte Sozialstaatsbürger) beherrschen die Wohlfahrtsstaatskonzeption des Neoliberalismus und sein Leitbild zielt auf die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des jeweiligen Wirtschaftsstandortes. »Der Sozialstaat wird nicht mehr als Ergebnis von Machtkämpfen zwischen Arbeit und Kapital, Politik und Markt gesehen, sondern als Hebel, durch gezielte Investitionen in das ›Humankapital‹, den Standort für (internationale) Investitionen und für das Finanzkapital attraktiv zu machen.« (Klein 2004: 173) Selbst ein sozialdemokratischer und den Gewerkschaften nahestehender Theoretiker wie Wolfgang Streeck (2001: 159) definiert Sozialpolitik heute als »Beitrag zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit des Stand- und Wohnorts im Kampf um Absatzmärkte, Investitionen und Arbeitsplätze«, spricht im selben Atemzug von einer »Wettbewerbssolidarität« und ordnet die soziale Gerechtigkeit damit letztendlich der Konkurrenz unter. 1.2 Aus dem Sozial- wird ein Minimalstaat Der damals ›anarcholiberale‹ Theoretiker Robert Nozick (o.J.: 11) plädierte Mitte der 1970er Jahre für einen »Minimalstaat«, der nur die (Rechts-)Sicherheit sowie den Schutz seiner Bürger/innen vor Dieben, Betrügern und Gewalttätern gewährleisten sollte, sie aber nicht mittels seines Zwangsapparates dazu bringen dürfe, »anderen zu helfen, und ebenso wenig dazu, den Menschen um ihres eigenen Wohles oder Schutzes willen etwas zu verbieten« (Herv. i. O., Ch.B.), vielmehr »Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen und dem Leiden anderer« in Kauf nehmen müsse. Der Würzburger Ökonom Norbert Berthold (1997: 55) will die Staatseingriffe nicht ganz so drastisch verringern und betrachtet die »Garantie eines Existenzminimums« als »eigentliches Betätigungsfeld« des Sozialstaates, auf welches sich dieser zurückziehen soll. Dass sich der Sozialstaat darauf beschränkt, das Verhungern seiner Bürger/innen zu verhindern, dürfte allerdings in einer modernen Wohlstandsgesellschaft ethisch kaum verantwortbar sein. Zu fragen ist vielmehr, ob der staatliche Verantwortungsbereich angesichts zuletzt massiv

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wachsender sozialer und Beschäftigungsprobleme wirklich ohne verheerende Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft eingeschränkt werden kann, zumal die Globalisierung neben supranationalen Regulierungserfordernissen einen signifikant größeren politischen Handlungsdruck nach innen schafft. Leistungskürzungen im Sozialbereich werden meistens als Sparbemühungen ausgegeben, obwohl man die Kosten der Versorgung (etwa im Gesundheitssystem) damit häufig gar nicht senkt, sie vielmehr nur von der Solidargemeinschaft auf die Leistungsempfänger/innen überwälzt. Neoliberale möchten die Sozialleistungen drastisch reduzieren und zudem auf die ›wirklich Bedürftigen‹ konzentrieren. Leistungskürzungen finden im modernen Wohlfahrtsstaat aber erfahrungsgemäß gerade dort besonders frühzeitig, spürbar und nachhaltig statt, wo sie die am meisten verletzlichen, am wenigsten widerstandsfähigen Bevölkerungsgruppen treffen: (Langzeit-)Arbeitslose, Alte, Kranke, Behinderte und Migranten. Der ›schlanke Staat‹, welcher Neoliberalen vorschwebt, ist hinsichtlich seiner Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eher magersüchtig. Wer diese Krankheit hat, unterzieht sich einer dauerhaften Diät, weil er seinen Körper trotz dramatischer Gewichtsabnahme immer noch für viel zu dick hält und stärker abnehmen will. Obwohl der Sozialstaat seit geraumer Zeit nach einem neoliberalen Plan ›abgespeckt‹ wird, ist er keineswegs frei von bürokratischen Auswüchsen und Gängelungsversuchen – im Gegenteil! Die zahlreichen Leistungskürzungen und schrittweise verschärften Anspruchsvoraussetzungen gingen vielmehr mit Strukturveränderungen einher, die nicht nur mehr Markt, sondern teilweise auch mehr Administration bedeuteten. Z.B. sind für Akkreditierungs- bzw. Zertifizierungsagenturen, Regulierungsbehörden, Evaluationsbürokratien und Leistungskontrollen aller Art womöglich zusätzliche Sach- und Personalmittel nötig. 1.3 Aus dem Sozial- wird ein ›Kriminalstaat‹ In einer Marktgesellschaft, wie sie Neoliberalen vorschwebt, hat der Staat ein Janusgesicht bzw. einen Doppelcharakter: Er verzichtet im Sinne einer ›Selbstentmachtung‹ des öffentlichen Sektors auf wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Entscheidungskompetenzen, die privaten Unternehmen, Kapitalanlegern und Managern übertragen werden, ist seinerseits jedoch autoritärer, repressiver und zentralistischer. Zwar wirkt der neoliberale Staat geradezu magersüchtig, »wenn es um die soziale Sicherheit und andere Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge geht. Er ist allerdings ein starker Staat nach innen wie nach außen, wenn es um die Durchsetzung und Sicherung der marktwirtschaftlichen Ordnung geht.« (Ptak 2007: 63) Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man berücksichtigt, dass der neoliberale Wettbewerbswahn innerhalb der Gesellschaft nur durch die Unterdrückung sozialer und politischer Emanzipationsbestrebungen ver-

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ankert werden kann. Loïc Wacquant (2009: 314) charakterisiert die Janusköpfigkeit des neoliberalen Staates, wenn er konstatiert, »dass der Neoliberalismus nicht zur Schrumpfung des Staates führt, sondern zur Errichtung eines Kentaurenstaates, der oben liberal und unten paternalistisch ist und den beiden Enden der sozialen Hierarchie jeweils ein radikal anderes Gesicht zeigt: ein wohlgestaltetes und zugewandtes Gesicht für die Mittel- und Oberklasse, eine furchterregende und drohende Fratze für die Unterschicht.«

Statt der Armut bekämpft man mehr und mehr die davon Betroffenen: Arme werden durch Polizeirazzien und Platzverweise aus den Innenstädten vertrieben, vor allem in den USA auch zunehmend in Gefängnisse gesteckt. Gegenüber den Armen ist der neoliberale Minimalstaat eher ›Kriminal-‹ als Sozialstaat, weil ihn die (vorgeblich aus Gründen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nötige) Leistungsreduktion verstärkt zur Repression gegenüber Personengruppen zwingt, die als Globalisierungs- bzw. Modernisierungsverlierern und als Opfer seiner rückwärtsgerichteten ›Reformpolitik‹ bezeichnet werden können. »Die Spaltung in eine globale ›Club-Gesellschaft der Geldvermögensbesitzer‹ und nationale Gesellschaften, die noch immer ›Arbeitsgesellschaften‹ sind, führt in letzter Konsequenz dazu, daß der Rechtsstaat zu einem Staat mutiert, der den ›inneren Frieden‹ mit Gewalt aufrechterhalten muß – mit Disziplinierung anstelle von Konsens und mit Sicherheitspolitik anstelle von Sozialpolitik.« (Mahnkopf 1999: 120)

Längst erstreckt sich über die westlichen Industriestaaten, mit Ausnahme ihres eigentlichen Schlüsselbereichs, der Wirtschaftssphäre, eine »Kultur der Kontrolle«, wie der US-amerikanische Kriminologe und Soziologe David Garland (2008) den allmächtigen Drang nach Disziplinierung fast aller sozialen Sphären nennt. Je weniger soziale Sicherheit der Wohlfahrtsstaat gewährt, umso größer wird die innere Sicherheit geschrieben. Anders gesagt: Was die Parlamentsmehrheit den Wohlfahrtssystemen an materiellen Ressourcen entzieht, wendet sie später für Maßnahmen gegen den Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewalt auf. Justiz, Polizei und (private) Sicherheitsdienste verschlingen jenes Geld, das beim Um- bzw. Abbau des Sozialstaates vorgeblich ›eingespart‹ wird. Wenn man so will, existiert zwischen den Staatsapparaten bzw. -funktionen ein System kommunizierender Röhren. »Gehen wir beispielsweise davon aus, dass Freizeitangebote zur Verminderung der Jugendkriminalität beitragen, müssen die bei der Schließung von Jugendfreizeitheimen eingesparten Summen verrechnet werden mit den zusätzlichen Kosten der Staatsanwaltschaft, der Gerichte und der Strafvollzugsbehörden.« (Dehnhard 1999: 15) Um die Jahrtausendwende fand das New Yorker Beispiel eines härteren Durchgreifens gegenüber ›sozialen Randgruppen‹ wie Alkoholikern und an-

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deren Drogenabhängigen, Obdachlosen und Bettlern sowie Angehörigen jugendlicher Subkulturen und ethnischer Minderheiten auch diesseits des Atlantiks begeisterte Nachahmer (vgl. dazu Ortner u.a. 1998; Leiterer 2007). Nach dem 11. September 2001 wurden die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon nicht nur in den Vereinigten Staaten, die den U.S. Patriot Act erließen, als Vorwand für massive Einschränkungen der Bürgerrechte benutzt (vgl. dazu Unger 2006; Gössner 2007; Trojanow/Zeh 2009). Sie verringern die Möglichkeiten sozial Benachteiligter, Widerstand gegen den Finanzmarkt-, Raubtier- und Risikokapitalismus zu leisten. 1.4 Aus dem Leistungs- wird ein ›Gewährleistungsstaat‹ Aus dem sozialen Leistungs- wird ein bloßer Gewährleistungsstaat: Nicht nur öffentliche Unternehmen und persönliche Existenzrisiken werden zunehmend privatisiert, vielmehr auch soziale Dienstleistungen, die der Wohlfahrtsstaat früher in Eigenregie erbracht hatte. Nach dem Vorbild des privatisierten Post- und Telekommunikationssektors garantiert der Sozialstaat künftig bloß noch, dass im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge für Millionen Menschen und die Gesellschaft insgesamt unerlässliche Sach- und Dienstleistungen erbracht werden, überlässt ihre Erbringung allerdings gemeinnützigen und/oder gewinnorientierten Privatanbietern, deren Arbeit er zertifiziert, überwacht und kontrolliert. Die überkommene Erfüllungsverantwortung des Staates wird also durch eine reine Gewährleistungsgarantie abgelöst, die sicherstellen soll, dass die zu Kunden mutierenden Klienten wunschgemäß auf dem neu geschaffenen (Quasi-)Markt von privaten Anbietern bedient werden, die damit ihrerseits viel Geld verdienen können. Gunnar Folke Schuppert (2005: 19) verortet den »Gewährleistungsstaat« zwischen einem neoliberalen Minimal- und einem interventionistischen Wohlfahrtsstaat, wendet sich jedoch ausdrücklich gegen die Vorstellung, damit sei Staatsabbau verbunden: »Der Gewährleistungsstaat ist kein Staat auf dem Rückzug. Er zieht sich zwar aus der Wahrnehmung der unmittelbaren Erfüllungsverantwortung mehr und mehr zurück, gibt aber dadurch das bisher wahrgenommene Aufgabenterrain nicht preis, sondern stellt durch geeignete Maßnahmen organisatorischer und regulativer Art sicher, dass die nunmehr gefundene Art der Dienstleistungserbringung durch oder unter Einbeziehung privater Anbieter bestimmten, von ihm festgelegten Gemeinwohlstandards entspricht.«

Allerdings ergänzt der Gewährleistungs- den Minimalstaat insofern, als er die verbleibenden Sozialleistungen nicht mehr selbst erbringt, sondern auslagert. ›Outsourcing‹ führt im Wohlfahrtsbereich freilich genauso wie anderswo zu einer Absenkung von Versorgungsniveau und -qualität, meist auf Kosten der Beschäftigten in Einrichtungen und von deren ›Kunden‹. Franz Segbers (2008: 34) weist zudem darauf hin, dass diese Umdefinition der

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Staatsaufgaben eine tiefgreifende Veränderung der bisherigen Kooperationsbeziehungen zwischen dem Sozialstaat und der Freien Wohlfahrtspflege nach sich zieht: »Es entwickelt sich eine neue Subsidiarität, in welcher die Anbieter Sozialer Dienstleistungen zu unselbständigen Akteuren werden, die allein in ihrer Funktion zur Erbringung sozialer Dienstleistungen in Anspruch genommen werden.« Obwohl die Position, dass auch der gewährleistende Staat ein ›aktiver Leistungsstaat‹ sein muss, bisher zumindest nicht offen in Frage gestellt wurde, weist das Projekt des ›Gewährleistungsstaates‹ zahlreiche Nachteile für (im Sinne des Neoliberalismus) Leistungsschwächere auf, wie Berthold Vogel (2007: 44f.) durchblicken lässt: »Dieses Modell verzichtet auf universale Integrationsansprüche, es bietet darüber hinaus keine auf Dauer gestellte Status- und Lebensstandardsicherung mehr, und eine Dämpfung sozialer Ungleichheit wird in diesem Modell als ökonomisch kontraproduktiv angesehen; zudem kommt dieses wohlfahrtsstaatliche Modell auch ohne einen euphorischen Bildungsbegriff aus, es leitet den arbeitsrechtlichen Abschied von einer tarifvertraglich kollektivierten Arbeitswelt ein, und es zeigt sich schließlich als ein Modell, dessen Aufstiegsleitern entweder recht kurz geraten oder mühsam zu erklimmen sind.«

1.5 Aus dem aktiven wird ein ›aktivierender‹ Sozialstaat Eingebettet in ein umfassenderes Reformkonzept, das den ganzen öffentlichen Sektor modernisieren will, tritt an die Stelle des aktiven Sozialstaates, wie man ihn kannte, immer mehr ein aktivierender, d.h. Hilfebedürftige nicht ohne entsprechende Gegenleistung alimentierender Sozialstaat. Die verlangte Übernahme von ›Eigenverantwortung‹ meint gerade nicht die Selbstbestimmung der Bürger, sondern das Gegenteil: »Der Imperativ der Eigenverantwortung vereinzelt und entsolidarisiert. Er hinterfragt gar nicht, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit Menschen überhaupt Verantwortung für sich selbst und auch andere übernehmen können.« (Mührel 2005: 679) Schon der Terminus ›aktivierende Arbeitsmarktpolitik‹ diffamiert Erwerbslose im Grunde als (zu) passiv, denn sonst könnten und müssten sie ja nicht durch geeignete Maßnahmen ›aktiviert‹ werden. Ursprünglich war der ›aktivierende Sozialstaat‹ (social investment state) konstitutiver Bestandteil eines ›Dritten Weges‹, wie ihn Anthony Giddens (1998), damals Direktor der London School of Economics und Berater des britischen Premiers Tony Blair, in gleicher Distanz gegenüber dem neoliberalen Marktfundamentalismus und dem sozialdemokratischen Neokeynesianismus der ›alten‹ Sozialdemokratie vertrat (vgl. Jun 2004: 199ff.). Kurz vor der Europawahl am 13. Juni 1999 wiesen der britische Premier Tony Blair und Gerhard Schröder in London Europas Sozialdemokraten einen »Weg nach vorne«. Was als Schröder/Blair-Papier bekannt wurde, sah im überkommenen Sozialstaat ein Beschäftigungshindernis und ein Risiko für die

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künftige Gesellschaftsentwicklung: »Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muß reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.« (Schröder/Blair 1999: 297) Da war von einer »Ausweitung der Chancengleichheit« die Rede, aber auch von einem Arbeitszwang für Bezieher staatlicher Leistungen. An dem benutzten Bild übte Heribert Prantl (1999: 73), Leiter des Ressorts »Innenpolitik« der Süddeutschen Zeitung, beißende Kritik: »Das herzlose Wort vom sozialen Netz als ›Trampolin‹ oder ›Sprungbrett‹ spricht weniger für neue Ideen der SPD denn für ihre neue Gefühllosigkeit: Beide Gerätschaften eignen sich nämlich nur für den gesunden und leistungsfähigen Menschen.« Zwar erfüllt der Sozialstaat seine Verantwortung gegenüber Armen und Arbeitslosen keineswegs allein dadurch, dass er ihnen regelmäßig eine zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreichende Geldsumme überweist. Mit einer sozialen Scheckbuchdiplomatie wie dieser ist es zweifellos nie getan. Neben der finanziellen Seite hat Wohlfahrtsstaatlichkeit nämlich auch eine soziale im weiteren Sinne, die große Herausforderungen für Politik und Verwaltung mit sich bringt. Hierbei geht es z.B. um die gesellschaftliche Integration und die berufliche (Weiter-)Qualifikation von Arbeitslosen. Statt diese nur mittels Geldzahlungen ruhig zu stellen, muss der Wohlfahrtsstaat durch geeignete Maßnahmen dafür sorgen, dass ihnen die Rückkehr auf den (ersten) Arbeitsmarkt gelingt. Statt der Bedürftigkeit – wie im aktiven – löst im ›aktivierenden Sozialstaat‹ erst die (Bereitschaft zur) Gegenleistung eines Antragstellers die staatliche Leistungspflicht aus. Damit hören Hilfebedürftige auf, Wohlfahrtsstaatsbürger mit sozialen Rechtsansprüchen zu sein, und werden zu Objekten der von ihnen Entgegenkommen fordernden und sie nur dann ggf. fördernden Verwaltung herabgewürdigt. Warum soll ein Langzeit- oder Dauerarbeitsloser, der Mühe hat seinen Tag normal zu strukturieren, unter einem Mangel an persönlichen Kontakten leidet und es gar nicht mehr gewohnt ist, frühmorgens aufzustehen, pünktlich in einem Betrieb oder einem Büro zu erscheinen und kontinuierlich etwas zu schaffen, eigentlich keine gemeinnützigen bzw. ›im öffentlichen Interesse liegenden‹ Arbeiten verrichten, also z.B. einen Schulhof beaufsichtigen, den Stadtpark säubern oder Laub von den Straßen fegen, fragen sich viele Bürger. Obwohl es ihnen mittlerweile längst plausibel, wenn nicht absolut sinnvoll und notwendig erscheint, von Transferleistungsempfängern solche ›Gegenleistungen‹ zu verlangen, wird dem Wohlfahrtsstaat hierdurch eine ihm ursprünglich fremde, nämlich die Tauschlogik der Marktökonomie, implantiert. Ein ›aktivierender Sozialstaat‹ ist damit kein Gegengewicht zu dieser, aber auch kein Garant demokratischer Verhältnisse mehr. Achim Trube (2006: 42) spricht von einem »Konditionalstaat repressiven Typs«, welcher keine Leistung ohne entsprechende Gegenleistung gewähren wolle:

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»Der Paradigmenwechsel besteht dabei vor allem darin, dass ein zuvor unbedingtes Bürgerrecht, d.h. die existenzielle Grundsicherung des eigentlichen Souveräns der Republik, zur Disposition der (Arbeits-)Auflagen durch den Staat und seine Organe gestellt wird, obwohl der Staat doch seine verfassungsrechtliche Legitimation erst durch die – auch existenziell – souveränen Bürger beziehen kann.«

Wie in den USA wandelt sich der ›welfare‹ zum ›workfare state‹, wenn der Arbeitszwang die Beschäftigungs- und Sozialpolitik kennzeichnet. Ausgerechnet in einer Beschäftigungskrise, wo Millionen Arbeitsplätze – nicht: Arbeitswillige – fehlen, wird so getan, als seien die von Erwerbslosigkeit unmittelbar Betroffenen an ihrem Schicksal selbst schuld. Arbeitsförderung wird noch stärker als bisher unter Androhung und/oder Anwendung von Sanktionen betrieben. Walter Hanesch und Imke Jung-Kroh (2004: 233) heben den »Strafcharakter« dieser Form der Aktivierung hervor und betonen darüber hinaus, »dass künftig eine Eingliederung um jeden Preis erzwungen werden soll, unabhängig davon, ob dadurch eine reale Verbesserung der materiellen Lage für die Betroffenen erreicht werden kann. Die restriktiv-punitive Ausrichtung dieses Aktivierungskonzepts ist jedoch wenig geeignet, eine nachhaltige Eingliederung in das Beschäftigungssystem zu erreichen.«

1.6 Das Gemeinwesen wird in einen Wohlfahrtsmarkt und einen Wohlfahrtsstaat gespalten Wortführer des Neoliberalismus wie Rainer Hank (2000: 209) fordern die Beschränkung auf einen »Kernsozialstaat«, der nur noch dann tätig werden soll, wenn für Risiken »auf privaten Kapital- und Versicherungsmärkten eine effiziente Vorsorge nicht möglich ist. Dies gilt beim heutigen Zustand der Kapital- und Versicherungsmärkte allenfalls noch für die Arbeitslosenversicherung, nicht aber für die Kranken- und Rentenversicherung und schon gar nicht für die Pflegeversicherung.« Perspektivisch droht das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeitsstaat zu zerfallen: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürger, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (z.B. Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Dagegen stellt der ›postmoderne‹ Sozialstaat nur noch euphemistisch ›Grundsicherung‹ genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, gibt sie ansonsten jedoch der Obhut karitativer Organisationen und privater Wohltäter anheim. Neoliberale möchten den Wohlfahrtsstaat am liebsten auf die Basisfunktion der Armutsbekämpfung, -vermeidung und -verringerung reduzieren. Milton Friedman (1984: 244) erklärte die Privatwohltätigkeit zu der in mehrerer Hinsicht wünschenswertesten Form der Armutsbekämpfung:

130 | C HRISTOPH B UTTERWEGGE »Es ist bemerkenswert, daß in der Periode des Laissez-faire, in der Mitte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien private Hilfsorganisationen und wohltätige Einrichtungen eine außergewöhnliche Verbreitung erfuhren. Einer der Hauptnachteile der Zunahme öffentlicher Wohlfahrt lag in der gleichzeitigen Abnahme privater Aktivitäten dieser Art.«

Umgekehrt haben das karitative Engagement, die ehrenamtliche Tätigkeit in der ›Bürger-‹ bzw. ›Zivilgesellschaft‹, die wohltätigen Spenden sowie das Stiftungswesen offenbar gerade deshalb wieder Hochkonjunktur, weil man den Sozialstaat demontiert und dafür gesellschaftliche Ersatzinstitutionen braucht. Ginge es nach den neoliberalen Theoretikern, würden die meisten Bildungs-, Wissenschafts-, Kultur-, Umweltschutz-, Freizeit-, Sport- und Wohlfahrtseinrichtungen, kurz: fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens, die nicht hoheitlicher Natur sind, noch stärker als bisher vom Kommerz beherrscht bzw. von der Spendierfreude privater Unternehmen, Mäzene und Sponsoren abhängig gemacht. 1.7 Aus dem Sozialversicherungs- wird ein Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat Kennzeichnend für den deutschen Wohlfahrtsstaat war seit den Sozialreformen im 19. Jahrhundert, dass die Lohnarbeiter gegen allgemeine Lebensrisiken wie Krankheit, Invalidität und Not im Rentenalter versichert wurden. Durch die Zahlung von Beiträgen, an der sich ihre Arbeitgeber später grundsätzlich halbparitätisch beteiligten, erwarben sie Ansprüche, die beim Eintritt des Schadenfalls befriedigt werden mussten. Neoliberale plädieren für eine stärkere Steuerfinanzierung sozialer Leistungen, obwohl oder genauer: weil sie wissen (müssten), dass die Arbeitnehmer/innen in einem ›Lohnsteuerstaat‹ viel stärker zur Ader gelassen werden als Kapitaleigentümer, Großaktionäre und Topmanager. Die weitere Entlastung der Arbeitgeber durch Abschaffung der vormals paritätischen Beitragsfinanzierung würde die Familien der Niedrig- und Normalverdiener doppelt treffen – von der Tendenz zur Erhebung bzw. Erhöhung indirekter, Massen- und Verbrauchssteuern (wie der Mehrwert- und Versicherungssteuer von 16 auf 19 Prozent zum 1. Januar 2007) ganz zu schweigen. Neoliberale präferieren ein Fürsorgesystem nach angelsächsischem Muster, das nicht auf erworbenen Rechtsansprüchen (Eigentumsgarantie bei Sozialleistungen) basiert, sondern die Vergabe von Transferleistungen nach Kassenlage (des Staatshaushaltes) ermöglicht. Michael Vester (2005: 26) charakterisiert die rot-grüne Agenda 2010 mit ihrer Verlagerung der Existenzrisiken auf Kranke und Arbeitslose als Paradigmenwechsel von einem »Sozialversicherungsstaat für alle« zu einem Fürsorgestaat, der sich nur noch um die Ärmsten kümmert. Vor allem das als »Hartz IV« bezeichnete Gesetzespaket sollte die Arbeitslosigkeit (Ver-

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waltung der davon Betroffenen) wie die Arbeit (Senkung des Reallohnniveaus) billiger und die Bundesrepublik damit auf den Weltmärkten noch konkurrenzfähiger machen. Beschönigend als ›Zusammenlegung mit der Sozialhilfe‹ charakterisiert, war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ein Markstein auf dem Weg zum Almosen- bzw. Suppenküchenstaat und ein Rückschritt in der Entwicklung des Arbeits- und Sozialrechts, weil sie mit einer Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt einherging. War die Arbeitslosenhilfe noch eine Lohnersatzleistung, die sich selbst Jahre oder Jahrzehnte später nach der Höhe des vorherigen Nettoverdienstes richtete, ist das Arbeitslosengeld II genauso niedrig wie die Sozialhilfe. Das lohn- und beitragsbezogene Sicherungssystem der Bundesrepublik entspricht aufgrund des gültigen Äquivalenzprinzips (Balance von Leistung und Gegenleistung), welches Ein- und Auszahlungsbeträge etwa in der gesetzlichen Rentenversicherung miteinander in eine Kausalbeziehung, wenn auch nicht völlig zur Deckung bringt, weitgehend der Leistungsideologie und einem meritorischen Gerechtigkeitsverständnis. Trotzdem droht der Sozial(versicherungs)staat, seit Bismarck darauf gerichtet, vor Standardrisiken zu schützen, als Fürsorgesystem zu enden, das einerseits weniger über Beiträge von Arbeitgebern und Versicherten als durch Steuermittel finanziert wird und andererseits nicht mehr den Lebensstandard seiner Klientel erhält, sondern dieser nur noch eine Basisversorgung (bloße Existenzsicherung) angedeihen lässt. An die Stelle der Versicherungs- treten immer stärker (verbrauchs-) steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen und die Privatwohltätigkeit, was die öffentliche Aufwertung der ›Eigenvorsorge‹ und der ›Selbstverantwortung‹ kaschiert. Dadurch lässt sich nach neoliberaler Überzeugung die Sozialleistungs- bzw. Staatsquote senken sowie die Erwerbslosigkeit deutlich verringern. Der sozialpolitische Dreiklang neoliberaler Modernisierer lautet im Grunde: Entstaatlichung, Entsicherung und Entrechtung jener Menschen, die entweder unfähig oder nicht willens sind, auf dem (Arbeits-) Markt ein ihre Existenz sicherndes Einkommen zu erzielen. Dass er weniger die Verbesserung der Lebenssituation davon Betroffener, als die Entlastung der Unternehmen, Kapitaleigentümer und Spitzenverdiener bezweckt, lässt ihn besonders für Letztere attraktiv erscheinen, obwohl die negativen Folgen auch für sie auf der Hand liegen. Seine neoliberalen Kritiker werfen dem Sozialstaat vor, die Freiheit nicht bloß der einzelnen Wirtschaftssubjekte, Unternehmer und Arbeitnehmer, sondern auch seiner armen, erwerbslosen Bürger mit Füßen zu treten. Geradezu beispielhaft argumentiert in diesem Zusammenhang Rainer Hank: »Der Wohlfahrtsstaat entwürdigt, indem er Almosen verteilt.« (Hank 2000: 194) Dies tat der Sozialstaat früher gerade nicht, weil er die Grundrechte achtete und sein Handeln auf Rechtsansprüchen beruhte, die bürokratische Willkürmaßnahmen seitens der Behörden ausschließen sollten. Erst die neoliberale Transformation des Wohlfahrtsstaates reduziert diesen darauf, nur noch das Existenzminimum seiner vom Markt ausgegrenzten Bürger mehr

