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German Pages 296 Year 2014
Thomas Hauck Landschaft und Gestaltung
Edition Kulturwissenschaft | Band 49
Thomas Hauck (Dr.-Ing.) forscht und lehrt an der Universität Kassel im Bereich Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung.
Thomas Hauck
Landschaft und Gestaltung Die Vergegenständlichung ästhetischer Ideen am Beispiel von »Landschaft«
Diese Studie entstand als Dissertation am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur und öffentlichen Raum der Fakultät für Architektur an der Technischen Universität München. Die Publikation wurde von der Werner Konrad Marschall und Dr.-Ing Horst Karl Marschall Stiftung gefördert.
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Inhalt 1. Einleitung | 9
1.1 Problemstellung, Thesen und Vorgehen | 9 1.2 Einordnung dieser Studie Bezug nehmend auf verschiedene Verständnisse von „Landschaft“ in Theorie und Praxis | 23 1.3 Aufbau der Studie | 29 2. Ästhetische Gegenstände in Kants Kritik der Urteilskraft | 33
2.1 Drei Arten ästhetischer Gegenstände: Angenehme Gegenstände, Gegenstände freier Schönheit, Gegenstände anhängender Schönheit | 36 2.2 Drei Arten von Zweckmäßigkeit: Subjektive Zweckmäßigkeit, formale subjektive Zweckmäßigkeit, eingeschränkte formale subjektive Zweckmäßigkeit | 39 2.3 Drei Lebensgefühle des Subjekts: Wohlgefallen am Angenehmen, Wohlgefallen am Schönen, Wohlgefallen am anhängend Schönen | 42 2.4 Naturschönheiten und Kunstschönheiten | 48 2.5 Schöne Gebrauchsgegenstände | 54 3. „Landschaft“ als Kunstgegenstand und Muster | 57
3.1 Ästhetische Idee „Landschaft“ | 57 3.2 Aus reiner Augenlust | 63 3.3 Von der Augenlust zur ästhetischen Idee „Landschaft“ | 65 3.4 Von der ästhetischen Idee „Landschaft“ zum Muster | 69
4. „Landschaft“ als Gegenstand anhängender Schönheit | 73
4.1 Ästhetische Idee „Natürlichkeit“ | 75 4.2 Von der „Landschaft“ als Bild zum Landschaftsgarten | 79 4.3 Von der „Landschaft“ als Bild zur freien Landschaft | 90
5. Die Funktionalisierung des Ästhetischen bei Burke und Herder | 99
5.1 Der natürliche Geschmack | 100 5.2 Zwei Varianten funktionalistischer Ästhetik | 108 5.3 Der intuitive Verstand | 113 5.4 Die leidenden Sinne | 118 5.5 Das tastende Gefühl | 121 5.6 Die Medien Licht und Schall | 125 5.7 Das lebendige Ganze | 130 5.8 Hypostasierung des Schönen durch ästhetischen Funktionalismus | 136 6. „Landschaft“ als grüne Stadttechnik | 141
6.1 Olmsteds gesunde Freiräume für freie Bürger | 143 6.2 Die Erfüllung des Bedürfnisses nach natural scenery | 149 6.3 Die Herstellung von natural scenery als Aufgabe des Landschaftsarchitekten | 154 6.4 Vom urbanen Parksystem zum metropolitanen Freiflächensystem | 156 6.5 Die Rückbindung von Freiflächen an den genius of place | 159 6.6 Von der scenery zum Nutzwert | 161 7. Die Geografische Landschaft und ihre Pflege | 167
7.1 Die Verwissenschaftlichung des Reiseberichts | 168 7.2 Humboldts ästhetische Wissenschaft | 170 7.3 Von der freien Landschaft zur Kulturlandschaft | 175 7.4 Harmonische Raumentwicklung durch organische Planung | 179 8. Die Dialektik des Designdiskurses | 183
8.1 Die Antinomie des Geschmacks bei schönen Gebrauchsgegenständen | 187 8.2 Erste Auflösung der Antinomie des Designdiskurses: Design als Moderation | 204 8.3 Zweite Auflösung der Antinomie des Designdiskurses: Design als anhängende Schönheit | 206 8.4 Urteile über Designgegenstände sind nicht nur ästhetisch | 213
9. Die Dialektik des Diskurses der Landschaftsgestaltung | 217
9.1 Dialektik der Landschaftsgestaltung in Deutschland | 218 9.2 Dialektik der Landschaftsgestaltung in den USA | 222 9.3 Autonomie des ästhetischen Urteils in der Landschaftsgestaltung | 229 9.4 „Landschaft“ und Gestaltung | 263 Literatur | 281
Bildnachweis
| 292
Danksagung | 293
1. Einleitung
1.1 P ROBLEMSTELLUNG , T HESEN
UND
V ORGEHEN
„Die Sehnsucht nach künstlichen Gartenlandschaften, nach stilvoll manipulierter Natur, ist freilich bis heute nicht zum Erliegen gekommen. Wenn etwa literarische Phantasien in Gartenarchitektur umgesetzt werden, entstehen meist Chimären, künstliche Verkrüppelungen. Soweit es sich dabei nur um privat betriebene Liebhaberei handelte, wäre dagegen wohl wenig einzuwenden. Im Auge behalten werden sollte allerdings die Gefahr, dass hier zugleich eine öffentliche Mode aufkommt, die wenigen nützt und viel kostet. Die schlimme Konsequenz davon wäre, dass man das Grün dann erneut seiner (heute) entscheidenden Aufgabe beraubte: Bei allen baulichen Eingriffen in die Natur für einen Ausgleich der so entstandenen Verluste zu sorgen und dabei ein System von Spiel- und Erholungsräumen heranzubilden, das dem biologischen und psychischen Bedürfnissen der Menschen entspricht.“1
Dieses Zitat des Landschaftsarchitekten Günther Grzimek lässt eine Argumentationsstruktur erkennen, die man auf die zwei folgenden zusammenhängenden Argumente zuspitzen kann: Das Kunstvolle, Stilvolle, Phantastische, Literarische, Künstlerische, man könnte auch sagen die ästhetische Lust (als zweckfreie Freude über diese Dinge), übt einen großen Reiz auf uns Menschen aus. Sie erzeugt Sehnsucht. Sie macht süchtig. Solange das im Privaten und als Liebhaberei geschieht, ist das akzeptabel. Aber sobald diese ästhetische Lust (also die Freude über das Kunstvolle, Stilvolle, etc.) Selbstzweck wird, d.h. nichts nützt und viel kostet, ohne psychischen und physischen Bedürfnissen des Menschen zu dienen,
1
Günther Grzimek, Rainer Stephan: Der Park als Repräsentation, in: Bayerische Rückversicherung Aktiengesellschaft (Hg.): Die Besitzergreifung des Rasens, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, München 1983. S. 23f.
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erzeugt sie Chimären, Verkrüppelungen, nur einen Schein der Dinge, die diese Bedürfnisse befriedigen könnten. Die zweckfreie Lust am Ästhetischen führt zu Täuschung und Lüge und lenkt von den tatsächlichen und existentiellen Dingen ab. Im ersten Argument wird von Grzimek „stilvoll manipulierte Natur“ (also Gartenkunst) und Sehnsucht miteinander verbunden: Gartenkunstwerke erhalten dadurch so etwas wie ein Suchtpotential, das zur Abhängigkeit von den Reizen, die diese Gartenkunstwerke beim Rezipienten auslösen, führen kann. Dass es sich tatsächlich um eine Sehn-Sucht handelt, also um ein bereits pathologisch gewordenes Gefühl, und nicht nur um ein kurzfristiges Sehnen nach etwas Abwesenden, zeigt Grzimek, indem er die Dauerhaftigkeit dieser Sehnsucht betont, die „bis heute nicht zum Erliegen gekommen“2 ist. Diese Sehnsucht nach Gartenkunst wird, so das zweiten Argument, zur Gefahr, wenn sie von der Beschäftigung mit den tatsächlichen und existentiellen Problemen einer Gesellschaft ablenkt, wie dem Ausgleich von Eingriffen in die Natur und der Herstellung von nützlichen Spiel- und Erholungsräumen oder wenn, noch schlimmer, das Geld, das in die Lösung dieser Probleme gesteckt werden könnte, für die Erfüllung dieser Sehnsucht, d.h. die Herstellung von Gartenkunstwerken, verwendet wird. Grzimek bewegt sich mit dieser Argumentationsstruktur (gemeinsam mit vielen anderen aus der Profession der Landschaftsgestaltung – aber auch der Architektur und des Design) in einer philosophischen Tradition der Kritik am autonomen Prinzipienstatus des Ästhetischen, einer Kritik, die auf Platos Kunstphilosophie beruht. Es ist eine philosophische Tradition, die der Produktion und dem Genuss von Kunstgegenständen, sei es der Malerei, der Dichtung oder im Theater, mit grundsätzlichem Misstrauen begegnet und sie immer wieder dem Vorwurf der Täuschung und Verlogenheit aussetzt. Dies geschieht vor allem dann, wenn die Kunstproduktion und -rezeption sich nicht dem Guten und Wahren unterordnet, das heißt, wenn diese Produktion und ihre Rezeption für sich beanspruchen, über einen eigenen, von Moral und Erkenntnis unabhängigen Wirkungsbereich zu verfügen. Das ist für die platonische Kunstphilosophie insofern verwerflich, da sie Schönheit und Kunst als sinnliches Erscheinen der Ideen des Wahren und Guten versteht. Das heißt Schönheit und Kunst sollen an das Wahre und Gute gebunden sein. Es gibt für diese Denkschule keinen autonomen Bereich des Schönen. Schönheit ist hier immer Vollkommenheit – die Einheit von Wahrem, Gutem und Schönem.
2
Ebd. S. 24.
E INLEITUNG | 11
Ein Philosoph, der der Denkschule der Vollkommenheit radikal widerspricht, ist Immanuel Kant: Der Bereich ästhetischer Lust und ästhetischer Erfahrung wird von Kant in der Kritik der Urteilskraft als eigenes menschliches Vermögen, das über ein autonomes Prinzip verfügt – das der ästhetischen Urteilskraft – philosophisch begründet. Dass aber die Erscheinung der Dinge (ohne einem bestimmten Zweck zu dienen) für den Menschen von Wert sein kann und dass allen Menschen gemeinsam ist, sogar über ein eigenes Vermögen zu verfügen, um über diese Erscheinung zu urteilen und Wohlgefallen an ihr zu empfinden, stellte zu Kants Zeiten eine Provokation dar und ist es vielfach noch heute. Man kann sagen, die beiden Denkschulen – Autonomie des Schönen vs. Vollkommenheit – streiten noch heute. Wie begründet nun Kant seine radikale Kritik an einer Ästhetik der Vollkommenheit? Er tut dies, indem er zeigt, dass alle Menschen das Vermögen haben, sich ohne Interesse den Erscheinungen der Welt zuzuwenden und sich an dieser Zuwendung zu erfreuen, ohne einen Begriff davon haben zu müssen, wofür diese Zuwendung eigentlich gut sein soll. Ergebnis dieser Zuwendung ist eine ästhetische Erfahrung. Diese ästhetische Erfahrung besteht in einer zweckfreien Lust: Es ist eine Lust, die nicht darauf beruht etwas erreicht zu haben oder aufgrund sinnlicher Stimulation (die bekanntermaßen von Dingen abhängt) – sondern ästhetische Lust ist selbstbestimmte Lust – verstanden als freiwillige Zuwendung, die wir den Erscheinungen der Welt schenken. Kants Ästhetik ist eine subjektistische Ästhetik, weil sie auf einem autonomen subjektiven Urteilsprinzip beruht: der ästhetischen Urteilskraft. Wie begründen die Philosophen in der Tradition Platos ihre Kritik an subjektivistischer Ästhetik, wie sie von Kant formuliert wurde? Johann Gottfried Herder ist einer der Philosophen der anderen – der platonischen Schule – der Kants Begründung eines autonomen Schönheitsprinzips widerspricht, und er tut das (als ehemaliger Kant-Schüler) heftig und polemisch. Er setzt dem autonomen Schönheitsprinzip eine objektivistische Ästhetik entgegen. Herders ästhetische Theorie stützt sich dabei auf zwei traditionelle philosophische Argumentationsstränge: Herder argumentiert erstens mit materialistisch-funktionalistischen Schönheitsprinzipien, wie sie, als eine Variante empiristischer Ästhetik, von Edmund Burke als sogenannte sensualistische Ästhetik formuliert wurden. Diese Theorie sagt: Schön ist ein Gegenstand dann, wenn er positive somatische oder psychische Wirkung auf den Menschen ausübt – wenn er uns also angenehm ist. Tut er das nicht, ist er hässlich oder sogar ekelhaft. Diese Art von Schönheit wird empfunden; sie ist eine Sache des erkennenden Gefühls. Und Herder argumentiert zweitens mit rationalistisch-ganzheitlichen Schönheitsprinzipien, wie sie vor allem von Alexander Gottlieb Baumgarten als Vollkommenheitsästhetik
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formuliert wurden. Diese Theorie sagt: Schön ist ein Gegenstand dann, wenn er genauso beschaffen ist, wie er sein soll, wenn er also seinen Zweck in seiner Form zum Ausdruck bringt. Tut er das nicht, ist er misslungen und hässlich. Diese Art von Schönheit wird nicht gefühlt, sondern erkannt; sie ist eine Sache des sinnlichen Verstandes. Herder verbindet beide Argumentationen zu einer ganzheitlich-funktionalistischen Ästhetik. Er geht einerseits davon aus, dass ästhetische Urteile auf Kausalitäten zwischen Gegenständen bzw. Ereignissen und Körper und Geist beruhen. Andererseits glaubt er, dass die Welt bzw. Natur als harmonisches Ganzes geschaffen ist, sodass alles zweckmäßig aufeinander bezogen ist. In dieser Sichtweise ist Argumentation 1 somit Ausdruck von Argumentation 2: Weil alles sinnvoll und zweckmäßig aufeinander bezogen ist, so offenbart ein Schönheitsurteil im Herderschen Sinne (als Annehmlichkeit oder Sympathie), dass ein Gegenstand harmonischer Teil dieses Ganzen ist. Anhand der beiden gegensätzlichen ästhetischen Theorien, der subjektivistischen Kants und der objektivistischen Herders, formuliere ich die Kernthese dieses Buchs: Bestimmte ästhetische Ideen, wie zum Beispiel „Landschaft“, haben einen Prozess der Vergegenständlichung durchlaufen. Darunter verstehe ich einen Prozess, in dem autonome ästhetische Urteile praktischen Urteilen – und somit bestimmten Zwecken – untergeordnet werden und letztendlich darin aufgehen. Das bedeutet, dass Schönheit in diesem Prozess von einer subjektiven Empfindung, die aber durch das Vermögen der ästhetischen Urteilskraft prinzipiell von allen Menschen geteilt werden könnte, zu Schönheit wird, die eine Eigenschaft bestimmter Dinge ist und daher auch objektiv beurteilt werden kann. Schönheit wandelt sich somit in diesem Prozess von einer Einstellung, mit der wir von uns aus auf die Erscheinungen der Welt „zugehen“, zu einer Eigenschaft der Dinge, wie sie auf uns einwirken. Stufenmodell Um diesen Prozess der Vergegenständlichung beschreiben zu können, habe ich ein Stufenmodell erstellt, eingeteilt nach verschiedenen Klassen von ästhetischen Gegenständen (siehe Tabelle 1), wobei die beiden oberen Stufen (1. und 2.) auf Kants ästhetischer Theorie beruhen und somit auf einem autonomen-subjektiven Schönheitsprinzip, die unterste Stufe (3.) auf Herders Theorie und somit auf objektivistischen Schönheitsprinzipien.
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Tabelle 1: Stufenmodell ästhetischer Gegenstände 1. Freie Schönheiten 2. Gegenstände anhängender Schönheit Kunstschönheiten
Ästhetische Idee Muster
Naturschönheiten Schöne Gebrauchsgegenstände 3. Ästhetische Hypostasen Die Klassen 1 und 2 sind: Freie Schönheiten und Gegenstände anhängender Schönheit. Die Klasse 3 habe ich Ästhetische Hypostasen genannt. Klasse 1: Freie Schönheiten sind Erscheinungen, die einem ästhetischen Urteil unterzogen werden, bei dem ihr Begriff, also das was sie sind und sein sollen (Stuhl, Tisch, Wolke), keine Rolle spielt. Kant spricht daher nicht von Gegenständen freier Schönheit, sondern von freien Schönheiten, da das ästhetische Urteil nicht über einen Gegenstand gefällt wird, sondern darüber, ob es mir möglich ist, angesichts der Erscheinung eines Dings Lust oder Unlust zu empfinden. Die Lust ist nicht von der Existenz des Gegenstandes abhängig und somit fremdbestimmt, sondern sie ist selbstbestimmt. Ich fälle ein Urteil über eine selbstbereitete Lust; (das ist nicht körperlich zu verstehen – körperliche Lust kann natürlich auch selbstgemacht sein, ist aber dann von einem Gegenstand abhängig). Klasse 2: Gegenstände anhängender Schönheit3 werden nicht, wie die Gegenstände freier Schönheit, ohne Bezug auf einen Begriff beurteilt. Beim Urteil über ihre Zweckmäßigkeit für das Gefühl der Lust und Unlust spielt ein Begriff eine bestimmte Rolle – also das, was der Gegenstand ist und was er sein soll (Stuhl, Tisch, Wolke). Das ist dann der Fall, wenn man über einen Gegenstand ein praktisches und ein ästhetisches Urteil fällt, wobei die beiden Urteile aufeinander bezogen werden, also anhängend sind. Hierzu ein Beispiel: Ein Pferd ist ein Gegenstand anhängender Schönheit, weil ein Urteil über seine Schönheit
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Ich verwende in abgewandelter Form Kants Begriff der anhängenden Schönheit aus der KdU §16, trotz seiner altertümlichen Anmutung, weil er die Abhängigkeit bzw. Gebundenheit des Schönheitsurteils an eine andere Urteilsform gut veranschaulicht.
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(ästhetisches Urteil) nicht unabhängig von seiner Gesundheit und Vitalität (d.h. vom Begriff des Pferdes, wie es sein soll) gefällt werden kann. Ein verstümmeltes, krankes Pferd werden wir schwerlich als schön beurteilen, sondern eher bemitleiden oder sogar ekelhaft finden. Das ästhetische Urteil ist vom Begriff des Pferdes (wie es als Lebewesen sein soll) abhängig. 4 Die Klasse der Gegenstände anhängender Schönheit habe ich nach ihrem Zweck (dem was sie sein sollen) noch weiter differenziert in: Kunstschönheiten, Naturschönheiten und schöne Gebrauchsgegenstände. Kunstschönheiten (Kunstwerke): Dies sind von Menschen gemachte Dinge, und sie haben daher einen bestimmten Zweck. Bei Kunstschönheiten besteht er darin, ästhetische Erfahrung durch die Verwirklichung freier Schönheit zu ermöglichen. Ein Künstler stellt somit keinen Gegenstand her, der „etwas kann“ (z.B. Brot schneiden oder körperliche Lust bereiten), sondern er fügt Erscheinungsmaterial (Farben, Formen, Materialität, etc.) unter der Anwendung von Darstellungstechniken (z.B. der Perspektive) zu einer Einheit zusammen, indem er einem Gestaltungsprinzip folgt. Ziel davon ist, dass diese Komposition in ihrem Nachvollzug durch den Betrachter zum Anlass ästhetischer Erfahrung wird. Das bedeutet aber, dass ein Betrachter ein Gestaltungsprinzip (eine Komposition) nicht wie einen Text liest und seine Bedeutung erkennt, sondern dass er den Kompositionsvorgang selbst vollzieht – das Gestaltungsprinzip selbst anwendet. Das Gestaltungsprinzip eines Kunstwerks basiert auf einer ästhetischen Idee. Eine ästhetische Idee ist eine Vorstellung, auf Grund der ein Gestaltungsprinzip im Material des Kunstwerks ausformuliert wird – es ist also eine Idee, die nur in der Anwendung im konkreten Fall eines Kunstwerks besteht. Einer ästhetischen Idee kann daher kein Begriff entsprechen, weil sie singulär und subjektiv ist. Sie kann sich aber symbolisch auf begriffliche Ideen (wie Freiheit, Natürlichkeit, das Grauen, etc.) beziehen.5 So kann z.B. ein in der unteren Hälfte eines Gemäldes liegender Horizont (das wäre die ästhetische Idee bzw. das Gestaltungsprinzip) Unendlichkeit (das wäre die begriffliche Idee) darstellen, oder anders ausgedrückt, kann Unendlichkeit durch einen tief liegenden Horizont dargestellt werden. Eine solche ästhetische Idee, verwirklicht als Gestaltungsprinzip eines Kunstwerks, kann zum vorbildlichen Muster für die Gestaltung von weiteren Kunstwerken werden, wenn andere Künstler es als Gestaltungsprinzip übernehmen. Bei weiterer Wiederholung wird dieses Muster zur Konvention.
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Kant verwendet als Beispiel für anhängende Schönheit u.a. das Pferd. Siehe dazu:
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Siehe dazu: KdU B193.
KdU B50.
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Naturschönheiten: Gegenstände der Natur sind ohne Zweck, da Natur (als Naturgesetz verstanden) keinem Willen folgt, sondern der Mechanik von Ursache und Wirkung. Wenn man von Naturschönheiten spricht, geht man aber von einem anderen Naturverständnis aus – man betrachtet Natur als etwas Schöpferisches, das wie der Künstler Gegenstände hervorbringt, die den Zweck haben, als freie Schönheiten ästhetisch erfahren zu werden. Dieser sogenannte Naturzweck ist somit eine ästhetische Idee, die die Natur hervorgebracht haben soll. Schöne Gebrauchsgegenstände: Sie sind wie Kunstwerke Artefakte, das heißt von Menschen gemacht und daher zweckmäßig für einen bestimmten Zweck gedacht. Dieser Zweck ist es aber, nicht wie beim Kunstwerk zweckmäßig für eine ästhetische Erfahrung zu sein, sondern für einen praktischen Nutzen. Gebrauchsgegenstände sollen nützlich zu etwas sein. Doch schöne Gebrauchsgegenstände sollen gleichzeitig auch noch schön sein. Folgt man Kant (was ich ja tue), würde das heißen, dass schöne Gebrauchsgegenstände ästhetisch und praktisch beurteilt werden, da das Ästhetische über ein autonomes Urteilsprinzip verfügt und daher erkenntnistheoretisch von praktischen Urteilen zu unterscheiden ist. Die Vermischung beider Urteilsformen würde zur Vergegenständlichung des Ästhetischen und zur Ästhetisierung praktischer Fragen führen. Hier sind wir wieder beim Streit der beiden philosophischen Schulen der Ästhetik: Denn folgte man einer objektivistischen Ästhetik, würde man sagen: Nur wenn ein Gebrauchsgegenstand seinen Nutzen voll erfüllt, ist er schön. Klasse 3: Ästhetische Hypostasen bedeutet, dass es durch die Annahme objektiver Schönheitsprinzipien zu einer weiteren Stufe der Vergegenständlichung ästhetischer Ideen kommen kann: durch ihre Hypostasierung. Das heißt, ästhetische Gegenstände, die z.B. als Kunstschönheit oder Naturschönheit ästhetische Ideen verkörpern, werden so behandelt, als wären sie praktische Gegenstände, die auf Grund materieller Eigenschaften, die sie objektiv haben, beurteilt werden könnten. Kant nennt so einen Vorgang Hypostasierung: Dies geschieht nach Kant „in dem man das, was bloß in Gedanken existiert, [...] in eben derselben Qualität als einen wirklichen Gegenstand außerhalb des denkenden Subjekts annimmt“.6 Hypostasen des Ästhetischen sind die dritte Klasse von ästhetischen Gegenständen, die das Stufenmodell der Vergegenständlichung ästhetischer Ideen komplett machen. Warum es überhaupt zur Vergegenständlichung ästhetischer Ideen kommt, die ich mit Hilfe des Stufenmodells darstelle, beantworte ich in dieser Studie am Beispiel von „Landschaft“
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KrV A384.
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„Landschaft“ als ästhetische Idee In dieser Studie vertrete ich die These, dass es sich bei „Landschaft“ um eine ästhetische Idee handelt, also um die Vorstellung eines Gestaltungsprinzips für die Herstellung von Kunstwerken. Anhand von kulturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten zeige ich, dass „Landschaft“ als ästhetische Idee im Sinne Kants im 16. Jahrhundert in den niederländischen Malerwerkstätten aus dem praktischen Kontext der Produktion geografischer Karten und Atlanten herausgelöst wurde und dass so ein eigener Markt für Darstellungen von verschiedenen Ansichten der Erdoberfläche entstand, der auf keinem anderen Zweck beruhte, als die Lust an der Betrachtung dieser Darstellungen zu befriedigen. Die „Landschaft“ als Landschaftsgemälde war entstanden. Diese neue ästhetische Idee führte Darstellungstechniken (die durchaus nicht neu waren, wie z.B. die Perspektive) und das Erscheinungsmaterial der geografischen Illustrationen (Stadtansichten, Ansichten von bemerkenswerten Gegenden, Grenzverläufen, etc.) in einem neuen Gestaltungsprinzip zusammen – der „Landschaft“. Der große Erfolg dieses Gestaltungsprinzips in der Malerei und seine rasche Verbreitung über die Niederlande hinaus etablierten es als stabiles Muster, das durch verschiedene Innovationen (ohne aber die Grundstruktur des Muster zu verändern) über mehrere Jahrhunderte hinweg seine Gültigkeit in der Kunst bewahren konnte. Diese Entstehung von „Landschaft“ ist als ein erster Prozess der Vergegenständlichung einer ästhetischen Idee zu verstehen: Sie führt von der ästhetischen Erfahrung hin zum Muster für die Produktion und Rezeption von Kunstgegenständen. Der Fokus dieser Studie richtet sich nun nicht auf die in Folge sich abspielenden musterinternen Innovationen in der Landschaftsmalerei, sondern auf die parallel dazu stattfindenden Veränderungen von „Landschaft“ auf Grund neuer ästhetischer Ideen, die das Gestaltungsprinzip bzw. Muster auf neue Darstellungsformate übertragen. These dieser Studie ist es, dass das Muster „Landschaft“, angetrieben von einer Reihe von ästhetischen Innovationen, mehrere Formatsprünge vollzieht, die ich hier nachzeichne. Neben den von mir beschriebenen Formaten gibt es selbstverständlich noch andere (z.B. die literarische Landschaft). Die von mir beschriebenen Formatsprünge (siehe Tabelle 2) zeigen einen idealtypischen7 Vergegenständlichungsprozess des Musters „Landschaft“ mit seinen prägnantesten ästhetischen Innovationen. Die Erfindung von neuen Formaten innerhalb eines Gestaltungsprinzips geschieht durch die Entdeckung neuen Erscheinungsmaterials (womit etwas dargestellt wird) und in der Anwen-
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Siehe dazu: Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft: Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. S. 42ff.
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dung neuer Gestaltungstechniken (wie etwas dargestellt wird) vereint in einer neuen ästhetischen Idee. Tabelle 2: Darstellungsformate des Musters „Landschaft“ Muster „Landschaft“ Format
Landschafts-
Landschafts-
Freie
Geografische
Urbanes
gemälde
garten
Landschaft
Landschaft
Parksystem
Landschaftsgarten und freie Landschaft Im 18. Jahrhundert erfolgt ein Formatsprung, durch den das Muster „Landschaft“ vom Landschaftsgemälde auf die Parkgestaltung der Landgüter der englischen Oberschicht übertragen wird. So entsteht das Format des Landschaftsgartens. Parallel dazu erfolgt die Übertragung des Musters auf die Tätigkeit des Schauens über Land, und es entsteht die freie Landschaft. Wie bereits erwähnt, sind diese Formatsprünge Folge von ästhetischen Innovationen im Muster „Landschaft“. Mit der Entstehung des englischen Landschaftsgartens erfolgt diese Innovation auf zwei Ebenen: Erstens handelt es sich um eine ästhetische Innovation innerhalb der Gartenkunst: die ästhetische Idee der Natürlichkeit (verkörpert z.B. durch die line of beauty and grace) löst die Gestaltungsprinzipien der bisherigen Gartenkunst, die unter anderem auf den geometrischen Konstruktionsregeln der Perspektive beruhen, ab. Hier zeigt sich Innovation als negative Anpassung an ästhetische Traditionen. Man grenzt sich ab. Diese Innovation ermöglicht es der englischen Oberschicht, die sich zu dieser Zeit einem Ringkampf zwischen Whigs und Tories, um die künftige politische Ausrichtung der Nation hingab, sich symbolisch über die Gestaltung und Bewirtschaftung seiner Gärten und Parks vom Habitus des Gegners abzugrenzen und seine eigenen politischen Ideen darzustellen. Die zweite Ebene der Innovation (die mich in diesem Buch vorwiegend interessiert) ist die Übertragung des Musters „Landschaft“ aus der Malerei auf ein völlig anderes Medium, nämlich den Garten. Um diesen Formatsprung vollziehen zu können, bedurfte es ebenso der Innovation über die ästhetische Idee der Natürlichkeit. Die Gestaltungsprinzipien der Landschaftsmalerei bieten ja nicht so ohne weiteres Prinzipien für die Gartengestaltung: Es gibt zwar zahlreiche formale Parallelen, z.B. können Bild und Garten kulissenhaft gestaffelt werden; man kann Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund anlegen; man kann rahmende Repoussoirs anlegen; Licht-Schatten-Kontraste erzeugen, etc. Aber ein Garten hat im Gegensatz zum Bild auch eine Grundfläche – einen Grundriss. Für den
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galt es, ein neues Gestaltungsprinzip zu entwickeln, und hier greift die ästhetische Idee der Natürlichkeit mit ihrer neuen Geometrie, die sich eben auch als Grundriss verwirklichen lässt. Das heißt, aus der Idee, dass die Natur einen anderen Formenkanon produziert als der Mensch, lässt sich ein set aus natürlichen Geometrien entwickeln (geschwungene Linien etc.), die die Gartenkunst bis heute maßgeblich prägen konnten. Die Protagonisten dieser Musterinnovation (wie z.B. William Kent) konnten daraus erhebliches künstlerisch-symbolisches Kapital schlagen, indem sie das Muster aus der Malerei auf den praktisch und ökonomisch relevanten Gegenstand des Landbesitzes übertrugen. Ihre gestalterische Tätigkeit wurde ernsthafter, weil ökonomisch und praktisch relevanter, als es die Landschaftsmalerei sein konnte. Der Formatsprung führte zu erheblichem Legitimationsgewinn bei ihrer künstlerischen Tätigkeit und zur Professionalisierung dieser Gartengestaltung neuen Stils in England. Parallel zum Formatsprung hin zum englischen Landschaftsgarten findet ein weiterer – aber in ein anderes Medium – statt. Dieses Medium ist nicht der ländliche Besitz (das Landgut), sondern die Reise über Land; die Praxis, die durch das Muster „Landschaft“ überformt wird, ist nicht die Gartenkunst, sondern die Reisekultur der englischen Ober- und Mittelschicht. Die Grand Tour, die Bildungsreise nach Italien, die sich mit der Antikenbegeisterung seit der Renaissance als fester Bestandteil der Vita der jungen Männer und später auch Frauen der Oberschicht etabliert hatte, wurde im 18. Jahrhundert mit dem Muster „Landschaft“ überformt. Die Reisenden entwickelten einen neuen Blick: Statt Zeugnisse antiker Kultur (v.a. in Rom und Neapel) entdeckten sie, geprägt durch die Muster der Landschaftsmalerei, italienische und später auch schweizerische Landschaften oder das Rheintal. Der Blick richtete sich vom historischen Objekt auf die scenery. Protagonisten dieses Wandels zum sogenannten Picturesquen wie der Landpastor William Gilpin übertrugen dann diesen Blick auf England und erschlossen so Reiseziele im eigenen Land, die bisher, aus Mangel an bildungsrelevanten Objekten, nicht wahrgenommen wurden. Gilpin und andere bewarben in zahlreichen Schriften eine neue Praxis des Reisens: picturesque travel. Mit Hilfe der ästhetischen Idee der Natürlichkeit gelang es, den Reisenden den Blick für die Landschaften Englands zu öffnen, die nicht den klassizistischen, sondern erst den Gestaltungsprinzipien der neuen natürlichen Geometrie entsprechen konnten. Der neue Blick suchte nicht mehr das bedeutsame Zeugnis, sondern das Alltägliche und Raue im eigenen Land. Auch Gilpin gelang es, künstlerisch-symbolisches Kapital aus seiner Tätigkeit zu schlagen. Seine Anleitungen zum picturesque travel und seine Reisebeschreibungen mit genauen Anweisungen, wo welcher Blick am besten zu finden ist, gründeten ein neues literarisches Genre – den touristischen Reiseführer. Auch er etablierte damit eine neue
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Profession – nicht des Gartengestalters, sondern des Gestalters des touristischen Blicks. Er ermöglichte damit, dass „Landschaft“ als konkretes Objekt auch für Nicht-Gartenbesitzer erlebbar wurde, indem sie über Land reisten, auf der Jagd nach scenery. Durch diese Naturalisierung des Blicks durch die ästhetische Idee der Natürlichkeit verschwand allmählich der urbane Raum aus dem Muster „Landschaft“. „Landschaft“ wurde zur Naturlandschaft. Geografische Landschaft und urbane Parksysteme An diese beiden Formatsprünge schließen im 19. Jahrhundert weitere an. In Deutschland wird freie Landschaft mit der Entstehung der Geografie als universitäre Disziplin zur geografischen Landschaft und wird damit wissenschaftlichen Methoden unterworfen. In den USA werden die Gestaltungsprinzipien des englischen Landschaftsgartens auf urbane Parksysteme übertragen, die als ein Element der Stadttechnik (neben Kanalisation, Wasser- und Gasversorgung) die schnell wachsenden Metropolen mit somatisch und psychisch heilsamen Grünräumen versorgen sollen. Die beiden Formatsprünge markieren den Übergang von Landschaftsverständnissen, die auf der subjektiven ästhetischen Empfindung eines Betrachters beruhen, zur „Landschaft“ als handfestes Objekt, das keines Betrachters mehr bedarf; ein Vorgang, den Hard als Hypostasierung definiert: „Diese Verwandlung einer Perspektive in ein ‚Ding’, dem dann wieder beliebig viele Perspektiven zugeschrieben werden – das ist der idealtypische historische Verlauf einer Hypostasierung.“8 Diese nun materielle Landschaft kann besucht, bewohnt und gestaltet werden, aber auch naturwissenschaftlich erforscht und technisch genutzt. Diesen Wandel innerhalb der Idee „Landschaft“, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts vollzieht, kann man als Wandel von der subjektivistischen Ästhetik Kants zur objektivistischen Ästhetik mit objektiven Schönheitsprinzipien, wie sie von Herder vertreten wird, beschreiben. Dieser Wandel, diese Hypostasierung von „Landschaft“, vollzieht sich grob in zwei Varianten (die man die deutsche und die englische/US-amerikanische nennen könnte): In Deutschland folgt sie rationalistisch-ganzheitlichen Schönheitsprinzipien, in der Tradition Baumgartens. Diese „Idee der Landschaft“ begreift die Troposphäre als ein Gefüge aus Räumen, die durch das Wechselspiel von Mensch und Natur – einem Wechselspiel von Anpassung und Kultivierung – ein jeweils individuelles Mensch-Natur-Verhältnis in Form von Kulturlandschaft abbildet. Die Harmonie oder Gesundheit dieses Verhältnisses zeigt sich in
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Gerhard Hard: Die „Landschaft“ der Sprache und die „Landschaft“ der Geographen, Bonn 1970. S. 193.
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der Schönheit von „Landschaft“. Wenn die Eigenart und Schönheit einer Kulturlandschaft zerstört wurde, ist das ein Zeichen dafür, dass das Mensch-NaturVerhältnis an diesem Ort in eine Schieflage geraten ist (meist in Richtung des Menschen, der die Natur ausbeutet). Das ist die Variante der Landschaftsidee, wie sie von Hard, Eisel, Trepl, Körner u.a. kritisch beleuchtet wurde – „Landschaft“ als Kulturraum.9 Dieser Kulturraum ist das Forschungsobjekt der Geografie, wie sie von Alexander von Humboldt und Carl Ritter in Deutschland begründet wurde. Das Muster „Landschaft“ wird so zum Raum, in den man hineingeboren wird, der einen prägt und bestimmt. „Landschaft“ wird zum „Gesetz“,10 dem man sich, will man nicht der Entfremdung und Heimatlosigkeit durch Landschaftszerstörung anheimfallen, unterordnen sollte. Die englische/US-amerikanische Variante der Hypostasierung von „Landschaft“ folgt sensualistischen Schönheitsprinzipien in der Tradition Edmund Burkes. Hier wandelt sich der Stil des liberalen Bürgertums, Raum als scenic landscape wahrzunehmen und sich herzurichten, zur somatisch und psychisch richtigen Methode, um Raum zu produzieren. „Landschaft“ als szenischer Raum wird v.a. in den USA zur Methode, um der rasanten Stadtentwicklung des 19. Jahrhunderts als Ausgleich gesunden Freiraum in Form urbaner Parksysteme zur Seite zu stellen. In dieser Variante wird das Muster „Landschaft“ zu einer Technik der Heilung des Großstädters von den Folgen seiner neuen Lebensumstände und zum Mittel der Erziehung, v.a. der US-amerikanischen Unterschicht, zu liberalen und demokratischen Bürgern ihrer Nation, aber auch zum politischen Werkzeug der Erfüllung ökonomischer und strategischer Interessen durch territoriale Expansion unter dem Deckmantel der Verbreitung eines aufgeklärten liberalen Lebensstils über den Globus.11
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Siehe dazu: Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft: Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. Ulrich Eisel: Individualität als Einheit der konkreten Natur: Das Kulturkonzept der Geographie, in: B. Glaeser, P. Teherani-Krönner (Hg.): Humanökologie und Kulturökologie. Grundlagen, Ansätze, Praxis, Opladen 1992. S. 107-151. Stefan Körner: Theorie und Methodologie der Landschaftsplanung, Landschaftsarchitektur und Sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung vom Nationalsozialismus bis zur Gegenwart. Berlin 2001.
10 Siehe dazu: Walter Rossow: Die Landschaft muß das Gesetz werden. Hrsg. von Monika Daldrop-Weidmann. Stuttgart 1991. 11 Siehe dazu: W.J.T. Mitchell: Imperial Landscape, in: Ders. (Hg.): Landscape and Power, Chicago London 2002 (2nd edition).
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Dialektik des Designdiskurses Diese beiden Varianten der vergegenständlichten Idee „Landschaft“ prägen noch heute die Methodendiskurse derjenigen Gestaltungsprofessionen, die „Landschaft“ als ihr Entwurfsobjekt begreifen; in Deutschland ist das vor allem die Landschaftsarchitektur. Anhand der in diesem Buch vorgenommenen Analyse des theoretischen Diskurses über Methoden des Entwerfens wird offensichtlich, dass dieser sogenannte Designdiskurs, nicht nur bezogen auf das Entwurfsobjekt „Landschaft“, sondern auch im Allgemeinen, einer Dialektik folgt, die sich zwischen den beiden objektivistischen Schönheitsprinzipien sensualistischer und rationalistischer Ästhetik bewegt. Diese Dialektik führt durch die prinzipielle Widersprüchlichkeit dieser Ästhetiken nicht zu neuen Einsichten und zu einer Weiterentwicklung des Diskurses, sondern kreist immer um dieselben Fragen. In diesem Buch vertrete ich die These, dass diese Antinomie des Designdiskurses, das heißt seine prinzipielle Widersprüchlichkeit, nur dann aufgelöst werden kann, wenn der autonome Prinzipienstatus der ästhetischen Urteilskraft anerkannt wird und im Designprozess ästhetische und praktische Urteile differenziert betrachtet werden. Dialektik des Diskurses der Landschaftsgestaltung Wie diese Differenzierung von ästhetischen und praktischen Urteilen in den komplexen Urteilssituationen, die das Entwerfen von schönen Gebrauchsgegenständen mit sich bringt, möglich wäre, wird in diesem Buch am Beispiel des Entwurfsobjekts „Landschaft“ veranschaulicht: Nützlichkeit und Schönheit von „Landschaft“ als Gebrauchsgegenstand werden auf diese Art und Weise nicht als Ganzheit verstanden, sondern werden in einem iterativen Entwurfsprozess aufeinander bezogen, aber getrennt beurteilt. Gestaltung von „Landschaft“ basiert dadurch nicht mehr auf objektivistischen Schönheitsprinzipien, sondern auf praktischen und ästhetischen Urteilen, die miteinander verwoben sind, ohne aber das Ästhetische funktional oder holistisch einem bestimmten Zweck unterzuordnen. Diese Differenzierung wäre aber nicht nur Bedingung für ein Fortschreiten des Designdiskurses hin zu einem produktiven Diskurs über Methoden des Entwerfens in verschiedenen Designdisziplinen, sondern auch für die Auflösung des Scheins der schönen Nützlichkeit oder der nützlichen Schönheit, der durch die Hypostasierung ästhetischer Ideen im Entwerfen von schönen Gebrauchsgegenständen entsteht. Die Negation der Differenz von ästhetischen und praktischen Urteilen macht es möglich, dass Designer ihren ästhetischen Urteilen im Gestaltungsprozess die Objektivität zweckrationaler Entscheidungen verleihen – mit
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dem Ergebnis, dass schönen Gebrauchsgegenständen der Anschein verliehen wird, in ihrer so und nicht anders entworfenen Form nützlich für die Lösung bestimmter Probleme zu sein. Auf diese Weise lässt sich ein autoritärer Handlungsrahmen zur Durchsetzung ideologischer Ziele durch Gestaltung abstecken, wie es z.B. in extremer Art und Weise im Rahmen der Landschaftsgestaltung in der Zeit des Nationalsozialismus geschah. In dieser Studie zeige ich an drei zeitgenössischen Beispielen großräumiger Designkonzeptionen für die Gestaltung von „Landschaft“ (anhand Sören Schöbels Landschaftsgerechter Anordnung von Windfarmen, Oliver Bormanns und Michael Kochs Inzwischen Stadt – Entwerfen in der Zwischenstadt, Franz Oswalds und Peter Baccinis Netzstadtmodell), wie diese Gestaltungskonzepte auf objektivistischen Schönheitsprinzipien beruhen und wie sie aber auch nach dem Prinzip anhängender Schönheit, wie es von Kant für schöne Gebrauchsgegenstände vorgeschlagen wird, analysiert werden können. In allen drei Arbeiten lässt sich ein technischer und praktischer Designprozess von einem ästhetischen Designprozess unterscheiden, die iterativ miteinander verwoben sind. Die Analyse des ästhetischen Designprozess lässt die ästhetischen Ideen, auf denen die großräumigen Designkonzeptionen beruhen, erkennbar werden. Das sind ästhetische Ideen und Gestaltungsprinzipien, wie sie aus der Kunstpraxis der klassischen Avantgarden und Neo-Avantgarden bekannt sind: Übermalung bei Schöbel, Montage bei Koch und Bormann und Dissipative Strukturen bei Oswald/Baccini. Das zeigt, dass alle drei Designkonzeptionen versuchen, auf ästhetischer Ebene das Muster „Landschaft“ zu erneuern. Alle Verfasser neigen aber gleichzeitig dazu, den subjektiven, gestalterischen Anteil zu verbergen – vielleicht um sich nicht den Vorwurf der Irrationalität einzufangen. Der Vorteil eines Verständnisses von Design, das zwischen ästhetischen und praktischen Urteilen differenziert, wäre es, dass die ästhetischen Ideen, auf denen ein Design beruht, nicht als zweckrationale Entscheidungen verschleiert werden, sondern als subjektive ästhetische Urteile einen Geschmacksdiskurs ermöglichen. Dieser würde, da es sich um einen Diskurs über die Schönheit von Gebrauchsgegenständen handelt, einen parallel geführten Diskurs über die praktische Bedeutung des Gegenstandes erfordern und wäre somit eingebettet in einen Diskurs über die praktischen Ziele einer Gesellschaft – also über die Frage „wie wir leben möchten, wenn wir im Hinblick auf erreichbare Potentiale herausfänden, wie wir leben könnten“.12
12 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt am Main 1989 (1968). S. 100.
E INLEITUNG | 23
1.2 E INORDNUNG
DIESER
S TUDIE B EZUG
VERSCHIEDENE V ERSTÄNDNISSE VON IN T HEORIE UND P RAXIS
NEHMEND AUF
„L ANDSCHAFT “
Es gibt zahlreiche Vorstellungen darüber, was „Landschaft“ ist. Das variiert je nach Forschungsperspektive, Beruf, aber auch Herkunft, Schulbildung und sicherlich noch nach zahlreichen anderen Faktoren. Diese Studie nimmt Bezug auf drei Verständnisse von „Landschaft“, die ich als wesentlich für die Landschaftsforschung und für Berufsfelder, die mit „Landschaft“ arbeiten, wie Landschaftsarchitektur oder Städtebau, erachte: Das ist „Landschaft“ als Idee, „Landschaft“ als Medium und „Landschaft“ als materieller Gegenstand. Wie die Idee von „Landschaft“ entstanden ist13 und wie sie sich historisch entwickelt hat,14 wurde in zahlreichen Forschungsarbeiten und Publikationen diskutiert. Man könnte dies die ideengeschichtliche Landschaftsforschung nennen. Dieser Forschungsperspektive vorausgehend gibt es die ikonografische Landschaftsforschung der Kunstgeschichte, die sich mit „Landschaft“ als Kunstgegenstand vor allem in Form des Landschaftsgemäldes und des Landschaftsgartens und ihren Bezügen zu literarischen Landschaftsbeschreibungen befasst. Auch hier geht es um die Entstehung von „Landschaft“15 und ihre historische Entwicklung.16 Dieser kunstgeschichtliche Ansatz wurde als teilweise zu stilistische und formalistische Betrachtung von „Landschaft“ kritisiert, der die sozialen, ideologischen und vor allem imperialistischen Hintergründe von „Landschaft“ verschleiert.17 Neuere kulturwissenschaftliche Forschungsarbeiten, man 13 Z. B.: Joachim Ritter: Landschaft – Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Ders.: Subjektivität – Sechs Aufsätze, Frankfurt/Main 1974 (Erstausgabe 1963); Rainer Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie „Landschaft“, in: Westfälische Forschungen, 30. Band, Aschendorff 1980. 14 Z. B.: Kenneth Robert Olwig: Landscape, Nature, and the Body Politic – From Britain’s Renaissance to America’s New World, Madison 2002; Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft – Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. 15 Z. B.: Ernst H. Gombrich: Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei, In: Ders.: Die Kunst der Renaissance I, Norm und Form, Stuttgart 1985 (Engl. Erstausgabe 1966). 16 Z. B.: Kenneth Clark: Landschaft wird Kunst, Köln (Phaidon) 1962; Max J. Friedländer: Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, Den Haag 1947. 17 Z. B. W.J.T. Mitchell: Imperial Landscape, in: Ders.: Landscape and Power, Chicago London 2002 (2nd edition). S. 5-34.
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könnte sie mediale Ansätze nennen, haben diese kunstgeschichtlich-ikonografischen Forschungsansätze weiterentwickelt, um so „Landschaft“ nicht nur als Kunstgattung, sondern als Medium und somit Träger von Ideen, Bedürfnissen und Machtansprüchen analysieren zu können.18 Diese theoretischen Verständnisse von „Landschaft“ als Medium und Idee werden begleitet vom Verständnis von „Landschaft“ als materiellen Gegenstand. Dieses ist vor allem in Berufsfeldern verbreitet, die sich praktisch mit „Landschaft“ befassen, wie in der Landschaftsplanung und -architektur, Tourismuswirtschaft, im Umwelt- und Naturschutz, in der Stadtplanung und Architektur, im Stadtmarketing, in der Regionalentwicklung, etc. „Landschaft“ wird in diesen Praxisfeldern als handfester Gegenstand mit starker ästhetischer Wirkung und hohem kulturellen Wert gesehen, der nach praktisch-technischen und kulturellästhetischen Regeln bewirtschaftet, gepflegt, gestaltet und geschützt werden kann und soll. Dieses materielle Verständnis ist über den professionellen Rahmen hinaus auch ein populäres. Im alltäglichen Verständnis ist „Landschaft“ ein konkreter und schöner Ausschnitt der Erdoberfläche, der bewohnt, besucht, gestaltet und benutzt wird und mit dem sich seine Bewohner und Gäste identifizieren können. Diese Art von „Landschaft“ nennt man Kulturlandschaft. In diesem Verständnis von „Landschaft“ ist Kulturlandschaft das, was die Maler und Dichter in ihren Landschaften abgebildet haben. Dieser Sichtweise widerspricht nun die ideengeschichtliche Landschaftsforschung und behauptet genau das Gegenteilige: „Landschaft“ als Bild ist nicht die Mimesis realer Kulturlandschaften, sondern Kulturlandschaft ist die Projektion von Ideen in die Außenwelt, die über die Bilder der Malerei geprägt wurden. In der deutschsprachigen Landschaftsforschung haben insbesondere Gerhard Hard, Ulrich Eisel und Ludwig Trepl einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, das Ideelle der materiellen Landschaft zu zeigen. Hard benutzt für diesen Vorgang der Vergegenständlichung von Ideen den Begriff Hypostasierung, den ich für dieses Buch übernommen habe.19 In dieser Aufklärung über die ideelle Verfasstheit von „Landschaft“ wird diese als ästhetische Kategorie, als ästhetisches Phänomen oder „moderne ästhetische Sichtweise der Natur“20 bezeichnet. Gemeint ist damit, nach Joachim Ritter,21
18 Z. B. Ann Bermingham: Landscape and Ideology – The English Rustic Tradition, 1740-1860, London 1987. 19 Gerhard Hard: Die „Landschaft“ der Sprache und die „Landschaft“ der Geographen, Bonn 1970. S. 193. 20 Andrea Siegmund: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt, Dissertation TU München, 2009. S. 37f.
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dass „Landschaft“ eine Idee von Kosmos, von der Ganzheit der Natur ist, die ein modernes Mensch-Natur-Verhältnis zeigt: Die Trennung von Subjekt und Objekt, von Natur und Mensch. „Es muss eine Trennung von Mensch und Natur eingetreten sein, die beiden eine je eigene Autonomie verschafft. Der Mensch versteht sich als Subjekt, das der Natur distanziert gegenüber steht und sie als Objekt seiner Erkenntnisse und Handlungen begreift.“
22
Der Mensch ist nicht mehr untrennbarer Teil des Kosmos, sondern autonomes Subjekt, das der Natur gegenübersteht. In der Idee der „Landschaft“ bleibt diese Ganzheit der Natur weiterhin als ein dem Menschen sich gegenüber befindliches Objekt sinnlich erfahrbar. Ritter bezeichnet das als „das Scheinen der an sich verloren gegangenen Natur“.23 Diese Distanzierung von der Natur ist Ursache und Voraussetzung für die Erfahrung der Natur als „Landschaft“. Dieses Naturverhältnis ist ästhetisch und somit sinnlich, weil es auf Empfindung und nicht auf Erkenntnis aus ist, und es ist zweckfrei, weil es Natur nicht nutzen und zur Erreichung von Zielen in Dienst nehmen will, sondern sie so erfahren will, wie sie einem begegnet. Die Entzweiungsthese Ritters ist, könnte man sagen, das Paradigma der ideengeschichtlichen Landschaftsforschung in Deutschland. Die verschiedenen Ausprägungen von „Landschaft“ sind als Landschaftsideen24 unterschiedliche Reaktionen auf diese Entzweiung von Mensch und Natur. Im medialen Verständnis von „Landschaft“ ist diese nicht bloß ein Darstellungsmittel der Kunst (wie es angeblich die kunsthistorische Forschung dachte), sondern ein durch gesellschaftliche Machtverhältnisse geformtes Instrument zur Durchsetzung von Interessen. „Landschaft“ transportiert als Bedeutungsträger
21 Joachim Ritter: Landschaft – Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Ders.: Subjektivität – Sechs Aufsätze, Frankfurt/Main 1974 (Erstausgabe 1963). 22 Antonia Dinnebier: Die Innenwelt der Außenwelt. Die schöne „Landschaft“ als gesellschaftstheoretisches Problem, in: Landschaftsentwicklung und Umweltforschung. Schriftenreihe im Fachbereich Umwelt und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Nr. 100, Technische Universität Berlin, Berlin 1996. S. 131. 23 Joachim Ritter: Landschaft – Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Ders.: Subjektivität – Sechs Aufsätze, Frankfurt/Main 1974 (Erstausgabe 1963). S. 155. 24 Eine ideengeschichtliche Systematik verschiedener Landschaftsideen liegt vor. Siehe: Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft – Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012.
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daher nicht einfach Ideen des jeweiligen Künstlers, sondern der „transportierte“ Inhalt wird durch das Medium geformt. Diese „Deformation“ des Inhalts erfolgt durch die Ideen und Interessen, die im Medium „Landschaft“ gespeichert sind und die es als Instrument konstituiert haben. Daher hat zum Beispiel die Schönheit eines Landschaftsgemäldes im medialen Verständnis nicht so sehr mit seiner künstlerischen Qualität zu tun, sondern damit, wie es den im Medium „Landschaft“ angelegten Ideen und Interessen entspricht und diese befriedigt – das können im 19. Jahrhundert zum Beispiel Landschaftsgemälde Neuseelands sein, um britische kolonialistische Interessen zu befriedigen 25 oder Gemälde und Landschaftsfotografien des nordamerikanischen „Westens“, die zur Bestätigung US-amerikanischer Expansionsbestrebungen dienten.26 „Landschaft“ als Medium ist daher keine „unschuldige“ Bildgattung, deren Produkte um ihrer selbst Willen schön sind, sondern sie ist ein Instrument, das als zweckmäßig bzw. angenehm empfunden wird, wenn es die Bedürfnisse, zu deren Erfüllung es erfunden wurde, befriedigt. Sowohl die ideengeschichtliche, wie auch die mediale Forschungsperspektive bezieht sich kritisch auf naive Landschaftsverständnisse: Die ideengeschichtliche Landschaftsforschung betont die ideelle Herkunft von „Landschaft“ als Kritik an einem pseudo-naturwissenschaftlichen oder naiv materiellen Verständnis von „Landschaft“; die mediale Landschaftsforschung betont die politische Konstituiertheit von „Landschaft“ als Kritik an einem naiven kunsthistorischen Verständnis von „Landschaft“ als inhaltlich neutrales Darstellungsmittel der Kunst. Die beiden Perspektiven haben daher unterschiedliche Landschaften im Blick, die sie kritisieren: Bei der ideengeschichtliche Perspektive sind es vor allem die Landschaften der klassischen Geografie und, davon abgeleitet, der Landschaftsplanung, Landschaftsökologie, etc., also materielle Landschaften, deren Idealität aufgezeigt werden soll. Bei der medialen Perspektive sind es die Landschaften der Kunst in ihren verschiedenen Darstellungsformen, deren Instrumentalität für machtpolitische Ziele sichtbar gemacht werden soll. Diese beiden kritischen Perspektiven auf „Landschaft“ entwerfen mit ihrer Kritik notwendigerweise auch Landschaftsideen – eben kritische, die sich in etwa so zusammenfassen lassen:
25 Siehe dazu: W.J.T. Mitchell: Imperial Landscape, in: Ders. (Hg.): Landscape and Power, Chicago London 2002 (2nd edition). S. 5-34. 26 Siehe dazu: Joel Snyder: Territorial Photography. In: W.J.T. Mitchell (Hg.): Landscape and Power, Chicago London 2002 (2nd edition). S. 175-201.
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Q Landschaft ist kein materieller Gegenstand, den man naturwissenschaftlich
analysieren kann, sondern ist die Idee von Natur als sinnlich bzw. ästhetisch erfahrbare objektive Ganzheit. Q Landschaft ist keine Darstellungsform der Kunst, die beliebige Inhalte transportiert, sondern ist ein mediales Instrument zur Durchsetzung von Interessen. So sehr ich diesen kritischen Perspektiven auch zustimme, führen sie, meiner Meinung nach, zu einer gewissen „Verengung“ im Verständnis von „Landschaft“. Das ideengeschichtliche Landschaftsverständnis zeigt, dass „Landschaft“ als ästhetisches Phänomen entstanden ist und dass das materielle Verständnis von „Landschaft“ weiterhin auf dieser Idee gründet, aber irrtümlicherweise nicht mehr als ästhetisches Phänomen verstanden wird. Diese kritische Konzeption von „Landschaft“ bleibt aber selbst, wenn auch reflektiert, in der objektivistischen Ästhetik des von ihr kritisierten Landschaftsverständnisses „hängen“. Denn auch in der Kritik ist „Landschaft“ nur dann schön, wenn sie genauso beschaffen ist, wie sie sein soll, nämlich gelungener Ausdruck der Idee eines Naturganzen. Dieser Zweck ist sozusagen das Wesen des ästhetischen Phänomens „Landschaft“. Sie wird als ästhetisches Phänomen, als der Ausdruck verschiedener Ideen eines Naturganzen, interpretiert, und daher wird eine Darstellungsform mit bestimmten Ideen starr aneinander gekoppelt. Das ästhetische Phänomen „Landschaft“ folgt einer bestimmten Idee von Natur; allgemein gesagt hat die Form ihre Ursache in einer bestimmten Idee. Wir haben es hier somit mit einem Landschaftsverständnis zu tun, das „Landschaft“, auf rationalistischer Ästhetik beruhend, fixiert, denn die Bedingung der Schönheit des ästhetischen Phänomens „Landschaft“ ist, dass sie eine bestimmte Idee von Natur in vollkommener Weise ausdrückt. Im medialen Landschaftsverständnis kommt es ebenfalls zu einer starren Kopplung, aber hier erfolgt diese im Verhältnis zwischen einer Botschaft (das wären Ideen, Bedürfnisse, Machtansprüche, die mitgeteilt werden sollen) und einem Medium (verstanden als Instrument der Mitteilung), wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf den gesellschaftlichen Bedingungen des Mediums liegt. Das mediale Landschaftsverständnis operiert mit einem materialistisch funktionalistischen Schönheitsprinzip, das es ermöglicht, das ästhetische Phänomen „Landschaft“ als Instrument für bestimmte Zwecke zu begreifen. Allgemein gesprochen folgt hier die Idee, die der Nutzer des Mediums „Landschaft“ darstellen will, bestimmten Eigenschaften des Mediums – allgemeiner ausgedrückt, folgt hier die Idee der Form. Beide kritischen Landschaftsverständnisse sehen das ästhetische Phänomen „Landschaft“ und die darüber gefällten Urteile als abhängig von bestimmten
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Ideen bzw. Begriffen oder den Eigenschaften von Medien und somit Dingen und fallen dadurch hinter die Bestimmung des ästhetischen Urteils durch Kant in der Kritik der Urteilskraft, als auf einem autonomen Urteilsprinzip beruhend, zurück. Im ideengeschichtlichen Verständnis beurteilen wir eine „Landschaft“ als schön, weil sie ein gelungener Ausdruck der Idee eines Naturganzen ist – wir fällen ein Vollkommenheitsurteil. Im medialen Verständnis beurteilen wir eine „Landschaft“ als schön, oder eigentlich als bedürfnisbefriedigend, wenn sie ihren Zweck als Instrument erfüllt – wir fällen ein praktisches Urteil. Beide Landschaftsverständnisse sehen im ästhetischen Phänomen „Landschaft“ ein heteronomes Ausdrucksverhältnis zwischen Form und Idee vorliegen und können daher nicht erklären, wie (a.) verschiedene, manchmal konträre Ideen im formal relativ stabilen Muster „Landschaft“ ihren Ausdruck finden können27 und (b.) wie „Landschaft“, ohne sich formal immer wieder massiv zu verändern, zu einem medialen Instrument zur Erfüllung der sehr unterschiedlichen Ideen und Interessen von Gesellschaften, die seit dem 16. Jahrhundert „Landschaften“ als Kunstwerke herstellen, werden kann. Die relative formale Stabilität bzw. Langlebigkeit des Musters „Landschaft“ angesichts der zahlreichen Ideen, die es ausdrücken kann, kann in beiden Varianten nicht schlüssig erklärt werden. Definiert man „Landschaft“ hingegen als ästhetische Idee im Sinne Kants, gelingt es, das Verhältnis von Darstellungsformen und Ideen in ein nicht fixiertes – weil bloß symbolisches – Verhältnis zu setzten. Eine Definition von „Landschaft“ als ästhetische Idee würde erklären – wie z.B. Siegmund es wegweisend in ihrer Arbeit zum Landschaftsgarten gezeigt hat28 – warum verschiedene, oft konträre Ideen im formal relativ stabilen Muster des englischen Landschaftsgartens dargestellt werden können. „Landschaft“ ist dann weder eine bestimmte Idee von Natur, noch ein mit Ideen gefülltes Medium, sondern ein Gestaltungsprinzip für die Herstellung von Kunstwerken, dass durch seine begriffliche Unbestimmtheit „offen“ dafür ist, Symbol für verschiedene Ideen sein zu können. Erst der in diesem Buch gezeigte Prozess der Vergegenständlichung transformiert die begriffliche Unbestimmtheit der ästhetischen Idee in heteronome Ausdrucksverhältnisse bis hin zu materiellen bzw. instrumentellen Verständnissen von „Landschaft“. Das ideengeschichtliche, wie auch das mediale Landschafts-
27 In ihrer Dissertation zeigt Andrea Siegmund, dass englische Landschaftsgärten ohne große formale Unterschiede aufzuweisen sehr unterschiedliche politische Ideen repräsentieren können. 28 Andrea Siegmund: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt, Dissertation TU München, 2009. S. 51ff.
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verständnis zeigen sich so als Kritiken an bestimmten „Stadien“ vergegenständlichter „Landschaft“, übertragen aber ihre kritische Definition von Landschaft auf alle „Stadien“ der Vergegenständlichung.
1.3 A UFBAU
DER
S TUDIE
Das Buch ist so aufgebaut, dass die Vergegenständlichung des ästhetischen Gegenstandes „Landschaft“ – als historischer Prozess – anhand der Darstellung der zentralen Ideen an bestimmten „tipping-points“, die zum Fortschreiten der Vergegenständlichung durch Formatsprünge führten, vom Leser nachvollzogen werden kann. Das analytische Grundgerüst, anhand dessen die Darstellung dieser Formatsprünge in einem Prozess der Vergegenständlichung erfolgt, wird aus den Theorien zur Ästhetiken von Kant und Herder und dem theoretischen Design-Diskurs seit den 1950er Jahren abgeleitet. Daraus ergeben sich eine horizontale und eine vertikale Gliederung des Buchs (Tabelle 3). Horizontal ist das Buch nach dem fortschreitenden Prozess der Vergegenständlichung der ästhetischen Ideen „Landschaft“ gegliedert, vertikal, nach dem theoretischen Grundgerüst des oben erklärten Stufenmodells, das diesen Prozess anhand der verschiedenen theoretischen Verständnisse von ästhetischen Gegenständen gliedert. Die beiden sich daraus ergebenden horizontalen Gliederungsebenen des Buchs werden aber nicht nacheinander abgehandelt, sondern so miteinander verschränkt, dass auf die Theorie jeweils der zugehörige Formatsprung von „Landschaft“ folgt. Tabelle 3: Gliederung des Buchs Ästhetische Gegenstände (Kap. 2)
Hypostasen des Ästhetischen (Kap. 5)
Dialektik des Designdiskurses (Kap. 8)
„Landschaft“ als ästhetische Idee und Muster (Kap. 3)
„Landschaft“ als grüne Stadttechnik (Kap. 6)
Dialektik des Diskurses der Landschaftsgestaltung (Kap. 9)
„Landschaft“ als eingeschränkter ästhetischer Gegenstand (Kap. 4)
Geografische Landschaft und ihre Pflege (Kap. 7)
Im 2. Kapitel entwickle ich anhand Kants Kritik der Urteilskraft das analytische Grundgerüst des Buchs: Eine Klassifizierung ästhetischer Gegenstände nach ihrer Zweckmäßigkeit bezogen auf das Gefühl der Lust und Unlust. Ebenso wird in diesem Kapitel, aufbauend auf der Definition von Kunstgegenständen, erläutert, was eine ästhetische Idee und ein Muster ist.
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Im 3. Kapitel diskutiere ich, wie „Landschaft“ als ästhetische Idee definiert werden kann. Anhand von Gombrichs „Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei“ erfolgt die Einführung in die Diskussion über „Landschaft“ als „novelty“ in der Malerei. Diese umstrittene These, dass „Landschaft“ als ästhetische Idee in der Malerei erfunden wurde, bestätige ich an Hand der Darstellung von Büttner über die Erfindung von „Landschaft“ in der niederländischen Bildproduktion des 17. Jahrhunderts. „Landschaft“ wird hier durch den entstehenden Kunstmarkt und die Spezialisierung von Künstlern auf Landschaftsdarstellung in eine ästhetische Idee transformiert. Die ästhetische Idee verkörpert sich im exemplarischen Kunstwerk, das anderen Künstlern und Generationen zum Muster wird. Der Prozess von der Findung einer ästhetischen Idee, ihrer Darstellung im exemplarisches Kunstwerk, bis zur nachfolgenden Musterbildung, wird in diesem Kapitel dargestellt. Im 4. Kapitel diskutiere ich einen weiteren Schritt der Vergegenständlichung von „Landschaft“ von der Kunstschönheit in der Landschaftsmalerei zur anhängenden Schönheit im Landschaftsgarten. „Landschaft“ wird in diesem Prozess unter den Begriff des Gartens subsumiert. Hier geht es mir nicht um eine kunstgeschichtliche Darstellung des Landschaftsgartens, sondern ich versuche, die InDienst-Stellung der „Landschaft“ (als Kunstschönheit) für die Heterotopie des Gartens Anfang des 18. Jh. zu zeigen. Ebenfalls in diesem Kapitel beschreibe ich an Hand der Texte von William Gilpin eine zweite Möglichkeit der Vergegenständlichung von „Landschaft“ als anhängende Schönheit. Unter dem Begriff der scenery wird die Kunstschönheit „Landschaft“ in der Malerei zur freien Landschaft auf der Erdoberfläche. „Landschaft“ wird zum ästhetischen Gegenstand, den man als Reisender, ausgestattet mit speziellen Rezeptionstechniken, in der Natur aufsuchen und konsumieren kann. Die Heterotopie ist nun nicht mehr der Landschaftsgarten, sondern die Landschaft Großbritanniens. Im 5. Kapitel erläutere ich am Beispiel von Burkes Inquiry und Herders Kalligone wie die von Kant analysierte subjektive Zweckmäßigkeit von ästhetischen Gegenständen in die objektivistischen Geschmacksprinzipien der Annehmlichkeit und der Vollkommenheit überführt und zusammengeführt werden können. Diese Objektivierung des Ästhetischen durch diese zwei Prinzipien ist die Grundlage für die Analyse der hypostasierten Landschaften, die im 6. und 7. Kapitel vorgenommen wird. Im 6. Kapitel erfolgt die Analyse der Hypostasierung von „Landschaft“ als grüne Stadttechnik am Beispiel der sensualistischen Landschaftsidee von Frederick Law Olmsted und Charles Eliot. „Landschaft“ ist in ihrem Verständnis ein Medium, das positive Wirkung (psychisch und somatisch) auf den Menschen
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hat. Darauf aufbauend ist es nach Olmsted und Eliot sinnvoll, eine eigene Infrastruktur zur Versorgung von Großstädten mit diesem Medium zu errichten. Im 7. Kapitel erfolgt die Darstellung der Hypostasierung der ästhetischen Idee „Landschaft“ als organische Ganzheit durch Herders Geschichtsphilosophie und die deutsche Landschaftsgeografie. Wie diese Landschaftsidee mit dem Anspruch künstlerischer Gestaltung verbunden wird, wird ebenfalls gezeigt. Im 8. Kapitel analysiere ich den Designdiskurs über die Schönheit von Gebrauchsgegenständen und die Entwurfspraxis von Design anhand von Kants Dialektik des Geschmacks und seiner Antinomie und weise nach, dass sich der Designdiskurs in dialektischer Form zwischen dem Geschmacksprinzip der Annehmlichkeit und der Vollkommenheit, als objektivistische Begründungen für Geschmacksurteile, bewegt. Im 9. Kapitel analysiere ich die Diskurse über die Gestaltung von „Landschaft“ in Deutschland und den USA und zeige, dass beide, wie der Designdiskurs im allgemeinen, zwischen den gegensätzlichen objektivistischen Geschmacksprinzipien pendeln. Ich schlage als Auflösung dieser Dialektik, anhand von aktuellen Gestaltungsbeispielen, die nachvollziehbare Trennung von ästhetischen und praktischen Urteilen im Entwurfsprozess vor und plädiere für eine reflexive Entwurfspraxis, die sich den ihr zugrundeliegenden ästhetischen Ideen bewusst wird.
2. Ästhetische Gegenstände in Kants Kritik der Urteilskraft
Kants Kritik der Urteilskraft ist keine Theorie ästhetischer Gegenstände oder eine Kunsttheorie, sondern ist eine Theorie über eines der Vermögen des menschlichen Gemüts, nämlich des Gefühls der Lust und Unlust und dem Erkenntnisvermögen der Urteilskraft, als subjektives Prinzip a priori desselben. Kant unterscheidet drei grundsätzliche Vermögen des menschlichen Gemüts: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen 1 – gemeint sind damit die Fähigkeiten des menschlichen Geistes, also das, was das Gehirn an Gebrauch ermöglicht: durch Sinnlichkeit und Verstand Erkenntnisse zu gewinnen (also Wissen und Erfahrung); zu fühlen und Gefühle zu beurteilen; etwas zu wollen (das man sich nur vorstellt und nicht hat) und dessen Erreichung Lust verspricht. Diese drei Vermögen können nach Kant von Prinzipien des Denkens reguliert werden, Kant nennt diese die oberen Erkenntnisvermögen, d.h. wir gehen denkend mit den Vermögen des Gemüts in bestimmter Art und Weise um: Das Erkenntnisvermögen wird nach Prinzipien des Verstandes gebraucht und unterwirft unsere Erfahrung allgemeinen Gesetzen („das ist, weil“); das Gefühl der Lust und Unlust wird durch die Urteilskraft zum Kriterium für die Zweckmäßigkeit von Dingen („das gefällt mir“); das Begehrungsvermögen wird durch die Vernunft so reguliert, dass das Wollen mit dem Wollen aller anderen verträglich sein kann („das zu tun ist richtig“). Die beiden oberen Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft „haben [...] jedes seine eigene Gesetzgebung dem Inhalte nach“,2 somit einen eigenen Bereich an Gegenständen, den sie konstituieren – Naturbegriffe und Freiheitsbe-
1 2
Siehe dazu: KdU BXXII. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (KdU), Hamburg 2006. Die Seitenangabe der zitierten Texte erfolgt nach der zweiten Originalausgabe (B) von 1793. BXXI.
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griffe. Dem dritten Glied in der „Familie der oberen Erkenntnisvermögen“, der Urteilskraft, fehlt es als „Übergang“ zwischen Verstand und Vernunft zwar an einer eigenen Gesetzgebung und damit an einem eigenen „Feld der Gegenstände“, aber nicht an einem bloß subjektiven Prinzip, a priori nach Gesetzen zu suchen.3 Das subjektive Prinzip ist die „Zweckmäßigkeit der Natur“, das sich die Urteilskraft im reflektierenden Gebrauch selbst als Gesetz gibt.4 Dieses subjektive Prinzip, das für das Besondere die allgemeine Regel finden soll, begreift den Gegenstand der Reflexion als zweckmäßig, als ob es einen Grund für seine Existenz gäbe. Diese Zweckmäßigkeit ist subjektiv, weil Naturgegenstände keine intendierte Ursache haben, sondern diese bloß angenommen wird, um uns ein Objekt oder einen Gemütszustand oder ein Geschehen begreiflich zu machen, weil „ihre Möglichkeit von uns nur erklärt werden kann, sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d.i. einen Willen, der sich nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grund derselben annehmen“.5 So würden wir im Alltag auf die Frage (die uns vielleicht ein Kind stellt) „Warum haben wir Augen?“ antworten „Damit wir sehen können, um uns in der Welt zurechtzufinden, usw.“, aber kaum „Aufgrund von Mutation und natürlicher Auslese“.6 Die Zweckmäßigkeit der Natur als subjektives Prinzip der Urteilskraft im reflektierenden Gebrauch liegt daher im Vermögen des Subjektes zu reflektieren und nicht in einem Objekt oder Gemütszustand oder einer Handlung begründet und ist daher eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Ist der Bestimmungsgrund der Zweckmäßigkeit, auf den die reflektierende Urteilskraft angesichts eines Gegenstandes aus ist, ein Gefühl der Lust oder Unlust, spricht Kant von einem Geschmacksurteil und von einem spezifischen Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft – der ästhetischen Urteilskraft. Das Ge-
3
KdU BXXI.
4
KdU BXXVI ff.
5
KdU B33.
6
Siehe dazu: Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Dritte Auflage, Stuttgart 1867. S. 228. Darwin beschreibt die Schwierigkeit sich vollkommene Organe wie das Auge, als durch „natürliche Zuchtwahl“ entstanden vorzustellen: „Man kann kaum vermeiden, das Auge mit einem Teleskop zu vergleichen. Wir wissen, dass dieses Werkzeug durch lang fortgesetzte Anstrengung der höchsten menschlichen Intelligenz verbessert worden ist, und folgern natürlich daraus, dass das Auge seine Vollkommenheit durch einen ziemlich analogen Prozess erlangt habe. Sollte aber dieser Schluss nicht voreilig sein? Haben wir ein Recht anzunehmen, der Schöpfer wirke vermöge intellektueller Kräfte ähnlich denen des Menschen?“
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schmacksurteil bezieht sich als spezifische Form der reflektierenden Urteilskraft nicht auf ein Objekt, sondern auf das Gefühl der Lust und Unlust angesichts eines Gegenstandes. Es fehlt der ästhetischen Urteilskraft, wie der Urteilskraft im Allgemeinen, ein eigenes „Feld der Gegenstände“, wäre dies doch mit dem Urteil über eine praktische bzw. objektive Zweckmäßigkeit verbunden und daher ein Erkenntnisurteil und somit dem Erkenntnisvermögen des Verstandes unterzuordnen. Eine solche „gegenständliche“ Ästhetik, die sich auf praktische Urteile gründet, wäre eine Vollkommenheitsästhetik oder normative Ästhetik, deren Widersprüchlichkeit Kant in der Kritik der Urteilskraft offenlegt.7 Doch wie sinnvoll ist eine Ästhetik ohne Gegenstände? Widerspricht sie nicht der ästhetischen Praxis, in der mit einer Fülle von ästhetischen Gegenständen oder Gemütszuständen oder Handlungen hantiert wird – wie ja auch die Kritik der Urteilskraft in ihren Beispielen ästhetische Gegenstände sehr wohl in Kombination von Geschmacksurteil und anderen Urteilen kennt? Dieser Frage folgend sollen im weiteren Kapitel die verschiedenen Verhältnisse von Gegenständen zum Gefühl der Lust und Unlust betrachtet und auf das reine Geschmacksurteil als konstitutives Prinzip8 bezogen werden. Ich folge in der Betrachtung ästhetischer Gegenstände einem Schema (siehe Tabelle 4), das ich aus Kants Analyse der verschiedenen Verhältnisse von Gegenständen zum Gefühl der Lust und Unlust abgeleitet habe. Tabelle 4: Klassifizierung ästhetischer Gegenstände nach ihrer Zweckmäßigkeit und dem mit ihnen verbundenen Lebensgefühl Ästhetische Gegenstände
Zweckmäßigkeit
Lebensgefühl
Angenehme Gegenstände
Subjektive Zweckmäßigkeit
Gegenstände freier
Formale subjektive
Schönheit
Zweckmäßigkeit
Gegenstände anhängender
Eingeschränkte formale
Wohlgefallen am
Schönheit
subjektive Zweckmäßigkeit
anhängend Schönen
Wohlgefallen am Angenehmen Wohlgefallen am Schönen
7
Siehe dazu: KdU § 15 (Kritik der ästhetischen Urteilskraft).
8
KdU BLVII.
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2.1 D REI A RTEN ÄSTHETISCHER G EGENSTÄNDE : A NGENEHME G EGENSTÄNDE , G EGENSTÄNDE FREIER S CHÖNHEIT UND G EGENSTÄNDE ANHÄNGENDER S CHÖNHEIT Angenehme Gegenstände affizieren durch Eigenschaften, die an ihnen wahrgenommen werden können, die Sinne und bereiten dadurch Lust. Die Lust am Angenehmen ist somit abhängig von bestimmten Eigenschaften des Gegenstandes (damit von seiner Wirklichkeit) und von den naturalen Neigungen des Subjekts – seinen Vorlieben und Begierden. Die Lust am Angenehmen ist also erstens eine fremdbestimmte Lust, weil sie abhängig vom Gegenstand der Anschauung ist, und zweitens ist sie eine empirisch bestimmte Lust, weil sie von den sinnlichen, nicht allgemein geltenden Neigungen des Subjekts abhängig ist. Das unter diesen spezifischen Bedingungen der Lust stehende Subjekt/Objekt-Verhältnis macht angenehme Gegenstände zu empirisch praktischen Gegenständen, die den Zweck haben, Lust zu affizieren. Das Subjekt nimmt angenehme Gegenstände daher interessiert wahr – mit einem Interesse an ihrer Wirklichkeit, bezogen auf ihren Zweck der Lustbereitung. Die Lust am Schönen9 hingegen entzündet sich nach Kant zwar an schönen Gegenständen, ist aber eine Lust, die wir uns selber machen und kann somit nicht an objektiven Eigenschaften des Gegenstandes festgemacht werden, da ihr Bestimmungsgrund nicht in der Wirklichkeit des Gegenstandes liegt, sondern im Empfinden der Tätigkeit der Erkenntniskräfte – von Einbildungskraft und Verstand. Es handelt sich um einen Bestimmungsgrund, der im Subjekt selbst liegt und nicht außerhalb des Subjektes, wie bei der Lust am Angenehmen. Die Lust am Schönen ist daher erstens eine autonome Lust, weil sie selbst gemacht ist und nicht fremdbestimmt durch einen Gegenstand der Anschauung, und zweitens ist sie eine allgemeine Lust, weil sie auf der Tätigkeit der Erkenntniskräfte beruht, die alle Subjekte gleichermaßen vollziehen können, – es ist eine Lust, die jeder empfinden kann. Sie kann aber bloß „subjektive Allgemeingültigkeit“10 beanspruchen, weil sie zwar von jedem empfunden werden könnte, aber eben nur in einer aktuellen Erscheinungssituation vom Subjekt empfunden wird – deswegen kann man aber zu Recht von allen anderen verlangen, ebenso
9
Zur Bedeutung des Begriffs der Lust in der Kritik der Urteilskraft siehe: Andrea Kern: Schöne Lust – Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt/Main 2000.
10 KdU §8.
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zu empfinden, weil es sich hier nicht um ein „Privatgefühl“ 11 handelt, sondern um eines, das von allen geteilt werden kann und – darum kommt es zu Geschmacksdiskussionen – auch soll. Das Subjekt nimmt daher schöne Gegenstände uninteressiert und frei wahr – ohne Interesse an der Wirklichkeit der Gegenstände in Hinblick auf ihre Nützlichkeit und in der Freiheit, einer Fülle von Erscheinungen seine Gunst zu schenken.12 In der Unterscheidung verschiedener Verhältnisse der Erkenntniskräfte in ihrer Tätigkeit lassen sich nach Kant schöne Gegenstände weiter differenzieren – in Gegenstände anhängender Schönheit und Gegenstände freier Schönheit.13 Der Bestimmungsgrund für die Lust am Schönen ist bei freien Schönheiten das freie Spiel der Erkenntniskräfte. Die Erkenntniskräfte sind hier frei, weil die Einbildungskraft frei ist von willkürlichen Regeln des Verstandes und die Anschauungen somit nicht unter einen bestimmten Begriff gezwungen werden. Die beiden Vermögen sind am Material der Anschauung um ihrer Belebung willen tätig, ohne diese Tätigkeit mit einer abschließenden Bestimmung eines Begriffs und damit der Einordnung der Anschauungen in Mittel/Zweck-Verhältnisse und dem daraus folgenden Interesse an der Wirklichkeit des konstituierten Objektes abzuschließen. Wir bescheiden uns hier als Wesen, die für ihr Wohlbefinden auf die Existenz von Dingen angewiesen sind, um sie zu verbrauchen, sie uns einzuverleiben, mit der bloßen Vorstellung des Gegenstandes, mit seiner Erscheinungsfülle.14 Den anhängenden Schönheiten ein spezifisches Verhältnis der Erkenntniskräfte zuzuordnen, erweist sich als problematisch. Eindeutig kann es nicht die freie Tätigkeit der Erkenntniskräfte sein, wird die anhängende Schönheit doch „als einem Begriffe anhängend (bedingte Schönheit), Objekten, die unter dem Begriffe eines besonderen Zwecks stehen, beigelegt“.15 Es kann also demnach nur die Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte sein, wie „es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist“,16 also die Bedingung jedes Erkennens, und zwar unter der „Leitung“ des Verstandes, indem eine Auffassung der Einbildungskraft unter einem bestimmten Begriff subsumiert wird. Doch was unter-
11 KdU B18. 12 Zur zentralen Rolle des Erscheinens in der ästhetischen Erfahrung siehe: Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/Main 2003. 13 Siehe zu dieser Unterscheidung KdU B49. 14 Häfliger nennt das den „verschwenderischen Blick“: Gregor Häfliger: Vom Gewicht des Schönen in Kants Theorie der Urteile, Würzburg 2002. S. 50ff. 15 KdU B49. 16 KdU B29.
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scheidet das Wohlgefallen an anhängenden Schönheiten von dem am Guten – von der Vollkommenheit? Die Achtung dem Vollkommenen gegenüber ist das Wohlgefallen daran, einen Gegenstand erkannt zu haben, der in vorbildlicher Weise das ist, was er seinem Begriff gemäß zu sein hat – es ist das Wohlgefallen daran, ein vorbildliches Exemplar seiner Art erkannt zu haben – das vorliegende Exemplar wird anhand seiner Eigenschaften am Begriff „gemessen“. Es handelt sich hier um ein Erkenntnisurteil, weil ein Urteil über den Gegenstand und seine Wirklichkeit gefällt wird. Es ist ein Urteil, das auf Erkenntnis aus ist. Wie soll ein Urteil über das Schöne (als anhängendes Schönes) möglich sein, das unter einem Begriff steht, wenn damit aber keine Erkenntnisabsicht verbunden sein soll? Um ein Geschmacksurteil fällen zu können, bedarf es der freien Tätigkeit der Erkenntnisvermögen, d.h. keines dominiert das andere. Es kommt zu einer Kooperation der beiden Vermögen, obwohl sie nicht unter dem Zwang eines Begriffes stehen, sondern trotz ihrer Freiheit. Ein unfreies oder eingeschränktes Geschmacksurteil scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Die Bedingung der Freiheit der Tätigkeit der Erkenntniskräfte muss im Geschmacksurteil gegeben sein, um Allgemeingültigkeit für den damit verbundenen Gemütszustand beanspruchen zu können. Diese beiden Bedingungen müssen erfüllt sein, um überhaupt vom Schönen, wenn es auch nur bedingt sein soll, reden zu können. Die Adjektive „bedingt“ und „(nicht) rein“ beziehen sich auf die Reinheit des Geschmackurteils und damit auf die Freiheit der Tätigkeit der Erkenntnisvermögen. Bedingt und nicht rein heißt aber nicht unfrei oder unter Zwang, wie Kant den Status der Einbildungskraft im Erkenntnisurteil beschreibt, sondern eben nur bedingt frei, eingeschränkt frei – es besteht eine Freiheit der Einbildungskraft im Rahmen der Regel, die die Vernunft mit dem Begriff aufstellt. Das heißt aber auch, solange die Einbildungskraft in diesem Rahmen bleibt, ist sie frei; dies gilt auch für die Tätigkeit der Erkenntniskräfte, denn solange der Rahmen des Begriffs eingehalten wird, muss die Vernunft die Einbildungskraft unter keinen Begriff zwingen. Ein Hund – als Beispiel für eine anhängende Schönheit – vermag dies zu veranschaulichen: Gerade beim Hund muss unter den Begriff „Hund“ eine große Vielfalt empirischer Formen und Erscheinungen subsumiert werden. Was alles einen Hund ausmachen kann, ist nahezu unüberschaubar. Wenn ich nun über einen Hund ein Schönheitsurteil fälle, urteile ich über die Belebung meiner Erkenntniskräfte angesichts seiner Erscheinungsfülle – ein Glänzen seiner Augen, die Textur seines Felles, ein Farbspiel, ein Wackeln seiner Ohren etc. Ich beurteile ihn nicht im Hinblick auf seine Qualitäten als Hund, sondern in seiner momentanen Erscheinungsfülle. Was mir und meiner Einbildungskraft aber verwehrt bleibt, ist die Freiheit, die Grenzen des Begriffs Hund zu überschreiten – ein Hund, der dem, was ein Hund sein soll, nicht ent-
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spricht, weil er z.B. nur drei Beine hat oder ihm ein Auge fehlt, kann schwerlich in seiner Erscheinungsfülle genossen werden und als schöner Hund beurteilt werden. Gegenstände anhängender Schönheit sind an ihren Begriff gefesselt – sie müssen ihrem Begriff mindestens entsprechen, um schön sein zu können. Daher kann das Wohlgefallen an anhängender Schönheit nur eingeschränkt subjektive Allgemeingültigkeit beanspruchen. Obwohl ein ästhetisches Urteil über die Erscheinung eines Hundes nicht anders von statten geht als beim Urteil über freie Schönheiten, so ist es doch vom empirischen Begriff Hund abhängig. Voraussetzung für ein ästhetisches Urteil über einen Hund ist, dass das jeweilige Exemplar die notwendigen Anforderungen des Begriffs erfüllt. Daher sind Urteile über anhängende Schönheiten empirisch und von jeweiligen Nützlichkeitsvorstellungen abhängig, nicht wie freie ästhetische Urteile, die zu Recht den Anspruch erheben können, über alle Zeiten, Kulturen und Regionen hinweg gültig zu sein. Es liegt aber der Gedanken nahe, wie Wachter es tut, anhängende Schönheiten zum Regelfall des Erlebens des Schönen zu machen, die uns viel öfter begegnen und beschäftigen, als freie Schönheiten.17 Grundlegendes Prinzip ist aber die freie Schönheit.
2.2 D REI A RTEN VON Z WECKMÄSSIGKEIT : S UBJEKTIVE Z WECKMÄ SSIGKEIT , FORMALE SUBJEKTIVE S Z WECKMÄSS IGKEIT
UND
EINGESCHRÄNKTE FORMALE SUBJEKTIVE Z WECKMÄSSIGKEIT Mit den drei verschiedenen Arten ästhetischer Gegenstände begegnen wir drei verschiedenen Relationen des Subjektes zu den Gegenständen, die Kant mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit analysiert. Die Lust am Angenehmen ist eine Lust an der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes zur Erfüllung meiner sinnlich-naturalen Bedürfnisse. Ein Gegenstand wird dann als angenehm beurteilt, wenn seine Vorstellung bzw. Wahrnehmung den aus der Erfahrung gewonnenen Vorstellungszustand (die Erwartungen) erfüllt oder übertrifft. Ist das nicht der Fall, ist man enttäuscht oder gar angeekelt. Das Verhältnis zwischen Gegenstand und Subjekt ist das einer subjektiven Zweckmäßigkeit, weil der Gegenstand zweckmäßig für etwas ist, das nur subjek-
17 Alexander Wachter, Das Spiel in der Ästhetik – Systematische Überlegungen zu Kants Kritik der Urteilskraft, Berlin 2006. S. 182ff.
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tiv sein kann, die Lust des Subjektes. Die Zweckmäßigkeit ist subjektiv, weil sie vom Vorstellungszustand, den Erwartungen und der Konstitution des Subjektes abhängig ist – Bedingungen des Zweckmäßigkeitsverhältnisses, die keine Allgemeingültigkeit haben können, da jedes Subjekt andere Erwartungen und Bedürfnisse mit sich trägt. Vorstellungszustand und Bedürfnis sind hier untrennbar aufeinander bezogen – große Erfahrung in Dingen des sinnlichen Genießens „verfeinert“ die Bedürfnisse, die den Vorstellungszustand bestimmen, und diese stellen dadurch größere Ansprüche an die von einem angenehmen Gegenstand hervorgerufenen Vorstellungen. Das Wohlgefallen an einem angenehmen Gegenstand kann schwerlich mit allen anderen geteilt werden, man findet sich in diesem Rahmen eher in ästhetischen Interessensgemeinschaften (z.B. Freunde des schottischen Whiskeys) zusammen. Das Verhältnis zwischen einem angenehmen Gegenstand und dem Subjekt ist bestimmt von der Wirklichkeit des jeweiligen Gegenstandes – eine Lust stellt sich nur ein, wenn der Gegenstand auch genossen werden kann. Das Subjekt ist in diesem Verhältnis doppelt unfrei – es ist in seinem Wohlgefallen fremdbestimmt (durch den Gegenstand) und letztendlich in der Bestimmtheit durch seine subjektiven Bedürfnisse in seiner Lust alleine. Ein ebenfalls subjektives Zweckmäßigkeitsverhältnis analysiert Kant im Wohlgefallen am Schönen, das sich aber in seinen Konsequenzen radikal von der Zweckmäßigkeit, die bei angenehmen Gegenständen im Spiel ist, unterscheidet. Die viel zitierte „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“18 stellt sich zunächst nur als Paradoxon dar, das nicht viel erhellt, außer, dass es sich hier wohl um eine Zweckmäßigkeit handeln muss, die ohne einen Gegenstand, der die Ursache der Lust des Subjektes ist, auskommt. Lust ist aber immer das Bewusstsein der Kausalität einer Vorstellung auf den Zustand des Subjektes, in Absicht diesen Zustand zu erhalten.19 Beurteilt wird diese Kausalität, indem die Vorstellung an den Vorstellungszustand „gehalten“ wird20 – ist das Verhältnis zweckmäßig für eine angestrebte Wirkung, ist es mit Lust verbunden. Im Urteil über das Angenehme wird die mit dem Gegenstand verbundene Vorstellung an den von Bedürfnissen bestimmten Vorstellungszustand gehalten – ist dieses Verhältnis zweckmäßig, ist es mit Lust verbunden.21 Lust ist immer das Bewusstsein der
18 Vgl. KdU §15. 19 Gregor Häfliger: Vom Gewicht des Schönen in Kants Theorie der Urteile, Würzburg 2002. S. 82. 20 Man vergleicht sozusagen die Vorstellung mit dem Vorstellungszustand. Entspricht sie den Erwartungen, dem Gewohnten? 21 Ebd. S. 82.
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Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, doch welche Zweckmäßigkeit soll das im Fall der Lust am Schönen sein, wenn diese „ohne Zweck“, d.h. ohne Gegenstand auskommen soll? Kant sagt nun, es handle sich bei der Lust am Schönen um das Bewusstsein einer bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiel der Erkenntniskräfte des Subjekts. Die bloß formale Zweckmäßigkeit bedeutet, dass das Urteil über einen Gegenstand sich nicht auf seine Verfügbarkeit (seine Existenz, sein Vorliegen) bezieht, sondern auf die „bloße Vorstellung“ des Gegenstandes – seine Erscheinung.22 Die „bloße Vorstellung“ wird nun im Urteil nicht gegen einen Vorstellungszustand (eine Erwartung, ein Bedürfnis, einen Begriff) gehalten, sondern gegen die Tätigkeit der Erkenntniskräfte (Spiel der Erkenntniskräfte). Stellt sich dabei ein „empfindbares Verhältnis“23 ein und findet eine Belebung der Erkenntniskräfte statt, ist das mit Lust verbunden. Diese Kausalität, diese Zweckmäßigkeit zwischen Belebung der Erkenntniskräfte angesichts einer bloßen Vorstellung und Lust ist sich selbst genug – dieses Verhältnis zielt auf nichts weiter ab, auf keinen Nutzen und keine Bedürfnisbefriedigung – es ist ohne Zweck und doch zweckmäßig. Es gibt in diesem Fall kein Verhältnis zwischen einem Gegenstand und einem Subjekt, sondern zwischen den Erkenntniskräften Einbildungskraft und Verstand in ihrer Erkenntnistätigkeit, befasst mit Erscheinungsmaterial. Das Subjekt ist in diesem Verhältnis doppelt frei – es ist in seinem Wohlgefallen nicht von einem bestimmten Gegenstand abhängig und auch nicht von seinen persönlichen Bedürfnissen und Leidenschaften. „Das Wohlgefallen am Schönen ist eine Gunst, die wir in Freiheit schenken.“24 Das dritte Verhältnis zwischen ästhetischem Gegenstand und Subjekt, die eingeschränkte formale subjektive Zweckmäßigkeit, ist eine bloß formale Zweckmäßigkeit, die von objektiver Zweckmäßigkeit abhängt bzw. eingeschränkt wird, über die wir ein Urteil fällen, wenn wir die Nützlichkeit von Gegenständen beurteilen – das Urteil über anhängende Schönheit. Beim Wohlgefallen an anhängender Schönheit muss auch eine bloß formale Zweckmäßigkeit vorliegen (sonst kann es sich gar nicht um Schönheit handeln), doch diese ist eingeschränkt durch einen Begriff. Die Belebung der Erkenntniskräfte findet innerhalb der vom Verstand gesetzten Grenzen statt. Die Einbildungskraft wird nicht gezwungen, eine Anschauung unter einen Begriff zu subsumieren, doch sie ist auch nicht frei, ohne Begriff ihre Aufgabe der Schematisierung zu vollziehen. Die „bloße Vorstel-
22 Ebd. S. 46-49. 23 KdU B152. 24 Gregor Häfliger: Vom Gewicht des Schönen in Kants Theorie der Urteile, Würzburg 2002. S. 98.
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lung“ eines Gegenstandes wird auch hier gegen die Tätigkeit der Erkenntniskräfte gehalten, doch diese ist nicht frei, sondern der Verstand wacht über die Einhaltung der Grenzen, die der Begriff vorgibt. Das Verhältnis zwischen einem Gegenstand anhängender (oder eingeschränkter) Schönheit und Subjekt wird bestimmt von der Wirklichkeit des jeweiligen Gegenstandes und seiner Erscheinung. Die Lust am Schönen ist notwendigerweise auch hier das Bewusstsein einer bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiel der Erkenntniskräfte. Dieses Bewusstsein ist aber abhängig (anhängend) von einem objektiven Urteil über die Zweckmäßigkeit des Gegenstandes. Das Subjekt ist in diesem Verhältnis somit frei in seinem Schönheitsurteil, aber an ein objektives Urteil gebunden.
2.3 D REI L EBENSGEFÜHLE DES S UBJEKTS : W OHLGEFALLEN AM A NGENEHMEN , W OHLGEFALLEN AM S CHÖNEN , W OHLGEFALLEN AM ANHÄNGEND S CHÖNEN Die von Kant erläuterten subjektiven Zweckmäßigkeiten, die das Verhältnis zwischen ästhetischen Gegenständen und Subjekt konstituieren, sind der Bestimmungsgrund für Objekte in ihrem Status als ästhetischer Gegenstand, wie auch für den Zustand des Subjektes – dem Lebensgefühl in der ästhetischen Erfahrung. Angenehme Gegenstände weisen Eigenschaften auf, die sich für die Lust des Subjektes als zweckmäßig erweisen. Diese Eigenschaften kommen dem Gegenstand objektiv zu und sind keine Projektionen oder Täuschungen des Subjektes. Das Verhältnis der Zweckmäßigkeit für die Lust ist aber subjektiv, das bedeutet, dass die als angenehm beurteilten Eigenschaften zwar von jedem erkannt werden können, nur wird das Urteil über ihre Angenehmheit nicht von jedem geteilt. Somit kann die Rede über angenehme Gegenstände nur subjektive Gültigkeit beanspruchen – ein angenehmer Gegenstand ist im radikalsten Fall nur für mich alleine ein ästhetischer Gegenstand. Eine Verständigung über angenehme Gegenstände ist daher eine über subjektive Interessen an einem Gegenstand, die geteilt werden können, aber auf keinen Fall müssen – manche dieser Interessen und damit das Vorliegen eines angenehmen Gegenstandes teilt man mit vielen, andere hat man nur alleine. Das Wohlgefallen am Angenehmen ist das Lebensgefühl, das sich mit der Erfüllung der Neigungen und der naturalen Bedürfnisse des Subjektes einstellt. Es ist bezogen auf den Gegenstand der Erfüllung dieser Bedürfnisse und von sei-
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nem Verfügbarsein abhängig. Der Vorstellungszustand des Subjekts, an dem die Angenehmheit des Gegenstands „gemessen“ wird, wird geprägt durch die Erfahrung des Subjektes, die es durch den Genuss angenehmer Gegenstände gewinnt. Dieser Vorstellungszustand in seiner Abhängigkeit vom Begehren tendiert zu einer Steigerung der Erwartungen an den angenehmen Gegenstand. Es bedarf einer Steigerung und Verfeinerung der angenehmen Gegenstände, damit sich bei reicher Erfahrung mit angenehmen Gegenständen (man spricht dann von einem Genussmenschen) ein Wohlgefallen einstellt. Askesetechniken und Diätetik dienen daher u.a. als Regulativ und als Gestaltungsversuche des auf Genüsse bezogenen Vorstellungszustands. Ganz anders verhält es sich mit der Rede über schöne Gegenstände: Weil die Lust am Schönen, als freies Spiel der Erkenntniskräfte auf sich selbst gerichtet ist, lässt sich über den Gegenstand nicht mehr sagen, als dass er für schön befunden wird. Die banale Erkenntnis dieser Überlegung ist: Ästhetische Gegenstände sind schöne Gegenstände, weil sie so beurteilt werden. Der Begriff „ästhetischer Gegenstand“ findet hier seine kausale Erklärung nicht im Objekt sondern im Gefühl der ästhetischen Lust und sagt nichts über Eigenschaften des Gegenstandes aus, sondern über das Lebensgefühl des Subjektes angesichts des jeweiligen Gegenstandes. Es lässt sich also über den Gegenstand anscheinend nicht mehr sagen, als dass der Gegenstand im Vollzug der ästhetischen Erfahrung ein ästhetischer Gegenstand ist – eine Beurteilung, die eben nicht außerhalb dieser momentanen Erfahrung von einer bestimmbaren Eigenschaft des Gegenstandes abhängig ist. Ob ein Gegenstand ästhetisch Erfahren werden kann oder nicht, kann man nicht bestimmen, „man muss ihn versuchen“.25 Die ästhetische Erfahrung ist zwar von einer „empirischen Vorstellung“ abhängig, diese ist aber nicht Ursache der Lust am Schönen sondern das damit verbundene Lebensgefühl angesichts der Belebung der Erkenntniskräfte. Alle möglichen Vorstellungen von Gegenständen können diese Belebung verursachen. Auf Gegenstandsseite herrscht hier eine unbestimmbare Erscheinungsfülle, und die Ursache für das Schöne wird von dieser Seite her nie bestimmbar sein. Die Bestimmung des Gegenstandes als zweckmäßig für die ästhetische Urteilskraft ist nur eine Bestimmung, „als ob“ der Gegenstand für die ästhetische Urteilskraft gemacht wäre. Doch dieses „als ob“ ist keine Projektion des Subjekts auf den Gegenstand, sondern es ist das momentane Erscheinen des Gegenstandes – seine Präsenz –, die wie für die ästhetische Erfahrung gemacht ist. Das heißt man „probiert“ oder „kostet“ einen Gegenstand, ob seine Präsenz wie für den Gebrauch der ästhetischen Urteilskraft gemacht erscheint. Dieses „als ob“ ist das grundlegende Ver-
25 KdU BXLVII.
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hältnis zwischen „gekostetem“ Gegenstand und Subjekt innerhalb der ästhetischen Erfahrung. Anlässlich eines gegebenen Gegenstandes richtet sich die Urteilskraft nicht bestimmend auf den Gegenstand, sondern reflektierend auf sich selbst und erkennt nichts am Gegenstand, sondern verweilt in der freien Tätigkeit der Erkenntnisvermögen, wobei das „Material“ des Spiels die gegebenen Erscheinungen des Gegenstandes sind und beurteilt den Gegenstand, „als ob“ er für unsere Urteilskraft vorherbestimmt ist. Die Rede von ästhetischen Gegenständen im Sinne von schönen Gegenständen ist also nur im übertragenen Sinne sinnvoll, aber verblüffenderweise mit einer (ebenso übertragenen) Allgemeingültigkeit, weil das Urteil über das Schöne ein Urteil über ein Lebensgefühl ist, das auf einen Gegenstand bezogen wird, das von allen geteilt werden kann. Das Lebensgefühl des Wohlgefallens am Schönen ist ein Gefühl, das sich das Subjekt selbst macht; es ist ein freies Wohlgefallen, nicht angewiesen auf das Vorhandensein bestimmter Gegenstände und nicht bestimmt von Bedürfnissen und naturalen Neigungen. Es ist das Lebensgefühl, in dem wir einem Gegenstand unsere Gunst schenken, weil er uns „bloß gefällt“.26 Dieses „bloß“ ist nicht abwertend zu verstehen, sondern als „gefällt und sonst nichts“. Der Gegenstand nützt uns nichts (wir brauchen ihn nicht) und er vergnügt uns nicht (reizt nicht unsere Sinne, stachelt nicht die Begierde an), wir wollen ihn also nicht konsumieren, ihn uns einverleiben oder ihn zu unserem Nutzen gebrauchen, sondern nur aus Gunst in bloßer Betrachtung der Erscheinung des Gegenstandes verweilen.27 Für Gegenstände anhängender Schönheit, soll es sich um Schönheiten handeln, muss das Gleiche gelten wie für (freie) schöne Gegenstände, d.h., dass das Urteil nicht auf eine Eigenschaft des Gegenstandes bezogen werden kann, sondern frei sein muss und sich auf das Lebensgefühl des Subjekts bezieht. Doch, wie oben dargestellt, ist hier diese Freiheit eingeschränkt durch die Notwendigkeit, am Gegenstand eine objektive Zweckmäßigkeit erfüllt zu sehen. Diese ist es nicht, auf die es das Subjekt in der Beurteilung des Gegenstandes abgesehen hat, aber diese muss als Voraussetzung gegeben sein, um diesen als schön beurteilen zu können, auch wenn das Urteil nicht diese Voraussetzung zum Inhalt hat, sondern wie im Urteil über freie Schönheiten die freie Tätigkeit der Erkenntniskräfte. Über Gegenstände anhängender Schönheit lässt sich demnach, wie Kant es ausführt,28 auf zweierlei Arten sprechen: Erstens über ihre Voraus-
26 KdU B15. 27 Vgl. Gregor Häfliger: Vom Gewicht des Schönen in Kants Theorie der Urteile, Würzburg 2002. S. 50f. 28 KdU B52.
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setzungen, ästhetische Gegenstände zu sein – dies wäre ein Urteil über ihre objektive Zweckmäßigkeit und daher kein ästhetisches Urteil. Zweitens über ihre Schönheit bezogen auf das Gefühl der Lust oder Unlust angesichts ihrer Erscheinung – hier spricht man über sie als freie Schönheiten. Das Urteil über diese Gegenstände als freie Schönheiten bedarf aber gleichzeitig des Urteils über ihre objektive Zweckmäßigkeit und ist daher nicht frei, sondern eingeschränkt. Beim Sprechen über die nur eingeschränkt schönen Gegenstände, bezogen auf das Urteil über ihre objektive Zweckmäßigkeit, wird im alltäglichen Sprachgebrauch das Urteil über ihre Schönheit auf die objektiv bestimmbaren Eigenschaften des Gegenstandes bezogen und so Eigenschaften des Gegenstandes bestimmt, die ihn schön machen. Dass dies nur im übertragenen Sinn geschieht und in Wahrheit ein Urteil über die objektive Zweckmäßigkeit des Gegenstandes gefällt wird, wird dabei übersehen. Wir haben es somit beim Urteil über Gegenstände anhängender Schönheit mit zwei Urteilen zu tun: einem über die objektive Zweckmäßigkeit, die ein Gegenstand durch bestimmte Eigenschaften hat und einem ästhetischen Urteil, dass seine Ursache in der Lust und Unlust des Subjekts hat. Die doppelte Urteilsstruktur bei Gegenständen anhängender Schönheit (die Abhängigkeit und Gleichzeitigkeit von objektivem und ästhetischem Urteil) verleitet dazu, diese Urteile zu einem objektiven Schönheitsurteil zu vereinen und objektive Schönheitsprinzipien anzunehmen. Für das Lebensgefühl des Wohlgefallens an Gegenständen anhängender Schönheit muss aber das gleiche gelten, wie für das Wohlgefallen an freien Schönheiten. Es kann demnach nicht um Neigung oder Brauchbarkeit gehen, sonst wäre es kein Wohlgefallen am Schönen. Das Schenken einer Gunst muss vorliegen. Doch diese Gunst wird hier nur unter bestimmten Bedingungen geschenkt. Der Gegenstand muss, als ein auf einen bestimmten Begriff gebrachter Gegenstand, die Bedingungen des Begriffes erfüllen – es handelt sich demnach um eine Gunst, die nur mit der Sicherheit einer Bestimmung des Gegenstandes geschenkt wird. Es ist keine Gunst, die offen für die Erscheinungsfülle der Welt geschenkt wird, sondern die beschränkt auf bereits Erkanntes und für gut Befundenes bleibt. Sie wird nur Erscheinungen erwiesen, die bereits als Gegenstände vorliegen und erkannt wurden. Es handelt sich hier um ein Wohlgefallen am Konventionellen ohne die Freiheit der bloßen Betrachtung der Erscheinungsfülle der Welt. Es ist die Frage „Was soll das denn sein?“, die das Bedürfnis nach Erkenntnis über einen Zugang zur Welt stellt, der auf das Verweilen in der bloßen Betrachtung der Erscheinungen aus ist. Mit der Frage „Wozu soll das denn gut sein?“ z. B. angesichts von Kunstgegenständen, wird überhaupt jedem Wohlgefallen, das nicht auf Nützlichkeit beruht, die Existenzberechtigung entzogen und
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damit „einer Welterfahrung, in der wir uns in unserer Lust als nicht abhängig von etwas erfahren.“29 Warum drängt sich aber bei manchen Erscheinungen ein Begriff auf, von dem sich nicht absehen lässt und der die Vorstellung eines Gegenstandes unter sich zwingt? Kant nennt hier als Beispiele die Schönheit des Menschen, die eines Pferdes und die eines Gebäudes.30 Der „inneren Zweck“31 des Gegenstandes sei hier die Ursache dafür, dass diese Gegenstände nur als anhängende Schönheiten in Frage kommen. Um hier beim Pferd zu bleiben – der Begriff Pferd ist mit einem Zweck verbunden, der bestimmt, wie ein Pferd zu sein hat. Anders bei der Blume. Der Zweck einer Blume ist höchstens dem Botaniker bekannt, 32 und der Begriff Blume ist nicht mit einem inneren Zweck verbunden. Daher kann eine Blume Anlass für die freie Tätigkeit der Erkenntniskräfte werden, weil die bloße Vorstellung gegen die Vermögen gehalten werden kann, ohne einen inneren Zweck zu denken, der nichts anderes als ein Vorstellungszustand des Subjekts ist, der dem freien Spiel der Vermögen im Weg steht oder es einschränkt. Freie Schönheiten können demnach nur Erscheinungen sein, von deren Begriff ich absehen kann, weil dieser nicht mit einem inneren Zweck, einer Norm der Erscheinung, verbunden ist. Bei freien Schönheiten ist der Verstand frei dazu, von einer Zweckmäßigkeit des Gegenstandes abzusehen; bei anhängenden Schönheiten gelingt ihm dies nicht, weil eine dem inneren Zweck widersprechende Erscheinung, die Existenz des Gegenstandes und nicht die bloße Erscheinung, in den Vordergrund rückt. Kant erklärt im §16 der KdU, in dem er das Pferd als Beispiel adhärierender Schönheit anführt, nicht, ob der innere Zweck des Pferdes als Naturgegenstand ein Naturzweck ist, oder seine Nützlichkeit. Diese wäre aber ein äußerer Zweck, da sie nicht Ursache für die Existenz des Pferdes ist. Wie auch immer, ein krankes oder verkrüppeltes Pferd widerspricht seinem praktischen Zweck, dem Menschen als kraftvolles Tier zu Diensten zu sein und seinem Naturzweck – der inneren Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen33 und kann schwerlich als schön beurteilt werden. Anders bei der Blume, die auch als Welkende und Sterbende ein schöner Gegenstand sein kann, wie überhaupt im Pflanzenreich das Sterbende oftmals mit Schönheit vereinbar ist. Die Grenzen der ästhetischen Einstellung (als Lebensgefühl, das auf ästheti-
29 Gregor Häfliger: Vom Gewicht des Schönen in Kants Theorie der Urteile, Würzburg 2002. S. 53. 30 KdU B50. 31 KdU B51. 32 KdU B49. 33 KdU B296.
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sche Lust aus ist) setzen offenbar die Moralität und die naturalen Bedürfnisse des Menschen. Einem aus Krankheit sterbenden Pferd seine ästhetische Gunst zu schenken, bloßes Gefallen an seiner Erscheinung zu finden, ist sowohl aus Gründen der Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber dem Nutztier schwer möglich (wenn auch noch denkbar), aber noch schwerer wiegt das Mitleiden mit dem sterbenden Tier, der „Angriff“ auf die eigene Vitalität. (Die assoziative Verbindung mit der eigenen Vitalität und Körperlichkeit erklärt vielleicht auch, dass viele „höhere“ Tiere Gegenstände anhängender Schönheit sind, Pflanzen und viele „niedere“ Tiere nicht).34 Wir haben nun drei verschiedene Verhältnisse von Gegenständen zum Gefühl der Lust und Unlust kennengelernt, die aus unterschiedlichen Zweckmäßigkeiten dieser Gegenstände für das Subjekt entstehen und daraus resultierend, verschiedene Arten des Wohlgefallens an diesen Gegenständen hervorrufen. Zentraler Punkt dieser Differenzierung ist der Unterschied zwischen Gegenständen freier Schönheit und Gegenständen anhängender Schönheit, der die Konsequenzen der Vergegenständlichung ästhetischer Urteile in anhängende Schönheitsurteile deutlich macht: Autonomieverlust im Schönheitsurteil. Diese Differenz bildet die erste Stufe des Modells anhand dessen in dieser Studie der Prozess der Vergegenständlichung von ästhetischen Ideen analysiert werden soll. Dafür wird aber zunächst im nächsten Kapitel eine weitere Differenzierung von ästhetischen Gegenständen in Kunstschönheiten und Naturschönheiten vorgenommen (siehe Tabelle 5), wobei sich herausstellen wird, dass es sich bei beiden um Gegenstände anhängender Schönheit handelt. Tabelle 5: Weitere Differenzierung ästhetischer Gegenstände Angenehme Gegenstände Gegenstände freier Schönheit Gegenstände anhängender Schönheit Kunstschönheiten Naturschönheiten
34 Siehe KdU B189. „Zwar wird in der Beurteilung, vornehmlich der belebten Gegenstände der Natur, z.B. des Menschen oder eines Pferdes, auch die objektive Zweckmäßigkeit gemeiniglich mit in Betracht gezogen, um über die Schönheit derselben zu urteilen; [...].“
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2.4 N ATURSCHÖNHEITEN
UND
K UNSTSCHÖNHEITEN
Kant vollzieht keine strenge Trennung zwischen Kunst- und Naturgegenständen hinsichtlich ihrer Beurteilung als schön. Es liegt im Wesen des Schönheitsurteils, dass es sich eben nicht darum kümmert, was für ein Gegenstand als schön beurteilt wird. Bei Naturgegenständen bietet sich das Absehen von jeder Zweckmäßigkeit selbstverständlicher an, da diese keine Zwecke sind; doch auch im Zusammenhang mit Artefakten ist es möglich, freie Schönheit zu erfahren. Man denke nur an die ästhetische Erfahrung angesichts einer Großstadt. Hier werden Artefakte – oder besser Artefaktzusammenhänge – naturalisiert, von ihrer Gemachtheit (ihrem Ursprung) wird abgesehen – diese spielt in der Beurteilung keine Rolle. Gemachtes wird als Natur erlebt, ohne inneren oder äußeren Zweck, der bei der Beurteilung eines Artefaktes erfüllt sein muss. Die Schönheit einer Großstadt, sogar eines Slums, hat nichts mit stadtplanerischer oder lebensweltlicher Vollkommenheit zu tun, sondern ist freie Erscheinungsfülle. Obigen Überlegungen folgend spielt es für ein freies Wohlgefallen am Schönen keine Rolle um was für einen Gegenstand es sich handelt. Das heißt, dass es keinen Unterschied macht, ob es sich um einen Naturgegenstand oder um ein Artefakt handelt. „Denn wir können allgemein sagen, es mag die Natur- oder die Kunstschönheit betreffen: schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (nicht in der Sinnenempfindung, noch durch einen Begriff) gefällt.“ 35 Dennoch widmet Kant in seiner Analytik zehn Paragraphen den Bedingungen des Wohlgefallens am Schönen im Zusammenhang mit Artefakten als Gegenständen schöner Kunst. Die Problematik, die im Kern behandelt wird, ist die der Artefaktizität und der damit verbundenen Zweckmäßigkeit des Gegenstandes. 36 Obwohl das freie Wohlgefallen begriffsgemäß frei sein muss, jeden beliebigen Gegenstand (seine bloße Erscheinung) zum Gegenstand seiner Lust zu machen (ihn zu „kosten“), geht es doch um Qualitäten auf der Erscheinungsseite. Dies können aber keine bestimmbaren Qualitäten im Sinne eines „Ideals der Schönheit“37 sein, wie bestimmte Proportionen, Farbintensitäten oder Linienführungen, sondern die Zweckmäßigkeit des „freien“ Erscheinungsmaterials für die Belebung der Erkenntniskräfte. Diese „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ kann, wie bereits gesagt, nicht bestimmt werden, sondern nur im „Kosten“ des Gegenstandes erfahren werden. Was sich aber auf der Gegenstandseite bestimmen lässt, ist die Freiheit des Erscheinungsmaterials – ob Gegenstände „freies“ Material aufweisen kön-
35 KdU B180. 36 Siehe Ebd. „Nun hat Kunst jederzeit eine bestimmte Absicht, etwas hervorzubringen.“ 37 KdU B53.
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nen oder nicht. Das ist davon abhängig, ob mit ihnen innere oder äußere Zwecke verbunden werden oder ob man von diesen im ästhetischen Erleben absehen kann. Die dadurch mögliche Freiheit des Materials ist empirischer Natur, abhängig von äußeren wie gesellschaftlichen Umständen, aber auch von Neigungen, Vorstellungszustand und Geschmack des Subjekts. Hier zeigt sich nochmals das Faszinierende an der Konzeption Kants, dass das Wohlgefallen subjektiv ist, aber Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Ob ein Gegenstand „freies“ Material zeigt, ist empirisch und subjektiv, das Urteil über die Zweckmäßigkeit des Erscheinungsmaterials für die Belebung der Erkenntniskräfte ist naturgemäß ebenso subjektiv, kann aber, da es sich auf ein allgemeines Vermögen bezieht, allen angetragen werden. Bei Naturgegenständen ist die Freiheit des Erscheinungsmaterials grundsätzlich gegeben, weil sie nicht von und für uns hergestellt wurden. Ihre Ursache ist keine menschliche Intention, wie bei Artefakten. In der Praxis machen wir sie uns dienlich oder wehren sie ab. Wenn sie nicht praktisch oder teleologisch mit einem inneren Zweck verbunden werden, stehen sie als Erscheinungsmaterial dem freien Geschmacksurteil grundsätzlich zur Verfügung. Anders verhält es sich bei Artefakten, die gar nicht anders als zweckmäßig sein können, weil sie vom Menschen nach Regeln hergestellt werden. Das Herstellen folgt immer einer Intention, und Artefakte haben demnach immer einen inneren Zweck. Als Artefakte weisen demnach Kunstgegenstände einen inneren Zweck auf, auch wenn es ein besonderer innerer Zweck sein mag. „Um eine Naturschönheit als eine solche zu beurteilen, brauche ich nicht vorher einen Begriff davon zu haben, was der Gegenstand für ein Ding sein solle; d.i. ich habe nicht nötig, die materielle Zweckmäßigkeit (den Zweck) zu kennen, sondern die bloße Form ohne Kenntnis des Zwecks gefällt in der Beurteilung für sich selbst. Wenn aber der Gegenstand für ein Produkt der Kunst gegeben ist und als solches für schön erklärt werden soll, so muss, weil Kunst immer einen Zweck in der Ursache (und deren Kausalität) voraussetzt, zuerst ein Begriff von dem zum Grunde gelegt werden, was das Ding sein soll; und da die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge zu einer inneren Bestimmung desselben als Zweck die Vollkommenheit des Dinges ist, so wird in der Beurteilung der Kunstschönheit zugleich die Vollkommenheit des Dinges in Anschlag gebracht werden müssen, wonach in der Beurteilung einer Naturschönheit (als einer solchen) gar nicht die Frage ist.“38
38 KdU B188.
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Kant analysiert hier, wie Kunstschönheiten als Artefakte – mit einem inneren Zweck versehen – unter einem bestimmten Begriff stehen müssen und daher ein Urteil über die Schönheit eines Kunstwerks nur ein Vollkommenheitsurteil sein kann.39 Wichtig erscheint mir hier Kants Formulierung, dass „in der Beurteilung der Kunstschönheit zugleich die Vollkommenheit des Dings in Anschlag gebracht“ werden muss. „Zugleich“ heißt aber zusammen mit einer anderen Beurteilungsform. Das kann im Zusammenhang mit Kunstschönheiten nur ein ästhetisches Urteil sein und zwar ein freies Schönheitsurteil. Diese Dualität der Urteile erklärt Kant schon in der Analyse anhängender Schönheit. Dennoch liegt für Kant offenbar eine Differenz zwischen Gegenständen anhängender Schönheit und Kunstschönheiten vor, das zeigen die getrennt geführten Analysen von anhängender Schönheit, die im Zusammenhang mit der Vollkommenheit von Dingen geführt wird, und der gesonderten Analyse von Kunstschönheiten. Die Differenz kann aber nicht in der grundsätzlichen Beurteilungsstruktur liegen, denn sobald ein innerer Zweck vorliegt, wie es bei allen Artefakten der Fall ist, muss ein Urteil hinsichtlich eines bestimmten Begriffs erfolgen. Wird also über Artefakte ein Schönheitsurteil gefällt, muss eine Urteilsstruktur vorliegen, in der das freie Schönheitsurteil von einem Vollkommenheitsurteil eingeschränkt wird. Es liegt daher nahe, die Differenz zwischen Gegenständen anhängender Schönheit und Kunstschönheiten im inneren Zweck zu suchen. Diese Differenz im inneren Zweck erklärt sich mit der Intention des Künstlers, ein Artefakt herzustellen, das zweckmäßig für das freie ästhetische Wohlgefallen sein soll.40 Der innere Zweck des Kunstwerkes ist also paradoxerweise die Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Da aber der innere Zweck, weil er nicht wie der äußere Zweck Eigenschaften des Gegenstandes, sondern ebenso seine Erscheinung betrifft, einem freien Geschmacksurteil im Wege stehen muss, geschieht hier etwas Besonderes – die Abhebung und Einschließung des freien Wohlgefallens in ein Kunstwerk – in eine Welt des Scheins. „Also muss die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d.i. schöne Kunst muss als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewusst ist.“41 Ein Kunstwerk ist wie jedes Artefakt grundsätzlich zweckmäßig, doch diese Zweckmäßigkeit ist ein innerer Zweck und dieser innere Zweck ist die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, also die Zweckmäßigkeit
39 Dem Zusammenhang von innerem Zweck und Vollkommenheit und anhängender Schönheit begegnen wir bereits im § 16 der Analytik. 40 Das ist selbstverständlich eine moderne Idee des inneren Zwecks eines Kunstgegenstandes, die aber meinem Verständnis nach von Kant so gedacht wird. 41 KdU B180.
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der bloßen Vorstellung für die Belebung der Erkenntniskräfte. Der innere Zweck des Kunstwerks löst dieses heraus aus der Verkettung der Zwecke, der andere Artefakte angehören. Nur durch den seltsamen inneren Zweck des Kunstwerkes, der durch seine Bezogenheit auf die Erkenntnisvermögen des Subjektes, seinen eigenen Gegenstand gleichsam hinter sich zurücklässt, ist das Kunstwerk mit der Welt der Alltagsgegenstände verbunden. „Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge.“ 42 Diese Abgehobenheit des Kunstwerks ist nicht mit Fiktionalität zu verwechseln – es handelt sich hier um den Schein, der durch die Herauslösung aus der Zweckkette entsteht, und nicht um ein Abbildungsverhältnis. Fiktionale Gegenstände wie z.B. ein Bild in der Zeitung, können und sind sehr oft Alltagsgegenstände, die der Verkettung von Zwecken angehören und große praktische Relevanz haben können. Da der innere Zweck eines Kunstwerkes die Zweckmäßigkeit ohne Zweck ist, wird die Vollkommenheit an der Erreichung dieses Zwecks bemessen, also an der Freiheit des Erscheinungsmaterials und seiner Zweckmäßigkeit für die Belebung der Erkenntniskräfte. Das ist ein feiner, aber struktureller Unterschied zwischen freier Schönheit und Kunstschönheit. Das Urteil über das Kunstschöne ist weiterhin an das zur Verfügungstehen eines Gegenstandes gebunden – es liegt ein Zweckmäßigkeitsverhältnis zwischen Subjekt und Gegenstand vor (die Zweckmäßigkeit für die Zweckmäßigkeit ohne Zweck) – während beim Urteil über freie Schönheit der Gegenstand „aus den Augen verloren“ wird. Anders als bei freien Schönheiten (deren Art der Gegenständlichkeit gar keine Rolle spielen darf) handelt es sich bei Kunstschönheiten um Gegenstände anhängender Schönheit von besonderer Art – es sind scheinbar freie Schönheiten. Die bei freien Schönheiten freie Erscheinungsfülle ist hier eben nicht frei, weil die bloße Vorstellung unter den Begriff des Artefakts subsumiert wird. Material der scheinbar freien Tätigkeit der Erkenntniskräfte ist beim Kunstschönen die „schöne Vorstellung eines Gegenstandes, die eigentlich nur die Form der Darstellung eines Begriffs ist, durch welcher dieser allgemein mitgeteilt wird.“43 Das ist wie oben besprochen gar nicht anders möglich, da der Mensch nichts ohne Intention und Begriff hervorbringen kann. Jedes Artefakt, auch das Kunstwerk, ist Zweck. Soll der Zweck nun „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ sein, so muss der dem Kunstwerk als Ursprung zu Grunde liegende Begriff so sein, dass er innerhalb seiner Grenzen ein freies Spiel der Erkenntniskräfte ermöglicht. Der dem Kunstwerk zugrunde liegende Begriff wird durch die Intention, ein Artefakt
42 KdU B188. 43 KdU B190.
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herzustellen, dessen Zweck es ist, ohne Zweck zu sein, in Erscheinungsmaterial verwandelt. Kant nennt diese dadurch entstehende Art von Vorstellungen der Einbildungskraft, in deutlicher Unterscheidung zu Vorstellungen (Schemata) der bestimmenden Urteilskraft, ästhetische Ideen. „Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“44 Das dafür notwendige Vermögen ist die Einbildungskraft, als „produktives Erkenntnisvermögen“, das sich als „sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt“ 45 erweist. Wir begegnen hier drei verschiedenen Verwendungsweisen der Einbildungskraft: „Schematisierend“ bestimmt durch die Vernunft, „Frei“ in freiem Zusammenspiel mit der Vernunft und „Produktiv“ in einem schaffenden freien Zusammenspiel mit der Vernunft.46 Diese produktive Freiheit des Künstlers bei der Herstellung von Kunstschönheiten schreibt den Kunstwerken aber einen inneren Zweck ein, der Kunstschönheiten nur zu scheinbar freien Schönheiten macht, die die mit ihnen mögliche ästhetische Erfahrung von der ästhetischen Idee abhängig macht und eben nur eine scheinbare Freiheit der Tätigkeit der Erkenntniskräfte ermöglicht. Ihre Tätigkeit ist den Regeln der ästhetischen Idee unterworfen, die der Künstler im schaffenden freien Zusammenspiel der Erkenntniskräfte aufgestellt hat. Das belebende Prinzip bei der ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken ist also nicht die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, sondern ästhetischer Geist, den Kant als „das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“47 definiert. Hier tut sich die Kluft zwischen Produktion und Rezeption von Kunstschönheiten auf, die zu je eigenen ästhetischen Theorien führt – einer Ästhetik der produktiven Freiheit der Erkenntniskräfte des Künstlers (Produktionsästhetik) und einer Ästhetik der scheinbaren Freiheit der Erkenntniskräfte des Kunstbetrachters (Rezeptionsästhetik). Die ästhetische Idee eines Kunstwerkes (als sein innerer Zweck), die durch ihre Regeln der Erscheinung (man könnte auch sagen durch ein Gestaltungsprinzip) die ästhetische Erfahrung einschränkt, ist, da sie Prinzipien für die Gestaltung formuliert, nicht auf ein singuläres Kunstwerk beschränkt, sondern lässt sich für weitere Kunstwerke verwenden. Wenn ein exemplarisches Kunstwerk geschaffen wurde, regt es dazu an, der ihm zu Grunde liegenden ästhetischen
44 KdU B193. 45 Ebd. 46 Vgl. dazu KdU §49. 47 KdU B192.
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Idee nachfolgend, weitere Kunstwerke zu produzieren. Das heißt aber nicht, dass vom exemplarischen Kunstwerk eine Kopie erstellt wird, sondern es entstehen weiterhin originäre Kunstwerke, die der produktiven Einbildungskraft bedürfen, aber das schöpferische freie Zusammenspiel von Einbildungskraft wird durch die übernommene ästhetischen Idee eingeschränkt bzw. deren Regeln unterworfen. Auf diesem Vorgang der „Nachfolge“ 48 fußt die Entstehung von sogenannten Bildgattungen49 und die von Künstlern, Händlern und Kritikern vorgenommenen Gründungen von -ismen (Impressionismus, Dadaismus, Surrealismus, etc.), die verschiedene Nachfolgegeschichten zu „Bewegungen“ idealisieren. Kant beschreibt diese Übernahme von ästhetischen Ideen in der Nachfolge von Künstlern, deren Werk exemplarisch für andere wird, als Entstehung von Mustern.50 Eine ähnliche Konstituierung eines inneren Zwecks der Zweckmäßigkeit ohne Zweck liegt bei Naturgegenständen vor, die um ihrer Natürlichkeit willen als schön bestimmt werden. Im Sinne von Kant von Naturschönheiten zu sprechen, bedeutet nicht, dass ein Gegenstand, weil er ein Ding der Natur ist, schön ist. Kant benutzt den Begriff Naturschönheit nur im Zusammenhang mit der Abgrenzung von Kunstschönheit. „Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; [...]“,51 er schließt hiermit eine besondere Eignung von Naturgegenständen für das Geschmacksurteil aus, er differenziert nur den Begriff der Kunstschönheit, die hingegen „eine schöne Vorstellung von einem Dinge“52 ist. Er stärkt in der Deduktion noch einmal die Freiheit des ästhetischen Urteils von der Existenz der Objekte, die bei Naturgegenständen eben ohne Voraussetzungen gegeben ist. Ich muss für die ästhetische Erfahrung von Naturgegenständen nichts mitbringen, keinen Begriff und auch kein Interesse. „Um eine Naturschönheit als eine solche zu beurteilen, brauche ich nicht vorher einen Begriff davon zu haben, was der Gegenstand für ein Ding sein solle; d. i. ich habe nicht nötig, die materiale Zweckmäßigkeit (den Zweck) zu kennen, sondern die bloße Form ohne Kenntnis des Zwecks gefällt in der Beurteilung für sich selbst.“53 Wird aber Natur beur-
48 Vgl. KdU §32. 49 Siehe dazu die von Hans Belting vorgenommene Analyse der Entstehung des bürgerlichen Porträt in der Nachfolge von Jan van Eyck. Hans Belting: Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden. München 2010. 50 Vgl. KdU §47. 51 KdU B188. 52 Ebd. 53 Ebd.
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teilt „sofern sie wirklich (obzwar übermenschliche) Kunst ist“,54 d.h. als Ursache ihrer Schönheit (objektive Zweckmäßigkeit), „alsdann ist aber auch das Urteil nicht mehr rein ästhetisch, d. i. bloßes Geschmacksurteil.“ 55 Naturschönheiten als schöne Objekte mit dem inneren Zweck der Zweckmäßigkeit ohne Zweck sind somit anhängende Schönheiten. Im Unterschied zu Kunstschönheiten wird aber das freie ästhetische Urteil nicht vom sittlich-praktischen Urteil eingeschränkt, sondern „das teleologische Urteil dient dem ästhetischen zur Grundlage und Bedingung, worauf dieses Rücksicht nehmen muss“.56
2.5 S CHÖNE G EBRAUCHSGEGENSTÄNDE Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass reine (freie) Schönheiten sich nicht als reine Schönheiten herstellen lassen. Das heißt aber nicht, dass Artefakte nicht freie Schönheiten sein können, sie können nur eben nicht als solche hergestellt und intendiert sein. Der Mensch kann in der Kunst aber scheinbar freie Schönheiten herstellen, die Zwecke für die Zweckmäßigkeit ohne Zweck sind. Kunstwerke, als scheinbar freie Schönheiten, sind eine besondere Form anhängender Schönheit, die durch die in ihnen wirkende „Kausalität nach Zwecken“57 ein Produktionsverhältnis (Ursache) und ein Rezeptionsverhältnis (Wirkung) aufweisen. Wie stellt sich nun das Verhältnis von Produktion und Rezeption bei anhängenden Schönheiten dar, die keine Kunstgegenstände sind z.B. schöne Gebrauchsgegenstände? Der innere Zweck anhängender Schönheiten, die keine Kunstschönheiten sind, ist keine Zweckmäßigkeit, die auf eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck abzielt, sondern ist eine objektive Zweckmäßigkeit im Sinne von Nützlichkeit oder Vollkommenheit.58 Wir haben es somit bei schönen Gebrauchsgegenständen bzw. Designgegenständen nicht nur mit einem Produktionsverhältnis und einem Rezeptionsverhältnis innerhalb ästhetischer Erfahrung zu tun, sondern mit Produktion und Gebrauch im praktischen Sinne, also mit Verhältnissen mit denen sich die praktische Philosophie befasst und nicht die
54 Ebd. 55 KdU B 189. 56 Ebd. 57 Das Kunstwerk ist vom Künstler dafür gemacht von jemandem anderen betrachtet zu werden. Das Kunstwerk ist sozusagen der Versuch einer Verkörperung der Allgemeingültigkeit von ästhetischer Erfahrung. 58 KdU B44.