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schlecht als recht zu sichern oder durch das zivilgesellschaftliche Engagement der Besserverdienenden sichern zu lassen. Wenn es den Reichen überlassen bleibt, was sie den Armen geben, wird deren Menschenwürde im Schenkungsakt selbst verletzt. 1.8 Abkehr von der gesamtgesellschaftlichen Solidarität und Rückkehr zur Familiensubsidarität Auch im folgenden Punkt trägt die ›sozialpolitische Postmoderne‹ mittelalterliche Züge und ähnelt die jüngste Wohlfahrtsstaatsentwicklung einer Refeudalisierung: Durch die schrittweise Re-Individualisierung, RePrivatisierung und Rückverlagerung sozialer Risiken auf die Familien fällt die Gesellschaft hinter Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts zurück. Was der neoliberalen Prinzipien gemäß reformierte Wohlfahrtsstaat nicht mehr zu leisten vermag, weil man ihm die dafür benötigten Geldmittel bzw. Ressourcen vorenthält, dem Markt aber nicht überlassen bleiben kann, weil sich davon keiner seiner Teilnehmer irgendeinen Gewinn verspricht, wird der sozial benachteiligten Person (unter dem Stichwort ›Eigenverantwortung‹) entweder selbst aufgebürdet oder ihrer Familie (unter Rückgriff auf den Subsidiaritätsbegriff) als Verpflichtung zugewiesen. Während das Solidaritätsgebot als in der Leistungs-, Wissens- bzw. Wettbewerbsgesellschaft nicht mehr realisierbar und daher antiquiert diffamiert wird, erfährt das Subsidiaritätsprinzip eine merkwürdig anmutende Renaissance im neoliberalen Gewand. Kurt Biedenkopf (2006: 200) plädiert für seine marktkonforme Auf- und Umwertung mit folgender Begründung: »Mit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips stellen wir die Ordnung des Sozialen vom Kopf wieder auf die Füße. Freiheit in diesem Bereich heißt Vorfahrt für personale Solidarität und Begrenzung der staatlich organisierten Solidarität auf die Sicherung der Grundbedürfnisse.« An die Stelle des Sozialstaates tritt in dieser rückwärtsgewandten Utopie des Liberalkonservatismus wieder die Großfamilie als eine Art ›Selbsthilfegruppe‹, wie sich Biedenkopf ausdrückt. In der neoliberalen Konzeption zur Transformation des Wohlfahrtsstaates wird die Subsidiarität im Sinne einer schrittweisen Verschiebung der sozialen Verantwortung nach unten (fehl)interpretiert und zur Entlastung der Stärkeren gegenüber den Schwächeren missbraucht, die sich gefälligst selbst helfen sollen. Arno Waschkuhn (1995: 48) spricht von bloßer »Subsidiaritätsrhetorik«, wenn unter Berufung auf diese Formel eine Politik des Sozialabbaus legitimiert bzw. bemäntelt wird. Sie findet dort statt, wo Bedürftige zur Lösung struktureller Benachteiligungen auf die Ausschöpfung ihrer eigenen Kompetenzen und individuellen Ressourcen verwiesen werden. Es dürfe aber nicht darum gehen, elementare Lebensrisiken unter dem Vorwand einer »neuen Subsidiarität« in den sozialen Nahbereich zurückzuverlagern: »Wie immer man das Subsidiaritätsprinzip im Bereich der Sozialpo-

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litik auch interpretiert – es kann jedenfalls staatliche Maßnahmen nicht ersetzen, so daß es stets auch um deren materiale Ausfüllung geht.« (ebd.: 49) Nichts schadet Familien mehr als der ›Um-‹ bzw. Abbau des Sozialstaates und die Vermarktung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit den Schlagworten ›Globalisierung‹ und ›Standortsicherung‹ begründet wird. Eine kapitalistische Hochleistungs-, Konkurrenz- und Ellenbogengesellschaft, die sich eher für Berufskarrieren und Aktienkurse als für Suppenküchen, Kinderarmut und Babyklappen interessiert, bietet sozial benachteiligten Familien keine gesicherte Existenzgrundlage. Flexibilität, Risikofreude und soziale Unsicherheit, wie sie der »Turbokapitalismus« (Edward N. Luttwak) vor allem seinen Arbeitskräften bzw. prekär Beschäftigten abverlangt, sind die Todfeinde der Familie. Der »flexible Mensch« (Richard Sennett) kann sich gar keine Familie mehr ›leisten‹, sei es aufgrund finanzieller Probleme oder infolge jener geografischen Mobilität, die Manager transnationaler Konzerne von ihm fordern. Umso mehr erstaunt die Tatsache, dass die Aufgabe der Gewährleistung sozialer Sicherheit nicht nur auf den Markt, vielmehr auch in die Familie hinein redelegiert wird. Die zunehmende Kinderarmut als zwangsläufige Folge neoliberaler Regierungspolitik ist ein Armutszeugnis für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

2. F OLGEN UND G EFAHREN EINER NEOLIBERALEN T RANSFORMATION DES W OHLFAHRTSSTAATES Wenn der Wohlfahrtsstaat ›um-‹ bzw. abgebaut wird, spaltet sich die Gesellschaft. Auch sozialräumlich fällt sie deutlicher auseinander, was nicht ohne Konsequenzen für ihren Zusammenhalt bleibt. Armut, in den meisten Regionen vor allem der »Dritten« und »Vierten« Welt schon immer traurige Alltagsnormalität, hält seit geraumer Zeit auch Einzug in entwickelte Wohlfahrtsstaaten (West-)Europas, wo sie zumindest als Massenerscheinung lange weitgehend unbekannt war. Obgleich die Armut hier noch immer viel geringere Ausmaße hat und auch weniger dramatische Formen annimmt, eher subtil in Erscheinung tritt und oft selbst von damit tagtäglich konfrontierten Fachkräften nicht immer erkannt wird, wirkt sie kaum weniger bedrückend als dort (vgl. hierzu Butterwegge 2011). Armut, die vor allem junge Menschen und Familien mit Migrationshintergrund trifft (vgl. hierzu Butterwegge u.a. 2008; C. Butterwegge 2010) und in einem reichen Land mit sozialer Ausgrenzung verbunden ist, kann man als eine besonders perfide Form »struktureller Gewalt« (Johan Galtung) begreifen. Drogenmissbrauch, Gewalttätigkeit und Kriminalität nehmen wenigstens der Tendenz nach zu. Die neoliberale Hegemonie, verstanden als öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, verschärft jedoch nicht nur die soziale Asymmetrie, sie bedeutet vielmehr auch und vor allem eine Gefahr für die Demokratie.

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Die von neoliberaler Seite vorangetriebene »US-Amerikanisierung« des Sozialstaates führt zu einer »US-Amerikanisierung« der Sozialstruktur, genauer: zu einer Pauperisierung bzw. Prekarisierung eines größeren Teils der Bevölkerung, einer forcierten, sich auch sozialräumlich verfestigenden Polarisierung zwischen Arm und Reich sowie einer Peripherisierung ökonomisch weniger leistungsfähiger bzw. demografisch benachteiligter Regionen. Neben der Gesamtbevölkerung, die zunehmend in Arm und Reich zerfällt, spaltet sich die Armutspopulation selbst noch einmal. Den armen Erwerbslosen traten die erwerbstätigen Armen zur Seite. Mit mehrjähriger Verspätung der US-Entwicklung folgend, bildeten die europäischen Staaten einen breiten Niedriglohnsektor aus, der nicht nur typische Frauenarbeitsplätze umfasst (vgl. dazu Lohmann 2008). Je mehr (Dauer-)Arbeitslose es gab, umso problemloser ließen sich Personen für weit unter Tarif bezahlte »McJobs« finden. Längst reichen viele Vollzeitarbeitsverhältnisse nicht mehr aus, um eine Familie zu ernähren, sodass ergänzend mehrere Nebenjobs übernommen werden und nach Feierabend bzw. an Wochenenden (zum Teil schwarz) weitergearbeitet wird. Genauso wenig, wie die Globalisierung ›naturwüchsig‹ Arbeitslosigkeit und Armut erzeugt, zieht die materielle Deprivation von Menschen automatisch deren soziale Exklusion nach sich. Dafür ist vielmehr die Tatsache verantwortlich, dass der Neoliberalismus mit dem Standortnationalismus eine moderne Spielart des Sozialdarwinismus hervorbringt, welcher die Gesellschaft in mehr und weniger Leistungsstarke bzw. Gewinner und Verlierer unterteilt. Ausgegrenzt wird, wer dem ›eigenen‹ Wirtschaftsstandort nicht oder wenig nützt und ökonomisch schwer verwertbar ist. Arbeitslose, Greise, Menschen mit Behinderungen und Zuwanderer sehen sich immer häufiger dem Vorwurf ausgesetzt, ›Sozialschmarotzer‹ zu sein, sich ›nicht zu rechnen‹ und der ›Standortgemeinschaft‹ auf der Tasche zu liegen (vgl. hierzu Ch. Butterwegge 2010). Hierdurch entstehen politisch-ideologische Anknüpfungspunkte für einen Rechtsextremismus bzw. -populismus, der weder sensationelle Wahlerfolge seiner Parteien noch spektakuläre Gewalttaten meist männlicher Jugendlicher braucht, um die Entwicklung der Gesellschaft durch die Beeinflussung des Denkens von Millionen arbeitender Menschen zu beeinträchtigen (vgl. hierzu Butterwegge/Hentges 2008). Das neoliberale Projekt verschärft die soziale Ungleichheit nicht nur in der vertikalen, vielmehr auch in der horizontalen Dimension, also hinsichtlich regionaler Disparitäten. Walter Schöni (1994: 72) wirft dem Neoliberalismus vor, die soziale Ungleichheit mit dem Ziel individueller Leistungssteigerung zu instrumentalisieren und eine soziale Auslese zu betreiben, die zur Spaltung zwischen Zentren und Randregionen, Einheimischen und Ausländern sowie höher und niedriger Qualifizierten führt. Sighard Neckel (2006: 369) spricht im selben Zusammenhang von der »Verwilderung gesellschaftlicher Konkurrenz«, die mit sozialer Segregation und doppelter Exklusion, von Gewinnern selbst gewählter und Verlierern aufgezwungener, einhergeht: »Während die Gewinner ökonomisch, sozialräumlich und sym-

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bolisch mittlerweile eine Parallelgesellschaft bilden, endet für Verlierer die Zugehörigkeit beim persönlichen Misserfolg, der ebenso individuell zu verantworten wie sozial ausschließend ist.« Wenn der private Reichtum wächst und die öffentliche wie die private Armut zunehmen, müssten sich von Letzterer unmittelbar Betroffene kollektiv dagegen wehren, an den Rand der Wohlstandsgesellschaft gedrängt und sozial ausgegrenzt zu werden. Aber gerade in schwierigen Zeiten der Massenarbeitslosigkeit und zunehmender Verelendung nimmt die Solidarität eher ab: »Jeder hofft, dass er es ist, der durchkommt oder den Aufstieg schafft – zur Not eben auf Kosten der anderen. Die anderen: Das sind meistens diejenigen, die weniger Kraft haben, weniger Geschick, weniger Geld.« (Klinger/König 2006: 20) Zusammen mit der Individualisierung und der sozialen Polarisierung trägt die neoliberale Leistungsideologie, wonach ›jeder seines Glückes Schmied‹ ist, zur Entsolidarisierung bei und verhindert, dass eine gemeinsame Abwehrfront zustande kommt. Denn die Armut erscheint teilweise sogar davon unmittelbar Betroffenen nicht als gesellschaftliches Problem, das nur politisch erfolgreich bekämpft werden kann, sondern als selbst verschuldetes Schicksal, das eine gerechte Strafe für Faulheit oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als mehr oder weniger angemessene Belohnung für eine überdurchschnittliche Leistung betrachtet wird. Nach neoliberaler Vorstellung muss nicht nur der Wohlfahrtsstaat ›weltmarkttauglich‹, sondern auch das Individuum ›arbeitsmarkttauglich‹ bzw. ›beschäftigungsfähig‹ (Herstellung/Bewahrung der employability) sein oder gemacht werden. Hans J. Pongratz und G. Günter Voß (2004) kritisieren, dass die Menschen unter den Bedingungen der New Economy und anderer »entgrenzter« Formen der Beschäftigung zu ›Arbeitskraftunternehmern‹ avancieren, verbunden nicht nur mit dem Zwang, sich selbst erfolgreich zu vermarkten, sondern auch entsprechenden Existenzrisiken. Ein solches Konzept ist mit den allgemeinen Menschen- und sozialen Bürgerrechten unvereinbar, die ein moderner Staat garantiert, weil es die Betroffenen verdinglicht und sie ohne Rücksicht auf individuelle Befindlichkeiten den Marktgegebenheiten anpasst, statt umgekehrt die Wirtschaft den menschlichen Arbeits- und Lebensbedürfnissen gemäß zu gestalten. Je mehr die Konkurrenz in den Mittelpunkt zwischenstaatlicher und -menschlicher Beziehungen rückt, umso leichter lässt sich die ethnische bzw. Kulturdifferenz politisch aufladen. Gegenwärtig greift verstärkt ein Trend zum »hedonistisch-konsumistischen Sozialdarwinismus« um sich: »Nach dem globalen Sieg der Marktwirtschaft hat jenes Prinzip, demzufolge der Stärkere sich durchsetzt und das Schwache auf der Strecke bleibt, noch an Plausibilität gewonnen. Der aktuelle Rechtsextremismus und Rechtspopulismus beruhen auf einer Brutalisierung, Ethnisierung und Ästhetisierung alltäglicher Konkurrenzprinzipien.« (Menschik-Bendele/Ottomeyer 2002: 305)

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Rivalität fungiert als Haupttriebkraft einer zerklüfteten, zunehmend in Arm und Reich gespaltenen Gesellschaft. »Die sozialdarwinistische Alltagsphilosophie, die damit einhergeht, erzeugt eine unauffällige, sich von direkter Gewalt fernhaltende und als ›Sachzwang‹ der Ökonomie erscheinende Brutalität.« (Klönne 2001: 266) Wo die Umverteilung von unten nach oben mittels der neoliberalen Ideologie unter Hinweis auf Globalisierungsprozesse – als zur Sicherung des ›eigenen Wirtschaftsstandortes‹ erforderlich – legitimiert wird, entsteht ein gesellschaftliches Klima, das (ethnische) Ab- und Ausgrenzungsbemühungen stützt. Standortnationalismus, (Kultur-)Rassismus und Gewalt sind keineswegs bloß ›hinterwäldlerisch‹ anmutende Reaktionsweisen direkt betroffener oder benachteiligter Gruppen auf Globalisierungs-, neoliberale Modernisierungs- und soziale Marginalisierungsprozesse. Vielmehr verursachen diese auch in der gesellschaftlichen Mitte bzw. genauer: auf den ›höheren Etagen‹ bedrohliche Erosionstendenzen. »Gefahren der Entwicklung – auch solche der sozialen Desintegration und rechtsextremer Potentiale – gehen nicht von der ›Masse‹ der Bevölkerung aus. In der politischen Qualifikation der alten und neuen Eliten liegt das Problem.« (Vester 2001: 343) Je stärker die soziale Frage dadurch in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, dass Armut aus einem Tabu- zu einem Topthema von FernsehTalkshows wird, umso mehr ist auch die Soziale Arbeit gefordert, darauf eine überzeugende Antwort zu geben. Diese kann nicht darin bestehen, Armut bloß zu verwalten und ihre schlimmsten Folgen für die Betroffenen zu lindern; sie sollte vielmehr darauf gerichtet sein, politisch auf ihre Entstehungsbedingungen einzuwirken und das bestehende Wirtschaftssystem so umzugestalten, dass ein höheres Maß an sozialer Sicherheit, aber durch Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auch mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit geschaffen werden. Sozialarbeiter und Sozialpädagogen müssen falschen Behauptungen und irreführenden Standardargumenten der Neoliberalen (etwa im Hinblick auf die angeblich schwindende Wettbewerbsfähigkeit der ›eigenen‹ Volkswirtschaft) entgegentreten, vor allem jedoch die Kardinalfrage aufwerfen, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen: Soll es ein brutaler Risikokapitalismus sein, der Leistungsdruck und Arbeitshetze weiter erhöht, Erwerbslose, Alte und Behinderte ausgrenzt sowie Egoismus, Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit eher honoriert, sich aber über den Verfall von Sitte, Anstand und Moral wundert, oder eine zivile/soziale Bürgergesellschaft, die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, Mitmenschlichkeit und Toleranz statt Gleichgültigkeit und Elitebewusstsein fördert? Ist ein permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürgern, Quartieren, Kommunen, Regionen und Staaten, bei dem die (sicher ohnehin relative) Steuergerechtigkeit genauso auf der Strecke bleibt wie hohe Sozial- und Umweltstandards, wirklich anzustreben? Eignet sich das Marktprinzip als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl es auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer sich

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verfestigenden Massenarbeitslosigkeit, gegenwärtig kläglich versagt? Darauf die richtigen Antworten zu geben heißt, den Neoliberalismus mitsamt seiner Standortlogik, aber auch den sich modernisierenden Rechtsextremismus, Nationalismus und Rassismus erfolgreich zu bekämpfen.

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Von »Marienthal« zu »Hartz IV« Zur Geschichte und Gegenwart des Regierens von ›Langzeitarbeitslosen‹ M ATTHIAS B OHLENDER Unter dem Titel Psycho-Test für Arbeitslose konnte man vor wenigen Monaten in einer bekannten Tageszeitung lesen, dass in den Sozialzentren von 20 Kreisen Norddeutschlands ein neues psychologisches Instrument eingeführt wurde, die sogenannte ABC-Messung. 1 Dabei wird den sogenannten ›Langzeitarbeitslosen‹ ein Online-Fragebogen zur Verfügung gestellt, aus dessen Ergebnissen dann die entsprechende Software 2 ein Persönlichkeitsprofil des Klienten erstellt. Interessant ist hierbei vor allem, dass es weniger um die Fertigkeiten und Fähigkeiten des Betroffenen geht, sondern um die persönlichen »Einstellungen«, das »emotionale Gleichgewicht« und die psychosozialen »Kompetenzen«. Oder wie es in einem Eingliederungsbericht des Kreises Nordfriesland heißt: »Gemessen wird auch, ob ein Kunde mit sich in Balance ist. Es wird die Balance zwischen ›Stabilität‹, ›Bedürfnissen‹ und ›Ängsten‹ betrachtet.« (Eingliederungsbericht 2008: 65) Die Berater in den Zentren wollen so die Langzeitarbeitslosen »besser kennenlernen«, herausbekommen, wie es um die psychische Verfassung ihrer »Kunden« steht, um mögliche »Hindernisse« oder »Hemmnisse« für die Arbeitsaufnahme beseitigen zu können. Das Profil selbst wird sehr einfach

1

2

Vgl. Kreuzträger (2011: 21). Die ABC-Messung wurde laut Bericht schon vor 15 Jahren in den Niederlanden entwickelt; die Abkürzungen stehen für »Attitudes, Balance, Competences«. Es werden 220-240 Fragen gestellt; die Fragebögen sind in unterschiedlichen Tätigkeitsniveaus und Sprachen (deutsch, russisch, türkisch) erhältlich. Gleichwohl wird in einem ersten Erfahrungsbericht darauf hingewiesen, dass es sich um einen sprachgestützten Test handle, der ein »Mindestniveau in der Sprachkompetenz« voraussetzt und daher nicht für jeden Kunden geeignet sei (vgl. Eingliederungsbericht 2008: 65). Diese Software wird von einer privaten niederländischen Unternehmensberatung gestellt, die den Test auch auswertet und die Daten speichert. Der Berater in den Sozialzentren bekommt sie dann zur Verfügung gestellt.

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in einem Drei-Farben-Spektrum abgebildet: Grün, Gelb und Blau. Die Farbe Blau signalisiert dem Berater sogenannte Auffälligkeiten. »Auffällig kann sein, dass jemand seit Jahren arbeitslos ist und trotzdem keinerlei Zukunftsangst hat. Auffällig blau wird es auch dann, wenn sich aus den Antworten ergibt, dass sich der Getestete als Opfer der Umstände begreift und das Gefühl hat, seine Situation nicht aus eigener Kraft verändern zu können.« (Kreuzträger 2011: 21) Auffällig sind Abweichungen von Normalitäten, sind Einstellungen, Emotionen, Selbstbewertungen und Selbstreflexivität, die dem Getesteten fehlen oder nur mangelhaft ausgebildet sind. Das Ergebnis des Tests objektiviert die Unzulänglichkeiten eines Individuums; es legt in farblichen Größen offen, was im direkten Gespräch noch unerkannt blieb – die Wahrheit über sein Selbst. Mit dem Testergebnis in der Hand, kann so der Berater, der Fallmanager oder persönliche Ansprechpartner einen doppelten Abgleich vollziehen: zwischen der Darstellung des Kunden und seinem wahren Selbst und der eigenen, ersten Einschätzung des Kunden und dessen tatsächlicher Verfassung. Der Test ist also nicht nur eine Maschine zur Entlarvung von Schwächen, Mängeln und Unzulänglichkeiten des Arbeitslosen, sondern auch eine Maschine zur Korrektur von Fehlurteilen des Beraters; auch seine Unzulänglichkeiten in Sachen Menschenkenntnis treten zu Tage und er selbst muss sich in seinen Einstellungen, Einschätzungen und Urteilen korrigieren. Oder wie im o.g. Eingliederungsbericht kurz und knapp zu lesen ist: »Die Messung wird zum dritten Partner.« (Eingliederungsbericht 2008: 65) Was ist nun aber eigentlich so bemerkenswert und interessant an der besagten Einführung eines solchen psychologischen Instrumentariums in die Arbeitsweise der Job- und Sozialzentren Norddeutschlands? Der Zeitungsbericht konzentriert seine kritische Stimme im Wesentlichen auf die Erhebung der personenbezogenen Daten. Weniger interessiert ihn dagegen das eigentliche Instrument selbst; es scheint selbstverständlich zu sein, die psychosozialen Unzulänglichkeiten mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen, diese als Vermittlungshemmnisse zu operationalisieren und in eine administrative Prozedur einzufügen, an deren Ende die Selbstreflexion, Selbstoffenbarung und Selbstpositionierung des Arbeitslosen steht. Tatsächlich handelt es sich hier um eine besondere Regierungstechnologie von Langzeitarbeitslosigkeit, die aus einer spezifischen Beunruhigung und Problematisierung hervorgegangen ist: Wer sind diese Langzeitarbeitslosen? Warum verharren sie in ihrer Position? Was stimmt mit ihnen nicht? Und wie muss man mit ihnen umgehen, sie regieren? 3

3

Im Folgenden verwende ich an systematischen Stellen immer wieder die Begriffe »regieren«, »Regierungstechnologie« oder »politische Technologie« (der Individuen etc.). Ich beziehe mich hierbei auf Arbeiten Michel Foucaults zur Geschichte der Gouvernementalität (Foucault 2010: 46-62 und 91-234) sowie auf Arbeiten

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Die folgenden Überlegungen sind ein Versuch und eine Skizze, diesen Problematisierungen auf genealogische Weise auf den Grund zu gehen, und das heißt zu fragen: Woher kommt die Sorge um die Langzeitarbeitslosigkeit? Warum wird sie zu einem Problem? Worin liegt ihre spezifische Problematik? Welche Wissensformen und Regierungstechnologien haben sich dieser Problematik angenommen? Zunächst aber werde ich im ersten Teil noch einen Schritt zurückgehen und die Entstehung und Entdeckung der ›Arbeitslosigkeit‹ überhaupt kurz darstellen (1), um dann im nächsten Abschnitt das Spezifikum der ›Langzeitarbeitslosigkeit‹ anhand der berühmten Marienthal-Studien herauszuarbeiten (2). Im letzten Teil soll dann gezeigt werden, wie die spezifische Konzeptualisierung der Langzeitarbeitslosigkeit, nämlich ihre Re-Subjektivierung, ein ›mangelhaftes Subjekt‹ erzeugt und voraussetzt, auf das in der Gegenwart mit der Produktion konkreter Regierungstechnologien (Profiling, Eingliederungsvereinbarung, Fallmanagement) reagiert wird (3).

1. D IE E NTDECKUNG DER ›ARBEITSLOSIGKEIT ‹ Die Figur des ›Arbeitslosen‹ und die ›Arbeitslosigkeit‹ selbst sind ein noch recht junges gesellschaftliches Phänomen. Erst vor etwas mehr als hundert Jahren beginnt man Erwerbslosigkeit von Armut zu unterscheiden. Zuvor gab es die Armen, die Bettler und Vagabunden; es gab die Ausgestoßenen, die Vertriebenen und diejenigen ohne ›Heim und Herd‹, die regelmäßig die Spitäler, Bettlerdepots und Arbeitshäuser bevölkerten. Sie alle waren noch im 19. Jahrhundert Teil einer von der politischen Ökonomie so bezeichneten »überschüssigen Bevölkerung« (redundant population), der man aufgrund objektiver Naturgesetze keinen Platz im sozialen und ökonomischen Raum zuweisen konnte. 4 Folgerichtig konnte Marx daher im Jahr 1844 schreiben: »Sobald es [...] dem Kapital einfällt [...], nicht mehr für den Arbeiter zu sein, ist er selbst nicht mehr für sich, er hat keine Arbeit, darum keinen Lohn, und da er nicht als Mensch, sondern als Arbeiter Dasein hat, so kann er sich begraben lassen, verhungern etc. [...]. Die Nationalökonomie kennt daher nicht den unbeschäftigten Arbeiter, den Arbeitsmenschen, soweit er sich außer diesem Arbeitsverhältnis befindet. Der Spitzbube, Gauner, Bettler, der unbeschäftigte, der verhungernde, der elende und verbrecherische Arbeitsmensch sind Gestalten, die nicht für sie, sondern nur für andre Augen, für die des Arztes, des Richters, des Totengräbers und Bettelvogts etc. existieren, Gespenster außerhalb ihres Reichs.« (Marx 1981: 523f)

4

aus dem Umkreis der britischen Gouvernementality Studies (insbesondere Miller/Rose 2008: 26-52 und 53-83). Vgl. hierzu ausführlicher Bohlender (1998 und 2007).

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Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt man, für diese Gespenster einen Namen zu suchen. Sie treten langsam aus dem Niemandsland zwischen Arbeitsmarkt und Arbeitshaus hervor und finden Eingang in die ersten großen social surveys, die soziographischen Enqueten, staatlichen Untersuchungskommission und Landesstatistiken. Fast zeitgleich wird in England, Frankreich, Deutschland und der Westküste der USA die ›Arbeitslosigkeit‹ (unemployment, chômage) entdeckt. 5 Was heißt an dieser Stelle ›Entdeckung‹? Es heißt die Arbeitslosigkeit als ein eigenständiges epistemologisches und gouvernementales Problem zu konstituieren, in Folge dessen sich ein politisches Interventionsfeld eröffnen kann, auf dessen Grundlage spezifische Regierungstechnologien ihren Einsatz finden. Von zentraler Bedeutung für diese Entdeckung der Arbeitslosigkeit sind daher zwei diskursive Ereignisse: zum einen die Problematisierung der Arbeitslosigkeit innerhalb des ökonomischen Wissens, also seine Inklusion ins ökonomische Erkenntnisraster; zum anderen die Problematisierung der Arbeitslosigkeit als eine soziale und soziopolitisch zu regulierende und formierende Lebenslage innerhalb einer kapitalistischen Industriegesellschaft. Beide diskursiven Ereignisse können paradigmatisch mit zwei Autoren verknüpft werden: mit John A. Hobson (1858-1940), der Ende des 19. Jahrhunderts die Ökonomisierung der Arbeitslosigkeit vollzieht und William H. Beveridge (18791963), der sie kurze Zeit später zum bis heute gültigen soziopolitischen und sozioökonomischen Interventionsfeld erklärt. Es war der weithin als liberaler Imperialismustheoretiker bekannte Hobson, der systematisch die Arbeitslosigkeit in den ökonomischen Diskurs einführte und dort fest verankerte. Bis dahin blieb die Arbeitslosigkeit ein Gespenst außerhalb des Reichs der Ökonomen, oder sie erschien lediglich an deren ausgefransten Rändern. Für neoklassische Autoren gab es im Grunde nur ein Erklärungsprinzip für die massenhafte Freisetzung des Produktionsfaktors Arbeit: die Starrheit und Inflexibilität der Löhne im Verhältnis zu den Preisschwankungen auf dem Gütermarkt. In the long run aber, so der Konsens der Autoren, sollten die Lohnkosten sich diesen Schwankungen anpassen, die Löhne würden sinken und der Arbeitsmarkt somit wieder geräumt werden. Hobson jedoch vertrat diesem Argument gegenüber eine abweichende Haltung. 6 Er fragte: Was genau sind die ökonomischen Ursachen für das Phänomen ›Arbeitslosigkeit‹? Seine Antwort ist deshalb interessant, weil sie das Problem auf durchaus radikale Weise verschiebt. Nach Hobson ist das Problem der Arbeitslosigkeit im Grunde ein Problem der Einkommensverteilung. Das industrielle Produkt des gesellschaftlichen Reichtums ist auf massive Weise ungleich geteilt. Die Arbeiter leben geradeso von dem, was

5 6

Vgl. hierzu Topalov (1994); Walters (1994); Bohlender (2004). Vgl. hierzu die 1896 veröffentlichte Abhandlung von Hobson (1992) mit dem Titel: The Problem of the Unemployed. An Enquiry and an Economic Policy.

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ihre Existenz mehr schlecht als recht sichert, während die Kapitalisten weitaus mehr zur Verfügung haben, als sie verausgaben können. Sie sind gewissermaßen gezwungen zu »sparen«, d.h. sie investieren in Fabriken und andere Produktionsmittel. Zwar schaffen diese Investitionen vorerst Beschäftigung, aber die Verwendung der Produktivkräfte für diese Investitionen steht in keinem Verhältnis zur Nachfrage nach jenen Waren und Gütern, die in den neugeschaffenen Fabriken und mit den neuerworbenen Produktionsmitteln erzeugt werden. Es kommt zu einer Güterschwemme (glut), in deren Folge die Produktion gedrosselt und die Arbeiter »aufs Pflaster geworfen werden«. Die Wurzel des gesamten Übels liegt also in dem, was Hobson over-saving oder aus einer anderen Perspektive under-consumption – Unterkonsumtion – nennt. Für Hobson ist Arbeitslosigkeit kein Randphänomen einer industriekapitalistischen Produktionsweise, sondern ein dauerhaftes und systematisches Problem mitten im Zentrum dieser Wirtschaftsform. In ihr ist der Arbeitsmarkt auf eine solche Weise mit dem Gütermarkt verkoppelt, dass unter bestimmten Bedingungen immer Unterkonsumtion und damit systematisch Surplus-Arbeit entsteht. Diese Surplus-Arbeit liegt ungenutzt außerhalb der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums; sie scheint überflüssig, aber nur deshalb, weil andere zu viel sparen. Hobsons Perspektive ist nicht die einer Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, sondern die ihrer mangelhaften Effizienz. Die Gesamtheit der scheinbar »überflüssigen« Arbeitskraft ist in Wirklichkeit ein ungenutztes Produktivitätspotential, ein Quantum jener möglichen Steigerung des Nationalreichtums, das verloren gegeben wird. Die industriekapitalistische Produktionsweise könnte also effizienter gestaltet werden, wenn ihr eine intelligente Ökonomie des Sparens und des Ausgebens implementiert würde. Aber nicht das ist vorerst entscheidend an der Unterkonsumtionstheorie. Wichtiger ist vielmehr Folgendes: Hobsons Analyse eröffnet den Raum, ein kürzlich erst gesellschaftlich und politisch wahrgenommenes Problem – die »Arbeitslosigkeit« – in den ökonomischen Diskurs zu übersetzen und in seine Sprache zu transferieren. Dort, also innerhalb der ökonomischen Logik und Maschinerie, erscheint die »Arbeitslosigkeit« jedoch nicht als soziales oder politisches Problem, sondern als Rationalitätsdefizit, als ökonomisches Problem der Effizienz. Fortan wird man die »Arbeitslosigkeit« zu einer ökonomischen Variable ernennen, sie ins Spiel der Mechanismen, Hypothesen- und Modellbildung einbinden. Sie wird sogar zu einem bedeutenden Indikator des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. 7

7

Vgl. Art. 109, Abs. 2 des Grundgesetzes, in welchem sich die Bundesrepublik verpflichtet, den Erfordernissen des »gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts« (Wachstum, Beschäftigungsstand, Preisstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht) Rechnungen zu tragen.

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Wenn das Gespenst der Arbeitslosigkeit nun langsam beginnt, im diskursiven Raum der Ökonomen ein Gesicht und eine Gestalt anzunehmen, so hatte dies umgekehrt für die Sozialpolitik und den Argumentationsspielraum der Soziopolitiker eminente Folgen. Durch die Lücke der von Hobson diagnostizierten Unterkonsumtion hindurch beginnt eine Kommunikation zwischen Ökonomie und Sozialpolitik. Es entsteht eine Verknüpfung zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen, die für die Neoklassiker bis dahin undenkbar gewesen war: Für sie gehörte das ökonomische Spiel von Angebot und Nachfrage einer anderen Rationalität an als das soziale oder politische Spiel der Fürsorge und des Gesetzes. Statt einer Verbindung sollten hier Grenzlinien gezogen werden, sollte der Staat oder die Regierung ein der Ökonomie angemessenes Grenzregime etablieren. Mit Hobsons liberaler Mangeldiagnose (Effizienz- und Rationalitätsmangel) aber wird dieses Regime durchlöchert. Es entsteht auf der einen Seite eine moderne Sozial- und Wohlfahrtsökonomie und auf der anderen Seite entwickeln sich die ersten Konturen einer sozial relevanten Arbeitsmarkt-, Lohn-, Steuer- und Zinspolitik. Schon Hobson schlägt folgende Maßnahmen vor: Um den Standard des Ausgabeniveaus der arbeitenden Bevölkerung zu erhöhen und das Sparvolumen zu begrenzen, soll die Besteuerung großer Einkommen eingeleitet, die Löhne erhöht und der Arbeitstag verkürzt werden. Sozialpolitik hört damit endgültig auf, eine rein moralische Wohlfahrt- und Barmherzigkeitspraxis zu sein. Sie professionalisiert und ökonomisiert sich. Sie steht der Ökonomie auf gleichem Niveau gegenüber, weil ihre jeweiligen Sprachen ineinander übersetzt werden können. Beide arbeiten getrennt, aber für dieselbe Sache: eine gesunde, stabile Arbeitsbevölkerung hier und ein gesundes, stabiles Wirtschaftswachstum dort. So in etwa könnte man die Geschäftsgrundlage nennen, auf der zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich eine neue Koalition, eine neuer Pakt formiert. Der neue Pakt aber zielt im Grunde nicht mehr direkt auf Individuen oder Gruppen, 8 sondern auf die Steuerung und Regulierung von Prozessen und Vorgängen, die die Lohn- und Erwerbsarbeit der Bevölkerung und damit ihr Leben und ihr Einkommen unfreiwillig fragmentarisiert und prekarisiert. Arbeitslosigkeit ist diesem Verständnis zufolge ein Bestandteil des industriellen Arbeitsverhältnisses, ja mehr noch: Es ist ein Problem der unaufhaltsamen Durchsetzung einer bisher ungesteuerten industriekapitalistischen Lebensweise. Genau dieser Kerngedanke des neuen Paktes steht im Zentrum der von William Beveridges 1909 veröffentlichten Studie mit dem Titel Unemployment. A Problem of Industry. Der damals 30-jährige Ökonom und Sozialpolitiker beginnt seine Monographie mit der folgenden einschlägigen Passage:

8

Die spätere von Keynes ausgehende Nachfrage- und Steuerungspolitik liegt ganz auf dieser Linie. Arbeitslosigkeit ist gerade kein Problem der ›Arbeitslosen‹, sondern eines der inadäquaten Steuerung von Gleichgewichtsmärkten.

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»Das Problem der Arbeitslosigkeit liegt in einem spezifischen Sinne an der Wurzel der meisten anderen sozialen Probleme. Die Gesellschaft ist auf Arbeit gegründet; sie erlegt ihren Mitgliedern Verpflichtungen auf, die in den meisten Fällen nur durch einen Arbeitslohn erfüllt werden können. Bettler werden eingesperrt und Pauperismus gebrandmarkt. Die ideale Einheit dieser Gesellschaft besteht aus Ehemann, Ehefrau und Kindern, deren Unterhalt von den Einkünften des ersteren gewährleistet wird. Ein solcher Haushalt benötigt ausreichend Raum und Luft – aber wie, wenn das Einkommen zu unregelmäßig ist, um den Mietzins zu zahlen? Die Kinder müssen von den Eltern unterstützt werden – aber wie, wenn der Vater keine Beschäftigung hat? Die Ehefrau, soweit sie gebärfähig ist und Kinder erzieht, sollte keine andere Aufgabe übernehmen – aber wie, wenn der Verdienst des Ehemanns ausfällt und sie arbeiten muss? Überall dieselben Schwierigkeiten, überall erscheint eine vernünftige Beschäftigungssicherung für den Versorger (bread-winner) die Basis aller privaten Pflichten und aller intakten sozialen Verhältnisse.« (Beveridge 1909: 1)

Die Problematisierung einer intakten industriellen Lebensweise, die Beveridge hier umreißt, konzentriert sich also auf einen Punkt: Beschäftigungssicherung. Eine solche Beschäftigungssicherung muss allerdings spezifischen Anforderungen genügen. Die erste Anforderung besteht darin, die moderne industriekapitalistische Gesellschaft mit all ihren zyklischen Störungen, saisonalen Brüchen und technologischen Konversionen zu akzeptieren. Eine antikapitalistische, revolutionäre Lösung wird zurückgewiesen. Die zweite Anforderung besteht darin, nicht nur Beschäftigungssicherung in dieser modernen Gesellschaft herzustellen, sondern sie mit und für die Industrie zu konzipieren. Kurz gesagt: Die Beschäftigungssicherung muss die Arbeitsund Erwerbsbevölkerung einerseits vor den Umwälzungen und Unsicherheiten des industriellen Lebens schützen und andererseits eine mobile und effiziente Arbeitsbevölkerung formieren, die den Erfordernissen der Industrie und des industriellen Lebens gewachsen ist. Eine Politik der Beschäftigungssicherung darf beispielsweise die Arbeitslosigkeit niemals gänzlich zum Verschwinden bringen. Denn der überaus fluide industrielle Raum, mit seinen unterschiedlichen Märkten, Produktionsrhythmen, Zirkulationszeiten und Warenketten benötigt eine gewisse Schwankungsreserve an Arbeitskraft. Diese »industrielle Reservearmee« darf jedoch wiederum nicht in die Verelendung fallen und damit ihre Nützlichkeit für den industriellen Produktionsprozess verlieren. Es geht nicht um eine Beseitigung, sondern um eine Regierung der Arbeitslosigkeit. Für diese äußerst komplexe Konstellation schlägt Beveridge drei regierungstechnologische Maßnahmen vor, die er unter die Rubrik De-Casualization of Labour stellt: 1. The Averaging of work and earnings, also die gesetzliche Festlegung eines Normalarbeitstages (sechs Tagewoche, acht bis zehn Stunden) und eines Mindestlohnes. Es geht um eine Normalisierung von Arbeitszeiten und Arbeitslöhnen.

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2. Labour Exchanges, also die Einrichtung von landesweit verteilten Arbeitsbörsen oder Arbeitsämtern, mit Meldepflicht für alle Arbeitslosen, Ausbildungsprogrammen und Stellennachweispflicht für die Arbeitgeber. 3. Unemployed insurance, also eine Versicherungstechnologie, die das nun akzeptierte industrielle Risiko der ›Arbeitslosigkeit‹ gleichmäßig auf die Erwerbsbevölkerung verteilt. 9 Worum geht es Beveridge mit diesen drei Maßnahmen? Sicher nicht darum, die Funktion des kapitalistischen Arbeitsmarktes – nämlich die Regulierung und Verteilung von Arbeits- und Einkommensströmen – zu beseitigen. Vielmehr will er sie ausdehnen, stabilisieren und homogenisieren. Von Glasgow bis Dover, von Liverpool bis York sollen vergleichbare Arbeits-, Lebens- und Einkommensbedingungen herrschen, es sollen vergleichbare Lebensläufe, Lebenslagen und Lebensführungen vorzufinden sein. Die Herstellung einer solchen stabilen Lohnarbeiterlage käme nicht allein den Arbeitern, sondern ebenso auch der Industrie zugute. Für den Arbeitslosen und den Gelegenheitsarbeiter prophezeit Beveridge allerdings harte Zeiten. Eine Politik der De-Casualization ist für ihn nämlich gleichbedeutend mit einer mühsamen Arbeit des sifting und weeding out of the unemployables, also des Aussiebens und Ausjätens der Unbrauchbaren aus dem Industriearbeiterheer. Fortan wird es im industriellen Raum der Arbeit keine fließenden Übergänge, keine Nischen, keine sporadischen Rückzüge, keine Zweideutigkeiten mehr geben. Es wird eine Grenze gezogen sein zwischen einem legitimen Leben in Arbeit (männlicher Lohnarbeiter) 10 und einem illegitimen Leben (»Asoziale«), in dem Arbeit und Nichtarbeit sich dem Rhythmus eines geordneten industriellen Lebens entziehen: »Dem, der nur ein Mal pro Woche arbeiten und den Rest der Zeit im Bett verbringen will, wird die Stellenvermittlung diesen Wunsch verwehren. Dem, der von Zeit zu Zeit einen prekären Job finden will, wird die Stellenvermittlung diese Lebensweise nach und nach verunmöglichen. Sie wird ihm diesen Arbeitstag, den er haben wollte wegnehmen und einem anderen geben, der schon vier Tage in der Woche arbeitet, und ihm auf diese Weise ermöglichen, anständig seinen Lebensunterhalt zu verdienen.« (Beveridge zit. nach Castel 2000: 287)

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Für die hier zusammengefassten, einzelnen Maßnahmen vgl. Beveridge (1909: 192ff. und 219ff.). 10 Ergänzend muss hier angefügt werden, dass es ein (männliches) legitimes Leben außerhalb der Arbeit geben kann (Kindheit und Alter), soweit es sich auf Erwerbsarbeit ausrichtet (Kindergarten, Schule, Hochschule) oder ausgerichtet hat (Ruhestand, Rente).

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Die Grenzziehung erzeugt die ›Arbeitslosigkeit‹ als Dispositiv eines doppelten Mangels: Sie ist ein Fehlen von ›normaler‹, weil dauerhafter, lohnabhängiger Vollzeittätigkeit, und sie ist zugleich auch die Abwesenheit eines legitimen Lebens in Nichtarbeit. Wer ›arbeitslos‹ ist, dem fehlt eine normale Vollerwerbsstelle und er erhält einen legitimen Status auf begrenzte Zeit, um alles dafür zu tun, eine solche Stelle wieder zu erlangen.

2. ›L ANGZEITARBEITSLOSIGKEIT ‹ ALS EINE POLITISCHE T ECHNOLOGIE DER I NDIVIDUEN Mit Beveridges Programm von 1909 verwandelt sich die ›Arbeitslosigkeit‹ von einem vormals obskuren Phänomen zu einem sozialpolitischen Indikator, mit Hilfe dessen man eine präzise Aussage über die Normalisierung des Arbeitslebens innerhalb der Industriegesellschaft treffen kann. Aber nicht nur das; mit dem Aufbau eines landesweiten Systems von Arbeitsämtern (National Labour Exchange System) – dessen Direktor er ab 1910 werden sollte – und der 1911 eingeführten Arbeitslosenversicherung stehen nun auch die Regierungstechnologien zur Verfügung, diese Normalisierung zu beobachten, zu beschreiben und aktiv zu befördern. Arbeitsamt, Normalarbeitstag und Arbeitslosenversicherung sollen aus dem verfehlten Leben des Individuums das anständige Leben eines (männlichen) Arbeiter-Bürgers schmieden, der sich selbst und seine Familie regieren kann. ›Arbeitslosigkeit‹ ist damit zu einer politischen Technologie der Ökonomie und des Staates geworden. Aber gerade dieser letzte Punkt, also der regierungstechnologische Zugriff auf die Individuen über das spezifische Dispositiv der ›Arbeitslosigkeit‹, sollte erst einige Zeit später entfaltet werden. War bisher die ›Arbeitslosigkeit‹ das Objekt ökonomischer und soziopolitischer Maßnahmen, von Statistiken und Regulierungsbehörden, so kommt es in den 1930er Jahren zu einer neuen Konzeptualisierung dessen, was man vormals ›erzwungenen Müßiggang‹ nannte. Was man nun im Zuge der Weltwirtschaftskrise und der ›Great Depression‹ entdeckt, ist allerdings nicht nur eine neue Form der Arbeitslosigkeit, sondern eine neue Ebene der Wirkung und der Wirksamkeit der Arbeitslosigkeit auf die Individuen: Die neue Form der Arbeitslosigkeit ist die einer massenhaften, langandauernden Abwesenheit des Individuums vom Arbeits- und Produktionsprozess; die Wirkungsebene dieser dauerhaften Abwesenheit von Arbeit dagegen ist das Individuum selbst – genauer seine psychosoziale Verarbeitung dieses Mangels, also seine psychosoziale Gesundheit. Am Ende dieser neuen Objektivierung von ›Langzeitarbeitslosigkeit‹ wird etwas geradezu Unabweisliches feststehen: Die vermeintliche Tatsache nämlich, dass ohne dauerhafte Vollzeiterwerbsarbeit das Individuum in der industriellen Gesellschaft Gefahr läuft psycho-sozial beschädigt zu werden. Oder wie Peter Miller dies formuliert hat: »What is

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so striking about this new conceptualization of unemployment is the way it tends to make the maintenance of mental health dependent on being employed.« (Miller 1986: 155) Ein (nicht nur ›anständiges‹ sondern) auch psychisch gesundes Leben in der von Beveridge und vielen anderen erträumten Industriegesellschaft erfordert es, produktiver Teil dieses industriellen Leben zu sein. »Was wissen wir über Arbeitslosigkeit?« (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975: 24) mit dieser Frage beginnt Paul Lazarsfeld die Einleitung zu seiner mit Marie Jahoda und Hans Zeisel angefertigten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal. 11 Dieser – wie es im Untertitel heißt – soziographische Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit gehört mittlerweile nicht nur zu den Klassikern der empirischen Sozialforschung, sondern ist ein Gründungstext jener sozialpsychologischen Arbeitslosenforschung, die die ›Langzeitarbeitslosigkeit‹ mit einem neuen Erkenntnisraster überzieht und somit zu einem neuen Interventionsfeld von Wissen und Macht konstituiert. Was ist neu an dieser Studie? Zunächst ist es der Anspruch der Studie, die seinen Autoren zufolge das Phänomen der Arbeitslosigkeit weder auf der Ebene administrativ-statistischer Messungen noch auf der Ebene subjektiver Eindrücke – etwa in Form von Sozialreportagen – angesiedelt sein soll. Vielmehr ging es darum, »eine Methode der Darstellung« zu finden, »die die Verwendung exakten Zahlenmaterials mit dem Sicheinleben in die Situation verband. Dazu war Folgendes notwendig: »wir hatten so engen Kontakt mit der Bevölkerung Marienthals zu gewinnen, daß wir kleinste Einzelheiten ihres Lebens erfahren konnten; und zugleich mußten wir jeden Tag so erfassen, daß er objektiv-formulierbar wurde« (ebd.: 24, Herv. M.B.). Wie objektiviert man die Wirkung von Arbeitslosigkeit auf die betroffenen Individuen? Zwischen den großen Zahlen der Statistik und dem Zufall der bloß subjektiven Wahrnehmung klafft eine Lücke, die dadurch geschlossen wird, dass man der Arbeitslosigkeit nun ein menschliches Gesicht geben will, das zugleich objektivierbar und verallgemeinerbar ist. Man muss sich einleben, um zu verstehen und verständlich zu werden; man muss dann aber auch alles über diese Leben aufzeichnen und registrieren: ihre Geschichte, ihre Familien, ihre Mahlzeiten, Tagesabläufe, ihre Gedanken, Wünsche, ihre Einstellungen, Haltungen und ihre seelische Verfasstheit. Ziel ist ein »umfas-

11 Bekanntermaßen wurden die Untersuchungen zur Studie 1931/32 in dem österreichischen Dorf Marienthal durchgeführt, deren Einwohner durch eine Fabrikschließung massiv von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Die Studie wurde 1933 veröffentlicht. Die drei genannten Autoren waren allerdings nicht die einzigen, die an der Studie mitwirkten. Zu nennen ist vor allem noch Lotte Danziger (später Schenk-Danziger), die vor Ort die Daten und das Material der Studie erhoben hat. Zur Marienthal-Studie siehe die umfassende Website des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich.