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Ästhetik. Dennoch spielt hier die Ästhetik eine Rolle, handelt es sich doch um Schönheiten, wenn auch um solche, die von einem Zweck abhängen. Wir haben es hier demnach mit einem objektiven praktischen Urteil, wie auch mit einem Geschmacksurteil zu tun. Wie bei allen Gegenständen anhängender Schönheit liegt es auch bei schönen Gebrauchsgegenständen bzw. Designgegenständen nahe, die beiden Urteilsformen zu einem objektiven Geschmacksurteil zu vereinen und dadurch das Empfinden von Schönheit angesichts eines Gegenstandes auf seine praktischen Eigenschaften zurückzuführen und so statt einem ästhetischen Urteil ein Nützlichkeits- bzw. Vollkommenheitsurteil zu fällen. 59 Alle hier genannten Gegenstände anhängender Schönheit (Kunstschönheiten, Naturschönheiten und schöne Gebrauchsgegenstände) verführen durch ihre doppelte Urteilsstruktur dazu, diese Analogisierung von ästhetischen und objektiven Urteilen vorzunehmen; und alle objektivistischen Ästhetiken tun genau das. Aus obigen Überlegungen lässt sich nun folgende Klassifizierung (siehe Tabelle 6) der verschiedenen ästhetischen Gegenstände ableiten: Tabelle 6: Klassifizierung ästhetischer Gegenstände 1. Angenehme Gegenstände 2. Gegenstände freier Schönheit 3. Gegenstände anhängender Schönheit 3a. Kunstschönheiten
Ästhetische Idee Muster
3b. Naturschönheiten 3c. Schöne Gebrauchsgegenstände (Designgegenstände) Das Schema zeigt nun Gegenstände bzw. Vorstellungen ästhetischer Erfahrung. Sie alle sind Anlass für ein auf das Gefühl der Lust und Unlust bezogenes subjektives Urteil. Dieses ästhetische Urteil kann rein sein, wie beim Urteil über das Schöne. Die Vorstellungen bzw. Gegenstände, die das in diesem Urteil bestimmte Wohlgefallen am Schönen affizieren, werden in dieser Arbeit, obwohl als Objekte nicht bestimmbar, Gegenstände freier Schönheit genannt. Gegenstände an-
59 Siehe dazu: Kapitel 8 in dieser Studie.
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hängender Schönheit sind sowohl Anlass für ein Wohlgefallen am Guten, wie auch für ein Wohlgefallen am Schönen. Sie sind daher als Objekte ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Praxis tatsächlich bestimmbar, wenn auch diese Bestimmung nur scheinbar mit dem ästhetischen Urteil zu tun hat. Angenehme Gegenstände sind über Sinnesurteile ebenfalls auf das Gefühl der Lust und Unlust bezogen und sind daher ästhetische Gegenstände, bei denen Eigenschaften (wie Farbe, Oberflächenstruktur, etc.) als Ursache von Lust und Unlust bestimmt werden können. Diese Bestimmung hat aber nur subjektive Gültigkeit. Gegenstände freier Schönheit und Gegenstände anhängender Schönheit, differenziert in Kunstschönheiten, schöne Gebrauchsgegenstände und Naturschönheiten, bilden für die nächsten beiden Kapitel das kategoriale Grundgerüst für die Analyse des Prozesses der Vergegenständlichung der ästhetischen Idee „Landschaft“ zum Landschaftsgemälde, zum Landschaftsgarten und zur freien Landschaft. Es wird sich dabei zeigen, dass es mit der Unterkategorie der Gegenstände anhängender Schönheit möglich wird, die verschiedenen Formate von „Landschaft“ zu erfassen.
3. „Landschaft“ als Kunstgegenstand und Muster
Die Entstehung von Landschaft als ästhetischer Gegenstand ist Teil des geschichtlichen Prozesses der Konstituierung des Individuums und der Vorstellung vom Menschen als Subjekt, das zur Freiheit befähigt und berechtigt ist. Eingebettet in diesen Prozess ist die Entdeckung „freier Schönheit“,1 wie sie von Kant analysiert wurde, und die Entstehung autonomer Kunstgegenstände, u.a. der Landschaft, des Porträts, des Stilllebens. Eine These dieser Studie ist es, dass die Möglichkeit der Erfahrung „freier Schönheit“ Voraussetzung für die Produktion des Kunstgegenstands „Landschaft“ ist.
3.1 Ä STHETISCHE I DEE „L ANDSCHAFT “ Eine ästhetische Idee ist ein Prinzip für die Formung, Gestaltung oder Komposition von Erscheinungsmaterial mit der Intention der Herstellung freier Schönheit. Das Produkt dieser Gestaltung ist ein Kunstgegenstand. Die ästhetische Idee wird entwickelt aus ästhetischen Erfahrungen, die „freies“ Erscheinungsmaterial liefern, und aus den dem Künstler zur Verfügung stehenden Gestaltungsmitteln bzw. technischen Möglichkeiten. Erscheinungsmaterial und Gestaltungstechniken werden so lange variiert, bis ein neues Prinzip für die Gestaltung von Erscheinungsmaterial gefunden ist, das die Intention, freie Schönheit zu schaffen, erfüllt. Man kann somit einen hypothetischen Entstehungszeitpunkt annehmen, an dem in einem kreativen Akt eine neue ästhetische Idee erfunden wird. Diese innovativen Akte sind wichtiger Inhalt der Kunstgeschichte und die Gründungsmythen der klassischen Avantgarden, wie z.B. die Erfindung des ready-
1
KdU §16.
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mades von Marcel Duchamp. Es lässt sich nun kein Duchamp der Landschaftsmalerei vorweisen, aber eine von Ernst H. Gombrich zitierte Anekdote aus dem 1650 von Edward Norgate verfassten Buch „Miniatura“ über die Erfindung der Landschaftsmalerei Mitte des 16. Jahrhunderts. Gombrich bezeichnet diese Anekdote als „eine gedankliche Rekonstruktion des ‚ersten Landschaftsbildes’“.2 In seinem Artikel „Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei“ betont Gombrich das Neue an der Landschaftsmalerei, die „als eine wirkliche Entdeckung empfunden wurde“.3 Es war die Entstehung einer „absoluten und selbstständigen Kunstform“ und nicht nur ein „langsames Absterben der religiösen Malerei“, aus der sich die realistischen Bildhintergründe als eigenes Genre der Landschaftsmalerei emanzipierten. Diese von Norgate als Anekdote präsentierte und von Gombrich zitierte „Rekonstruktion“ der Erfindung der Landschaftsmalerei liest sich folgendermaßen: „Wie man mir im Ausland erzählte, begann die Sache so: Ein Antwerpener Bürger, der ein großer ‚Liefhebber’ der Kunst war, besuchte nach seiner Rückkehr von einer langen Reise durch die Gegend von Lüttich und die Wälder der Ardennen einen alten Freund, einen sehr geschickten Maler, in dessen Haus er oft verkehrte. Er traf den Maler an seiner Staffelei an, wo er eifrig weiterarbeitete, während sein eben eingetroffener Freund, im Atelier auf und ab gehend, ihm von den Abenteuern seiner langen Reise erzählte – von den Städten, die er besucht, und von den schönen Aussichten, die er in einer seltsamen Gegend gesehen, die voll war von Felsengebirgen, alten Burgen, merkwürdigen Bauten usw. Diese Erzählung, die immer länger wurde, entzückte den tüchtigen und flinken Maler so sehr, dass er, ohne dass sein herumwandernder Freund es bemerkte, seine Arbeit stehenließ und auf einer neuen Tafel das zu malen begann, was der andere erzählte, wobei seine Schilderung eine verständlichere und dauerhaftere Form annahm als das gesprochene Wort des Freundes. Kurz gesagt: Als dieser mit seiner langen Erzählung zu Ende war, hatte der Maler das Werk zu einem solchen Grad von Vollkommenheit gebracht, dass der Freund, der zufällig hinschaute, sich vor Staunen gar nicht fassen konnte, als er diese Orte und Gegenden so lebendig vom Maler dargestellt sah, als ob er sie mit seinen [des Freundes] Augen gesehen hätte oder sein Reisegefährte gewesen wäre. Dieser erste Versuch in
2
Ernst H. Gombrich: Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei, in: Ders.: Die Kunst der Renaissance I, Norm und Form, Stuttgart 1985 (Engl. Erstausgabe 1966). S. 151.
3
Ebd. S. 151.
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der Landschaftsmalerei soll dem Maler Geld und Ansehen eingetragen haben. Andere begannen ihn nachzuahmen [...].“
4
Diese Anekdote zeigt, dass folgende „Zutaten“ zusammengeführt werden mussten, um „Landschaft“ als Bild zu erfinden: 1. Bildwürdigkeit5 von Gegenständen bzw. Erscheinungen, die das Wohlgefallen des Reisenden erregt haben – Städte, schöne Aussichten, seltsame Gegenden voll von Felsengebirgen, alten Burgen, merkwürdigen Bauten. 2. Darstellungstechniken, die ein geschickter und begabter Maler beherrschte, um die Reiseschilderung ins Bild setzten zu können. 3. Spezialisierung des Malers als Landschaftsmaler ermöglicht durch einen Kunstliebhaber (der hier identisch mit dem Reisenden ist), den das „erste“ Landschaftsbild offenbar so sehr in Erstaunen versetzte, dass er (oder andere) dieses Bild besitzen wollten und so dem Maler Geld und Ansehen einbrachten. Nils Büttner fragt in seinem Buch „Die Erfindung der Landschaft“, unter kritischer Bezugnahme auf Gombrich, nach „den äußeren Umständen und den Gründen“6 für die Entstehung der „Landschaft“ als autonome Bildgattung. Er stellt damit eine Frage in den Mittelpunkt, die die meisten Untersuchungen über die Entstehung von „Landschaft“ nicht behandelt haben, da sie entweder stilistischen oder ideengeschichtlichen Erklärungsschemata folgen: „Ganz im Sinn des 19. Jahrhunderts wird nämlich das ‚Naturgefühl’ als bestimmender Faktor und als Ursache der naturalistischen Landschaftsdarstellung verstanden“,7 oder „Landschaftsmalerei als Gattung“ wird „durch das Aufzeigen stilistischer Entwicklungen“8 erklärt und der Nachweis der Existenz von Landschaftsmalerei bis mindestens in die Antike nachgewiesen. Ich werde nun die drei genannten Voraussetzungen – Bildwürdigkeit, Darstellungstechnik und Spezialisierung – für das Entstehen von Landschaftsmalerei mit Hilfe der von Büttner entwickelten Argumentation genauer darstellen:
4
Edward Norgate: „Miniatura“ or the Art of Limning, Hrsg. von Martin Hardie, Oxford 1919. S. 45-46; zitiert in: Ernst H. Gombrich: Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei, in: Ders.: Die Kunst der Renaissance I, Norm und Form, Stuttgart 1985 (Engl. Erstausgabe 1966). S. 151.
5
Diesen Begriff übernehme ich von Büttner: Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft: Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000. S. 176.
6
Ebd. S. 13.
7
Ebd. S. 12.
8
Ebd. S. 13.
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1. Büttner sieht den Grund für das Bedürfnis nach der Betrachtung von „schönen Aussichten, Städten, seltsamen Gegenden“ etc. im Bild – er nennt das ihre „Bildwürdigkeit“9 – in der Nützlichkeit dieser Betrachtung. „Mit Hilfe einer gemalten oder gezeichneten Landschaft konnte man Schlachten planen. Auch konnte man mit ihrer Hilfe ganz friedlich und bequem im Lehnstuhl verreisen, konnte gefahrlos ferne Länder besuchen oder die eigene engere Heimat dokumentieren. Die Landschaft selbst war damit als Bildgegenstand interessant geworden.“10 Den Nachweis für diese These erbringt Büttner, indem er zeigt, dass die „Landschaft“ (als Bild) sich als Teil der Kartographie entwickelt hat. Zuerst waren Ansichten nur schmückendes Beiwerk zu geographischen Karten, später wurden sie zur eigenständigen „Kartenform“ als Chorographie,11 die „durch die geschickte Kombination sorgfältiger Einzelbeobachtungen ein Bild von allgemeiner Gültigkeit“ gewinnen sollte.“12 Dieses allgemeingültige Bild wurde als Werkzeug der Erkenntnis verstanden,13 als technisch-praktisches Instrument z.B. als juristisches Beweismittel etwa im Streit um Stadtgrenzen,14 als symbolischpraktisches Instrument z.B. als Propagandamittel im Widerstand gegen die spanische Fremdherrschaft15 oder als Mittel zur Befriedigung der Neugierde auf fremde Länder und Gegenden.16 2. Büttner gelingt es überzeugend zu zeigen, dass die Darstellungstechnik, um „Landschaft“ (als Bild) darzustellen, die Technik der Perspektive und damit eine Technik der Darstellung des subjektiven Blicks enthält,17 aber dass eigentlich erst die Herkunft der „Landschaft“ (als Bild) aus der Kartographie erklärt,
9
Ebd. S. 176.
10 Ebd. S. 190. 11 Die Chorographie widmete sich als Teil der damaligen Geographie „beschreibend“ den besonderen Orten, während sich die Geographie „vermessend“ der ganzen Welt widmete. Siehe dazu: Ebd. S. 53f. 12 Ebd. S. 178. 13 Ebd. S. 127ff. 14 Ebd. S. 105ff. 15 Ebd. S. 111ff. 16 Büttner bezieht sich hier auf Thomas Elyots Traktat „The Boke Named The Governour“ von 1531. Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft: Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000, S. 169. 17 Zur Darstellungstechnik in der Landschaftsmalerei siehe auch: Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft – Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. S. 38f.; Rainer Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie „Landschaft“, in: Westfälische Forschungen 30, 1980. S. 15f.
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wie es geschehen konnte, dass Künstler sich der Darstellung von „schönen Aussichten, Städten, seltsamen Gegenden“ etc. in der Ganzheit eines Bildes widmeten. „Die Tatsache nun, dass die Chorographien von Künstlern gefertigt wurden, dass die Sujets der Natur entnommen waren und dass die Darstellung den Gesetzen des menschlichen Sehens und der Perspektive folgte, lässt die Grenzen fließend erscheinen zwischen dem, was man damals als Chorographie beschrieb, und dem, was man heute Landschaftsbild 18
nennt.“
3. Die Tatsache der Spezialisierung von Künstlern auf die Herstellung von „Landschaften“ (als Bild) im 17. Jahrhundert erklärt Büttner mit der Entstehung eines Marktes für Zeichnungen, der von den Kaufleuten und Bürgern der niederländischen Handelsstädte (Büttner bezieht sich v.a. auf Antwerpen) getragen wurde. „Gerade Zeichnungen wurden im Zeitalter Bruegels hoch geschätzt und teuer bezahlt. Ein Grund für die besondere Wertschätzung, die man ihnen entgegenbrachte, liegt sicherlich darin, dass das Publikum nicht mehr allein am Bildgegenstand interessiert war, sondern zugleich auch an dessen Schöpfer. Die Kunden von Bildern begannen, sich für einzelne Künstler zu interessieren und versuchten, deren individuellen Stil zu dokumentieren. Zugleich begann man, systematische Sammlungen solcher Werke anzulegen.“
19
Das Sammeln von Zeichnungen (Karten, Landschaften, etc.) erklärt sich aus dem zeitgenössischen „Sammlungstypus“ der Kunstkammer. Hier wurde alles versammelt, egal ob Artefakt oder Naturgegenstand, was anschauliche Erkenntnisse über die Welt liefern konnte. Zeichnungen wurden als Produkte eines individuellen Stils eines Künstlers, ebenso wie Tiere oder Steine, diesem Erkenntnisdrang folgend, gesammelt. Auch hier geht es um einen praktischen Zweck, um die Dokumentation des Schaffens eines Künstlers.20 Ein weiterer Zweck war der des Ausschmückens der Wohnräume mit Zeichnungen aller Art. Hier versuchte man, an die antike Tradition der dekorativen Wandmalerei anzuknüpfen, die die niederländischen Kaufleute aus den Wohngebäuden des Adels kannten und die sich im 16. Jh., ausgehend von Oberitalien als Ausstattungsmode für den
18 Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft: Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000, S. 190. 19 Ebd. S. 188f. 20 Ebd. S. 147ff.
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höheren Geschmack, verbreitete. Diese Konvention des Adels verlieh den Chorographien einen dekorativen Charakter als Wandschmuck. Ein dritter Zweck findet sich in der geographischen Funktion der Karten und Chorographien. An den Fürstenhöfen wurden Kartensammlungen angelegt, um die eigenen Ländereien durch geheimes Wissen über ihre Geographie kontrollieren zu können oder um Zugriff auf andere Gebiete zu gewinnen. Diese Herrschaftsfunktion setzte sich in den Kartensammlungen der Kaufleute und Städte fort zum Zweck der Kontrolle über eigene Grundstücke oder als Hilfsmittel für Handelsreisen. Aber auch der imaginäre Zugriff auf Länder und Gegenden, die sich auf das Besitzen der Welt als Karte oder auf Reisen im Atlas begnügte, spielte eine Rolle.21 Hier schält sich aus der Nützlichkeit der Zeichnungen – stärker bei den Chorographien als bei den geographischen Karten – eine Zweckmäßigkeit für „Lust und Wohlgefallen im Angesichte des Landes“22 heraus. Neben dem vielfältigen praktischen Nutzen sind die „Landschaften“ (als Bild) „zweckmäßig ohne Zweck“, also nicht bloß praktisches Artefakt, sondern, wie Kant es nennt, „schöne Kunst“. Dieser Zweck der „Landschaft“ scheint in der weiteren Entwicklung der Bildgattung ihr prägendes Merkmal geworden zu sein. Die praktischen Merkmale scheinen dem gegenüber zunehmend in den Hintergrund zu treten. Eine Ursache dafür mag u.a. im Kunsthandel zu finden sein: Die Nützlichkeit niederländischer „Landschaften“ für die lokalpatriotische Selbstvergewisserung in Zeiten der Fremdherrschaft war z.B. für einen französischen Sammler des 17.Jh. nicht mehr gegeben. So entstand eine Bildgattung bzw. ein Darstellungsmuster, das auf Grund seiner, wie Büttner es nennt, „inhaltlich neutralen Ästhetik“23 mit verschiedensten symbolischen Bedeutungen belegt werden konnte. Die symbolische Unbestimmtheit der Bildgattung ermöglichte es, dass sie weite Verbreitung in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten fand und über einen Zeitraum von fast vier Jahrhunderten als Darstellungsform relevant bleiben konnte.
21 Ebd. S. 166ff. 22 Max J. Friedländer: Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, Den Haag 1947. S. 20. 23 Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft: Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000, S. 189.
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3.2 A US
REINER
A UGENLUST
Büttner, der in seinem Text angetreten war zu klären, „woraus sich die Lust und das Wohlgefallen im Angesicht des Landes“24 begründen lassen, ist genau dies meines Erachtens nicht vollständig gelungen. Er nennt zwar sehr überzeugend praktische Ursachen, die das große Interesse an „Landschaften“ (als Bild) zum Teil begründen, aber eine Erklärung für das Lustgefühl und das Wohlgefallen, das mit der Betrachtung von „Landschaften“ verbunden war, zwei Empfindungen, die er ja ebenfalls als Grund des Interesses an Landschaften anführt, erfolgt nicht. Doch gerade die Praktik mit Atlanten und Chorographien imaginäre Reisen anzutreten – „Reisen im Lehnstuhl“ – zeigen, jenseits des Vorteils, Reisen ohne Gefahren von zu Hause aus unternehmen zu können, dass hier eine Lust existiert, verschiedene Gegenden, Städte, Aussichten, etc. um ihrer Erscheinung willen zu sehen – aus „reiner Augenlust“.25 Diese Lust am „Sehen um des Sehens willen“ ist, wie Ruth und Dieter Groh zeigen, keine neuzeitliche Erfindung, sondern „ist in Wahrheit etwas ganz Altes. Es ist genau das, was die Menschen [...] immer schon tun, wenn sie profan die Natur bewundern, anstatt ihre Seele kontemplativ zum Schöpfer zu erheben.“26 Hier findet sich, wie ich meine, bestätigt, was ja auch Kant erklärt hat, dass das Vermögen ästhetisch zu urteilen – und somit die Möglichkeit ästhetischer Erfahrung – ein menschliches Vermögen a priori ist und nicht ein besonderes (ästhetisches) Organ27 eines bestimmten Entwicklungsstandes von Gesellschaft. Da ästhetische Erfahrung nicht auf bestimmten Begriffen beruht, fehlt oft die Sprache, um von ihr berichten zu können und sie sozusagen ins Bild zu setzten. Dafür bedurfte es der Kunst im neuzeitlichen Sinn. Es verwundert daher nicht, wie Groh und Groh es zeigen, dass der Nachweis einer „rein ästhetischen, d.h. atheoretischen Betrachtung des Schönen“ vor der Verkörperung in der Kunst der Neuzeit eher über die „Mahnungen“ der „Theologen und Philosophen“ gelingen kann, die damit drohen „wer sich an die Welt der Erscheinungen verliere und seinen inneren Sinn nicht auf die ‚Natur des Schönen selbst’, auf den Ursprung alles Schönen, auf das Wesen der Dinge richte, verfehle seine wahre Bestimmung. Das Vorhandensein
24 Ebd. S. 14. Friedländer zitierend, siehe Anmerkung 19 bei Büttner. 25 Ruth und Dieter Groh: Die Außenwelt der Innenwelt, Zur Kulturgeschichte der Natur 2, Frankfurt/Main 1996. S. 50. 26 Ebd. S. 50. 27 Siehe dazu: Joachim Ritter: Landschaft – Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Ders.: Subjektivität – Sechs Aufsätze, Frankfurt/Main 1974 (Erstausgabe 1963).
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normativer Forderungen lässt jedenfalls den Schluss auf eine Praxis zu, die diesen Normen eben nicht folgt.“ 28 Die Möglichkeit, sich verschiedenen Erscheinungen ohne eine bestimmte Absicht zuzuwenden, ist nun nicht jedem zu jeder Zeit möglich. Ruth und Dieter Groh nennen als Voraussetzung dafür die Überwindung metaphysischer und ästhetischer Widerstände.29 Der Gegenstand, dessen Wirklichkeit in der ästhetischen Erfahrung keine Rolle spielen soll, muss als „freie“ Erscheinung wahrgenommen werden können. Das ist im Vollzug der ästhetischen Erfahrung eine Leistung des Subjektes, aber wie Grohs es darlegen, bedarf es vorbereitend für diesen Akt der Subjektivität einen geschichtlichen Prozess der Emanzipierung des Subjektes vom jeweiligen Gegenstand der ästhetischen Erfahrung.30 Erst wenn es einem Subjekt möglich ist, sich vom Gegenstand der Aufmerksamkeit, wenn auch nur für einen Augenblick, zu emanzipieren, kann dieser Anlass einer autonomen ästhetischen Erfahrung werden und einem freien Schönheitsurteil unterzogen werden. Falsch wäre es in diesem Zusammenhang anzunehmen, dass die ästhetische Erfahrung etwas ist, das einem widerfährt, und erst die künstlerische schöpferische Tätigkeit würde dieses „Widerfahren“ in einen intentionalen Akt transformieren. Bereits die ästhetische Erfahrung ist Handeln. Man schenkt seine Gunst, ohne sich von dem zu erwartenden Ergebnis in irgendeiner Form abhängig zu machen. Das geschieht mit Absicht, aber ohne Erwartung an ein bestimmtes Ergebnis dieser Handlung. Es ist kein Akt der Überwältigung oder der Plötzlichkeit, sondern ein bewusstes Probieren oder Kosten. Es erfolgt auch nicht wahllos, sondern man wendet sich einer Erscheinung zu, um diese einem Schönheitsurteil zu unterziehen. Daher glaube ich nicht, wie z.B. Piepmeier, dass das „Sehen von Natur und Landschaft [...] bereits vorausgesetzt werden [muss], damit die Maler und Dich-
28 Ruth und Dieter Groh: Die Außenwelt der Innenwelt, Zur Kulturgeschichte der Natur 2, Frankfurt/Main 1996. S. 51. 29 Ruth und Dieter Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen – Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, In: Dies.: Weltbild und Naturaneignung, Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt/Main 1991. S. 112ff. 30 Selbstverständlich bedurfte es auch eines geschichtlichen Prozesses und der Überwindung nicht-autonomer Ästhetiken, um die Möglichkeit zu haben freie Schönheitsurteile zu fällen. Mit der Ausbildung dieser Art der Urteilskraft ist natürlich kein Ende der Geschichte in diesem Bereich erreicht, aber eine grundsätzliche Möglichkeit der Weltwahrnehmung.
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ter es ins Bild setzen können“,31 sondern, dass die Befähigung, ästhetische Erfahrungen zu machen, vorhanden sein muss, um „Landschaft“ als Artefakt zu erschaffen. Ästhetische Erfahrung, und somit ästhetisches Urteilen, beruft sich aber, wie Kant deutlich gemacht hat, nicht auf Begriffe. Die Lust an der Betrachtung von Natur, Städten, Gegenden, schönen Aussichten bedarf dieser Begriffe nicht, auch nicht dem der „Landschaft“. Meiner Meinung nach gab es keine „Landschaft“ vor dem Artefakt. Denn erst das Artefakt bedurfte eines Begriffes, nach dessen Regeln und Gesetzen es angefertigt werden konnte. Diese Regeln und Gesetze wiederum konnten einerseits aus dem alten Begriff „Landschaft“ und seiner chorographischen Darstellung gewonnen werden, andererseits aus den Traditionen der Malerei, wie der Perspektive und den verschiedenen malerischen Genres. Ästhetische Erfahrung hingegen ist frei von diesen Regeln. Das Sehen des Ganzen der Natur als Landschaft und das „Sehen realer Natur als Landschaft“32 kommt nach der Erfindung der „Landschaft“ als Artefakt – es basiert auf der Musterbildung durch die Landschaftsmalerei.
3.3 V ON ZUR
A UGENLUST ÄSTHETISCHEN I DEE „L ANDSCHAFT “ DER
Im künstlerischen Tun wird ästhetische Erfahrung vergegenständlicht. Das „ins Bild setzen“ oder die Vergegenständlichung ästhetischer Erfahrung ist der Kern jedes künstlerischen Handelns. Ästhetische Erfahrung, die sich ja dadurch auszeichnet, dass sie unabhängig von der Wirklichkeit eines Gegenstandes gemacht wird, wird im künstlerischen Tun unter einen Begriff gebracht, indem der Künstler eine Metapher bildet. Das ist in unserem Fall der Begriff „Landschaft“. Mit der Bestimmung der ästhetischen Erfahrung durch eine Metapher ist eine Transformation verbunden: Freie Schönheiten, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Wirklichkeit, ihre Bestimmtheit keine Rolle spielt, werden unter einen Begriff gebracht. Durch das Bilden einer Metapher wird ein ästhetischer Gegenstand konstituiert. Aus der alten „Landschaft“ oder landschap in seiner “territorialen und auf eine bestimmte Sozialstruktur bezogenen Bedeutung“33 wird die „Landschaft“ als Bild. Angesichts freier Schönheit bzw. einer ästhetischen Erfahrung
31 Rainer Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie „Landschaft“, in: Westfälische Forschungen 30, 1980. S. 11. 32 Ebd. S. 11. 33 Dóra Drexler: Landschaft und Landschaftswahrnehmung, Saarbrücken 2010. S. 54.
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ist es das Berufsziel (Kant würde sagen das Genie)34 des Künstlers, freie Schönheit, und somit die ästhetische Erfahrung, in ein Artefakt zu transformieren. Der Künstler kann hierfür auf die Gestaltungsprinzipien und -techniken seiner Zeit zurückgreifen. Das sind in unserem Fall die Chorographie, die Perspektive und die Motivtraditionen der Malerei. Diese Gestaltungsprinzipien hält er nun gegen seinen aus der ästhetischen Erfahrung resultierenden Vorstellungszustand (somit der Vorstellung seiner ästhetischen Lust) und gewinnt daraus darstellbares Erscheinungsmaterial (Bäume, Berge, Weiden, Hirten, Belichtung, Wolken, etc.) und verändert dieses solange, bis es für den Vorstellungszustand zweckmäßig ist. Da dieser Vorstellungszustand die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ ist, verändert der Künstler das Material und die Gestaltungsprinzipien solange, bis er es in eine Zweckmäßigkeit für die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“35 gebracht hat, also eine scheinbar freie Schönheit hergestellt hat. Das Urteil darüber, wann diese Zweckmäßigkeit erreicht ist, fällt der Künstler, wie bei jedem ästhetischen Urteil, durch wiederholtes „Kosten und Probieren“ des Materials während der Bearbeitung. Am Ende dieses Prozesses steht ein neues Prinzip für die Gestaltung von Erscheinungsmaterial – eine ästhetische Idee. Dieser Prozess des Probierens und Bearbeitens ist kein geistloser Prozess, der ohne Vernunft und allein mit der Einbildungskraft auskommt; beide Gemütskräfte sind hier beteiligt – Erscheinungsmaterial wird verändert und Gestaltungsprinzipien werden variiert, bis diese in einer ästhetischen Idee korrelieren, die der Schlüssel zur Herstellung einer scheinbar freien Schönheit sind. Mit der ästhetischen Idee ist die Bildung einer Metapher verbunden. Die ästhetische Idee ist ein Prinzip zur Gestaltung von Erscheinungsmaterial mit dem Ziel der Herstellung freier Schönheit und steht daher nicht unter bestimmbaren Regeln. Kant nennt sie „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“36 Da eine ästhetische Idee aber nur im Kunstwerk realisiert werden kann, muss jede ästhetische Idee, die sich im Artefakt vergegenständlicht, notwendigerweise unter einen Begriff gebracht werden. Welcher Begriff und welche Darstellungsprinzipien in diesem Bearbeitungsprozess letztendlich
34 „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.“ KdU B181. 35 „An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewusst werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sein.“ KdU B179. 36 KdU B193.
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herangezogen werden, um den ästhetischen Gegenstand zu konstituieren, unterliegt dem Prinzip der Verwendung von Metaphern – der Analogie. Die Metapher ist das Ergebnis eines reflektierenden Urteils, d.h. das unter einen Begriff bringen von ästhetischen Erfahrungen ist, wie jedes reflektierende Urteilen und Bezeichnen, ein intentionaler Akt des „Herstellens“ und „Form-Gebens“. Nun wird aber nicht, wie z.B. im logischen reflektierenden Urteil, ein Begriff gesucht, mit dem ein spezifischer Gegenstand in eine begriffliche Ordnung eingefügt werden kann, sondern es wird eine Metapher eingesetzt, die eine ästhetische Idee veranschaulicht. Es wird hier kein Begriff für ein Objekt gesucht, sondern für die Anwendung eines formalen Prinzips, das der Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes dient. In unserem Fall wird die alte „Landschaft“ zur Metapher für eine neue ästhetische Idee, die „Landschaft“ als Bild. Die Gebrauchsbedingungen des Begriffes werden durch die Metaphernbildung verschoben, bleiben aber in Teilen erhalten: Die Gebrauchsregeln der alten „Landschaft“ als „geografische und politische Region“37 formieren das neue Gestaltungsprinzip. Das wäre, grob vereinfacht, die bildliche Einheit eines dem Betrachter gegenüberliegenden überschaubaren Landes, das dem Begriff „Landschaft“ als Bild zu Grunde liegt. Das Verhältnis der Begriffe „Landschaft (im alten Sinne)“ und „Landschaft (als Bild)“ ist somit kein Abbildungsverhältnis, in dem die ästhetische Landschaft die künstlerische Abbildung der „alten“ Landschaft wäre, sondern es handelt sich um ein Analogieverhältnis – für die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes „Landschaft“ werden bestimmte Begriffsbedingungen der „alten“ Landschaft übernommen. Ich will versuchen, diesen Vorgang am Beispiel eines fiktiven Malers zu rekonstruieren: Pieter, ein niederländischer Maler aus dem 16. Jahrhundert, erzielt einen bedeutenden Teil seines Einkommens mit dem Zeichnen von Vorlagen von schmückenden Ansichten und Chorographien für den Druck von Karten und Atlanten für mehrere Verlagshäuser. Diese Kartenwerke hatten anfangs vorwiegend den Zweck, Reisenden oder, wie er von Kollegen weiß, als geheim gehaltene Karten der Kriegsführung oder bei Grenzstreitigkeiten, um die jeweilige Position der Kontrahenten vor Gericht zu untermauern, zu dienen. Im Laufe der Zeit wurde Pieter von den Verlagshäusern immer häufiger damit beauftragt, Ansichten zu zeichnen, die dazu dienten, das tatsächliche Aussehen von Regionen und Städten zu vermitteln, um über geographische Karten hinaus die Phantasie der Käufer anzuregen.
37 Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft: Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000, S. 11.
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Diese Ansichten wurden in eigenen Bänden oder zusammen mit geographischen Karten gestochen, gedruckt und veröffentlicht. Die Nachfrage nach diesen Ansichten wurde so groß und ging weit über die Niederlande hinaus, dass Pieter beschloss (auf eigene Rechnung), eines der Länder mit den begehrtesten Motiven, nämlich Italien, zu bereisen, um Ansichten und Motive für seine Zeichnungen zu gewinnen. Er unternahm eine mehrjährige Reise und skizzierte vor Ort begehrte Motive, wie den Golf von Neapel, Tivoli, etc. Er gewann aber auch neue Motive, wie verschiedene Ansichten der Alpen, die er auf seiner Reise überschreiten musste. Besonders hier zeigte sich, dass zur Befriedigung der Augenlust der Kunden eine Tendenz der Chorographie besonders zielführend war – die Typisierung. Die Kunden verlangten nicht geographisch korrekte Darstellungen von Städten und Gegenden, sondern visuell eindrückliche Ansichten, die bemerkenswerte Merkmale hervorhoben. Es ging nicht um geographische Sachtreue der Darstellung (dafür waren Karten besser geeignet) sondern um eine typisierende Steigerung des Bildgegenstandes und um die Zusammenfassung von bemerkenswerten Einzelbeobachtungen mit Hilfe der Bildkomposition.38 Pieters Idee war es nun, das Typisierende der Chorographie mit den Kompositionsregeln der klassischen Malerei zusammenzuführen und so Darstellungen von Gegenden von verblüffender „Natürlichkeit“ zu schaffen.39 Die „alte“ geographische „Landschaft“ wurde ihm zur „Landschaft“ als Einheit im Bild. Der hier rekonstruierte Akt der Erfindung von Landschaft ist selbstverständlich genauso fiktiv wie die von Norgate kolportierte Geschichte oder wie die Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca, aber alle diese Erzählungen vom Ursprung der Landschaft gehen von einer „novelty“40 aus – der Erfindung einer ästhetischen Idee. Ich schließe mich mit meiner Rekonstruktion deutlich der Position an, dass „Landschaft“ in erster Linie eine Erfindung der Malerei war. „Während es im allgemeinen üblich ist die ‚Entdeckung der Welt’ als die Motivation der Landschaftsmalerei anzusehen, sind wir jedoch beinahe versucht, die Formel umzudrehen und die Behauptung aufzustellen, dass die Landschaftsmalerei frü-
38 Dazu: Ebd. S. 174. 39 Dazu die Beurteilung der Zeichnungen Bruegels durch Zeitgenossen: Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft: Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000. S. 176. 40 Dazu: Ernst H. Gombrich: Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei, In: Ders.: Die Kunst der Renaissance I, Norm und Form, Stuttgart 1985 (Engl. Erstausgabe 1966). S. 141. Und: Edward Norgate: Miniatura or the Art of Limning, neu herausgegeben und kommentiert von: Jeffrey M. Muller, Jim Murell, New Haven London 1997. S. 82.
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her da war als unser ‚Gefühl für Landschaft’.“41 Aber mit Hilfe von Büttner akzentuiere ich den Entstehungsprozess etwas anders als z.B. Gombrich. Auf alle Fälle betrachte auch ich in meiner Rekonstruktion „Landschaft“ zunächst als eine neue ästhetische Idee, die in einem exemplarischen und originären Kunstgegenstand verkörpert wird. Hier gelten Kants Bedingungen für Produkte des originellen Künstlers (Genie), dass „seine Produkte zugleich Muster, d.i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d.i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung dienen müssen“.42 Sind die Artefakte eines Künstlers bzw. einer geschichtlichen Situation, wie z.B. die Kunstproduktionsbedingungen im Antwerpen des 16. Jh., exemplarisch, werden diese zum Muster für die Nachahmung nachfolgender Künstler. Die exemplarische Darstellungsform, in unserem Fall „Landschaft“, wird zwar weiter in Teilaspekten variiert, die vom „Genie“ formulierten Regeln der Darstellungsform werden aber beibehalten – die neue ästhetische Idee „Landschaft“ wird zum Muster.
3.4 V ON ZUM
DER ÄSTHETISCHEN I DEE
M USTER
„L ANDSCHAFT “
Wir haben es nun bei „Landschaft“ mit einem unglaublich „erfolgreichen“ Muster zu tun, das bis ins 20. Jh. hinein seine Relevanz als Bildgattung bewahren konnte. Das ist meiner Meinung nach nur dann möglich, wenn das Muster immer wieder durch neue ästhetische Ideen aktualisiert werden kann. Das Muster geht aus der ästhetischen Idee „Landschaft“ hervor. Die ästhetische Idee ist das Gestaltungsprinzip für die Bearbeitung freien Erscheinungsmaterials im Kunstwerk. In unserem Fall ist das die Zusammenführung von verschiedenem Erscheinungsmaterial zu einer bildlichen Einheit mit Hilfe verschiedener Maltechniken, wie z.B. Perspektive und Belichtungsgestaltung. Erscheinungsmaterial und Darstellungstechniken werden, unter der Regie der ästhetische Idee, zu einer bildlichen Einheit zusammengeführt. Diese ästhetische Idee leitet sich aus einer Analogie mit den Chorographien der zeitgenössischen Geographie bzw. Kosmographie ab, die eine geographisch-politische „Landschaft“, also ein bestimmtes Stück Erdoberfläche zeigen. Das Revolutionäre an der ästhetischen Idee „Land-
41 Ernst H. Gombrich: Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei, in: Ders.: Die Kunst der Renaissance I, Norm und Form, Stuttgart 1985 (Engl. Erstausgabe 1966). S. 154. 42 KdU B182.
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schaft“ liegt nun in der veränderten Weise der Auswahl des Erscheinungsmaterials. Die Auswahl erfolgt nicht mehr wie in der Chorographie danach, ob die dargestellten Bildgegenstände ein Stück Erdoberfläche seiner praktischen Bedeutung nach richtig repräsentieren, sondern danach, ob das ausgewählte Erscheinungsmaterial dazu dienen kann, die Augenlust der Kunstkäufer zu erregen. Bei der Musterbildung werden nun einige der mit der ästhetischen Idee konstituierten Prinzipien durch Nachahmung fixiert. Das betrifft erstens die Auswahl des Erscheinungsmaterials: Bestimmte Bildgegenstände werden fester Bestandteil von Landschaftsbildern. Zweitens betrifft es die Darstellungstechniken: Bestimmte Kompositionsprinzipien, Anwendungen der Perspektive oder Belichtungsgestaltungen werden ebenfalls fester Bestandteil von Landschaftsbildern. Mit dieser Fixierung von Bildgegenständen und Darstellungstechniken ist das Muster „Landschaft“ konstituiert. Das Muster einer ersten Generation von „Landschaft“ als Bild lässt sich daher, wie bereits oben erfolgt, grob so formulieren: „Landschaft“ ist die bildliche Einheit eines dem Betrachter gegenüberliegenden überschaubaren Landes. Dieses Muster „Landschaft“ wird nun innerhalb seiner Gestaltungsprinzipien von verschiedenen Künstlern verwendet und variiert. Ohne die Regeln des Musters zu verlassen, können nun in seiner weiteren Verwendung neue Bildgegenstände hinzugenommen werden, indem neues Erscheinungsmaterial erschlossen wird. Oder es werden die Darstellungstechniken weiterentwickelt. Diese Variationen können so weit gehen, wie es die ästhetische Idee erlaubt. So könnte z.B. kein Erscheinungsmaterial Bildgegenstand werden, das die Gebrauchsbedingungen der ästhetischen Idee der „bildlichen Einheit eines dem Betrachter gegenüberliegenden Landes“ verletzt, z.B. die Darstellung eines Innenraumes (ohne Blick aus dem Fenster). Dieses Variieren innerhalb der „Grenzen“ der ästhetischen Idee „Landschaft“ muss nach einer gewissen Zeit sowohl von der Seite der Bildinhalte, wie auch von der Seite der Darstellungstechniken her konventionell erscheinen, wenn die Variationsmöglichkeiten geringer werden und nichts Neues mehr produziert werden kann. Der Kunstmarkt und die Kunstsammler, die einerseits ihre Augenlust befriedigen wollen, andererseits „Künstler“ wegen ihrer Originalität als Sammlungsobjekte auswählen, verlangen nach neuen „Landschaften“. Die „novelty“ der Bildgattung „Landschaft“ ist als Bedingung ihres Fortbestehens in sie eingeschrieben. Boris Groys nennt das die „Mechanismen des Neuen“, die einen „valorisierende[n] Vergleich zwischen den kulturellen Werten und den Dingen im profanen Raum“43 vornehmen. Die Produktion
43 Boris Groys: Über das Neue: Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt/Main 1999. S. 56.
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von „Landschaften“ orientiert sich an den als kulturell wertvoll erachteten (weil gesammelten) Werken und folgt entweder der Tradition des Musters oder versucht durch Variation die Wertgrenzen zu verschieben, um nicht konventionell zu werden und dadurch als Wiederholung des bereits Produzierten als kulturell wertlos erachtet zu werden. „Die positive Anpassung besteht darin, das neue Werk den traditionellen Vorbildern ähnlich zu gestalten. Die negative Anpassung besteht darin, das neue Werk den traditionellen Vorbildern unähnlich zu gestalten, in Kontrast zu ihnen zu setzen. In jedem Fall steht es in einem bestimmten Verhältnis zur Tradition – gleichgültig ob positiv oder negativ. Das Profane oder die außerkulturelle Wirklichkeit wird dabei in beiden Fällen nur als Material benutzt.“
44
Durch diese kulturökonomische Logik der Innovation45 lässt sich auch erklären, dass die Variationen, die das Muster „Landschaft“ ermöglicht, nicht ausreichen, um immer weitere relevante Werke zu produzieren. Es bedarf hierfür einer Erneuerung der ästhetischen Idee „Landschaft“, um ein innovatives Muster zu produzieren, das die Bildgattung „Landschaft“ erneuert. Aus dieser kulturökonomischen Perspektive erklärt sich, wieso „Landschaft“ – und ich meine hier noch immer „Landschaft“ als Bild – ganz unterschiedliche „Landschaftsideen“46 verkörpern kann. Durch eine neue ästhetische Idee kann es gelingen, die Bildgattung „Landschaft“ mit ihren traditionellen Mustern anders zu strukturieren und so „Platz“ für neue Darstellungstechniken und neues bildwürdiges Erscheinungsmaterial zu gewinnen. Mir erscheint daher die zentrale ästhetische Idee der „Landschaft“ im 16. Jh. die bildliche Einheit eines dem Betrachter gegenüberliegenden überschaubaren Landes zu sein, welche die Maler in der Suche nach neuen Motiven zu imaginären Gegenden weiterschreiten ließ und so z.B. aus den Wiesen, Weiden und Herden der traditionellen Pastoraldichtung die „Landschaft“ Arkadiens im Bild als neue ästhetische Idee formte. Weitere ästhetische Ideen wie das Natürliche, das Unendliche, das Authentische, das Deutsche, Englische, etc. entstehen in positiver oder negativer Anpassung – aber auf alle Fälle Bezug nehmend auf die anderen „Landschaftsideen“. „Landschaft“ als Bild erweist sich durch eine Folge aufeinander bezogener ästhetischer Ideen als stabile Bildgattung, die sich immer
44 Ebd. S. 19. 45 Ebd. S. 63ff. 46 Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft – Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. S. 9ff.
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neue Motive und Darstellungstechniken erschließt. Diese ästhetischen Ideen, die sich Boris Groys folgend als kulturelle Innovationsstrategien interpretieren lassen, sind Resultat des „kulturellen Mechanismus“ des in Wert Setzens des Profanen. Sie sind nicht „Projektionen des libidinösen Begehrens, der Klasseninteressen oder des Willens zur Macht“47 in der Kultur und Kunstwerken. Diese – und z.B. auch politische Ideen – werden im Gegenteil als Erscheinungsmaterial und Ideenmaterial für die Zwecke der Kunst gebraucht. Hier komme ich noch einmal zur Frage, die am Anfang dieses Kapitels steht, zurück: Wie entsteht „Landschaft“ als Idee? Nicht die Erfahrung von „Landschaft“ als etwas Äußeres bildet sich in der Kunst ab, nein, „Landschaft“ als ästhetische Idee ist Resultat eines sich in der Neuzeit entwickelnden kulturellen Mechanismus und ist dessen Zwecken unterworfen. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, noch einmal das Verhältnis zwischen ästhetischen Ideen und Vernunftideen oder Weltanschauungen zu betrachten. Dieses Verhältnis ist ein Analogieverhältnis und kein Abbildungsverhältnis. Das heißt, ästhetische Ideen drücken keine politischen Ideen oder Weltanschauungen aus, sondern verwenden Ideen, wie Freiheit oder Gleichheit als Material, um daraus Gestaltungsprinzipien abzuleiten. Daher schreibt Eco: „[...] wir werden nur sagen, dass die Verbreitung bestimmter Begriffe in einer kulturellen Umgebung den betreffenden Künstler besonders beeinflusst hat, so dass seine Kunst als die imaginative Reaktion, die strukturelle Metaphorisierung einer bestimmten Anschauung der Dinge (die die Errungenschaften der Wissenschaft den Zeitgenossen vertraut gemacht haben) betrachtet werden kann.“
48
Es gibt daher „Landschaft“ als ästhetische Idee und Muster im Sinne einer Klasse von ästhetischen Gegenständen, aber es gibt „Landschaft“ nicht im Sinne nur einer bestimmten Idee oder eines bestimmten Musters. Die bisher behandelte „Landschaft“ als ästhetische Idee und Muster verkörpert sich in einer spezifischen Art von Kunstgegenstand – dem gezeichneten oder gemalten Bild. „Landschaft“ als ästhetische Idee kann nun aber auch auf andere Art verkörpert werden – z.B. im Landschaftsgarten oder der „freien Landschaft“. Ich will diese Arten der Verkörperung im weiteren Text Formate nennen. Wie nun die ästhetische Idee „Landschaft“ im Sinne der oben behandelten Innovation auf andere Formate übergreift, wird im nächsten Kapitel behandelt.
47 Boris Groys: Über das Neue: Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt/Main 1999. S. 64. 48 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/Main 1977. S. 161.
4. „Landschaft“ als Gegenstand anhängender Schönheit
Ich möchte hier zwei Formatwechsel des Musters „Landschaft“ beschreiben, die mir für das Thema der Vergegenständlichung besonders wichtig erscheinen: Den Formatwechsel von „Landschaft“ als Bild zur „Landschaft“ als Garten einerseits und zur „Landschaft“ als Naturszenerie andererseits.1 Meine These ist, dass „Landschaft“ als Bild und „Landschaft“ als Garten und Naturszenerie als ästhetische Gegenstände ihre Merkmale wesentlich ändern und daher anders klassifiziert werden müssen. Mir geht es dabei nicht um formale Merkmale (die sind meiner Meinung nach relativ stabil), auch nicht um „Landschaftsideen“, die man nicht klassifizieren, sondern nur typologisieren kann,2 sondern darum, auf eine wesentliche Veränderung von „Landschaft“ als ästhetischem Gegenstand zu verweisen. „Landschaft“ wandelt sich durch den Formatwechsel von der „Landschaft“ als Bild zur „Landschaft“ als Garten und zur „Landschaft“ als Naturszenerie von der Kunstschönheit zum schönen Gebrauchsgegenstand und zur Naturschönheit. Nach der bisher vorgenommenen Klassifizierung von ästhetischen Gegenständen ist „Landschaft“ als Bild ein Gegenstand anhängender Schönheit besonderer Art: Der vom Künstler intendierte innere Zweck des Kunstgegenstandes ist eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, d.h. „Landschaft“ als Bild soll zweckmäßig für ein freies ästhetisches Wohlgefallen sein. Das ist bei „Landschaft“ als Garten oder als Naturszenerie anders: Wir haben es hier ebenfalls mit einge-
1
Es gibt auch noch andere Formatwechsel, z.B. zwischen der Landschaftsbeschreibung in der Literatur und dem Landschaftsgarten.
2
Dazu: Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft: Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012, S. 42ff.
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schränkten ästhetischen Gegenständen zu tun – ihr innerer Zweck ist aber ein anderer. „Landschaft“ als Garten ist ein schöner Gebrauchsgegenstand. Der innere Zweck ist hier nicht die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, sondern ein objektiver Zweck, über den praktische Urteile bzw. Vollkommenheitsurteile gefällt werden. Ästhetische Urteile werden durch den inneren Zweck des Gartens eingeschränkt – d.h. sie können ihm nicht widersprechen. Ein Garten kann nicht im Widerspruch zu seinem inneren Zweck, den man als Zweckmäßigkeit für die Erziehung von Pflanzen und somit Naturbeherrschung bzw. Naturoptimierung bestimmen könnte, als schön beurteilt werden. Zum Beispiel kann ein Knotengarten der Renaissance, obwohl er nur dekorative oder symbolische Zwecke erfüllt, nicht als schöner Garten beurteilt werden, wenn der Buchs von Pilzen befallen ist und kümmerlich wächst. Das ästhetische Urteil wird, wie in Kapitel 2 erläutert, von einem praktischen Urteil eingeschränkt. Es gibt natürlich auch eine künstlerische Tradition der „Gärten des Bösen“ mit Baumstümpfen, fahlen Binsen, fauligen Gewässern, etc.3 Diese Tradition übernimmt aber den „Garten“ nur als Muster und manifestiert sich in anderen Formaten, wie Bildern, literarischen Texten, Skulptur4 oder Installation. Der Garten dient hier als Material für ästhetische Ideen des Wucherns von Lust, Sünde, Verzweiflung, Schmerz, etc. in Kunstwerken. Oder der Garten wird im Sinne negativer Lust (des Erhabenen) Ort des Wachstums von Erscheinungsmaterial wie Pilzen, schwarzen Pflanzen, stinkenden Gewächsen und Bäumen von krankhaftem Wuchs, wie es William Chambers in „A Dissertation on Oriental Gardening“ ausführt.5 Auch hier erweist sich der Garten als Gegenstand anhängender Schönheit: Er ist der Ort von Naturbeherrschung oder Naturoptimierung, aber in der „dunklen“ Variante von einem bösen Willen beherrscht. Obwohl also Garten ein mit verschiedenster Symbolik belegter Gegenstand ist, bleiben seine Gebrauchsbedingungen, die eines praktischen Gegenstandes und nicht die eines Kunstgegenstandes, bestimmend – er ist nicht bloß ästhetischen Urteilen unterworfen. Ich möchte daher in diesem Kapitel darstellen, wie sich mit dem Formatwechsel von „Landschaft“ als Bild zum Garten die Merkmale von „Landschaft“ durch die Verkörperung im Format des Gartens verändern. „Landschaft“ wir hier vom Kunstgegenstand zum schönen Gebrauchsgegenstand oder Designgegenstand.6 Ich werde diese Über-
3
Z.B. Edgar Allan Poes Untergang des Hauses Usher.
4
Z .B. Jean Dubuffets Jardin d’Email im Kröller-Müller Museum.
5
William Chambers: A Dissertation on Oriental Gardening, London 1772. S. 40f.
6
Designgegenstand ist in diesem Zusammenhang kein historischer Begriff, sondern dient in dieser Arbeit der Klassifizierung ästhetischer Gegenstände.
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tragung kurz an Hand der Entstehung des englischen Landschaftsgartens darstellen. Die Übertragung beruht auf einer neuen ästhetischen Idee – der Natürlichkeit. Im Unterschied zur „Landschaft“ als Garten ist „Landschaft“ als Naturszenerie ein von der Natur hervorgebrachter ästhetischer Gegenstand – eine Naturschönheit. Ein Naturzweck wird hier als Bedingung der Schönheit von „Landschaft“ und somit als innerer Zweck angenommen. Der innere Zweck ist hier eben nicht die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, als Intention eines Künstlers, die der Grund der Existenz eines Kunstgegenstandes ist, sondern eine Zweckmäßigkeit der Natur. Ästhetische Urteile über „Landschaft“ als Naturschönheit werden durch den inneren Zweck der Naturszenerie eingeschränkt – sie können ihm nicht widersprechen. Es ist wichtig zu betonen, dass wir es hier mit einem Gegenstand anhängender Schönheit zu tun haben; das teleologische Urteil schränkt das ästhetische Urteil nur ein, die beiden Urteile fallen nicht zusammen. Das Urteil über Naturschönheit ist hier noch nicht mit einem Vollkommenheitsurteil zusammengefallen. Dennoch ist das Urteil über Naturschönheit kein freies Schönheitsurteil, weil es nicht in Widerspruch zu einem teleologischen Urteil geraten darf. Wenn ich sage: „Dieser Wasserfall ist eine Schönheit der Natur.“, dann vollziehe ich einmal ein teleologisches Urteil, indem ich sage, dass der Wasserfall so geraten ist, weil die Natur ihn so wollte, und ich vollziehe ein eingeschränktes ästhetisches Urteil, das sich auf das Erscheinungsmaterial, das mit dem Wasserfall gegeben ist, bezieht. Der Natur wird sozusagen eine Künstlerpersönlichkeit untergeschoben, die die Intention hat, ästhetische Gegenstände mit der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ zu produzieren. 7 In diesem Stadium des Naturerlebens gibt es somit, wenn auch eingeschränkt, Schönheitsurteile. „Landschaft“ wird hier von einer Kunstschönheit zur Naturschönheit. Diese Übertragung beruht ebenfalls auf der neuen ästhetischen Idee der Natürlichkeit.
4.1 Ä STHETISCHE I DEE „N ATÜRLICHKEIT “ Wie stellt sich der Zusammenhang zwischen der Übertragung von „Landschaft“ auf zwei andere Formate und der ästhetischen Idee der Natürlichkeit dar? Zunächst zur ästhetischen Idee der Natürlichkeit: Diese ist wie alle ästhetischen Ideen ein Gestaltungsprinzip für Erscheinungsmaterial. In diesem Fall geht es um ein Gestaltungsprinzip, das die Herstellung von Artefakten ermöglicht, die
7
Siehe dazu Kapitel 2.4.
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„ohne Einwirkung des Menschen Entstandene[m]“ ähnlich8 sind. Da Natürlichkeit eine ästhetische Idee im Zuge der Innovationen innerhalb der Malerei ist, lassen sich formale Prinzipien deutlich erkennen. Diese wurden auch theoretisch reflektiert, wie von William Hogarth in seiner 1753 erschienenen Schrift „The Analysis of Beauty“. Hogarth zeigt die Prinzipien der Natur „by which we are directed to call the forms of some bodies beautiful, others ugly; some graceful, and others the reverse“,9 die sich u.a. in bestimmten Linienformen und ihren Kombinationen äußern – der berühmten „line of beauty“ oder der „line of grace“.10 Er nennt aber auch „variety“ oder „fitness“ und weitere Prinzipien, die die Gestaltungsprinzipien von Natürlichkeit ausmachen. Innerhalb der Malerei – und insbesondere der Landschaftsmalerei – führt die ästhetische Idee der Natürlichkeit zur Auswahl von Erscheinungsmaterial, das ihren Gestaltungsprinzipien entspricht – sogenannten natürlichen Gegenständen. Hier stößt man auf die Metapher, die zur Bildung der ästhetischen Idee notwendig ist. Natürlichkeit als ästhetische Idee bezieht sich metaphorisch auf die genetische Bedeutung von „Natürlichkeit“,11 d.h. darauf, ob ein Ding ein Artefakt oder ein Naturgegenstand ist. Da dieser Unterschied nicht anschaulich ist,12 wird in der ästhetischen Idee Natürlichkeit ein Unterschied zwischen „künstlichen“ und „natürlichen“ Formen aufgebaut, der auf formalen Gegensätzen beruht, wie gerade und geschwungen, Symmetrie und Asymmetrie, Regelmäßigkeit und Abwechslung, etc. Die Erneuerung des Musters „Landschaft“ durch die ästhetische Idee Natürlichkeit erfolgt nun dadurch, dass ein „natürlicher“ Formenkanon zu einem Bildganzen komponiert wird. Außerdem wendet sich die Landschaftsmalerei mit der ästhetischen Idee der Natürlichkeit verstärkt ländlichen Motiven zu. Unter diesen Bedingungen ist der Sprung von „Landschaft“ vom Bild zum Garten leicht: Das Muster ist die durch die ästhetischen Idee Natürlichkeit erneuerte „Landschaft“. Die Darstellungsprinzipien sind „variety“, „line of beauty“, etc., die auf das Erscheinungsmaterial von Gärten (Boden, Bäume, Wasser, etc.) angewendet werden. Was aber macht den Import von „Landschaft“ in die Gärten für ihre Eigentümer so interessant?
8
Dieter Birnbacher: Natürlichkeit, Berlin, New York 2006, S. 14.
9
William Hogarth: The Analysis of Beauty, London 1772. S. 1.
10 Ebd. S. 50ff. 11 Dieter Birnbacher: Natürlichkeit, Berlin, New York 2006, S. 14. 12 Das zeigt das Beispiel künstlicher Blüten, Züchtungen oder gentechnisch veränderter Lebewesen. So wäre es notwendig, um im Labor produzierte Lebewesen von anderen zu unterscheiden, diese zu markieren. (z.B. wie im Film Blade Runner eine „künstliche“ Schlange).
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„Landschaft“ erweist sich hier als Innovationsstrategie, mit der, basierend auf den Regeln der ästhetischen Idee Natürlichkeit, neue Gestaltungsprinzipien für Gärten gewonnen werden können und die es ermöglichen, sich in negativer Anpassung13 von den bis dahin geltenden Gestaltungsregeln der barocken Gartenkunst abzusetzen. Weil diese Innovation nicht nur zum Beispiel in der Malerei vollzogen wird, sondern durch den Import von „Landschaft“ in der Gartenkunst erfolgt, findet diese direkt im praktischen und symbolischen Zentrum der englischen herrschenden Klasse statt – ihrem Landbesitz. „Landschaft“ ist nun kein Gegenstand mehr, der in Salons an der Wand hängt, sondern der gebaut wird und durch seine praktischen Aspekte (Landwirtschaft) vorbildliches Exemplar für gesellschaftliche Innovation sein soll.14 Die Übertragung von „Landschaft“ vom Bild auf einen Naturgegenstand erscheint hingegen zunächst paradox. Werden doch „Landschaft“ und Natürlichkeit auf das zurückgespiegelt, worauf sie sich metaphorisch beziehen – auf einen sichtbaren Ausschnitt der Erdoberfläche und seine Naturgegenstände. Es erscheint trotzdem sinnvoll dies zu tun, wenn die Ursprungsmetaphern im kulturellen Gedächtnis bereits vergessen sind bzw. so an Wert verloren haben, dass der Formatwechsel bereits wieder als kulturelle Innovation verstanden werden kann. Wir haben es hier also mit einer Metapher zu tun, die auf eine andere Metapher folgt (mit einer Metaphernkette) und nicht mehr mit der ursprünglichen Analogie. Dass es sich bei der Übertragung um eine kulturelle Innovation handelt, zeigt sich deutlich an der Erfindung des Picturesque Ende des 18. Jahrhunderts. Das Muster „Landschaft“ in seiner „natürlichen“ Variante wird aufs „Land“ übertragen. Die Darstellungsprinzipien sind weiterhin „variety“, „line of beauty“, etc., die aber bereits in negativer Anpassung an den klassischen Landschaftsgarten zur „roughness“ weiterentwickelt werden. Das Erscheinungsmaterial sind Gegenstände, die man bereits aus der „natürlichen“ Landschaftsmalerei kennt: Naturgegenstände (Berge, Wasserfälle, Wälder, etc.) und ihre „ländlichen“ Bewohner mit ihren Artefakten. Hier wird der Stadt-Land Gegensatz erst ästhetisch, da die durch die Landschaftsmalerei mit der ästhetischen Idee der Natürlichkeit getroffene Auswahl ländlicher Motive übernommen wird. Durch den
13 Diesen Begriff beziehe ich, im Zusammenhang mit kultureller Innovation, von Boris Groys. Vgl. Boris Groys: Über das Neue: Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt/Main 1999. 14 Siehe dazu z.B. William Shenstones Ferme Ornée „The Leasowes“. Dazu: Simone Schulz: Gartenkunst, Landwirtschaft und Dichtung bei William Shenstoen und seine Ferme Ornée „The Leasowes“ im Spiegel seines literarischen Zirkels, Dissertation FU Berlin, 2004.
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Formatsprung werden neue Darstellungstechniken von den „Picturesque People“ verwendet: Die Wanderung bzw. die Reise übers Land, um mit dem an Landschaftsbildern geschulten Blick immer neue Aussichten auf „Landschaften“ zu finden. Die freie Landschaft als Gegenstand anhängender Schönheit ist entstanden. Waren es vorher die Traditionen der Malerei und der Gartenkunst, auf die sich „Landschaft“ als künstlerische Innovation beziehen konnte, kommt nun eine neue Kunsttechnik dazu – die Naturalisierung. Erst für „Landschaft“ als freie Landschaft greift meiner Meinung nach Simmels Definition von Landschaft als „Kunstwerk in statu nascendi“15 – als ein Kunstwerk, das immer wieder in der Anschauungssituation im Auge des Betrachters entsteht. Dinnebier beschreibt diese „dilettantische“ Kunstpraxis folgendermaßen: „Ohne selbst künstlerisch tätig zu werden, bedient sich der Betrachter der Landschaft einer Praxis des Sehens, die die Maler erfunden haben und zum Teil bis heute verwenden. So stellt die Produktion der Landschaft einerseits eine eigenständige Leistung des Betrachters, zugleich aber auch eine Nachahmung der künstlerischen Verfahrensweise dar. Der Blick des Landschaftsmalers in die Natur bildet daher das Muster, nach dem die dilettantische Schau verfährt.“
16
Das Wissen um die Produziertheit von freier Landschaft mit Hilfe des Musters „Landschaft“ unter der Regie der ästhetischen Idee Natürlichkeit und das Ganze nicht verkörpert in einem Artefakt, sondern im Auge des Betrachters, bedarf eines hohen Maßes an „Scheinbewusstsein“17 und künstlerischem Selbstbewusstsein, wie es William Gilpin und die picturesque people Ende des 18. Jahrhunderts noch hatten. Sie hielten dieses Bewusstsein durch das Zeichnen und Aquarellieren in ihren Skizzenbüchern während ihrer „Picturesque Travel“ wach. Vielleicht bedurften sie aber auch noch dieser Kunstmittel, um den malerischen Blick überhaupt aktivieren zu können. Scheinbewusstsein und künstlerisches Selbstbewusstsein sind in Betrachtung von Naturgegenständen als „Landschaft“ mit der Zeit verloren gegangen und wurden der „Natur“ zugeschrieben. Über dieses Naturalisierung von „Landschaft“ schreibt Dinnebier: „Die landschaftliche Betrachtung einer Gegend bringt gewissermaßen die Natur selbst zur Dar-
15 Georg Simmel: Philosophie der Landschaft, in: Ders.: Brücke und Tor, Stuttgart 1957. S. 147. 16 Antonia Dinnebier: Der Blick auf die schöne Landschaft – Naturaneignung oder Schöpfungsakt?, in: Ludwig Fischer (Hg.): Projektionsfläche Natur: Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004. S. 72. 17 Siehe dazu: Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins. München 1991. S. 52ff.
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stellung der Landschaft. Dem Auge erscheint dies als eine Selbstdarstellung der Natur, als Naturschönes. So erklärt es sich, warum die in der Weise eines Kunstschönen produzierte Landschaft als ein Naturschönes beurteilt wird.“18
4.2 V ON ZUM
DER
„L ANDSCHAFT “
ALS
L ANDSCHAFTSGARTEN
B ILD
Die gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Hintergründe für den Formatsprung von „Landschaft“ vom Bild zum Garten im England des 18. Jahrhunderts will ich hier nur kurz beschreiben.19 Aufklärerische Ideen, auf die sich die ästhetische Idee der Natürlichkeit im Muster „Landschaft“ in ihrer Ausgestaltung als Garten bezieht, sind die der „allgemeinen menschlichen Vernunft“ und des daraus folgenden vom vernünftigen Menschen vorangetriebenen „gesellschaftlichen Fortschritts“.20 Vernunft soll etwas sein, das alle Menschen haben und nicht nur bestimmte Menschen, denen sie durch Gott oder Tradition zukommt. Vernunft gehört daher zur Natur des Menschen. Durch die Berufung auf Natur konnte man der Tradition und der göttlichen Offenbarung etwas Vorhergehendes entgegensetzen. „Was von Natur aus ist, ist vernünftig und soll folglich sein [...]“.21 Weil der Mensch von Natur aus vernünftig ist, kann er erkennen, was in der Welt dieser Vernunft nicht entspricht und kann das ändern und verbessern. Technischen und gesellschaftlichen Fortschritt voranzutreiben liegt somit in der Natur des Menschen. Die Ideen der Natürlichkeit der Vernunft und des Fortschritts sind daher mit der Vorstellung verbunden, dass „Natur besiegt und beherrscht werden muss“.22 Fortschritt hat ein Ziel: Die Verwirklichung der Freiheit des Menschen im Diesseits. Diese Freiheit meint die „Emanzipation von vorgegebenen Bindungen [...]: Bindungen an die Natur, Bindungen an Tradition
18 Antonia Dinnebier: Der Blick auf die schöne Landschaft – Naturaneignung oder Schöpfungsakt?, in: Ludwig Fischer (Hg.): Projektionsfläche Natur: Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004. S. 75. 19 Ich folge dabei: Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft, Bielefeld 2012, Kapitel 4, S. 66-118 und Andrea Siegmund: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt. Dissertation Technische Universität München, 2010, Kapitel 5, S. 83-146. 20 Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft: Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. S. 67f. 21 Ebd. S. 81. 22 Ebd. S. 82.