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sendes Inventar des Lebens in Marienthal« zu erstellen. Die Psychologie stellt hierzu neue Techniken bereit, Techniken der Interviewführung, der Fragebogenerhebung und vor allem der Technik des »unauffälligen Beobachtens«. Wenn man einen Wirkungseffekt auf die psychische Verfassung eines Individuums nachweisen will, dann funktioniert dies nur unter Umgehung des Individuums selbst. Das »Erlebnis« Arbeitslosigkeit zu erfassen, gelingt nicht im direkten, intentionalen Zugriff zwischen Forscher und Forschungsobjekt, sondern nur mittel Camouflage, Verkleidung; nur so erfährt man im Beiläufigen, Zufälligen und Alltäglichen den »wahren«, »inneren« Zustand der Individuen. Das Beunruhigende und geradezu Bedrohliche an der Langzeitarbeitslosigkeit, so werden es die Autoren schildern und resümieren, sitzt in den Köpfen und den Seelen der Menschen. Das ist ebenfalls etwas völlig Neues. Langanhaltende Massenarbeitslosigkeit war in den 1930er Jahren ein Phänomen, das mit allerlei Befürchtungen und Hoffnungen verknüpft wurde. Die organisierte Arbeiterbewegung rechnete mit möglichen Hungeraufständen, kollektiven Revolten und Emeuten, die man zu einer revolutionären Aktion nutzen konnte. 12 Die bürgerlichen Eliten befürchteten aus anderer Perspektive Ähnliches; sie waren von einem Verelendungsdiskurs ebenso überzeugt wie ihre gewerkschaftlichen und sozialistischen Gegenspieler. In dieser Hinsicht konnte die Marienthal-Studie beruhigen (und enttäuschen). Natürlich konnte man an Speisezettel, Haushaltsbudget und kurioserweise an Zahnbefunden der Kinder eine allmähliche Verarmung und Verelendung der Familien feststellen; aber ein Umschlag dieser durch Arbeitslosenunterstützung hinausgeschobenen materiellen Verarmung führte gerade nicht zu einer politischen, kollektiven Radikalisierung, sondern eher zu einer Individualisierung und zu einer kollektiven psychischen Verfassung der »Ermüdung« und »Erschöpfung«. Ein erstaunliches Kapitel der Studie befasst sich mit der »müden Gemeinschaft« und beginnt mit der folgenden Passage: »Jetzt treten wir in den Ort und der Eindruck, den wir gewinnen, ist der einer abgestumpften Gleichmäßigkeit. Was uns im weiteren Verlauf noch in den verschiedenen

12 Schon bei Engels konnte man im Vorwort zur englischen Ausgabe des Kapital von 1887 lesen: »The decennial cycle of stagnation, prosperity, overproduction and crises, ever recurrent from 1825 to 1867, seems indeed to have run its course, but only to land us in the slough of despond of a permanent and chronic depression. The sighed for period of prosperity will not come; as often as we seem to perceive its heralding symptoms, so often do they again vanish into air. Meanwhile, each succeeding winter brings up afresh the great question, ›what to do with the unemployed‹; but while the number of the unemployed keeps swelling from year to year, there is nobody to answer that question; and we can almost calculate the moment when the unemployed losing patience, will take their own fate into their own hands.« (Engels 1990: 14)

152 | M ATTHIAS B OHLENDER Belegen begegnen wird, das tritt uns von Anfang an in einem einförmigen, bewegungsarmen Bild entgegen: hier leben Menschen, die sich daran gewöhnt haben, weniger zu besitzen, weniger zu tun und weniger zu erwarten, als bisher für die Existenz als notwendig angesehen worden ist.« (ebd.: 55)

Nicht in revolutionärer Bewegung und politischer Aktivität, sondern hier in der Bewegungsarmut, der Langsamkeit, der Bedürfnis- und Erwartungslosigkeit der Menschen sitzt das eigentlich beunruhigende Element. An unterschiedlichen Beispielen (Wahlbeteiligung, Bibliotheksbesuch, Vereinsmitgliedschaften etc.) zeigen die Autoren, wie eine Dorfgemeinschaft aus dem Zeit- und Lebensrhythmus einer modernen Industriegesellschaft herauskatapultiert wurde. Ihre Institutionen, Organisationen und Assoziationen zerfallen allmählich und sind sogar von einem Rückfall auf eine »primitive Kulturstufe« bedroht. »Es ist, als ob die kulturellen Werte, die im politischen Kampf stecken, erstarrt wären oder sogar wieder primitiveren Formen des Kampfes Platz machen.« (ebd.: 61) Gemeint sind Gehässigkeiten, Denunziationen und Racheakte der Einwohner untereinander; obgleich die Autoren auch zugeben müssen, dass das durchschnittliche Solidaritätsniveau intakt geblieben ist und die »asozialen Momente« aufgrund der »abnehmenden Aktivität« nicht zur Geltung kommen (ebd.: 62ff.). Der dauerhafte Verlust einer Vergesellschaftung durch Lohnarbeit – so der Tenor der Studie – verändert die gesamte Zeitstruktur und Lebensführung der betroffenen Individuen. 13 Sicherlich, die Arbeiterschaft hat immer für Arbeitszeitverkürzung und mehr Freizeit gekämpft, aber nun habe sie ein »tragisches Geschenk« erhalten. Die totale Freizeit entbehrt all jener Ereignisse, die das Individuum für sich selbst und zur Ausbildung seiner Identität benötigt. »Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere. Wenn sie Rückschau halten über einen Abschnitt dieser freien Zeit, dann will ihnen nichts einfallen, was der Mühe wert wäre, erzählt zu werden.« (ebd.: 83)

Mit Zeiterhebungsbögen und aus versteckten Plätzen mit Stoppuhren bewaffnet, objektivieren die Forscher geradezu auf tayloristische Art und Weise Gehgeschwindigkeiten und Verweildauer der Marienthaler Männer und Frauen, nur um eines immer wieder zu betonen: unbegrenzte Zeit führt zu »Nichtstun«, »Bummelei« und dieses »Nichtstun« führt in die verschiedens-

13 Betroffen sind hier im Wesentlichen die männlichen, arbeitsfähigen Einwohner; denn so viel weiß die Studie: dass die Frauen nur verdienstlos, nicht aber arbeitslos geworden sind. »Sie haben den Haushalt zu führen, der ihren Tag ausfüllt. Ihre Arbeit ist in einem festen Sinnzusammenhang, mit vielen Orientierungspunkten, Funktionen und Verpflichtungen der Regelmäßigkeit.« (ebd.: 89)

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ten Formen von Regression: Regression im psychischen Haushalt (Apathie), im sozialen Kontakt (Rückgang der Mitgliederzahlen in Vereinen) und auch in der materiellen Reproduktion (Naturalwirtschaft). Die Furcht der Autoren vor dem ›Nichtstun‹ ihrer Forschungsobjekte erfährt allerdings noch eine letzte Steigerung. Wenn die ›Langzeitarbeitslosigkeit‹ in die materielle Verarmung führt, dann ist das eine furchtbare und schlimme Sache; das eigentliche Problem aber ist die mit dem Nichtstun verknüpfte psycho-soziale Deprivation oder besser: der gesellschaftlich erzeugte Mangel ein vollständiges, nützliches Subjekt einer auf Bewegung und Aktivität ausgerichteten produktivistischen Arbeitsgesellschaft zu sein. Nun kommt hinzu, dass dieser Mangel sich dauerhaft verfestigt, in den Einstellungen und Lebensweisen der Arbeitslosen, aber auch in denen ihrer Kinder und Jugendlichen. Die Langzeitarbeitslosen vererben den Mangel an die nächste Generation und damit kommt es zu einem folgenschweren gesellschaftlichen Anpassungsprozess, ein Vergessen der einstmals selbstverständlich gewesenen gesellschaftlichen Ordnungs- und Ortungskoordinaten. »Die Leute verlieren allmählich ihre Berufs- und Arbeitstradition; sie empfinden ›Arbeitslossein‹ bereits als einen eigenen Stand.« (ebd.: 97) Eine englische Studie über Langzeitarbeitslose aus dem Jahr 1938 14 spitzt diese Erkenntnis noch weiter zu: »Long unemployment […] is one of those problems where cause and effect are inextricably mixed – where, for instance, long unemployment itself makes a man unemployable.« (Pilgrims Trust 1938, zit. nach Walters 2000: 86) Was in dieser Argumentation sichtbar wird ist zweierlei: Zum einen lässt sich erkennen, wie aus der Problematisierung der Langzeitarbeitslosigkeit ganz allmählich ein neues Subjekt auftaucht; nicht mehr das gefährlichrevolutionäre, das bedrohlich-aufständische Subjekt der materiellen Verarmung und Verelendung, sondern das mangelhafte Subjekt, das unzulängliche Individuum der psychischen Verarmung. Keine Arbeit zu haben und das über längere Zeit führt letztlich zu jenem Haltungstyp, 15 den die MarienthalStudie ans unterste Ende ihrer dynamischen Skala positionierte, dem »gebrochen-apathischen«: »Mit apathischer Indolenz läßt man den Dingen ihren Lauf, ohne den Versuch zu machen, etwas vor dem Verfall zu retten. […]

14 Diese Studie wurde für den sogenannten Pilgrims Trust erstellt und lautet mit vollständigem Titel: Men without Work. A Report made to the Pilgrims Trust. 15 Bekanntermaßen unterscheidet die Studie vier unterschiedliche Haltungstypen: ungebrochen, resigniert, verzweifelt und apathisch (vgl. Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975: 73). Die Studien von Bakke (1933, 1940) entwickeln einen fünfstufigen Phasenprozess mit entsprechenden »Belastungsprofilen«: momentane Stabilität, labiles Gleichgewicht, Desorganisation, vorläufige Ausgrenzung und permanente Ausgrenzung (vgl. dazu Wacker 1978 und kritisch dazu Bonß/Keup/Koenen 1984: 152ff.).

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Das Hauptkriterium für diese Haltung ist das energielose, tatenlose Zusehen.« (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975: 71). Nun stellt auch dieses Subjekt eine Bedrohung, eine gesellschaftliche Beunruhigung dar, weil es in seiner ganzen Art und Lebensweise die personifizierte Negation der modernen Arbeitsgesellschaft, ihrer Normen, Werte und Ordnungs- und Erfahrungskategorien repräsentiert. 16 Vor dem Hintergrund dieser äußersten Beunruhigung kommt es zu einer bemerkenswerten Rückkehr der Subjektivierung von Arbeitslosigkeit: das äußerst mangelhafte und deprivierte Subjekt wird zur Erklärung der Langzeitarbeitslosigkeit selbst herangezogen. Das heißt, hier wird der Arbeitslose – seine Haltung, seine ganze Lebensführung, seine Einstellungen, seine psycho-soziale Verfassung – selbst wieder genutzt, um insbesondere die Verfestigung, die lange Dauer der Arbeitslosigkeit zu erklären. Hatte der ökonomische und soziopolitische Diskurs der Arbeitslosigkeit – wie er von Hobson und Beveridge, und kurze Zeit später dann von Keynes geführt wurde – das Phänomen im Grunde entsubjektiviert und damit von der alten Debatte um die moralische Lebensführung der Armen, der deserving und undeserving poor, unterscheidbar gemacht, so kehrt über einen sozialpsychologischen Diskurs der Langzeitarbeitslosigkeit das Individuum und seine Lebensweise wieder zurück in den Fokus der Aufmerksamkeit. Allerdings geht es nicht mehr darum, die Arbeitslosen soziomoralisch zu denunzieren und sie für ihre Lage verantwortlich zu machen (›faul‹, ›arbeitsscheu‹, ›asozial‹). Die Re-Subjektivierung der Arbeitslosigkeit ist keine Re-Moralisierung, erfolgt also nicht über jenen christlich-moralischen Diskurs, der vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die Armuts-, besser die Armendebatte beherrschte. 17 Vielmehr wird nun diese Re-Subjektivierung über die Frage der psycho-sozialen Gesundheit des arbeitslosen Individuums vollzogen und vor allem über seine mangelhaften und unzulänglichen Fähigkeiten zur Teilnahme an der modernen Arbeitsgesellschaft (nicht erwerbsfähig, unemployable). Für die Autoren der Marienthal-Studie steht ohne Zweifel fest, dass Arbeitslosigkeit ein industriegesellschaftlich erzeugtes Massenphänomen ist,

16 Marie Jahoda hat später diese für sie gleichsam anthropologischen Erfahrungskategorien so zusammengefasst: »Bei der Erfahrung der Erwerbslosigkeit in den dreißiger Jahren sind fünf Aspekte unterschieden worden: die Zeiterfahrung, die Reduktion der sozialen Kontakte, die fehlende Beteiligung an kollektiven Zielen, das Fehlen eines anerkannten Status mit seinen Folgen für die persönliche Identität, und das Fehlen einer regelmäßigen Tätigkeit. Erwerbslose fühlten sich in allen fünf Aspekten psychisch verarmt.« (Jahoda 1983: 70ff.) 17 Zwei christlich-moralische Eckpfeiler waren für diesen Diskurs zentral: Zum einen, dass es immer Arme in der Gesellschaft geben wird und zum anderen, dass all diejenigen, die nicht arbeiten auch nicht essen sollen. Zur Geschichte der Armut vgl. Geremek 1991, Castel 2000 und Bohlender 2007.

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für das die einzelnen Individuen nicht verantwortlich zu machen sind; die so verfasste Gesellschaft entzieht ihnen die Arbeit und damit die grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit in dieser Gesellschaft ein psychisch gesundes und erfülltes Leben zu führen. Gleichwohl zielt die Studie nicht auf radikale Gesellschaftskritik, sondern auf die Eröffnung eines psychopolitischen Interventionsfeldes. 18 Parallel zu den administrativen und sozialpolitischen Anstrengungen, die Arbeitslosigkeit mit den neuen politischen Technologien (Arbeitsamt, Arbeitslosenversicherung, Normalarbeitstag) zu regieren, sollen nun psychopolitische Technologien entwickelt, ausgearbeitet und erprobt werden, die das mangelhafte, langzeitarbeitslose Subjekt wenn nicht verhindern, so doch rehabilitieren und wieder arbeits- und gesellschaftsfähig machen. Es scheint ja offensichtlich, dass hierfür der Gang zum Arbeitsamt und die Arbeitslosenunterstützung keineswegs ausreichen; müsste man hier nicht eine wesentlich intensivere Hilfe, Unterstützung, Beratung und Förderung anbieten? Müsste man nicht in die Häuser, die Familien, die intimen und sozialen Beziehungen, die Netzwerke hineingehen, ja, müsste man nicht die Psyche der Individuen über Selbsttechnologien (empowerment, self-esteem) regieren, um das gröbste Abgleiten und die Geburt des ›asozialen‹, weil von Arbeit vollständig entwöhnten Subjekts zu verhindern?

3. W IE

MAN DIE

›L ANGZEITARBEITSLOSEN ‹

REGIERT

Die Erfahrung der 1930er Jahren mit der Langzeitarbeitslosigkeit war letztlich zu kurz, um das Programm einer Re-Subjektivierung der Arbeitslosigkeit und die entsprechenden politischen Technologien auszuarbeiten und nachhaltig zu etablieren. Faschismus, New Deal, vor allem aber der Krieg lösten das Problem mit anderen Mitteln: Arbeits- und Vernichtungsprogramme. Erst in den späten 1970er und 1980er Jahren, als die Arbeitslosenzahlen wieder dramatisch zu steigen begannen und das Prinzip der Vollbeschäftigung unter Druck geriet, wird die damals angestoßene Debatte wieder aufgenommen. Die Studien der 1930er Jahren werden zu zentralen Referenzpunkten der Wahrnehmung und des Umgangs mit Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit. 19 Zugleich verändert sich aber die ökonomische und sozialpolitische Perspektive auf Arbeitslosigkeit – zunächst in den angelsächsischen Ländern (USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland), dann auch in Frankreich und der Bundesrepublik. Der keynesianische Wohlfahrtsstaat und damit auch seine politischen Technologien geraten massiv in die Kritik.

18 Zum Begriff der Psychopolitik als einer spezifischen Wissens- und Praxisform des diskursiven Einsatzes der »Psyche« zur Regierung von Individuen vgl. Rau 2010. 19 Vgl. hierzu Wacker (1978), Bonß/Heup/Koenen (1984) und Wacker (2001).

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Die drei Säulen, die Anfang des Jahrhunderts zur Regierung der Arbeitslosigkeit entwickelt wurden (Arbeitsamt, Arbeitslosenversicherung, Normalarbeitstag), beginnen nach und nach zu bröckeln. Ein neues Programm des »aktivierenden Staates« oder des »workfare state« nimmt sich nun der ökonomischen und sozialpolitischen Steuerung von Arbeitslosigkeit an. 20 Interessant ist nun, dass im Zuge der Ausarbeitung dieses neuen ökonomie- und sozialpolitischen Programms auch die Re-Subjektivierung der Arbeitslosigkeit wieder in den Fokus gerät. Man entdeckt und wiederentdeckt den ›Langzeitarbeitslosen‹ als das ›inaktive‹, ›unzulängliche‹, mangelhafte, deprivierte Subjekt und wird mit ihm und um es herum ein neues politisches Interventionsfeld kreieren. Die damals hergestellte systematische Verknüpfung von Arbeitslosigkeit und psycho-sozialer Deprivation und Verarmung, die Konstruktion eines Abgleitens in die Apathie und die Unmöglichkeit einer Aufrechterhaltung von Beschäftigungsfähigkeit (heute: employability oder job-readiness) werden nun zu Schlüsselbegriffen der neuen Politik des Umbaus. Es ist geradezu so, als ob nur der sogenannte neoliberale/neosozialdemokratische Diskurs das Wissen und die Erkenntnisse der 1930er Jahre hätte aufnehmen und das damals aufgestellte Programm einer Re-Subjektivierung der Arbeitslosigkeit tatsächlich in psychopolitische Praktiken und Technologien einmünden lassen können. In diesem letzten Teil meiner Ausführungen will ich einige Elemente dieser Re-Subjektivierung skizzieren und analysieren, um genau diesen genealogischen Zusammenhang – um es plastisch auszudrücken: zwischen ›Marienthal‹ und ›Hartz IV‹ – offenzulegen. Dabei orientiere ich mich an drei grundlegenden Fragen: 1. Was genau soll eigentlich im neuen Programm regiert werden? Was ist der eigentliche Gegenstand des ›Förderns und Forderns‹? 2. Wie sehen die neuen psychopolitischen Techniken und Technologien aus? Auf welche Weise und mit welchen Mitteln wird regiert? 3. Wie wird das Verhältnis zwischen den regierenden Regierten innerhalb des Programms gefasst und artikuliert? Wie werden die Individuen in diesem Verhältnis subjektiviert? 1. Wenn es um die Frage geht, was eigentlich genau das Objekt sein soll, das regiert wird, so scheint die Antwort klar: natürlich geht es um den Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit. Aber dieses Ziel erreicht man nur, wenn man die Wirkung dieses Phänomens auf die Arbeitslosen selbst in Betracht zieht, wenn man also auf die Ebene der psychosozialen Verfasstheit der Subjekte zielt. Mitchell Dean, der eine ähnliche Analyse für das Arbeitslo-

20 Dieser sogenannte »Umbau des Sozialstaates« ist mehrfach und von vielen Seiten beschrieben worden. Ich verweise daher ganz allgemein auf die jüngste Veröffentlichung von Robert Castel (2011), der darin das Spektrum dieses Umbaus vom Arbeitsrecht, über den öffentlichen Dienst, bis zur Sozialversicherung sehr klar und pointiert darstellte.

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senprogramm im Australien der späten 1980er Jahre vorgelegt hat, schreibt dazu: »These include the erosion of self-esteem, the effects on physical and mental health, the isolation of the unemployed from social networks, their marginalization from the labour market, their potential for criminality and lawlessness, their poor morale and motivation, their attitudes to the labour market, their boredom and their loss of social obligation.« (Dean 1995: 572)

Tatsächlich findet man in den vielfältigen Fachkonzepten, Arbeitshilfen, Handbüchern, Broschüren und Berichten, die von den Arbeitsagenturen, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und den ThinkTanks der neuen Politik erstellt wurden und werden, immer wieder die hier angeführten Gründe: »Brüche in den Lebens- und Erwerbsbiografien, instabile soziale Beziehungen, Kumulationen von personen- oder marktbedingten Vermittlungshemmnissen, marginalisierte Lebenszusammenhänge oder fatalistische Lebenseinstellungen nach lang anhaltender Arbeitslosigkeit lassen eine erfolgreiche Erwerbsintegration ohne Berücksichtigung dieser Umstände als wenig Erfolg versprechend erscheinen.« (Fachkonzept 2004: 7)

Im Zentrum der Regierungsaktivität stehen daher die Einstellungen, Haltungen, Dispositionen und Lebensführungen der ›Kunden‹. Sie bilden das zentrale Hindernis oder sind die Hemmnisse für eine mögliche Integration oder Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Das Schlüsselkonzept und Erkenntnisraster des gesamten Programms ist der Begriff des Vermittlungshemmnisses. 21 Das Vermittlungshemmnis ist die zentrale Kategorie zur Erkenntnis und zur Operationalisierung der Einwirkungsmöglichkeiten auf das Subjekt, nicht um dieses Subjekt tatsächlich zu vermitteln – das wäre irreführend –, sondern einzig, um seine prinzipielle Vermittlungsfähigkeit (wieder) herzustellen. Der Zustand der Langzeitarbeitslosen ist derart desolat, dass diese »die geregelte Arbeit oftmals nicht ohne weiteres in ihr Leben integrieren können, weil sie entweder zu lange arbeitsentwöhnt sind, marginalisierende Lebensumstände eine Arbeitsaufnahme verhinderten oder aber bisher keine beziehungsweise nur

21 Es wäre lohnenswert, den Begriff des Hemmnisses oder der Hemmung noch weiter zu verfolgen. Er steht z.B. ganz im Zentrum der Konzeptualisierung des ›depressiven Subjekts‹. ›Depression‹ erscheint als Inaktivität, als Handlungsunfähigkeit. Die Handlungsfähigkeit wird gehemmt und dementsprechend fungieren etwa Anti-Depressiva als klassische ›Hemmungslöser‹ (vgl. hierzu Ehrenberg 2004: 199ff.).

158 | M ATTHIAS B OHLENDER bruchstückhafte Arbeitserfahrungen vorliegen (Arbeit ist biografiediskrepant oder sogar biografiekonträr).« (ebd.: 7)

Bevor man also überhaupt von einem (marktkonformen) »Arbeitslosen« oder »Arbeitssuchenden« sprechen kann, müssen die Hemmnisse zu dessen »Aktivierung« beseitigt werden. Natürlich gibt es Hemmnisse auch auf Seiten der Betriebe, des Arbeitsmarktes und der Regionalstruktur, aber in erster Linie sind es die »Persönlichkeitsmerkmale«: solche, die von der Person selbst nicht beeinflusst werden können (Nationalität, Geschlecht, Alter, Behinderung) und solche, an denen der Klient arbeiten kann (Verwahrlosung, äußeres Erscheinungsbild, mangelnde Anpassungsfähigkeit, Motivation etc.). 22 Denkt man im kategorialen Rahmen von »Vermittlungshemmnissen«, so ist es nur ein logischer Schritt eine Typisierung und Klassifizierung der Langzeitarbeitslosen vorzunehmen, die stufenweise zwischen Marktferne und Marktkonformität angelegt ist. Die Bundesagentur für Arbeit hat eine solche Klassifizierung vorgelegt und teilt dementsprechend »ihre Kunden« wie folgt in fünf Stufen ein: Integrationsfern (IF); Stabilisierungsbedarf (IG); Förderbedarf (IK); Integrationsnah (IN) und Integriert, aber weiterhin hilfebedürftig (vgl. Profiling und Betreuungsstufen 2007: 13ff.). 2. Hat man einmal den Gegenstand, den es zu regieren gilt über das Schlüsselkonzept des ›Hemmnisses‹ erkannt und seine Objekte entsprechend klassifiziert, so können die notwendigen politischen Technologien eingesetzt werden. Schon im sogenannten Job-AQTIV-Gesetz, das 2002 in Kraft trat, waren die beiden wichtigsten neuen Technologien benannt: das Profiling und die Eingliederungsvereinbarung. Im Zuge der HartzReformen (Hartz I-IV, 2003-2005) wurden diese Technologien übernommen und weiter rationalisiert. Heute werden die sogenannten »erwerbsfähigen Hilfebedürftigen« 23 über ein integriertes »beschäftigungsorientiertes Fallmanagement« regiert. Wer mindestens »drei abgrenzbare schwerwiegende Vermittlungshemmnisse aufweist, die in seiner Person und/oder Bedarfsgemeinschaft begründet sind« (Fachkonzept 2004: 12) wird entsprechend in das Fallmanagement aufgenommen. Dabei handelt es sich um eine spezifische Leistungs- und Wahrheitsprozedur, die der Klient unter ständiger Beobachtung, Kommunikation, Einschätzung und Kontrolle eines Fallmanagers stufenweise durchlaufen muss. Es handelt sich um eine Art Dauerprobe auf die Legitimität und Wahrhaftigkeit des Klienten, staatliche Leis-

22 Vgl. die entsprechende Tabelle der »vermittlungshemmenden Merkmale« (Fachkonzept 2004, Anlage 2). 23 So der administrativ-gesetzliche Begriff für diejenigen, die ›Grundsicherung‹ nach SGB II erhalten. Der Name wurde vor kurzem umbenannt in »erwerbsfähiger Leistungsberechtigter«. Gleichwohl bleibt die gesetzliche Bestimmung nach SGB II (§7 Abs. 1) bestehen. Die benannten Personen müssen 1. das 15. Lebensjahr vollendet haben, 2. erwerbsfähig und 3. hilfebedürftig sein.