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und – durch diese beiden oder durch Offenbarung begründete – Herrschaft.“23 Diese Ideen finden sich in der ästhetischen Idee der Natürlichkeit wieder, die im englischen Landschaftsgarten ihre Vergegenständlichung findet. An dieser Stelle muss das hier zu Grunde gelegte Verhältnis zwischen Ideen und ästhetischen Ideen noch einmal präziser benannt werden: Ich gehe davon aus, dass ästhetische Ideen nicht die Darstellung von Ideen (wie Freiheit oder Gerechtigkeit) im Sinne von Mimesis sind. Ideen sind für die Kunstpraxis, genauso wie die Erscheinung von Dingen, Material zur Herstellung von Kunstwerken. Wenn für Kant eine ästhetische Idee „das Gegenstück (Pedant) von einer Vernunftidee sei“,24 der kein „bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann“,25 kann man das so interpretieren, dass zwischen ästhetischer Idee und Vernunftidee eine Analogie vorliegt und kein Abbildungsverhältnis. „Das Verhältnis zwischen ästhetischer und Vernunftidee bestimmt Kant mit Hilfe des Symbolbegriffs als ein Repräsentations- oder Analogieverhältnis: die inexponible ästhetische Idee repräsentiert symbolisch die indemonstrable Vernunftidee.“26 Diese Analogie zeigt die ästhetische Idee der Natürlichkeit ganz gut: Natürlichkeit bezieht sich als ästhetische Idee auf die Idee der „Natur“ im materiellen Sinne nach Aristoteles. „Natur ist bei ihm das, was selbst Form gewinnt und sich von selbst verändert.“27 Das ist eine Idee, die Material für die ästhetische Ideenfindung liefert, aber nicht im Sinne von Nachahmung darstellbar ist. Eine mögliche ästhetische Idee, gewonnen angesichts der aristotelischen Idee der „Natur“, ist die der Natürlichkeit, also ein Gestaltungsprinzip aufbauend auf geschwungenen, organischen, lebendigen Formen, die besonders bezeichnend für Gegenstände der Natur sein sollen. Angesichts der aristotelischen Idee der „Natur“ lassen sich aber auch ganz andere ästhetische Ideen finden, wie z.B. die von komplexen Strukturen. Warum wurde nun ausgerechnet „Landschaft“ im Format des Gartens verkörpert? Mit der Etablierung des Musters „Landschaft“ bestand die Möglichkeit, sich v.a. über die ästhetische Idee der Natürlichkeit kritisch auf bestehende gesellschaftlich-politische Verhältnisse zu beziehen und „Landschaft“ somit uto-
23 Ebd. S. 69. 24 KdU B193. 25 KdU B193. 26 Lars-Thade Ulrichs: Das ewig sich selbst bildende Kunstwerk, Organismustheorien in Metaphysik und Kunstphilosophie um 1800. In: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus (Ästhetik und Philosophie der Kunst) 4, 2006. S. 258. 27 Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft: Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012, S. 14.
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pisch aufzuladen und als tatsächliche räumliche Gegenwelt zu imaginieren. Das wurde möglich durch die Imagination von vergangenen Landschaften als Orte des besseren Lebens (Arkadien) und mit der Errichtung neuer Landschaften als Enklaven des besseren Lebens im Landschaftsgarten. Dass das Muster „Landschaft“ unter der ästhetischen Idee der Natürlichkeit ausgerechnet im Garten verkörpert wurde, erklärt sich mit der politischen Situation in England Anfang des 18. Jahrhunderts. Damals brach in die ländliche Ordnung Englands mit ihren Adelssitzen, den von der Herrschaft abhängigen Bauern, den aristokratischen Jagdgesellschaften und deer parks die wirtschaftlich aufstrebende und politisch liberale Handelsklasse ein. Diese, der politischen Partei der Whigs zugehörigen, Händler, Brauereibesitzer, Bürokraten, aber auch liberale Aristokraten erwarben Landbesitz und gestalteten um ihre „neuen“ Landsitze Parkanlagen, die eine aufgeklärte, liberale Gesinnung symbolisieren sollten. Hierfür musste der Bestand oft radikal umgebaut werden, ging es doch darum ein aufgeklärtes Naturverhältnis zu repräsentieren – die vernünftige Bewirtschaftung und Beherrschung von Natur mit rationalen Mitteln in Form eines gut geführten ländlichen Besitzes. Der daraus resultierende Nutzen für den Menschen ließ sich am besten durch den Rückgriff auf das antike Bildmotiv Arkadiens – Vieh und Mensch in sanfter Weidelandschaft – darstellen. Denn dieses Motiv sollte etwas zeigen, das den neuen Landbesitzern besonders wichtig war: Dass Gewinnstreben und Liberalität in allen Bereichen zu einem besseren Leben führen würden; das schloss auch den Bereich der Landwirtschaft und ländlichen Ökonomie mit ein. Diese in den englischen Landschaftsgarten verpackte politische Botschaft war eine Attacke auf die „alten“ Feudalherren, politisch vertreten durch die Partei der Tories, die sich von dieser auch provoziert fühlten. Aufgeschreckt durch die neuen „Nachbarn“, nutze auch der Landadel, der bedingt durch die Auflösung der Feudalordnung und den Aufstieg ebenjener Liberalen an politischer Macht verlor, seine Parkflächen als Ausdrucksmittel. Für sie wurde die „natürliche“ Gestaltung von Herrenhaus und Park zum Symbol des Beharrens auf traditionellen Werten und der alten naturgegebenen Ordnung. Gestalterisch zeigte sich das in der Berücksichtigung des genius loci, der Wertschätzung für Relikte historischer Nutzungen, alter Bäume und teilweiser Verwilderung. Gezeigt werden sollte ein über Jahrhunderte gewachsenes harmonisches Verhältnis zwischen Landbesitzer und Natur, das auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Grundherren und Bauern als quasi-natürliches mit einschloss. Die politisch marginalisierte Landaristokratie zog sich in einer Art inneren Emigration auf ihre Landsitze zurück und errichte dort, wie Foucault es nennt, „kompensato-
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rische Heterotopien“,28 d.h. Räume, die den missratenen Zuständen außerhalb eine bessere Ordnung entgegensetzen. Sie betrieben, bildlich gesprochen, ein enclosure der mit der ästhetischen Idee der Natürlichkeit symbolisch verknüpften Ideen.29 Im Zusammenhang mit diesen politischen Gärten, mit ihrer progressiven oder konservativen Botschaft, von Utopien zu sprechen würde die Möglichkeiten des Musters „Landschaft“ jedoch überbewerten. Nach Richard Saages Definition von Utopien30 weisen diese Attribute auf, die das Muster „Landschaft“ nicht aufweisen kann. Saage geht von der Prämisse aus, dass „politische Utopien Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften sind, die sich entweder zu einem Wunsch- oder einem Furchtbild verdichten. Ihre Zielprojektion zeichnet sich durch eine präzise Kritik bestehender Institutionen und sozio-politischer Verhältnisse aus, der sie eine durchdachte und rational nachvollziehbare Alternative gegenüberstellt.“31 „Landschaft“ kann, wie die Utopie, ein Wunsch- oder Furchtbild zeichnen, aber als ästhetische Idee und Muster fehlt ihr die Möglichkeit, sowohl präzise Kritik an gesellschaftlichen Zusammenhängen zu üben, als auch diesen rationale Alternativen gegenüberzustellen. Landschaft kann aber sehr wohl als kritisches Kunstwerk im Rahmen der ihr zugrunde liegenden ästhetischen Idee, als Zeichen des „Anderen“, kritisch auf Bestehendes verweisen. Das ist nun aber kein exklusives Attribut von „Landschaft“, sondern jedes Kunstwerk birgt als scheinbar freie Schönheit die Möglichkeit, ein Zeichen der Differenz zu sein. Das ist möglich durch die Bezugnahme des Kunstwerks auf freie Schönheiten und durch den inneren Zweck des Kunstwerks, der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, die die Artefakte aus den alltäglichen Zweckbezügen herauslöst und ihnen Scheincharakter verleiht. Diese Differenz des Scheins zu den Zweckzusammenhängen anderer Artefakte ist das grundsätzlich Widersprüchliche autonomer Kunstwerke zu praktischen Gegenständen. Dieser Widerspruch durch den Scheincharakter ist aber nicht im eigentlichen Sinne kritisch, da er sich nur im Rahmen einer ästhetischen Idee ausdrückt, ohne Kritik oder Alternativen rational formulieren zu können. Wird die ästhetische Idee des Kunstwerks kritisch auf Bestehendes gerichtet, indem das „Andere“ des Scheins
28 Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Frankfurt/M. 2006. S. 326. 29 Zum englischen Landschaftsgarten als politisches Ausdrucksmittel siehe: Tim Richardson: The Arcadian Friends – Inventing the English Landscape Garden, London: Transworld Publishers 2008. 30 Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991. S. 2-3. 31 Ebd. S. 2-3.
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kritisch oder als Vorschein einer besseren Alternative präsentiert wird, geschieht dies um den Preis des Verlusts der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, und das jeweilige Artefakt wird zu einem Gegenstand anhängender Schönheit, der in diesem Fall unter dem inneren Zweck des „Kritischen“ steht. Diese Subsumierung der freien Schönheit unter einen Begriff ist mit der Auflösung des Scheincharakters verbunden, da der Gegenstand anhängender Schönheit, weil unter einem Begriff stehend, in Zweckverhältnisse eingebunden ist. Sollte mit den Möglichkeiten des Musters „Landschaft“ mehr erreicht werden als eine kritische Bezugnahme auf Bestehendes innerhalb eines Spiels der Verweise, musste „Landschaft“ in etwas anderes verwandelt werden – einen Garten. In seinem bekannten Aufsatz „Von anderen Räumen“ führt Michel Foucault den Garten als Beispiel für eine Heterotopie an. 32 Heterotopien gehören für Foucault gemeinsam mit Utopien zu den Orten, „[...] denen die merkwürdige Eigenschaft zukommt, in Beziehung mit allen anderen Orten zu stehen, aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren.“33 Foucault differenziert Utopien weiter als „Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegen gesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vervollkommnete Bild oder das Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind Utopien ihrem Wesen nach zutiefst irreale Räume.“34 Das deckt sich in etwa mit Saages Definition der Utopie: Allen Utopien gemeinsam ist der kritische Bezug oder Verweis auf Bestehendes und die Präsentation einer Alternative in Form einer Fiktion. Heterotopien definiert Foucault hingegen als „tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“.35 Er nennt den Garten als Beispiel für eine Heterotopie, in der widersprüchliche Orte an einem Ort nebeneinander gestellt werden können, wie im persischen „charbagh“, der mit vier Flüssen bzw. Kanälen und vier Teilgärten die Welt in einer ummauerten Gartenfläche vereint.
32 Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Frankfurt/M. 2006. S. 324. 33 Ebd. S. 320. 34 Ebd. S. 320. 35 Ebd. S. 320.
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Die Heterotopie „Garten“ bot nun die Möglichkeit, das „utopische Potential im Denken“,36 das durch die ästhetische Idee „Landschaft“ verkörpert werden konnte, zu entfalten. Das war möglich, indem das Muster „Landschaft“ unter den Begriff des „Gartens“ gestellt wurde. Dieses Subsumieren unter einen Begriff schränkt die scheinbar freie Schönheit von „Landschaft“ als Bild weiter ein; sie wird zum schönen Gebrauchsgegenstand des Landschaftsgartens. Diese Übertragung des Musters „Landschaft“ vom Bild auf den Garten lässt sich ebenfalls als kulturelle Innovationsstrategie begreifen, denn Gesellschaftskritik und Utopie ließen sich als „Landschaft“ im Format Bild nur mit geringer Relevanz verkörpern. Der Anspruch des „autonomen vernünftigen Subjektes“ durch „gestaltende[s] Handeln [...] das Diesseits gemäß einer vom Subjekt entworfenen Idealvorstellung um[zu]formen und so dieser näher[zu]bringen“,37 kann nur mit der Idee von Naturbeherrschung erfüllt werden und lässt sich viel besser als im Format des Bildes im traditionellen Ort der Naturbeherrschung – dem Garten – realisieren. Dieser bot den geeigneten materiellen und symbolischen Rahmen, um das zur Verfügung stehende Gestaltungsmaterial (z.B. die Parks der Landgüter des englischen Landadels oder den Garten des humanistischen Intellektuellen Alexander Pope) mit ihren landwirtschaftlichen und gartenkünstlerischen Traditionen unter einer neuen ästhetischen Idee zum utopischkritischen Kunstwerk umzugestalten. Das Muster „Landschaft“, entwickelt im Format des Landschaftsbildes, war Inspiration und Vorlage zur Transformation traditioneller Gestaltungstechniken im Format des Gartens. Die im Muster „Landschaft“ enthaltenen Darstellungsformen konnten in der Anwendung auf die Heterotopie gegen die räumlichen Ordnungen des Barockgartens (alte Ordnung) und der korrupten Stadt (neue Ordnung) in Stellung gebracht werden. Wie Andrea Siegmund in ihrer Dissertation zeigt, kann „Landschaft“ als Garten nicht nur unter der Regie einer einzigen ästhetischen Idee hergestellt werden.38 Sie stellt vier Idealtypen des Landschaftsgartens mit der jeweiligen ästhetischen Idee vor – den Landschaftsgarten der Aufklärung, der Romantik, der Empfindsamkeit und der Gegenaufklärung. Sie betont, dass trotz aller weltanschaulichen Unterschiede die Form der Gärten relativ gleich bleibt.39 Ihre Interpretation stärkt meine These, dass das Muster „Landschaft“ relativ stabil bleibt und durch verschiedene ästhetische Ideen erneuert wird. In Andrea Siegmunds
36 Andrea Siegmund: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt. Dissertation Technische Universität München, 2010. S. 70. 37 Ebd. S. 72. 38 Ebd. S. 70. 39 Ebd. S. 323.
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Arbeit sind die Erneuerungen innerhalb des Musters „Landschaft“ als Garten deutlich nachzuvollziehen. Die Stabilität des Musters erlaubt ästhetische Ideen, die völlig gegensätzliche weltanschauliche Hintergründe haben können. Siegmund steckt ein Feld der ästhetischen Ideen ab, welche im Format des Landschaftsgartens dargestellt werden konnten, und markiert die Eckpunkte des Feldes mit den vier genannten Idealtypen. Ich möchte auf die Differenzierung des Landschaftsgartens nach verschiedenen ästhetischen Ideen nicht weiter eingehen, sondern den Formatsprung von „Landschaft“ als Bild zum Garten lediglich exemplarisch anhand einiger Punkte der Gartentheorie von Thomas Whately (dessen Theorie Siegmund dem empfindsamen Landschaftsideal zuordnet) kurz beleuchten. Die ästhetische Idee der Natürlichkeit schlug sich im Landschaftsgarten in der Verwendung „freier“ Formen nieder, wie sie zum Beispiel von Hogarth in der „line of beauty“ für die Malerei theoretisch behandelt wurde,40 außerdem in der Verwendung von bestimmten Gehölzen, die in ihrem unverschnittenen Zustand, im „freien Wuchs“, der ästhetischen Idee der Natürlichkeit entsprachen. Dieser Prozess der Vergegenständlichung der Darstellungsformen machte einen in der entsprechenden Gartentheorie vollzogenen Auswahlprozess von entsprechenden Formen der Topografie, der Formgebung von Wegen, Formgebung von Gehölzpflanzungen und der Auswahl „natürlicher“ Gehölze mit freien Wuchsformen notwendig. Das Material des Landschaftsgartens besteht für Whately aus „ground“, „wood“, „water“, „rocks“ und „buildings“.41 So beschreibt er z.B. die Darstellungsform für Topografie folgendermaßen: „[...] convex and concave forms are generally pleasing; and the number of degrees and combinations into which they may be cast is infinite: those forms only in each which are perfectly regular must be avoided; a semicircle can never be tolerable: small portions of large circles blended together; or lines gently curved, which are not parts of any circle; a hollow sinking but little below a level; a swell very much flattened at the top; are commonly the most agreable figures.“42
Aber nicht nur die Gestaltungsprinzipien von „Landschaft“ als Bild wurden auf den Garten übertragen, sondern auch das Bildprinzip an sich – der Landschafts-
40 In der Gartentheorie ist die Schlangenlinie schon vor Hogarth ein wichtiges Gestaltungsmittel. 41 Thomas Whatley: Observations on modern Gardening, London 1770 (2. Auflage). S. 2. 42 Ebd. S. 6.
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garten wurde aus gebauten Bildern komponiert. Die Anwendung des Kompositionsprinzips des harmonischen Bildganzen erfolgte auf zwei Ebenen: Erstens in Anwendung auf die einzelnen Gartenszenen und zweitens in Anwendung auf die Gesamtanlage des Landschaftsgartens. So betont Whately immer wieder die Wichtigkeit der Komposition eines harmonischen Bildganzen, z.B. bei der Gestaltung der Topografie: „[...] connection depends on the junction of each part to those about it, and on the relation of every part to the whole.“43 Die zweite Ebene der Bildkomposition bezogen auf die Gesamtanlage konnte aber nicht durch eine Gesamtschau aller Gartenszenen erfolgen, sondern wurde in zeitlicher Abfolge gedacht. Im Durchschreiten des Gartens wandert man von einem Gartenbild zum nächsten und verknüpft diese zu einem Gesamtkunstwerk. Dabei konnte auf die Erfahrungen aus der Bühnenbildnerei und der Innenarchitektur zurückgegriffen werden, die das Handwerkszeug für die Herstellung von Bildräumen zur Verfügung stellte und den Bau von Raumkunstwerken, die an die subjektzentrierte perspektivische Wahrnehmung adressiert waren, bereits entwickelt hatte.44 Bei der Gestaltung von Bühnenbildern wurde nicht nur mit Innenräumen oder Stadträumen gearbeitet, sondern für ländliche Szenen auch bereits mit dem Muster „Landschaft“. Aus dem Bühnenraum wurde in der Landschaftskunst, unter Beibehaltung des Fachbegriffs aus der Bühnenbildnerei, die Gartenszene. Den Gesetzen der perspektivischen Wahrnehmung unterworfen, unterteilte sich der Bildraum der Gartenszene, wie auch derjenige der „Landschaft“ in der Malerei oder des Bühnenbildes, daher in einen freien oder rahmenden Vordergrund aus überschaubaren offenen Flächen, wie Wiesen, Weiden eventuell mit sanfter Topografie und einem Fließgewässer oder großzügigen Wasserflächen und aus einem das Bild fassenden Hintergrund aus Gehölzgruppen oder Wald, eventuell mit Felsen oder später größeren Hügeln oder Bergen. Erst in späteren Entwicklungsstufen, sowohl in Malerei, Bühnenbildnerei, als auch in der Gartenkunst, öffnete sich mit der ästhetischen Idee des weiten Horizonts der Blick in die unendliche Ferne.45 Die Überformung der Heterotopie „Garten“ mit ihrer geometrischen Ordnungsstruktur durch das Muster „Landschaft“ führte zu einem Paradigmenwech-
43 Ebd. S. 9. 44 Nach Richardson hat vor allem William Kent, mit seinen Erfahrungen als Möbeldesigner und Innenarchitekt, Gestaltungsprinzipien aus diesen Berufsfeldern in die Gartengestaltung eingeführt. Siehe dazu: Tim Richardson: The Arcadian Friends – Inventing the English Landscape Garden, London: Transworld Publishers 2008. S. 265-290. 45 Siehe dazu: Andrea Siegmund: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt. Dissertation Technische Universität München, 2010. S. 18-25.
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sel innerhalb der Heterotopie. Das symbolische und später im Barockgarten ordnungsästhetische Prinzip der Quadrierung,46 bis zuletzt Geste der Zusammenführung der Welt an einem Ort, wurde von den Darstellungsformen der „Landschaft“ und der damit verbundenen ästhetischen Idee der Natürlichkeit abgelöst. Damit war auch eine grundsätzliche Veränderung der Funktion der Heterotopie verbunden: Der symbolisch-metonymische Bezug zur Welt wurde in großen Teilen abgelöst durch einen ästhetischen Bezug, und mit der „Landschaft“ hielt der Schein des Kunstwerks Einzug in den Garten. Das führte theoretisch zu einigen Problemen: Wie in der Gartentheorie der Zeit thematisiert, ergibt sich ein Widerspruch durch die gebaute Natürlichkeit des Landschaftsgartens. War in der Landschaftsmalerei die ästhetische Idee der Natürlichkeit in der scheinbar freien Schönheit des Kunstwerks gut aufgehoben, stellte sich beim Bau von „Landschaft“ im Rahmen des Artefakts Landschaftsgarten die Frage, ob diese ästhetische Idee innerhalb des Kunstwerks, das in seinem Erscheinungsmaterial nahezu identisch mit der tatsächlichen Materialität des Artefakts ist (nicht so beim Landschaftsgemälde), noch verwirklicht werden kann. So sorgte sich auch Whately um die freie Schönheit des Landschaftsgartens: „Even when painting exactly imitates the appearances of nature, it is often weak in conveying the ideas which they excite, and on which much of their effect sometimes depends. This however is not always a disadvantage; the appearance may be more pleasing than the idea which accompanies it; and the omission of the one may be an improvement of the other; [...].“47
Die Erscheinung (appearance) kann einnehmender sein als die Vorstellung/Begriff (idea), die sie begleitet; das bedeutet, dass im Landschaftsgemälde das Erscheinungsmaterial, z.B. die Farben, einem reinen ästhetischen Urteil unterzogen werden können, während im Landschaftsgarten die Vorstellungen, also die Bedeutung des Erscheinungsmaterials im Vordergrund steht, dass z.B. bestimmte Farben schlechte Bodenqualität anzeigen. Dazu schreibt Whately: „In a picture, the several tints which occur in nature may be blended, and retain only their beauty, without suggesting the poverty of the soil which occasions them, but in the reality, the cause is more powerful than the effect; we are less pleased with the fight, than we are
46 Peter Cornelius Mayer-Tasch: Das Paradies im Quadrat, in: Richard Saage, EvaMaria Seng (Hg.): Von der Geometrie zur Naturalisierung, Tübingen 1999. S. 1ff. 47 Thomas Whatley: Observations on modern Gardening, London 1770 (2. Auflage). S. 148.
88 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG hurt by the reflection; and a most agreeable mixture of colours may present no other idea than of dreariness and sterility. On the other hand, utility will sometimes supply the want of beauty in the reality, but not in a picture. In the former, we are never totally inattentive to it; we are familiarised to the marks of it; and we allow a degree of merit to an object which has no other recommendation.“48
Whately setzte somit dem Artefakt Landschaftsgarten Grenzen als freiem Kunstgegenstand. Ist das Landschaftsgemälde frei in der Verwendung von Erscheinungsmaterial, muss sich die Gestaltung des Landschaftsgartens innerhalb der Grenzen von Nützlichkeit (utility) bewegen. Der Landschaftsgarten ist somit ein Gegenstand eingeschränkter Schönheit. Eine weitere Grenze besteht in den Möglichkeiten der Nachahmung von Naturschönheit im Landschaftsgarten. Bezug nehmend auf die Ausdehnung von Wasserfällen schreibt Whately: „Ein eitler Ehrgeiz, der Natur in ihren größeren Ausschweifungen nachzuahmen, verrät das Unvermögen der Kunst.“ 49 Obwohl Whately als Vertreter des rein ästhetischen Landschaftsgartens gilt, ordnete er seine ästhetischen Überlegungen bestimmten Begriffen unter. Das Artefakt Landschaftsgarten wurde den Begriffen der Nützlichkeit und der Natürlichkeit untergeordnet, wobei Whately Natürlichkeit nicht als ästhetische Idee reflektierte, sondern als eine Eigenschaft des Gestaltungsmaterials. Wir finden somit bei Whately innerhalb seiner Gartentheorie den zweiten Formatsprung von „Landschaft“ bereits enthalten, den vom Bild zur freien Landschaft. Aufgabe der Gartenkunst wurde daher jetzt auch die Verbesserung des „natürlichen“ Erscheinungsmaterials mit den Mitteln der Kunst, wie wir sie später bei den „Improvements“ der picturesquen Gartenbewegung finden. Im Bezug auf die Optimierung der Erscheinung von „natürlichen“ Felsen schreibt Whately: „Die Kunst kann vieles beitragen, den Umfang dieser Teile dem Auge zu zeigen und sie in der Einbildungskraft zu vergrößern; indem sie die dichten Gebüsche entfernt, die sich quer über die Felsen ausbreiten und also ihre Ausdehnung verdecken; oder indem sie die kleinen Abstände zwischen denselben mit Waldung ausfüllt und den Schein desselben unterhält, weil sie auf diese Art den Mangel des Stetigen verdeckt.“50
48 Ebd. S. 149. 49 Thomas Whately: Betrachtungen über das heutige Gartenwesen, durch Beispiele erläutert. Reprint der deutschen Ausgabe von 1771, Roger M. Gorenflo (Hg.): Quellen und Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte, Band 4, Rüsselsheim 1992. S. 111. 50 Ebd. S. 122.
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Doch hier sind die Möglichkeiten der Kunst, z.B. in der Erhöhung der Vielfalt einer Szene, bereits durch die scheinbare Künstlerpersönlichkeit der „Natur“ eingeschränkt: „Jedoch aber wird Behutsamkeit erfordert, dass man in der Sache nicht zu viel wage. Die Kunst wird fast allezeit außer Stande sein einen Auftritt zu verbessern an welchem die Natur ihre Erfindung besonders gezeigt zu haben scheint.“51
Mit dem Formatsprung vom Bild zum Garten wurde die Frage von Realität oder Schein von „Landschaft“ in der Gartentheorie gestellt. Ist ein Landschaftsgarten Naturgegenstand oder Kunstwerk? Einerseits ist die neue Gartenkunst der Landschaftsmalerei überlegen, weil „wirklicher“ als diese: „It is as superior to landskip painting, as a reality to a representation [...].“52 Mit dem Landschaftsgarten wird etwas produziert was „echter“ ist als ein Gemälde – Natur wird nicht mehr nur nachgemacht, sondern gebaut. Andererseits sind Imitation und Täuschung notwendiger Bestandteil der Gestaltungspraxis, da bestimmte Naturgegenstände, wie Berge, Flüsse und große Seen nicht mit den Mitteln der Kunst erschaffen werden können: „In a garden, the water is generally imitative. That which in the open country would be called a great pond, there assumes the name, and should be shaped as if it had the extent of a lake; for it is large in proportion to the other parts of the place.“53
Landschaftsgärtnerei wurde von Whatley klar als Kunstpraxis verstanden, aber als eine, die mit Naturgegenständen arbeitet. Daher ist sie auch „echter“ als die Malerei, die Natur nur mit Farbe abbildet. Landschaftsmalerei verstand Whatley zwar als Vorbild für die Gartenkunst, aber nicht indem der Gartenkünstler Techniken der Malerei nachahmt – dafür ist der Unterscheid zwischen den Kunstpraktiken zu groß – sondern indem der Gartenkünstler sie zum Studieren benutzt. Das ist ein bemerkenswertes Detail, zeigt sich doch daran, dass Malerei nicht mehr als „Landschaft“ überhaupt erst konstituierende Kunstpraxis verstanden wurde, sondern als etwas, das eine in der Natur vorhandene „Landschaft“ abbildet. An diesen Abbildungen kann man nun studieren, wie man Landschaft als Künstler darstellen und optimieren kann – etwas, das nun der Gartenkünstler auch tut, nur nicht wie der Maler auf Leinwand, sondern in der Natur des Gar-
51 Ebd. S. 14. 52 Thomas Whatley: Observations on modern Gardening, London 1770 (2. Aufl.). S. 1. 53 Ebd. S. 63.
90 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
tens. Dieses Arbeiten mit dem Erscheinungsmaterial „Natur“ wurde aber weiterhin als künstlerische Praxis verstanden. „Landschaft“ wurde noch nicht als etwas gesehen, das technisch und praktisch verbessert und umgestaltet werden kann, sondern das im Rahmen eines Gartenkunstwerks erschaffen wird. Nur da kann sie auch utopisch-praktische Wirkung entfalten. Die Landschaftsgärtnerei war noch immer von einem gewissen Scheinbewusstsein geprägt, auch wenn sich dieses Bewusstsein in späteren Gartentheorien aufzulösen begann. Diese Differenz zwischen Scheinhaftigkeit und Realität im Gartenkunstwerk zeigt Foucault auch in seiner Theorie der Heterotopien: Er beschreibt verschiedene Arten des heterotopen Weltbezugs – er differenziert Heterotopien in „illusorische Heterotopien“, die in ihrer präsentierten Scheinhaftigkeit den realen Raum, auf den sie sich beziehen, als noch größere Illusion entlarven und die „kompensatorischen Heterotopien“,54 die eine bessere, aber auf einen Ort beschränkte Ordnung tatsächlich herstellen. Landschaftsgärten sind einmal mehr einmal weniger beides: illusorisch und kompensatorisch. Mit dem Formatsprung von „Landschaft“ als Bild zur freien Landschaft gelang nun beiden Varianten des heterotopen Weltbezugs der „Sprung über den Gartenzaun“.
4.3 V ON
DER „L ANDSCHAFT “ ALS ZUR FREIEN L ANDSCHAFT
B ILD
Mit dem Landpastor William Gilpin betrat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Maler und Autor die Bühne der Landschaftstheorie, der den Formatwechsel von „Landschaft“ als Bild zur freien Landschaft populär machte.55 In seinen sieben Observations und seinen Three Essays: On Picturesque Beauty; On Picturesque Travel; On Sketching Landscape wird ungestaltetes Land dem ästhetischen Blick über die Öffnung des Formates „Landschaft“ für roughness, d.h. für Kontraste, Abwechslung und formale Komplexität erschlossen. „Picturesque people“,56 wie Gilpin die Anhänger der erweiterten Ästhetik und sich, als deren Vorreiter, mit eingeschlossen, nannte, zogen ungestaltetes Land einem „elegant piece of garden ground“ vor, sie gingen auf Reisen, um Naturlandschaft zu finden und zu genießen. Ausgangspunkt Gilpins war die Kritik an smooth-
54 Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie, Frankfurt/Main 2006. S. 326. 55 Siehe dazu: Christopher Hussey: The Picturesque: Studies in a Point of View, Reprint der Erstauflage von 1927, London Edinburgh 1967. S. 65ff. 56 William Gilpin: Three Essays, London 1792. Vorwort an William Lock. S. i.
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ness, als Merkmal von Schönheit, wie sie Edmund Burke in seiner sensualistischen Ästhetik postulierte. Diese Definition von Schönheit konnte der aktuellen Landschaftsmalerei57 nicht mehr entsprechen, mit ihrer höheren formalen Komplexität durch „variety“, „contrast“ und einen starken „effect of light and shade“. Daher bedurften die Gestaltungsprinzipien des Musters „Landschaft“ der theoretischen Weiterentwicklung, um mit der Praxis der Landschaftsmalerei mithalten zu können. Diese hatte schon längst mit der ästhetischen Idee einer „rauen“ Natürlichkeit begonnen, immer weiter neues ungestaltetes Land ästhetischmalerisch zu erschließen und zu Naturlandschaften „umzugestalten“. Die neue ästhetische Idee für das Muster „Landschaft“ trieb die Maler aus dem Atelier hinaus, um als „Sketch“ die raue Natürlichkeit in Naturlandschaftsgemälden einzufangen. „From scenes indeed of the picturesque kind we exclude the appendages of tillage, and in general the works of men; which too often introduce preciseness, and formality.“58 Hier liegt auch das tatsächlich Interessante an Gilpins Theorie im Rahmen dieser Studie: Er ging über die etwas dürftige Theorie der neuen Darstellungsform der roughness hinaus, die eine bereits breite Tendenz in der Landschaftsmalerei theoretisch fassen sollte, indem er eine neue Kunstform analysierte, die das Material der ästhetischen Idee der rauen Natürlichkeit anders als die Landschaftsmalerei gestaltet – picturesque travel. Er beschreibt diese neue ästhetische Praxis folgendermaßen: „We suppose the country to have been unexplored. Under this circumstance the mind is kept constantly in an agreeable suspense. The love of novelty is the foundation of this pleasure. Every distant horizon promises something new; and with this pleasing expectation we follow nature through all her walks. We pursue her from hill to dale; and hunt after those various beauties, with which she every where abounds.“59
Das Land wird als natürlich imaginiert, man könnte sagen naturalisiert. „The plough, and the spade are deserted. Care is left behind; and every human faculty is dilated with joy.“60 Die Naturalisierung zeigte sich hier als neue Kunsttechnik, neben den traditionellen Darstellungstechniken der Malerei, um „scheinbar freie Schönheiten“ zu produzieren. Naturalisierung wurde aber nicht naiv und unreflektiert vollzogen. Gilpin war sich ihrer als Kunsttechnik bewusst. So wurde
57 Gilpin entwickelt seine Theorie nicht ausschließlich an der Landschaftsmalerei, sondern er referiert u.a. auch über Historienmalerei und Porträtmalerei. 58 William Gilpin: Three Essays, London 1792. Vorwort an William Lock. S. iii. 59 William Gilpin: Three Essays, Essay II on Picturesque Travel, London 1792. S. 47f. 60 Ebd. S. 48.
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von ihm Erscheinungsmaterial, das sich nicht naturalisieren lässt, wie z.B. Fabriken, als Erscheinungsmaterial für die Herstellung von picturesque beauty aus dezidiert ästhetischen Gründen ausgeschlossen: „In a moral view, the industrious mechanic is a more pleasing object than the loitering peasant. But in a picturesque light, it is otherwise. The arts of industry are rejected; and even idleness, if I may so speak, adds dignity to a character.“61
Das betrachtete Land wurde in der Kunstpraxis des picturesque travel selbst zum Kunstwerk, das der ästhetischen Idee der Natürlichkeit unterworfen wurde. Gilpins Observations, die Anleitungen zum Vollzug der Technik des picturesque travel in von ihm erkundeten Gegenden sind, darunter bereits populäre Tourismusziele wie der Lake District, machten eine Praxis populär, die sich mit der Tradition der Grand Tour, der Bildungsreise der europäischen und v.a. englischen Oberschicht nach Italien, entwickelt hatte. Die europäische Elite folgte dabei Künstlern, wie z.B. Breughel, die aus fachlichem Interesse auf der Suche nach Motiven und exemplarischen Kunstwerken die beschwerliche Reise nach Italien unternahmen. Hier kehrte sich der landschaftliche Blick um: Vom professionellen Blick des Malers, der Darstellungstechniken und Motive, die er auf seiner Reise gesehen hatte, zur „Landschaft“ als Bild komponierte, zum Blick des Amateurs, der die beschwerlichen Hindernisse auf dem Weg nach Italien unter dem Eindruck der Gemälde von Claude und Rosa, die er in den dortigen Galerien studierte, auf dem Rückweg, den gemalten Vorbildern folgend, plötzlich als „Landschaften“ sah. Das war zum Beispiel bei Joseph Addison, den theoretischen Vorreiter des Landschaftsgartens, der Fall. Hussey beschreibt die Blickveränderung Joseph Addisons auf seiner Grand Tour folgendermaßen: „The less romantic Addison is usually taken as an example of the type of man who was disgusted with mountains, on the strength of his relief at the ‚sight of a plain’ after crossing the Alps in about 1700. He was not much interested in pictures – referring only to ‚gay gilded scenes and shining prospects’62 in connection with painting when he wrote to Lord
61 William Gilpin: Observations, on several Parts of England, particulary the Mountains and Lakes of Cumberland and Westmoreland, relative chiefly to Picturesque Beauty, made in the Year 1772, London 1786. S. 44. 62 Joseph Addison: A Letter from Italy, to the right honourable Charles Lord Halifax, in the Year MDCCI. In: The Works of the right honourable Joseph Addison, with the Exception of his Numbers of the Spectator. Vol. 5, New York 1811. S. 213. Zitiert nach Hussey.
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Halifax. But after he had ‚done’ Rome and its galleries, and assimilated unconsciously the point of view of Claude and Salvator, a fresh attitude is traceable in his observations. The gilt and shine has come of his prospects. We are told appreciatively of ‚broken and interrupted scenes’, ‚infinite variety of Inequalities and Shadowings’ and, in a prospect near Tivoli, that ‚the Roman Painters often work upon this Landskip.’63 [...] on the journey home he sees the Alps with a reformed eye. About Geneva they ‚make [up] a[n] Horizon that has something in it very singular and agreeable’64.“65
Gilpin übertrug die ästhetischen Erfahrungen und Techniken der Grand Tour nun in seinen Observations auf Touren über die Britischen Inseln und öffnet damit die ästhetische Reisepraxis für ein breites Publikum: „Gilpin’s tours to various parts of Britain, published between 1782 and 1802, sensitized a large audience to the beauties of native, British scenery. They did this by teaching the picturesque tourist how to look at the natural landscape as an ordered, coherent pictorial whole rather than as a chaotic collection of bits and pieces.“66
Das ästhetische Muster, das Gilpin mit seinen Schriften vermittelte, war konstruiert nach den klassischen Vorbildern der „römischen“ Landschaftsmaler: „Typically Gilpin’s picturesque viewing entailed the imaginative organization of landscape scenery into a foreground, distance, and second distance, a system that followed a simple tripartite compositional recipe that he derived from the study of Claude Lorraine, Gaspar Dughet, and Salvatore Rosa and that any amateur, [...], might use to transform any view into a picturesque view.“67
63 Joseph Addison: Remarks on Several Parts of Italy, etc. in the Years 1701, 1702, 1703. In: The Works of the right honourable Joseph Addison, Esq; Vol. II, London 1721. S. 129. 64 Ebd. S. 156. Zitierfehler bei Hussey wurden durch den Autor korrigiert. 65 Christopher Hussey: The Picturesque: Studies in a Point of View, Reprint der Erstauflage von 1927, London Edinburgh 1967. S. 88. Die Zitate von Joseph Addison sind bei Hussey ohne Quellenangabe. 66 Ann Bermingham: System, Order and Abstraction: The Politics of English Landscape Drawing around 1795, in: W.J.T. Mitchell (Hg.): Landscape and Power, Chicago London 2002. S. 86f. 67 Ebd. S. 86.
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Aber die Übertragung war auch mit einer Reform dieses klassischen Musters verbunden: „[...] this new generation of explorers that swapped the Grand Tour for the ‚Home’ Tour lowered their point of view: they not only shun panoramic viewpoints but favoured humbler stations and modest sights [...].“68 Für die Übertragung der „Klassiker“ auf die „Landschaften“ der britischen Inseln war aber zunächst die Erschließung des neuen Erscheinungsmaterials durch eine Generation britischer Landschaftsmaler notwendig, die dieses in das klassische Bildmuster der römischen Schule integrierten. „[...] by 1780, an English school of landscape painters had joined the poets in illustrating English scenery. Gainsborough, while he observed the rules of the picturesque as deducible from Italian and Dutch masters, yet selected typically English scenes, saw them from an English point of view, and thus gave his pictures a native stamp.“69
Es sollte aber nicht allein die Rolle der Malerei und der Grand Tour bei der Übertragung des Musters „Landschaft“ auf den ländlichen Raum betont werden. Dieser Übertragungsprozess fand parallel und in Wechselwirkung mit der Entstehung des englischen Landschaftsgartens statt. Das zeigt auch eine Parallele in der Entwicklung der ästhetischen Ideen zwischen den beiden Landschaftsformaten. Als William Gilpin verschiedene Gegenden der britischen Inseln als Scenery unter dem Begriff des Picturesque populär machte, forcierten die Gutsbesitzer Uvedal Price und Richard Payne Knight eine rauere, vielfältigere, natürlichere und in ihrem Verständnis britischere Variante des Landschaftsgartens, ebenfalls unter dem Begriff des Picturesque. Die ästhetische Idee der Rauheit und bodenständigen Natürlichkeit bezog sich in negativer Anpassung auf den „klassischen“ Stil des Brownschen Landschaftsgartens, den die beiden scharf attackierten. Im Stil einer „natürlicheren“ Gestaltung von Herrenhaus und Park repräsentierten sie ihr Beharren auf traditionellen Werten und der alten naturgegebenen Ordnung. Gestalterisch zeigte sich das in der Berücksichtigung des genius loci, also indem Relikte historischer Nutzungen, alte Bäume und teilweise Verwilderung eine Wertschätzung erfuhren. Price und Knight beabsichtigten damit, als Landadlige und Vertreter der „alten“, feudalen Ordnung, ihr angeblich über Jahrhun-
68 Laurent Châtel: „Getting the Picture “ of the Picturesque : Some Thoughts on the Greatest British Aesthetic Muddle of the Eighteenth and Nineteenth Centuries. In: XVII-XVIII. Bulletin de la société d’études anglo-américaines des XVIIe et XVIIIe siècles. N°51, 2000. S. 233ff. 69 Christopher Hussey: The Picturesque: Studies in a Point of View, Reprint der Erstauflage von 1927, London Edinburgh 1967. S. 89.
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derte gewachsenes harmonisches Verhältnis zur Natur abzubilden, das auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Grundherren und Bauern als quasi-natürliches mit einschloss. „The practice of Brown and his followers to clear prospect so as to open views and vistas within the garden to the landscape outside it was seen by Price as equivalent to the levelling tendencies of democratic governments and revolutions.“
70
Die Ablehnung der französischen Revolution und „abstrakter“ demokratischer Prinzipien diente als Material für eine Erneuerung des Musters „Landschaft“ durch die neue ästhetische Idee des Picturesque mit Gestaltungsprinzipien basierend auf „age, custom, individuality, variety, and rank“.71 Auch Gilpins Landschaftsästhetik, die ja ebenfalls unter dem Begriff des Picturesque firmierte, transformiert den „klassischen“ Blick der Grand Tour hin zur Beachtung von lokalen, individuelleren und damit britischen Szenerien. Er bleibt aber doch den vereinheitlichenden Kompositionsprinzipien der „Landschaft“ als Bild verbunden und damit dem Gestaltungsprinzip der Aussicht in die freie Landschaft und nicht der konservativen Utopie des alten, individuell gewachsenen Gartens, wie Price und Knight es taten. Diese Diskrepanz lässt sich sicherlich mit dem Klassenunterschied zwischen Gilpin als Landpastor und den Gutsbesitzern Price und Knight erklären: Gilpin und die picturesque traveller eignen sich freie Landschaft in ästhetischer Erfahrung an, ohne diese zu besitzen. Für Gilpin gilt weiterhin die ästhetische Idee der „prospect landscape“ und des Horizonts als Symbol für Freiheit des autonomen Subjekts. „The vastness of nature suggests the freedom of the imagination guided by the eye to take up residence in the „wide and undetermined“ prospect, without ever having to take on the responsibilities of owning and maintaining it.“72
Price und Knight verwirklichen hingegen Heterotopien der Tradition, um ihre Privilegien symbolisch zu verteidigen. Beiden Spielarten ist aber eines gemeinsam: „In fact, it [the Picturesque] was synonymous with England – ‚Old Eng-
70 Ann Bermingham: System, Order, and Abstraction: The Politics of English Landscape Drawing around 1795, in: W.J.T. Mitchell (Hg.): Landscape and Power, The University of Chicago Press 2002 (2nd Edition), S. 83. 71 Ebd. S. 85. 72 Ebd. S. 84f.
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land’ […] it eventually designated the intrinsically English genius.“73 Im picturesque travel – in der vergnüglichen Jagd nach immer neuer scenery, die jeder ferne Horizont verspricht – hat Ende des 18. Jh. das liberale Bürgertum Englands die seinen politischen Ideen und seinem Selbstverständnis entsprechende Kunstform gefunden. Gekoppelt mit der ästhetischen Idee der Natürlichkeit, die sich ja formal-symbolisch auf die Ideen der Freiheit und des gesellschaftlichen Fortschritts bezieht, wird picturesque travel zur Bestätigung der natürlichen Überlegenheit der liberalen-bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Die ganze Welt bietet sich dem rein ästhetischen Blick des von allen Zwängen befreiten liberalen Subjekts dar.74 Diese Perspektive auf die Welt bedarf sowohl der politischökonomischen Voraussetzungen, um alle möglichen Gegenden für sich zu erschließen (und z.B. nicht von Landnutzern oder -besitzern daran gehindert zu werden), wie auch des picturesque eye, um das Land einer rein ästhetischen Erfahrung zuzuführen. Die Kunstpraxis des picturesque travel und ihr Niederschlag in Skizzen und Landschaftsbildern im Studio und en pleinair und später die Fotografie setzen einen Prozess der Entdeckung immer neuer Landschaften in Gang. Die kulturelle Innovation, die sich im Landschaftsbild immer wieder in der Erneuerung des Musters „Landschaft“ zeigte, wird so in den Raum getragen. Die Reisetätigkeit englischer picturesque traveller, die in der Tradition der Grand Tour nicht nur auf den britischen Inseln nach scenery suchen, führte zu einer Globalisierung des picturesque eye.75 Dieser expansive Charakter des picturesque eye (über den Horizont hinaus), blieb nicht auf den schönen Schein der Kunst beschränkt, indem die Reisenden Aquarelle von allen möglichen schönen Aussichten malten, sondern das Reisen in dieser Form ist ja selbst Vollzug der ästhetischen Idee von Natürlichkeit – der freien Bewegung des liberalen Subjekts. Wie Mitchell betont, zeigt sich in diesem Verständnis von „Landschaft“ eine deutliche Parallele zum imperialistischen Denken. Die ganze Welt bietet sich dem liberalen-bürgerlichen Subjekt eben in zweifacher Weise dar: offen für
73 Laurent Châtel: „Getting the Picture “ of the Picturesque : Some Thoughts on the Greatest British Aesthetic Muddle of the Eighteenth and Nineteenth Centuries. In: XVII-XVIII. Bulletin de la société d’études anglo-américaines des XVIIe et XVIIIe siècles. N°51, 2000, S. 236. 74 Siehe dazu: Dóra Drexler: Landschaft und Landschaftswahrnehmung, Saarbrücken 2010. S. 84f. 75 Siehe z.B. zu den englischen Wurzeln der Rheinromantik: Thomas M. Lekan: Imagining the Nation in Nature, Landscape Preservation and German Identity, 1885-1945, Cambridge London 2004. S. 24ff.
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die reine ästhetische Erfahrung und offen für die ökonomische Verwertung. Die Naturalisierung von Land als scenery führt diese beiden Ebenen zusammen.76 In den Kapiteln 3 und 4 dieser Studie habe ich die Entwicklung von „Landschaft“ von einer ästhetischen Idee in der Malerei zu Gartenkunstwerken im Format des Landschaftsgartens und zu Naturschönheiten im Format der freien Landschaft mit Hilfe der von Kant in der Kritik der Urteilskraft getroffenen und in Kapitel 2 dargestellten Unterscheidungen zwischen Gegenständen freier Schönheit, Gegenständen anhängender Schönheit, Kunstschönheiten, Naturschönheiten und davon abgeleitet schönen Gebrauchsgegenständen als Prozess der Vergegenständlichung von ästhetischer Erfahrung beschrieben. Dieser Prozess endete aber nicht bei den zuletzt beschriebenen Formaten Landschaftsgarten und freie Landschaft, sondern „Landschaft“ wurde ausgehend von diesen Formaten einerseits als Gegenstand gesehenen, der Forschungsobjekt einer neuen wissenschaftlichen Disziplin werden konnte – der Geographie – , andererseits wurde „Landschaft“ als Gegenstand gesehen, der als Medium (also als Trägermaterial) somatische und psychische Wirkungen auf den Menschen ausübt und von dem man dementsprechend glaubte, dass er in einer neuen Disziplin – der Landschaftsarchitektur – auf nützliche Art und Weise für die Verbesserung der Lebensbedingungen in großen Städten verwendet werden kann. Dieser Wandel von „Landschaft“ von einem Gegenstand anhängender Schönheit (als Landschaftsgarten und freie Landschaft) zu einem praktischen Gegenstand, dessen Schönheit aber weiterhin eine große Rolle spielt, kann nicht mehr mit Hilfe der aus der Kritik der Urteilskraft abgeleiteten Klassifizierung von ästhetischen Gegenständen erfasst werden. Voraussetzung dafür ist ein anderes Verständnis von Ästhetik als das Kant’sche – ein Verständnis, das die Autonomie des ästhetischen Geschmackurteils und die subjektivistische Ästhetik Kants ablehnt und auf ältere Konzeptionen von Schönheit, die sich auf objektive Prinzipien berufen, zurückgreift und diese neu interpretiert. Einer der Theoretiker dieser objektivistischen Ästhetik in „Nachfolge“ von Kant ist der „Kant Schüler“ Johann Gottfried Herder, der eine solche Ästhetik in seiner Schrift „Kalligone“ vorstellt.
76 W.J.T. Mitchell: Imperial Landscape, in: Ders. (Hg.): Landscape and Power, Chicago London 2002 (2nd edition).
5. Die Funktionalisierung des Ästhetischen bei Burke und Herder
Kants „Zerschlagung“ der Trias aus Wahrheit, Schönheit und dem Guten provozierte neben glühender Gefolgschaft eine Reihe von philosophischen Widersprüchen oder Korrekturen, bezogen vor allem auf die Kritik der Urteilskraft. Auch der Dichter, Philosoph und ehemalige Student bei Kant in Königsberg, Johann Gottfried Herder, versuchte, wie Kant es in der Kritik der Urteilskraft unternommen hatte, die Antinomie zwischen empiristischer und rationalistischer Ästhetik aufzulösen. Er strebte aber, in deutlicher Ablehnung von Kants Thesen, statt mit „kalteiserner Hand, was die Natur zart in uns verschlungen hat, unerbittlich zu trennen“,1 nach einer Wiedervereinigung des Zertrennten. Er widersprach vehement Kants These, dass das reine ästhetische Urteil über ein autonomes Prinzip verfügt (und somit das Angenehme und das Vollkommene anderen Urteilformen zugehörig definiert), indem er die kausalistischen Begründungen für die Empfindung von Schönheit, wie sie im Rahmen empiristischer Erkenntnisphilosophie von Edmund Burke oder David Hume gegeben wurden, funktionalistisch interpretierte und sie dadurch einer allgemeingültigen und objektivistischen Ästhetik der harmonischen Weltordnung zuschlagen konnte. Durch die Akzentuierung empiristischer Ästhetik als funktionalistische Ästhetik, wie sie Herder nach dem Vorbild Edmund Burkes2 vorgenommen hatte, wird die „Wiedervereinigung“ von Vernunft und Empfindung in der ästhetischen Erfahrung möglich und eine alternative ganzheitliche Ästhetik als Reaktion auf Kants
1
Herder zitiert nach: Günther Jacoby: Herders und Kants Ästhetik, Leipzig 1907. S. 103.
2
Zu Herders Bezug auf Burke siehe: Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica – Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990. S. 204.
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autonome Ästhetik denkbar. Ich werde in diesem Kapitel die Prinzipien von Herders und Burkes ästhetischen Theorien als zwei Varianten funktionalistischer Ästhetik vorstellen, die für die Vergegenständlichung von Landschaft von Bedeutung sind: Burkes mechanistische und Herders organizistische Ästhetik. Eine wichtige Frage, mit der man sich im 18. Jahrhundert beim Nachdenken über das Schöne beschäftigte, war, ob das Empfinden von Schönheit allgemeingültigen Regeln oder Standards folgt oder sogar der Ausdruck einer vollkommenen Weltordnung sein kann, wenn jeder offensichtlich etwas anderes schön findet. Kant löste diesen Widerspruch zwischen der Subjektivität der Erfahrung des Schönen und dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit von Schönheitsurteilen (der vor allem durch rationalistisches Denken, das Schönheitsempfinden in ein geordnetes Weltsystem einfügen will, formuliert wird) mit dem paradox anmutenden Gedanken der subjektiven Allgemeingültigkeit auf. Wichtige Anregung für Kants Querdenken zur rationalistischen Ästhetik waren die Schriften der „Empiristen“ David Hume und Edmund Burke. Von ihnen übernahm er den Gedanken, dass alles, was wir Denken können, uns nur über unsere Sinnlichkeit zukommt. Das gilt auch für die Empfindung von Schönheit – wir gelangen durch unsere sinnliche Erfahrung zu einem Begriff davon, was Schönheit ist. Hume und Burke, kamen aber nicht zu dem Schluss, dass Schönheit ein subjektive Empfindung ist, sondern sie gingen ebenfalls davon aus, dass Schönheit auf allgemeinen Regeln beruht, die wir, wie Naturgesetze, aus unserer Erfahrung ableiten können und so zu allgemeingültigen Schönheitsurteilen gelangen können. Es gelang ihnen aber nicht, die Idee von allgemeingültigen und objektiven Geschmacksprinzipien schlüssig zu begründen – in Humes Argumentation blieb sie letztendlich nur als eine Art regulative Idee bestehen, oder sie muss, wie Burke es tat, letztendlich doch teleologisch und funktionalistisch begründet werden.
5.1 D ER
NATÜRLICHE
G ESCHMACK
David Hume geht in seinem Essay Of the Standard of Taste3 von 1757 davon aus, dass Geschmack, also die Fähigkeit, Schönheitsurteile zu fällen, durch Erfahrung entsteht und sich durch die Praxis des Urteilens verfeinert. Hume weist zwar in seinem Essay mehrfach darauf hin, dass die Sinne, Empfindungsfähigkeit und Geschmack bei den Menschen, sowohl der eigenen, wie auch der anderer Kulturen, sehr große Unterschiede aufweisen, dennoch argumentiert er für
3
David Hume: Of the Standard of Taste. In: Ders.: Four Dissertations. (Ohne Jahresangabe). (Digitale Ausgabe). S. 203-240.
D IE F UNKTIONALISIERUNG DES Ä STHETISCHEN | 101
das Vorhandensein eines natürlichen und allgemeingültigen Geschmacks.4 Die Regeln dieses natürlichen Geschmacks lassen sich durch Beobachtung und Erfahrung erkennen. „It is evident that none of the rules of composition are fixed by reasonings a priori, or can be esteemed abstract conclusions of the understanding, from comparing those habitudes and relations of ideas, which are eternal and immutable. Their foundation is the same with that of all the practical sciences, experience; nor are there any thing but general observations, concerning what has been universally found to please in all countries and in all ages.“
5
Die Unterschiede im menschlichen Geschmacksempfinden interpretiert Hume daher in Of the Standard of Taste als Störung zwischen Reiz und Affekt, die zu – von den allgemeingültigen Geschmacksregeln – abweichenden Empfindungen (zum Beispiel Ekel statt Lust) führen. Ursache für diese Abweichungen vom Standard sind defekte oder geschwächte Sinnesorgane, widrige Lebensumstände oder Voreingenommenheit.6 Ziel des Menschen muss es im Sinne Humes daher sein, seinen Geschmack durch Erfahrung, also durch das Üben und Ausüben von Urteilen, zu bilden, um ihn so zu perfektionieren und an den natürlichen Geschmack heranzuführen. Richtschnur für diese Geschmacksausbildung durch Erfahrung sind die Geschmacksregeln, wie sie von Kulturen (nations) und Zeitaltern (ages) übereinstimmend aufgestellt wurden.7 Hume unternimmt in seinem Essay aber letztendlich nicht den Versuch, zum Beispiel durch einen Vergleich historischer Geschmacksregeln, die Gesetze eines allgemeingültigen natürlichen Geschmacks abzuleiten. Für Hume stellt sich die Suche nach einem Standard des Geschmacks eher als andauernde gesellschaftliche Aufgabe dar, die der Sammlung von Erfahrung bedarf und nicht spekulativer abstrakter Theorien. Es entsteht der Eindruck, dass für Hume eher die Tatsache der vergeblichen Suche nach Regeln8 angesichts der großen Unterschiede des Geschmacks die Konstante im Geschmacksdiskurs darstellt und nicht allgemeingültige Geschmacksprinzipien.
4
Zur Idee des common sense siehe: Eva-Maria Tschurenev: Kant und Burke. Ästhetik als Theorie des Gemeinsinns. Frankfurt/Main 1992.
5
David Hume: Of the Standard of Taste. In: Ders.: Four Dissertations. (Ohne Jahresangabe). (Digitale Ausgabe). S. 210.
6
Ebd. S. 214f.
7
Ebd. S. 219f.
8
„[...] we seek in vain for a standard [...]“ Ebd. S. 232f.
102 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
Auch Edmund Burke konstatiert in seiner erstmals 1757 erschienen „Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen“,9 trotz aller Unterschiede im menschlichen Geschmacksempfinden, das Vorhandensein eines allgemeingültigen natürlichen Geschmacks. Er unterscheidet den natürlichen vom erworbenen Geschmack: „Freilich ist zuzugeben, dass durch Gewohnheit und durch verschiedene andere Ursachen viele Abweichungen gegenüber demjenigen natürlichen Gefühl von Vergnügen oder Schmerz herbeigeführt werden, das zu jenen verschiedenen Geschmacksarten gehört; aber es bleibt doch immer das Vermögen, den natürlichen Geschmack von dem erworbenen zu 10
unterscheiden.“
Der erworbene Geschmack entsteht durch Gewohnheiten, wie zum Beispiel den häufigen Genuss von Tabak oder Essig, sodass man irgendwann diesen eigentlich bitteren und sauren und daher unangenehmen Empfindungen den Vorzug vor der Süße von Zucker gibt. Dennoch bleibt der natürliche Geschmack bestehen, denn Zucker wird noch immer als süß empfunden und Essig als sauer. Die unnatürlichen Gewohnheiten der Menschen ändern letztendlich nichts daran, dass der natürliche Geschmack der Maßstab ist, anhand dessen alle Empfindungen beurteilt werden.11 Die natürlichen Regeln des Geschmacks gelten aber nicht nur für die Sinnlichkeit, sondern ebenso für die Einbildungskraft. Die Einbildungskraft, als menschliches Vermögen sich etwas vorstellen zu können, ist abhängig und bestimmt von den Reizen, Empfindungen und „Bildern“, die sie durch die Sinne erhält. Daher gelten auch für sie die gleichen Gesetze wie für die Sinne. „Denn da die Einbildungskraft bloß die Repräsentation der Sinne ist, so kann sie nur von Bildern angenehm oder unangenehm berührt werden – nach demselben Prinzip, nach dem die Sinne durch Realitäten angenehm oder unangenehm berührt werden.“
12
Burke weitet dadurch die Gültigkeit der Prinzipien des natürlichen Geschmacks auf die Vorstellungen des Menschen und damit auch auf die Repräsentationen dieser Vorstellungen (zum Beispiel als Kunstwerke) aus. Über die Einbildungs-
9
Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Übers. von Friedrich Bassenge, Hamburg 1982.
10 Ebd. S. 45. 11 Ebd. S. 48. 12 Ebd. S. 49.
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kraft ist der natürliche Geschmack auch noch mit der Vernunft verbunden – hat der Mensch doch auch Vorstellungen, die über das Sinnliche hinausgehen: „Aber da viele Werke der Einbildungskraft sich weder auf die Darstellung sinnlicher Objekte noch auf die Beeinflussung der Leidenschaften beschränken, sondern sich auf menschliche Sitten, Charaktere, Handlungen, Entwürfe erstrecken, auf ihre Verhältnisse, ihre Tugenden und Laster – so greifen sie auf das Gebiet der Urteilskraft über, die durch 13
Aufmerksamkeit und Übung im Räsonieren verbessert werden kann.“
Letztendlich wird für Burke der Geschmack von drei Vermögen bestimmt: Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft, die beginnend bei der Sinnlichkeit als Kausalkette miteinander verknüpft sind. „Überhaupt scheint mir das, was man Geschmack im weitesten Sinne nennt, nicht eine einfache Idee zu sein, sondern aus der Wahrnehmung verschiedener Dinge zu stammen: teils des primären Vergnügens der Sinne, teils des sekundären Vergnügens der Einbildungskraft und teils der Schlüsse der Vernunft, die sowohl die verschiedenen Beziehungen zwischen diesen Dingen wie auch die menschlichen Leidenschaften, Sitten und Handlungen betreffen. Dies alles ist erforderlich, um den Geschmack zu bilden, und die Grundlage von alledem ist überall im menschlichen Gemüt dieselbe. Denn da die Sinne die großen Quellen aller unserer Ideen und infolgedessen auch aller unsrer Vergnügungen sind – so muss, wenn diese Quellen nicht ungewiss und willkürlich sind, die ganze Grundlage 14
des Geschmacks allen gemeinsam sein.“
Der Geschmack hat demnach eine „sinnliche Seite“, bestimmt durch Sinnlichkeit und Einbildungskraft, und eine „rationale Seite“, bestimmt durch die Urteilskraft. Die vielfältigen Abweichungen vom natürlichen Geschmack haben daher ihre Ursache entweder in einem Fehler der Sinnlichkeit (durch mangelnde Sensibilität auf Grund abgestumpfter Gefühle und eines kalten und phlegmatischen Temperaments), oder in einer Schwäche der Urteilskraft (durch einen angeborenen schwachen Verstand oder aus Mangel an richtiger Übung und Schärfung des Verstandes).15 Burke leitet darauf aufbauend zwei Forderungen für die persönliche Entwicklung des Geschmacks ab: 1. Die „sinnliche Seite“ des natürlichen Geschmacks, die nach ihren Prinzipien bei allen Menschen gleich ist (die Unterschiede sind durch verschiedene
13 Ebd. S. 56. 14 Ebd. S. 56f. 15 Ebd. S. 57.
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Sensibilität nur graduell), sollte nicht durch schlechte Gewohnheiten verdorben werden. Diese Forderung formuliert Burke nur sehr schwach, da er davon ausgeht, dass trotz aller Gewohnheiten (wie Drogenkonsum, etc.) die Sinnlichkeit und auch die Einbildungskraft des Menschen – also der primäre und sekundäre Mechanismus aus Reiz und Rührung – unverändert und wirksam bleibt. 2. Die „rationale Seite“ des natürlichen Geschmacks, die für Abweichungen von seinen allgemeinen Prinzipien (die zu einem falschen Geschmack führen) besonders anfällig ist, bedarf der Übung – und zwar der Urteilskraft und somit der Vernunft. Der Geschmack kann daher, vor allem bezogen auf das richtige Urteilen in Kunstdingen, genauso wie die Urteilskraft an sich verbessert werden: „[...] nämlich durch Erweiterung unserer Kenntnisse, durch ständige Aufmerksamkeit auf die Objekte und durch häufige Übung.“16 Burkes Ästhetik geht von einem Mechanismus der Sinnlichkeit aus, der von außen (durch Dinge und ihre Qualitäten und Quantitäten) affiziert werden kann und bestimmte Empfindungen und Leidenschaften im Menschen bewirkt. Dieser Mechanismus ist im Inneren des Menschen in Form der Einbildungskraft „gespiegelt“. Diese Repräsentation funktioniert nach denselben mechanischen Gesetzen und produziert dieselben Empfindungen und Leidenschaften. Mit diesen beiden Mechanismen ist die „sinnliche Seite“ des natürlichen Geschmacks abgedeckt, die bei allen Menschen, abgesehen von graduellen Unterschieden in der Sensibilität, nach denselben Prinzipien funktioniert. Über die Einbildungskraft ist der Mechanismus der Sinnlichkeit aber auch mit der Urteilskraft – und damit der Vernunft – verbunden. Die Urteilskraft, als „vernünftige Seite“ des Geschmacks, beurteilt nicht die Wirkung von Qualitäten und Quantitäten der äußeren Dinge und ihrer Repräsentationen im Inneren – das wird durch den Mechanismus der Sinnlichkeit erledigt, sondern beurteilt die sittlichen und gesellschaftlichen Aspekte von sinnlichen Wirkungen, die zum Beispiel bei der Beurteilung der künstlerischen Qualitäten eines Kunstwerkes zum Tragen kommen. Da es für Burke als „Empirist“ keine Regeln des Verstandes a priori gibt, stammen auch die Geschmacksregeln der Urteilskraft aus der sinnlichen Erfahrung und sind daher dieselben, die für den Mechanismus des Sinnlichkeit gelten. Daher spricht Burke nicht nur von einem schlechten Geschmack, sondern von einem falschen Geschmack,17 der sich aus den zahlreichen Fehlern der Urteilskraft ergibt. Angesichts dieser allgemeinen Schwäche und Fehlerhaftigkeit der Urteilskraft, die sich in Geschmacksfragen zeigt, muss der Mensch danach streben, durch Übung
16 Ebd. S. 61. 17 Ebd. S. 58.
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und Bildung seinen Geschmack zu vervollkommnen, um ihn dem natürlichen Geschmack anzunähern. Ähnlich wie für Hume ist für Burke die Erfüllung der Regeln des natürlichen Geschmacks somit eine gesellschaftliche Aufgabe, die durch Übung und Bildungsfortschritt und der damit einhergehenden Verfeinerung des Geschmacks irgendwann erreicht werden sollte. Burke deutet daher an, dass es möglich wäre, einen Zustand der Vollkommenheit des Geschmacks und daher auch der Künste zu erreichen,18 wenn der Verstand durch Übung und Bildung vollkommen ausgebildet würde.19 Im Gegensatz zu Hume handelt es sich für Burke beim natürlichen Geschmack aber nicht um eine regulative Idee, nach der man Streben sollte, sondern, seinem mechanistischen Denken zu Folge, um einen auf Naturgesetzen beruhenden Mechanismus, den man auch in einem Bereich in dem der Mensch fehlerhaft ist, der Urteilskraft, lernen muss anzuwenden. „Die [...] aber, die diejenige Art von Kenntnissen kultiviert haben, die das Objekt des Geschmacks ausmachen, erlangen stufenweise und fast von selbst nicht nur dieselbe Zuverlässigkeit, sondern auch dieselbe Geschwindigkeit des Urteils, wie sie der Mensch durch die gleichen Methoden auf allen anderen Gebieten erlangt. Erst muss man auch hier buchstabieren; am Schluss aber liest man mühelos und schnell.“
20
Die Geschmacksbildung ist für Burke daher so etwas wie angewandte Naturwissenschaft, die das Ziel, hat Fehler im Mechanismus des Geschmacks (bedingt vor allem durch die fehlbare Urteilskraft) zu beseitigen, um damit die Vermögen des Menschen zu einem Zustand zu entwickeln, wie er von Natur aus sein soll. Der Geschmack ist für ihn nicht etwas, das der Mensch im Diskurs und frei von Zwänge entwickelt, sondern ein naturgesetzlicher Mechanismus, und jeder Mensch muss lernen, ihn richtig zu verwenden. Hier tut sich ein zentrales Dilemma in der Argumentation Burkes auf: Abgesehen davon, dass er „vorschnelle Verallgemeinerungen“ eines „historisch und lokal bestimmten Schönheitsideals“21 vornimmt, wie sich an Burkes Beispielen, dass ein Schwan im Allgemeinen für schöner gehalten wird als eine Gans oder
18 Ebd. S. 60. 19 Ebd. S. 58. 20 Ebd. S. 61. 21 Werner Strube: Einleitung zu Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Übers. von Friedrich Bassenge, Hamburg 1982. S. 20.