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tungen in Anspruch nehmen zu dürfen. Hier wird das Programm einer ReSubjektivierung der Arbeitslosigkeit unmittelbar plastisch und konkret. In der ersten Stufe kommt es zu einer Zugangsprüfung, ein erster Test, der aus dem vormals ›Arbeitslosen‹ einen Fall macht, einen ›erwerbsfähigen Hilfebedürftigen‹. Danach tritt die schwierige Phase des sozialpsychologischen, emotionalen Abtastens zwischen Fallmanager und Klient ein, um ein sogenanntes ›Arbeitsbündnis‹ herzustellen. Der Klient muss mitwirken, er muss freiwillig von seinen Hemmnissen sprechen, er muss in die Lage versetzt werden, sich dem Fallmanager zu öffnen. Denn die Öffnung selbst ist schon Teil einer Selbstreflexion, die die Beschäftigungsfähigkeit herstellt und dauerhaft aufrechterhält. Das in der Prozedur aktiv mitwirkende, partizipierende Selbst ist conditio sine qua non der Erzeugung eines arbeitsfähigen Subjekts. Kommt es allerdings nicht zur Mitwirkung, kann der Klient gezwungen werden; das gesamte Aktivierungsprojekt ist damit allerdings gescheitert. Das ›Arbeitsbündnis‹ ist der heikle und paradoxe Versuch, ein Machtverhältnis in ein Vertrauensverhältnis zu verwandeln, Betreuung in Beratung zu transformieren; die Sanktionsgewalt tritt in den Hintergrund und nur im Ausnahmefall in Erscheinung. Der nächste Schritt ist dann ein vertieftes Profiling und Assessment des Kunden. Bewährt sind hierbei spezifische Techniken: strukturierte Interviews, Dokumentenanalyse, Beobachtung nonverbalen Verhaltens, Tests – übrigens auch der eingangs erwähnten Psycho-Test. Hier sollen Defizite, Ressourcen und Potenzen zur Sprache kommen und festgehalten werden. Der Datenhunger des Fallmanagers ist dabei unersättlich; da er »ganzheitlich orientiert« ist – also fallbezogen und lagenorientiert, individuell und den sozialen Raum berücksichtigt –, kann im Grunde alles und jedes einzelne Detail wichtig sein: Stammdaten (Familienzusammensetzung, Alter, Erwerbsstatus, Sonderbedarf), Ressourcendaten (Familienkonstellation, Freundschaften, Nachbarschaftskontakte, Vereinszugehörigkeit einschließlich einer mit dem Kunden erarbeiteten Bewertung, Wohnsituation, Kontakte zu weiteren Beratungseinrichtungen, Selbsthilfegruppen), Persönlichkeitsdaten (Selbstbild, Frustrationstoleranz, Miss-Erfolgsorientierung, Belastbarkeit, Leistungsbereitschaft), Gesundheitsdaten (gesundheitlicher Zustand, Krankheiten, Behinderungen, regelmäßige Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte etc., die Vermittlungshemmnisse signalisieren), berufsbiographische Daten (Bildungs- und Berufsdaten, Tätigkeiten, zertifizierte und nichtzertifizierte Zusatzqualifikationen, beruflich verwertbare Interessen und Hobbys, Sprachsicherheit, Fremdsprachen, IT/EDV-Kenntnisse, regionale Mobilität), Selbsteinschätzung (ein kurzer, verständlicher Selbsteinschätzungsbogen zu ausgewählten Feldern der Sozialanamnese), Perspektivepfade (Die Identifizierung der oftmals nicht offen thematisierten Planungen und Wünsche, hier eingeengt auf die Frage der beruflichen Perspektiven, ist der Kern des Empowerment-Ansatzes, schafft die Vorausset-

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zungen für eine aktive Mitarbeit). 24 Das Profiling ist ein doppeltes Prüfinstrument: zum einen soll hier die Wahrhaftigkeit der Aussagen des Klienten, seine authentischen Einstellungen, Haltungen, also das, was er wirklich ist, offenbart werden; zum anderen kann der Fallmanager nun auf der Grundlage der Daten den Klienten der geeigneten Risikogruppe zuordnen. Sicherlich die wichtigste Phase innerhalb des gesamten Prozesses ist dann die auf der Grundlage des Profiling erstellte Hilfeplanung und ihre Institutionalisierung in Form einer Eingliederungsvereinbarung. 25 »Die Eingliederungsvereinbarung ist nicht nur ein methodisches Instrument, sondern bildet zum einen das formale Arbeitsbündnis zwischen dem Kunden und dem Fallmanager, zum anderen ist es das ›Pflichtenheft‹ für beide Bündnispartner. Die Eingliederungsvereinbarung definiert dabei rechtsverbindlich die Rolle und Pflichten des Kunden genauso wie die der Grundsicherungsträger in ihren Leistungen. Sie ist als öffentlicher-rechtlicher Vertrag 26 normiert.« (ebd.: 25)

Was steht in einer Eingliederungsvereinbarung? Zum einen natürlich die Leistungen und Förderungen, die von Seiten des Fallmanagers resp. der Agentur zu erbringen sind; zum anderen die überprüfbaren Aktivitäten, »Bemühungen«, denen sich der Hilfebedürftige zu unterziehen hat. ›Ich gebe Dir eine Leistung (z.B. Sprachkurs), wenn Du mir Deine Leistung (z.B. zehn Bewerbungen/Woche) erbringst‹. Die Eingliederungsvereinbarung macht noch einmal in nuce sichtbar, wie die psychopolitischen Technologien wirken sollen: Sie setzen ein mangelhaftes, unzulängliches Individuum voraus, das sich selbst nicht über Arbeit führen kann. Ziel ist es allerdings ein arbeitsfähiges Subjekt zu erzeugen. Die Technologien und Prozeduren simulieren nun ein Spiel, in dem der Fallmanager das mangelhafte Individuum zum arbeitsfähigen Subjekt erklärt, zum mitwirkenden (Vertrags-) Partner, Kunden, Klienten. Durch diese Simulationspraxis eines QuasiArbeits- und Vertragsverhältnisses soll das Individuum seine Hemmnisse

24 Vgl. Fachkonzept 2004: 21ff. (hier nur auszugsweise wiedergegeben). 25 Für die einzelnen rechtlichen Bestimmungen nach dem SGB II und III dieser Regierungstechnologie verweise ich auf Legnaro/Birenheide 2008: 59ff. 26 Es handelt sich um einen Vertrag, aber um einen ganz besonderen Vertrag. Denn zum einen wird er selbst lediglich als »Vereinbarung« bezeichnet und mit einer »Soll-Bestimmung« avisiert (ein sogenanntes gebundenes Ermessen). Der Vertrag bindet aber nicht gleiche und freie Rechtpersonen, sondern der eine hat schon vor dem Vertrag Sanktionsgewalt über den anderen, der abhängig ist. Wird keine Vereinbarung getroffen – z.B. weil der Kunde sich weigert -, wird über einen Verwaltungsakt regiert, d.h. es werden die Pflichten einseitig diktiert und der Bündnispartner verwandelt sich in den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Juristen sprechen von einem »sanktionsbewehrtem Kontrahierungszwang«.

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auflösen und seine Mangelhaftigkeit verlieren; es wird arbeitsfähig und in Arbeitsfähigkeit gehalten, dadurch dass es so behandelt wird, als wäre es in Arbeit, in Bewegung, in Tätigkeit. Nichts anderes steht in den Eingliederungsvereinbarungen: Bewerbungen, Training, Tests, Maßnahmen, Prüfungen. »Mit dem Gesetz und den MitarbeiterInnen der ARGEn kann man vieles besprechen und vereinbaren – nur eines geht nicht: Nichts tun!« (Fachkonzept 2004, Anlage 1) 3. Die Re-Subjektivierung der Arbeitslosigkeit wie sie in diesen psychopolitischen Technologien – in Fallmanagement, Profiling und Eingliederungsvereinbarung – sichtbar wird, stellt sich im Kern als ein spezifisches Regierungsverhältnis dar. Im Zentrum dieses Verhältnisses stehen zwei neue Subjekte: Der Fallmanager, der die Leitung und Führung übernimmt, zugleich aber auch als Partner, Coach und administrativer Verwalter operiert. 27 Auf der anderen Seite steht der erwerbsfähige Hilfebedürftige, der ebenfalls wahlweise als Bündnispartner, als Kunde, als hilfebedürftiges Individuum oder als administratives Verwaltungsobjekt angerufen wird. In dieser multiplen Rollenzuweisung wird deutlich, dass dieses Regierungsverhältnis mehrfach überdeterminiert ist: es ist ein klassisches Machtverhältnis, denn wir haben es mit einer asymmetrischen Beziehungen zu tun, in welcher der eine mit administrativer Sanktionsgewalt über den anderen ausgestattet ist; es ist zugleich gedacht als ein Beratungs- und Vertrauensverhältnis, denn nur hier, in der Herstellung einer Beziehung gegenseitig-kooperierender, freier Individuen wird im Grunde der Ausweg aus der Mangelsituation (abhängig, passiv, gehemmt, nicht arbeitsfähig, inaktiv, immobil etc.) gesehen. Dieses Verhältnis zu erzeugen und dauerhaft zu reproduzieren bzw. zu simulieren, ist der Kern der psychopolitischen Praktiken. Darüber hinaus ist nun bedeutsam, dass man versucht beide Verhältnisse – das Macht- und Vertrauensverhältnis – noch einmal zu umfassen und zu institutionalisieren, nämlich in Form eines rechtlichen Tausch- oder Vertragsverhältnisses. Die Eingliederungsvereinbarung ist daher das Herzstück der gesamten Leistungs- und Wahrheitsprozedur, in ihr verdichtet sich die ungeheure Komplexität dieses Regierungsverhältnisses. Mitchell Dean hat in seiner Untersuchung der neuen Regierungstechnologien das spezifische Verhältnis zwischen Fallmanager und Klient in Anlehnung an Foucault als eine pastorales gedeutet. 28 Der Fallmanager fungiert in der Tat als eine Art Hirte, der seine Herde sowohl in ihrer Gesamt-

27 »Teacher, preacher, friend and cop« – so die Formel aus der US-amerikanischen Case-Management-Praxis, die in einer der zentralen Programmschriften der neuen Re-Subjektivierungspolitik verwendet wird, um die komplexe Rollenanforderung des Fallmanagers zu umreißen (vgl. Handbuch Beratung und Integration 2002: 17). 28 Vgl. Dean 1995: 575. Zum Begriff der Pastoralmacht bei Foucault vgl. Foucault 1987: 248ff.

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heit (Statistik) als auch in ihrer Individualität und Spezifität (Profiling) im Blick haben muss. Der Hirte aber verlangt vom Schaf und seiner Herde absoluten Gehorsam, absolute Unterwerfung; nur so kann die Herde zu ihrem Wohl geführt und umgekehrt der Hirte für das Fehlverhalten seiner Subjekte verantwortlich gemacht werden. Er ist voll rechenschaftspflichtig, weil nur er qua Amt die alleinige Verantwortung für die Lebensführung seiner Schafe innehat. Hier ist denn auch der Punkt, an dem die Analogie nicht mehr ganz trägt: denn dass mangelhafte Subjekt innerhalb der FallmanagementProzedur soll zwar gehorchen (Machtverhältnis) aber zugleich muss es freiwillig mitwirken (Vertrauensverhältnis) beim Aufbau und Erhalt seiner Erwerbsfähigkeit. Es wird gewissermaßen als sein eigener Fallmanager angerufen und aufgefordert zur Arbeit an sich selbst in Kooperation mit der Arbeit, die andere an ihm vollziehen. 29 Genau das ist aber mit absolutem Gehorsam nicht möglich. Projektiert und imaginiert wird ein zwar mangelhaftes, gehemmtes und unzulängliches aber trotzdem ein liberales Subjekt; daher muss die Führungs- und Regierungspraxis des Fallmanagers eine Führung durch Freiheit, Freiwilligkeit und Kooperation sein.

F AZIT Damit möchte ich die hier vorgelegte Skizze zu einer Genealogie der Arbeitslosigkeit vorläufig abschließen und versuchen ein kurzes Fazit zu ziehen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Entdeckung der ›Arbeitslosigkeit‹ gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ihre Problematisierung im soziopolitischen und ökonomischen Diskurs führte zur Etablierung neuer politischer Technologien des Staates und der Ökonomie (Normalarbeitstag, Arbeitsamt, Arbeitslosenversicherung, keynesianische Steuerung etc.), die nicht die ›Arbeitslosigkeit‹ beseitigen, sondern sie als unabänderliches Schicksal industriegesellschaftlicher Lebensweisen und Konjunkturzyklen regierbar machen sollten. In den 1930er Jahren kommt eine neue Konzeptualisierung von ›Arbeitslosigkeit‹ hinzu: die sogenannte massenhafte und langandauernde Arbeitslosigkeit. Sie wird unter der Perspektive eines sozio-

29 Die aktuelle Kampagne der Bundesagentur für Arbeit »Ich-bin-gut« ist mehr als ein beredtes Beispiel für den psychopolitischen Dauerimperativ (hier an Jugendliche), endlich zu werden, was man noch nicht ist (selbstbewusst, angstfrei, leistungsstark), und sich darüber bewusst zu sein, was droht, wenn man es nicht zu werden vermag (arbeitslos, abgehängt, schwach und nutzlos). Das »Team« wird helfen, den Mangel zu beseitigen und richtet jetzt »Lager« (»Gut-Camps«) ein – in Anlehnung an jene paramilitärischen »Boot-Camps« straffälliger Jugendlicher, die hier die letzte Chance bekommen, sich für die Gesellschaft als nützliche Individuen zu erweisen. Vgl. http://www.ich-bin-gut.de/. Für den Hinweis danke ich Jorma Heier.

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logisch-soziographischen und sozialpsychologischen Diskurses neu gefasst und resubjektiviert. Von Bedeutung ist nun die materielle aber vor allem psycho-soziale Wirkung der Abstinenz von Erwerbsarbeit auf das arbeitslose Subjekt und seine Familie. Die in der Marienthal-Studie vollzogene ReSubjektivierung der Arbeitslosigkeit, d.h. die Konstruktion eines mangelhaften, psychisch verarmten, immobilen, inaktiven und ermüdeten Subjekts geht einher mit einer Festschreibung der Verknüpfung von Erwerbsarbeit und psychosozialer Gesundheit. Erwerbsarbeit erscheint als einziger und alternativloser Vergesellschaftungsmodus zur Ausbildung eines gesunden und produktiven Lebens mit Identität, Selbstwertgefühl, einer geordneten Zeitstruktur, sozialer Normen und der Befriedigung des Tätigkeitsbedürfnisses. Die spezifische Ausarbeitung dieser Re-Subjektivierung, ihre Ausstattung mit konkreten Regierungstechnologien (Profiling, Eingliederungsvereinbarung, Fallmanagement etc.) fällt allerdings erst in die politische Ära der Krise des Wohlfahrtsstaates seit den 1980er Jahren als neoliberale und neo-sozialdemokratische Programme neben dem ›aktivierenden Staat‹ auch das ›aktive Subjekt‹ imaginieren und die ›Langzeitarbeitslosen‹ reaktivieren wollen. Für meine Überlegungen ist nicht wichtig, ob die Marienthal-Studie nun richtig ist und methodisch verifizierbar oder ob sie falsche und bezweifelbare Ergebnisse lieferte; es ist auch nicht bedeutsam, ob die beschriebenen psychopolitischen Technologien wirklich helfen können oder bloße Schikane und Demütigungen darstellen. Wichtig scheint mir, dass wir es aktuell mit einer Zusammenfügung, einer Allianz beider Linien zu tun haben, die darin begründet ist, dass ›Arbeitslosigkeit‹ auf spezifische Art und Weise artikuliert wird: nämlich als Problem eines unzulänglichen, mangelhaften Subjekts, das nicht aufgrund einer moralischen Unwilligkeit, 30 sondern aufgrund einer psychosozialen Deprivation oder Hemmung in seinem Zustand verharrt. Der Mangel, das Hemmnis – und damit die Beseitigung desselben – ist das notwendige epistemologische Konzept, um auf legitime Weise einen psychopolitischen Raum des Eingreifens, Veränderns, Aktivierens zu schaffen. Damit wird nicht nur der Umbau ganzer Verwaltungsmaschinerien gerechtfertigt (vom Arbeitsamt zur Arbeitsagentur, Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe etc.), sondern es wird ein umfassendes politi-

30 Das soll nicht heißen, dass der moralische Diskurs der Stigmatisierung, Kriminalisierung und Ausgrenzung nicht auch immer wieder eingesetzt wird. Diesbezüglich verweise ich auf den vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit unter der Leitung von Wolfgang Clement 2005 publizierten Bericht: Vorrang für die Anständigen. Gegen Missbrauch, ›Abzocke‹ und Selbstbedienung im Sozialstaat. Dort wird mit einem ungewöhnlich scharfen, soziomoralischen Ressentiment operiert, das an die wütendsten Pamphlete der Armendebatte im 17. und 18. Jahrhundert erinnert. Ja, es wird nicht einmal vor biologistischen Vergleichen (›Sozialbetrüger‹ = ›Parasit‹) zurückgeschreckt.

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sches Interventionsfeld erzeugt, auf dem Technologien eingesetzt werden, die bis in die intimsten Verhältnisse, die sozialen Beziehungen, die Wohnbedingungen, die Tagesabläufe, die Nahrungsgewohnheiten – kurz: in die gesamte Lebensführung von Individuen, Familien, Partnerschaften etc. eingreifen. Das Frappierende an dieser ungeheuren Steigerung der Regierungsintensität ist aber: All dies geschieht im Namen der Freiheit und des Glücks der Individuen.

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Ungewisses Risiko (Un-)Sicherheit und Risiko in entscheidungs- und gegenwartsdiagnostischer Perspektive T HOMAS K RON Alle Arten von Übergängen sind hier wie sonst in der Realität die Regel. MAX WEBER (1980: 14)

Risiko und Unsicherheit sind als Begrifflichkeiten in der Soziologie scheinbar gut definiert. Zum einen hat sich eingespielt, dass man ›Risiko‹ in Differenz zu ›Gefahr‹ bringt und damit markiert, dass dem Risiko eine Zurechnung auf eine Entscheidung zugrunde liegt, die einen Unterschied für zukünftige Konsequenzen macht (vgl. Luhmann 1991: 30ff.). 1 Innerhalb der vor allem durch die Ökonomie inspirierten Entscheidungstheorie wird der Risikobegriff dann zum anderen mittels Wahrscheinlichkeiten spezifiziert und je nach den möglichen Umweltzuständen zwischen Sicherheit und Ungewissheit unterschieden. Wenn die Umwelt nur einen einzigen Zustand annehmen kann, spricht man von einer Entscheidung unter Sicherheit – ein Zustand, der im Sozialen im höchstens Maße unwahrscheinlich ist, weil man sich dort zumindest nie sicher über die Handlungen der Anderen sein kann, von denen die eigene Handlungsentscheidung mehr oder weniger mit abhängt. 2 Ungewissheit bedeutet dagegen, dass gar keine Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können, gleich wie viele Zustände möglich sind, was für das Soziale ebenso unwahrscheinlich ist, weil irgendwelche Erfahrungen

1 2

Die Entscheidung muss, um als riskant zu gelten, notwendig, darf aber nicht hinreichend für die möglichen Konsequenzen sein. Dass man mit anderen Akteuren immer wieder in »Intentionsinterferenzen« (Schimank 2010: 186ff.) hinein gerät, ist eine auch als »doppelte Kontingenz« soziologisch bekannte »ärgerliche Tatsache der Gesellschaft« (Dahrendorf 1974: 20).

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und Informationen, und seien sie noch so indirekt (etwa über Massenmedien vermittelt), für die allermeisten Situationen vorliegen. Man konzentriert sich deshalb entscheidungstheoretisch vor allem auf jene Fälle, in denen mehr als ein Zustand möglich ist und Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können. Es liegt dann eine Entscheidung unter Unsicherheit vor, die riskant ist. Dieses mittels Risiko und Wahrscheinlichkeiten als ›unsicheres Handeln‹ charakterisierte Agieren von Akteuren ist eine Art Immunisierungsstrategie, weil man mit diesen Konzepten ein Handeln – sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft – auch dann noch ›rational‹ nennen kann, wenn die Konsequenzen sich z.B. aufgrund von Transintentionalitäten (vgl. Kron 2003) als nachteilig erweisen. 3 Es verwundert folglich nicht, wenn in der entscheidungstheoretischen Perspektive das Risiko als Normalfall der wahrscheinlichkeitsbasierten Unsicherheit gilt. Die soziologische Entscheidungstheorie hat deshalb nahezu vollständig akzeptiert und adaptiert, Erwartungen mittels Wahrscheinlichkeiten zu modellieren (vgl. Esser 1999: 247ff.), 4 wobei man (Esser 1999: 290ff.) bereit ist mitzumodellieren, dass eine Streuung der Einschätzungen des Risikos vorliegen könnte, weil die Wahrscheinlichkeiten nicht immer eindeutig bekannt sind, sodass man eine gewisse Ambiguität (oder Ambivalenz; vgl. Junge 2000) mitberücksichtigen kann, jener »uns allen nur zu vertraute Zustand« (Esser 1999: 255), dass Akteure meistens eine grobe »Schätzung im Horizont der offenen Möglichkeiten« (Esser 2001: 333) vornehmen und nur selten genau angeben können, welches Risiko sie tragen, sondern dieses Risiko in bestimmten, subjektiv abschätzbaren Bandbreiten liegt, weil »man zwar seine Vermutungen hat, aber nicht genau weiß, wie sicher die Vermutungen sind« (Esser 1999: 305). Gleichwohl wird diese Ambiguität zumeist (auch in Essers Frame-Selection-Model; vgl. Kron 2004) nur theoretisch integriert und in den konkreten Entscheidungsmodellierungen ignoriert, weil man, wie gesagt, davon ausgeht, dass i.d.R.

3

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Schon für Max Weber gehört die Orientierung an den Nebenfolgen mit zum Typus des Zweckrationalen: »Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.« (Weber 1980: 13) Die Zweckrationalität unter Berücksichtigung der Nebenfolgen gilt, solange die Erwartungen des Handelnden mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit verbunden sind, z.B. im Fall des Tausches: »Der Tatbestand liegt im Fall reiner Zweckrationalität so, dass jeder der Beteiligten darauf zählt und normalerweise mit Wahrscheinlichkeit darauf zählen kann: der Gegenpart werde sich so verhalten, ›als ob‹ er eine Norm des Inhalts, dass man das gegebene Versprechen ›halten‹ müsse, als für sich ›verbindlich‹ anerkenne.« (Weber 1980: 187) Die Grundregel dieser Entscheidungstheorie lautet denn auch: »Versuche Dich vorzugsweise an solchen Handlungen, deren Folgen nicht nur wahrscheinlich, sondern Dir auch gleichzeitig etwas wert sind.« (Esser 1999: 248, Herv. T.K.)

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für die möglichen Umweltzustände Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können. Als Grundlage des Wahrscheinlichkeitswissens wird das Vorhandensein von Informationen als Maßstab angenommen, d.h. wenn dem Akteur hinreichend viele – wenn nicht gar alle – relevanten Informationen zur Verfügung stehen, dann kann er auch einer möglichst perfekt-rationalen Handlung näher kommen. 5 Man muss allerdings berücksichtigen – und dies soll den weiteren Gedankengang leiten –, dass diese entscheidungstheoretischen Begriffsfestlegungen mit der Struktur der Gesellschaft korrespondieren. Die Semantik von handlungs- bzw. entscheidungstheoretischen Begriffen ändert sich mit Modifikationen der Gesellschaftsstruktur (vgl. Luhmann 1980). So kann man z.B. Risiken nur dann von Gefahren im obigen Sinne unterscheiden, wenn man davon ausgeht, dass Entscheidungen sinnhaft zurechenbar sind und es Entscheidungsträger gibt, die mögliche Wahrscheinlichkeitsabschätzungen in ihren Entscheidungen berücksichtigen können. Versteht man dagegen alles, was passiert, z.B. durch eine nicht beeinflussbare oder in ihrem Entscheidungsprozess auch nur beobachtbare göttliche Instanz induziert, dann ist jedes Handeln gefährlich und nicht riskant. Erst in dem Augenblick, in dem die Gesellschaft von einem göttlichen Determinismus abrückt und auf einen alles durchdringenden Rationalismus setzt, kann der moderne Mensch ein Risiko eingehen, erst dann kann er rational und überhaupt erst unsicher handeln.

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Dass diese Annahme problematisch ist, bringt Schmid (2004: 118f.) wie folgt auf den Punkt: »Zur Entschärfung dieses Problems reicht die überkommene Entscheidungstheorie, auf die sich Ökonomen wie Soziologen gerne verlassen, nicht hin, weil sie nicht nur dazu neigt, die Entscheidungsfähigkeiten des Akteurs zu überschätzen, sondern darüber hinaus dem Problem, dass ein Akteur über die Erfolgsvoraussetzungen und Folgen seines Handelns systematisch unwissend ist, mit der ebenso verbreiteten wie fehlgeleiteten Auffassung begegnet, dieser Fall sei grundsätzlich als Handeln unter Risiko rekonstruierbar.« Und weiter verweist Schmid (2004: 119) darauf, dass auch Ungewissheit nicht die Vagheiten (Ambiguitäten) im Entscheidungshandeln modelliert: »Der unausrottbaren Doppelkontingenz des Entscheidens wird man auch dann nicht gerecht, wenn man sich dazu entschließt, Nichtwissen als Nullwahrscheinlichkeit zu behandeln. Die Tatsache, dass ein Akteur nicht weiß, was ihm widerfahren wird, wenn er handelt, kann in seine Entscheidungen nicht dadurch eingehen, dass er mit Sicherheit weiß, dass er dies nicht weiß, da ein solches Wissen nichts dazu beiträgt, eine bestimmte Handlungsalternative zu bevorzugen. Dies gilt verstärkt dort, wo er nicht weiß, was er nicht weiß.«

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E NTSCHEIDUNGSHANDELN IN DER KOMPLEXEN G EGENWARTSGESELLSCHAFT Die Frage ist folglich: Welche Art des Entscheidungshandelns legt die Gegenwartsgesellschaft nahe? Können wir weiter davon ausgehen, dass das Handeln unter Risiko der Normalfall ist? Meine These ist, dass dies immer weniger der Fall ist, denn dafür ist die Gegenwartsgesellschaft zu komplex. Dies ist wahrlich zunächst keine sonderlich originelle Behauptung. Denn wenn man unter Komplexitätssteigerung versteht, dass es immer mehr und unterschiedlichere Zustände oder/ und Ereignisse gibt, die in immer mehr (mindestens abstrakt mögliche, aber auch tatsächlich realisierte) Beziehungen zueinander treten können (vgl. Luhmann 1975: 206), 6 welche mitunter nicht-lineare, multi-kausale, rückgekoppelte Dynamiken aufweisen (vgl. Füllsack 2011; Mainzer 2008; Weyer/Schulz-Schaeffer 2009), dann ist es offenkundig, dass die Gegenwartsgesellschaft komplexer ist als die vorherige (vgl. z.B. Urry 2003). Sachlich bedeutet das, in Entscheidungen zunehmend immer verschiedenartigere und voneinander abhängende Alternativen berücksichtigen zu müssen (siehe Luhmann 2009: 8). Diese von Luhmann angemahnte Mehrdimensionalität (hier in der Sachdimension entlang der Parameter Größe, Verschiedenartigkeit und Interdependenz) müsste nun auch für die Raum-, Zeit- und Sozialdimension eröffnet und diese Dimensionen aufeinander bezogen werden, um das ganze Maß der Komplexität zu erfassen – insofern verliert die These der zunehmenden Komplexität ihre Trivialität. Dies kann hier aber nicht geleistet werden, weshalb einfach eine zunehmende Komplexität der Gegenwartsgesellschaft angenommen wird. Es mögen an dieser Stelle Verweise auf soziologische Gegenwartsdiagnosen (vgl. Schimank/Volkmann 2000; Volkmann/Schimank 2002) genügen, um diese Komplexitätssteigerung plausibel zu machen: Der Raum hat sich erweitert (›Globalisierung‹), was mit einer Vernetzung (Castells 2001; Watts 2003) und Beschleunigung (Rosa 2005) aller Kommunikationen einhergeht (vgl. Münch 1991, 1995), sodass die Welt den Akteuren als »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994) erscheint. Die ganze moderne Gesellschaft ist »flüssig« geworden (vgl. Bauman 2000), in der Liebe (Bauman 2003) ebenso wie in den Temporalstrukturen (Bauman 2007), den Ängsten (Bauman 2006) oder der Lebensführung (Bauman 2005). Und ebenso klar ist, dass eine derartige Komplexität »als ein Hindernis des Durchblicks auf die richtige Entscheidung« (Luhmann 2009: 5) verstanden wird, dass also der Grad der Komplexität einen Unterschied für das Entscheiden ausmacht (vgl. Dörner 2003; Dör-

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Womit formuliert ist, dass Komplexität nicht das Gegenteil von Einfachheit, sondern eher als Differenz von komplett/selektiv zu verstehen ist (vgl. Luhmann 1990: 62).

U NGEWISSES RISIKO

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ner/Buerschaper 1998) – eine Herausforderung, der sich die soziologische Entscheidungstheorie stellen muss.

D AS AUFTAUCHEN

DER

H YBRIDEN

Ich möchte nun eine gegenwartsdiagnostische Perspektive herausstellen, weil diese m.E. einen für das Entscheiden besonders relevanten Komplexitätsaspekt betont. Gemeint ist die Annahme einer Zunahme von Hybriden, die letztlich in jener komplexen Sachlage resultiert, dass man als Akteur zwar perfekt informiert sein, aber trotzdem keine Wahrscheinlichkeiten angeben kann. Die Vermehrung der Hybride sorgt zunehmend dafür, dass Handeln unter ungewissem Risiko zum Normalfall wird. Dies ist erläuterungsbedürftig. Mit diesem zugegebenermaßen weiter ausholenden Umweg wird dann aber offensichtlich, dass Handeln unter Risiko anders gefasst werden muss, als dies bisher der Fall gewesen ist. Zunächst beinhaltet die These des Handelns unter ungewissem Risiko eine entscheidungstheoretische Paradoxie, denn bislang geht man ja davon aus, dass Ungewissheit und Risiko sich ausschließende Begriffe sind, die entlang des Vorhandenseins oder der Abwesenheit von Wahrscheinlichkeiten diskriminieren. Ein ›ungewisses Risiko‹ soll hier die Merkwürdigkeit beschreiben, dass einerseits alle notwendigen Informationen (und damit die Grundlage für Wahrscheinlichkeitsabschätzungen) vorliegen, dass man aber andererseits trotzdem ungewiss ist. Der Grund dafür wird in der Sachdimension gesehen, in welcher der Begriff des Hybriden angesetzt wird. 7 Der Begriff und die These der Vermehrung der Hybriden verdankt sich Bruno Latours (1998, 2000, 2007) Beschreibung einer allgemeinen sozialen Dynamik, die von einer sich selbst-täuschenden, modernen Gesellschaft ausgeht. Diese Selbsttäuschung der Gesellschaft besteht nach Latour darin, dass sie zwei Praktiken einsetzt, die sie streng voneinander trennt und dabei nur die eine Praktik im Blick behält (siehe Latour 1998: 19ff.). Diese beiden Praktiken sind die Hybridisierung und die Reinigung. Zum einen schafft die moderne Gesellschaft ›Mischwesen zwischen Natur und Kultur‹, zum anderen versucht sie, die Unterscheidung von Natur und Kultur sauber getrennt zu halten, indem man ontologisch kulturell-menschliche Wesen von natürlich-technischen Dingen unterscheidet. Es werden damit zwei Unterscheidungen gesondert: die Unterscheidung von Natur und Kultur (Latour nennt

7

Man kann dann durchaus weiterhin Luhmann (1991: 36f.) beistimmen, dass jedes Interesse mit der Unterscheidung von Risiko und Gefahr beobachtet werden kann und dass diese Unterscheidung sachlich beliebig generalisierbar ist, muss aber nicht dessen Schluss mitvollziehen, dass somit die Sachdimension weniger problematisch ist als das Verhältnis von Zeit- und Sozialdimension.

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dies die »Reinigung«) und die Unterscheidung von Getrenntheit und Hybridisierung (»Übersetzung«). Latour führt den Nachweis, dass diese beiden gesonderten Unterscheidungen voneinander abhängig sind und dass damit vor allem die Unterscheidung von Natur und Kultur obsolet wird. Die Selbsttäuschung über die Trennung von Natur und Kultur ist nur möglich gewesen durch eine gut funktionierende Reinigungsarbeit, die verschleiert hat, dass sie die zweite Unterscheidung von Getrenntheit und Hybridisierung zur Folge hat. Weniger kompliziert ausgedrückt: Die Trennung von Natur und Kultur erzeugt Hybride als Mischwesen von Natur und Kultur. Als Folge der getrennten Behandlung, so Latour, breiten sich die Hybride aus. Die Verfasstheit der modernen Gesellschaft ist insofern paradox, als dass sie mit beiden Unterscheidungen operiert und sich dadurch nahezu immunisiert, weil ihr das erlaubt, widersprüchliche Aussagen zu konstruieren, sodass jede Handlung daraus abgeleitet werden kann. Die erste Aussage der modernen Gesellschaft ist die Behauptung, dass die Natur keine kulturelle Konstruktion ist, aber die dem Handeln immanente Gesellschaft. Die zweite Aussage ist, dass die Natur (als eine Konstruktion im Labor) eine sozial-kulturelle Konstruktion ist, nicht aber die Gesellschaft, die mehr ist als die Summe der Handlungen. Bringt man beide Aussagen zusammen, bedeutet das: 1. Wir konstruieren die Natur und konstruieren sie zugleich nicht. 2. Wir konstruieren die Gesellschaft und konstruieren sie zugleich nicht. Daraus lassen sich nun alle möglichen Handlungen zum Eingreifen in Natur und Gesellschaft genauso legitimieren wie alle möglichen Unterlassungen des Eingreifens: »das doppelte Spiel zwischen Immanenz und Transzendenz [...] erlaubt, alles zu tun und sein Gegenteil. Keine Verfassung hat in der Praxis einen solchen Handlungsspielraum gelassen.« (Latour 1998: 56) Allerdings: Dies funktioniert nur so lange, wie Natur und Gesellschaft getrennt sind (erste Unterscheidung) und selbst wenn sie es de facto nicht sind, weil es Hybride gibt (zweite Unterscheidung), muss man beide Unterscheidungen getrennt halten. Und zudem muss es eine Versicherung geben, die eintritt, wenn im schlimmsten Fall die Widersprüchlichkeit der Aussagen zu deutlich hervortritt oder unklar ist, welche Aussage zur Geltung kommen soll. Diese Versicherung ist Gott, der als transzendentale Instanz im Normalfall des Gelingens nicht in das Unterscheidungsspiel von Natur und Kultur eingreift, aber trotzdem angerufen werden kann, wenn etwa natürliche und sozial-kulturelle Gesetze inkompatibel sind. Gott ist die letzte Garantie für eine oszillierende Verwendung von Unterscheidungen zur Vermeidung jeglicher Überschneidungen: »Dreimal Transzendenz und dreimal Immanenz in einem gekreuzten Schema, das alle Möglichkeiten einschließt – hier liegt die Macht der Modernen. Sie haben die Natur nicht gemacht; sie machen die Gesellschaft; sie machen die Natur; sie haben die Gesellschaft nicht gemacht; sie haben weder die eine noch die andere gemacht,

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Gott hat alles gemacht; Gott hat nichts gemacht, sie haben alles gemacht.« (Latour 1998: 49)

Es ist diese paradoxe Verfasstheit der modernen Gesellschaft, so Latour (1998: 50), die es ermöglichte, dass die Hybriden sich vermehren konnten, während man gleichzeitig ihre Existenz geleugnet hat. Hybride – z.B. Türöffner, Muscheln, das Ozonloch – sind so gesehen nicht-modern, denn sie gehören sowohl zur Kultur/Gesellschaft als auch zur Natur – und sind damit qualitativ etwas völlig eigenständig Drittes, ein eigenes »Wesen« (Latour 1998: 117), das eben nicht mehr angemessen anhand dieser Unterscheidung Natur vs. Gesellschaft beschrieben werden kann. Latour nennt diese Wesen »Hybride« (oder auch »Mischwesen«, »Quasi-Objekte«), bei denen es sich nicht um das Zusammenpacken an sich getrennter Elemente handelt, sondern um Einzigkeiten, 8 bei denen Etwas seinem eigenen Gegenteil entspricht. Hybride sind (im Alltag oftmals selbstverständlich betrachtete) Entitäten, bei denen die Zuschreibung als Mischung oder Mischwesen bereits eine Differenz impliziert, die der hybriden Eigenheit nicht gerecht wird, weil dabei die »ontologische Dignität« (Latour 1998: 109) der Hybriden verloren geht. Die Selbsttäuschung der modernen Gesellschaft besteht, so kann man Latour zusammenfassen, in der Anwendung von zweiwertigen Unterscheidungen als Deutungsmuster, mit denen man meint, die soziale Welt immer in scharf getrennte Gegensatzpaare fassen zu können. 9 Latour (1998: 71ff.) selbst deutet diese Interpretationsmöglichkeit von Hybriden als Anwendung von zweiwertigen Unterscheidungen an: Das zweiwertige Unterscheiden ist für ihn eine (unangemessene) Lösung der widersprüchlichen Beobachtungsfähigkeit von Sozialwissenschaftlern, welche einerseits von dem Primat der sozialen Konstruktion ausgehen und zeigen,

8 9

Mit dem Begriff der Einzigkeit möchte ich auf die qualitative Individualität der Hybride verweisen (vgl. Simmel 1983, 1995). Wie Douglas (1985) zeigt, ist mit dieser Trennung in Gegensätze oft eine Symbolik verbunden, die auf Heiligkeiten einer Gesellschaft verweist. Heilig ist das, was vollkommen und rein ist. Zweiwertige Unterscheidungen dienen folglich oftmals dazu, solche Symboliken zu markieren, die für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung stehen. Hybride sind so gesehen Schmutz, der die gesellschaftlichen Klassifikationssysteme durcheinander bringt und den Heiligkeiten widerspricht: »Hybride Erscheinungen und andere Mischformen sind ein Greuel. [...] Wir können schließen, dass Vollkommenheit ein Ausdruck von Heiligkeit ist. Heiligkeit erfordert, dass die einzelnen Dinge der Klasse entsprechen, zu der sie gehören. Sie erfordert außerdem, dass verschiedene Klassen nicht gemischt werden dürfen. [...] Heiligkeit verlangt, die einzelnen Kategorien der Schöpfung voneinander getrennt zu halten.« (Douglas 1985: 73) Dies ist das Ergebnis der Exegese des 3. Buch Mose, mit der Douglas schließt.

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dass alle Wahrnehmung und Deutung sozial fundiert, d.h. das Ergebnis sozial verfügbarer Kategorien ist. Andererseits zeigen die Sozialwissenschaftler, dass bestimmte Tatsachen die Gesellschaft nahezu deterministisch gestalten, unterstützt z.B. von Neuro-Wissenschaftlern, die per se einen freien menschlichen Willen bestreiten (vgl. dazu Mayntz 2009). Beide Argumente lassen sich also von der jeweils anderen Seite kritisieren. »Die Lösung dieser doppelt widersprüchlichen Kritik«, so Latour (1998: 74), »ist so durchgreifend, dass die Sozialwissenschaftler einen Großteil ihres Common sense daraus beziehen. Das nennt sich dann Dualismus.« Dualismus als zweiwertiges Unterscheiden ermöglicht das unbekümmerte Wechseln der Seiten und damit nahezu willkürliches Handeln, ohne dass aber die Eigenständigkeit und Einzigkeit des Hybriden miterfasst wird, denn diese befinden sich an der Stelle, »um die Dualismus und Dialektik endlos gekreist sind, ohne etwas damit anfangen zu können.« (Latour 1998: 76) Der Grund ist, dass es mit einem Dualismus nicht möglich ist, die zweiwertige Unterscheidung (z.B. von Natur und Kultur) und die Hybridisierung (und damit die zweite Unterscheidung von Hybridisierung und Getrenntheit) zugleich einzufangen. Den modernen Reaktionen auf die Vermehrung ist »gemeinsam, dass sie nicht gleichzeitig die Vermehrung der Hybriden und die Arbeit der Reinigung verfolgen können.« (Latour 1998: 92) Latour behauptet nun – und dies ist für den gesellschaftlichen Hintergrund des hier interessierenden zeitgenössischen Entscheidungshandelns relevant –, dass sich hinter dem Rücken dieses Unterscheidungsspiels Hybride zunehmend vermehrt haben. Leider lässt er weitgehend offen, weshalb die Hybriden sich hinter dem Rücken der Anwendung zweiwertiger Unterscheidungen vermehren konnten, zumindest sucht man bei ihm ein logisches oder sozialstrukturelles Argument vergebens und findet nur den Hinweis, dass gerade das Denkverbot die Vermehrung der Hybriden ermöglicht hat (vgl. Latour 1998: 21; vgl. Kneer 2008). Warum also konnten sich die Hybriden vermehren? Als ein erster Grund sind Sichtbarkeiten zu nennen. Zwar gilt einerseits für Sichtbarkeiten, vor allem des scheinbar unmittelbar gegebenen Körpers, dass diese so relevant gemacht und derart selbstlegitimierend ontologisiert werden können, dass das Ausprägen einer Differenz nahegelegt wird: »Die Plausibilität des Sichtbaren simuliert Eindeutigkeit« (Nassehi 2003: 98), mit der zweiwertige Differenzen zugeschrieben werden können. 10 Andererseits

10 Allerdings kann aus der Evidenz dieser Sichtbarkeit von Körpern – gleich ob sie Eindeutigkeit oder Uneindeutigkeit simuliert – keine direkte Ableitung für die Logik der Wahrnehmung und Deutung auf der Gesellschaftsebene folgen. Bei Körpern ist Sehen wichtiger als etwa in ›der‹ Wirtschaft, in der Personen als Zahler oder vielleicht Käufer körperlos adressiert werden (vgl. Fuchs 1997). In der direkten Interaktion verleitet das Sehen mehr zur Zweiwertigkeit als z.B. das Schmecken oder Hören.

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führt aber der technische Fortschritt dazu, dass auch bei Körpern derart genau hin- und hineingesehen wird, dass die simulierten Eindeutigkeiten sofort wieder verschwinden und immer mehr Uneindeutigkeiten weichen. Gerade deshalb verweist z.B. die Kritik an der zweiwertigen Konstruktion von Geschlechtern auf Körper, die das Gegenteil der zweiwertigen Differenz von Mann vs. Frau indizieren können, z.B. intersexuelle Körper als eine Form von »Geschlechtshybriden« (vgl. Butler 1990, 2009). 11 Zudem wird der Körper selbst nicht immer eindeutig erfahren. Zumindest kleine Kinder müssen sich im Sozialisationsprozess erst ein Körperschema aneignen (vgl. Joas 1992: 245ff.), welches ihnen erlaubt, den eigenen Körper als solchen zu erfahren und von der Umwelt abzugrenzen. Gerade weil Kinder oftmals noch nicht in der Lage sind, kulturell relevante Differenzen zu erkennen (vgl. zum Folgenden Zerubavel 1991: 82ff.), können sie offensichtlich Ironie nicht von ernstgemeinten Aussagen oder Realität und Fiktion (z.B. Märchen) eindeutig trennen. Auch die Unterscheidung von Mensch und Tier geht ihnen bei Bambi, Mickey Mouse, Winnie Puh und anderen Gestalten verloren; schließlich werden vor allem ›Kuscheltiere‹ als Transmissionsriemen zur Erleichterung des Übergangs in eine eindeutig kategorisierte Welt gewährt. Aber auch Erwachsene (die ja ebenfalls manchmal sowohl erwachsen als auch kindisch sind) machen Erfahrungen, die eindeutigen Zuordnungen in zweiwertige Unterscheidungen widersprechen – und gemeint sind jetzt nicht jene Personen, denen psychische Störungen diagnostiziert werden, weil sie z.B. Probleme haben, den eigenen Körper im Raum zu verorten. Gemeint sind alltagskompatible Erfahrungen, etwa wenn Realität und Fiktion in Tagträumen verschwimmen oder wenn die Grenze von Körper und Umwelt in der Meditation flüssig zu werden scheint. Auch im sexuellen ›Liebesakt‹ kann das Gefühl entstehen, dass ›Körper verschmelzen‹, ein Gefühl, dass der Empfindung der kollektiven Ekstase in der Masse, sei es im Techno oder beim Militär, ähnlich ist. Selbst die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier wird von Erwachsenen nicht immer so trennscharf angewandt, wie es die Zweiwertigkeit verlangt, wie etwa der Begriff des ›Tierliebhabers‹ andeutet, der von der Sympathie für den Hund als ›besten Freund des Menschen‹, welcher dann vielleicht auch mit dem Menschen in einem Raum oder in einem Bett schläft, bis zur Zoophilie und Sodomie reicht. Zweiwertige Unterscheidungen als Deutungsmuster werden zudem ganz alltäglich, z.B. im Humor, außer Kraft gesetzt oder auch in der Kunst, in der die Grenze zum Alltagsleben aufgehoben wird (etwa bei Graffiti oder in der künstlerischen Gestaltung von Computertastaturen); im Design (etwa von Wohnungen, bei denen die Aufteilung von Wohnzimmer und Küche vermengt) oder in der Musik, wenn diese Alltagsgeräusche bzw. Lärm musikalisch einsetzt und verwertet.

11 Auf dieses paradigmatische Beispiel komme ich noch zurück.

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In Ergänzung zu dieser wachsenden Sichtbarkeit und damit Erfahrbarkeit von Hybriden kann man zweitens anführen, dass zweiwertige kategoriale Unterscheidungen immer schon uneindeutig (gewesen) sind, also Hybride prozessiert wurden und werden und dass diese in der Moderne nur nicht anerkannt waren (vgl. Beck/Bonß/Lau 2004: 25). Schon immer gab es Abweichungen von den zweiwertigen ›Normalformen‹, sind aber als ›pathologisch‹, als ›unnormal‹ und nicht als eine Variante des Normalen verstanden worden. Es verwundert daher nicht, dass Durkheim (1984) – ein klassischer Entdecker der soziologischen Analyse genau jener Phase, die keine Hybride anerkennt – die Unterscheidung von normal vs. pathologisch in den Kanon seiner Regeln der soziologischen Methode aufnimmt. Die Hybride haben sich in dieser Sichtweise nicht wirklich vermehrt, sondern sind immer schon da gewesen, nur hat man dies nicht sehen wollen. Dieser Wille, Hybride nicht anzuerkennen und diese Anerkennungsverweigerung auch normativ zu verlangen, entspringt wieder dem rigiden Denken, das auf zweiwertiges Unterscheiden setzt (siehe Zerubavel 1991: 33ff.). 12 Die aktuelle Vermehrung der Hybride ist damit eher ihrer Anerkennung in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen geschuldet: Man legt die Hybride zunehmend frei und hat das Gefühl, dass diese sich vermehren. Vor allem die Theorie reflexiver Modernisierung (Beck 1986, 2007; Beck/Bonß/Lau 2001, 2004; Beck/Lau 2005; vgl. Kron 2010: 157ff.; Schroer 2009) betont im Sinne der zunehmenden Freilegung der Hybride und der damit einhergehenden Erosion zweiwertiger Unterscheidungen den Zusammenhang von Wissenschaftserfolgen, technischen Innovationen und deren öffentlich zunehmend antizipierten Nebenfolgen (vgl. Viehöver et al. 2004: 81). 13 Eine wichtige Ursache der Freilegung der Hybride bzw. der Infragestellung zweiwertiger Unterscheidungen ist damit die der Dynamik der modernen Wissenschaft geschuldete Paradoxie des Rationalismus (Münch 1991: 27ff., 1995: 80ff.; vgl. Viehöver et al. 2004: 66f.): Je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir, was wir nicht wissen. Eine Nebenfolge dieser Paradoxie ist der Verlust des Wissens um eindeutige Grenzen, d.h. »verantwortlich für die zunehmende Erosion der Abgrenzungen zur äußeren Natur

12 »The most distinctive characteristic of the rigid mind is its unyielding, obsessive commitment to the mutual exclusivity of mental entities. The foremost logical prerequisite of a rigid classification is a mental item belong to no more than one category. Such either (or logic presupposes a digital mode of thinking, which, unlike its analog counterpart, does not tolerate any ›gray‹ shadings among mental fields.« (Zerubavel 1991: 34) 13 Hirschauer (2004: 32ff.) sieht z.B. in der Reproduktionstechnologie die Chance der De-Konstruktion des Männlichen und Weiblichen, dadurch dass die Geschlechterdifferenz (Sex) unabhängig von Personen auf Substanzdifferenzen reduziert wird. Was die Person dann geschlechtlich ›ist‹, wird mit dieser Technologie nahezu frei bestimmbar.

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ist demnach die wachsende wissenschaftliche Erkenntnis« (Lau/Keller 2001: 86). Gerade der Erfolg der modernen Wissenschaft unterminiert transintentional die eigenen Wissensgrundlagen durch ein »Uneindeutigwerden tieferliegender kognitiver wie institutioneller Duale« (Beck/Bonß/Lau 2001: 38). Eine weitere, dritte Ursache der ›Vermehrung der Hybride‹ sind die mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen einhergehenden, empirisch vermehrt auftretenden Probleme mit der Anwendung analytisch zweiwertiger Unterscheidungen auf die empirischen Hybride. So kollabiert z.B. die Natur/Gesellschaft-Unterscheidung entlang gesellschaftlicher Konflikte: »über Umweltrisiken, die Folgen industrieller Landwirtschaft und Viehzucht, Risiken der Genforschung, über Für und Wider der Reproduktionsmedizin und Stammzellentherapie, über Transplantationsmedizin etc. – wurde deutlich, dass NaturGesellschaft-Abgrenzungen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Interessen keine ›sachnotwendigen‹, in der ›Natur der Dinge‹ liegenden, sondern kontingente, umstrittene, unscharfe und mitunter mehrdeutige soziale Konventionen sind.« (Viehöver et al. 2004: 66)

Derartige kategoriale Passungsprobleme machen zwingend auf hybride Zustände aufmerksam und nötigen zur Beantwortung der Frage, wie man damit umzugehen gedenkt. Die Antwort darauf wird nicht nur von der Frage abhängen, ob die entsprechenden Reinigungsagenturen noch in der Lage sind, die Verweise auf Hybride oder diese selbst zu beseitigen, sondern auch davon, mit welchen theoretischen Annahmen man Entscheidungen unter hybriden Bedingungen modellieren kann. Die Probleme mit Hybriden wiederum beschleunigen viertens die Entdeckung der Erosion zweiwertiger Unterscheidungen. Solange man an zweiwertig konstruierten Grenzen noch kognitiv oder wenigstens normativ – und sei es kontrafaktisch – festhalten kann, kann man Hybride ignorieren. Wenn man aber z.B. erkennt, dass zweiwertige Unterscheidungen problematischerweise an sich nicht mehr passen, erodieren die mit dieser Erkenntnis verbundenen Unterscheidungen. Insgesamt liegt die Antwort auf die Frage, wie es zur Vermehrung der Hybriden kommen konnte, weniger darin, dass die Hybride sich materialiter vermehrt haben, 14 sondern vor allem, dass erstens die Beseitigung (Reinigung) der immer schon vorhandenen Hybride nicht mehr so gut funktioniert, dass zweitens immer mehr Hybride wissenschaftlich aufgedeckt werden und drittens die den Hybriden geschuldeten Problemlagen immer offensichtlicher werden, sodass es letztlich zu einer immer größeren Anerkennung der

14 Und schon gar nicht sind die Hybride einer »Hoffnung auf die Bindekraft des Ähnlichen« (Becker-Schmidt 1998: 92) geschuldet!

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Hybriden kommen musste. Die Menge und die Qualität der Erscheinungen haben, so Latour, die »hybride Revolution« eingeläutet: »Solange sie nur in Form von ein paar Luftpumpen auftauchten, ließen sich die Mischwesen noch getrennt in zwei Dossiers unterbringen, klassifiziert nach Naturgesetzen und politischen Repräsentationen. Wenn man aber von Embryonen im Reagenzglas, Expertensystemen, digitalen Maschinen, Roboter mit Sensoren, hybridem Mais, Datenbanken, Drogen auf Rezept, Walen mit Funksendern, synthetisierten Genen, Einschaltmessgeräten etc. überschwemmt wird, wenn unsere Tageszeitungen all diese Monstren seitenweise vor uns ausbreiten und wenn diese Chimären sich weder auf der Seite der Objekte noch auf der Seite der Subjekte, noch in der Mitte zu Hause fühlen, muss wohl oder übel etwas geschehen.« (Latour 1998: 69)

Die quantitative Vermehrung der Hybriden hat im Sinne reflexiver Modernisierung den »konstitutionellen Rahmen der Moderne gesprengt« (Latour 1998: 70). Qualitativ konkretisierend gerät mit dem Verfall der Unterscheidung von Natur und Kultur die zweite Unterscheidung von Getrenntheit und Hybriden ins Wanken. Denn dass Hybride empirisch vorkommen, ändert selbstverständlich zunächst nichts daran, dass die Art des modernen Denkens weiter auf zweiwertiges Unterscheiden ausgelegt ist. Aber jeder Hybrid stellt das zweiwertige Unterscheiden prinzipiell, selbst wenn die Reinigungsprozeduren funktionieren, in Frage, sodass die Differenz zwischen der erfahrbaren Wirklichkeit und der Unterscheidungsweise zumindest auffallen musste: »Something is happening to the way we think about the way we think.« (Zerubavel 1991: 114) Kurz: Mit dem Auftauchen der Hybride wird eine andere Denkweise angefordert, um die neue hybride Realität erfassen zu können. Kennzeichnend für die notwendig gewordene neue Art des Denkens ist das, was Ulrich Beck (2004, 2006, 2007; Beck/Bonß/Lau 2001, 2004; Beck/Lau 2004, 2005) in seiner Theorie reflexiver Modernisierung mit dem Begriff des »methodologischen Kosmopolitismus« hervorhebt. Im Ergebnis bedeutet dies, dass wir vor der Aufgabe stehen, »eine neue Handlungs- und Entscheidungslogik zu entwickeln, die nicht mehr dem Prinzip des ›Entweder-Oder‹, sondern dem des ›Sowohl-Als-Auch‹ folgt«. 15 Notwendig

15 In anderen Worten: »In dieser Lage steht nur der Weg zum mehrwertigen Denken noch offen. Was unter Mehrwertigkeit zu verstehen ist, braucht möglichen Interessenten nicht wie eine Weltneuheit erklärt zu werden. Jede nichtpedantische Intelligenz praktiziert sie auf implizite Weise von Kindesbeinen an, hinsichtlich der Dinge ebenso wie hinsichtlich der Ideen. Während die klassische Logik mit dem Grundsatz tertium non datur steht und fällt (es gibt kein Drittes zwischen Ja und Nein) hat das Alltagsdenken seit jeher Wege zum tertium datur gefunden. Das Universalverfahren auf diesem Feld besteht in der Entradikalisierung von Alternativen: Man konfrontiere jemanden mit einem Entweder-Oder,

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wird diese neue Logik, weil die soziale Wirklichkeit nicht mehr in das Korsett einer zweiwertigen Logik gezwängt und mittels dieser angemessen erfasst werden kann. D.h. die neue Logik muss verschiedene Konfigurationen umfassen, zu denen auch die Dichotomisierung gehört. Anders formuliert: Das Sowohl-Als-Auch umfasst sowohl das Sowohl-Als-Auch als auch das Entweder-Oder! Die Entwicklung einer solchen Logik für das Soziale ist das, worauf der von Beck (2006: 267) propagierte »epistemological turn« zielt.