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Licht für alle angenehmer ist als Finsternis,22 leicht erkennen lässt. Er begründet auch nicht, warum nicht angesichts der großen Geschmacksunterschiede, die, wie er treffend darstellt, auf Grund der unterschiedlichen Geschmacksurteile durch das Vermögen der Urteilskraft auftreten, die richtige Folgerung wäre, dass Geschmacksurteile subjektiv sind und eben nicht allgemeinen Regeln folgen. Diese Möglichkeit schließt er gleich zu Beginn seiner Untersuchung aus: „Denn wenn der Geschmack keine festen Prinzipien hat, wenn die Einbildungskraft nicht nach gewissen und unveränderlichen Gesetzen affiziert wird, so würden wir unsere Arbeit für ein sehr unbedeutendes Ziel aufwenden. Denn dem bloßen Eigensinn Regeln zu geben und sich zum Gesetzgeber von Launen und Grillen aufzuwerfen, muss als ein nutzloses, wenn nicht geradezu als ein absurdes Unternehmen gelten.“
23
Eine Einschätzung die Kant, bei aller Wertschätzung für Burkes Ästhetik, teilt: „Ein Prinzip des Geschmacks, welches das allgemeine Kriterium des Schönen durch bestimmte Begriffe angäbe, zu suchen, ist eine fruchtlose Bemühung, weil, was gesucht wird, unmöglich und an sich selbst widersprechend ist. Die allgemeine Mitteilbarkeit der Empfindung (des Wohlgefallens oder Missfallens), und zwar eine solche, die ohne Begriff stattfindet, die Einhelligkeit, soviel möglich, aller Zeiten und Volker in Ansehung dieses Gefühls in der Vorstellung gewisser Gegenstande ist das empirische, wiewohl schwache und kaum zur Vermutung zureichende Kriterium der Abstammung eines so durch Beispiele bewahrten Geschmacks von dem tief verborgenen, allen Menschen gemeinschaftlichen Grunde der Einhelligkeit in Beurteilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben werden.“
24
Hinter Burkes Argumentation für allgemeingültige Geschmacksprinzipien steht der Wunsch nach einer naturrechtlichen Basis des Zusammenlebens der Menschen,25 wie er es gleich zu Beginn seiner Einführung formuliert: „Denn gäbe es für die Urteilkraft und das Gefühl nicht irgendwelche allen Menschen gemeinschaftliche Prinzipien, so könnte man wohl weder auf ihre Vernunft noch auf ih-
22 Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Übers. von F. Bassenge, Hamburg 1982. S. 47. 23 Ebd. S. 42. 24 KdU §17. 25 Werner Strube: Einleitung zu Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Übers. von Friedrich Bassenge, Hamburg 1982. S. 20.
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re Leidenschaften den Einfluss ausüben, der erforderlich ist, um den Verkehr des täglichen Lebens aufrechtzuerhalten.“26 Burke kommt daher nicht umhin, da sich seine Idee von allgemeingültigen Geschmacksprinzipien nicht aus der Erfahrung verallgemeinern lässt, zumindest in Ansätzen teleologisch zu argumentieren. Das heißt, es reicht für seine Argumentation nicht zu sagen, dass die Vorsehung oder Natur den Geschmack bei allen Menschen nach gleichen Prinzipien eingerichtet hat (dazu steht die Vielfalt der Geschmäcker im Widerspruch), sondern er ist genötigt zu erklären, warum die Natur allgemeine Geschmacksprinzipien eingerichtet hat. Burke ist genötigt funktionalistisch zu argumentieren. Er tut dies, indem er Geschmacksurteile auf die beiden Zwecke der Selbsterhaltung und der Gesellschaft zurückführt: „[...] alle unsere Leidenschaften sind darauf angelegt, einem dieser beiden Zwecke zu entsprechen.“27 Leidenschaften, die die Selbsterhaltung betreffen, sind Schmerz und Gefahr. Sie dienen der Erhaltung von Leben und Gesundheit: „Da die Erfüllung aller unserer Pflichten von unserem Leben, ihre kraftvolle und wirksame Erfüllung aber von unserer Gesundheit abhängt, so werden wir sehr stark von allem affiziert, was eins von beiden zu zerstören droht.“
28
Die Leidenschaften der Gesellschaft sind Genuss und Vergnügen. Sie dienen der Fortpflanzung: „Auf der andern Seite ist die Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts ein wichtiges Ziel; es ist also erforderlich, dass die Menschen zur Verfolgung dieses Ziels durch irgendeinen starken Antrieb angereizt werden. Die Verfolgung dieses Ziels ist deshalb mit einem sehr hohen Vergnügen verbunden.“
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Von diesen grundlegenden Leidenschaften, die den beiden vitalen Zwecken des Menschen dienen, lassen sich alle anderen Gefühle und Leidenschaften ableiten, auch die Empfindung von Schönheit und des Erhabenen. Der natürliche Geschmack hat somit von der Natur oder der Vorsehung definierte Funktionen, er dient der Erhaltung des Individuums und der Erhaltung der menschlichen Gattung. Es ist daher im Sinne dieser Funktionen notwendig, die individuellen Ab-
26 Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Übers. von F. Bassenge, Hamburg 1982. S. 41. 27 Ebd. S. 72. 28 Ebd. S. 75. 29 Ebd. S. 75.
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weichungen vom natürlichen Geschmack durch Übung und Bildung zu korrigieren. Das Ziel dieser Korrekturen ist, dass jeder, aber auf unterschiedliche Art und Weise (je nach seinen Geschmacksschwächen), lernt, seinen Geschmacksmechanismus richtig zu verwenden. Denn nur wenn er richtig genutzt wird, kann der Mechanismus seine von der Vorhersehung bestimmten Funktionen – Selbsterhaltung und Fortpflanzung – optimal erfüllen. Burkes Programm zur Geschmacksbildung hat daher das Ziel, die individuellen Geschmäcker durch Fehlerbeseitigung zu einem bei allen identischen natürlichen Geschmack zu optimieren. Das heißt Empirismus schlägt in ästhetischer Theorie, wo er versucht, (subjektive) Neigungen einem allgemeingültigen natürlichen Geschmack zu unterwerfen, in einen mechanistischen Funktionalismus um.
5.2 Z WEI V ARIANTEN
FUNKTIONALISTISCHER
Ä STHETIK
Wie Solms30 ausgeführt hat, sind auch für Johann Gottfried Herder Empfindungen auf physikalisch messbare Reize (Schallschwingung, Lichtstrahlen, Geruchsstoffe, etc.) zurückzuführen, die von Medien (oder in direkter Interaktion der Sinne mit der physikalischen Außenwelt) an die Sinnesorgane herangetragen werden und diese affizieren. Diese Reize werden durch die Sinne, als „Pforten der Seele“, selektiert und als Eindrücke der Einbildungskraft übertragen, die diese produktiv zu einer Einheit verarbeitet. Diesen Übergang von der Physik der Reize zur Empfindung erklärt Herder neurophysiologisch mit der Fähigkeit des Nervengebäudes, Sinnesdaten sammeln zu können und durch diese Eindrücke in Schwingung versetzt zu werden. Diese Nervenschwingung ist nun Quelle der Empfindung, die aber nicht bloß reaktiv von den Reizen abhängig ist, sondern von der Gestimmtheit der Seele: „Die Qualität des Empfindens, die sich nach Herders Auffassung noch in der Art der neurologischen Reaktion spiegelt, wird dagegen ausschließlich von der Gestimmtheit der Seele gesteuert.“ 31 Hier kommt es zu einer Wechselwirkung zwischen Nerven und Seele: Die Gestimmtheit der Seele (und Seelen können wie Instrumente sehr unterschiedlich gestimmt sein) beeinflusst die Empfindlichkeit der Nerven und somit die Qualität der Empfindungen, denn bereits der Nerv bewertet die Eigenschaften der Sinnesdaten und trifft eine Auswahl, und diese Wechselwirkung schreitet weiter bis zu den Sinnesorganen, die aus den physikalischen Reizen Sinnesdaten selektieren. So wird
30 Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica – Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990. S. 193ff. 31 Ebd. S. 238.
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z.B. für Herder der Schall erst im Ohr zum Ton. Diese „Idee vom großen Entsprechungszusammenhang zwischen Reiz, Medium, Sinnesorgan, Nervengebäude“32 macht es ihm möglich, physikalische und neurophysiologische Theorien zu verbinden. Herder, der wie Burke mechanistisch (bzw. sensualistisch) argumentiert, baut den ästhetischen mechanistischen Funktionalismus Burkes zu einer ganzheitlichen organizistischen Ästhetik aus. Auch Herder begegnet dem Dilemma zwischen der Tatsache der großen Unterschiede in den Geschmäckern und der Idee eines allgemeingültigen Geschmacks mit einem Bildungsprogramm. Das richtige Maß des Schönen kann von den Seelenkräften – und daher auch den Sinnen – erkannt werden, aber dazu bedarf es ihrer Bildung durch die schönen Wissenschaften. Denn Geschmack ist verschieden – bei jedem Einzelnen und den Völkern – und ist abhängig von der „Beschaffenheit ihrer Organe, ihres Temperaments, ihres Klimas“,33 außerdem von Gewohnheiten (v.a. der Jugend und Kindheit) und Mustern (Geschmacksgewohnheiten).34 Die Seele wird somit durch die physische Ausstattung und die Geschichte des Individuums und der Nation gestimmt. Doch durch Bildung und Beschäftigung mit den schönen Wissenschaften35 (Ästhetik) und mit schöner Kunst vermag es jeder, die Gestimmtheit seiner Seele zu kultivieren und so nach dem richtigen Maß der Schönheit zu streben. Erst durch Bildung und Kultivierung des Geschmacks kann der Mensch seiner Natur gerecht werden und die Gesetze der Schönheit erkennen und empfinden. Herder löst somit den Widerspruch zwischen empiristischer und rationalistischer Ästhetik nicht wie Kant durch ein autonomes ästhetisches Urteilsprinzip auf, sondern durch einen Bildungs- und Kultivierungsprozess eines Individuums und eines Volkes, der das Empirische der Empfindung des Schönen hin zur Empfindung des richtigen Maßes der Schönheit entwickelt. Diese Auflösung der Antinomie des Geschmacks mittels eines Entwicklungsprozesses führt dazu, dass verschiedene Reife- und Entwicklungsstadien des Geschmacks bei Individuen und Gesellschaften scheinbar objektiv festgestellt werden können. Aber bei Herder resultiert dieser Entwicklungsprozess nicht wie bei Burke in einem durch Optimierung entindividualisierten natürlichen Geschmack, sondern in (von ihren Ausgangsbedingungen geprägte) und durch Bildung kultivierte, individuelle Geschmäcker, die auf je einzigartige Weise den natürlichen Geschmack verkörpern.
32 Ebd. S. 241. 33 Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 2, Stuttgart und Tübingen, 1830 S. 50. 34 Ebd. S. 53. 35 Ebd. S. 179.
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Die Analogie zum Musikinstrument, die Herder gerne verwendet, hilft Herders Verständnis zu verdeutlichen: Unterschiedliche Exemplare des Musikinstruments Geige werden als vollkommen angesehen. Sie sind aber nicht alle gleich, sondern jede Geige ist auf ihre eigene Art und Weise vollkommen. Das erklärt sich durch die verschiedenen Werkstätten und Meister, die sie auf ihre eigene Art und Weise hergestellt haben, und das liegt an Materialunterschieden, am Wetter bei der Herstellung, an den Musikern, die diese Geigen benutzt haben usw. – also an ihrer Geschichte. Diese hat zur Folge, dass die Geigen unterschiedlich klingen. Dennoch erfüllen sie jeweils auf ihre eigene Art und Weise alles was eine vollkommene Geige ausmacht. Sie entsprechen auf individuelle Art und Weise dem Maßstab für eine perfekte Geige. Erst durch ihr individuelles Gewordensein sind sie vollkommen – wenn sie alle gleich wären, wären sie unpersönlich und austauschbar. Dass jede der Geigen individuell ein allgemeines Maß für die Qualität von Geigen erfüllt, macht ihre Vollkommenheit aus.36 Genauso verhält es sich mit dem Geschmack. Wenn er durch Bildung und Übung dazu „heranwächst“, auf individuelle Art und Weise nach einem allgemeingültigen Maß des Schönen zu urteilen, ist er vollkommen und vermag es dadurch, Vollkommenes überhaupt erst zu erkennen. Dieses Verständnis von objektiver Schönheit (als Vollkommenheit) auf Grund individueller Entwicklung ist das Programm organizistischer Ästhetik (Herder); im Unterschied dazu sieht die mechanistische Ästhetik (Burke) objektive Schönheit als Wirkung von naturgesetzlichen Zusammenhängen, die erst durch den ausgebildeten Geschmack richtig erkannt werden können. Mechanistische Ästhetik geht in ihren Werturteilen auf Gleichheit – das heißt, hat ein Ding eine Eigenschaft, die im Subjekt die Empfindung von Schönheit affiziert, tun das alle Dinge, die diese Eigenschaft in gleicher Weise haben. Organizistische Ästhetik geht in ihren Werturteilen auf Individualität – das heißt ein Ding ist dann schön, wenn es durch sein Gewordensein (seine Entstehungsgeschichte), dass, was es sein soll, (zum Beispiel eine Geige), exemplarisch verkörpert. Beide Varianten objektivistischer Ästhetik teilen ihr Verständnis über das Wesen menschlicher Vernunft und somit über den Geschmack (seinen vernünftigen Teil – die Urteilskraft): Die Vernunft ist kein „autonomes, konstruktives Vermögen, sondern ein genetisch auf sinnliche Erfahrung und funktional auf die
36 Siehe zur Idee der Individualität und ihrer Bedeutung innerhalb rationalistischer
Ästhetik: Eisel, Ulrich: Emanzipation und Würde in einfachster Form – Die philosophische und politische Struktur funktionalistischer Ästhetik, in: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II, Kassel 2007.
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Befriedigung sinnlicher Triebe bezogenes Vermögen [...], das bestehende Ordnungen (an)erkennt.“37 Diese bestehende Ordnung ist in der mechanistischen Variante das Uhrwerk der Natur, im organizistischen Verständnis die Natur als „organische Totalität“38 – als Superorganismus. Im mechanistischen Denken ist es durch die Idee der Autonomie des Geistes möglich, Vernunft und Urteilskraft als vom Uhrwerk der Natur autonome Vermögen zu begreifen und damit die Freiheit des menschlichen Willens zu begründen. Diesen Weg geht Burke aber nicht – für ihn bleiben Vernunft und Urteilskraft an die Mechanik der Sinnlichkeit gebunden, erweisen sich aber, wie er in seiner 1756 erschienen Schrift A Vindication of Natural Society erläutert, als „konstitutionelle Störung“,39 die die willentliche Abweichungen des Menschen von den natürlichen Mechanismen der Sinnlichkeit verursachen. „Besides this, the Mind of Man itself is too active and restless a Principle ever to settle on the true Point of Quiet. It discovers every Day some craving Want in a Body, which really wants but little. It every Day invents some new artificial Rule to guide that Nature which if left to itself were the best and surest Guide.“40
Diese Unvollkommenheit des rastlosen Gemüts treibt den Menschen dazu, von den natürlichen Regeln der Sinne abzuweichen und sich stattdessen künstliche Regeln zu geben und in einer künstlichen (politischen) Gesellschaft zu organisieren. Diese sollen dazu dienen, die Defizite der menschlichen Natur zu kompensieren; stattdessen führen sie aber von der naturgegebenen Freiheit und Gleichheit der Menschen in der natürlichen Gesellschaft fort in Tyrannei und Sklaverei.41 1756 glaubt Burke offenbar nicht mehr daran, dass es möglich ist, die natürlichen Verhältnisse von Gesellschaft, Verstand und Geschmack herzu-
37 Thomas Kirchhoff: Kultur als individuelles Mensch-Natur-Verhältnis. Herders Theorie kultureller Eigenart und Vielfalt. In: Michael Weingarten (Hrsg.): Strukturierung von Raum und Landschaft – Konzepte in Ökologie und der Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Münster 2005. S. 69. 38 Ebd. S. 69. 39 Eva-Maria Tschurenev: Kant und Burke. Ästhetik als Theorie des Gemeinsinns. Frankfurt/Main 1992. S. 55. 40 Edmund Burke: A Vindication of Natural Society: Or, A View of the Miseries and Evils arising to Mankind from every Species of Artificial Society. London 1756. S. 3. 41 Eva-Maria Tschurenev: Kant und Burke. Ästhetik als Theorie des Gemeinsinns. Frankfurt/Main 1992. S. 56 f.
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stellen – er nutzt diese bloß als Folie zur Kritik an der zivilisierten Gesellschaft. Anders in seiner Schrift über das Erhabene und Schöne – hier glaubt er noch daran, dass es durch Optimierung der defizitären Natur des Menschen gelingen kann, gleiche und natürliche Verhältnisse herzustellen. Für Herder, der ja wie Burke von einer Mechanik der Sinnlichkeit ausgeht, ist die bestehende Ordnung, in die sich die menschliche Vernunft einordnen soll, nicht die Natur als Maschine (Uhrwerk), sondern als Organismus. Das gibt ihm die Möglichkeit die Vernunft, und daher auch den Geschmack jedes Menschen, als organischen Teil des Gesamtorganismus der Natur zu verstehen. Im Gegensatz zu den Teilen einer Maschine sind die Teilorganismen eines Superorganismus oder, wenn man die Organe eines Organismus als ausdifferenzierte Teilorganismen betrachtet, auch diese, für sich selbst zweckmäßig und nicht durch einen fremden Willen (wie bei der Maschine) bestimmt. Das würde für die Vernunft und den Geschmack bedeuten, dass diese sich trotz ihrer Bestimmtheit durch die Mechanik der Sinnlichkeit autonom entwickeln könnten. Das tun sie für Herder auch, aber nur im Rahmen des übergeordneten Selbstzwecks des Organismus Natur. Diese Teilautonomie von Verstand und Geschmack hat im Rahmen des übergeordneten Zwecks eine Funktion: Sie ermöglicht die Anpassung des Menschen an gegebene Lebensbedingungen – von Herder Klima genannt.42 Diese Anpassung kann besser und schlechter erfolgen: Gelungen ist eine Anpassung an die Natur dann, wenn Vernunft und Geschmack dazu verwendet werden, die natürlichen Zusammenhänge zu erkennen – sie zu lesen – und sich in diesen Zusammenhängen einzurichten. Dieses Anpassen ans Klima versteht Herder nicht als passive Unterordnung, sondern als aktives Einrichten im gegebenen Lebensraum, indem der Mensch die Bedingungen weiterentwickelt und zur Befriedigung seiner Bedürfnisse nutzt.43 Für Herder ist die Vielfalt der Geschmäcker daher nicht wie bei Burke negatives Anzeichen der Abweichung vom natürlichen Geschmacksstandard und einer zügellosen Vernunft, sondern Ausdruck der individuellen Anpassungsleistung des Einzelnen und des jeweiligen Volkes an das Klima. Diese gestaltende Anpassung nennt Herder Kultur, der Geschmack ist ihr Organ. Ist der Geschmack des Einzelnen (oder eines Volkes) Ausdruck einer durch Anerkennung der natürlichen Zusammenhänge vor Ort (Klima) entstandenen Kultur (Anpassung), erfüllt er die Prinzipien des natürli-
42 Thomas Kirchhoff: Kultur als individuelles Mensch-Natur-Verhältnis. Herders Theorie kultureller Eigenart und Vielfalt. In: Michael Weingarten (Hrsg.): Strukturierung von Raum und Landschaft – Konzepte in Ökologie und der Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Münster 2005. S. 79f. 43 Ebd. S. 79ff.
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chen Geschmacks auf exemplarische Art und Weise – ist also vollkommen. Bedeutet für Burke Geschmacksbildung die Korrektur der Abweichungen vom natürlichen Geschmack, ist sie für Herder die Entwicklung von Individualität als Selbstverwirklichung gegebener Potentiale.44 Burke und Herder formulieren zwei Varianten funktionalistischer Ästhetik: eine mechanistische und eine organizistische. Für beide gilt, dass das Schönheitsempfinden einen natürlichen Zweck hat und der Selbsterhaltung des Menschen dient. Kunst, Kultur und Geschmacksbildung sind daher keine Selbstzwecke und Spielereien, sondern sind Teil der bestehenden Ordnung der Natur – in der mechanistischen Variante als Uhrwerk verstanden; in der organizistischen als Organismus – und üben darin eine essentielle Funktion aus, die vom Menschen – wenn er sein Potential als vernünftiges, selbstbestimmtes Wesen erfüllen will, durch ästhetische Bildung erfüllt werden muss. Welches Ziel durch Geschmacksbildung erreicht werden soll, unterscheidet die beiden Varianten funktionalistischer Ästhetik: Bei Burke ist das Ziel die Behebung von Defiziten des individuellen Geschmack hin zum Standard des natürlichen Geschmacks, der letztendlich bei allen Menschen gleich sein soll; bei Herder ist das Ziel die Entwicklung des Geschmacks durch die Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten der Natur und dadurch das Wachsen von individuellen Geschmäckern (von Personen und Völkern), die sich zur vielfältigen Einheit des natürlichen Geschmacks formieren. Im Folgenden werde ich die objektivistischen Schönheitsprinzipien Herders vor der Folie von Kants ästhetischer Theorie, auf die sich Herder negativ bezieht, darstellen. Das soll dazu dienen, die wichtigsten Argumente funktionalistischer Ästhetik, wie sie sich in Ablehnung der Thesen Kants, der Autonomie von Schönheitsurteilen und von L’art pour l’art herausgebildet hat, zu analysieren.
5.3 D ER
INTUITIVE
V ERSTAND
Kant löste die Gleichsetzung von Vollkommenheit und Schönheit und das daraus abgeleitete „Ideal der Schönheit“ der rationalistischen Ästhetik 45 in ein reines Schönheitsurteil und in ein Erkenntnisurteil über die Vernunftidee der Voll-
44 Ebd. S. 76f. 45 „Aber eine objektive innere Zweckmäßigkeit, d.i. Vollkommenheit, kommt dem Prädikate der Schönheit schon näher und ist daher auch von namhaften Philosophen, doch mit dem Beisatze, wenn sie verworren gedacht wird, für einerlei mit der Schönheit gehalten worden.“ KdU B45.
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kommenheit von Gegenständen auf.46 Denn nur ein Verstand, „der sinnlich urteilt, oder einen Sinn, der durch Begriffe seine Objekte vorstellte, welches beides sich widerspricht“,47 könnte ein sinnliches Erkenntnisurteil fällen. Ästhetische Urteile und Vernunfturteile bleiben daher bei Kant bloß symbolisch über die ästhetische Idee verbunden, die es vermag, eine Vernunftidee sinnlich zu repräsentieren. „Das Verhältnis zwischen ästhetischer und Vernunftidee bestimmt Kant mit Hilfe des Symbolbegriffs als ein Repräsentations- oder Analogieverhältnis: die inexponible ästhetische Idee repräsentiert symbolisch die indemonstrable Vernunftidee.“48 Hierfür sind aber nach Kant zwei Urteile zu fällen: „erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung [bestimmendes Urteil], und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung [ästhetisches Urteil]49 auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.“ 50 Die symbolische Bezugnahme auf Vernunftideen durch ästhetische Ideen (und somit durch Gestaltungsprinzipien für Erscheinungsmaterial) und ihre Vergegenständlichung in Kunstwerken ist das Tätigkeitsfeld der Kunst.51 Die reflektierende Urteilskraft kann somit zum intellektuellen „Übertragungsort“ vom Sinnlichen zum Sittlich-Guten werden.52 Die Urteilskraft „die in der Ordnung unserer Erkenntnisvermögen zwischen dem Verstande und der Vernunft ein Mittelglied ausmacht“,53 verfügt mit dem reinen Schönheitsurteil über eine ihr eigene, von den anderen Vermögen autonome Urteilsform. Kant widerspricht der Möglichkeit von ganzheitlichen Urteilen, weil dafür ein intuitiver Verstand oder eine begriffliche Sinnlichkeit notwendig wäre. Schönheitsurteile sind keine Erkenntnisurteile, wir können von ihnen nichts über die Natur erfahren; und Schönheitsurteile sind keine Urteile über das Gute, wir können von ihnen nichts über das Sittlich-Gute oder die praktische Nützlichkeit von Dingen erkennen.
46 KdU §15-17. 47 KdU B48. 48 Lars-Thade Ulrichs: Das ewig sich selbst bildende Kunstwerk. Organismustheorien in Metaphysik und Kunstphilosophie um 1800, in: Jahrbuch des Deutschen Idealismus, 4, 2006, Berlin 2007. S. 258. 49 [...] Einfügung T.H. 50 KdU B256. 51 Siehe dazu Kapitel 2.4. 52 KdU §59. 53 KdU BV.
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Dennoch gibt es Berührungspunkte durch die Möglichkeit der Kombination und Analogisierung der Urteilsformen. Besonders leicht scheint der Übergang von Schönheitsurteilen zu Vernunftideen zu sein: „Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft auch in ihrer Freiheit als zweckmäßig für den Verstand bestimmbar vorstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt.“54
Für Kant liegt eine Analogie zwischen Schönheitsurteilen und Urteilen über das Sittlich-Gute vor, die sich aus ihrer Autonomie ergeben: die Urteilskraft sieht sich in der Beurteilung des Schönen und des Guten nicht „einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen“, sondern „sie gibt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens tut“.55 Diese Analogie gibt Anlass zu der Idee, dass wir die Welt als schön erfahren können, weil sie gut für uns eingerichtet ist, und dass somit Schönheit das Zeichen für etwas Gutes ist. Für Kant ist diese Verhältnis aber ein symbolisches: Wir machen, wenn wir diese Analogiebildung vornehmen, etwas Schönes zur symbolischen Darstellung einer Idee vom Guten. Ein weiterer Übergang zwischen Urteilsformen ist der zwischen einem logischen Urteil und einem reinen Schönheitsurteil, der aber nur über ein empirisches ästhetisches Urteil (Urteil über das Angenehme) erfolgen kann: Kant gesteht dem Reiz die Funktion zu, dem davon unabhängigen reinen Schönheitsurteil beiseite zu stehen und Vorstellung der Einbildungskraft zu beleben, weil die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand gerichtet und immer wieder angeregt wird.56 Das reine Schönheitsurteil ist davon aber unabhängig und kann auch ohne diesen reizenden Beistand erfolgen. Somit sind reine Schönheitsurteile abgelöst vom „pathologisch-bedingten Wohlgefallen“,57 welches empirischen Sinnesurteilen zu Grunde liegen kann. Aber nur diese sind mit logischen Urteilen zu verknüpfen, die ein Wohlgefallen unter rein praktische Gesetze und Naturgesetze subsumieren. „Denn von Begriffen gibt es keinen Übergang zum Gefühle der Lust oder Unlust (ausgenommen in reinen praktischen Gesetzen, die aber ein In-
54 KdU B260. 55 KdU B258. 56 KdU B43. 57 KdU B14.
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teresse bei sich führen, dergleichen mit dem reinen Geschmacksurteile nicht verbunden ist).“58 Somit kann ein Urteil über das Reizende, Angenehme und Wohltuende einem Schönheitsurteil höchstens als Anlass dienen und helfen, die Aufmerksamkeit der Sinne am Objekt zu halten. Ein Schönheitsurteil sagt somit nichts darüber aus, ob ein Gegenstand und Sinnesreiz dem Subjekt wohl tut – zum Beispiel die Gesundheit fördert. Dafür ist ein logisches Urteil, das einem empirischen ästhetischen Urteil beigestellt wird, notwendig. Somit können wir zwar erforschen, ob etwas, das uns sinnliches Vergnügen bereitet, z.B. ein Genussmittel oder Sex, gesund für uns ist oder schädlich. Aber zu erforschen, ob ein Gegenstand als Ursache eines Schönheitsurteils gesund für uns ist, muss ins Leere laufen. Es wäre zu kurz gegriffen, z.B. die einem aus sinnes-physiologischen Gründen wohltuenden Töne einer Klanginstallation als Grund für ein Schönheitsurteil und somit für die Erfahrung von Lust im Zusammenhang mit dieser Installation zu halten.59 Das eine wäre ein Urteil über das Wohltun dieses Klanges für die sinnliche Rezeption durch das Ohr, das andere ist die Lust über ein Zusammenspiel von Verstand und Sinnlichkeit, das als gelungen beurteilt wird, weil in diesem besonderen Moment Einheit in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen erkannt wird, ohne Begriffe dafür bemühen zu müssen. Aber auch hier ließe sich das bereits oben erwähnte Analogieverhältnis ansetzten, nur eben unter der Voraussetzung, dass man die Welt als etwas ganzheitlich Gemachtes (als Schöpfung) begreift: Das Schöne wird zum Symbol einer für uns gemachten und geordneten Natur. Die Möglichkeit von objektiven ästhetischen Urteilen wäre gegeben, ginge man von einem intuitiven (anschauenden) Verstand aus, für den sich die Natur nicht als Anhäufung von Besonderheiten zeigt, die erst unter Begriffe gebracht werden müssen, um sie überhaupt erkennen zu können, sondern welcher in direkter Anschauung, also sinnlich, das Ganze der Natur, somit ihre Ordnung, erkennen könnte. Dieser nicht-diskursive Verstand würde dazu befähigen das jeweils Allgemeine zu erkennen bzw. anzuschauen. Ein intuitiver Verstand ist für Kant zwar denkbar, es ist aber nicht die Art von Verstand über die der Mensch verfügt:
58 KdU B18. 59 Außer man bezieht sich im Urteil z.B. über eine Kunstinstallation auf das darin verwendetes Stroboskoplicht, das Epilepsie auslösen kann; oder über eine Landschaft auf die am Ort vorkommende saubere Luft. Dann geht es nicht mehr um die ästhetische Erfahrung von Kunstinstallation oder Landschaft, sondern um spezifische Lichteffekte oder die chemische Zusammensetzung der Luft.
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„Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d.i. ein diskursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein muss, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden, und das unter seine Begriffe gebracht werden kann. Weil aber zum Erkenntnis doch auch Anschauung gehört, und ein Vermögen einer völligen Spontaneität der Anschauung ein von der Sinnlichkeit unterschiedenes und davon ganz unabhängiges Erkenntnisvermögen, mithin Verstand in der allgemeinsten Bedeutung sein würde: so kann man sich auch einen intuitiven Verstand (negativ, nämlich bloß als nicht diskursiven) denken, welcher nicht vom Allgemeinen zum Besonderen und so zum Einzelnen (durch Begriffe) geht, und für welchen jene Zufälligkeiten der Zusammenstimmung der Natur in ihren Produkten nach besonderen Gesetzen nicht angetroffen wird, welche dem unsrigen es so schwer macht, das Mannigfaltige derselben zur Einheit des Erkenntnisses zu bringen; ein Geschäft, das der unsrige nur durch Übereinstimmung der Naturmerkmale zu unserem Vermögen der Begriffe, welche sehr zufällig ist, zustande bringen kann, dessen ein anschauender Verstand aber nicht bedarf.“60
Bei diesem intuitiven Verstand setzt nun Herder an, um einen ganzheitlichen Zugang zur Natur behalten zu können. „Für Herder erschließt sich das Buch der Natur weniger dem analysierenden, zergliedernden Denken als vielmehr der poetischen – und das heißt der schöpferischen – Intuition, die nicht von den Teilen zum Ganzen, sondern vom Ganzen zu den Teilen, und von dort wieder zum Ganzen geht.“61 Dieses poetisch-intuitive Denken erfolgt in Analogien. Nach Bollacher gehören für Herder, begründet durch die Funktion der Analogie für das menschliche Denken, dichterische Rede und Erkenntnis zusammen: „Die Funktion der Analogie als einer Entdeckungs- und Erfindungskunst und als eines die begrifflich-wissenschaftliche Erkenntnis vorbereitendes Prinzips gehört für Herder [...] wesentlich der dichterischen Rede an, da in ihr der Mensch seine Wirklichkeitserfahrung in der Form der Metapher, des Vergleichs und des Gleichnisses ausspricht.“62
Die Analogieverhältnisse zwischen den Urteilsformen, die für Kant symbolische Verhältnisse sind und auf Darstellungsverhältnisse beschränkt bleiben, sind für Herder Ausdruck tatsächlicher Wirkungszusammenhänge. Die Bildung von Analogien dient dem Erspüren von tatsächlichen Zusammenhängen und öffnet so
60 KdU B347. 61 Martin Bollacher: „Natur“ und „Vernunft“ in Herders Entwurf einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Gerhard Sauder (Hrsg.): Johann Gottfried Herder: 1744-1803, Hamburg 1987. S. 118. 62 Ebd. S. 122.
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eine reiche Welt an Beziehungen, Bindungen und Abhängigkeiten. Das gilt auch für das Verhältnis von Außenwelt und Innenwelt: Dinge wirken durch die Aufnahme in den Körper (Geschmack, Geruch), durch Fühlen der Dinge (Geometrie, Symmetrie, Eurhythmie) oder durch Medien (Licht, Farbe, Schall) auf die Sinne. Das dabei entstehende Verhältnis geht aber über die Kausalität einer Sinnesempfindung hinaus. Dinge und Sinne treten in einen Dialog darüber, ob sie zusammenpassen oder nicht. Ist das Verhältnis harmonisch, ist die Wirkung der Dinge auf die Sinne angenehm. „Jeder Sinn, sahen wir, ist dazu organisiert, dass er sich ein Eins aus- und mit vielem aussondre, aneigne; sonst war er kein organischer Sinn einer Seele. Mittelst der tastenden Hand schon, bei jeder Fläche, jeder Linie des Körpers ertastete die Seele sich teilbegabte Tota; so allein füllte unsre Phantasie sich mit lebhaft unterschiednen Begriffen, deren keiner ohne einen Grad Lust oder Unlust sein konnte. Dem Auge und Ohr endlich traten sogar eigne Medien vor, jedes mit einer unzerreißbaren Zusammenordnung eines Vielen zu Einem, der Bildung des Organs harmonisch, begabt; den Sinnen selbst also ward durch diese Regel des Schönen nicht etwa nur der rohe Stoff der Begriffe verwirrt und unbildsam entgegengeworfen, sondern von der Natur in einem uns unabänderlichen, dem Sinn durchaus verständlichem Maß zugemessen, zugewogen.“63
Wie der Dialog auf der Suche nach Harmonie erfolgt, hängt von den Sinnen ab. Herder differenziert hier zwischen den „leidenden Sinnen“64, dem „tastenden Gefühl“65 und der Aufnahme von Medien.66
5.4 D IE
LEIDENDEN
S INNE
Die „leidenden Sinne“ (Geschmack und Geruchssinn), die die Dinge kosten und in den Körper aufnehmen, pflegen diesen Dialog offenbar auf genetischer und biochemischer Ebene. Herder bietet in ihrem Fall keine naturgesetzliche Erklärung an, auf der die Intuition aufbauend ihren Dialog mit den Dingen führen kann.67 An Hand von Geschmack und Geruch veranschaulicht er vielmehr, dass
63 Ebd. S. 119. 64 Ebd. S. 67. 65 Ebd. S. 41. 66 Ebd. S. 59 ff. 67 Dass Geruchs- und Geschmacksvorlieben kulturell bedingt sind, ist Stand der Forschung. Ob aber Ekel über seine vornehmlich kulturelle Prägung hinaus Folge einer
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das Urteil über das Angenehme nicht bloß ein subjektives Urteil (empirisches ästhetisches Urteil) ist. „Angenehm ist, was unser Sinn gern annimmt, was ihm genehm, d.i. angemessen ist, was er im Empfangen genehmigt. Unangenehm, was ihm widert, was, seiner Organisation nicht gemäß, ihn stört oder zerstört.“68 Die Sinnesorgane haben einen inneren Zweck, gerichtet auf das Aufnehmen von etwas Angenehmen. Was angenehm ist, ist kein subjektives Urteil, sondern schon durch die Zweckbeziehung mit etwas, wofür die Sinne gemacht sind, determiniert. „Das Angenehme vergnügt nicht nur, sondern das innigst Angenehme erweitert, kräftigt, stärkt mein Dasein; das innigst Angenehme ist mein lebendiges gefühltes Dasein selbst.“69 Bei Herder fallen Rezeptivität und Neigung mit dem Gefühl der Lust und Unlust zusammen: „Was, nachdem ich organisiert bin, das Gefühl meines Daseins beängstet, angreift und befeindet, ist unangenehm; was dagegen es erhält, fördert, erweitert, kurz was mit ihm harmonisch ist, das nimmt jeder meiner Sinne gern an, eignet es sich zu und findet es angenehm, [...].“
70
Hier ist der intuitive Verstand, bzw. eine begriffliche Sinnlichkeit am Werke, die es vermag, Kausalitäten welche der diskursive Verstand erst durch Erfahrung und Forschen erkennen muss, wie z.B. ob eine Speise der Gesundheit förderlich ist oder nicht, zu fühlen. Herder bringt hier den Ekel als anschauliches Argument ein. Schädliches wird von der körperlichen Natur mit der Empfindung des Ekels aufs Heftigste bis hin zum Erbrechen zurückgewiesen.71 Die Sinne sind Wächter und Abwehr des dem Körper feindlichen und unzuträglichen Fremden 72 und wenden sich hingegen den ihnen und somit der körperlichen Natur wohltuenden Empfindungen zu – dem Wohlschmeckenden, Wohlriechenden. „Wir sahen, dass auch bei den dunkelsten Sinnen unser Gefühl von Lust und Unlust auf etwas sehr Wesentlichem, auf der Erhaltung unseres Seins und Wohlseins ruhe, dass der
oralen Abwehrreaktion gegen gefährliche Nahrung ist, ist, soweit mir bekannt ist, nicht geklärt. Obwohl die große individuelle Unterschiedlichkeit der Geruchs- und Geschmacksrezeptoren offenbar dagegen spricht. 68 Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1830. S. 24. 69 Ebd. S. 27. 70 Ebd. S. 28. 71 Ebd. S. 29. 72 Ebd. S. 33.
120 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG fühlende Sinn selbst nichts anderes sei, als eine Macht, das ihm Harmonische sich mit einer Empfindung dieser Harmonie, d.i. des Genusses anzueignen; dagegen das Feindliche kräftig von sich zu entfernen. Wir sahen, dass zur Ausübung der letztgenannten Energie die Natur uns, nach Beschaffenheit des Sinns, mit einer weckenden Vorahnung begabt habe, und dass auf dem regen Spiel dieser Kräfte das Wohlbefinden unserer Sinnlichkeit, die 73
Eudämonie der Gesundheit beruhe.“
Herder vereinigt zwei Urteile, ein objektives Sinnesurteil und ein empirisches ästhetisches Urteil. Objekt und Subjekt fallen bei ihm in der Empfindung zusammen.74 Im objektiven Sinnesurteil wird z.B. eine Wahrnehmung als starker Käsegeruch bestimmt, im empirischen ästhetischen Urteil wird dieser starke Geruch als ekelhaft beurteilt. Das erste Urteil ist objektiv, weil es ein bestimmendes Urteil über ein Objekt ist, das zwar bei unterschiedlichem Riechvermögen anders ausfallen kann, aber alle objektiven Urteile sind von unserer Sinnlichkeit abhängig. Hier kann mit naturwissenschaftlicher Methodik geholfen werden. Das zweite Urteil ist aber ein subjektives Urteil, abhängig von den Neigungen des Wahrnehmenden. Der eine findet den Käsegeruch angenehm, der andere ekelhaft. Man kann nicht behaupten, dass ein ekelhafter Käsegeruch schlecht für Nase und Körper wäre, oder sein ekelhafter Geschmack Zeichen für eine Gefahr für die Gesundheit. Sogar die Wahrnehmung von Schmerz, z.B. als Folge eines Schnittes in die Haut, die objektiv als sehr starke Tastempfindung beurteilt wird, die mit der Beschädigung der Haut verbunden ist, kann im empirischen ästhetischen Urteil als lustvoll empfunden werden, wie es z.B. bei sadomasochistischen Praktiken der Fall ist. Objektives Wahrnehmungsurteil und empirisches Sinnesurteil sind nicht ganzheitlich miteinander verbunden oder vereinigt, großer Schmerz kann in einem objektiven Urteil als Folge der Zerstörung der Haut als schädlich beurteil werden, aber gleichzeitig auf Grund von Neigungen lustvoll bejaht werden. Nun schreibt Kant aber, „Annehmlichkeit gilt auch für vernunftlose Tiere“, was Herders These der Sinne als natürliche Wächter, die den Köper vor Schädigung bewahren und ihm Nützliches bejahen, zu stützen scheint.75
73 Ebd. S. 40. 74 „[...] bei den niederen Sinnen Subjekt und Objekt in der Empfindung gleichsam
Eins wurden, [...]“. Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1830. S. 84. Ähnlich argumentiert Gernot Böhme. Gernot Böhme: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/Main 1995. 75 Auch Herder stellt den Bezug zwischen Angenehmen und der „tierischen Erhaltung unseres Ichs“ her. Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1830. S. 40.
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Aber nur wenn man den Menschen ohne eigenen Willen sehen würde, der wie ein Tier naturgegebenen Gesetzen folgen müsste und nicht seine Neigungen nach eigenen Gesetzen gestalten kann. Dass diese nicht immer vernünftig sind, ist damit verbunden. Kants Einbeziehung der Tiere in das Gefühl der Annehmlichkeit bezieht sich darauf, dass für das empirische ästhetische Urteil gar keine Vernunft notwendig ist. Die Sinnesempfindung wird mit Hilfe der Urteilskraft mit der Neigung verglichen. Harmonieren Sinnesempfindung und Neigung wird ein bejahendes Urteil gefällt.
5.5 D AS
TASTENDE
G EFÜHL
Auch beim „tastenden Gefühl“ beruht für Herder das Urteil über das Angenehme nicht ausschließlich auf einer subjektiven Empfindung, sondern auf dem intuitiven Erfassen der Vollkommenheit eines Gegenstandes. Das harmonische Verhältnis zwischen Ding und Sinneswahrnehmung stellt Herder hier auf die Grundlage der Geometrie. „Keine Linie, keine Gestalt und Umgrenzung der Natur ist ein willkürliches Spiel; an Körpern ist sie, dem tastenden Sinn sogar, reeller Ausdruck ihres Wesens, ihres Seins, zusammengesetzt aus Solidität und aus Kräften, in Rücksicht auf Ruhe und Bewegung.“
76
Entspricht die Geometrie (die Gestalt) der inneren Zweckmäßigkeit eines Dings, erreicht sie somit ein Maximum von dem, was das Ding sein soll, ist sie Ausdruck der Vollkommenheit dieses Dings. Das harmonische Verhältnis (sein Maximum) bewegt sich zwischen den Extremen der Symmetrie, als Ausdruck der Solidität eines Gegenstandes, und der Eurhythmie, als Ausdruck der das Ding bewegenden Kräfte. Dem tastenden Gefühl ist es möglich, diese Vollkommenheit intuitiv als Harmonie zwischen Ding und Sinnlichkeit zu erfassen. „Das Sein oder die Bestandheit eines Dinges beruhet auf seinen wirksamen Kräften in einem Eben- und Gleichmaß, mithin auf seiner Umschränkung. Bewegung und Ruhe konstituieren ihm ein Maximum, und bei mehreren Gliedern oder Rücksichten mehrere Maxima, Exponenten seines Bestandes. Wird diese Konformation zum dauernden Ganzen uns sinnlich empfindbar, und ist dies gefundene Maximum meinem Gefühl harmonisch, so ist die Bestandheit des Dings, als eines solchen, uns angenehm; wo nicht, so ist’s häss-
76 Ebd. S. 51.
122 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG lich, fürchterlich, widrig. Die Selbstbestandheit, d.i. das Wohlsein des Dings steht also im Verhältnis mit meinem eigenen Wohlsein, freundlich oder feindlich.“
77
Im Vergleich dazu ist für Kant Geometrie die Wissenschaft des Raumes als apriorische Form des menschlichen äußeren Anschauens 78 und ist somit objektiv gültig, weil wir Gegenstände nur in der Anschauung erkennen können, ohne aber damit zu behaupten, dass Raum, und somit Geometrie, als Dinge und Verhältnisse an sich bestehen würden. Für Kant ist daher die Zweckmäßigkeit von geometrischen Figuren „objektiv und intellektuell, nicht aber bloß subjektiv und ästhetisch“.79 Es ist eine objektive Zweckmäßigkeit a priori, nützlich für das Erkennen und Entdecken von Prinzipien in der reinen Anschauung des Raumes, die daher nicht empirisch ist, sondern intellektuell und „bloß formal“.80 Kant sieht aber auch, dass es leicht passiert, diese Zweckmäßigkeit den Dingen an sich zuzuschreiben: „Denn in der Notwendigkeit dessen, was zweckmäßig ist und so beschaffen ist, als ob es für unseren Gebrauch absichtlich so eingerichtet wäre, gleichwohl aber dem Wesen der Dinge ursprünglich zuzukommen scheint, ohne auf unseren Gebrauch Rücksicht zu nehmen, liegt eben der Grund der großen Bewunderung der Natur, nicht sowohl außer uns, als in unserer eigenen Vernunft; wobei es wohl verzeihlich ist, dass diese Bewunderung durch Missverstand nach und nach bis zur Schwärmerei steigen mochte.“
81
Diese Schwärmerei liegt darin zu denken, dass mit geometrischen Figuren, die a priori konstruiert werden können und ihren Gebrauch im Empirischen finden, etwas ohne Erfahrung im Wesen der Dinge an sich entdeckt werden kann und aus dieser Realität jenseits der Erfahrung auf die Wirklichkeit objektiver Ideen zu schließen. Die Möglichkeit, a priori etwas vom Wesen der Dinge zu erkennen, wäre nur dann möglich, wenn ein gemeinsames harmonisches Prinzip alles verbinden würde und wir diese Harmonie intuitiv erfassen könnten. Kant erläutert diesen Fehlschluss eines objektiven Idealismus am Beispiel Platos: „Plato, selbst Meister in dieser Wissenschaft [der Geometrie], geriet über eine solche ursprüngliche Beschaffenheit der Dinge, welche zu entdecken wir aller Erfahrung entbehren
77 Ebd. S. 57. 78 Otfried Höffe: Immanuel Kant, München 2007. S. 86. 79 KdU B271. 80 KdU B274. 81 KdU B274.
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können, und über das Vermögen des Gemüts, die Harmonie der Wesen aus ihrem übersinnlichen Prinzip schöpfen zu können (wozu noch die Eigenschaften der Zahlen kommen, mit denen das Gemüt in der Musik spielt), in die Begeisterung, welche ihn über die Erfahrungsbegriffe zu Ideen erhob, die ihm nur durch eine intellektuelle Gemeinschaft mit 82
dem Ursprung aller Wesen erklärlich zu sein schien.“
Kant kritisiert diese Schwärmerei, die Folge einer Grenzüberschreitung der Vernunft ist, aber nicht die Bewunderung für die Zweckmäßigkeit der Geometrie. Diese begründet sich in einer „relativen Vollkommenheit“ 83 geometrischer Figuren. Diese intellektuelle Zweckmäßigkeit ist formal, weil mathematische Figuren, wie der Kreis, nicht aus der empirischen Anschauung abgeleitet werden, sondern Vorstellungen des Verstandes in der reinen Anschauung sind, und sie ist objektiv, weil das Urteil an Hand von Begriffen (den Konstruktionsregeln, so etwa, dass beim Kreis alle Punkte des Kreisumfangs den gleichen Abstand vom Mittelpunkt haben), gefällt wird, welches ein Urteil über die Nützlichkeit der mathematischen Figuren für verschiedene Zwecke ist. Kant nennt dieses Wohlgefallen an der intellektuellen objektiven Zweckmäßigkeit mathematischer Figuren Bewunderung oder intellektuelles Wohlgefallen. Dieses intellektuelle Wohlgefallen wird zur Bewunderung, wenn der Grund nicht mehr geometrische Figuren in der Vorstellung sind (und wahrscheinlich meint Kant auch auf dem Zeichenblatt konstruiert), sondern in der mathematischen Regelmäßigkeit von empirischen Gegenständen angetroffen wird. Kant nennt hier als Beispiel einen regelmäßig angelegten Garten.84 Bei diesem liegt als Artefakt nicht bloß eine intellektuelle objektive Zweckmäßigkeit vor, sondern eine reale Zweckmäßigkeit, da die Ursache der Existenz des Gartens die Vorstellung eines Zwecks ist. Dennoch ist für Kant die Bewunderung für die Regelhaftigkeit der Erscheinung des Gartens (seine Geometrie) etwas anderes als ein Urteil über seine objektive Zweckmäßigkeit (ein Vollkommenheitsurteil). Auch wenn geometrische Prinzipien (als „Werkzeug“) nützlich waren, um den Garten herzustellen, ist die Geometrie und die Regelmäßigkeit keine Beschaffenheit des Gartens. Geometrie bleibt eine „bloße Vorstellungsart in mir“,85 die nützlich zur Herstellung von Dingen sein kann, aber dennoch nicht zur Eigenschaft dieser mit Hilfe der Geometrie hergestellten Dinge wird (auch nicht ihrer Form oder Gestalt).
82 KdU B273. 83 KdU B278. 84 KdU B275. 85 KdU B276.
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Es handelt sich daher beim Wohlgefallen z.B. an der geometrischen Erscheinung von Radioloarien,86 eines barocken Gartens oder einer komplexen Dachkonstruktion87 nicht um ein Wohlgefallen am Schönen, sondern um die Bewunderung über die mathematische Regelhaftigkeit der Erscheinung der Gegenstände, die einem von einem anderen Verstand verursacht erscheint. 88 Diese Bewunderung ist die immer wiederkehrende Verwunderung eines kritischen Geistes („des kritischen Gebrauchs der Vernunft“)89 darüber, dass eine Vorstellung a priori (z.B. die Kreisform) uns im Wesen von Dingen (z.B. Radiolarien oder eines barocken Gartens) gegeben erscheint. Dem „Schwärmer“ hingegen ist die Regelhaftigkeit in der Erscheinung der Natur bewundernswertes Zeichen für die Vollkommenheit von Gegenständen. Für Herder hingegen sind „Geometrien“ Eigenschaften von Dingen, die Ausdruck ihrer Vollkommenheit sind und sinnlich-intuitiv erfahrbar werden. Die als angenehm oder widrig empfundene Geometrie der Dinge (im Spannungsfeld zwischen Symmetrie und Eurhythmie) ist Ausdruck der Harmonie oder Disharmonie im Verhältnis zwischen Ding und Verstand auf Grundlage einer gemeinsamen Basis, eines intelligibilen (übersinnlichen) Substrates.90 Bei Artefakten nimmt man nun zu Recht einen Verstand als Ursache für die geometrische Erscheinung an. Die Geometrie kann dann aber mehr sein als bloß Werkzeug der Herstellung eines guten Dinges, sondern sie kann auch als Erscheinung „präsentiert“ werden. Die geometrische Erscheinung von Artefakten wird dann zum Symbol für die praktische Zweckmäßigkeit des Gegenstandes. In diesem Fall kann der Herdersche Dialog tatsächlich stattfinden. Die geometrische Gestalt eines Artefakts drückt den Gestaltungswillen und die Ziele des Herstellers aus und wird vom Betrachter bewundert oder abgelehnt. Das hat aber nichts mit einem Schönheitsurteil zu tun, sondern bleibt ein Urteil über die relative Vollkommenheit einer geometrischen Figur als Symbol für die objektive Vollkommenheit eines Gegenstandes. Herder formuliert hiermit ähnliche Prinzipien einer objektivistischen Ästhetik, wie es hundert Jahre später der ästhetische Funktionalismus91 in der modernen Architektur tun wird. Durch das Symbolverhältnis zwi-
86 Siehe dazu: Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur, Wien und Leipzig 1899-1904. 87 Z.B. der Metropol Parasol von J. Mayer H. in Sevilla, Spanien. 88 Was ja bei Artefakten der Fall ist. 89 KdU B268. 90 KdU B243. 91 Siehe dazu: Ulrich Eisel: Emanzipation und Würde in einfachster Form – Die philosophische und politische Struktur funktionalistischer Ästhetik, in: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II, Kassel 2007.
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schen Geometrie und Nützlichkeit eines Gegenstandes kann es (aber eben nur scheinbar) gelingen, objektive Schönheitsprinzipien zu formulieren: Diese Kuppel ist schön, weil sie auf der Geometrie der Halbkugel beruht, die statisch die effizienteste Lösung für ihre Konstruktion bietet. Hier scheint sich einzulösen, was Herder und später die ästhetischen Funktionalisten unter Schönheit verstehen: Schönheit als Ausdruck von Nützlichkeit.
5.6 D IE M EDIEN L ICHT
UND
S CHALL
Der bisher in dieser Studie dargestellte Dialog der Sinne mit den Dingen bedurfte des leiblichen Kontaktes über das Einverleiben oder das Berühren der Dinge. Die Medien Licht und Schall aber ermöglichen es, Distanz zwischen den Dingen und den Organen der Fernsinne Sehen und Hören zu überwinden.92 Herder nennt das Medium daher „den Exponenten der Verhältnisse zwischen dem Objekt und Subjekt, und bei angenehmen Empfindungen den Schlüssel der Harmonie“.93 An den Medien Licht und Schall, „jedes mit einer unzerreißbaren Zusammenordnung eines Vielen zu Einem, der Bildung des Organs harmonisch, begabt“, 94 lässt sich durch ihre Vermittlerfunktion zwischen Dingen und Sinnen die Ordnung der Natur als Regel des Schönen besonders deutlich ablesen. Beide Medien drücken die ewigen Gesetze der Natur (als übersinnliches Substrat) in verschiedenen Formen aus. „Wie das Licht Fläche, d.i. eine unzerstörliche Haltung im Raum, ein Nebeneinader, bereitet und Figuren darauf zeichnet; so der Schall Dauer, eine unzerstörliche Haltung in Zeitmomenten nach einander, in denen wiederkommende Stöße der Bewegung sich of95
fenbaren.“
Sie entfalten sich in Raum und Zeit – das Licht (nach Regeln der Geometrie) Figuren im Raum zeichnend, der Schall (nach Regeln der Arithmetik) Akkorde in der Zeit klingend – und sie verfügen über eigene inhärente Ordnungsprinzipien:
92 „In beiden Sinnen waren Licht und Schall weder Objekt noch Subjekt; sie standen aber zwischen beiden, und erzählten diesem, was an oder in jenem vorginge, ihm harmonisch oder disharmonisch.“ Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1830. S. 85. 93 Ebd. S. 84. 94 Ebd. S. 119. 95 Ebd. S. 71f.
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das Licht über den Farbkreis und der Schall über die Tonleiter. Auge und Ohr sind auf diese Ordnung hin ausgerichtet. Raum und Zeit sind für Herder, im Widerspruch zu Kant, keine Formen der reinen äußeren und inneren Anschauung, sondern aus der Erfahrung gewonnene Begriffe, wobei Erfahrung für Herder immer subjektive und objektive Erfahrung in Einem ist.96 Raum und Zeit sind somit Abstraktionen sinnlicher Gegenstände. Das Medium des Lichts stellt diese „Welt von Gegenständen, die wir im Dunkeln uns langsam, oft vergessend, selten vollständig hervortasten [...] mussten, [...] dem Auge, und dadurch der ganzen Seele, wie ein großes Mit- und Nebeneinander vor, nach ewigen Gesetzen geordnet.“ 97 Die Aufgabe des Auges, ausgerichtet nach der Ordnung des Licht hin entstanden, ist es, das Medium in einem Punkt zusammenzufassen und „ein unwandelbares Eins zu konstituieren“. Das Auge als „Sonderungs-Werkzeug“98 organisiert für uns das unendlich Viele der empirischen Welt zu einer Einheit, und eine „Welt unzerstörbar heller Harmonie und Ordnung tritt vor uns!“99 Beleuchtet das Licht sozusagen die vorher dunkle Bühne der Welt und stellt uns mit Hilfe des Auges ihre Ordnung vor, bringt es aber auch ein eigenes Ordnungsprinzip ein – den Farbkreis. Die Ordnung der Farben bestimmt, wie die Flächen im Raum beleuchtet werden. „Die Farben, was sie auch sein mögen, folgen einander in unverrückter Reihe; sie fließen aus, sie wandeln sich ineinander; kein Brechen und Beugen kann dieses untrennbare System ändern, das in sich so steht, als jedes andere System körperlichgeistiger Erscheinungen und Kräfte.“
100
Ob die erleuchteten Figuren im Raum harmonisch für uns sind, richtet sich, wie beim tastenden Fühlen, nach den Prinzipien der Geometrie, bei den Farben nach der Ordnung des Farbkreises, wobei das Beurteilungskriterium die Reinheit der Farben ist. „Jede Farbe, so reiner sie uns erscheint, desto angenehmer.“ 101 Das
96 Christa Kaupert: Verstand und Erfahrung in Kants Vernunftkritik und Herders Metakritik, Bonn 2006. S. 69. 97 Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1830. S. 61. 98 Zitiert nach: Christa Kaupert: Verstand und Erfahrung in Kants Vernunftkritik und Herders Metakritik, Bonn 2006. S. 114. 99 Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1830. S. 64. 100 Ebd. S. 64. 101 Ebd. S. 66.
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Auge, nach der Ordnung des Farbkreises gemacht, wählt aus der, uns durch das Medium des Lichts, zugeführten Fülle aus und macht sie uns als Einheit erfahrbar. Das Medium des Schalls breitet sich zwar im Raum aus, ist aber „in der Natur unsichtbar“,102 es entfaltet sich „erschütternd, regend“ 103 in der Zeit. Der Schall ist Medium der Bewegung, der sinnlichen Gegenstände. „Stöße der Bewegung“ bringen Körper, je nach Elastizität und Gestimmtheit, verschieden zum Klingen. Dieses Schwingen wird vom Medium des Schalls ans Ohr vermittelt. Zeichnet das Licht die sinnlichen Gegenstände für das Auge, bringt der Schall sie für das Ohr zum Klingen. Durch das Mitschwingen der Körper mit einem Ton zeigt sich die klangliche Ordnung der Welt, der Akkord. Durch das Mitschwingen des eigenen Körpers spricht der Schall nicht wie das Licht einen äußeren Sinn an, sondern wirkt innen. „Die Musik spielt in uns ein Klavichord, das unsre eigene innigste Natur ist.“104 Es wird daher nicht in erster Linie eine Ordnung im Raum wahrgenommen sondern in der Zeit. Das dem Medium Schall inhärente Ordnungsprinzip ist, analog zum Farbkreis des Lichtes, die Tonleiter, die es ermöglicht, die Klänge in der Zeit zu Melodien zu ordnen. Analog zur Ordnung der Körper bewegt sich die Ordnung der Musik zwischen statischer Ruhe (Gerade/Quadrat analog zum Akkord) und Dynamik (Kurve/Kreis analog zur Melodie). „Was unter den Linien die gerade Linie, unter den Figuren das Quadrat oder Rektangel war, die Basis der Richtigkeit, aus welchen allein aber keine Form beweglicher Schönheit entspringen konnte, das ist in Tönen die Harmonie, gleichsam die Baukunst der Töne, aus welcher aber auch eben so wenig die vielbewegliche Melodie der Leidenschaften entstehen könnte, wenn jede Empfindung nicht in diesem selbstumschlossenen Tonkreise ihre Kurve, ihren Brennpunkt, ihr Ziel und Maß hätte. Die ganze Anzahl von Linien, die zwischen der Geraden und dem Kreise liegen und dort Linien der Schönheit waren, sind in dieser Kunst melodische Gänge, jeder in seiner Bahn mit jedem anderen vertauschbar, alle aber von einer ewigen Regel, dem Tonkreise gebunden. Dieser stehet und bleibt; unzählige Melodien, d.i. Schwingungen und Gänge der Leidenschaft sind in und mit ihm gegeben.“
105
102 Ebd. S. 72. 103 Ebd. S. 72. 104 Ebd. S. 77. 105 Ebd. S. 79.
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Die Welt ist für Herder geordnet und zeigt sich den Sinnen in unterschiedlichen Formen dieser Ordnung. Die Sinne sind daraufhin gemacht, diese Ordnung zu erfassen. Entsprechen sinnliche Dinge dieser Ordnung in besonderem Maße, können sie von den Sinnen, die ja nach dieser Ordnung konstituiert sind, leichter erfasst und als für sie passend beurteilt werden. Sie sind somit angenehm und im Herderschen Sinne schön. Hier erscheint aber unverständlich, wo die Ordnung realisiert wird: Wenn sie bereits in den Dingen oder Medien vorhanden ist, warum muss dann das Auge noch einmal ordnen? Hier gibt es offenbar einen Maßstabssprung: Das Weltganze verfügt über eine Ordnung, aus der naturgeschichtlich das Auge heraus entsteht. Diese ist aber vom Menschen nicht erfassbar, sie ist zu vielfältig, zu komplex. Das Auge hat nun die Aufgabe, diese Vielfalt für den Menschen zu einer ihm möglichen Einheit zusammenzufassen. Herder vergleicht diesen Vorgang mit einem Instrument, „das Klavichord des Auges“,106 das die Vielfalt anschaut. Wo es in der Vielfalt Übereinstimmung mit seinen eigenen Möglichkeiten (seiner eigenen Ordnung) findet, also das Instrument richtig gespielt wird, entsteht Harmonie. Die Analogie zur Musik (Medien) und zu Musikinstrumenten (Sinne) scheint das Modell für Herders Ästhetik und Wahrnehmungstheorie zu sein. So löst er auch die Diskrepanz zwischen seiner auf Maß und Ordnung aufgebauten Ästhetik und der intuitiven ästhetischen Empfindung, die ohne zählen und messen auszukommen scheint, analogisch zur Musik. Auch hier spielt ja im Musikgenuss die mathematische Ordnung der Musik keine Rolle. „Nicht wir zählen und messen, sondern die Natur; das Klavichord in uns spielt und zählet.“107 Herder naturalisiert die mathematischen Bedingungen (Geometrie und Arithmetik) seiner Ästhetik und macht sie zu Fähigkeiten der Sinne. „Zumal die Natur uns dies Rechnen so leicht gemacht hätte, dass wir nicht nur keiner Anstrengung, keines Zahlenschreibens dabei bedürften, sondern durch das bloße Empfangen dieser goldnen Münzen mit einem Reichtum von Empfindungen, wie mit Wellen der Freude übergossen würden. Die Natur hätte sodann selbst für uns gerechnet.“108
Aber auch das ist analogisch gedacht, denn „Aberglaube wäre es, Zahlen und Zeichen beimessen wollen, was dem allein gilt, was Zahlen und Zeichen bezeichnen, der Regung des Gemüts, der Empfindung.“109 Zahlen und Zeichen sind eben nur die Notation der Empfindungen, die auf einer uns nicht rational zu-
106 Ebd. S. 66. 107 Ebd. S. 80. 108 Ebd. S. 74f. 109 Ebd. S. 80.
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gänglich Ordnung des Weltganzen beruht – eine Ordnung die uns aber über die Sinne intuitiv zugänglich ist. „Beide Medien [Licht und Schall] enthüllen uns mittelst einer das Weltall umschließenden Regel, jenes ein sichtbares, dies ein hörbares All, eine Weltordnung.“ 110 Der Dialog zwischen Dingen und Sinnlichkeit enthüllt uns aber nie den Gegenstand in seiner unüberschaubaren Komplexität, sondern das, was unserer Sinnlichkeit zugänglich ist. Das ist aber nicht zufällig, sondern von der Ordnung der Natur bestimmt, um einen Dialog zwischen den verschiedenen Teilen und Maßstabsebenen des Ganzen zu ermöglichen. „Dies sich uns Mitteilende war nie der ganze Gegenstand selbst, sondern etwas von ihm, das sich mitteilen konnte ... . Bei Gegenständen des Auges empfinden wir mit Hülfe des Lichtstrahls Farben, Gestalten, bei Gegenständen des Ohrs Schälle, Töne. Geruch und Geschmack empfangen die ihnen analogen Eigenschaften der Dinge; und das Gefühl, der tiefste, aber auch dunkelste Sinn gibt uns die vielnamigsten Beschaffenheiten fremder Existenzen zu empfinden. Aus dem unendlich-Vielen, das diese Existenzen an sich und für andere Sinne sein mögen, wird uns also nur Eins oder Einiges, Das nämlich mitgeteilt, das für den Sinn, durch den es empfunden wird gehöret. Die Sinne selbst, als Organe betrachtet, sind also Sonderungs-Werkzeuge, des zu ihnen Gelangenden läuternde Kanäle. Ohne daß meine Spontaneität dabei etwas tut, empfängt die bewegliche Netzhaut des Auges ein Bild; der Schall hat sich vom tönenden Körper gerissen und bildet sich in unserem Ohr zum Tone; das flüchtige Salz der duftenden Rose wird uns Geruch. Ein vermöge unseres Organs uns gleichsam zuorganisiertes Eins aus Vielem für unsere Empfindung.“
111
Im Sinne dieses Dialogs der Teile des Ganzen bedarf es sozusagen als Schlussstein der Architektur „Sinnlichkeit“ eine Möglichkeit des Dialogs mit dem Lebendigen – eine Sinnlichkeit für das Empfinden des existenziellen Zustands anderer Lebewesen.
110 Ebd. S. 81. 111 Herder, zitiert nach: Christa Kaupert: Verstand und Erfahrung in Kants Vernunftkritik und Herders Metakritik, Bonn 2006. S. 114f.