H YBRIDE

ALS

E NTSCHEIDUNGSPROBLEM

Der Umweg über die gegenwartsdiagnostische Beschreibung führt direkt zu der Frage, welche entscheidungstheoretischen Prämissen diesem epistemological turn angemessen sind. Denn die Vermehrung der Hybride bringt eine neue sachlich-qualitative Form der Komplexität in die soziale Welt. Dies hat Auswirkungen auf das Entscheidungshandeln und auf die ehemalige Normalform des riskanten Handelns. Man ist bisher nämlich wie gezeigt davon ausgegangen, dass man die Umweltzustände lediglich quantitativ differenzieren muss in dem genannten Sinne, dass entweder nur ein Zustand oder eben mehr als ein Zustand möglich ist. Unterstellt wurde, dass sowohl der eine als auch die vielen Zustände qualitativ eindeutig bestimmt werden können. Nehmen wir z.B. an, eine Sozialarbeiterin ist für die Betreuung misshandelter Frauen, nicht aber für misshandelte Männer zuständig. Sie betreibt etwa ›Frauensozialarbeit‹ im Rahmen der Professionalisierung von ›Frauenhäusern‹. Die erste Entscheidung, die sie dann zu treffen hat ist, ob es sich bei dem Gegenüber um eine Person mit der Ausprägung ›misshandelte Frau‹ handelt. Das Risiko dieser Entscheidung besteht zunächst scheinbar darin, ob die Frau tatsächlich eventuell nicht misshandelt wurde. Denn nur wenn Frauen körperlich oder seelisch misshandelt wurden oder akut von derartigen Misshandlungen betroffen sind, dann können sie Schutz im Frauenhaus finden.

das ihm unwillkommen ist, und man wird sehen, wie er kurz oder lang die Aufgabe in ein Sowohl-als-auch umformt. Man nimmt die Farben aus der Welt [...] und man erhält ein visuell dreiwertiges Universum, in dem eine Mittelwelt aus gestuftem Grau zwischen den Extremen von Weiß und Schwarz vermittelt. Das könnte trivial erscheinen und ist gleichwohl im gegebenen Kontext informativ. Grau bedeutet die Entlastung vom Zwang, zwischen Schwarz und Weiß wählen zu müssen. Es verkörpert die real existierende Drittheit. Im übrigen lässt sich in einer von Graustufen beherrschten Welt das Auftreten von Extremisten vorhersehen, die aus Überdruss an den Mittelwerten für eine reine Schwarzwelt oder Weißwelt kämpfen.« (Sloterdijk 2007: 156f., der schon früher (2004: 31) die »binäre Idiotie« kritisiert hatte.)

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Nicht berücksichtigt wird, dass der Entscheidung zur Aufnahme in ein Frauenhaus über die Feststellung einer (faktisch erfolgten oder zu befürchtenden) Misshandlung die Entscheidung vorausgeht, ob es sich bei der betroffenen Person tatsächlich um eine Frau handelt. Denn Frauenhäuser sind für Frauen (und Kinder, deren Geschlecht aufgrund des Alters offensichtlich unerheblich ist) da. Für Männer sind Frauenhäuser offensichtlich nicht zuständig, bzw. diese müssten sich an das (einzige) ›Männerhaus‹ Deutschlands in Brandenburg wenden. Die neue Komplexität der Hybridität besteht nun darin, dass man genau genommen kaum plausibel zwischen Frau und Mann hinreichend diskriminieren kann, um diese Entscheidung zu treffen. Zum einen haben uns die frühen Frauenforschungen und besonders die Queer-Studies gelehrt, dass man aus den vermutlichen biologischen Vorgaben einer Frau oder eines Mannes nicht deren Geschlechtsidentität ableiten kann. Die in dem Beispiel genannte Sozialarbeiterin müsste z.B. entscheiden, ob sie einen ›biologischen Mann‹ in ein Frauenhaus aufnimmt, der aber als Frau fühlt und lebt. In der Regel wird man deshalb aus Gründen der Reduktion der Komplexität der Geschlechtsidentitäten solche Entscheidungen über Betreuungszuweisungen eher an die biologisch-medizinisch orientierte, zweiwertige Unterscheidung von Frau und Mann binden wollen, denn diese Unterscheidung hat den Vorteil, dass sie »entscheidungsfrei gehandhabt« (Hirschauer 2004: 27) werden kann. Die Komplexität der Hybriden macht aber nun gerade aus, dass auch diese bio-medizinisch angeleitete Komplexitätsreduktion so sehr unter Druck geraten ist, dass sie genau genommen ihre Funktion nicht mehr erfüllen kann. Es mehren sich die Stimmen – auch innerhalb der Gender Studies –, die die zweiwertige Grundunterscheidung von Sex und Gender anzweifeln und die Annahme eines an sich feststehenden sexus kritisieren, welcher als regulierendes Ideal wirkt. Es geht dabei um die Verwunderung, 16 dass es keine biologischen Anker gibt, an denen eine strikte zweiwertige Unterscheidung von Mann und Frau – jenseits der willkürlichen Definition – festgemacht werden kann. Die biologische Zweigeschlechtlichkeit verliert mit dieser Kritik ihren ontologischen Status und wird genauso brüchig wie traditionale Geschlechterrollen und Geschlechteridentitäten. Nicht nur die Geschlechtsidentität wird also als unabhängig von biologischen Parametern und als sozial konstruiert gedacht – sodass man z.B. von einer biologisch gegebenen Empfängnisfähigkeit von Frauen nicht mehr auf deren soziale Präposition für Passivität schließen kann, während der Mann als der penetrierende und schwängernde Akteur einen aktiven Impetus zugeschrieben bekommt –, sondern jetzt wird auch die Biologie des Geschlechts als soziales Konstrukt entlarvt.

16 Sofern man sich verwundern lässt! Vgl. Sloterdijk (2011: 7f.).

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Man kann diesen Zusammenhang gut an dem Beispiel der ›Intersexualität‹ verdeutlichen. Der Begriff Intersexualität soll hier für diejenigen Personen stehen, bei denen eine biologische Kategorisierung entlang der zweiwertigen Unterscheidung Mann/Frau nicht oder eben nur nach massiven sozial-medizinischen Eingriffen möglich ist. Verletzt wird damit vor allem jene Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit, wie sie im wissenschaftlichen (vgl. Hirschauer 2004) bzw. biomedizinischen Diskurs (siehe Lang 2006: 56ff.) produziert und reproduziert wird. Diese Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit beinhaltet, dass es natürlicherweise zwei und nur zwei invariable Geschlechter gibt, nämlich männlich und weiblich, für welche die Genitalien die essentiellen Indizien darstellen (Frau = Vagina, Mann = Penis) und dass jede Person nur ein Geschlecht hat. Diese zweiwertige Unterscheidung ist strikt, Ausnahmen von der Zweiwertigkeit sind Pathologien (siehe Butler 2009: 15). Provoziert wird diese Vorstellung einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit bereits im biomedizinischen Diskurs selbst, der in Folge des medizinisch-technischen Fortschritts weitere Indizien für die Unterscheidung von Mann und Frau herausstellt, etwa den Chromosomensatz (XX vs. XY), Hormone (Testosteron vs. Östrogene), die Keimdrüsen (Hoden vs. Eierstöcke), innere Genitalien (Prostata vs. Uterus), weitere äußere Merkmale (Penis/Skrotum vs. Klitoris/Schamlippen). Das Auftauchen von Kombinationen dieser Bedingungen in einer Person führt bereits zu Ansichten, die eher auf ein Kontinuum der Geschlechtszugehörigkeit hinweisen. Dieses Kontinuum der Bedingungen wird allerdings selbst noch zweiwertig gedacht, d.h. man geht davon aus, dass eine Person entweder das eine oder das andere Merkmal aufweist – auch dies hat sich allerdings als empirisch falsifizierbar erwiesen, z.B. durch Personen mit einem Ovotestis (einem Hoden auf der einen und einem Eierstock auf der anderen Seite). Das bedeutet: Nicht nur die Zuweisung der Geschlechtlichkeit, sondern auch die Merkmale, die einer solchen Zuweisung zugrunde liegen, erscheinen willkürlich (vgl. Lang 2006: 111; Voß 2011). Butler (1990: 22f.) etwa hat schon früh erkannt, dass mit einem solchen Kontinuum die Unterscheidung von Sex und Gender soweit an eine logische Grenze getrieben wird, dass man eine »grundlegende Diskontinuität zwischen sexuell bestimmten Körpern und den kulturell bedingten Geschlechtsidentitäten« konstatieren kann, mit dem Ergebnis: »Die Begriffe Mann und männlich können dann ebenso einfach einen männlichen und einen weiblichen Körper bezeichnen wie umgekehrt die Kategorien Frau und weiblich.« (Butler 1990: 23) Die logisch anschließende Frage muss für unsere Sozialarbeiterin dramatisch klingen: »Ist es sinnvoll zu behaupten, dass Männer Frauen sexuell unterordnen, wenn wir nicht zunächst eine Idee davon haben, was Männer und Frauen sind?« (Butler 2009: 93) Es ist offensichtlich, dass es Personen gibt, die jedes strikt zweiwertige Unterscheiden von Männern und Frauen verletzen. Die eingelebten zweiwertigen Einsichten, nach denen z.B. eine Frau entweder schwanger ist oder nicht (so Luhmann 1986: 183) oder nach der nur eine Frau schwanger wer-

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den kann, werden dann irritiert, wenn es zu Scheinschwangerschaften 17 kommt oder plötzlich ein Mann schwanger 18 wird. Derartige Irritationen sorgen für Verunsicherungen und Ängste, weil es offensichtlich fremde Wesen unter uns gibt, die genauso sind wie wir, aber doch anders. 19 Mit der Theorie reflexiver Modernisierung können wir generalisierend sagen, dass diese Form der hybriden sozialen Wirklichkeit sich auf das Entscheidungshandeln der Akteure auswirkt, weil diese schlichtweg zum Entscheiden gezwungen sind. Entgrenzungen erzwingen Entscheidungen (vgl. Beck/Bonß/Lau 2004) und die Akteure damit zu einer neuen ›Grenzpolitik‹ ihrer entscheidungsgetragenen Lebensführung. Um dieses neuartige Entscheidungshandeln in hybriden Situationen modellieren und erfassen zu können, müssen die Sozialwissenschaften eine neue Entscheidungslogik, ein neues Entscheidungsmodell entwickeln: »Es ist nicht der Grundsatz des Entweder-Oder, sondern ein Modell – eine Logik – für den Umgang mit Vielfalt entsprechend der Realität des Sowohl-als-auch.« (Beck 2006: 257) Wie könnte ein solches Entscheidungsmodell aussehen? Eine Antwort können wir finden, wenn wir weiter in die Geschichte der Analyse von Intersexualität schauen. Schon früh wurde erkannt, dass man die Unterscheidung von Mann und Frau, selbst wenn man diese eigentlich für empirisch kaum begründbar hält, als Form analytisch unterstellen kann, als ein idealtypisches Prinzip, wenngleich man zugleich bezweifelte, dass irgendjemand dieses Prinzip vollkommen erfüllte, was durch Magnus Hirschfelds (1910: 127f.) Berechnungen von 43.046.721 möglichen Abstufungen zwischen dem »idealtypischen Mann« und der »idealtypischen Frau« bestätigt werden sollte. Genau genommen nimmt Hirschfeld (1910) mit seiner »Zwischenstufentheorie« den

17 Scheinschwangerschaften, die sowohl psychische als auch physische Gründe haben können, gehen mit mehr oder weniger schwangerschaftskonformen Merkmalen einher, u.U. sogar mit Milcheinschuss, Bauchwachstum, Ausbleiben der Menstruation, Vergrößerung des Uterus usw. 18 Thomas Beatie hat 2008 weltweit Aufmerksamkeit erregt, weil er als erster Mann schwanger war. Zuvor war er eine Frau, die sich zu einer Geschlechtsumwandlung mittels Entfernung der Brüste und Hormonbehandlung entschlossen hatte, allerdings ohne Entfernung der Gebärmutter und der Eierstöcke. Da er als Mann heiratete, war die rechtliche Anerkennung gegeben, als er künstlich befruchtet wurde, da seine Frau nicht schwanger werden konnte. Im Sommer 2011 hat er das dritte Kind ausgetragen. 19 Dies ist die Figur des Fremden, wie sie Zygmunt Bauman verwendet, um die Angst der modernen Gesellschaft vor Ambivalenzen zu verdeutlichen (vgl. Junge 2000; Junge/Kron 2007): »[T]atsächlich ist der Fremde eine Person, die mit einer unheilbaren Krankheit, der multiplen Inkongruenz geschlagen ist. Der Fremde ist aus diesem Grund das tödliche Gift der Moderne.« (Bauman 1992a: 82f. Vgl. auch ders. 1991: 29f., 1992b, 1995a: 245, 1995b: 45, 1995c, 1996: 41ff.).

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handlungstheoretischen interessanten Gedankengang einer unendlichwertigen Unterscheidung vorweg: »Wir verstehen unter sexuellen Zwischenstufen männlich geartete und weiblich geartete Männer in allen möglichen Abstufungen […]. Die Voraussetzung dieses Einteilungsprinzips ist demnach eine genaue Erklärung dessen, was männlich und was weiblich ist, und hierin liegt die Hauptschwierigkeit und Strittigkeit, zumal es neben rein männlichen und weiblichen Eigenschaften auch solche gibt, die weder männlich noch weiblich oder richtiger ausgedrückt, sowohl männlich als auch weiblich sind.« (Hirschfeld 1910: 116)

Zur Begründung der Extrempunkte der Unterscheidung Frau/Mann führt er dann eine ganze Reihe von Kriterien heran, wobei er neben biologischorganischen Eigenschaften (im Sinne von Sex) auch entsprechende Ableitungen der Geschlechtsidentität (Gender) vornimmt, die man aus heutiger Sicht verwerfen muss. 20 Aktuell scheint mir Hirschfelds Beitrag weniger deshalb interessant, weil man daran exemplifizierend die überkommende wissenschaftliche, sozio-biologistische Begründung für die »kulturelle Mangelhaftigkeit der Frau« studieren kann, sondern vielmehr, weil Hirschfeld zum einen davon ausgeht, dass es sehr viele Kriterien zur Bestimmung des Männlichen und des Weiblichen gibt, und dass selbst bei den scheinbar objektiven biologischen Kriterien bei genauerem Hinsehen graduelle Übergänge vorgefunden werden, z.B. wenn er (1910: 121) davon spricht, dass es

20 Insofern vertritt Hirschfeld auch jene Anschauung, gegen die der Feminismus zu Recht und erfolgreich argumentiert hat. Typisch ist etwa die erwähnte Ableitung der weiblichen Geschlechtsidentität als ›passiv‹ im Gegensatz zur aktiven Identität des Männlichen, abgeleitet aus menschlichen Reproduktionsvorgängen: »Aber nicht nur im Liebesleben, auch im sonstigen Geistesleben ist die Frau empfänglicher, eindrucksfähiger, empfindsamer, gemütvoller, unmittelbarer als der Mann, während ihr die streng abstrakte, grübelnde oder auch rein schöpferische tätige Seite der menschlichen Psyche weniger liegt. Doch genügt ihre Produktionsfähigkeit vollkommen für die verhältnismäßig einfachen, leicht erlernbaren Obliegenheiten fast aller gegenwärtigen Berufe, einschließlich derjenigen, die man gewöhnlich als männliche bezeichnet. Dagegen steht der Beweis noch aus und ist sehr fraglich, ob ihre Begabung für die Höchstleistungen der Kultur, der Schaffung auserlesener Meisterwerke in Technik, Kunst und Wissenschaft ausreicht.« (Hirschfeld 1910: 118) Interessanterweise und inkonsistent mit seiner Zwischenstufentheorie lehnt Hirschfeld die Ansicht, dass soziale Prozesse den von ihm geforderten Nachweis der Begabung der Frauen verhinderten, explizit ab. Nicht die »systematische Unterdrückung seitens der Männer« verhindere die Höchstleistungen, sondern die »natürliche Beschaffenheit der Frauen an und für sich. Goethe wäre auch ohne Abiturexamen Goethe geworden.« (Hirschfeld 1910: 119)

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Spermien »von männlichem und weiblichem Charakter« sowie »männliche und weibliche Eizellen« gibt. Als Konsequenz kommt er deshalb zu dem Ergebnis, dass Männer und Frauen zwar definitorisch sozial eindeutig konstruiert werden, empirisch aber in dieser Reinform nicht existieren: »Derartig absolute Vertreter ihres Geschlechts sind aber konstruierte Extreme, Abstraktionen, in Wirklichkeit sind sie bisher nicht beobachtet worden« (Hirschfeld 1910: 122). Die oben angeführte Zahl von Kombinationsmöglichkeiten wird von Hirschfeld herangeführt, um zu demonstrieren, dass jeder zweiwertige Kategorisierungsversuch scheitern muss, weil die Unterscheidung von Männern und Frauen zwar analytisch besteht, sich aber empirisch als eine unendlichwertige Unterscheidung präsentiert: »Die Zahl der denkbaren und tatsächlichen sexuellen Varietäten ist somit nahezu unendlich« (Hirschfeld 1910: 12). Was man aus diesen frühen Überlegungen zur Intersexualität zusammenfassend lernen kann: Unter hybriden Bedingungen muss die gesuchte Entscheidungslogik und das daran anschließende Entscheidungsmodell sowohl analytisch-zweiwertige Unterscheidungen als auch unendlichwertige Unterscheidungen analysieren können. 21

H YBRIDES E NTSCHEIDUNGSHANDELN Hybridität meint folglich, dass man zwischen scheinbar offensichtlichen Dualen – Freund/Feind, Krieg/Frieden, Leben/Tod, Markt/Hierarchie, Fiktion/Realität, (siehe Beck 2004) – nicht mehr zweiwertig, sondern nur noch unendlichwertig diskriminieren kann. 22 Wenn diese Beschreibung der Gesellschaftskomplexität richtig ist, dann kann man weiterfragen, welche Auswirkungen dies für das Entscheidungshandeln der Akteure hat (vgl. Böhle/Weihrich 2009)! Jede Entscheidung und damit jedes Risiko wird – in Abhängigkeit von dem Grad, zu dem die eine Seite der Entscheidung (›Entweder‹) der anderen Seite (›Oder‹) entspricht – damit ungewiss, weil Wahrscheinlichkeiten nicht angebbar sind: Selbst wenn man alle Informationen über die biologischen Parameter einer intersexuellen Person zur Verfügung hat, lässt sich keine Wahrscheinlichkeit angeben, zu der diese Person eine Frau oder ein Mann ist, weil es hier gar nicht um Wahrscheinlichkeiten,

21 Anders formuliert: Die gesuchte Entscheidungslogik muss sich selbst beinhalten und demzufolge auf sich selbst anwendbar sein – ein Merkmal jeder richtigen Theorie. Theorien, die mit einer zweiwertigen Logik arbeiten, leisten dies nicht (vgl. Luhmann 1987: 37). 22 Beck (2006) selbst hält »Hybridität« für ein »Wortmonster«, vor allem kritisiert er (2006: 257), dass das Konzept der Hybridität immer noch mittels einer zweiwertigen Logik fundiert werde. Dies stimmt für Latour, nicht aber für die hier vorgeschlagene Deutung von Hybriden.

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sondern um Zugehörigkeiten geht. Um derartige Phänomene mit graduellen Zugehörigkeiten angemessen erfassen zu können, muss die Soziologie, so Beck, ihr methodologisches Arsenal anpassen, d.h. den sozialwissenschaftlichen Begriffsrahmen modifizieren und das darauf bezogene Denken in Dualismen, Binaritäten, zweiwertigen Unterscheidungen umstellen auf ein Denken, das die Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichkeiten zulässt – von einem »Entweder-Oder« zu einem »Sowohl-Als-Auch« (Beck/Bonß/Lau 2001: 16). Sowohl Mann als auch Frau – das wäre die Logik, die die Sozialarbeiterin in unserem Beispiel anwenden müsste. Doch wie kann das im Entscheidungshandeln funktionieren? Beck/Bonß/Lau (2004: 28ff.) haben selbst dazu einige empirisch orientierte Anregungen gegeben, wie Akteure unter hybriden Bedingungen entscheiden. Zum einen gibt es jene Strategien, die versuchen, der hybriden Situation noch Eindeutigkeiten abzutrotzen: Marginalisierung bedeutet dann, dass Hybride als Residuale zu vernachlässigen sind, weil man meint, dass sich die ›normalen‹ Verhältnisse doch durchsetzen werden. Verzeitlichung dagegen nutzt die Zeitdimension, um die gesuchte Eindeutigkeit in die Zukunft zu verschieben, wenn die Gegenwart sich uneindeutig präsentiert. 23 Ontologisierung besteht in der »Rückführung auf natürliche Tatsachen oder anthropologische Selbstverständlichkeiten« (Beck/Bonß/Lau 2004: 30), um aus diesen scheinbaren Selbstverständlichkeiten eindeutige Zwangläufigkeiten ableiten zu können. Unter Monopolisierung wird der Versuch verstanden, Eindeutigkeiten per definitionem zu produzieren, etwa indem man rechtliche Regelungen implementiert. Die formal-institutionalisierte Eindeutigkeit soll Entscheidungssicherheiten generieren. Je mehr sich die Hybride vermehren und eine andere Entscheidungslogik zwingend wird, desto mehr führen diese Strategien nicht zum gewünschten Erfolg. Folglich werden andere Strategien angewandt, die weniger auf die Vermeidung, sondern mehr auf den Umgang mit Uneindeutigkeiten zielen (siehe Beck/Bonß/Lau 2004: 33ff.): Im bereichsspezifischen Pluralismus wird eine vormalig eindeutige Grenzdefinition durch mehrere Definitionen innerhalb desselben sozialen Feldes ersetzt, etwa die ehemals eindeutige Grenze zwischen Männern und Frauen durch mehrere, den verschiedenen Intersexes entsprechenden Definitionen. 24 Der plurale Kompromiss versucht

23 Das ist die Strategie der luhmannschen Systemtheorie, die Grenzvagheiten u.a. durch ein Oszillieren zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung zu begegnen gedenkt. Die hybride Ausgangssituation wird unterstelltermaßen somit »nicht auf die Komplexität des Gegenstandbereichs […] zurückgeführt.« (Beck/Bonß/Lau 2004: 29) Anders formuliert, die sachliche Hybridität soll hier zeitlich aufgefangen werden. 24 Dies entspricht dem formtheoretischen Umgang mit (Un-)Eindeutigkeiten, für jedes neuartige Grenzphänomen eine neue Form (Unterscheidung) in Anschlag zu bringen (vgl. Luhmann 2004: 74 am Beispiel des Hermaphroditen). Auch Keil

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darüber hinaus, die der Uneindeutigkeit zugrundeliegenden Widersprüchlichkeiten in eine Kompromissformel zu integrieren. Wenn man z.B. keine eindeutige Grenze des Beginns von ›Leben‹ generieren kann, dann kann man rechtliche Regelungen einführen, die z.B. einen Schwangerschaftsabbruch verbieten, aber unter bestimmten Auflagen nicht unter Strafe stellen. Bei einem hierarchisch geordneten Pluralismus werden die verschiedenen hybriden Entitäten als Optionen anerkannt, z.B. die verschiedenen Intersexes, aber eine von diesen gilt als ›normal‹ und somit als übergeordnet. Man anerkennt etwa völlig unterschiedliche Arbeitszeitmodelle, hält die vollbeschäftige Erwerbsarbeit aber trotzdem für die Normalform. Die unstrukturierte Pluralität dagegen sieht die gerade genannten Entitäten als gleichrangig. Beck/Bonß/Lau (2004: 37f.) sprechen hier von einer postmodernen ›anything-goes‹-Strategie, die folglich kaum Entscheidungsorientierungen liefern kann und auch institutionelle Entscheidungsverfahren prinzipiell überfordert. Gleichwohl ist man bei dieser Strategie dem unendlichwertigen Unterscheiden am nächsten. Die Frage ist nur, wie diese in eine ouverte Entscheidung überführt werden kann. Dazu gleich mehr. Zunächst bietet eine Verschränkung der Alternativen die Möglichkeit, die an und für sich uneindeutigen, hybriden Entitäten in ein komplementäres Verhältnis zu bringen. 25 Im Anschluss an Latour, der eine Auflösung von zweiwertigen Unterscheidungen im Sinne des Weder-Noch bevorzugt, 26 ist die Grenzauflösung eine abstrakt mögliche, aber sozial z.B. aus Gründen der dann fehlenden Verantwortungszuschreibungschance eine kaum realisierbare Option des Umgangs mit hybriden Vagheiten. Höchstens sieht man die Möglichkeit, dass überkommene Grenzen im Sinne einer Synthese in qualitativ neue Formen

(2010) meint, dem Problem des Hybriden mit einer Kontextualisierung in der Sozialdimension ausweichen zu können, ohne sich aber selbst dabei als Beobachter zu kontextualisieren: Wenn man die Unterscheidung von wahr/unwahr schon zweiwertig ansetzt, um diese Bivalenz dann von vagen Prädikaten zu unterscheiden, wie begründet man dann – außer rein definitorisch –, dass die Unterscheidung von wahr und unwahr selbst wahr ist? Und was tut man, wenn ein anderer Beobachter begründet, dass dies nur teilweise zutrifft? 25 Beck/Bonß/Lau (2006: 39) sprechen auch von »hybriden Kombinationen«, werden damit aber nicht der hier gemeinten Hybridität gerecht, bei der Etwas seinem Gegenteil entspricht und nicht nur dessen Komplement ist. 26 »Ich habe daher die meisten der geometrischen Metaphern zum ›Symmetrieprinzip‹ aufgegeben, als ich bemerken musste, dass die Leser daraus den Schluss zogen, dass Natur und Gesellschaft ›gemeinsam aufrechterhalten‹ werden sollten, um eine ›symmetrische‹ Untersuchung von ›Objekten‹ und ›Subjekten‹, ›nichtmenschlichen Wesen‹ und ›Menschen‹ durchzuführen. Doch im Sinne hatte ich keineswegs und, sondern weder – noch: eine gleichzeitige Auflösung beider Kollektoren. Das letzte, was ich wollte, war, Natur und Gesellschaft mittels ›Symmetrie‹ neues Leben einzuhauchen.« (Latour 2007: 131, Fn. 22)

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eingehen. Sequenzialisierung bezieht sich wiederum auf die Zeitdimension, nur dass diesmal verschiedene Grenzdefinitionen im zeitlichen Wechsel angewandt werden. Schließlich kann man eine Grenzfestlegung als unveränderlich erklären, was einem reflexiven Dezisionismus entspricht. Diese Strategien sind Versuche, einen Umgang mit den nun anerkannten Grenzvagheiten zu entwickeln. Sie ähneln jener Heuristik des Entscheidungshandelns, die Schimank (2005: 237ff.) vermutlich unter dem Begriff des Inkrementalismus subsummieren könnte, der eine Möglichkeit andeutet, dem Handeln noch Rationalität abzutrotzen, obwohl die Komplexität der Gesellschaft ein Niveau erreicht hat, das weder eindeutige normative Orientierungen, noch klare Zweck-Mittel-Bündnisse erlaubt. Inkrementalismus könnte man mit ›Sich-Durchwursteln‹ übersetzen: Man hangelt sich entlang der sich aufdrängenden Entscheidungsprobleme, ohne irgendwelche Formen der Prävention einzusetzen. Vor allem aber sind diese Strategien generalisierende Beschreibungen der Versuche von Akteuren; sie zeichnen die empirischen Antworten auf die Komplexität der Gegenwartsgesellschaft nach, indem sie den Spuren der Akteure folgen. Eine andere Frage ist, mit welchem Entscheidungsmodell man das Handeln der Akteure soziologisch generalisierend erfassen und analysieren kann. Folgt man etwa Schimanks (2000) akteurtheoretischer Soziologie, dann stehen der Soziologie mit dem homo sociologicus und dem homo oeconomicus (ergänzt um den Emotional Man und den Identitätsbehaupter) etablierte Modelle des Entscheidungshandelns zur Verfügung. Genügen diese Akteurmodelle auch unter der Rahmenbedingung der Vermehrung der Hybriden in einer reflexiv modernisierten Gesellschaft? Einerseits glaubt Schimank nicht, dass die Theorie reflexiver Modernisierung eine neue Handlungstheorie benötigt, »denn das Neue lässt sich mit bewährten, weil weiterhin tauglichen Konzepten und Modellen deuten.« (Schimank 2009: 91) Andererseits sieht er (2005) sehr wohl, dass die Gegenwartsgesellschaften derart an Komplexität zunehmen, dass offensichtlich die in seiner Akteurtheorie verwendeten, soziologisch etablierten Akteurmodelle alleine nicht ausreichen, um das Entscheidungshandeln hinreichend zu beschreiben. Zudem wird in seiner (2009: 78ff.) Rekonstruktion der Kernthesen der Theorie reflexiver Modernisierung nicht der von Beck immer wieder betonte »Meta-Wandel«, der Wandel der Prinzipien des Wandels, aufgeführt, welcher eine neue Methodologie (»methodologischer Kosmopolitismus«) zur soziologischen Analyse erzwingt: Die hybride Komplexität der reflexiven Gegenwartsgesellschaft bedeutet für das Entscheidungshandeln der Akteure, dass diese auch immer mehr mit hybriden Sowohl-als-Auch-Situationen zurechtkommen müssen. Wie damit akteurtheoretisch umzugehen ist, bleibt bei Schimank folglich offen. Genauer: Unbeantwortet war bislang, wie man die von Schimank angeführten, soziologisch etablierten Akteurmodelle jener der von Beck geforderten Logik des Sowohl-als-Auch anpassen kann. Dies wiederum leistet nun das Modell des hybriden Akteurs (Kron 2005a, 2006).