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5.7 D AS
LEBENDIGE
G ANZE
Entwirft Herder, wie im vorhergehenden Abschnitt dieser Studie dargestellt, eine an Burke erinnernde mechanistisch-funktionalistische Theorie des Schönen, in dem Stoffe bzw. Medien durch ihre Struktur als angenehm und somit schön empfunden werden, geht er bei der ästhetischen Beurteilung von Lebewesen zu einer Ästhetik der Einfühlung112 über. Der Fokus verschiebt sich weiter in Richtung Objekt. Hier führt kein Medium oder Stoff den Dialog und tritt an unsere Sinnlichkeit heran, sondern wir wenden uns in Sympathie den Objekten zu, in Beurteilung ihrer Gestalt und damit (Herders Vollkommenheitsparadigma folgend) dem Mitempfinden des existenziellen Zustands des Objektes. Dieser Dialog der Sympathie oder Antipathie bedarf einer Analogie von Subjekt und Objekt – ihrer inneren Strukturen. Herder entwickelt eine Stufenleiter der Vollkommenheit, welche die Ähnlichkeit von Organismen zu uns Menschen zum Maß der uns überhaupt möglichen Sympathie mit Objekten macht. Auf die unterste Stufe der Leiter stellt Herder daher unbelebte Dinge, die dann unsere Sympathie wecken, wenn sie einen gewissen Grad der Organisation aufweisen, wie zum Beispiel Kristalle. „Im gemischten formlosen Reich der Schöpfung“113 ist nur dasjenige angenehm, das Struktur zeigt, vor allem Kristallisationen. „Je regelmäßiger, je vielartig-einiger, desto angenehmer.“114 Ein Naturzweck muss somit auch in der leblosen Materie erkennbar sein, um als Angenehm erkannt zu werden. Das kann auch beim Formlosen der Fall sein, aber nur wenn es das Potential zeigt, zur Formbildung zu dienen. Auf die nächste höhere Stufe der Leiter stellt Herder das „Reich der Organisationen“. Dort wird leblose Materie (Elemente) durch „den organisierenden Geist“ zu Gebilden geformt. Die Verkörperung ihres Naturzwecks („Wohlsein ihres Inbegriffs“) macht die Naturschönheit ihrer äußeren Gestalt aus.115 Dazu gehört das „Reich der Vegetation“. Hier sind Früchte und Blüten dann schön, wenn sie ihren Naturzweck als Dialog suchende Organe uns gegenüber erfüllen können. Sie sind somit als Kommunikationsorgane von Herder medial konzi-
112 Siehe zur Einfühlungsästhetik: Thomas Friedrich, Jörg H. Gleiter: Einfühlung und phänomenologische Reduktion, Berlin 2007. 113 Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 1, Stuttgart und Tübingen 1830. S. 103. 114 Ebd. S. 103. 115 Ebd. S. 103f.
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piert. Die allgemeine Form des Gewächses ist dann schön, wenn sie ihrem Naturzweck entspricht.116 Erst auf die nächste höhere Stufe stellt Herder das eigentliche „Reich lebendiger Wesen“. Er unterteilt es nach den Elementen, in dem diese leben und deren Geist ihre Organisation bestimmt. So sind die Lebewesen des Wassers dann schön, wenn ihr Naturzweck von uns sinnlich (über ihre Gestalt) erfasst werden kann. Das ist nach Herder schwierig bei Lebewesen, die am Rande eines Naturreichs gebildet wurden oder mehreren gleichzeitig angehören. Diese finden wir hässlich, weil sie uns „doppelgestaltig“ erscheinen. Ihr Naturzweck wird nur unvollkommen in ihrer Gestalt verwirklicht. 117 Ähnliches gilt für die Lebewesen des Reiches der Luft. Die sinnliche Erfassung des Naturzwecks fällt uns aber leichter, da das Reich der Luft uns als Lebensraum näher ist als das Wasser. „Licht und Luft erschufen schöne Gestalten, die mit sich selbst harmonisch im Reich der Freiheit leben und wirken.“118 Aber auch hier erscheinen uns Mischwesen als missgestaltet, ebenso Lebewesen der Nacht. Die „Erdengeschöpfe [...] stehen uns am nächsten“. Auch hier bestimmt der Naturzweck ihre Schönheit, aber die Nähe zu uns fällt stark ins Gewicht. Sind sie uns zu ähnlich, sodass sie uns als Karikaturen unserer selbst erscheinen, wie die Affen, finden wir sie hässlich. „Leicht und in schöner Proportion gebaute, uns unschädliche, mit edlen Kräften begabte, reine, muntre sind uns die angenehmsten, die schönsten.“119 Auf der obersten Stufe der Leiter der Vollkommenheit steht der Mensch, „das Maß und Muster der organischen Schönheit“ 120. Der Mensch als „Mittelpunkt aller lebendigen Erdgeschöpfe“121 zeigt auch in seiner Gestalt die Erfüllung seines Naturzwecks, das „Wohlsein in seinem Element“. „Alles am Menschen ist darstellend, ausdrückend, reell bedeutend. Nicht wie in einer Schachtel wohnt des Menschen Geist, die ihn belebende, ihm angeborene Kraft, sondern charakteristisch und energisch, ausgedrückt in seinen Gliedern, Bewegungen und Gebärden.“
122
116 Ebd. S. 104. 117 Ebd. S. 104. 118 Ebd. S. 105. 119 Ebd. S. 105. 120 Ebd. S. 105. 121 Ebd. S. 99. 122 Ebd. S. 99.
132 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
Herder spricht vom geistig körperlichen Dasein,123 das im Bild des Menschen (Gestalt, Stirn, Blick, Gesicht, Hände, Gebärden, Gang, etc.) – seiner Physiognomie – ausgedrückt wird. Dieses Bild ist dann schön, wenn der Naturzweck des Menschen erfüllt wird – als vernünftiges Erdgeschöpf frei und sittlich zu handeln. Dieses Bild des Menschen kann in der Darstellung durch die Kunst „von allem Unwesentlichen und Unlautern scharf gereinigt“124 zum Ideal gesteigert werden. Drückt sich das Wesen jedes Menschen in seiner Gestalt individuell aus, zeigt sich die Idee des Menschen als „Organisation“ im Ideal. „Wenn jede Kunst das Vollkommenste ihrer Art sucht, so musste die Kunst, die Organisationen leibhaft bildet, sich an die vollkommenste Organisation, die Menschengestalt, vorzüglich halten, und in dieser das Vollkommenste, die reine Idee der Menschheit, suchen und bilden. Welches war diese? Ohne Zweifel die Form, die den Menschen am wesentlichsten vom Tier unterscheidet und seinen geistigen Charakter ausdrückt, mithin seine aufgerichtete Gestalt, sein Antlitz, und was das Antlitz bildet, seine Stirn, seinen Schädel.“
125
Das Ideal, als Darstellung der Vollkommenheit des Menschen, hält sich an diejenigen Merkmale seiner Gestalt, die ihn vom Tier unterscheiden. Diese Merkmalsbestimmung zeigt die Koppelung von Herders Schönheitsbegriff des Menschen an die anthropologisch-naturwissenschaftlichen Theorien von der Kette der Lebewesen, an deren Ende der Mensch als höchste Entwicklung der Naturgeschichte steht. Die Aufgabe der Kunst ist die Darstellung dieser Vollkommenheit der Organisationen der Natur in ihrer Ordnung. Der Künstler vermag diese Ordnung im Ideal auszudrücken und für unseren Verstand zu verdeutlichen, sie ist aber bereits von der Natur im Normaltyp, Hauptbild, Typus der Lebewesen vorgezeichnet. Da die Kette der Lebewesen aus Gliedern von Normaltypen besteht, kann zu jedem dieser Glieder ein Ideal gezeichnet werden. „Dass es auch Tierideale gebe, wer könnte daran zweifeln? Trägt nicht jede Tiergattung ihren Charakter ausgedrückt in ihrer Bildung entschieden an sich?“126 Der idealisierende Künstler vermag den Normaltyp des jeweiligen Lebewesens als Ideal darzustellen, das Empfinden seines Wesens ist aber jedem Menschen möglich, der
123 Ebd. S. 101. 124 Ebd. S. 156. 125 Ebd. S. 156. Zu Herders Anthropologie, siehe Astrid Gesche: Johann Gottfried Herder: Sprache und die Natur des Menschen. Würzburg 1993. 126 Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800, Bd. 2, Stuttgart und Tübingen 1830. S. 164.
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zur Sympathie befähigt ist. Diese Einfühlung in das Wesen von Lebewesen folgt wiederum der Kette der Lebewesen, diesmal aber nicht naturgeschichtlich aufsteigend, sondern ausgehend von der Position des Menschen als Endglied dieser Kette absteigend. Einfühlung in andere Lebewesen ist in intensivster Form bei anderen Menschen möglich, dann bei anderen Erdgeschöpfen, bei Lebewesen der Luft, des Wassers usw. bis hinunter zu den nicht mehr lebenden kristallinen Organisationen. Dieses Einfühlen ermöglicht ein Urteil über das Wohlsein des Lebewesens – ein Urteil über seine Schönheit bzw. Vollkommenheit. Dieses Urteil erfolgt nach dem Zustand der Vitalität des Wesens (momentaner Zustand), nach seinem Verhältnis zum Normaltyp (Vollkommenheit der Gestalt des Individuums) und nach der Vollkommenheit des Typus an sich. „Die kleinste Silberschuppe auf dem Rücken des Fisches, wie die ganze Symmetrie seines Baues, alles was an ihm ist und zu ihm gehört, ist Ausdruck dessen, was er kraft seines Elements sein konnte, lebendige Darstellung seines inneren und äußeren elementarischen 127
Daseins in Verhältnissen, Kräften, Gliedern.“
Wesen, die einen undeutlichen, in ihrer Zuordnung zu einem Element gemischten Normaltypus zeigen,128 wie zum Beispiel Tiere des Schlammes (zwischen Wasser und Erde), werden als unvollkommen und sogar ekelhaft beurteilt. Grundlage dieser Sympathie ist der gemeinsame Ursprung im Gesamttypus der Lebewesen. „In jedem Element nämlich hatte die Natur das Lebendige zum Wohlsein in diesem Element zu bilden: hiernach ordnete sie seine Gestalt, seine Kräfte und Glieder, also sehr verschieden. Da sie aber bei allen Einen Zweck hatte, Wohlsein, Genuss des Lebens in diesem Element, so musste in einer gemeinschaftlichen Welt, in der Ein Lebensgeist herrscht, auch ein Gemeinschaftliches in Reizen, Empfindungen, Sinnen und Trieben, mithin eine allgemeine Analogie, ein Gesamttypus wie in Bildung so in Gefühlen und Bestrebungen werden.“
129
Dieser Gesamttypus differenzierte sich nach Elementen und Regionen in verschiedenen Lebewesen aus (Normaltypen). Der gemeinsame Ursprung im Gesamttypus und die Stellung am Ende der Kette der Lebewesen ermöglicht es dem Menschen durch Einfühlung, die Ordnung der Natur sinnlich zu erkennen.
127 Ebd. S. 93. 128 Ebd. S. 90f. 129 Ebd. S. 141.
134 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
Herder löst das nach Kant reine ästhetische Urteil über die Zweckmäßigkeit der Natur in ein reflektierendes Verstandesurteil über Naturzwecke auf. Das ist möglich, weil beide Urteile subjektive Urteile sind. Bei Kant verbindet beide Urteilsformen, dass sie auf Analogien basieren: „Obzwar unser Begriff von einer subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Formen, nach empirischen Gesetzen, gar kein Begriff vom Objekt ist, sondern nur ein Prinzip der Urteilskraft sich in dieser ihrer übergroßen Mannigfaltigkeit Begriffe zu verschaffen (in ihr orientieren zu können): so legen wir ihr doch hiedurch gleichsam eine Rücksicht auf unser Erkenntnisvermögen nach der Analogie eines Zwecks bei; und so können wir die Naturschönheit als Darstellung des Begriffs der formalen (bloß subjektiven), und die Naturzwecke als Darstellung des Begriffs einer realen (objektiven) Zweckmäßigkeit ansehen, deren eine wir durch Geschmack (ästhetisch, vermittelst des Gefühls der Lust), die andere durch Verstand und Vernunft (logisch, nach Begriffen) beurteilen.“
130
Da Herder, wie er in der Kalligone darlegt, eine formale subjektive Zweckmäßigkeit als unsinnig zurückweist, fallen für ihn Naturschönheit und Naturzweck zusammen. Er stellt, wie er meint, Kants leere Argumentation wieder vom Kopf auf die Füße: Naturschönheit und Naturzweck sind nicht beides Vorstellungen der Natur, „wenn wir ihr unseren Begriff vom Zweck zur Beurteilung ihres Produkts unterlegen“,131 sondern Naturzweck und Naturschönheit sind zwei Sichtweisen auf das organisierte Ganze der Natur und stehen in einem Repräsentationsverhältnis. Naturschönheit ist das durch Einfühlung aufscheinende Zeichen der Zweckmäßigkeit des Naturganzen. Das Organ dafür ist die menschliche Empfindung, die als sinnlicher Verstand oder begreifende Sinnlichkeit im Buch der Natur lesen kann. Kant gesteht diesem Verständnis der Natur seine Berechtigung zu, aber eben nur im Bereich des Ästhetischen: „Auch Schönheit der Natur, d.i. ihre Zusammenstimmung mit dem freien Spiele unserer Erkenntnisvermögen in der Auffassung und Beurteilung ihrer Erscheinungen kann auf die Art als objektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen als System, worin der Mensch ein Glied ist, betrachtet werden, wenn einmal die teleologische Beurteilung derselben durch die Naturzwecke, welche uns die organisierten Wesen an die Hand geben, zu der Idee eines großen Systems der Zwecke der Natur uns berechtigt hat. Wir können es als eine Gunst, die die Natur für uns gehabt hat, betrachten, dass sie über das Nützliche noch
130 KdU BXLVIII 131 KdU BXLVIII
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Schönheit und Reize so reichlich austeilte, und sie deshalb lieben, sowie ihrer Unermesslichkeit wegen mit Achtung betrachten und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen: gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufge132
schlagen und ausgeschmückt habe.“
Auch bei Kant steht das Schönheitsurteil (als spezifische Form der reflektierenden Urteilskraft) als Übergang zwischen den Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft, aber eben als eigenständiges Vermögen mit einem subjektiven Prinzip a priori – der Zweckmäßigkeit der Natur. Dieses Prinzip ist je nach Anwendung der Urteilskraft, als ästhetische eine formale, subjektive Zweckmäßigkeit oder als teleologische eine reale, objektive Zweckmäßigkeit.133 Diese unterschiedliche Anwendung des Prinzips der Urteilskraft, einmal bezogen auf die Lust und Unlust angesichts von Erscheinung als subjektives Urteil und einmal bezogen auf an Organismen erkennbare Zweckmäßigkeit als objektives Urteil, rückt Schönheit und Organismus in unmittelbare Nähe. Doch Kant spricht eben nicht dem Organismus objektive Vollkommenheit zu, sondern er rückt vielmehr das reflektierende Urteilen über objektive Zwecke (Naturzwecke) in die Nähe des Ästhetischen. Herder hingegen naturalisiert das Prinzip des technischen/künstlerischen Handelns zum Organ der Einsicht in das Ganze der Natur. Die Vorstellung von Zweckmäßigkeit wird nicht den Dingen der Natur zu ihrer Reflexion unterstellt, sondern an ihnen erkannt und gefühlt. Analog zur Technik des Menschen, „wenn wir einen vorhergefaßten Begriff von einem Gegenstande, der für uns Zweck ist, realisieren“,134 gibt es eine Technik der Natur, die von einem künstlerischen Bewusstsein als System realisiert wurde.
132 KdU B303-304. 133 Lars-Thade Ulrichs: Das ewig sich selbst bildende Kunstwerk. Organismustheorien in Metaphysik und Kunstphilosophie um 1800, in: Jahrbuch des Deutschen Idealismus, 4, 2006, Berlin 2007. S. 257. 134 KdU BXLVIII.
136 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
5.8 H YPOSTASIERUNG
DES
DURCH ÄSTHETISCHEN
S CHÖNEN F UNKTIONALISMUS 135
Burke und Herder verwenden in ihren funktionalistischen Ästhetiken trotz aller Unterschiede eine Reihe ähnlicher Denkfiguren und Argumente, die für die Begründung von funktionalistischen Schönheitsprinzipien zentral sind und die ich hier kurz zusammenfassen will: Geschmack als intuitiver Verstand Wenn alles Denken und Empfinden auf dasselbe aus ist – auf das Erkennen der Ordnung der Welt – dann ist der Schönheitssinn bzw. der Geschmack genauso ein Organ dieser Erkenntnis, wie der Verstand. Es ist aber eben kein Verstand der zerlegt und zergliedert, sondern der funktionale Zusammenhänge durch ihre Wirkung, die sie auf die Sinnlichkeit ausüben, erspürt und so intuitiv erkennt. Das gilt, wenn die Welt als Organismus, aber auch wenn sie als Uhrwerk geordnet ist. Im ersten Fall bildet sich jeder intuitive Verstand gemäß seines Platzes im Organismus aus (oder sollte das tun); im zweiten Fall gibt es einen natürlichen Geschmack (der ja ebenfalls ein intuitiver Verstand ist), der gemäß der Funktion des Geschmacks in der Mechanik der Welt arbeitet. Sinne als urteilende Instanz Voraussetzung136 für den intuitiven Verstand sind Sinne, die nicht nur Reize verarbeiten, sondern die die Funktion haben – und die daher so gewachsen bzw. gebaut sind – Reize nach ihrer Qualität (wohltuend oder schädlich) zu sortieren, um sie danach aufzunehmen oder zurückzuweisen. Durch diese Verlagerung des ästhetischen Urteils in die Sinnesorgane wird dieses objektiviert (und damit zu einer biologischen Angelegenheit) und kann so als Maßstab zur Bestimmung von objektiven ästhetischen Qualitäten von Gegenständen dienen.
135 Siehe dazu: Ulrich Eisel: Emanzipation und Würde in einfachster Form – Die philosophische und politische Struktur funktionalistischer Ästhetik, in: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II, Kassel 2007. 136 Sie sind aber auch Folge des intuitiven Verstandes. In dieser Art ganzheitlichen Denkens ist alles gleichzeitig Ursache und Wirkung.
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Funktionalität der Form Das ein Ding dann schön ist, wenn es gut „konstruiert“ ist, also seine (innere und äußere) Form optimal seinem Zweck entspricht, ist das klassische Argument funktionalistischer Ästhetik. Die Geometrie von Dingen in ihrem Verhältnis zu ihrem Zweck wird so zu einem weiteren objektiven Maßstab für die ästhetische Qualität von Gegenständen – diese kann aber nicht nur gemessen werden (wie zum Beispiel mit Le Corbusiers Modulor und allen möglichen anderen Proportionslehren), sondern kann vor allem vom Geschmack intuitiv erspürt werden, da sich für ihn das Verhältnis zwischen „Konstruktion“ und Zweck (man kann auch sagen zwischen Inhalt und Form) eines Dinges in der Empfindung von Harmonie oder Disharmonie ausdrückt. Medien als Träger von Schönheit Licht und Schall überbrücken die räumliche und zeitliche Distanz zwischen den Dingen und den Fernsinnen Auge und Ohr. Diese beiden Medien vermögen es, die ästhetischen Qualitäten eines Gegenstandes an die urteilenden Instanzen des Seh- und Gehörsinn zu vermitteln. Der Schall tut dies, indem er die Schwingungen eines Dings auf das Ohr überträgt und dieses zum Mitschwingen anregt. Schönheit entsteht dann, wenn diese Schwingung (als harmonischer Klang) Ausdruck eines harmonisch „konstruierten“ Körpers ist. Licht vermittelt die Konstruktion der Dinge an das Auge und ermöglicht es, diese im Auge widerzuspiegeln und zu beurteilen. Das Medium verfügt aber auch über das Ordnungsprinzip des Farbkreises, der durch die Beleuchtung der verschiedenen Flächen eines Körpers wirksam wird und der über Reinheit der Farben, Schattierungen und ihr Zusammenspiel die Harmonie der Konstruktion eines Gegenstandes dem Auge vermitteln kann. Durch diese Bindung des Ästhetischen an Medien ist es möglich, Schönheit als disponible Ressource zu verstehen, die zum Beispiel in Form von Licht, frischer Luft und Grün als funktionale Notwendigkeit für den Menschen verfügbar gemacht werden muss. Das geordnete Ganze Funktionalistische Ästhetik bedarf der Vorstellung vom geordneten Ganzen – das kann wie bei Burke ein Uhrwerk sein oder wie bei Herder ein Organismus. Schönheit wird in diesen Ästhetiken als Eigenschaft von Dingen verstanden, die von den Sinnen wahrgenommen wird und Lust bereitet. Schönheit als Qualität von Dingen ist die Ursache für Wohlgefallen. Es liegt aber nicht nur ein Ver-
138 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
hältnis von Ursache und Wirkung vor, sondern auch eines von Mittel und Zweck. Schönheit hat die Funktion, Eigenschaften von Dingen anzuzeigen, die gut sind – sie ist zweckmäßig für das Wohlergehen des Menschen und darüber hinaus für ein gutes Ganzes von dem der Mensch ein Teil ist. Wie dieses gute Ganze konzipiert ist (und so ein Konzept muss ein politisches Konzept sein), als Mechanik oder Organismus, bestimmt, was in der jeweiligen funktionalistischen Ästhetik unter ästhetischen Qualitäten verstanden wird. Funktionalistische Ästhetiken sind ganzheitliche Schönheitstheorien und finden daher in den Bereichen ästhetischer Praxis besonderen Anklang, denen es um die sogenannte Einheit von Kunst und Leben oder von Schönheit und Alltag geht. Das sind die sogenannten angewandten Künste, wie Design und Architektur mit ihrer Bindung an die Nützlichkeit von Dingen und die Avantgarden der Moderne mit ihrem anti-ästhetizistischen und anti-akademischen Programm. In der künstlerischen Praxis der Protagonisten dieser zwei Bereiche werden die Prinzipien funktionalistischer Ästhetik in ästhetische Ideen und Muster umgesetzt und führen zu so etwas wie einem eigenen Stil – den ästhetischen Funktionalismus. Diesen Funktionalismus als Gestaltungsprinzip gibt es, je nach ästhetischer Idee und dem jeweiligen politischen Verständnis vom guten Ganzen, das dahinter steckt, in zumindest zwei Varianten – als mechanistischen und organizistischen Funktionalismus.137 In den nächsten beiden Kapiteln werden nun zwei Landschaftsverständnisse vorgestellt, die auf funktionalistischen Schönheitsprinzipien in den beiden erläuterten Varianten beruhen: Das ist einmal das von Frederick Law Olmsted geprägte Verständnis von Landschaft als Versorgungstechnik für die wachsenden Metropolen der USA, die ich als Variante des mechanistischen Funktionalismus verstehe; und zweitens die Vorstellung von Landschaft als gewachsene kulturelle Einheit, wie sie in der deutschen Landschaftsgeografie entwickelt wurde, die ebenfalls auf objektivistischen Schönheitsprinzipien beruht, aber in ihrer Übertragung in die Gestaltungspraxis einem organizistischen Funktionalismus folgt. Die beiden Landschaftsverständnisse markieren einen weiteren Formatwechsel nach dem analytischen Stufenmodell dieser Studie: Landschaft wird mit Hilfe funktionalistischer Schönheitsprinzipien von einem Gegenstand anhängender Schönheit zur ästhetischen Hypostase. Das komplette Stufenmodell, nach dem diese Studie methodisch aufgebaut ist, sieht dann folgendermaßen aus:
137 Ulrich Eisel: Emanzipation und Würde in einfachster Form – Die philosophische und politische Struktur funktionalistischer Ästhetik, in: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II, Kassel 2007, S. 64 ff.
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Tabelle 7: Stufenmodell ästhetischer Gegenstände 1. Freie Schönheiten 2. Gegenstände anhängender Schönheit Kunstschönheiten
Ästhetische Idee Muster
Naturschönheiten Schöne Gebrauchsgegenstände 3. Ästhetische Hypostasen Die Anwendung funktionalistischer Schönheitsprinzipien bei Geschmacksurteilen führt zur Konstituierung einer weiteren Klasse ästhetischer Gegenstände, die ich als ästhetische Hypostasen bezeichnen will. Darunter verstehe ich ästhetische Gegenstände (im Normalfall Gegenstände anhängender Schönheit), bei denen, obwohl sie aus der subjektiven Perspektive ästhetischer Erfahrung beurteilt werden („Dieses Ding ist schön“), geglaubt wird, dass man ein praktisches oder moralisches Urteil vollzieht. Dieser Irrtum in der Kategorisierung des eigenen Urteils entsteht durch die Anwendung objektivistischer Schönheitsprinzipien (in unserem Fall in funktionalistischer Form), indem man den Urteilsgrund ästhetischer Urteile, der in der Lust und Unlust des Subjekts zu finden ist, einem Ding als objektive Eigenschaft unterschiebt. Ästhetischer Funktionalismus tut dies in einer spezifischen Form: Er glaubt, dass etwas dann als schön beurteilt wird, wenn es seinen Zweck auf optimale Art und Weise erfüllt. Die Empfindung des Schönen ist in diesem Verständnis Ausdruck der idealen Nützlichkeit des Gegenstandes. Bezogen auf „Landschaft“ stelle ich diesen „funktionalistischen Glauben“ nun in zwei Varianten vor.
6. „Landschaft“ als grüne Stadttechnik
In diesem Kapitel erfolgt die Analyse der Hypostasierung von „Landschaft“ an Hand von Texten der amerikanischen Landschaftsarchitektur des 19. Jahrhunderts, von Frederick Law Olmsted und seines „Schülers“ Charles Eliot. Olmsted und Eliot vertraten ein Landschaftsverständnis, das natural scenery eine objektive Zweckmäßigkeit zuschrieb. Natural scenery wurde als Medium aufgefasst, das, wenn richtig verwendet, positive Wirkung auf den Menschen hat. Darauf aufbauend ist es nach Olmsted und Eliot sinnvoll, eine eigene Infrastruktur zur Versorgung von Großstädten mit diesem Medium zu errichten. Vor allem durch Olmsted wurde „Landschaft“ von einem Gegenstand anhängender Schönheit zu einem technischen Gegenstand weiterentwickelt. Das Muster „Landschaft“ bekam ein neues Format: Abgeleitet von „Landschaft“ als Garten und „freier Landschaft“ wurde es zur Infrastruktur für die Versorgung der wachsenden Metropolen der USA mit „Natur“. Mit dem Formatwechsel wurde der Stadt-Land Gegensatz, der vor allem im Format der freien Landschaft aufgebaut wurde, nicht aufgelöst, aber in Form von Parksystemen, die nach dem Vorbild von technischer Infrastruktur (sogenannter Stadttechnik, wie Kanalisation, Gasnetz, Telegrafennetz, etc.) entstanden, neben Bebauung, Straßen oder Gewerbe in die Stadt eingeflochten. Olmsted übernahm dafür das bereits konventionelle Muster „Landschaft“ des englischen Landschaftsgartens und der picturesquen freien Landschaft und reformierte es durch die ästhetische Idee eines gesunden Freiraumes. Mit diesem Gestaltungsprinzip verknüpfte er zeitgenössische medizinische Theorien und liberale bürgerliche politische Ideen und gewann dadurch eine Innovationsstrategie, um dem Muster „Landschaft“ in seinem neuen Format als Infrastruktur wieder ästhetische Relevanz zu verleihen. Der Formatsprung, den Olmsted damit vollzog, transformierte den ästhetischen Gegenstand „Landschaft“ (als Garten und freie Landschaft) in einen technischen Gegenstand, der nun nicht mehr ästhetisch-symbolisch beurteilt wird, sondern unter praktischen Gesichtspunkten:
142 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG „A park is a work of art, designed to produce certain effects upon the mind of men. There should be nothing in it absolutely nothing – not a foot of surface nor a spear of grass – which does not represent study, design, a sagacious consideration & application of known laws of cause & effect with reference to that end.“
1
Diese Transformation wurde auf Basis einer empiristischen Erkenntnistheorie möglich, wie sie vom britischen Philosophen John Locke vertreten wurde, in der Vorstellungen von Lust und Unlust am Schönen ausschließlich als Folge von sinnlichen Eindrücken verstanden werden, die ihre direkte Ursache in Eigenschaften von Dingen haben und somit naturwissenschaftlich bestimmt und auch technisch produziert werden können. „Central to Locke’s premise and perhaps most significant to Olmsted’s ability to ‘translate’ psychiatric theory into physical form, was Locke’s notion that the imagination was a faculty directly acted upon by visual stimulation. According to ‚Lockean’ theory, that connection between visual stimulation and mental process made possible a direct response between environment change and change in mental processes. As such, it was theoretically possible that both the pleasurable and spiritual responses to such scenes as rural landscape could be used to counteract the ‚evils’ of city life. For urban America and for Olmsted, that theoretical possibility meant that the introduction of visually differentiated designed environments offered the possibility of healthy environmental alternatives to the period’s rapidly growing ‚morbid’ urban environments.”
2
Schreibt man diesen mit Lust verbundenen Wirkungen eine objektive Funktion für die Vitalität des Menschen zu, wie Olmsted das tat, landet man bei einer funktionalistischen Ästhetik nach dem Muster Burkes. Nach Kant wirft dieses Verständnis von Schönheit ästhetische Urteile mit Urteilen über das Angenehme zusammen. Man könnte daher das von Olmsted, Eliot, u.a. entwickelte Format von „Landschaft“ als eine Infrastruktur des Angenehmen bezeichnen. Olmsted und Eliot verstanden Parkanlagen als technische Einrichtungen, die als räumliches System (Infrastruktur) die Bewohner von Großstädten mit den wohltuenden
1
Frederick L. Olmsted: Address to {the} Prospect Park Scientific Association (1868), In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 155.
2
Robert Hewitt: The Influence of Somatic and Psychiatric Medical Theory on the Design of Nineteenth Century American Cities, in: History of Medicine Online, 2003. S. 14-15.
L ANDSCHAFT ALS GRÜNE S TADTTECHNIK | 143
sinnlichen Reizen (Angenehmes) der „Natur“ in Form von Luft, Licht, Vegetation und schönen Aussichten versorgen.
6.1 O LMSTEDS
GESUNDE
F REIRÄUME
FÜR FREIE
B ÜRGER
Olmsted setzte die Landschaftsidee des Landschaftsgartens der Aufklärung fort, der über seine ästhetische Wirkung der moralischen Erziehung des Betrachters im Sinne der Aufklärung dienen sollte. Bei Olmsted war es aber keine symbolische Verbindung zwischen Schönheit und moralischen Ideen mehr, die diese pädagogische Wirkung von „Landschaft“ begründet, sondern Kausalitätsverhältnisse auf psychischer und somatischer Ebene, die sich auf „moral treatment“ und „miasma“ Theorien berufen.3 Olmsted, der während des Sezessionskrieges als „General Seceretary of the Sanitary Comission“ den schlechten Gesundheitszustand der Soldaten der Nordstaaten durch Kontrolle und Vorschläge zur Verbesserung der sanitären Zustände der Truppen verbessern sollte, erhielt durch die Zusammenarbeit mit Medizinern Einblick in zeitgenössische Theorien über die Ursachen der Ausbreitung von epidemischen Krankheiten wie Cholera. So nahm man etwa an, dass Miasmen, d.h. schlechte, krankmachende Luft bzw. Gase, die ihre Quelle in sumpfigen, engen, schlecht durchlüfteten Orten hatten, den Ausbruch von Cholera beförderten. „Landscape characteristics identified with miasmatic theory, found their way into publications distributed during his tenure, describing general rules for preserving the health of soldiers, and addressing the subject of continued fevers, and the nature and treatment of yellow fever and of miasmatic fevers. Important to Olmsted’s later work, the publications referenced miasma’s affinity for dense foliage, the power of vegetation to obstruct and prevent its transmission, the association between miasma and turning up the soil, and its attraction and absorption by bodies of water lying in the course of such winds as waft it from miasmatic source.”
4
Ähnliche miasmatische Orte identifizierte Olmsted in seiner späteren Berufung als Landschaftsarchitekt in den ebenfalls von Seuchen geplagten dichten Quar-
3
Ebd. S. 4ff.
4
Ebd. S. 8.
144 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
tieren und engen Straßen der Industriemetropolen, denen er Luft, Sonne und Vegetation5 zur Miasmabekämpfung und -verhinderung empfahl. „Again, the fact that with every respiration of every living being a quantity is formed of a certain gas, which, if not dissipated, renders the air of any locality at first debilitating, after a time sickening, and at last deadly; and the fact that this gas is rapidly absorbed, and the atmosphere relieved of it by the action of leaves of trees, grass and herbs, was quite unknown to those who established the models which have been more or less distinctly followed in the present street arrangements of our great towns.“
6
Diese Kritik führte bei Olmsted zu keiner anti-urbanen Haltung, aus der heraus er etwa ein alternatives Stadtmodell „ohne Stadt“ propagiert hätte, sondern er lobte die zivilisatorische Leistung 7 der Metropolen, akzeptierte das liberale kapitalistische Modell des Stadtwachstums, schlug aber Maßnahmen zu seiner Reform vor: so z. B. die Einführung von großen Parks und Freiraumsystemen und weniger dichten Bebauungsformen, angelehnt an „Villa Parks“,8 wie er sie 1850 in Großbritannien kennen gelernt hatte9 und wie sie bereits in den USA seit den 1830er Jahren von Investoren entwickelt wurden. „He [Olmsted] suggested incremental growth while incorporating specific landscape typologies in accord with the prevailing medical etiologies as specific objectives meant to counter the evils. In particular three landscape typologies stand out in his writings: low
5
Frederick L. Olmsted: Report of the Landscape Architects and Superintendents (1868), In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 127.
6
Ebd. S. 127.
7
Frederick L. Olmsted: Public Parks and the Enlargement of Towns (1870), In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 171ff.
8
Dolores Hayden: Building Suburbia: green fields and urban growth, 1820-2000, First Vintage Books Edition, 2004. S. 47f.
9
Frederick L. Olmsted: The People’s Park at Birkenhead, near Liverpool. (1851) In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 69ff.
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density urban and suburban neighborhoods, large pleasure parks and smaller local parks, and tree-lined parkways with connecting promenades.“
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Die somatische Wirkung der Umgebung begründete für Olmsted einerseits die Notwendigkeit von Grünanlagen in Städten, andererseits diente sie ihm auch zur Herleitung von grundlegenden Gestaltungsprinzipien, die zur Erreichung positiver gesundheitlicher Wirkungen notwendig sind: Eine ausreichende Größe der Parks, um die Luft durch Sonne und Vegetation reinigen zu können; große offene Rasenflächen, um Durchlüftung und Besonnung zu erreichen; gute Erreichbarkeit von Grünanlagen aus den verschiedenen Stadtteilen, v.a. auch für die ärmere Bevölkerung in den dicht bewohnten Quartieren, um ihre Gesundheit zu verbessern und sogar ihr Leben zu retten.11 Das dritte Gestaltungsprinzip erfordert über große Parks hinaus die Errichtung von parkways, die als landschaftliche Straßen die Erreichbarkeit der Parks verbessern und schon auf dem Weg zum Park therapeutische Wirkung entfalten können. Olmsted argumentierte aber nicht nur mit somatischen Wirkungen, sondern auch psychologisch bzw. psychiatrisch, um seine Ideen zu propagieren. Er verwendete dafür Ideen der moral treatment Bewegung, die, in England entstanden, einen humaneren und vernünftigeren Umgang mit „Irren“ anstrebte und mit ihren Therapien versuchte, aufbauend auf der sensualistischen Idee der gänzlichen Abhängigkeit des Verstandes von Sinneseindrücken, durch fürsorgliche Behandlung, moralische Erziehung und gute Lebensumstände, die sich auch in „gesunder“ Umgebung ausdrückt, die Patienten zu heilen. Diese Idee der gesunden Umgebung für den gesunden Verstand formulierte sich nun für Olmsted im traditionellen Muster „Landschaft“ und somit in natural scenery. Olmsted vereinte in der ästhetischen Idee des gesunden landschaftlichen Freiraumes somatische und psychische Wirkungen: „Evident in both his proposals and within the rationale of moral treatment theory is the separation and antithetical visual differ-
10 Robert Hewitt: The Influence of Somatic and Psychiatric Medical Theory on the Design of Nineteenth Century American Cities, in: History of Medicine Online, 2003. S. 9. 11 „The lives of women and children too poor to be sent to the country, can now be saved in thousand of instances, by making them go to the Park.“ Frederick L. Olmsted: Public Parks and the Enlargement of Towns (1870), In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 197.
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entiation of therapeutic environments from pathogenic environments [...]“,12 wobei Olmsted aus den psychischen Wirkungen von scenery viel differenziertere Gestaltungsprinzipien ableiten konnte als von den somatischen Wirkungen und er so vor allem das Muster „Landschaft“ neu interpretieren konnte. Die wichtigsten Gestaltungsprinzipien für einen großen städtischen Park fasst Olmsted folgendermaßen zusammen: „We want a ground to which people may easily go after their day’s work is done, and where they may stroll for an hour, seeing, hearing, and feeling nothing of the bustle and jar of the streets, where they shall, in effect, find the city put far away from them. We want the greatest possible contrast with the streets and the shops and the rooms of the town which will be consistent with convenience and the preservation of good order and neatness. We want, especially, the greatest possible contrast with the restraining and confining conditions of the town, those conditions which compel us to walk circumspectly, watchfully, jealously, which compel us to look closely upon others without sympathy. Practically, what we most want is a simply, broad, open space of clean greensward, with sufficient play of surface and a sufficient number of trees about it to supply a variety of light and shade. This we want as a central feature. We want depth of wood enough about it not only for comfort in hot weather, but to completely shut out the city from our landscapes. These are the distinguishing elements of what is properly called a park.“
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Das Gestaltungsprinzip des weiten und sanft topografisch geformten Rasens (greensward) soll über die psychische Wirkung hinaus soziale Ziele erreichen: Er soll dazu einladen, sich auf ihm frei zu bewegen, und er soll dazu einladen, sich auf ihm zu versammeln. Diese einladende Wirkung nannte Olmsted hospitality: „[...] I used the term hospitable as descriptive of the essential characteristic of park topography, and that while I hinted at a more recondite significance, in the possible appeal of a hospitable landscape to the simplest instincts of our race, I also described this quality of hospitality to consist in conditions which make the ground appear pleasant to wander over. Among such conditions, one will be the absence of anything which should cause se-
12 Robert Hewitt: The Influence of Somatic and Psychiatric Medical Theory on the Design of Nineteenth Century American Cities, in: History of Medicine Online, 2003. S. 13. 13 Frederick L. Olmsted: Public Parks and the Enlargement of Towns (1870), In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 189.
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vere exertion to the wanderer and another the presence of opportunities for agreeable rest at convenient intervals. Together these conditions imply general openness & simplicity with occasional shelter and shade, which latter will result both from trees and from graceful undulations of the surface.“
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Die hospitality des Rasens wird noch verstärkt durch die Wirkung der Baumgruppen und Wälder, die den greensward einrahmen und vom Lärm und der Nervosität der Stadt abschirmen. Innerhalb dieses räumlichen Arrangements entfaltet sich nun das Muster „Landschaft“ in seiner erneuerten Form: Es ist eine Szene mit weiter, sanfter Topografie von weichem einladenden Rasen bedeckt, umrahmt von Wäldern und Baumgruppen, die ein reiches Schattenspiel bieten. Erfüllt ist dieser Raum von frischer reiner Luft. Also eine klassische pastorale Landschaft. Im Unterschied dazu bevölkern aber nicht nur ein Hirte mit oder ohne Dame und mit Schafen, Ziegen oder Kühen die Szene, sondern Großstädter aus verschiedenen sozialen Klassen, Männer, Frauen und Kinder, die sich versammeln, um in kleinen und großen Gruppen zu spielen oder sich über Politik zu unterhalten; oder sie streifen in Gesellschaft oder alleine über den Rasen, um sich nach einer Weile unter einem Baum auszuruhen. Während die zentralen Rasenflächen die freie Bewegung und die Versammlung von Individuen ermöglichen, finden andere Bedürfnisse, wie z.B. nach Zurückgezogenheit in „sylvan beauty“ oder auch ein zoologischer Garten ihren Platz im bewaldeten Rahmen. Es ist die pastorale Landschaft der liberalen demokratischen und urbanen Gesellschaft der USA, die dem Auge präsentiert wird. Olmsted sah die Parks und Parksysteme, die er plante, als Werkzeug zur physischen und psychischen Heilung und Stärkung von vernünftigen Individuen, die die freie demokratische Gesellschaft der USA ausmachen sollen. „Olmsteds intention to create public spaces that would promote fraternity and the virtues of civilization fits comfortably within the republican tradition. These goals are pursued, however, within a larger intellectual framework—one whose existence Olmsted both presupposes and seeks to shore-up. That tradition is liberalism. In many respects, a model 15
park for Olmsted is an ideal spatial representation of a liberal democratic society.“
14 Frederick L. Olmsted: Address to {the} Prospect Park Scientific Association (1868), In: Ebd. S. 154. 15 Scott Roulier: Frederick Law Olmsted – Democracy by Design; In: New England Journal of Political Science, Volume IV, Number 2, 2010. S. 330.
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Olmsted leitete aus den liberalen Ideen von natürlicher Gleichheit, Bürgerrechten und Freiheit seine funktionalistischen Ideen für die Parkgestaltung ab, die er dann mit den Gestaltungsmitteln des englischen Landschaftsgartens in das Gesamtkunstwerk Park übersetzte: Das ist erstens free movement, die freie und angenehme Bewegung, verkörpert und ermöglicht auf zwei Arten: Durch sanft modellierten Rasen, der zur Bewegung einlädt oder durch die den gesamten Park erschließenden Wege, die nach Fortbewegungsarten (zu Fuß, per Kutsche, per Pferd) getrennt, geführt werden, um den jeweiligen Weg gestalterisch für die Fortbewegung optimieren zu können und um gegenseitige Störung zu verhindern. Free movement ist symbolisch bezogen auf die Idee der Freiheit. Die zweite funktionalistische Idee ist easy access, die einfache Zugänglichkeit der Parks für alle Klassen der Gesellschaft. Diese wird dadurch gewährleistet, dass Parks so im Stadtraum positioniert werden, dass keine weiten Entfernungen zurückgelegt werden müssen, um sie zu erreichen. In großen Metropolen ist nach Olmsted dafür die Errichtung von Parksystemen notwendig, die diese Versorgung mit Parks in der Fläche ermöglichen. Der Zugang wird zusätzlich noch durch parkways erleichtert, die als lineare Parkräume einzelne Parks verbinden und die Verbindung zu weiter entfernten Stadtvierteln herstellen. Easy access für alle Stadtbewohner ist bezogen auf die Idee der Gleichheit im liberalen Sinne, in Form gleicher Bürgerrechte für alle. Die dritte funktionalistische Idee ist free association, die Versammlung freier Bürger aus politischen, vergnüglichen, religiösen oder familiären Gründen auf den großen Rasenflächen und in Parkräumen, die spezifischen Bedürfnissen gewidmet sind, wie Versammlungsplätze, Konzertpavillons, etc. Olmsted adressiert hier den Menschen als soziales Wesen, der von Natur aus frei und gleich, freiwillig Bindungen seinen individuellen Bedürfnissen folgend eingeht. Diese funktionalistische Idee wird dadurch eingelöst, dass die Rasenflächen groß genug sind, um die verschiedenen Gruppen und Versammlungen ohne gegenseitige Störung zu ermöglichen und durch eine Vielzahl von Nutzungsangeboten für unterschiedliche Nutzergruppen in anderen Parkteilen ausreichend Raum bieten.16 An diesen drei Ideen zeigt sich deutlich, dass Olmsteds Gestaltungsprinzipien symbolisch auf die politischen Ideen des Liberalismus bezogen waren, aber gleichzeitig dieses Analogieverhältnis mit Hilfe von Miasma-Theorie und Moral Treatment-Theorie hypostasiert wurde. Diese Hypostasierung markiert den Formatwechsel vom Landschaftsgarten der Aufklärung zur Parkinfrastruktur in Form eines urbanen Parksystems. Im Landschaftsgarten waren die Gestaltungs-
16 Siehe zu diesem Abschnitt: Scott Roulier: Frederick Law Olmsted – Democracy by Design; In: New England Journal of Political Science, Volume IV, Number 2, 2010.
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prinzipien des Musters „Landschaft“ symbolisch auf die Ideen des Liberalismus bezogen, indem durch die Gestaltung und das Bildprogramm Ideen angeregt werden sollten, die zur Bildung des Parkbesuchers im Sinne der Aufklärung führen. In Olmsteds Parksystemen war dieser Zusammenhang nicht mehr bloß symbolisch-assoziativ gedacht, sondern kausalistisch, indem die Gestaltung eines Parks Auswirkungen auf den Körper und die Psyche des Parkbesuchers haben sollte und dadurch die schädlichen Aspekte urbaner Zivilisation ausgeglichen werden können und gleichzeitig Erziehung im Sinne der Aufklärung und eines US-amerikanischen „nation buildings“ stattfinden sollte. Den Widerspruch zwischen aufklärender Wirkung der Metropole, die Olmsted immer wieder betonte, bei gleichzeitiger Schädlichkeit für das liberale Subjekt, konnte Olmsted durch Parksysteme nur mildern, aber nicht auflösen. Er entwickelte daher konsequenterweise eine Stadtidee weiter, die liberale Stadtentwicklung und Parksystem miteinander verschmolz – suburban villages oder wie Haydn sie nennt: „picturesque enclaves“.17
6.2 D IE E RFÜLLUNG
DES
B EDÜRFNISSES
NACH NATURAL SCENERY Olmsted verfolgte seinen funktionalistischen Gestaltungsansatz aber nicht nur im Zusammenhang mit urbanen Parkanlagen, sondern ebenso bei natural scenery, die nicht vom Menschen geschaffen wurde. Hier bezog er seine Gestaltungsideen nicht aus der Ideenwelt des englischen Landschaftsgartens, sondern von den Theorien des Picturesque über die ästhetischen Qualitäten freier Landschaft bzw. von natural scenery, wie sie in dieser Studie am Beispiel von William Gilpin und Uvedal Prices vorgestellt wurden. Die gesundheitliche und moralische Wirkung von Parkanlagen bestand für Olmsted vorwiegend darin, free movement und free association bei den Benutzern anzuregen – die geeignete Gestaltung besteht daher im pastoral style mit sanftem grünen Rasen und einladenden Baumgruppen. Die Wirkung von natural scenery hingegen besteht darin, zur Kontemplation anzuregen und durch interesselose Betrachtung die Psyche des nervösen Großstädters zu entlasten. „It is a scientific fact, that the occasional contemplation of natural scenes of an impressive character, particularly if this contemplation occurs in connection with relief from ordinary
17 Dolores Hayden: Building Suburbia: green fields and urban growth, 1820-2000, First Vintage Books Edition, 2004. S. 45ff.
150 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG cares, change of air and change of habits, is favorable to the health and vigor of men and especially to the health and vigor of their intellect beyond any other conditions which can be offered them, that it not only gives pleasure for the time being put increases the subsequent capacity for hapiness and the means of securing hapiness.“
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Diese auf Naturgesetzen basierende Wirkung von natural scenery geht aber über Kontemplation und Erholung hinaus: Natural scenery dient der Zivilisierung der Menschen und damit der amerikanischen Nation. Es ist daher die politische Pflicht der Regierung, besonders bedeutende natural scenery für alle Bürger der Nation öffentlich zugänglich zu machen und als National Parks vor Privatinteressen zu schützen.19 Wie Olwig zeigt, wurden Olmsteds Natur- und Landschaftsideen stark von Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson geprägt.20 Folgende Ideen stellt Olwig dabei als zentral für Olmsted heraus: 1. Scenery ist nicht nur ästhetisch „frei“ im Sinne Kants, sondern auch „frei“ dafür, von jedermann in Besitz genommen zu werden – aber eben nur als scenery – einem Gegenstand mit bestimmten psychischen und physischen Wirkungen auf den Betrachter. Dieses Olmstedsche Verständnis von „Besitz“ von scenery führt Olwig auf Ideen von Emerson und Thoreau zurück: „For Emerson this landscape [the American scenery] belonged primarily to the surveying eye, whereas for Thoreau, [...], it belonged primarily to the treading foot. [...] The countryside of the United States was not owned, however, by country gentry, as it was in Europe, but, as a scenic vision, by each and every individual.“
21
2. Der Blick auf die unendlich aneigenbare Natur bringt symbolisch die Idee des menschlichen Fortschritts durch Naturaneignung zur Erscheinung. Olmsteds Verständnis einer symbolischen Verknüpfung von scenery und Fortschritt in Form von symbolischer Naturaneignung durch die Konsumption von natural scenery führt Olwig ebenfalls auf Ideen Emersons und Thoreaus zurück:
18 Frederick Law Olmsted, zitiert nach: Kenneth Robert Olwig: Landscape, Nature, and the Body Politic – From Britain’s Renaissance to America’s New World, Madison 2002. S. 200. 19 Ebd. S. 200. 20 Siehe dazu: Kenneth Robert Olwig: Landscape, Nature, and the Body Politic – From Britain’s Renaissance to America’s New World, Madison 2002. S. 182 ff. 21 Ebd. S. 192.
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„Emerson’s landscape vision of nature, like Thoreau’s conception of the natural potentiality of the Wild West, was fundamentally directed toward the realization of human development. [...] Man looks into this infinite nature in order to find a reflection of his own infinite possibilities. [...] This landscape vision, [...], provides a reflection of nature’s laws of development in a world envisioned as a scene of action for man.“
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Das picturesque eye eignet sich in diesem Sinne das jungfräuliche (naturalisierte) Land des neuen Kontinents ästhetisch und materiell an. Die Expansionsrichtung der ästhetischen Aneignung weist in die gleiche wie die der territorialen Expansion der USA – in Richtung Westen. Sowohl der ästhetische Blick auf Land als scenery, wie auch die freie Bewegung des Subjekts sind den Gesetzen der Natur folgende Bedürfnisse, die der Entwicklung einer zivilisierten Gesellschaft entsprechen. So schreibt Olmsted: „The power of scenery to affect men is in a large way, proportionate to the degree of their civilization and to the degree in which their taste has been cultivated.“23 Die Förderung dieser Bedürfnisse ist daher geboten, um die Entwicklung der USA – ihrer Natur folgend – in Richtung Westen zu vollenden. Es ist daher kein Wunder, dass Olmsted keine gute Meinung über Indianer hatte. Sie stehen der Ausbreitung der Zivilisation und dem picturesque eye im Weg.24 Natural scenery hat ihren Platz auch in bestimmten Bereichen von städtischen Parks, aber nur als eine von vielen Nutzungsangeboten, wie z.B. die „Wildnis“ von The Ramble in New Yorks Central Park. Natural Scenery für die kontemplative Nutzung findet sich in viel größerem Ausmaß „draußen“ in der Natur – in der nicht vom Menschen gemachten Welt – in der wilderness. Auch diese bedarf aber in Olmsteds Verständnis der Gestaltung. Und zwar in drei Punkten: Erstens sind in der Denktradition der improvements die Werke der Natur durchaus nicht ohne Fehler und müssen durch Gestaltung verbessert werden. Olmsted beschränkt das improvement der Natur aber nicht auf die symbolischmoralische Ebene, sondern er versteht es durchaus technisch-naturwissenschaftlich. Denn die Produkte der Natur können nach der Miasma-Theorie auch gesundheitsschädlich sein. Die Natur entspricht für Olmsted sowohl ästhetisch wie auch praktisch nicht gänzlich den Ansprüchen des Menschen. Im Streit über die Einrichtung einer „Niagara Reservation“ und damit verbunden über den ge-
22 Ebd. S. 190. 23 Frederick Law Olmsted, zitiert nach: Kenneth Robert Olwig: Landscape, Nature, and the Body Politic – From Britain’s Renaissance to America’s New World, Madison 2002. S. 201. 24 Siehe dazu: Ebd. S. 201f.
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stalterischen Umgang mit der Umgebung der Niagarafälle positioniert er sich daher folgendermaßen: „First, then, we are far from thinking that all that is required to accomplish the designed end is to ‚let Nature alone’. Incongruities, discordancies, disunities and consequent weaknesses of natural scenery may result, even at Niagara, from natural causes which, though not as unpleasing to an observer of fine sensibilities as those from the so-called park improvements that have been mentioned, are yet decidedly regrettable. Of this character, for instance, are the immediate results of landslides, where otherwise quiet river banks have been undermined by eddies caused by a temporary snagging near them of drifting stuff. Of this character trees, the branches of which have been broken down by ice or stripped of foliage by vermin, or the roots of which have been made inert by an accidental puddling of the clayey surface above them, or by torrents washing the soil from them, and much else, of which examples may be found in the Reservation.“
25
Zweitens ist es die Aufgabe des Gestalters, im Zusammenhang von natural scenery dafür zu sorgen, dass Artefakte die Wirkung des Anblicks nicht schmälern. „The result of the larger part of all operations, with which the public has for many years past been familiar, that have passed under the name of improvements, and especially of ‚landscape’ or of ‚park’ improvements, has been that of presenting objects for admiration calculated to draw off and dissipate regard for natural scenery.“
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Denn die Schönheit von freier Landschaft beruht auf ihrem natürlichen Eindruck – auch hier zeigt sich Olmsted als Schüler der “Picturesquen”. Daher schreibt er: “[...] the more artificial features fill the eye the less will be the effect of the natural features.“27 Olmsted kritisiert im Zusammenhang von Niagara vor allem die Errichtung von Parkanlagen, die mit Brunnen, exotischen Pflanzungen, protziger Möblierung und anderer „exhibition of garden finery conceivably pleasing in some other situation“28 vom Wasserfall ablenken, wie auch von Lichtanlagen,
25 Frederick L. Olmsted: General Plan fort he Improvement of the Niagara Reservation. (1887), In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 542. 26 Ebd. S. 539. 27 Ebd. S. 537. 28 Ebd. S. 540.
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Konzerthäusern, Museen, Bibliotheken in unmittelbarer Nähe des Wasserfalls, die nicht der kontemplativen Aufgabe des Wasserfalls dienen. Drittens ist es die Aufgabe von Gestaltern, genauso wie bei urbanen Parkanlagen, für easy access zu sorgen damit der Anblick von natural scenery nicht zum Privileg für einige Auserwählte wird, sondern allen Klassen der Gesellschaft zu gute kommt. Zugunsten der notwendigen Erschließung muss erst recht auf alle Artefakte, die anderen Nutzungen dienen, verzichtet werden. Der Nutzen, dass möglichst viele Besucher die natural scenery genießen können, steht über Einzelinteressen. „Having regard to the enjoyment by visitors of natural scenery, and considering that the means of making this enjoyment available to large numbers of them will unavoidably lessen the extent and value of the primary elements of natural scenery, nothing of an artificial character should be allowed a place on the property, no matter how valuable it might be under other circumstances and no matter at how little cost it may be had, the presence of which can be avoided consistently with the provision of necessary conditions for making the enjoyment of the natural scenery available.“
29
Olmsted ist sich des Konfliktes bewusst, dass er durch die Erschließung von natural scenery gleichzeitig ihre ästhetische und gesundheitsförderliche Wirkung, die ja im Unterschied zur Parkszenerie auf Kontemplation beruht, einschränkt. So erschließt er z.B. bestimmte Aussichtspunkte nicht für den Kutschenverkehr, obwohl es eine populäre picturesque Praxis ist, natural scenery von der Kutsche aus zu genießen. Olmsted formuliert hier ein Gestaltungsprinzip aus, das auf der Ausblendung von Artefakten aus einer Naturszene beruht – sogar soweit wie möglich des Artefaktes, das den Betrachter überhaupt erst an die Szene herangeführt hat, indem zum Beispiel eine Aussichtsstraße so gestaltet wird, dass sie bei der Bildbetrachtung nicht ins Blickfeld gerät. Olmsteds Bestrebungen zur „conservation of the natural scenery at Niagara“30 – er forcierte selbst jahrelang die Gründung der Niagara Reservation – und anderer Naturszenerien waren dadurch geprägt, dass er natural scenery als wirksamen Gegenstand zur Förderung der menschlichen Gesundheit sah. Natural scenery ist für ihn, genauso wie park scenery, Gegenstand einer technisch-naturwissenschaftlich konzipierten Ästhetik. Die Bedeutung von Natur besteht daher für ihn in ihrer technisch-ästhetischen Wirksamkeit als natural scenery – sie hat
29 Ebd. S. 546. 30 Ebd. S. 543.
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für Olmsted keinen Selbstzweck (oder zumindest ist dieser nicht wichtig für seine Arbeit als Landschaftsarchitekt).
6.3 D IE H ERSTELLUNG VON NATURAL SCENERY ALS A UFGABE DES L ANDSCHAFTSARCHITEKTEN Olmsteds funktionalistischen Gestaltungsansatz zeigen auch Projekte, bei denen er – heute würde man sagen – Ökosysteme entwirft.31 Olmsted wurde 1878 damit beauftragt, einen Plan für die Back Bay in Boston zu verfassen. Back Bay ist Marschland („natural tidal basin“)32 am Zusammenfluss von Muddy River und Stony Brook, das in den Charles River entwässert. Das Gelände wurde 1877 von der Stadt Boston gekauft, um dort den Back Bay Park als Teil des Bostoner Parksystems zu errichten und gleichzeitig die Verschmutzung und den Gestank der Back Bay durch eingeleitete Abwässer in den Griff zu bekommen. Während des Tidenhochstandes kam es zu einem Wasserrückfluss aus dem Charles River und somit zur Überflutung des Basins, verbunden mit dem Absetzen von Schmutz und Fäkalien auf den Marschflächen. Nach einem gescheiterten Wettbewerb für die Planung eines Parks wurde Olmsted damit beauftragt, einen Vorschlag für die Umgestaltung des Geländes zu machen. Da er die Idee, auf diesem Gelände eine Park zu errichten, abwegig fand33 – da unter den vorhandenen Bedingungen kaum pastoral scenery baubar gewesen wäre – griff er auf die Idee des Improvements zurück und entwickelte das problematische Gelände als natural scenery. Er stellte sich mit seiner Planung zwei Gestaltungsaufgaben: Erstens die Lösung des Problems der Verschmutzung der Back Bay durch zurückfließende Abwässer unter Gewährleistung des Schutzes der Bebauung vor Überflutung. Zweitens die Herstellung von natural scenery und ihre Erschließung durch Wege und Straßen. Beides war mit den erprobten Gestaltungsmitteln für urbane Parks nicht zu erreichen. Olmsted setzte sich daher mit W. H. Bradley zusam-
31 Z.B. Martin Prominski: Ökosysteme Entwerfen, in: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II, Kassel 2007. S. 146ff. 32 Frederick L. Olmsted: Paper on the {Back Bay} Problem and its Solution, Read Before the Boston Society of Architects (1886), In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 443. 33 „In my opinion the whole scheme of a park at this point was an illconsidered one.“ Ebd. S. 441.
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men, dem „Superintendent of Sewers“ für die Stadt Boston, einem civil engineer, und erarbeitete mit ihm einen Regulierungsplan, der die Verschmutzungsproblematik löste und eine „landschaftliche“ Gestaltung der Flussregulierung ermöglichte. Olmsted entwarf im Manuskript für einen Vortrag vor der Boston Society of Architects über die Back Bay Planung einen idealisierten Dialog zwischen civil engineer und Landschaftsarchitekt. Olmsted fragt darin Bradley, sich auf ein „basin like that in Providence“ als best-practice beziehend, schrittweise die Lösung verschiedener Probleme durch Ingenieurtechnik ab. Er verfolgt dann im Fortgang des Dialogs immer diejenige ingenieurtechnische Lösung weiter, die eine Gestaltung des Geländes nach dem Muster „Landschaft“ ermöglicht. Ich gebe beispielhaft Ausschnitte des Dialogs wieder: „‚Can sewege matter be kept out of the basin?’ Answer, ‚yes, by intercepting sewers.’ ‚But the ordinary flow of streams will yet be often foul; can this flow, except in the emergencies for which the basin is needed, be kept out of it?’ Answer, ‚Yes by conduits of moderate dimensions laid outside the basin.’ ‚That being the case, can the basin when not required for its main purpose be kept clean and sweet?’ Answer, ‚yes by flooding it as far as necessary for the purpose with salt water, letting this move in and out enough to avoid stagnation.’“
34
Olmsted fragt weiter, ob bei Verwendung von hohen Mauern für den Rand des basin durch die wechselnden Wasserstände sich nicht Schleim auf den Maueroberflächen ablagern würde, was Bradley bejaht. Olmsted schlägt stattdessen „sloping earthen banks“ vor. Worauf Bradley auf die Gefahr des Auswaschens der Böschungen hinweist, wenn sie nicht so flach wie Meeresstrände sind, und auf den großen Platzbedarf von flachen Böschungen. Worauf Olmsted Bradley bittet, doch zu überlegen, ob es möglich wäre, Uferböschungen für das basin zu bauen, wenn es keinen Wellenschlag gäbe und daher auch keine Auswaschung. Dieser rechnet nach und kommt zu dem Schluss, dass eine solche Lösung funktionieren würde: „’By taking care that there shall nowhere be any great breadth of water for the wind to act upon, we may avoid the liability to waves of destructive force. By taking care that the slope of the bank between high and low water level, shall be at an inclination of about 1 to
34 Frederick L. Olmsted: Paper on the {Back Bay} Problem and its Solution, Read Before the Boston Society of Architects (1886), In: Charles E. Beveridge, Carolyn F. Hoffman (Hg.): The papers of Frederick Law Olmsted: Writings on Public Parks, Parkways, and Park Systems, Baltimore London 1997. S. 444.
156 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG 6; by making the breadth of ground to be flooded during freshets so great that the difference between high and low water need not exceed four feet and by providing for a growth of foliage on the banks, not liable to be flooded with salt water, that will obscure the margin, should we not have a result that would serve all the engineering requirements as well as they would be served in a basin of masonry and be much less objectionable on the score of taste?’ Ans. ‚We should.’“
35
Der Dialog zeigt, dass Olmsted, auf ein ingenieurtechnisches Beispiel referierend (das basin in Providence), das ihm als Ausgangspunkt geeignet erschien, iterativ, diejenigen ingenieurtechnischen Möglichkeiten auswählte, die sich ins Muster „Landschaft“ einfügen mit dem Ziel natural scenery, in diesem Fall in Form eines „salt creek“ und einer „salt marsh“, herzustellen. Die Herstellung von natural scenery war, zugespitzt formuliert, für Olmsted eine von mehreren Zielen der Flussregulierung und somit eine technische Aufgabe. Für ihre Erfüllung ist aber nicht der civil engineer zuständig, der sich mit der Kausalität zwischen landschaftlicher Naturschönheit und menschlicher Psyche nicht auskennt, sondern Fachleute für die Herstellung und den Schutz von natural scenery, nämlich Landschaftsarchitekten. Olmsted argumentierte, entgegen der Interpretation seiner Planungen als Beispiele für eine ästhetische Praxis der Kooperation von Mensch und Natur,36 auch im Zusammenhang mit oben ausgeführtem Beispiel als Ingenieur: Natural scenery ist schön, weil sie im Sinne von subjektiver sinnlicher Lust und Wohlbefinden angenehm für den Betrachter ist. Dass sie dadurch zu etwas dienen kann (z.B. zur Entlastung von der Nervosität der Stadt), zeigt, dass Olmsted Schönheit als Affekte auslösende Eigenschaft eines Gegenstandes betrachtete, die technisch genutzt werden kann.
6.4 V OM
URBANEN P ARKSYSTEM ZUM METROPOLITANEN F REIFLÄCHENSYSTEM
Die beiden wichtigsten Arbeitsfelder Olmsteds, die Errichtung urbaner Parksysteme und die Sicherung und Erschließung von natural scenery, wurden von seinem „Schüler“ Charles Eliot in der Planung des Bostoner „Metropolitan Park
35 Ebd. S. 444. 36 Siehe dazu: Ann Whiston Spirn: Constructing Nature: the Legacy of Frederick Law Olmsted, in: William Cronon (Ed.): Uncommon Ground: Rethinking the Human Place in Nature, W. W. Norton & Company 1996. S. 110ff.
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Systems“37 zu einem neuen Gestaltungskonzept im regionalen Maßstab vereint. Eliot nahm dabei als Landschaftsarchitekt der „Metropolitan Park Commission“38 nicht nur die zentralen Bereiche Bostons in den Blick, sondern, einen Bereich, der „towns and cities within eleven miles of Boston“39 umfasste. Eliot bereiste mit der Kommission diesen „metropolitan district“ und kartierte natural scenery, die Teil eines Parksystems werden könnte. Eliot war, wie Olmsted, ein erfahrener picturesque traveller, der vor allem mit dem Umland von Boston vertraut war: „Charles Eliot was a landscape flâneur, a constant but attentive wanderer, and a connoisseur of landscape forms. While still a teenager, Eliot began in 1875 to take a series of walking tours, often tied to the termini of public transportation routes, that allowed him to visit natural areas throughout the greater Boston basin. In his diary of 1878, he provides a ‚Partial List of Saturday Walks before 1878.’ Eliot would later recommend many of these sites as additions to the Metropolitan Park System.“
40
Nach der Bereisung des Gebiets sollten folgende Räume Teil des Parksystems werden: „As I conceive it, the scientific ‚Park system’ for a district such as ours would include — (1) Spaces on the ocean front. (2) As much as possible of the shores and islands of the Bay. (3) The courses of the larger tidal estuaries (above their commercial usefulness), because of the value of these courses as pleasant routes to the heart of the city and to the sea. (4) Two or three large areas of wild forest on the outer rim of the inhabited area. (5) Numerous small squares, playgrounds, and parks in the midst of the dense populations.“
41
Bemerkenswert erscheint mir, dass Eliot das Parksystem als „scientific“ bezeichnet. Er meinte damit nun nicht, dass das künftige Parksystem irgendeinen technisch-naturwissenschaftlichen Nutzen im Sinne von Ökosystemleistungen
37 Charles W. Eliot (Hg.): Charles Eliot – Landscape Architect, Boston New York 1902. S. 681. 38 Ebd. S. 380. 39 Ebd. S. 352. 40 Keith N. Morgan: Muskau and America: Pückler’s Influence on Charles Eliot and Regional Landscape Planning in the Unites States, in: Sonja Duempelmann: Bulletin of the German Historical Institute, Supplement 4. S. 68. 41 Charles W. Eliot (Hg.): Charles Eliot – Landscape Architect, Boston New York 1902. S. 381.