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D AS M ODELL

DES HYBRIDEN

AKTEURS

Das Modell des hybriden Akteurs ist hierarchisch angelegt. Die abstrakteste Ebene nehmen Akteurmodelle ein, die als Rahmungssets den sogenannten ›Sozialcharakter‹ des Agenten ausmachen. Daran schließt auf der nächst untergeordneten Ebene die Sozialcharakter-Spezifikation an, in der es wesentlich darum geht, die abstrakten Akteurmodelle mit je spezifischen Handlungsalternativen und Handlungsfolgen anzureichern. Hier findet bereits eine erste Verknüpfung zu der (durchaus auch hybriden) Situation statt, in welche der Akteur eingebettet ist. Bei der anschließenden Regelebene geht es weiter darum aufzuzeigen, respektive zu modellieren, wie Akteure anhand dieser Situation Erwartungen und Bewertungen generieren, auf deren Basis sie schließlich ihre Handlungsentscheidungen treffen, womit die letzte Ebene – die Selektionsebene – bezeichnet ist. Mit der Wahl einer Handlung, die schließlich ouvert wird, folgt abschließend eine Veränderung der Parameter der Situation, was wiederum dazu führt, dass Akteure auf Basis geänderter Umweltparameter neuerlich den Entscheidungsprozess initiieren müssen – hier schließt sich das Modell dynamisch. Schauen wir uns dieses nun etwas genauer an. Die von Schimank vorgelegten Akteurmodelle werden in dem Modell des hybriden Akteurs als brauchbare ›tools‹ aus einem allgemeinen soziologischen Werkzeugkasten gedeutet. 27 Mit Hilfe der Akteurmodelle gelingt es, die Definition der Situation, also die Verknüpfung der relevanten Umweltparameter mit den Akteureigenschaften, vorzunehmen. D.h. jedes Akteurmodell wird im Hinblick auf die es tangierenden Umweltparameter spezifiziert. Unterstellt wird demnach, dass analytisch mit Akteurmodellen alle soziologisch relevanten Faktoren der Situationsdefinition ausreichend erfasst

27 Neben den schon genannten Akteurmodellen sind prinzipiell auch weitere Akteurtypen denkbar, etwa das Akteurmodell des homo politicus, dessen Handlungsorientierung an Effektivitätskriterien ausgerichtet ist. Allerdings darf man nicht den Fehlschluss tätigen, dass es sich hierbei um ein wahlloses Vorgehen handelt. Akteurmodelle, die als Erweiterung fungieren könnten, müssen empirisch und theoretisch eingeführt werden. Insofern ist die vorgebrachte Kritik Etzrodts (2007), es handele sich im Falle des Modell des hybriden Akteurs um eine nicht-falsifizierbare Handlungstheorie, weil sie nichts auszuschließen vermag, keineswegs zutreffend: Die Kritik ist logisch falsch, weil immer Akteurmodelle ausgeschlossen werden, da es sich ja um einen prinzipiell kontingenten ›Akteurmodell-Raum‹ handelt. Weiterhin müssen sich alle verwendeten Akteurmodelle als erklärungsmächtig und empirisch plausibel erweisen können. Zudem ist zu überdenken, dass auf der Regel-Ebene ›Ausnahmen‹ modelliert werden können, die nicht notwendig ein neues Akteurmodell implizieren. Man wird also sparsam mit Erweiterungen auf der Akteurmodell-Ebene umgehen, um nicht unnötig die Komplexität des Parameterraums durch Hinzunahme neuer Elemente zu steigern.

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sind, also all jene Parameter, auf die ein Akteur reagiert: Der homo sociologicus beachtet die situationsspezifisch gegebenen, sozial erwarteten Normen; der Identitätsbehaupter nimmt die Umwelt hinsichtlich potenzieller Identitätsgefährdungen bzw. -bestätigungen wahr; der emotional man hingegen wird Auslöser von Emotionen beachten; der homo politicus wird die Umweltsituation schnellst möglich im Hinblick auf eine ›effektive Problemlösung‹ hin interpretieren; wohingegen der homo oeconomicus im Sinne einer effizienten Kosten-Nutzen-Kalkulation prinzipiell alle Umweltparameter seiner Handlungsentscheidung zugrunde legen wird. Die Modellierung der Verknüpfung der Akteurmodelle, resp. deren Eigenschaften mit der sozialen Situation, erfolgt formal mit Hilfe der Werterwartungstheorie. D.h. für alle Akteurmodelle müssen Handlungsalternativen und Handlungsfolgen spezifiziert werden und zwar immer mit (empirischem) Seitenblick auf die soziale Situation. Einfacher gewendet: Handlungsfolgen und Handlungskonsequenzen variieren bei gegebener sozialer Situation mit jedem Akteurmodell. An dieser Stelle wird eine Besonderheit des akteurtheoretischen Bezugsrahmens eingeführt: hybride Frames. Der ›Sozialcharakter‹ ist selten ausschließlich homo sociologicus oder homo politicus oder homo oeconomicus oder Identitätsbehaupter oder emotional man, sondern zumeist ein Hybrid dieser (wenn auch nicht immer aller) Akteurmodelle. Anders ausgedrückt: Akteure sind immer ein wenig emotional in sozialen Situation involviert und normativ orientiert, die eigene Identität spielt mal mehr, mal weniger – je nach situativem Kontext – eine gewichtige Rolle und sie verfolgen mit unterschiedlicher Aufmerksamkeit ihre Ziele effizient und effektiv. So entsteht ein hybrider Sozialcharakter, der die Eigenschaften aller Akteurmodelle in unterschiedlichen Ausprägungen vereint. Die subjektiven Erwartungsgewichte ergeben sich formal über die Addition der im komplexen Sozialcharakter synthetisierten Akteurmodelle, gewichtet um den prozentualen Anteil der Akteurmodelle. D.h. für jedes Akteurmodell wird der subjektiverwartete Nutzen über alle Handlungsalternativen und Handlungskonsequenzen hinweg spezifiziert und dann anteilig in die Berechnung des subjektiv-erwarteten Nutzens des hybriden Akteurs einbezogen. 28 Damit wäre

28 Man kann auf diese Weise einen hybriden ›Sozial-Charakter‹ über unterschiedliche Gewichtungen der einzelnen Akteurmodelle kreieren. Mit anderen Worten: Die Einstellungen der Gewichtungen aller Akteurmodelle ›moderiert‹ die Parameterbelegung der Wert-Erwartungstheorie entsprechend der Vorstellungen des Soziologen über den symbiotischen Frame (und d.h. gemäß der Untersuchungssituation). Man kann nun sehr einfach mehrere Akteurmodelle miteinander kombinieren, ohne direkt auch zugleich mehrere verschiedene Selektionslogiken modellieren zu müssen. Z.B. kann man sich einen ›dreigeteilten‹ Sozialcharakter vorstellen, der sich anteilig (je ein Drittel) aus einem emotional man, Identitätsbehaupter und homo politicus zusammensetzt. Der subjektiv-erwartete Nutzen ist

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die erste Ebene des Modells des hybriden Akteurs dargestellt. Zu klären ist nun, wie die Akteure an ihre Erwartungen für die einzelnen Folgen der Handlungsalternativen kommen. Auch auf der Regel-Ebene wird eine weitreichende theoretische Entscheidung insofern getroffen, als das Modell des hybriden Akteurs anstatt auf Wahrscheinlichkeiten auf Möglichkeiten in der Erwartungsbildung abstellt. 29 Diese Entscheidung für eine Möglichkeits- im Gegensatz zu einer Wahrscheinlichkeitslogik (Possibilistik vs. Probabilistik) resultiert u.a. aus der oben genannten Kritik an der Entscheidungstheorie, die zwar theoretisch Ambiguitäten im Entscheidungsprozess vorsieht, jedoch systematisch de facto nicht berücksichtigt, dass Akteure nicht nur sicher oder ungewiss in ihren eigenen Erwartungen, sondern überwiegend unsicher bezüglich der (Un-)Sicherheit eigener Erwartungen sind. An diesem Punkt setzt die sogenannte fuzzy-logische Modellierung von Erwartungen an. Hier en detail auf die Fuzzy-Logik einzugehen ist nicht möglich, daher sei ›lediglich‹ das dahinterstehende Denkprinzip erläutert. 30 Fuzzy-Logik ist eine exakte mathematische Methode, die mit Möglichkeiten rechnet. Im Gegensatz zur Wahrscheinlichkeitstheorie, die danach fragt, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Ereignis eintreten wird, fragt die Fuzzy-Logik danach, inwieweit ein Ereignis eintreten kann, also zu welchem Grad es möglich ist, dass etwas geschieht. Wahrscheinlichkeiten drücken aus, dass ein Ereignis, das in der Vergangenheit bereits schon einmal eingetreten ist, mit einem gewissen Risiko auch in der Zukunft eintreten wird, d.h. von der Vergangenheit wird auf die Zukunft hochgerechnet. Fuzzy-Logik hingegen fokussiert die Gegenwart und den Einzelfall. Daher sind Möglichkeiten besser geeignet, um Einzelentscheidungen zu beschreiben – was nützt das Wissen um die generelle Wahrscheinlichkeit der Gefahr des GAUs bei Atomkraftwerken, wenn man ein neues Atomkraftwerk in ihrer Nähe bauen möchte? Wenn wir es als Soziologen mit gegenwärtigen Entscheidungen, die in mehr oder weniger einmaligen, hybriden situativen Kontexten mit einer prinzipiell offenen Zukunft getroffen werden, zu tun haben, dann muss man berücksichtigen, dass diese Entscheidungen immer zu einem gewissen Grade vage sind. Fuzzy-Logik bildet also einen grund-

dann die Summe aus den einzelnen akteurspezifischen Erwartungsgewichten für die entsprechenden Handlungsalternativen, also: 1/3 EUemotional man/HAi + 1/3 EUIdentitätsbehaupter/HAi + 1/3EUhomo politicus/HAi = EUHybrider Akteur/HAi. 29 »Eine Entscheidungstheorie, die [...] von der Komplexität des Möglichen absähe, würde jedoch ihren Gegenstand verfehlen. Sie muss vielmehr umgekehrt Komplexität auf der Ebene des Möglichen messen« (Luhmann 2009: 11). 30 Für eine detaillierte Darstellung und Einschätzung der Bedeutung von FuzzyLogik für die Soziologie siehe vor allem den gleichnamigen Beitrag von Kron (2005b).

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sätzlich unscharf entscheidenden Akteur ab, der sich immer wieder neu in sozialen Kontexten, obschon erfahrungsgeleitet, 31 orientieren muss. 32 Zugleich erlaubt die Fuzzy-Logik als ingenieurwissenschaftlich inspirierte Steuerungs- bzw. Modellierungstechnik, ›näher am Akteur‹ die sogenannten Brückenhypothesen, also die Verknüpfung von hybrider Situation und Akteur, zu formulieren, da die Modellierung entlang von sprachlich verfassten Wenn-Dann-Regeln erfolgt. Obschon hinter diesen Regeln numerische Wertbereiche stehen, kommen sie aufgrund der berücksichtigten Unschärfe der dahinterliegenden Wertbereiche dem Umstand nahe, dass auch Akteure Handlungsalternativen und deren Konsequenzen mit Hilfe von Wenn-Dann-Regeln denken. In einem: Die Formalisierung sinnsemantischer Ereignisse mittels Fuzzy-Logik liegt nahe an der Lebenswelt der Menschen. Solange diese Lebenswelt relativ eindeutig zugeschnitten war, konnten die Sozialwissenschaften mit zweiwertigen Modellen gut arbeiten. Aber unter der Bedingung reflexiver Modernisierung mit der Vermehrung der Hybriden und der Zunahme von Grenzvagheiten genügen zweiwertig konstruierte Modelle nicht mehr. Die Fuzzy-Logik bietet die Chance, die Forderung nach einem ›epistemological turn‹ in Richtung eines ›methodologischen Kosmopolitismus‹ einzulösen. Die entscheidende Erweiterung der Modellierung mit Hilfe von fuzzylogischen Wenn-Dann-Regeln ist in dem Modell des hybriden Akteurs die prinzipielle Berücksichtigung von Vagheiten (Ambiguitäten) im Entscheidungsprozess sowie der methodische Vorteil, dass es nunmehr relativ einfach gelingen kann, die Situationsparameter über einfache Wenn-Dann-

31 Erfahrungsgeleitet meint, dass Akteure aufgrund ihrer Lern- und Sozialisationsbiographie zu einem gewissen Grade Erwartungen sicher prozessieren können. Das wiederum beinhaltet, dass nicht ausgeschlossen, sondern gegenteilig notwendig eingeschlossen wird, dass es ›perfekte‹ im Sinne von vollkommen sicheren sowie ›imperfekte‹ im Sinne von vollkommen unsicheren Erwartungen theoretisch, gleichwohl praktisch vermutlich eher seltener, geben kann, sogar geben können muss, denn es bedarf formal-theoretisch eindeutiger Grenzen zur Bezeichnung (und Berechnung) von Vagheiten (!) – ein Element ist immer nur relativ zu einem eindeutig bestimmten Element unscharf, etwa wenn die Prädikate des unscharfen Elements nur graduell die Ausprägung des eindeutigen Elements aufweisen. Aber auch im alltäglichen Wahrnehmungsprozess finden sich solche Vagheiten immer nur relativ zu eindeutig (idealtypisch) konstruierten Einheiten. Der Leser denke etwa an die ›rabenschwarze Nacht‹, welche per definitionem das eine Extrem des Tageslichts bezeichnet. Dagegen steht das andere Extrem des ›gleißenden Sonnenlichts‹. Zwischen diesen Extremen finden sich dann vielfältige Ausprägungen, die man (umgangs-)sprachlich zu fassen versucht, wie etwa das Dämmerlicht, die Morgenröte etc. 32 Oder allgemeiner formuliert: Fuzzy-Logik bezieht sich auf die »uncertainty of the system per se« (Zhang/Brody/Whright 1994: 172).

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Regeln mit dem Akteur zu verknüpfen. Eine Erwartung ist so gesehen nichts anderes als eine mehr oder weniger vage Wenn-Dann-Regel. So kann schließlich der prinzipiellen Vagheit von Erwartungen Rechnung getragen werden, indem für die einer Handlungsalternative entsprechende Erwartung p nunmehr in Anschlag gebracht wird, dass dieses p nur graduell sicher ist. Eine Erwartung p, die nur zu einem gewissen Anteil sicher ist, ist folglich nicht nur unsicher bzw. riskant, sondern vielmehr tritt in allen Fällen, in denen Akteure einen Erwartungswert p zwischen den Extremen absolute Sicherheit und absolute Unsicherheit ausbilden, hinzu: Akteure sind unsicher darüber, wie sicher sie über ihre Erwartungen sein können. Formal wird diese Unsicherheit durch den Parameter Erwartungsvagheit EV ausgedrückt. 33 Das Wert-Erwartungsgewicht berechnet sich somit aus der Summe der Erwartungswerte, multipliziert mit der Differenz von sicherer Erwartung und Erwartungsvagheit, multipliziert mit einem Nutzenwert: EUi = pij * (1-EVij) * Uj. Daraus folgt, dass ein Akteur, welcher gänzlich unsicher hinsichtlich seiner Erwartung ist (EV = 1) bei noch so hohem Nutzen der Handlungskonsequenz diese Handlungsalternative nicht wählen wird, da das Erwartungsgewicht – gemäß der Formel – gleich Null ist. Diese Formalisierung entspricht genau jener ›alltagstypischen‹ Beobachtung, dass Akteure eine Handlungsalternative selbst dann nicht wählen, wenn zwar einerseits deren Handlungskonsequenz durchaus sehr verlockend ist, sie aber andererseits keinerlei Anzeichen dafür haben, dass diese Handlungskonsequenz eintreten könnte – getreu der lebensweltlichen Regel, dass einem der Spatz in der Hand doch lieber ist als die Taube auf dem Dach. Auch hier zeigt sich, dass Akteure nicht mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten, sondern mit Hilfe von Möglichkeiten ihren Handlungserfolg abwägen. Lediglich im Falle, dass der Akteur absolut sicher hinsichtlich seiner Erwartungen sein kann, greift die gängige Modellierung von Erwartungswerten gemäß der Werterwartungstheorie mittels Wahrscheinlichkeiten. Dass Akteure prinzipiell, wenn auch in unterschiedlichem Maße, unsicher über ihre Erwartungen hinsichtlich des Eintritts bestimmter Handlungskonsequenzen sind, erklärt sich einfach über die begrenzte, oder besser gesagt: imperfekte Rationalität der Akteure. Wenn wir davon sprechen, dass wir es mit prinzipiell vagen Entscheidern zu tun haben, dann bezieht sich dies nicht nur auf die – nunmehr in der Soziologie gängige – Sicht auf Ak-

33 Die Erwartungsvagheit wird als »fuzzy-logische Entropie« verstanden: »Entropie meint den Grad der Ungewissheit oder Unordnung in einem System. Eine Menge beschreibt ein System oder eine Ansammlung von Dingen. Wenn die Menge fuzzig ist, wenn Elemente nur zu einem gewissen Grad zu ihr gehören, dann ist die Menge zu einem gewissen Grad unbestimmt oder vage. Die fuzzy-logische Entropie misst diesen Grad.« (Kosko 1995: 154) Die Entropie (Erwartungsvagheit) kann sehr einfach direkt aus den fuzzy-logisch modellierten Erwartungsmengen berechnet werden.

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teure, die niemals vollständig informiert sind und über eine Vielzahl von Heuristiken verfügen, die es ihnen ermöglichen, in sozialen Situationen ihr Handeln zu orientieren und zu vollziehen. Ähnlich argumentieren ja auch schon jene Autoren, die die variable Rationalität der Akteure betonen (etwa Schimank, Esser und Kroneberg; vgl. Kron/Winter 2009). Esser und Kroneberg beziehen die begrenzte Rationalität von Akteuren allerdings auf einen Teil der unterschiedlich angewandten Modi der Handlungsentscheidungen. Im Modell des hybriden Akteurs werden diese Modi hingegen nicht unterschieden, sondern eher wie bei Schimank ist die begrenzte Rationalität immer mehr oder weniger im Entscheidungshandeln impliziert. Darüber hinaus meint prinzipiell vages Entscheiden vor allem, dass Grenzvagheiten durch perfekte Informiertheit nicht aufzuheben sind und dass derartige Hybridität sich im Entscheidungshandeln ausdrückt. Die Grenze des Lebensbeginns ist z.B. offensichtlich nicht eindeutig festzulegen, auch wenn (oder gerade weil!) wir nahezu perfekt informiert über die lebensrelevanten, biologischmedizinischen Daten sind. Im Modell des hybriden Akteurs kann man zudem erkennen, dass ein Zusammenhang zwischen Erwartungsvagheit und dem Grad der Rationalität besteht (vgl. Kron 2005a: 247ff.). Die variable Rationalität zeigt sich, wenn es den Akteuren darum geht, mit Erwartungsvagheiten umzugehen. Am augenscheinlichsten ist dies im Falle routinisierter Handlungsvollzüge. Unter einer Routine kann ein Entscheidungshandeln ohne bewusste Entscheidung verstanden werden, d.h. Routinehandeln bedeutet, dass sich ein Akteur im Laufe der Zeit die Kalkulation der Handlungsalternativen erspart und so handelt, wie er dies schon vorher getan hat. Die Modellierung von Routinehandeln im Modell des hybriden Akteurs setzt an der Erwartungsvagheit der Akteure an, sodass eine Routine dann befolgt wird, wenn der Akteur möglichst sicher über seine Erwartungen, d.h. wenn die Erwartungsvagheit gering ist. Soziologisch interessant ist, dass Handlungen unter Routine selbst dann noch ›gewählt‹ werden, obschon u.U. der erwartete Nutzen einer Handlungsalternative höher bewertet wird, der Akteur jedoch unsicher hinsichtlich seiner Erwartung an diese Alternative ist. Routinen sind in diesem Sinne selbstverstärkend insofern, als sie sich gegen Anreize aus der Umwelt schließen. Allgemein lässt sich hier also festhalten, dass im Modell des hybriden Akteurs die Regelebene aus Skripten in Form von Wenn-Dann-Regeln besteht, welche systematisch die Erwartungsvagheit der Akteure hinsichtlich ihrer Erwartungen berücksichtigen. Damit gibt es aber noch keine ›eigentliche‹ Handlung. Bislang ist lediglich beschrieben, wie Akteure sich in sozialen Situationen orientieren. Zur Modellierung der Entscheidung einer konkreten Handlungsalternative wird eine zusätzliche Modifikation der WertErwartungstheorie vorgeschlagen (vgl. Kron 2005a: 276). Diese zweite Modifikation der Wert-Erwartungstheorie neben der Umstellung von Wahrscheinlichkeiten auf Möglichkeiten besteht darin, dass die Maximierungsprämisse relativiert wird. Träfe die Maximierungsprämisse

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zu, so würde jeder noch so kleine Unterschied in den Wert-Erwartungswerten dazu führen, dass immer diejenige Handlungsalternative mit dem höchsten erwarteten Nutzen gewählt werden würde. Um diese unrealistische Annahme aufzugeben, dass kleinste Unterschiede (etwa EUi = 1, EUj = 1.0000001) einen so gewaltigen Ausschlag geben, wird eine probabilistische Auswahl mit unterschiedlichen Gewichtungen der erwarteten Nutzenwerte implementiert: Anstatt die Handlungen mit den größten Nutzen auszuwählen, wird ein Wert zufällig und proportional zum erwarteten Nutzen EUi ermittelt. D.h. es ist nun möglich zu modellieren, dass eine Handlungsalternative umso eher gewählt wird, je größer der dazugehörige EUWert von dem EU-Wert einer Handlungsalternative differiert. 34 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Modell des hybriden Akteurs eine formale Erweiterung der Akteurmodelle Schimanks ist, die sich insbesondere in der Annahme hybrider Frames zeigt. Darüber hinaus berücksichtigt diese Modellierung einer Handlungsentscheidung systematisch, dass Akteure nur selten vollständig sicher hinsichtlich ihrer Erwartungen über das Eintreffen einer Handlungskonsequenz sind, gegenteilig ist davon auszugehen, dass Akteure mehr oder weniger vage Erwartungen ausbilden. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Akteure in hybriden Umwelten vage Entscheider mit begrenzter Rationalität sind, stellt der das Modell von Wahrscheinlichkeiten auf Möglichkeiten um. Die Fuzzy-Logik erweist sich in zweierlei Hinsicht hilfreich: Zum einen erlaubt sie es, nah am Akteur mit linguistischen Variablen zu modellieren, indem sie mit einfachen, sprachlich verfassten Wenn-Dann-Regeln auskommt. Zum anderen berücksichtigt sie – mit mathematischer Präzision –, dass es sich bei Wenn-Dann-Regeln zumeist um unsichere bzw. vage Formulierungen handelt, etwa wenn man das Geschlecht einer Person zu beschreiben versucht.

34 Bei einer Entscheidung zwischen zwei EU-Werten von EUi = 9 und EUj = 1 könnte dies z.B. bedeuten, dass die Handlungsalternative HAi mit 90%iger und die HAj mit 10%iger Wahrscheinlichkeit gewählt werden würde. Dies ist u.U. je nach sozialer Situation eine ebenso unrealistische Annahme wie die Unterstellung, dass ein minimaler Unterschied einen so deutlichen Effekt im Entscheidungshandeln zeitigt. Es ist für die meisten Situationen unrealistisch anzunehmen, dass ein Akteur mit einer so deutlichen Differenz in den erwarteten Nutzenwerten doch noch die schlechtere Handlungsalternative wählen würde. Daher werden die Nutzenwerte einf                    "#$*@  #$\