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erbringen soll, sondern wie für Olmsted bestand für ihn der Nutzen in der psychischen Wirkung der Naturschönheit auf das Wohlbefinden des Menschen. Daher war für Eliot ein Parksystem ein Produkt der Wissenschaft. Ich vermute, dass schon die Bereisungen des Gebietes von ihm als wissenschaftliche Analyse verstanden wurden. Auch William Gilpin verstand, obwohl seine picturesque travels gar nicht auf eine technische Verwertung der natural scenery aus waren (aber sehr wohl auf eine literarische), seine Tourbeschreibungen bereits als Analyse: „Picturesque description is not a string of rapturous epithets, but an attempt to analyse the views of nature, and to express all the details in terms as appropriate and vivid as possible.“
42
Auch Eliot sah in seiner Funktion als Landschaftsarchitekt der Metropolitan Park Commission die Notwendigkeit, die gefundenen „prospects und views“ der Bereisung so zu präsentieren, dass die Mitglieder der Kommission einen rationalen Diskurs darüber führen konnten, welche natural scenery in das Parksystem aufgenommen werden sollten. Eliot suchte zu diesem Zweck in einem öffentlichen Aufruf „one hundred representative views of landscape near Boston“.43 Auch wenn diese empirische Methode zur Analyse der Landschaftsschönheiten um Boston nicht aufging, da zu wenige Fotos eingereicht wurden – vor allem fehlten Fotos von natural scenery, die bereits unter „uglifications“44 litt – erscheint sie mir im Zusammenspiel mit den im Zuge dieser Analyse produzierten Karten repräsentativ für das sensualistische Prinzip der Scientifizierung des Ästhetischen durch Olmsted und Eliot. Aus der vollzogenen Verbindung zwischen view und Karte (also Fläche), lässt sich im Rahmen von Planung, wie sie die Metropolitan Park Commission für Boston betrieb, natural scenery und damit natural beauty quantifizieren und so ihre Menge bewerten und zwar in Form von Flächenvergleichen von open spaces in verschiedenen Städten. Eliot produzierte dafür Karten, die Paris, London und Boston im selben Maßstab mit ihren jeweiligen Freiflächen zeigen.45
42 Zitiert nach: Christopher Hussey: The Picturesque: Studies in a Point of View, Reprint der Erstauflage von 1927, London Edinburgh 1967. S. 65ff. 43 Charles W. Eliot (Hg.): Charles Eliot – Landscape Architect, Boston New York 1902. S. 381. 44 Ebd. S. 382. 45 Ebd. Abbildungen S. 384-385.
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„Most of the greatest centres of the population of the world have now accepted the teachings of bitter experience, and have provided themselves with the necessary and desirable open areas, albeit at immense expense and with great difficulty. The accompanying diagrams show the extent of the public open spaces now existing in the neighborhood of Par46
is and of London, in comparison with those now existing near Boston.“
Der Vergleich zeigt, dass Boston über viel weniger open spaces verfügte und damit auch über weniger natural beauty und dass die Errichtung eines Parksystems und die Arbeit der Metropolitan Park Commission notwendig sei. Durch den Konnex zwischen view und Fläche konnte nun das Muster „Landschaft“ unter dem Begriff public open space mit Freiflächen vereint werden, wie z.B. Sportflächen, Festplätzen, Kinderspielplätzen, etc., deren Wirksamkeit größer wird, je mehr es davon gibt (Bewertung über Menge an Fläche), und über deren Verteilung im Stadtgebiet (Bewertung über Entfernung). Das Muster „Landschaft“ ging im public open space auf, und natural beauty wurde berechenbar.
6.5 D IE R ÜCKBINDUNG
VON
F REIFLÄCHEN
AN DEN GENIUS OF PLACE Charles Eliot wurde, wie Olmsted, durch eine Studienreise nach Europa von dortigen Landschaftsideen beeinflusst. Er übernahm, begeistert vom Werk Hermann von Pückler-Muskaus, aber sicherlich auch von den picturesquen Landschaftsgestaltern Humphry Repton, Uvedale Price und Richard Payne Knight, die ästhetische Idee singulärer lokaler Identität durch Beachtung des genius of place in seine Gestaltungsprinzipien. Die Bedeutung von Pücklers Gedanken für die amerikanische Landschaftsgestaltung fasste Eliot folgendermaßen zusammen – wobei er damit auch Kritik an Olmsteds universellem Gestaltungsprinzip des pastoral style für Parkanlagen übte: „The significance for us Americans of this work at Muskau is very obvious. To be sure, at least one third of our great country is so arid that luxuriant vegetation must depend on irrigation; and, where this is the case, a pleasure ground becomes an oasis to be sharply marked off from, and contrasted with, the surrounding waste. Spanish models will help us here. But the other half of our continent presents verdurous scenery of many differing types, from the rocky Pine woods of Quebec to the Palmetto thickets of Florida. Throughout this varied region there is a woeful tendency to reduce to one conventional form all
46 Ebd. S. 385.
160 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG such too meagre portions of the original landscape as are preserved in private countryseats and public parks. What shall check this tiresome repetition of one landscape theme? When shall a rich man or a club of citizens, an enlightened town or a pleasure resort, do for some quiet lake-shore of New England, some long valley of the Alleghanies, some forest-bordered prairie of Louisiana, what Pückler did for his valley of the Neisse? He preserved everything that was distinctive. He destroyed neither his farm nor his mill, nor yet his alum works ; for he understood that these industries, together with all the human history of the valley, contributed to the general effect a characteristic element only second in importance to the quality of the natural scene itself.“
47
Ich denke, dass Eliot Pückler-Muskaus ästhetische Ideen nicht im Kontext ihrer Bezugnahme auf die politischen Ideen der deutschen Gegenaufklärung aufgefasst hat. Für Pückler war die Errichtung seiner Landschaftsgärten u.a. auch ästhetisches Symbol für seine Verwurzelung und das Verfügungsrecht über das Land auf Grund seines Stammbaumes. Diese politische Idee wird dem Sohn des langjährigen Präsidenten der Harvard University aus der puritanischen Bostoner Oberschicht nicht ganz fremd erschienen sein. Ich denke dennoch, dass die Forderung Eliots nach landschaftlicher Individualität und Eigenart nicht dem organizistischen Denken der deutschen Gegenaufklärung48 oder den konservativen Gartenideen des Landadeligen Uvedal Price entsprang, sondern den Landschaftsideen des picturesque travel, wie sie von Gilpin vertreten wurden. Das von Gilpin vorgestellte Format des ästhetischen Erlebens von „Landschaft“ verlegt die Notwendigkeit künstlerischer Innovation in den Raum, den der Reisende durchquert. Der Reisende sucht in seiner Bewegung übers Land Erscheinungsmaterial, das er im Betrachten mit entsprechender Übung zur freien Landschaft komponieren kann. Da der Reiz dieser Tätigkeit sich sehr schnell erschöpfen würde, wenn man immer gleiches Erscheinungsmaterial zur Tätigkeit des Komponierens nach dem Muster „Landschaft“ verwenden würde, sucht der picturesque traveller neues Erscheinungsmaterial. Da das Muster kaum verändert wird, muss immer neues Erscheinungsmaterial erschlossen werden, um für Innovation zu sorgen. Dies führt zur Expansion des picturesque eye. Das literarische Geschäftsmodell William Gilpins, seine picturesque descriptions, beruhten auf dieser Suche nach Abwechslung. Es gibt daher auch eine liberale Variante von
47 Ebd. S. 362-363. 48 Siehe dazu: Andrea Siegmund: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt. Dissertation Technische Universität München, 2010. Kapitel 8, S. 278-322.
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landschaftlicher Eigenart – ihr geht es um variety.49 Gleichwohl wohnt der Verknüpfung von „wissenschaftlichen“ Parksystemen mit dem genius of place, wie Eliot sie vornimmt, ein bewahrendes, wenn nicht sogar sentimentales (Rückbezug auf die Kindheit) Moment inne. Es soll nicht nur die funktional beste Lösung zählen, sondern auch das was schon vorher da war – Natur und Tradition.
6.6 V ON
DER SCENERY ZUM
N UTZWERT
Das maßgeblich von Olmsted und Eliot entwickelte landschaftliche Muster des urbanen und metropolitanen Parksystems spielte eine zentrale Rolle im deutschsprachigen Diskurs über die Bedeutung und räumliche Anordnung von Grünflächen in den wachsenden Metropolen an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Bedeutung von Grünflächen wurde in einflussreichen Schriften zum Städtebau zwar immer wieder betont, z.B. von Reinhard Baumeister,50 Joseph Stübben,51 Camillo Sitte,52 aber es wurde im liberalen Städtebau keine realisierbare Form für die Anordnung und Entwicklung dieser Flächen gefunden. Das vielfach rezipierte Park-System aus den USA lieferte ein Modell, das dieses Problem löste. Vor allem die Publikationstätigkeit von Werner Hegemann bereitete das Feld für die Übernahme des Musters in die Freiflächenpolitik.53 Im Zuge des Wettbe-
49 Zur Bedeutung von variety für die Gestaltungsprinzipien des Landschaftsgartens siehe: Tim Richardson: The Arcadian Friends – Inventing the English Landscape Garden, London 2008. S. 144ff. Er schreibt dazu auf Seite 146: „Variety could even be said to be politically appropriate to the Whig cause, for a sense of onward movement and development within a controlled environment was the Whig template for individual, economic and civic progress. In the personal sphere, a reverence for variety was associated with liberty. “ 50 Reinhard Baumeister: Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirthschaftlicher Beziehung. Berlin 1876. 51 Joseph Stübben: Der Städtebau. Reprint der 1. Auflage von 1890, Braunschweig, Wiesbaden 1980. S. 439ff. 52 Camillo Sitte: Großstadt-Grün, in: der lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur 1. Jg., Heft 5, 3. November 1900, S. 139-146; Heft 7, 17. November 1900, S. 225-232; Abgedruckt in: Karin Wilhelm, Detlef Jessen-Klingenberg (Hg.): Formationen der Stadt: Camillo Sitte weitergelesen, Basel, Berlin 2006, S. 292ff. 53 Ein anderes wichtiges Referenzprojekt war der Wiener Wald- und Wiesengürtel, der 1905 beschlossen wurde. Damit sollte der Wienerwald vor Bebauung und Zerstörung geschützt und ein Freiflächensystem für das erweiterte Stadtgebiet hergestellt werden.
162 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
werbs für Groß-Berlin und der darauf im Jahre 1910 folgenden „Allgemeinen Städtebau-Ausstellung“ propagierte Hegemann US-amerikanische Parksysteme als nachahmenswert für deutsche Städte. Sowohl im zweibändigen „Katalog“ der „Allgemeinen Städtebauausstellung“,54 wie auch in einem „Parkbuch“55 stellte Hegemann vor allem Parks und Parksysteme von Olmsted Sr., der Gebrüder Olmsted und Eliots vor (v.a. das Park-System Bostons) sowie das von den Gebrüdern Olmsted und Daniel H. Burnham entworfene Chicagoer „Spielparksystem“.56 Bemerkenswert an Hegemanns Beschreibungen der Parks von Olmsted Sr. ist, dass er ihrer landschaftlichen Gestaltung zwar insofern Tribut zollte, als sie dem Großstädter „köstliche Fernsichten“ und den Genuss „reizender kleiner Sonderwelten“57 bieten, aber diese Würdigung eher so klingt, als ob er damit einen bereits vergangenen Stil meinte. Hegemanns Hauptaugenmerk lag eher auf dem Gebrauchswert der großen Rasenflächen, Spiel- und Sportanlagen und der städtebaulichen Anordnung der Freiflächen (als Spiel- und Sportparks) als System, das eine Erreichbarkeit von jedem Haus in Kinderwagenentfernung58 ermöglichen soll. Auch die Bildauswahl im „Parkbuch“ zeigt, dass für Hegemann das Ansprechende an diesen Freiräumen nicht vorwiegend in ihrer scenery bestand, sondern im aktiven Gebrauch durch zahlreiche Großstadtbewohner. Hegemanns stimmungsvolle Beschreibung der Anlagen im Franklin Park in Boston mag dies verdeutlichen: „Ein Blick auf eine solche seitlich in grandioser Baumumrahmung gelegenen Reihe von Tennisplätzen [...], wie eine Milchstraße übersät mit den gleich weißen Pünktchen erscheinenden Tennisspielern – die Gegensätze zwischen dem Schatten der Bäume und dem Flimmern der Sonne, zwischen den verschiedenen Entfernungen, die das Auge gleichzeitig durchmisst, haben etwas traumhaftes. Die grünen Tennisplätze stehen den Spielern ähnlich wie in englischen Parks kostenlos zur Verfügung, ebenso wie die verschiedenen
Dazu: J. Bauer: Entwicklung städtischer Freiflächensysteme als integraler Bestandteil des Städtebaus, 1850-1930, In: Beiträge zur räumlichen Planung, Heft 45, Hannover 1996. S. 30ff. 54 Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen StädtebauAusstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf, 2 Bd., Berlin 1911 und 1913. 55 Werner Hegemann: Ein Parkbuch. Zur Wanderausstellung von Bildern und Plänen amerikanischer Parkanlagen, Berlin 1911. 56 Ebd. S. 10. 57 Ebd. S. 7. 58 Ebd. S. 9.
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Rasenflächen, besonders die großen Hauptwiesen der Parks [...] für den Gebrauch geschaffen sind. Es ist schwer, sich dem Zauber zu verschließen, der von diesen Wiesen und der das Leben auf ihnen in zwangloser Freude genießenden Menschheit ausgeht.“
59
Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Verschiebung der ästhetischen Konzeption von Parkanlagen zwischen den USA und Deutschland: Bei Olmsted war der Ausgangspunkt seiner Parkgestaltungen, die von vielen Menschen subjektiv als angenehm empfundene natural scenery. Im Verständnis empiristischer Ästhetik konnte er diese Empfindung (als Wirkung, die dem Subjekt gut tut) in Kombination mit hygienischen Wirkungen von Freiraum (antimiasmatische Wirkung) zu einem technischen Instrument der Stadtentwicklung bündeln. Die Schönheit von natural scenery ist Teil der Wirksamkeit von Parks als urbane Infrastruktur. Daher ist es plausibel, dass Landschaftsarchitekten in den USA im 19. Jahrhundert Teil einer hygienisch-stadttechnischen Reformbewegung waren: „Sanitarians, landscape architects and engineers formed a troika that tried to pull citizens and officials alike from the mire of governmental inaction to the higher ground of municipial planning and administration. Over the last half of the nineteenth century, urban public health officers assessed the spatial distribution of diseases, using the survey techniques of the engineers. Sanitarians supported municipal regulation of food, of air pollution, and of housing. They urged the rapid construction of water and sewer systems, rapid transit systems, and parks. [...] Landscape architects such as Frederick Law Olmsted, George Kessler, and Horace Shaler Cleveland – each of whom had some engineering training – propagandized planning concepts. Usually their physical solutions to health problems rested upon the construction of large urban parks as ‚lungs’ fort he city or upon the creation of upper-class suburbs as escape valves fort he fortunate view.“
60
In Deutschland, und das zeichnete sich bei Hegemann bereits ab, wurde die Beurteilung der Qualität von Freiflächen vom Schönheitsempfinden des Subjekts und damit von der Denktradition empiristischer Ästhetik gelöst und noch stärker, als es bereits bei Olmsted und Eliot der Fall ist, funktionalistischen Schönheitsprinzipien unterworfen. Eine Parkanlage ist dann schön, wenn sie ihren Zweck in idealer Weise erfüllt – wenn sie vollkommen ist. Daher legte Hegemann bei der ästhetischen Beurteilung der Parks von Olmsted keinen großen Wert auf den
59 Ebd. S. 7. 60 Stanley K. Schultz, Clay McShane: To Engineer the Metropolis: Sewers, Sanitation, and City Planning in Late-Nineteenth-Century America, in: The Journal of American History, Vol. 65, Nr. 2, 1978. S. 396.
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subjektiven Eindruck, den die scenery macht, sondern auf den Gebrauch durch möglichst viele Menschen. Der Gebrauch beweist das Funktionieren der Freiflächen und ist Ausdruck ihrer Vollkommenheit. Schönheit war daher im weiteren (deutschen) Diskurs über Freiflächenpolitik kein großes Thema, es wurde hauptsächlich über Fragen der Funktionalität debattiert. Wenn diese gegeben sei, stelle sich Schönheit von selber ein, so die Annahme. Deutlich ist das an der funktionalistischen Freiflächentheorie von Martin Wagner zu sehen, der sich ebenfalls auf die „amerikanische Parkpolitik“61 v.a. in Chicago berief. Wagner übernahm für seine Freiflächentheorie den Begriff des sanitären Grüns von Camillo Sitte, den dieser in Anlehnung an die Miasmenlehre von Max von Pettenkofer geprägt hatte.62 Wagner betonte aber nicht so sehr den Daseinswert der Freiflächen, dieser wurde nach seiner Meinung überschätzt, sondern den Nutzwert: „Was ist ‚sanitäres Grün’? Alle Grünflächen und Grünanlagen, die auf die Gesundheit des Menschen fördernden Einfluss haben, wird man als sanitäres Grün bezeichnen können. Der Einfluss der Grünflächen auf die Gesundheit des Menschen ist nach zwei Richtungen hin besonders charakteristisch. Die Grünflächen können als die großen Luftspeicher und Luftverbesserer für die Großstadtbevölkerung unentbehrlich werden, ohne dass die Bevölkerung mit den Grünanlagen in nähere Berührung kommen braucht; für diesen Fall liegt ihr sanitärer Wert in ihrem Dasein schlechthin; nennen wir ihn künftig Daseinswert. Andererseits gewinnen die Grünflächen an sanitärem Werte in dem Maße, in dem der Mensch sie nutzt, sei es in der Form von Spiel- oder Sportplätzen, von Promenadenstraßen oder Parkanlagen. Diesen Wert der Grünflächen kann man mit Nutzwert bezeichnen. Der Daseinswert der Freiflächen ist bisher auf Kosten des Nutzwerts sehr überschätzt worden.“
63
In diesem Zusammenhang betonte Wagner die Wichtigkeit von Gestaltung für die Erschließung des Nutzwertes für die Großstadtbevölkerung: „Die Bedeutung des ‚sanitären Grüns’ für die Großstadtbevölkerung liegt weniger in ihrem Daseins- als in ihrem Nutzwert. Das Vorhandensein der Freiflächen schlechthin oder
61 Martin Wagner: Das Sanitäre Grün der Städte – Ein Beitrag zur Freiflächentheorie, Berlin 1915. S. 21. 62 Karin Wilhelm: Ordnungsmuster der Stadt. Camillo Sitte und der moderne Städtebaudiskurs, in: Karin Wilhelm, Detlef Jessen-Klingenberg (Hg.): Formationen der Stadt – Camillo Sitte weitergelesen, Basel Berlin 2006. S. 47. 63 Martin Wagner: Das Sanitäre Grün der Städte – Ein Beitrag zur Freiflächentheorie, Berlin 1915. S. 1.
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ihre umfängliche Größe bedingt noch nicht ihren besonderen sanitären Wert; erst die Ausgestaltung der Freiflächen zu Spiel- und Sportplätzen, zu Volksparkanlagen und Stadt64
wäldern, zu Pacht- und Familiengärten macht sie dem Großstädter unentbehrlich.“
Kennzeichnend für Wagners, wie auch Olmsteds, funktionalistisches Verständnis von Gestaltung ist, dass die ästhetische Qualität von Freiflächen mit ihrem Nutzwert zusammenfällt. Die ästhetische Idee der „Landschaft“ wird durch ihre Vergegenständlichung und Funktionalisierung als Freiflächensystem in schematisierter Form als Grün oder Freifläche in rationalen Planungsverfahren „eingeschlossen“.
64 Ebd. S. 92.
7. Die Geografische Landschaft und ihre Pflege
In diesem Kapitel wird die Hypostasierung von „Landschaft“ in einer weiteren Variante beschrieben. Diese basierte ebenfalls auf einer Objektivierung des Ästhetischen durch funktionalistische Schönheitsprinzipien, die aber nicht wie in der US-amerikanischen Variante Olmsteds von einem mechanistischen Weltbild in der Tradition der Ästhetik Edmund Burkes abgeleitet wurden, sondern sie basierte auf der organizistischen Ästhetik Herders. Zunächst wird in diesem Kapitel v.a. an Hand der Forschungen von Hard und Eisel beschrieben, wie die literarische Form der Landschaftsbeschreibung im Rahmen der Reisepraxis des 18. Jahrhunderts, die von den Verfassern durchaus noch als künstlerische und subjektive Darstellung verstanden wurde, Grundlage für die Konstituierung eines Verständnisses von „Landschaft“ als materieller Gegenstand in Form von Kulturlandschaft werden konnte. Diese nun materielle „Landschaft“ wurde zum Untersuchungsgegenstand der neuen wissenschaftlichen Disziplin der Geografie und gleichzeitig zum ideellen Schauplatz politischer Konflikte zwischen den Bewahrern (raumwirksamer) Traditionen und Befürwortern technischen Fortschritts. Die Advokaten der Kulturlandschaft versuchten (als schwächere Kontrahenten in diesem aus ihrer Sicht „räumlich“ ausgetragenen politischen Konflikt), die Diskrepanz zwischen technischem Fortschritt und kulturlandschaftlicher Tradition auf zwei Ebenen zu entschärfen: durch Verfahren der Integration von technischen Artefakten in Kulturlandschaft und die Harmonisierung räumlicher Entwicklung durch ganzheitliche bzw. organische Raumplanung.
168 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
7.1 D IE V ERWISSENSCHAFTLICHUNG
DES
R EISEBERICHTS
Für Hard1 und v.a. für Eisel2 und Trepl3 wird die Hypostasierung von „Landschaft“ idealtypisch von Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“4 vollzogen. Empirisches Material der Herderschen Geschichtsphilosophie sind die Reiseberichte von Weltreisenden wie Georg Forster und somit einer bereits traditionellen Form der Literatur, in der das Muster „Landschaft“ in Form der Landschaftsbeschreibung eine große Rolle spielte. Diese Reiseberichte widmeten sich aber nicht nur der Landschaftsbeschreibung, sondern auch allem möglichen anderen Bemerkenswerten, wie Menschen, Städten, Handel, etc. Das, was die Heterogenität des Reiseberichts zusammenfasst und vor der literarischen Formlosigkeit bewahrt, ist die Person des Erzählers. Er ist im Reisebericht präsent und seine Erfahrung ist es, die den Bericht zu einer Einheit zusammenführt. So fanden subjektive Erzählformen (Landschaftsbeschreibung) und sachliche Texte, wie Listen und Klassifizierungen ihren Platz nebeneinander, ergänzt durch Karten, Schnitte, Zeichnungen von Landschaften, Menschen, Tieren, Pflanzen, etc. Wie Eisel ausführt5, wird diese Reisepraxis Ausgangspunkt für Systematisierungen des „entdeckten“ Materials: „Die neuzeitliche Geographie ist eine Wissenschaft vom vernünftigen Reisen. Sie entstand im Zeitalter der Entdeckungen. Die Geographen betrachten bis heute die Berichte der Entdecker als frühe Zeugnisse von ‚Länder-Kunde’. Das Fach als Universitätsdisziplin
1
Gerhard Hard: Herders „Klima“. Zu einigen „geographischen“ Denkmotiven in Herders ‚Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit’, in: Detlef Haberland (Hg.), Geographia Spiritualis. Festschrift für Hanno Beck, Frankfurt/Main 1993, S. 87-106.
2
Ulrich Eisel: Individualität als Einheit der konkreten Natur: Das Kulturkonzept der Geographie, (Digitale Fassung unter http://www.ueisel.de), in: B. Glaeser, P. Teherani-Krönner (Hg.): Humanökologie und Kulturökologie. Grundlagen, Ansätze, Praxis, Opladen 1992. S. 107-151.
3
Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft – Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung
4
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 1784-
bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. 91. 5
Ulrich Eisel: Individualität als Einheit der konkreten Natur: Das Kulturkonzept der Geographie, in: B. Glaeser, P. Teherani-Krönner (Hg.): Humanökologie und Kulturökologie. Grundlagen, Ansätze, Praxis, Opladen 1992. S. 107-151. (Digitale Fassung unter www.ueisel.de)
D IE GEOGRAFISCHE L ANDSCHAFT | 169
existierte zu diesem Zeitpunkt nicht, wohl aber das Paradigma der Disziplin. Der spätere Verwissenschaftlichungsprozess der Entdeckerpraxis, der in der Geschichtsschreibung des Faches mit A. v. Humboldt und Carl Ritter seinen Anfang nimmt, rekurriert auf ein Urbild - von Tätigkeit: nämlich die beschriebene Reise, - von Denkweise: nämlich die ‚idiographische’
6
- und von Methode: nämlich die vergleichende Morphologie.“
Diese Entdeckerpraxis wurde um 1800 in zwei Formen systematisiert, wobei diese aufeinander Bezug nahmen: als Geschichtsphilosophie und Geografie. Sowohl das geschichtsphilosophische Denken Herders, als auch das geografische Denken, z.B. von Alexander von Humboldt strebten danach, die literarische Form des Reiseberichts in der Form eines „von der Beliebigkeit des Anlasses und der Fähigkeiten ‚gereinigte’ und bewusst systematisch produzierte Form eines Bildes“7 umzuformen. Das konnte Herder gelingen, da er die Reiseberichte als empirisches Material benutzte, um seine ganzheitliche Philosophie zu begründen. „Das heißt, die naive Wahrnehmungs- und Beschreibungspraxis des gebildeten Reisenden passte offenbar zu einer bestimmten Variante philosophischen Denkens, die im weltanschaulichen Gesamtdiskurs einen offenen Platz besetzte. Insoweit diese Denkweise und Ideologie als Position im politischen und wissenschaftstheoretischen Kampf existierte, konnte sie mit dieser Art von ‚Daten’ etwas anfangen; sie konstituierte als politische Philosophie die Welt als Ganze so, wie die Entdecker und Reisenden sie vorfanden im Verständnis suchenden Blick: als ‚Lebensraum’, und sie verifizierte damit ihre politische Ideologie zirkulär. Umgekehrt ‚verführten’ die vielen neu gewonnenen Informationen dieser Art ‚induktiv’ zur entsprechenden universalhistorischen Verallgemeinerung.“
8
Diese subjektiv geprägte Wahrnehmung der Welt durch die Reisenden als systematisierenswertes Material anzuerkennen, war für Herder wohl deshalb möglich, da sie seinem Verständnis von intuitiver Erkenntnis entsprach.9 Die Reiseberichte über verschiedene Kulturen der Völker und ihre Länder bestätigten für Herder empirisch die Bindung des Menschen an die Natur und gleichzeitig seine Freiheit, diese für seine Zwecke zu bearbeiten und in diesem Entsprechungszusammenhang in einem geschichtlichen Prozess individuelle Kultur zu entwi-
6
Ebd. (Digitale Fassung) S. 7.
7
Ebd. S. 7.
8
Ebd. S. 8.
9
Siehe dazu Kapitel 5.3.
170 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
ckeln. Hier zeigt sich eine Analogie von der Freiheit der Seelenkräfte zur Steuerung der Empfindung: Die Freiheit sollte dazu genutzt werden, durch Kultivierung der Seelenkräfte sich dem richtigen Maß der Schönheit in der Empfindung anzunähern – um so das zu werden, was man im Rahmen seiner Möglichkeiten werden kann – ein kultiviertes Individuum. Dementsprechend sah Herder die Kultivierung von Gesellschaft – dazu schreibt Eisel: „Geschichte war nicht ein linearer Emanzipationsprozess, sondern bildete abgeschlossene Kulturen aus, die stufenweise, durchzogen von der Kraft des menschlichen Geistes, die Schöpfung ausfüllten. Diese Kulturen waren einmalige, spezielle Anpassungssituationen an konkrete räumliche Verhältnisse. Das ‚Land’ war die Ganzheit der Voraussetzungen, die eine Gesellschaft zur Verfügung hatte, um sich zu verwirklichen. Sie konnte das an Kultur erreichen, was sie in der Lage war, der Natur an Freiheit abzutrotzen auf der Ebene der Vernunft, der Humanität und der Religion, um es als geschickte Anpassung auf die Natur rückzuwenden. Es existierte eine Idee der Loslösung, aber sie bezeichnete einen Zustand der Anpassung an den Raum. (Natur als Raum als Möglichkeit gedacht gegenüber der Natur als Zeit als Möglichkeit gedacht, wie im aufklärerischen Fortschrittsdenken.) Geschichte tendiert so auf die Realisierung eines Optimums an differenzierter Eigenart hin; universell ist eine Kultur nicht, wenn sie abstrakt allgemein wird, sondern wenn sie ein Höchstmaß an individueller Klassizität im Hinblick darauf entwickelt, dass ihre Menschen mit ihrer Vergesellschaftung sensibel ihrem Lebensraum die dort herrschenden Gesetze im Hinblick auf ihre optimale Selbstfindungsmöglichkeit im humanen und christlichen Geiste ablauschen. Dann ist der Schöpfung auf dem Wege der Befreiung 10
von Naturzwang genüge getan.“
7.2 H UMBOLDTS
ÄSTHETISCHE
W ISSENSCHAFT
Auf intuitiver Erkenntnis basierte auch die sich herausbildende geografische Praxis, wie sie von Alexander von Humboldt betrieben wurde, wobei sich für ihn die Vernaturwissenschaftlichung ästhetischer Erfahrung als durchaus problematisch erwies. Humboldt, dessen Selbstverständnis das eines Schriftstellers war, war von den Landschaftsideen der Aufklärung in den Formaten Landschaftsmalerei, Landschaftsgarten und freier Landschaft (als Landschaftsbe-
10 Ulrich Eisel: Individualität als Einheit der konkreten Natur: Das Kulturkonzept der Geographie, in: B. Glaeser, P. Teherani-Krönner (Hg.): Humanökologie und Kulturökologie. Grundlagen, Ansätze, Praxis, Opladen 1992. S. 107-151. (Digitale Fassung unter www.ueisel.de) S. 10.
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schreibungen Georg Forsters,11 aber wahrscheinlich auch William Gilpins 12) geprägt. Nach Humboldts Verständnis war „Landschaft“ ein ästhetischer Gegenstand. Nun war es zu Beginn von Humboldts Karriere als Schriftsteller nicht ungewöhnlich, dass diese sich naturwissenschaftlich betätigten – vor allem in den literarischen Zirkeln, in denen er sich bewegte. Insbesondere in Jena standen er und sein Bruder Wilhelm in engem Kontakt mit Goethe und Schiller. Der Kreis in Jena beschäftigte sich mit vergleichender Anatomie, aber auch mit Botanik, Mineralogie und Bergbau. Eine zentrale Rolle spielten die Anatomie und die Entwicklung einer Morphologie, „die sich von der Anatomie des leblosen Körpers zu den dynamischen Entwicklungsprozessen und ihrer Verallgemeinerung in der gesamten Tier- und Pflanzenwelt wandte.“13 Ziel dieser „ästhetischen Wissenschaft“14 war es, die unüberschaubaren empirischen Daten in eine anschauliche Einheit zu bringen, wie es die Literatur und Kunst vermag. Eine „intellektuale Anschauung“ oder ein „intuitiver Verstand“ vermag eine anschauliche Totalität – den Kosmos oder das Urphänomen 15 – zu erkennen. Diese, man könnte sagen, ästhetische Idee des anschaulichen Naturganzen, ist sicherlich eine wissenschaftliche Strategie zur Theoriebildung, um eine unüberschaubare und nicht systematisierte Datenmenge (z.B aus den Entdeckerberichten) theoretisch in den Griff zu bekommen, die sich aber nur als so lange sinnvoll erweist, bis Daten unter Naturgesetze bzw. plausible Theorien subsumiert werden können. Und so war es auch: Die ästhetische Wissenschaft hat in der Wissenschaftsgeschichte bestimmter Disziplinen ihren anerkannten Platz; aber nach 1800 wurde
11 Zum Vorbild Georg Forster siehe: Bettina Hey’l: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller, Berlin 2007. S. 89 und S. 184. 12 Gerhard Hard: „Kosmos“ und „Landschaft“. Kosmologische und landschaftsphysiognomische Denkmotive bei Alexander von Humboldt und in der geographischen Humboldt-Auslegung des 20. Jahrhunderts. In: H. Pfeiffer (Hg.): Alexander von Humboldt, München 1969. S. 133-177. 13 Bettina Hey’l: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller, Berlin 2007. S. 129. 14 Hartmut Böhme: Ästhetische Wissenschaft. Aporien der Forschung im Werk Alexander von Humboldts. In: Ottmar Ette, u.a. (Hg.): Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne, Berlin 2001. S. 17-33. 15 „Man kann sagen, daß die Kosmos-Idee, insofern sie als Naturgemälde, d.h. als sinnlich-generisches Schema einer komplexen Mannigfaltigkeit von Natur verstanden wird, bei Humboldt denselben Status hat wie das Urphänomen bei Goethe.“ Ebd. S. 17f.
172 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
diese künstlerische Forschung durch empirisch-analytische Fachdisziplinen marginalisiert.16 Die empirischen Daten der Fachdisziplinen konnten nicht mehr durch eine künstlerisch-intuitive Gesamtschau zu einer Einheit verknüpft werden. Damit bestätigten die empirischen Daten auch nicht mehr die Relevanz künstlerischer Verfahren bei der Erkenntnisgewinnung in Form ästhetischer Wissenschaft. So wurde auch Humboldts Kosmos bei seinem Erscheinen eher als künstlerisches Werk erfolgreich, statt als wissenschaftliche Arbeit. „Das Werk des Geographen erschien seinen Zeitgenossen als eine Poetisierung der Wirklichkeit, als Erfüllung jener im Zeitalter der deutschen Bewegung und der deutschen bürgerlichen Bildung so sehnsüchtig erstrebten Überhöhung und Wiederverzauberung der Wissenschaft durch Literatur und Kunst.“
17
Die bei Humboldt (wie auch bei Goethe und Carus) noch dem Denkkreis ästhetischer Wissenschaft zugehörige Landschaftsidee wird im Rahmen der Institutionalisierung der Geografie als universitäre Wissenschaft nicht etwa als irrational beseitigt, sondern rationalisiert und zum ideologischen Kern klassischer deutscher Geografie, die sich auf die Lehre Carl Ritters beruft. „In heute altertümelnd anmutender Diktion bestand diese Geo-Philosophie auf der Idee, ‚die Landschaften der Erde’ (sowohl einzeln wie in ihrer Gesamtheit) als ‚Wohn- und Erziehungshaus des Menschengeschlechts’ (oder der ‚Gattung’) zu erkennen: Aus den Formen und Physiognomien der irdischen Landschaften, aus dem ‚Naturplan’ der Erde sollen ‚durch ernste Wissenschaft’ Telos und Nomos der Erde und des Menschen erkannt, soll
16 „[...] bedenkend, dass noch zu Humboldts Lebzeiten mit Charles Lyell die Geologie, mit Charles Darwin die Evolutionsbiologie, mit Antoine Laurent de Lavoisier und Justus Liebig die Chemie, mit Hans Christian Oersted, André Marie Ampère, Georg Simon Ohm, Michael Faraday und schließlich, unmittelbar nach Humboldts Tod, mit James Clerk Maxwell die Elektro-Physik zu paradigmatischer Reife gelangten – ich nenne nur einige Beispiele –; und bedenkt man ferner, dass parallel dazu die philologischen Fächer, die Linguistik, die Archäologie, die Religionswissenschaft, die Kunstwissenschaft, die Soziologie und Ethnologie sich als Disziplinen mit eigenem theoretischen und methodologischen Profil begründeten; [...] dann begreift man leichter, dass es eine schiere Notwendigkeit war, wenn Humboldt mit seinem Unternehmen scheiterte.“ Ebd. S. 32. 17 Gerhard Hard: Geographie als Kunst – Zu Herkunft und Kritik eines Gedankens (1964), in: Ders.: Dimensionen geographischen Denkens – Aufsätze zur Theorie der Geographie, Band 2, Göttingen 2003. S. 31.
D IE GEOGRAFISCHE L ANDSCHAFT | 173
die ‚wahre Bestimmung’ der Landschaften und der Völker herausgelesen werden. Diese zugleich deskriptiv und normativ, immer aber auch politisch gemeinte ‚Harmonie von Natur und Kulturplan der Landschaft’ war dann der basso continuo der Landschaftsgeographie nicht nur in der Zwischenkriegszeit, sondern bis weit in die fünfziger Jahre hinein.“
18
„Landschaft“ wird dadurch vom ästhetischen Gegenstand, wie er bei Humboldt noch spürbar war, zur materiellen Landschaft als empirischer Gegenstand. „Die Pointe der Argumentation [der Landschaftsgeografie] besteht darin, dass ein landschafts-ästhetischer Topos, wie er typischerweise im belletristischen wie außerbelletristischen Schrifttum des 19. Jahrhunderts erscheint (und so auch in den entsprechenden Passagen des Humboldtschen Werkes), zu einer landschaftswissenschaftlichen und landschaftspolitischen Idee und Norm umgedeutet und rationalisiert wird.“
19
Um das Denken in individuellen Räumen, Gestalten und Morphologien im Rahmen wissenschaftlicher Praxis aufrechterhalten zu können, musste sich Geografie als eine Forschungspraxis etablieren, die nicht bloß nach naturwissenschaftlichen Methoden die Erdoberfläche analysiert (denn damit würde sie ihren konkreten Raumbezug verlieren), sondern die die Erdoberfläche als Lebensraum für den Menschen und in der Wechselwirkung zwischen Natur und Mensch betrachtet. „Die Geographie ist in ihrem Gegenstandsbezug aufgrund ihrer Problemwahl eine Schnittmenge zwischen Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften und damit eine Wissenschaft ganz anderer Art als die anderen, denn sie betreibt Naturwissenschaft unter der Perspektive der Relevanz der von ihr erstellten Gegenstandskonstitution von Natur für die von ihr gleichermaßen behandelte kulturwissenschaftliche Seite, und sie betreibt Gesellschaftswissenschaft unter der Perspektive der Rückgebundenheit aller nichtnatürlichen ‚Seinsbereiche’ an die Natur. [...] Diese Theorie versteht sich als eine Raumtheorie. Der theoretische Grundbegriff, der den kulturtheoretischen Gegenstand näher als
18 Gerhard Hard: Zu Begriff und Geschichte von „Natur“ und „Landschaft“ in der Geographie des 19. Und 20. Jahrhunderts (1983), in: Ders.: Landschaft und Raum – Aufsätze zur Theorie der Geographie, Band 1, Göttingen 2002. S 198. Zitierend aus: Carl Ritter: Einleitung zur allgemeinen vergleichenden Geographie und Abhandlungen zur Begründung einer mehr wissenschaftlichen Behandlung der Erdkunde, Berlin 1852. S. 9f. Und: Carl Ritter: Allgemeine Erdkunde (hrsg. von H.A. Daniel), Berlin 1862. S. 123. 19 Ebd. S. 196f.
174 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG einen Raum bezeichnet und damit der am Gegenstand ‚Natur’ orientierten Thematik zur Verfügung hält, ist ‚Landschaft’.“
20
Geografie war also von Anfang an Kulturgeografie,21 die Herders Geschichtsphilosophie folgend, die Erdoberfläche nach Natur-Kultur-Entsprechungszusammenhängen systematisierte. „Herder hatte damit das Paradigma der Geographen, ohne dass die neuzeitliche Geographie als Disziplin schon bestanden hätte; er entwickelte es nicht zufällig [...] im direkten Kontakt mit dem, was später Geographen taten: Reisebeschreibungen erstellen. Herder verfährt nach dem ‚Bild’ des Leibnizschen Systems prästabilierter Harmonie von singulären Monaden. Es bietet eine spezielle Gestalt der Schöpfung als System. Das geschaffene Bild analoger Struktur ist die Erde als System singulärer ‚Lebens-Räume’, als ‚Wohnplatz’. Die Geographen benutzten das Bild anfänglich noch explizit für die Geschichte oder die Welt als jeweils Ganze, im Verlaufe der Ausgestaltung der Disziplin jedoch zunehmend als Strukturvorstellung bzw. als ihre Art des Räsonierens (‚way of seeing’), abgelöst von seinem Charakter, Metapher einer politischen Philosophie und konservativen Fortschrittstheorie zu sein, also einfach als Gestalt ihres empirischen Gegenstands als eines ‚Wohn-Raums’. Aus dem Objekt (Landschaft und Land) folgte nun, wie zu denken war. Die Geographen übernehmen also den Kern ihrer geographischen Philosophie und ein ‚Bild’, soweit Herder beides als politische Philosophie allgemein ausgearbeitet und für jene bereits als Bild bereitgestellt hat, praktisch durch den ‚Kunstgriff’ der Reisebeschreibungsliteratur, aber sie arbeiten beides stärker als geographisches Bild und als geographische Theorie aus.“
22
Erst mit der Einführung von geschichtlichen Entwicklungsperspektiven in die geografische Forschung, die im Sinne Herders die Kulturentwicklung von Völ-
20 Ulrich Eisel: Individualität als Einheit der konkreten Natur: Das Kulturkonzept der Geographie, in: B. Glaeser, P. Teherani-Krönner (Hg.): Humanökologie und Kulturökologie. Grundlagen, Ansätze, Praxis, Opladen 1992. S. 107-151. (Digitale Fassung unter www.ueisel.de) S. 3. 21 Gerhard Hard: Szientifische und ästhetische Erfahrungen in der Geographie – Die verborgene Ästhetik einer Wissenschaft (1995), In: Ders.: Dimensionen geographischen Denkens – Aufsätze zur Theorie der Geographie, Bd 2, Göttingen 2003. S. 390. 22 Ulrich Eisel: Individualität als Einheit der konkreten Natur: Das Kulturkonzept der Geographie, in: B. Glaeser, P. Teherani-Krönner (Hg.): Humanökologie und Kulturökologie. Grundlagen, Ansätze, Praxis, Opladen 1992. S. 107-151. (Digitale Fassung unter www.ueisel.de) S. 10f.
D IE GEOGRAFISCHE L ANDSCHAFT | 175
kern durch Naturanpassung bezogen auf konkrete Naturräume ist, konnte die Synthese von (ästhetischer) Idee und Empirie als geografische Wissenschaft gelingen.
7.3 V ON ZUR
DER FREIEN
L ANDSCHAFT
K ULTURLANDSCHAFT
Freie Landschaft, die als ästhetischer Gegenstand vom Subjekt in der Wahrnehmung konstituiert wird, wird in der geografischen Perspektive zum materiellen Gegenstand, der auch ohne einen Betrachter existiert. Über den ästhetischen landschaftlichen Blick legt sich in Folge ein popularisierter geografischer landschaftlicher Blick. Dieser kommt auch ohne wissenschaftliches Interesse aus, da er es vermag, dem Unwohlsein vor allem des deutschen Beamten- und Bildungsbürgertums angesichts der Auswirkungen des technischen Fortschritts und der kapitalistischen Ökonomie auf die Alltagswelt, wie z.B. rasante Metropolenbildung, Auflösung der gewohnten Gesellschaftshierarchien und infrastrukturelle Überformung von Stadt und Land, eine konservative Utopie des richtigen Lebens in geordneten Verhältnissen und im Einklang mit den natürlichen Gegebenheiten entgegen zu setzten – die Idee der Kulturlandschaft. Die Kulturlandschaft präsentiert sich als Einheit von Land und Leuten23 – als Heimat, die, dem Herderschen Paradigma folgend, im Wechselspiel von Naturanpassung und Kultivierungsleistung entstanden ist. „Das Klima, also die Umwelt in dem jeweiligen Lebensraum, prägt [...] auch die Sprache und die ‚Denkart’, das heißt die Vernunft der Völker. Das Volk wiederum prägt seinen Lebensraum, indem es ihn, sich seiner Vernunft bedienend, zweckmäßig gestaltet, also die Natur kultiviert. Im Laufe der Geschichte bilden sich auf diese Weise höhere Einheiten, die Mensch und Natur umgreifen. Erst durch Zusammenwirken von Menschen und äußerer Natur entsteht also ein Höheres. Das ist Kulturlandschaft.“24
Eine schöne Kulturlandschaft ist nun nicht mehr bloß im Kantschen Sinne schön, sondern sie ist vollkommen. Im Sinne der Ästhetik von Herder ist sie die räumliche Entsprechung zum vollkommenen Individuum, das sich im Rahmen
23 Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Erster Band. Land und Leute. 1851. 24 Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft: Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. S. 153.
176 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG
der ihm gegebenen Möglichkeiten kultiviert hat und zu dem geworden ist, was es sein soll. Trepl erklärt die Vollkommenheit von Kulturlandschaft folgendermaßen: „Sie entsteht dann, wenn eine Gemeinschaft ihrem Auftrag gerecht wird, sich selbst und die Natur ihres Lebensraums zur ihnen gemäßen Vielfalt zu entfalten, also zur organischen Land-und-Leute-Einheit zu entwickeln, zu ‚Kulturlandschaft’. Je nach mitgebrachtem Volkscharakter, je nach Klima und spezifischer Geschichte wird Vollkommenheit in etwas anderem bestehen. [...] Damit verschwindet der Unterschied zwischen dem Angenehmen, dem (moralisch) Guten und dem Schönen. Die Kulturlandschaft zu entwickeln ist Gottes Auftrag, das Ergebnis ist also gut; in ihr lebt es sich angenehm, und sie ist, weil in ihr alles vollkommen zusammenstimmt, schön. Die Vollkommenheit der Kulturland25
schaft ist daher nicht (nur) die eines Bildes, sondern die der Realität.“
Die individuelle Gestalt der verschiedenen Kulturlandschaften tritt daher in der Landschaftswahrnehmung des Bürgertums (in seiner konservativen Perspektive) als Beurteilungskriterium für ihre Vollkommenheit in den Vordergrund. Eine Kulturlandschaft ist dann schön, wenn die dort lebenden Menschen (in Generationen) die konkrete Natur vor Ort ihrem Wesen entsprechend kultiviert haben. „Statt der Natur mit allen nur möglichen Mitteln das Letzte abzugewinnen, habe man sich den Besonderheiten des jeweiligen Lebensraumes anzupassen. Das ist gleichbedeutend damit, dessen Natur so zu nutzen, dass kleinräumig spezifische Möglichkeiten erschlossen werden. Gut angepasst zu sein an die Besonderheiten der Natur des Ortes heißt ja nichts anderes, als die eigenen Ansprüche an sie mit ihr in Einklang zu bringen, und damit befreit man sich zugleich von den Zwängen, die sie ausübt. Wer in der Aue nicht Häuser baut oder Getreidefelder anlegt, sondern Wiesen, oder wer dort den Wald stehen lässt, also sich an die lokale Situation anpasst, muss Überschwemmungen, mit denen die Natur hier ihren Zwang ausübt, nicht fürchten.“
26
Die Veränderung von Kulturlandschaft durch Artefakte des technischen Fortschritts und der industriellen Produktion, die eben nicht aus einem Prozess der Kultivierung der Besonderheiten der „Landschaft“ entstehen, sondern allgemeingültigen technischen Prinzipien folgen, die überall zur Anwendung kommen können, werden daher von den „Trägern“ des popularisierten geografischen landschaftlichen Blicks, dem Bildungsbürgertum mit zumindest teilweise kul-
25 Ebd. S. 158. 26 Ebd. S. 155.
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turkritischen und politisch konservativen Ansichten, als Zerstörung derselben verstanden. Als Reaktion auf diese Zerstörung entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bürgerliche „Protestbewegungen“ mit verschiedenen Schwerpunkten des Schutzes von Kulturlandschaft, u.a. der Heimatschutz, geprägt vom Musiker Ernst Rudorff, und die Naturdenkmalpflege, geprägt vom Botaniker Hugo Conwentz.27 Blaupause für den Heimat- und Naturschutz in Deutschland war der erfolgreiche Protest von Liebhabern der romantischen Rheinlandschaft gegen die Zerstörung des Drachenfels durch die Steinbrüche des Trachytabbaus. Die Proteste veranlassten den preußischen König Friedrich Wilhelm III dazu, den Bergbau am Drachenfels zu verbieten, die denkmalpflegerische Restaurierung der Burgruinen und des Wachturms zu beauftragen und die umgebende Landschaft durch den ersten deutschen Naturpark zu schützen.28 Wie Lekan erläutert, waren diese Schutzbemühungen deshalb erfolgreich, weil die „Landschaft“ des mittleren Rheintals Anfang des 19. Jahrhunderts politische Relevanz hatte. Das Rheintal als „Landschaft“ wurde im 18. Jahrhundert von englischen Reisenden und Künstlern als scenery mit dem Drachenfels als hervorragendes Bildmotiv entdeckt. Aber auch schon davor war der Drachenfels ein verbreitetes Motiv in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Als Folge davon wurde das Rheintal bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Reiseziel des damaligen Massentourismus, begleitet von den bereits einsetzenden Klagen über eine Kommerzialisierung des Rheintals. Die Bedeutung des mittleren Rheintals als scenery wurde darüber hinaus von deutschen Intellektuellen „aufgeladen“ mit nationalistischer Symbolik als Propaganda gegen die territoriale Expansion Frankreichs. „Countering French claims to the Rhine as France’s natural border, the Bonn professor and nationalist Ernst Moritz Arndt’s 1813 Germany’s River but Not Germany’s Border 29
[Der Rhein, Teutschlands Strom, nicht aber Teutschlands Grenze]
imagined the Rhine
flowing through the body of the Fatherland, with both banks firmly within the boundaries 30
of the Heimat.“
Aus dieser Paarung von scenery und nationaler Symbolik, gegründet in der Vergangenheit des Rheintales, entstand so etwas wie die prototypische deutsche
27 Siehe dazu z.B.: Thomas M. Lekan: Imagining the Nation in Nature – Landscape Preservation and German Identity, 1885-1945, Cambridge London 2004. S. 21ff. 28 Ebd. S. 28. 29 Einfügung T. H. 30 Ebd. S. 27.
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Kulturlandschaft als Ursprung der Nation, die immer wieder im Kampf gegen Aggressoren verteidigt werden muss.31 Aufbauend auf dieser politisch-symbolischen Relevanz bemühte sich der Verein zur Rettung des Siebengebirges (VVS) ab 1886, der weiteren Zerstörung der Physiognomie des Rheintales Einhalt zu gebieten. Die Kampagnen des Vereins richteten sich wiederum vor allem gegen den weiteren Abbau von Trachyt in Steinbrüchen und die damit verbundene Zerstörung der charakteristischen Silhouetten der Berge des Siebengebirges, wie die von Ölberg und Petersberg. Lekan zeigt am Beispiel des VVS, dass die deutsche Heimat- und Naturschutzbewegung, um politische Relevanz bemüht, sowohl funktionalistisch und ökonomisch (Erholung und Förderung des Tourismus), wie auch symbolisch-nationalistisch (Stärkung des Nationalbewusstseins aller Klassen) argumentierte. Diese politische Strategie erwies sich aber nur in bürgerlichen Milieus als erfolgreich. Für große Teile der Bevölkerung standen die Forderungen des Heimat- und Naturschutzes ihrem Interesse an technischem Fortschritt und ökonomischem Wachstum entgegen, die eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation versprachen. 32 Die daraus resultierende Ambivalenz der Heimatschutzbewegung gegenüber dem technischen Fortschritt führte aber nur einzelne, wie etwa Rudorff, in einen strikten Antiurbanismus. Andere einflussreiche Protagonisten, wie Conwentz und Paul Schultze-Naumburg, akzeptierten technischen Fortschritt hingegen als notwendiges Übel, das in eine vernünftige Kulturlandschaftsentwicklung integriert werden musste, und propagierten ein alternatives Fortschrittsmodell organischer Entwicklung. So schreibt SchultzeNaumburg im dritten Band seiner populären Kulturarbeiten: „Ein bloßer status quo ante ist unser Endziel nicht, sonst müsste es als reaktionär bezeichnet werden, sondern es heißt Weiterentwicklung mit sorgfältiger Berücksichtigung aller ‚Forderungen’. Wir betrachten ausdrücklich den Zweck der ‚Kulturarbeiten’, die Vorbedingungen zu einer Weiterentwicklung wieder zu schaffen. Wir betreiben diese Propaganda so eifrig, weil wir der Überzeugung sind, dass eine solche Weiterentwicklung allein über den Wiederbesitz des ganzen nationalen Schatzes führt und zwar nicht des antiquarischen Schatzes, sondern des noch nutzbaren: den der bürgerlichen und bäuerlichen Kultur. Erst wenn wir wieder so weit sind, dann sind wir reif genug, an die Gestaltung ‚neuer Formen’ zu gehen. Aber diese müssen organisch wachsen und dürfen nicht zum Modear33
tikel, d.h. ‚letzte Neuheit’, werden.“
31 Z. B. im von Max Schneckenburger verfassten Gedicht „Die Wacht am Rhein“. 32 Ebd. S. 36ff. 33 Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten, Band III: Dörfer und Kolonien, München 1908 (2. Auflage). S. 205.
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Das, was Schultze-Naumburg als Ziel der Kulturarbeit vorschwebt – die Erneuerung der Baukultur durch die Weiterentwicklung vernünftiger und daher nützlicher Traditionen – folgt den Gestaltungsprinzipien eines organizistischen Funktionalismus.34
7.4 H ARMONISCHE R AUMENTWICKLUNG DURCH ORGANISCHE P LANUNG Die Idee, dem Fortschritt und dem als chaotisch und formlos empfundenen (ökonomischen und urbanen) Wachstum der Moderne eine vernünftige Form zu geben, führte in den 1920er Jahren in den urbanen und industriellen Entwicklungsgebieten der Weimarer Republik zur Konstituierung der Landesplanung. Die Planungsinstrumente dafür standen aus der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs bereit: „Although German military officials had failed miserably to provide adequately for the civilian population during the war, their efforts at corporatist economic planning and rationing offered new models of state intervention that fuelled the demand for better peacetime land use and natural resource administration.“
35
Planungsverbände, wie der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR), in dem die Gemeinden und Kreise des Ruhrgebiets gemeinsame übergeordnete Planungsaktivitäten entfalteten, stellten Wirtschafts- und Siedlungsentwicklungspläne auf, die die wirtschaftlichen Aktivitäten und die Siedlungs-, Verkehrs- und Grünflächenentwicklung steuern sollten. Die Planungen verfolgten mehrere Ziele: Wirtschaftsförderung (u.a. um die Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg zu leisten) und Reform des Städtebaus zu einer zeitgemäßen, d.h. der Industriegesellschaft angemessenen Stadtentwicklung. Das beinhaltete die Trennung von Wohnen und Arbeiten, die Lösung der Verkehrsprobleme und die Schaffung von
34 Siehe zu Schultze-Naumburg als Funktionalisten: Ulrich Eisel: Emanzipation und Würde in einfachster Form – Die philosophische und politische Struktur funktionalistischer Ästhetik, in: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II, Kassel 2007. S. 69ff. Siehe zum organizistischen Funktionalismus: Kapitel 5.8 in dieser Studie. 35 Thomas M. Lekan: Imagining the Nation in Nature – Landscape Preservation and German Identity, 1885-1945, Cambridge London 2004. S. 122f.
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Freiflächen zum Zweck der Erholung für die arbeitende Bevölkerung. Diese Forderung nach Anpassung der Städte und Regionen an die industrielle Entwicklung war verbunden mit Kritik an der liberalen Wirtschaftsordnung, die eben kein geordnetes, harmonisches Wachstum ermöglichte. Dieses Defizit sollte durch die Landesplanung behoben werden. „Die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts galt als Ursache für die Situation der Gegenwart; die Gegenwart war gekennzeichnet durch einen Verlust an Form, die einzelnen Elemente im Raum hatten begonnen, einander zu ‚stören’, und es fehlte an ‚Ordnung’ und ‚Übereinstimmung’. Nur noch vorausschauende Maßnahmen versprachen jetzt Hilfe: Es ging nicht ohne einen ‚Plan’.“
36
Diese fehlende Harmonie betraf auch das Verhältnis von Stadt und Land. Dies manifestierte sich für die Kritiker im unkontrollierten Wachstum der Städte in die Landschaft. Die Landesplanung sollte hier Ausgleich schaffen: „Die Landesplanung erstrebt eine harmonische Einheit von Landschaftsformen, Wirtschafts- und Siedlungsformen, welchen letzterdings auch die Verwaltungsformen angepasst werden, um zu einer vollendeten Harmonie aller Ausdrucksformen des menschli37
chen Daseins zu gelangen.“
Für den Heimatschutz bot die entstehende Landesplanung die Möglichkeit sich als Landespflege zu modernisieren und das „romantische Erbe“ des frühen Heimatschutzes hinter sich zu lassen. Die Landespflege bot sich als Disziplin für die Gestaltung des Ausgleichs zwischen technischen Artefakten und Kulturlandschaft an, wie es z.B. Lindner in Ingenieurwerk und Naturschutz vorschlägt: „Wir kommen in alledem nicht weiter ohne ein großzügiges Bemühen um einen Ausgleich zwischen dem, was auf der einen Seite als kostbarstes Gut unseres Volkes Natur bleiben, was auf der anderen Seite notgedrungen Technik sein und werden muss. Wir kommen nicht weiter ohne Rücksichtnahme vom einen zum anderen hin und umgekehrt. Wir brauchen volle Einsicht und Übersicht, um die Pläne und Ziele solcher Baumaßnahmen auf Volkswirtschaft im weitesten Sinne und auf das Bild der Heimat als deutlichsten
36 Ariane Leendertz: Ordnung, Ausgleich, Harmonie – Koordinaten raumplanerischen Denkens in Deutschland, 1920 bis 1970, in: Thomas Etzemüller (Hg): Die Ordnung der Moderne – Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. S. 130. 37 Martin Pfannschmidt: Landeskunde und Landesplanung, in: Die Baupolitik 3, 1929 (Beilage zum Städtebau 24, 1929), S. 53. Zitiert nach Ebd. S. 134.
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Ausdruck für natürliches Geschehen möglichst vollendet einzustellen. Erst so werden sich die Beziehungen der Technik zu dem vorhandenen Bestand der Landschaft ausgleichen lassen. Die entsprechenden Ausdrucksmittel für ihre Werkbauten wären dann selbstverständliche Folge.“
38
Landespflege versteht sich in diesem Kontext als Disziplin der Versöhnung und des Ausgleichs zwischen der Eigenart von Kulturlandschaft und der industriell geformten Gestaltsprache technischer Artefakte. Das Ziel von Landesplanung und Landespflege war die Harmonisierung der räumlichen Entwicklung Deutschlands durch die Idee von organischer Planung, die man als instrumentelle Anwendung der Herderschen Idee der Kultivierung des Landes interpretieren könnte. Technischer Fortschritt sollte durch diese Art von individualisierender Planung und Gestaltung als neuer Bestandteil einer organischen Entwicklung des Raumes in Kulturlandschaft integriert und „gezähmt“ werden.
38 Werner Lindner: Ingenieurwerk und Naturschutz, Leipzig 1926. S. 7.
8. Die Dialektik des Designdiskurses
Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war das Nachdenken über das Herstellen von Dingen in handwerkliche Traditionen eingebettet. Das bei einigen Handwerken der Produktion vorausgehende Entwerfen von Dingen war in den Diskursen der Malerei, Bildhauerei, Baukunst, Gartenkunst, etc. – also den Kunsttheorien aufgehoben. Man beschäftigte sich mit technischen Innovationen innerhalb dieser Traditionen (z.B. neuen Farben oder neuen Darstellungsformen) oder mit den Gegenständen, die man herstellte oder darstellte: Was male ich? Was baue ich? Es war aber selten notwendig, die eigene Tätigkeit zu reflektieren (außer wo sie religiöse Belange berührte – hier bedurfte es einer Rechtfertigung, dass die Tätigkeit gottgefällig ist und nicht anmaßend), denn aus der Tradition des Handwerks her war es klar was man tat – eben Malen, Zeichnen, Konstruieren, Schneidern, etc. Um über das eigene handwerkliche Tun zu reflektieren, bedurfte es der Anregung von Außen – einer Krise. Diese Krise wurde durch die Industrialisierung ausgelöst – die maschinelle Herstellung von Dingen. Der Prozess der Herstellung eines Gegenstandes wird durch Maschinenproduktion und die damit verbundene Rationalisierung in Arbeitsschritte aufgespaltet, die dann mit dem jeweils effizientesten Verfahren und daher in Arbeitsteilung durchgeführt werden können. Dazu gehört auch, dass die geistige Arbeit von der materiellen Produktion getrennt wird. Anders als beim Handwerk, bei dem geistige und materielle Arbeit im Herstellungsprozess verflochten sind, gibt es seither die Konzeption und Gestaltung von Dingen – ihr Design. Man könnte zur Recht einwenden, dass es schon vor der industriellen Produktion Pläne, Bauzeichnungen, etc. gab und damit eine Arbeitsteilung zwischen Entwurf und Produktion. Diese Arbeitsteilung z.B. zwischen Baumeister und Handwerkern diente der Bewältigung eines Prozesses, der nur aus der Perspektive eines Steinmetzes oder Maurers nicht kontrollierbar gewesen wäre. Der Baumeister, Gartenkünstler, Festungsingenieur fungierte als „Meta-Handwerker“, der eine Hierarchieebene höher als die restlichen Gewerke die Herstellung des
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großen Werkstücks leitete. Er leistete aber nicht getrennt von manuell tätigen Handwerkern geistige Arbeit, sondern leitet einen handwerklichen Prozess, in dem die manuellen und geistigen Tätigkeiten, die z.B. zur Herstellung einer Festungsanlage nötig sind, nicht voneinander getrennt sind. In manchen Ländern spielt das vormoderne Ethos des Handwerks in einigen Designberufen weiterhin eine Rolle – zum Beispiel dann, wenn Architekten auch die Bauausführung ihrer Entwürfe steuern. In den meisten Designdisziplinen, z.B. im Produktdesign, ist das Handwerkliche aber weitgehend verschwunden und wurde durch die Schnittstelle zwischen Gestalter und Techniker abgelöst. Dieses Hervortreten von Design als eigene Tätigkeit als Folge der Industrialisierung bedurfte der Reflexion. Die durch die industrielle Arbeitsteilung entstandenen Designprofessionen mussten v.a. aus ökonomischen Gründen definieren, was sie eigentlich tun. Die neuen gestalterischen Dienstleistungen mussten erst benannt werden, um damit Geld verdienen zu können. Dies und die funktionale Eingliederung in den industriellen Produktionsprozess führte zur inhaltlichen Differenzierung von verschiedenen Berufen geistiger Produktion von Dingen. Es gab kaum Rollenbilder, an denen sich die neuen Berufe orientieren konnten – man folgte daher in der Differenzierung der neuen Berufe alten handwerklichen Traditionslinien – der Baumeister wurde zum Architekten, der zeichnende Künstler zum Grafiker, der Weber zum Interiordesigner usw. Dieses Nachdenken der neuen Berufe über ihre Tätigkeit, u.a. auch mit dem Ziel, sich von anderen Tätigkeitsbereichen wie Kunst oder Wissenschaft zu unterscheiden, setzte einen Diskurs über die Tätigkeit des Entwerfens in Gang, den ich Designdiskurs nennen will. In diesem Designdiskurs lassen sich vereinfacht zwei Definitionen von dem, was Design tut (Entwerfen), unterscheiden: V Design ist ein intuitiver kreativer Prozess, der zu Problemlösungsereignissen
(„Erleuchtungen“) führt. Dieser Prozess erfordert eine eigene Art zu denken – Design Thinking – und eigene Wissensformen – Design knowledge. V Design ist eine rationale und systematische Problemlösungsmethode – Design methods. Design Thinking und Design knowledge Hier geht man davon aus, dass Gestaltung eine eigene Form zu denken ist. „Design Thinking“1 oder „Designerly ways of Knowing“.2 Design hat es nicht mit
1
Peter G. Rowe: Design Thinking, MIT Press 1987.
2
Nigel Cross: Designerly Ways of Knowing, Basel, Boston, Berlin 2007.
D IALEKTIK DES D ESIGNDISKURSES | 185
einfach strukturierten Problemen zu tun, die rational und systematisch gelöst werden können, sondern mit „wicked“ oder „ill-defined problems“,3 die durch den Gestalter erst intuitiv eingegrenzt werden müssen, um sie lösen zu können. Ein intuitiver, kreativer Denkvorgang, in dem Gefühle und Sinnlichkeit eine große Rolle spielen, führt zur Problemlösung. Entstanden ist dieses Verständnis von Design in der Architekturtheorie Anfang des 20. Jahrhunderts als Antwort auf die Krise der Baukunst, ausgelöst durch die Industrialisierung des Baugewerbes und der Warenproduktion. Das Bild des Baumeisters oder Baukünstlers (als Meta-Handwerker) war angesichts der Massenproduktion von Gebrauchsgegenständen und Mietskasernen mit aufgeklebtem, industriell hergestellten Fassadendekor nicht mehr glaubwürdig. Ein neues Selbstverständnis wurde gesucht. Es entstand das z.B. vom Bauhaus propagierte Verständnis des Architekten als ästhetischem Funktionalisten. Dieser ist ein Spezialist für das Aufspüren (intuitive Erfassen) von allgemeingültigen menschlichen Bedürfnissen und Potentialen, denen er durch die richtige Gestaltung von Dingen (Gebäuden und anderen Gebrauchsgegenständen) zur Entfaltung verhilft. So sollten z.B. die Bedürfnisse und Potentiale der Hausfrau durch die sogenannte Frankfurter Küche befriedigt und „entfaltet“ werden. Dieses Gestaltungsverständnis ist auf alle Bereiche des menschlichen Daseins anwendbar, und Gestaltung sollte daher das ganze Leben umfassen. Dieses Gestaltungsverständnis erneuert das Bild des schöpferischen Menschen in Form des kreativen Experten im industriellen Produktionsprozess, der nun keine individuellen Kunstwerke oder Werkstücke herstellt, sondern dem es durch seine Befähigung zum intuitiven Erkennen allgemeiner Bedürfnisse gelingt, ideale Industrieprodukte zu gestalten (egal ob Häuser, Gärten, Stühle oder Flaschenöffner). 4 Design methods In diesem Verständnis von Design geht man davon aus, dass Design ein systematisches und rationales Lösen von Problemen sein sollte. Es wurden daher Methoden entwickelt, die eine Systematisierung und Standardisierung des Designprozesses zum Ziel hatten. Diese bestehen grob aus einer Analyse- und einer Synthese-Phase, d.h. Daten erheben, Problem analysieren, Lösungen entwickeln
3
Horst W. Rittel, Melvin M. Webber: Dilemmas in a general theory of planning, in: Policy Sciences, 4, 1973. S. 155-169.
4
Vgl. Ulrich Eisel: Emanzipation und Würde in einfachster Form – Die philosophische und politische Struktur funktionalistischer Ästhetik, in: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II, Kassel 2007. S. 66ff.
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und vergleichen, Abwägen und Entscheiden. Im Zentrum steht hier die rationale Analyse mit Problemdefinition, dann das systematische Suchen nach Lösungen und die rationale Bewertung von Alternativen und die Entscheidung für die beste Lösung. Auch Kreativität hat hier ihren Platz, nämlich beim Suchen nach der Problemlösung. Doch dieser sogenannte „creative leap“5 ist nichts anderes als das Ergebnis der trial and error Methode, in der solange Lösungen ausprobiert werden, bis die richtige gefunden ist. Das könnte auch von Computern erledigt werden – und das war auch das längerfristige Ziel des design method movements – Gestaltung in Rechenoperationen zu übersetzten – da es sich dabei um einen Suchvorgang handelt, der, wenn er schneller und einfacher von statten geht, am besten von einer Maschine mit großer Rechenkapazität zu bewältigen wäre. Entstanden ist dieses Verständnis von Design nach dem Zeiten Weltkrieg aus zwei Gründen: Mit dem sogenannten operations research (was man in etwa mit Wissenschaft der Entscheidungsfindung übersetzten könnte) ist es gelungen, komplexe militärische Entscheidungsprozesse (militärische Probleme betreffend, wie Infrastrukturentwicklung, Nachschubplanung, Planung von Bombenteppichen etc.) durch systematische quantitative Methoden und Modelle erfolgreicher zu machen, d.h. Fehlentscheidungen zu vermindern. Die Erfolge motivierten dazu, die entwickelten Methoden auf das zivile Leben anzuwenden – neben der Ökonomie auch auf Stadt-, Infrastruktur-, und Grünplanung. Die künstlerischirrationalen und vor allem ideologischen Planungen v.a. der faschistischen und kommunistischen Diktaturen in Europa, die sich auf intuitiv-völkische oder kulturell-nationale Erkenntnisformen beriefen (den deutschen Geist), regten zur Suche nach nachvollziehbaren und vernünftig begründbaren und dadurch in demokratischen Diskursen verhandelbaren Design- bzw. Planungsmethoden an. Die im operations research entwickelten Methoden boten sich dafür an. Die Design-Methode sollte den unterschiedlichen „Entwurfs“-disziplinen, wie Architektur, Industriedesign, Engineering Design, Stadt- und Regionalplanung eine gemeinsame rationale Basis, im Sinne einer allgemeingültigen Methode, geben. Als das gemeinsame Prinzip wurde die Lösung von Problemen identifiziert, die nun nicht mehr intuitiv, sondern systematisch erfolgen sollte. Bereits nach einem kurzen aber intensiven Jahrzehnt der Theoriebildung wurde die Design-Methode von ihren eigenen Theoretikern kritisiert und aufgegeben (z.B. Jones,6 Archer7) oder zu Moderationsverfahren politischer Willensbildung
5
Bruce Archer: Systematic method for designers: part five: The creative leap, in: Design, Heft 181, 1964. S. 50-52.
6
J. Christopher Jones: How My Thoughts about Design Methods have Changed During the Years, Erstveröff. in: Design Methods and Theories, 11 (1), 1979, S. 50-62. Wie-
D IALEKTIK DES D ESIGNDISKURSES | 187
(Horst W. J. Rittel)8 weiterentwickelt. Dieser Schritt von der „Design-Methode“ zur „Moderation“ hat den Diskurs um genuine Inhalte und Methoden des Designs nicht abgeschlossen. Das Prinzip der „Moderation“ als Verfahren zur Gestaltung von Willensbildung kann Fragen nach dem Ästhetischen im Design nicht beantworten. Es korrigiert nur die verkürzte Sichtweise des „technischen Imperativs“ angesichts praktischer Urteile. Der Diskurs wendet sich seit den 1980er Jahren daher wieder dem „Intuitiven“ im Designprozess zu. Die gescheiterte rationale Design-Methode wird um intuitive Anteile ergänzt und zum eigenständigen „Designerly Ways of Knowing“ 9 umgebaut. Der hier kurz beschriebene historische Verlauf des Designdiskurses zeigt einen offenbar unauflösbaren Widerstreit, der sich an zwei widersprüchlichen Geschmacksprinzipien, die den beiden beschriebenen Designauffassungen zugrunde liegen, immer wieder entzündet: Annehmlichkeit und Vollkommenheit. Eine Auflösung dieser Antinomie ist nicht in Sicht. Dieser unabschließbare Diskurs wirkt sich auf die Designpraxis aus, wie die auf- und absteigende Konjunktur von Designmethoden (aktuell z.B. Space Syntax) und intuitiver Gestaltungspraxis (Star-Designertum) zeigt. Im nächsten Kapitel versuche ich darzulegen, dass der Designdiskurs sich um den ungeklärten Prinzipienstatus des Ästhetischen im Zusammenhang mit Gebrauchsgegenständen dreht. Ist er einem autonomen Urteilsprinzip unterworfen oder einer anderen Art von Urteil?
8.1 D IE A NTINOMIE DES G ESCHMACKS BEI SCHÖNEN G EBRAUCHSGEGENSTÄNDEN Das Vermischen von Geschmacksurteil und praktischem Urteil in der Beurteilung von Gegenständen anhängender Schönheit setzt die „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“10 in Gang. Ursprung dieser Dialektik ist die „Antinomie des
derveröff. in: Nigel Cross (Hg.): Developments in Design Methodology, John Wiley&Sons 1984. S. 329-335. 7
Bruce Archer: Whatever became of Design Methodology?, in: Design studies, Band 1/1, Jg. 1979. S. 17-18.
8
Horst W. J. Rittel: Zur Planungskrise: Systemanalyse der „ersten und zweiten Generation“, in: Ders.: Planen, Entwerfen, Design: Ausgewählte Schriften zu Theorie und Methodik, Stuttgart, Berlin, Köln 1992. S. 37-58.
9
Nigel Cross: Designerly Ways of Knowing, Basel, Boston, Berlin 2007.
10 Siehe zur Dialektik der ästhetischen Urteilskraft: KdU B232.
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Geschmacks“.11 In der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft führt Kant den Nachweis, dass die ästhetische Urteilskraft einem eigenen Prinzip a priori folgt. Er tut dies, indem er zeigt, dass der autonome Prinzipienstatus der ästhetischen Urteilskraft12 die Vernunft im Nachdenken über diesen in eine Dialektik führt. Diese entspringt aus den unvereinbaren Gegensätzen, die sich im Nachdenken über das autonome Prinzip der ästhetischen Urteilskraft scheinbar notwendig einstellen. Kant behandelt hier nicht widersprüchliche Geschmacksurteile, sondern widersprüchliche Aussagen über das dem Geschmack zu Grunde liegende Prinzip. „Die Eigentümlichkeiten des Geschmacksurteils werden von der Vernunft als Prinzipien, d.i. als das Unbedingte, von dem her sich rational die Reflexion begreifen lässt, zur Geltung gebracht. Über den möglichen Bezug auf eine Begrifflichkeit ergeben sich die widerstreitenden Positionen von Thesis und Antithesis.“
13
Kant bringt folgende sich widersprechende Positionen in Stellung: „1. Thesis. Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweise entscheiden.) 2. Antithesis. Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich, ungeachtet der Verschiedenheit desselben, darüber auch nicht einmal streiten (auf die notwendige Einstimmung anderer mit diesem Urteile Anspruch machen).“
14
Diese Antinomie des Geschmacks lässt sich nach Kant dann auflösen, wenn man nachweist, dass beide Positionen sich gar nicht widersprechen, weil sie sich nur scheinbar mit derselben Sache befassen. „[...]; dieser zwiefache Sinn oder Gesichtspunkt der Beurteilung sei unserer transzendentalen Urteilskraft notwendig, aber auch der Schein, in der Vermengung des einen mit dem anderen, als natürliche Illusion unvermeidlich.“15 Ist erkannt, dass Thesis und Antithesis verschiedene, aber richtige Gesichtspunkte einnehmen und lassen sich diese widerspruchsfrei verbinden, ist die Antinomie aufgelöst.
11 KdU B232. 12 Dieser Begriff wird verwendet von: Joachim Peter: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft, Berlin, New York 1992. S. 157. 13 Ebd. S. 161. 14 KdU B234. 15 KdU B234.
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„Der Schlüssel zur Auflösung liegt dabei im Begriff des Begriffs: In der Thesis, so Kant, wäre exakter von ‚bestimmten Begriffen’, d.h. von Verstandesbegriffen, in der Antithesis wäre lediglich von einem, und zwar einem ‚unbestimmten, Begriffe’ zu reden. Die beiden Sätze könnten dann widerspruchsfrei zu der Aussage verbunden werden: Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf bestimmten Begriffen – es ist also nicht durch Beweise zu begründen –, aber es gründet sich doch auf einem unbestimmten Begriff – deshalb lässt sich für die Anerkennung des Urteils durch andere wenigstens streiten.“
16
Dieser unbestimmte Begriff ist die Idee einer Zweckmäßigkeit der Natur für den Menschen. Hier ist es notwendig das y (also den Zweck) in der Zweckmäßigkeitsrelation x ist zweckmäßig für y näher zu betrachten: Die Natur ist hier nicht zweckmäßig für die Erkenntnis durch den Menschen, das wäre die zwar auch subjektive aber logische Zweckmäßigkeit der Natur, und diese besteht in der „durchgängig systematisierbaren Gesetzmäßigkeit der Natur“17 und ist somit getragen von Begriffen. Die Zweckmäßigkeit im ästhetischen Urteil ist zweckmäßig ohne Zweck, also y ist kein, wie Kant in der Dialektik ausführt, bestimmter Begriff, sondern ein unbestimmter Begriff. Ein solch unbestimmter Begriff ist eine Idee. „Ein so verstandener Begriff ist, als eine Idee, der keine Anschauung korrespondieren kann, unbestimmt, so dass er dem Geschmacksurteil keine begrifflich fundierte Geltung verschafft. Dennoch ist er als Begriff ein solches, worauf sich die Vernunft beziehen kann, um sich die Notwendigkeit eines Allgemeinheitsanspruchs im Geschmacksurteil begreiflich zu machen.“
18
Das Geschmacksurteil führt den Verstand in Ansehung der gelingenden ästhetischen Erfahrung – der Lust am Schönen – zur Idee der Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen. Der Verstandes bedarf dieses Bezugs auf eine Idee (etwas Übersinnliches), um ästhetische Urteile, die sich jeweils konkret auf eine singuläre Erscheinungssituation beziehen, überhaupt denken zu können. Der Verstand hebt die vollzogene Allgemeingültigkeit im ästhetischen Urteil, die singulär und konkret ist, zu einer Universalität des ästhetischen Urteils als Idee der Zweckmäßigkeit der Natur für den Menschen.
16 Hans-Joachim Pieper: Geschmacksurteil und ästhetische Einstellung, Würzburg 2001. S. 128. 17 Ebd. S. 130. 18 Ebd. S. 162.
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Der von Kant aufgelösten Antinomie des Geschmacks liegt nun, wie er schreibt, „[...] der richtige Begriff des Geschmacks, nämlich als einer bloß reflektierenden ästhetischen Urteilskraft, zum Grunde; und da wurden beide dem Scheine nach widerstreitenden Grundsätze miteinander vereinigt, indem beide wahr sein können [...]“.19 Durch die Vermischung von ästhetischem und praktischem Urteil, wie sie bei der Beurteilung von Designgegenständen bzw. schönen Gebrauchsgegenständen erfolgt,20 werden die nur scheinbar gegensätzlichen Positionen der Antinomie des Geschmacks zu Prinzipien des Geschmacks. Das sind die Prinzipien der Annehmlichkeit und der Vollkommenheit. Erkennt man nicht, dass bei der Beurteilung von Designgegenständen ein praktisches und ein ästhetisches Urteil gefällt wird, wird das Urteilen über Designgegenstände und der Designprozess entweder sensualistisch oder rationalistisch konzipiert. Das ästhetische Urteil wird einem technisch-praktischen zugeschlagen oder zum objektiven Geschmacksurteil erhöht. Daraus ergeben sich zwei Prinzipien der Beurteilung von Designgegenständen: V Erfolgt die Verkennung eines Geschmacksurteils zugunsten eines technisch-
praktischen Urteils, wird diesem ein subjektives (sensualistisches) Prinzip zu Grunde gelegt. Das Ästhetische wird als subjektiv empirisch aufgefasst. Es fließt als Daten über sinnliche Bedürfnisse mit Hilfe von quantitativen Befragungen, die statistisch ausgewertet werden, in den Designprozess ein. Der Designer urteilt darauf aufbauend nur praktisch-technisch und durchläuft einen streng systematischen Designprozess, der auch von einer Maschine erfüllt werden könnte. V Erfolgt die Erhöhung eines praktischen Urteils zu einem objektiven Geschmacksurteil wird diesem das (rationalistische) Prinzip der Vollkommenheit zu Grunde gelegt. Das Ästhetische wird als objektiv aufgefasst und spielt daher im Designprozess eine zentrale Rolle. Urteile über Designgegenstände sind auf intuitivem Erkennen beruhende praktische Urteile. Diese intuitive Erkenntnis stellt das spezifische Wissen der Designer dar und unterscheidet sich von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und der künstlerischen Intuition. In den beiden Urteilsprinzipien werden dem Geschmacksurteil entweder sinnliche oder begriffliche Gründe unterstellt. Sie laufen daher auf widersprüchliche Prinzipien in der Erklärung der Gründe für die ästhetische Urteilskraft hinaus. In
19 KdU B238. 20 Siehe dazu: Kapitel 2.5 in dieser Studie.
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Variante 1, indem das reine Geschmacksurteil in ein praktisches Urteil basierend auf der Sinnlichkeit (sensualistisches Prinzip) aufgelöst werden soll; in Variante 2, indem das Geschmacksurteil es vermögen soll über eine objektive Zweckmäßigkeit basierend auf dem Gefühl von Lust (Prinzip der Vollkommenheit) zu urteilen. Die aus diesem Widerspruch entspringende Dialektik ist aber keine, die im Sinne von Kant dadurch aufgelöst werden könnte, indem man zeigt, dass beide denknotwendige Perspektiven auf ein und dieselbe Sache – in diesem Fall, die ästhetische Urteilskraft – sind. Die Anwendung dieser, im Kant’schen Sinne kritischen Auflösung der Antinomie des Geschmacks ist beim Widerspruch, der sich aus den beiden Prinzipien der Annehmlichkeit und Vollkommenheit ergibt, nicht möglich, da es sich dabei nicht mehr um denknotwendige Auffassungen über den Bestimmungsgrund der ästhetischen Urteilskraft als autonomes Prinzip handelt, sondern um die Verkennung des Geschmacksurteil als etwas eigenes und stattdessen, um seine Begründung durch Prinzipien, die außerhalb des Urteilsbereiches des Geschmacks liegen – im Bereich der Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Daher schreibt Kant: „Würde dagegen zum Bestimmungsgrunde des Geschmacks [...], wie von einigen geschieht, die Annehmlichkeit oder, wie andere (wegen der Allgemeingültigkeit desselben) wollen, das Prinzip der Vollkommenheit angenommen und die Definition des Geschmacks danach eingerichtet: so entspringt daraus eine Antinomie, die schlechterdings nicht auszugleichen ist als so, dass man zeigt, dass beide einander (aber nicht bloß kontradiktorisch) entgegenstehende Sätze falsch sind; welches dann beweist, dass der Begriff, 21
worauf ein jeder gegründet ist, sich selbst widerspreche.“
Diese Selbstwidersprüchlichkeit zeigt sich an den beiden Urteilsprinzipien im Design: V Die über die sinnlichen Bedürfnisse (Annehmlichkeit) ermittelten Daten wer-
den im Laufe des Designprozesses zu Gesetzen der Annehmlichkeit verallgemeinert – sie werden, um damit arbeiten zu können, zu einem Standard of Taste zusammengefasst.22 Diese Verallgemeinerung führt in Folge zu objektiven Geschmacksregeln, von denen objektive Merkmale von Dingen abgeleitet werden, die diese Regeln erfüllen. Die Anwendung des Prinzips der Annehm-
21 KdU B238. 22 Differenziert nach Klassen, Milieus, Lebenstilgruppen, Völkern, Nationen, Rassen usw.
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lichkeit als Urteilsprinzip im Design kommt somit nicht ohne die Anwendung des Prinzips der Vollkommenheit aus. V Die Anwendung des Prinzips der Vollkommenheit im Designprozess macht es möglich, über die Beurteilung der Erscheinung die praktische Qualität eines Gegenstandes zu beurteilen. Dieser Vorgang führt die Sinnlichkeit in das Urteilsprinzip der Vollkommenheit ein, das ja eigentlich darin besteht, zu beurteilen ob ein Ding dem entspricht, was es sein soll, also ob ein Hammer gut dafür geeignet ist, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Wenn es möglich sein soll, dass man das an der Erscheinung des Hammers erkennt, muss man davon ausgehen, dass der sinnliche Eindruck des Hammers dieses Urteil ermöglicht. Das geht aber nur nach dem Prinzip der Annehmlichkeit. Die Anwendung der Urteilsprinzipien Annehmlichkeit und Vollkommenheit im Design führt jeweils aufs gegenteilige Prinzip hin und verstrickt sich daher immer in den Widerspruch zwischen der Subjektivität des Angenehmen und der Objektivität des Vollkommenen. Das eröffnet zwei Wege mit diesem Widerspruch umzugehen: V Man gibt es angesichts der Subjektivität des Angenehmen auf, als Designer zu
arbeiten. Es gibt sowieso keine allgemeinen Regeln dafür, wie gestaltet werden soll. Jeder soll sich die Welt doch so herrichten, wie er sie am angenehmsten findet. V Man erkennt hinter der Subjektivität von Sinnesurteilen ein geheimes Muster, Regeln und Zwecke und eröffnet so die Möglichkeit, dass praktische Urteile sinnlich gefällt werden können. Das ist der Weg, den der ästhetische Funktionalismus (in mechanistischer oder organizistischer Form) geht. Im Folgenden soll an drei Feldern des Designdiskurses (Designproblem, Designdenken und Designmodell) die von Kant formulierte unauflösbare Antinomie der Prinzipien nachvollzogen werden. Den obigen Ausführungen folgend wird gezeigt, dass diese bei jedem der Diskursfelder zum Tragen kommt. Die Definition von Designproblemen des Designtheoretikers Bruce Archer spricht die drei Diskursfelder an: „There can be no solution without a problem and no problem without constraints, and no constraints without a pressure or need. Either the need is automatically met, and there is no problem, or the need is not met because of certain obstacles or gaps. The finding of means to overcome these obstacles or gaps constitutes the problem. If solving the problem
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involves the formation of a prescription or model for subsequent embodiment as a material object (and requires a creative step) then it is a design problem.“
23
Jeder Punkt der Definition lässt sich von einer sensualistischen und einer rationalistischen Position her verstehen. Laut Archer hat Design folgende Merkmale: V Design löst Probleme V Design ist kreativ V Design modelliert Im folgenden Abschnitt werden die drei Merkmale von Design unter den Überschriften Designprobleme, Designdenken und Designmodelle dargestellt, wie sie jeweils nach dem Prinzip der Annehmlichkeit (unter a.) und nach dem Prinzip der Vollkommenheit (unter b.) verstanden werden. Designprobleme a. Designprobleme werden durch systematische und mathematische Entscheidungsverfahren gelöst. Das Problem definiert das Design. Die zur Problemlösung benötigten Fähigkeiten des Designers entsprechen den durch das Problem gegebenen Grenzen und Zwängen. Dazu schreibt Archer: „The skills required for its [the problems] solution depend upon the nature of the predominating constraints. These determine whether the problem is called architecture, engineering, applied science, industrial design or applied art and craft.“
24
Designprobleme ergeben sich, wie Archer schreibt, aus Bedürfnissen; diese bewegen sich immer in festen Randbedingungen, sodass für jedes „problematische“ Bedürfnis ein anderer Designer zuständig ist. Es gibt architektonische Probleme, ingenieurtechnische Probleme, etc. Probleme entstehen durch Bedürfnisse, die auf Grund bestimmter Ursachen nicht erfüllt werden können. Für ein problematisches Bedürfnis (y), für dessen Erfüllung kein geeignetes Mittel (x) zur Verfügung steht, soll nun durch den Designer das richtige Mittel
23 L. Bruce Archer: Systematic method for designers: Part two: Design and system, in: Design, 1963, Heft 174. S. 70f. Ähnliche Definitionen finden sich auch bei Cross (2007) und Schön (1983). 24 Ebd. S. 71.
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gefunden werden. Er tut das durch technisch-rationale Urteile, indem er verschiedene Ursache und Wirkung-Verhältnisse (Kausalitäten) auf ihre Zweckmäßigkeit für die Problemlösung hin testet, bis er das geeignete Mittel gefunden hat. Er greift dafür auf ein Repertoire an Techniken zurück, die wiederum in der Auseinandersetzung mit problematischen Bedürfnissen entwickelt wurden. Jede Technik verleiht daher die Problemlösungskompetenz für bestimmte Problemfelder. Diese Problemlösungskompetenz umfasst nun im Design aber nicht nur technisch-praktische Probleme, sondern kann auch „ästhetische Bedürfnisse bzw. Probleme“ lösen. Auch wenn der Begriff „ästhetisches Problem“ z.B. bei Archer, nicht verwendet wird, möchte ich ihn doch hier einführen, weil er das Verständnis des Ästhetischen einer nicht mehr rein empiristischen, sondern sensualistischen Position im Designdiskurs verdeutlicht. Will man als Designer ästhetische Probleme lösen, stellt sich die Frage nach der Allgemeingültigkeit der Probleme und ihrer Lösungen: „The essence of aesthetics is choice, the aim is appropriateness, and the criteria are the center of gravity and the periphery of all the choices made so far. Each man has his own standards and a consciousness of other people’s standards. Each makes his own choice. Other people with a similar background may make a similar choice. The designer’s special problem is that he must usually foresee the probable future choice of other people, as well as his own.“
25
Ästhetische Probleme sind somit nicht allgemeingültig. Es können keine objektiven Regeln und somit Techniken zu ihrer Lösung abgeleitet werden. Das mag für die alltägliche Designpraxis z.B. im Produktdesign genügen, in der man in vielen Fällen nicht mit Allgemeingültigkeit, sondern mit Wahrscheinlichkeit arbeiten muss, wie es auch Archer vorschlägt: „A measure of what is pleasing or displeasing to most people, or to different classes of people, can be determined by the applied experimental psychologist, using market re26
search techniques.“
Für einen theoretischen Diskurs – und das will der Designdiskurs ja sein – ist es notwendig, die empirischen Daten zu einer Gesetzmäßigkeit zu verallgemeinern.
25 L. Bruce Archer: Systematic method for designers: Part one: Aesthetics and logic, in: Design, 1963, Heft 172. S. 49. 26 Ebd. S. 49.
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Damit könnte man den ästhetischen Problemen Allgemeingültigkeit zusprechen bis neue empirische Daten eine andere Gesetzmäßigkeit nahelegen. „Thus the exploration of which qualities are generally or particularly described as good, and which other qualities are described as bad, so far as the sensual appreciation of arte27
facts is concerned, is the proper matter of aesthetics.“
Es ist ein objektivistisches Verständnis von Ästhetik im Sinne eines mechanistischen ästhetischen Funktionalismus, das sich durchsetzt, wenn man ein sensualistisches Urteilsprinzip ansetzt. Etwas als schön zu beurteilen, geschieht nicht durch die Anwendung der ästhetischen Urteilskraft und somit einer Reflexion über ein besonderes Verhältnis der Erkenntnisvermögen untereinander, sondern etwas als schön zu beurteilen, wird zum technisch-praktischen Urteil, das auf Naturgesetzen der Sinnlichkeit gründet. Freie Schönheit, die unabhängig von einem Objekt erfahren wird, wird im sensualistischen Schönheitsurteil zur ästhetischen Qualität von Dingen oder Medien.28 b. Designprobleme sind „wicked problems“ und bedürfen spezifischer Methoden, wie sie nur „das Design“ hat, zu ihrer Lösung. L. Bruce Archer, einer der prägenden Teilnehmer am Designdiskurs und einflussreicher Theoretiker der Design Methodology, vollzieht nach jahrzehntelanger einschlägiger Theoriebildung einen dialektischen Seitenwechsel: „In retrospect, I can see that I wasted an awful lot of time in trying to bend the methods of 29
operational research and management techniques to design purposes.“
Bezogen auf Designprobleme sieht sein Paradigmenwechsel folgendermaßen aus: „The first thing to recognise is that ‚the problem’ in a design problem, like any other illdefined problem, is not the statement of requirements. Nor is ‚the solution’ the means ultimately arrived at to meet those requirements. ‚The problem’ is obscurity about the requirements, the practicability of envisageable provisions and/or misfit between the re-
27 Ebd. S. 48. 28 Siehe dazu das 2. Kapitel in dieser Studie. 29 L. Bruce Archer: Whatever becam of Design Methodology?“, in: Design studies, Vol. 1, No. 1, 1979. S. 17.
196 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG quirements and the provisions. ‚The solution’ is a requirement/provision match that contains an acceptably small amount of residual misfit and obscurity.“
30
Design wird von ihm weiterhin als problemlösungsorientiertes Handeln konzipiert, doch „das Problem“ wird nun anders definiert. Es ist ein „ill-structured“,31 „ill-defined“32 oder „wicked problem“.33 Der von Horst W. Rittel Ende der 1960er Jahre und 1973 mit Melvin M. Webber in einem planungstheoretischen Artikel publizierte Begriff wicked problem wurde schnell in den Designdiskurs aufgenommen. Wicked problems sind Probleme, die so komplex sind, weil sie z.B. von zahlreichen Interessen geprägt werden, dass sie nicht wissenschaftlich bzw. mit Methoden von wissenschaftlicher Planung (system approach) definiert und vollständig gelöst werden können. Eine besondere Rolle im Designdiskurs spielt folgende Erkenntnis: „The formulation of a wicked problem is the problem! The process of formulating the problem and of conceiving a solution (or resolution) are identical, since every specification of the problem is a specification of the direction in which a treatment is considered.“
34
Ebenfalls wichtig für den Designdiskurs ist die Erkenntnis der Einmaligkeit von wicked problems: „But by ‚essentially unique’ we mean that, despite long lists of similarities between a current problem and a previous one, there always might be an additional distinguishing property that is overriding importance. Part of the art of dealing with wicked problems is the art of not knowing too early which type of solution to apply.“
35
30 Ebd. S. 17. 31 Herbert Simon: The Sciences of the Artificial, Cambridge, MIT Press 1969. 32 Horst W. Rittel, Melvin M. Webber: Dilemmas in a general theory of planning, in: Policy Sciences, 4, 1973. S. 155-169. 33 Ebd. S. 155-169. 34 Horst W. Rittel, Melvin M. Webber: Planning Problems are Wicked Problems, in: Nigel Cross (Hg.): Developments in Design Methodology, John Wiley&Sons 1984. S. 137. Wiederveröffentlichung von Dilemmas in a general theory of planning, siehe Fußnote 408. 35 Ebd. S. 141.
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Die Einmaligkeit jedes Problems und die Bedeutung der Konzeption der Lösung für die Problemdefinition macht den Begriff des wicked problem für den Designdiskurs fruchtbar. Er ermöglicht es, bestimmte Probleme als exklusive Designprobleme zu verstehen, die sich z.B. von wissenschaftlichen unterscheiden, wie auch Design als methodisch eigenständige Problemlösungskompetenz zu begreifen. Diese Abgrenzung erfolgt einerseits dialektisch zur wissenschaftlichen Design-Methode und zu wissenschaftlichen Verfahren überhaupt, andererseits zur Kunst mit ihren auf Intuition beruhenden Verfahren und Inhalten. Sowohl für den Designtheoretiker Nigel Cross, wie auch für Donald Schön sind Designprobleme, als wicked problems der Ausgangspunkt, um den Designprozess als intuitive Praxis der Erkenntnis zu begreifen. Für beide ist der Designprozess ein iteratives Verfahren zwischen Problemlösungsvorschlag und Problemdefinition – wobei jede konzipierte Problemlösung auf einer vorher erfolgten Problemdefinition beruht und jede Lösung eine Neudefinition des Problems notwendig macht und das so lange, bis eine Übereinstimmung erreicht ist. Diese Iteration finden wir bereits bei der Design-Methode, mit dem Unterschied, dass hier die richtige Problemdefinition und die richtige Problemlösung gefunden werden können. Das ist bei wicked problems nicht der Fall, da eine abschließende Problemdefinition gar nicht möglich ist. Letztendlich schließt der Designer die Iteration mit einem intuitiven Urteil ab. Wie Schön schreibt: „The practice context is different from the research context in several important ways, all of which have to do with the relationship between changing things and understanding them. The practitioner has an interest in transforming the situation from what it is to something he likes better. He also has an interest in understanding the situation, but it is in the service of his interest in change.“
36
Es handelt sich somit nicht bloß um ein Ausprobieren, bis Problemdefinition und Problemlösung zusammenpassen, sondern um eine Setzung und somit um die Formulierung eines Interesses durch den Designer. Dieses Interesse des Designers ermöglicht es ihm, das Designproblem zu lösen, indem er ein „ordering principle“37 einführt, das sowohl das Designproblem neu strukturiert, wie auch die Konzeption einer Problemlösung ermöglicht. Das überkomplexe Design-
36 Donald Schön: The Reflective Practioneer – How Professionals Think in Action, Ashgate 2011 (Erstauflage 1983). S. 147. 37 Nigel Cross: Designerly ways of Knowing, Basel, Boston, Berlin 2007. S. 36. Cross verweist hier auf: P. H. Levin, Decision Making in Urban Design, Building Research Station Note EN51/66, Garston, Herts, UK 1966.
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problem kann nicht systematisch durchdrungen und verstanden werden und wird daher durch einen Akt intuitiver Erkenntnis, dem Urteilsprinzip der Vollkommenheit folgend, neu definiert und gelöst. Designdenken a. Design als Methode beinhaltet Kreativität. Für Archer ist der „creative step“38 das zentrale Merkmal, das Design von anderem (systematischen) problemlösungsorientierten Handeln unterscheidet. Doch der creative step fällt nicht als irrational oder unsystematisch aus der DesignMethode heraus. Er ist kein besonderer Schritt, der einem anderen Prinzip folgt, als dem der Heuristik, das auch der Wissenschaft zur Hypothesenfindung dient. Dafür bedarf es keiner besonderen kreativen oder intuitiven Begabung, sondern der Designer muss über das Problem gut Bescheid wissen, und er benötigt dafür vor allem einen Erfahrungsschatz an Lösungsbeispielen (aus dem eigenen Tätigkeitsbereich und darüber hinaus), die er mit der aktuellen Problemstellung vergleicht, um über die Prüfung dieser verschiedenen Analogien auf eine neue und eigenständige Problemlösung zu kommen. 39 Dieser „creative mechanism“,40 das Testen von Analogien, ist eine mentale Leistung, die auch von einem Computer durchgeführt werden könnte. „Computers are better and quicker than human beings at the chore of trying every single permutation of the facts. Therefore one can assume that, in certain circumstances, a computer might be able to do better than a brainstorming team, or than a designer – provided of course, that some one stands by to spot the bright idea when it comes out or, alternatively, instructs the machine on the criteria for identifying apt and original solutions for itself. This brings us back to our original point – setting up goals and criteria and spotting bright ideas are tasks which cannot be abdicated.“
41
Hier stellt Archer wieder das Urteil über die Zweckmäßigkeit des Designgegenstandes in den Vordergrund seiner theoretischen Überlegungen. Dass dieses Ur-
38 L. Bruce Archer: Systematic method for designers: part five: The creative leap, in: Design, Heft 181, 1964. S. 50. 39 Ebd. S. 51. 40 Ebd. S. 50. 41 Ebd. S. 50f.
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teil auch im Bereich des Ästhetischen ein praktisch-technisches Urteil ist, ergibt sich aus der sensualistischen Position, die er einnimmt. b. Design ist eine intuitive Wissensform. Für Archer ist der „creative step“ das wichtigste Merkmal, das Design von anderem problemlösungsorientierten Handeln unterscheidet, doch besteht für ihn kein Unterschied zu Kreativität in der Wissenschaft, z.B. bei der Hypothesenbildung. Bei Schön und vor allem bei Cross hingegen spielt das „andere“ Denken der Designer eine große Rolle bei der Formulierung ihrer Designtheorien. Cross spricht sogar von „Designerly ways of Knowing“.42 Er definiert ein ganzes Bündel an Merkmalen, die das Denken im Designprozess einzigartig machen soll: „I identified five aspects of designerly ways of knowing: Designers tackle ‚ill-defined’ problems. Their mode of problem-solving is ‚solution-focused’. Their mode of thinking is ‚constructive’. They use ‚codes’ that translate abstract requirements into concrete objects. 43
They use these codes to both ‚read’ and ‚write’ in ‚object languages’.“
Auch wenn Cross geheimnisvolle intuitive Fähigkeiten44 als notwendig für den Designprozess zurückweist, handelt es sich dennoch um eine Form anschaulicher Erkenntnis, die notwendig wäre, um den Merkmalen des designerly ways of knowing zu entsprechen. Das ist zunächst die bereits oben besprochene Fähigkeit, ill-defined problems zu bearbeiten, ebenso die Fokussierung auf das Finden von Lösungen statt der intensiven Problemanalyse bei der Bearbeitung von Problemen. Desweiteren scheinen sich Designer einer eigenen Form des Denkens zu bedienen: „Essentially, we can say that designerly ways of knowing rest on the manipulation of nonverbal codes in the material culture; these codes translate ‚messages’ either way between concrete objects and abstract requirements; they faciliate the constructive, solutionfocused thinking of the designer, in the same way that other (e.g. verbal and numerical) codes facilitate analytic, problem-focused thinking; they are probably the most effective
42 Nigel Cross: Designerly ways of Knowing, Basel, Boston, Berlin 2007. 43 Ebd. S. 29. 44 Ebd. S. 26-27.
200 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG means of tackling the characteristically ill-defined problems of planning, designing and inventing new things.“
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Hier wird zunächst nicht klar, worin der Unterschied zwischen Design Thinking und „normalem“ oder „wissenschaftlichem“ Denken bestehen soll. Denken bedarf immer der Anschauung und des Begriffes, das hat Kant klar herausgestellt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“
46
Somit ist sowohl für das „Designdenken“ wie auch „wissenschaftliches“ Denken das Zusammenspiel von Anschauung und Begriff notwendig. Hierin kann somit kein Unterschied bestehen. Eine andere Interpretation wäre, dass der Designer kreativer denkt, als z.B. Wissenschaftler es tun. Auch hier lässt sich kein Unterschied begründen, da, wie bereits oben ausgeführt, sowohl „wissenschaftliche“ Kreativität, wie auch die Kreativität von Designern demselben „creativ mechanism“, des heuristischen Verfahrens des Ausprobierens von Analogien folgt. Sehr wohl ließe sich aber ein Unterschied in den Urteilsformen über die Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes feststellen. Das was Cross “Metaphoric appreciation“47 nennt und worin Designer in besonderem Maße geübt sind, ist meiner Interpretation nach nichts anderes, als das iterative in ein Zusammenspiel bringen von praktischem und ästhetischem Urteil. Cross beschreibt es als „’reading’ the world of goods, in translating back from concrete objects to abstract requirements, through their [the designers] design codes.“48 Bezeichnend ist, dass Cross das Wort reading und nicht beurteilen benutzt. Für Cross bedeutet Design Thinking eben eine spezifische Form der Erkenntnis. Design ist für ihn eine Erkenntnistätigkeit, die sowohl vom logischen Denken der Wissenschaft wie auch vom ästhetischen Urteilen in der Kunst unterschieden werden sollte. Daher verkennt er das im Designprozess wirksame autonome Prinzip des ästhetischen Urteils und schlägt es dem praktischen Urteil zu. Der Designprozess wird für ihn
45 Ebd. S. 27. 46 KrV B75. 47 Nigel Cross: Designerly ways of Knowing, Basel, Boston, Berlin 2007. S. 27. 48 Ebd. S. 27.
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daher zu einer Form intuitiven Denkens, das zu sinnlichen Erkenntnisurteilen gelangt. Er folgt somit dem Erkenntnisprinzip der rationalistischen Ästhetik der Vollkommenheit. Designmodelle a. Das Designmodell ist ein Werkzeug der Ideenfindung und -überprüfung. In der Design-Methode, wie Archer sie beschreibt, ist die Anfertigung eines Modells oder Plans ein zentraler Aspekt der Designtätigkeit: „A key element in the act of designing is the formation of a prescription or model for a finished work in advance of its embodiment.“49 Das Modell50 hat die Aufgabe, die technischpraktischen Urteile in der kreativen Ideenfindungsphase systematisch prüfen zu können. Auch die ästhetischen Probleme, die mit der Designidee gelöst werden sollen, werden dieser systematischen Prüfung unterzogen. Der systematische Prozess der Ideenfindung und -überprüfung anhand eines Modells unterscheidet die Designtätigkeit sowohl vom künstlerischen Schaffensprozess, wie auch vom wissenschaftlichen Experiment. Im künstlerischen Schaffen wird die ästhetische Idee ohne systematische Überprüfung unmittelbar im Kunstwerk verkörpert: „Sometimes the word ‚creating’ is employed when there is no model or prescription between the formation of the idea and its embodiment.“51
Die wissenschaftliche Forschung kommt nach Archer ebenfalls ohne Modell aus, da das Experiment und die Versuchsanordnung zwar systematisch durchgeführt werden, aber keine kreative Methode benötigen: „Here, the solution can be seen to arise automatically and inevitably from the interaction 52
of the data, and the process of calculation is regarded a non-creative.“
49 L. Bruce Archer: Systematic method for designers: Part two: Design and system, in: Design, 1963, Heft 174. S. 70. 50 Ich werde den Begriff Modell stellvertretend auch für Plan, Zeichnung, Beschreibung, etc. verwenden. 51 L. Bruce Archer: Systematic method for designers: Part two: Design and system, in: Design, 1963, Heft 174. S. 70. 52 Ebd. S. 70. Dass diese Aussage im Widerspruch zur Verwendung von Modellen in der Wissenschaft steht, die ebenso kreativer Ideenfindung entspringen, scheint Archer hier zu entgehen.
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Das Modell hat im Designprozess zwei Aufgaben: Es ist Werkzeug im Rahmen systematischer Ideenfindung und Werkzeug zur Überprüfung der Problemlösungstauglichkeit und ist daher bei Archer für zwei Phasen der Design-Methode notwendig – der Synthesephase und der Entwicklungsphase. „Hence there is a logical difference both in intention and in method between the kind of development work and feasibility testing which goes on in the synthesis phase and that which goes on in the development phase. Whereas abstract analysis is needed to prove that a given design idea is the best recipe for an occasion, nevertheless the design pudding is still in the eating.”
53
Erst nachdem mit Hilfe des Modells in einem iterativen Prozess anhand technisch-praktischer Urteile eine Designidee als beste Lösung identifiziert wurde, beginnt die Überprüfung der Praxistauglichkeit mit Prototypen und genauerer technischer Detaillierung. Das Modell ist somit das Werkzeug, das der Designidee konstruktive Form gibt und den Übergang zwischen kreativer (systematischer) Ideenfindung und Herstellung ermöglicht. Die Konzeption der Ideenfindung und -überprüfung, auch ästhetischer Aspekte, durch technisch-praktische Urteile anhand des Modells ist nur dann möglich, wenn dieses auf geometrischmathematischen Prinzipien beruht. Da mit dem Modell die technisch-praktische Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes beurteilt werden soll und zwar anhand einer Anschauung, kommt dafür nur die reine Anschauung der Mathematik in Frage, soll das Urteil logisch begründbar sein. Ästhetische Qualitäten des Designgegenstandes können daher, dem sensualistischen Urteilsprinzip folgend, mit Hilfe eines mathematischen Modells (geometrisch oder algebraisch) logisch begründet werden. b. Das Designmodell ist eine Theorie des einzigartigen Falles. Für Cross ist „modelling, pattern-formation, synthesis“54 der methodische Kern von Design. Der Designer wird mit einer unklaren Problemstellung konfrontiert (oder nimmt sich ihrer an), und statt nun in einen unabschließbaren Prozess der Analyse einzusteigen, macht er, nachdem er einigermaßen mit dem Problem vertraut ist, einen Lösungsvorschlag. Dieser wirft neue Fragen auf und führt dazu, dass der Designer die Problemstellung neu fassen kann. Der iterative Prozess aus
53 L. Bruce Archer: Systematic method for designers: Part six: the donkey work, in: Design, 1964, Heft 185. S. 60. 54 Nigel Cross: Designerly ways of Knowing, Basel, Boston, Berlin 2007. S. 18.
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„problem-understanding“, „solution-generating and testing“ und „problemreframing“ beginnt. Schön nennt diesen Prozess „reflecting in action“.55 Die Lösungsvorschläge, die in diesem Prozess generiert werden, sind nach Cross und Schön aber nicht logisch aus der Problemstellung abgeleitet (das ist gar nicht möglich, weil Designprobleme unklar definiert sind), sondern der Designer bringt etwas Neues in den Prozess ein – ein Ordnungsprinzip oder pattern. „Designers might differ, for example, with respect to the priorities they assign to design domains at various stages of the process. They might focus less on the global geometry of buildings, [...], than on the site or on the properties and potentials of materials. They might let the design depend more heavily on the formal implications of construction modules. Their governing images might be framed in terms of building character, and they might allow particular precedents to influence more frankly the order they impose on the site. But whatever their differences of language, priorities, images, styles, and precedents, they are likely to find themselves, [...], in a situation of complexity and uncertainty which demands the imposition of an order.”
56
Diese Ordnung, die der Situation auferlegt wird, ist nicht die eines wissenschaftlichen Modells, einer theoretischen Ordnung der Begriffe, deren Aufgabe es ist, zu helfen eine komplexe Situation zu verstehen. Im Zusammenhang mit Design ist es ein Modell im Sinne einer Form, eines Musters, aber auch im Sinne eines Werkzeuges der Praxis, nämlich einer Verkleinerung, mit der man experimentieren kann. Durch ein Designverständnis, das auf dem Beurteilungsprinzip der Vollkommenheit beruht, wird das Designmodell zu einer anschaulichen Theorie über eine singuläre Situation. „But when it comes to the situation as a whole, each practitioner does not subsume it under a familiar category but treats it as a unique entity for which he must invent a uniquely appropriate description.“
57
Das Designmodell dient nicht der Verallgemeinerung und Vereinfachung, sondern der Verwirklichung einer Ordnung auf Grundlage einer einzigartigen Ausgangslage. Ansprechende pattern und interessante räumliche Geometrien wer-
55 Donald A. Schön: The Reflective Practioneer – How Professionals Think in Action, Ashgate 2011 (Erstveröffentlichung 1983). S. 54 und 134ff. 56 Ebd. S. 103. 57 Ebd. S. 137.
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den als neue Ordnung in diese singuläre komplexe Situation eingeführt und fungieren als praktisch-schöne Problemlöser – als gutes Design.
8.2 E RSTE A UFLÖSUNG DER A NTINOMIE DES D ESIGNDISKURSES : D ESIGN ALS M ODERATION Begreift man Designer als Spezialisten zur Erfindung von Mitteln (x) für die Erfüllung von Zwecken (y) (also neuen Artefakten), und somit als Profis für Urteile über Zweckmäßigkeitsverhältnisse, lässt sich das Scheitern der DesignMethode mit Hilfe von Kants Differenzierung von technisch-praktischer und moralisch-praktischer Zweckmäßigkeit begreifen. Jemand, der sich mit der Frage beschäftigt „Welches x ist zweckmäßig für y?“ sucht nach einem Zweckmäßigkeitsverhältnis technisch-praktischer Art. Der Zweck y ist definiert, das zweckmäßigste x muss aus einer Reihe von Möglichkeiten durch ein rationales Urteil gefunden werden. Technisch-praktisches Handeln wendet, wie im Designdiskurs oftmals betont, das Kausalitätsprinzip der Naturwissenschaften (aus x folgt z, das sich als Potential für die Verwendung von x für verschiedene Zwecke darstellt), in eine Kausalität nach Zwecken um (x ist zweckmäßig für y). Nach Kant zeigt die technisch-praktische Zweckmäßigkeit nur die potentielle Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes oder einer Handlung für die Lösung von allen möglichen Problemen an. Was diesen Urteilen nach Kant fehlt, ist der Anspruch, die Zwecksetzung, als Akt der Willensbildung, auf ihre Allgemeingültigkeit hin zu prüfen. Die Bestimmung des Willens, die Formulierung eines Interesses und ihre Prüfung ist aber kein theoretisches bzw. rational-technisches Urteil, sondern wird, wenn es den Bereich der subjektiven Maximen überschreitet, ein praktisch-moralisches Urteil und somit eine Angelegenheit gesellschaftlichpolitischer Willensbildung. Urteile, mit denen sich technisches Handeln nicht befasst: „Sätze, welche in der Mathematik oder Naturlehre praktisch genannt werden, sollten eigentlich technisch heißen. Denn um die Willensbestimmung ist es diesen Lehren gar nicht zu tun; sie zeigen nur das Mannigfaltige der möglichen Handlungen an, welches eine gewisse Wirkung hervorzubringen hinreichend ist, und sind also eben so theoretisch, als alle 58
Sätze, welche die Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung aussagen.“
58 KpV 47, Anmerkung.
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Diese Ausblendung der Willensbildung in der Design-Methode oder vielmehr die Ideologie, dass Willensbildung eine Angelegenheit theoretisch-technischer Urteile wäre, überschreitet die Grenzen der Zweckrationalität und trägt sie in den Bereich politisch-gesellschaftlicher Willensbildung. Es fehlt ihr trotz ihrer naturwissenschaftlichen Herleitung die Legitimation durch praktisch-moralische Urteile, die nur durch praktische Gesetzgebung bestimmt werden und nicht technisch-naturwissenschaftlich. So ist es verständlich, dass zweckrationales Handeln, das seine Grenzen überschreitet, indem es Willensbildung theoretischtechnisch zu rationalisieren versucht, als selbstverliebtes und kurzsichtiges Handeln von Technokraten aufgefasst wird. „Prinzipien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten, alsdenn sind es aber bloß theoretische Prinzipien, (z.B. wie derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe). Aber praktische Vorschriften, die sich auf sie gründen, können niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet angenommen werden kann, gegründet.“
59
Die gesellschaftliche Kritik (v.a. seit den 1960er Jahren) an diesem technokratischen Verständnis von Design und Planung gab den Anlass darüber nachzudenken, wie die politisch-gesellschaftliche Willensbildung in Designdiskurs und -praxis integriert werden könnte. Dies führte zu einem Verständnis von Planung als Moderation von politischer Willensbildung. Diese notwendige Erweiterung des Designdiskurses konnte aber die Frage nach dem Status des Ästhetischen im Design nicht beantworten. „Argumentative Planung“60 und/oder „partizipatives Design“ vermögen die Antinomie des Designdiskurses nicht aufzulösen, weil es in diesen Verfahren, auch wenn es z.B. um die Behandlung ästhetischer Fragen geht, nicht um ästhetische Urteile, also Geschmacksfragen geht, sondern um Urteile über die gesellschaftliche Bedeutung von etwas z.B. der Forderung, etwas Schönes zu bauen oder zu bewahren. In einem argumentativen Planungsverfahren werden in transparenter Form (durch ein für alle nachvollziehbaren Austausch von Argumenten) praktische Urteile gefällt. Welche Zwecke wollen wir
59 KpV 47. 60 Das ist Planung verstanden als „argumentativer Prozess“. Siehe dazu: Rittel, Horst W. J.: Zur Planungskrise: Systemanalyse der „ersten und zweiten Generation“, in: Ders.: Planen, Entwerfen, Design: Ausgewählte Schriften zu Theorie und Methodik, Stuttgart, Berlin, Köln 1992. S. 54.
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setzen? Sollten ästhetische Fragen im argumentativen Prozess, in der Abwägung unterschiedlicher Interessen angesprochen werden, und wird im Zuge dessen eine Bewertung des ästhetischen Gegenstandes notwendig, erfolgt diese mit dem Ziel eine allgemeingültige Aussage zu treffen. Im Moment der Bewertung von Schönheit verstrickt sich die „Design-Moderation“ aber wieder zwangsläufig in die Dialektik des Designdiskurses.
8.3 Z WEITE A UFLÖSUNG DER A NTINOMIE DES D ESIGNDISKURSES : D ESIGN ALS ANHÄNGENDE S CHÖNHEIT Die Dialektik des Designdiskurses bleibt somit grundsätzlich unauflösbar, wenn man Designprinzipien, also genuine Prinzipien zur Beurteilung von Designgegenständen annimmt. Einen Ausweg bietet die Anwendung des bereits weiter oben erläuterten Konzeptes der anhängenden Schönheit auf Designgegenstände. Praktisches und ästhetisches Urteil werden nicht zu Gunsten des jeweils anderen aufgelöst, sondern sie bleiben, wenn auch in „eingeschachtelter Form“, ihren jeweiligen Prinzipien a priori treu. Die Trennung der Urteilsformen führt dann nicht mehr in eine unauflösbare Antinomie von Designurteilen. Sondern die Beurteilung von Designgegenständen erfolgt als iteratives in Übereinstimmung bringen von praktischem und ästhetischem Urteil. Die Urteile werden getrennt gefällt und in einem iterativen Designprozess aufeinander bezogen. Hierbei wird der Designgegenstand bzw. das Modell so lange verändert, bis Geschmacksurteil und praktisches Urteil übereinstimmen, d.h. das für das Schönheitsurteil zur Verfügung stehende Erscheinungsmaterial steht nicht im Widerspruch zum als zweckmäßig beurteilten inneren Zweck des Designgegenstandes. Mit dem Verständnis von Designgegenständen als anhängende Schönheiten lassen sich auch die oben erläuterten Begriffe des Designdiskurses widerspruchsfrei denken. Komplexe Urteilssituation Trennt man die Urteilsformen, stellt sich das sogenannte Designproblem gar nicht mehr als Problem dar, sondern als komplexe Urteilssituation aus praktischen und ästhetischen Urteilen. Der Versuch, diese Urteilssituation nach den Prinzipien des operations research zu einer konkreten Problemstellung zu machen und somit naturwissenschaftlich zu denken, scheitert an der gesellschaftlich-kulturellen Aufgabe, die Design hat (und die mit der Scientifizierung nicht aufgegeben wurde): gleichzeitig praktische und ästhetische Urteile zu fällen mit
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dem Ziel Artefakte herzustellen, die diesen Urteilen entsprechen. Diese Aufgabe kann nicht mit theoretisch-naturwissenschaftlichen Methoden erfüllt werden. Dieser Versuch der Scientifizierung des Design führt dialektisch zur intuitiven Konzeption des sogenannten Designproblems, die es vergegenständlicht, sodass es Fragen gesellschaftlicher „Natur“ sind, die in Form des Designproblems an den Designer zur Lösung herangetragen werden. Ich werde versuchen, eine komplexe Urteilssituation anhand des 1926 vom niederländischen Architekten Mart Stam entworfenem Gasrohrstuhl, der in veränderter Form unter dem Namen Freischwinger oder Kragstuhl Furore machte, zu verdeutlichen: „[Der erste Kragstuhl]
61
[...] bestand aus zehn gleich langen Gasrohrstücken, die durch
Muffen zu einem Kubus verbunden waren, dessen hintere Seite nach oben geklappt war, um die Rückenlehne zu bilden. Durch das Fehlen der Hinterbeine brachte das streng konstruierte, formalistische Stuhlmodell die Idee einer schwerelosen Sitzposition zum Aus62
druck.“
Hier zeigt sich, wie ästhetische Idee und Nützlichkeit zusammenspielen. Das Gasrohr ermöglicht es, auf die Hinterbeine des Stuhles zu verzichten, um den Sitzenden nahezu über dem Boden schweben zu lassen. Aber die ästhetische Idee speist sich wahrscheinlich ebenso stark aus dem Erscheinungsmaterial der Gasrohre. Diese ermöglichen nicht nur statisch die Konstruktion des Stuhlrahmens, sondern durch ihr Prinzip, sich durch Muffen verbinden zu lassen, auch zu einer räumlichen Schleife oder einem komplexen Rahmen geformt zu werden. Ein Hinweis auf diese ästhetische Idee der räumlichen Schleife, die sich ergonomisch um den Körper des Sitzenden formt, ist der erste Titel des Stuhls von 1926: „Sans Fin“. Die anhängende Schönheit des „Sans Fin“ muss praktischen Urteilen, gemessen am Begriff „Stuhl“, genügen: Man soll gut und sicher sitzen können, usw. Die anhängende Schönheit muss ästhetischen Urteilen über eine ästhetische Idee genügen: Eine räumliche Schleife aus Rohren formt sich um den Köper des Sitzenden und lässt ihn gleichsam schweben. Dass diese ästhetische Idee aber darüber hinaus ein ästhetisches Urteil über jeden Begriff hinaus ermöglicht, lässt sich nur in der eigenen Anschauung erfahren und kann hier nicht „erklärt“ werden.
61 Einfügung T.H. 62 Sebastian Hackenschmidt: „Form Follows Motion“: Stühle in Bewegung, in: Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.): Möbel als Medien, Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011. S. 234.
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Der „Sans Fin“ zeigt, dass die beiden Urteile nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern dass das ästhetische Urteil vom praktischen „eingeschränkt“ wird. Das Urteil über die ästhetische Idee des schwebenden Sitzens auf einer räumlichen Schleife ist nur sinnvoll zu treffen, wenn es erstens um einen Stuhl geht, der zweitens auch als solcher benutzbar ist. Wenn man z.B. beim schwebenden Sitzen immer nach hinten umkippen würde, wäre das gefährlich, vielleicht auch ganz amüsant, aber sicherlich ganz anders zu beurteilen als ein schöner Stuhl: als Fehlkonstruktion, Scherzartikel oder hintergründig humorvolles Kunstwerk. Iterativer Urteilsprozess Eine Trennung der Urteilsformen ermöglicht auch ein Verständnis des Designprozesses jenseits der Dialektik von rationaler Methode und intuitiver Erkenntnis. Die mit der gesellschaftlich-kulturellen Aufgabe von Design einhergehenden Urteile über Gegenstände anhängender Schönheit sind mit den oben besprochenen komplexen Urteilssituationen verbunden. Diese Urteilssituation setzt, sollte es sich nicht um Standardsituationen handeln, über die der Designer schon einmal geurteilt hat, einen iterativen Designprozess in Gang. Wird dieser iterative Prozess als naturwissenschaftlicher oder intuitiver Prozess der Problembehandlung konzipiert, wie es bei den beiden hier vorgestellten widersprüchlichen Verständnissen von Design der Fall ist, handelt es sich dabei um heuristische Verfahren, entweder theoretischer oder anschaulicher Erkenntnis. Versteht man Design hingegen als Gestaltung von anhängender Schönheit, besteht der iterative Designprozess in einem spielerischen „in Harmonie bringen“ von praktischem und ästhetischem Urteil. Das werde ich ebenfalls am Gasrohrstuhl versuchen zu verdeutlichen:63 Mart Stam hatte sicherlich irgendeinen Anlass für seinen Einstieg in den iterativen Designprozess des „Sans Fin“. Vielleicht wollte er einen Stuhl am Puls der Zeit entwerfen, weil es in den 1920er Jahren prestigeträchtig war für Architekten dies zu tun, um so das tägliche Leben zu revolutionieren. Vielleicht wollte er dies erreichen, indem er der handwerklichen Tradition eines Stuhles mit vier Beinen widersprach und ihn stattdessen zu einer Art Fluggerät für den Benutzer
63 Da mir über den genauen Designprozess des „Gasrohstuhls“ nichts bekannt ist und soweit ich weiß keine Designprotokolle o.ä. existieren, handelt es sich hier um eine spekulative Rekonstruktion des Designprozesses, der aber genauso gut für die Veranschaulichung geeignet ist.
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machen wollte.64 Vielleicht hat ihn aber auch eine Gasleitung in seinem Studio dazu angeregt, sich mit dem Material Gasrohr und der Verbindungstechnik der Rohrmuffen zu beschäftigen, um dann zu erkennen, dass man damit eine große Anzahl von statisch stabilen räumlichen Schleifen bauen kann, die durch Druck in Schwingung versetzt werden können. Wie auch immer der Einstieg in den Designprozess war, als Architekt und Designer hat er sich dafür entschieden, an einer ästhetischen Idee zu arbeiten, die durch einen praktischen Gegenstand in Erscheinung tritt. Und er hat sich als Architekt und Designer dafür entschieden, einen praktischen Gegenstand zu entwerfen, der nicht einfach nur zum Sitzen da ist, sondern eine ästhetische Erfahrung ermöglicht, die den Benutzer in ein symbolisches progressives Verhältnis zur Tradition des Sitzens bringt. „Mit einer fast dadaistisch anmutenden Geste zertrümmerte der Gasrohrstuhl durch seine materialabhängige ‚Hässlichkeit’ jede gängige bürgerliche Vorstellung von Formschönheit, Eleganz und Repräsentation.“
65
Diese beiden Entscheidungen werden in einem iterativen Designprozess in Übereinstimmung gebracht. Beide angestrebten Zweckmäßigkeiten müssen durch das Artefakt erfüllt werden, um als gelungener Designgegenstand zufrieden zu stellen. Im hin und her Pendeln zwischen den Urteilsformen, dem wiederholten Testen der Zweckmäßigkeit in beiden Formen und dem Subsumieren der ästhetischen Idee „Sans Fin“ unter den Begriff „Stuhl“ besteht der Designprozess. Prototyp und originales Muster Durch die Trennung der Urteilsformen im Designprozess zur Herstellung anhängender Schönheit lässt sich auch das Designmodell anders erfassen. Es ist nicht bloß ein Werkzeug, an dem technisch-praktische Urteile zu heuristischen oder prüfenden Zwecken vollzogen werden. Es ist auch kein intuitives Erkenntnisinstrument. Sondern es ist Anschauungsobjekt (Prototyp), um praktische Urteile zu fällen, und es ist originales Muster66 (exemplarisches Kunstwerk), um
64 Siehe dazu: Sebastian Hackenschmidt: „Form Follows Motion“: Stühle in Bewegung, in: Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.): Möbel als Medien, Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011. S. 234. 65 Werner Möller, Otakar Mácel: Ein Stuhl macht Geschichte, München 1992. S. 14. 66 Siehe dazu KdU B182. Hier beschreibt Kant die Merkmale der Produkte ästhetischer Kunst. Kunstwerke entstehen nicht durch die Anwendung von Regeln, sondern durch
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ästhetische Urteile zu fällen. Der iterative Designprozess vollzieht sich ja nicht bloß in der inneren Anschauung, sondern anhand eines Objektes, das auf praktischer Ebene einen Begriff anschaulich macht und auf ästhetischer Ebene Erscheinungsmaterial liefert. Das Modell ist somit beides: allgemeingültiges Vorbild und originales Muster. Ich versuche, das wieder am Gasrohrstuhl zu verdeutlichen: Da mir nicht bekannt ist, wie Mart Stam den Designprozess vollzogen hat, gehe ich davon aus, dass er zuerst skizziert hat 67 und dann begonnen hat, einen Prototypen aus Gasrohren zu bauen.68 Mart Stam hat also zunächst einen Einstieg in den Entwurfsprozess gefunden und will einen Stuhl entwerfen, der das Sitzen revolutionieren soll. Er hat die Idee, dafür Gasrohre zu verwenden, weil man damit stabile räumliche Schleifen bauen kann. Er zeichnet nun verschiedene Varianten von Schleifen, auf denen man seiner Erfahrung nach mehr oder weniger gut sitzen kann. Irgendwann zeichnet er einen Kubus und kommt dann auf die Idee, die „Rückwand“ des Kubus nach oben zu klappen.69 Er bemerkt anhand der Zeichnung, dass die Schleife, wenn man sie als Stuhl betrachtet, so aussieht, als hätte sie nur zwei Beine. Er kann sich auch vorstellen, wenn er dafür Gasrohre verwenden würde, dass das ganze bei Belastung durch einen Sitzenden vielleicht zu Schwingen anfängt und der Benutzer sich fühlen würde, als ob er schwebe.70 Er passt als nächstes die gefundene Form an den
Originalität d.h. sie sind original. Und Kunstwerke sind exemplarisch, d.h. sie sind Muster und dienen als Regel zur Beurteilung (zur Geschmacksbildung). 67 Das liegt nahe, soll doch Mies van der Rohe angeregt durch eine Skizze Stams, die das Prinzip des Rahmens des Gasrohstuhls zeigte seinen Freischwinger entworfen haben. Siehe dazu: Werner Möller, Otakar Mácel: Ein Stuhl macht Geschichte, München 1992. S. 27. 68 Er könnte auch gleich mit den Gasrohren angefangen haben. Welche Techniken und welche Materialien für die Modellerstellung benutzt werden, ist für den Einzelfall zentral, weil dadurch der Designprozess bestimmt wird, aber es spielt prinzipiell keine Rolle, außer dass es einer Darstellungstechnik und eines Materials bedarf. 69 Ich folge hier der Beschreibung der Entwurfsidee in: Sebastian Hackenschmidt: „Form Follows Motion“: Stühle in Bewegung, in: Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.): Möbel als Medien, Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011. S. 234. Es könnte auch ganz anders vor sich gegangen sein. 70 Das war wohl nicht der Fall. Stam entwickelte eine Variante des Gasrohstuhls aus einem Stahlrohrahmen mit 20mm Durchmesser, der statisch nicht funktionierte und verstärkt werden musste. Dies verhinderte ein Schwingen des Stuhls. Erst Mies van der Rohes Variante konnte schwingen. Siehe dazu: Werner Möller, Otakar Mácel: Ein Stuhl macht Geschichte, München 1992. S. 24.
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durchschnittlichen Körper eines erwachsenen Westeuropäers an. Das schwebende Gefühl wird sicher stärker, wenn die Sitzfläche tiefer ist und der Sitzende weiter hinten sitzt und der Schwerpunkt tiefer liegt usw. Ästhetische Idee und Nützlichkeit werden anhand des Modells miteinander in ein Zusammenspiel gebracht, wobei die Regeln des Begriffs „Stuhl“ die Grenzen des Designprozesses bestimmen. Die im Rahmen dieses Beispiels angesprochenen praktischen Urteile waren, dem Beispiel entsprechend, Urteile über technisch-praktische Zweckmäßigkeit, da die praktisch-moralische Zweckmäßigkeit eines Stuhles selten beurteilt wird. Das könnte man in einem anderen Zusammenhang sicherlich tun, wenn z.B. in einer Gesellschaft auf einem Stuhl zu sitzen als europäische Art des Sitzens gelten würde und die Ausstattung eines Festsaals mit Stühlen durch einen Architekten als Anbiederung an fremde Bräuche oder als imperialistische Geste empfunden werden würde. Ein Designmodell ist somit auch immer mögliches Objekt gesellschaftlicher Willensbildung, z.B. ob man einen bestimmten Stuhl in einem bestimmten Kontext oder überhaupt Stühle will. Das Modell dient im Designprozess dazu, beide Urteilsformen zu vollziehen. Ästhetische und praktische Zweckmäßigkeit werden am selben Objekt beurteilt. Das Modell ist demnach erstens ein Mittel für das Spiel der Erkenntniskräfte (Erscheinungsmaterial). Das ist es bereits vollständig, nicht im Sinne eines Prototypen oder Protokunstwerks. Mit dem Modell (oder vielen Modellen) werden im Designprozess vom Designer zahlreiche ästhetisch unbefriedigende Versuche gemacht, wobei jeder Versuch das Ziel hat, ein originales Muster zu produzieren. Eine ästhetische Idee kann gar nicht in einer Art Protokunstwerk in Teilaspekten verwirklicht werden, sondern z.B. eine bereits als schön beurteilte Skizze ist das originale Muster. Eine Idee ist nicht teilbar und ebenso wenig ihre Veranschaulichung. Mit einem Muster kann dann selbstverständlich z.B. in anderen Materialien weitergearbeitet werden. Das Modell ist zweitens ein Werkzeug zur Mittelfindung und -überprüfung für praktische Zwecke. In ihrer technisch-praktischen Funktion unterscheiden Designmodelle sich nicht von wissenschaftlichen Modellen, sie sind Werkzeuge um Erkenntnisse zu gewinnen: „Unter einem Modell wird ein ideell vorgestelltes oder materiell realisiertes System verstanden, das das Forschungsobjekt widerspiegelt oder reproduziert und es so zu vertreten mag, dass uns sein Studium neue Informationen über dieses Objekt vermittelt.“
71
71 Viktor A. Stoff: Modellierung und Philosophie. Berlin: Akademie-Verlag 1969.
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Ein Designmodell realisiert daher mögliche Mittel für einen Zweck in vereinfachter Form, um diese auszuprobieren und zu prüfen. Modelle im technischpraktischen Sinn dienen dem Experiment. Damit geht einher, dass Designmodelle in ihrer technisch-praktischen und damit theoretischen Verwendung mathematische Modelle sein müssen, um ihre Zweckmäßigkeit objektiv prüfen zu können. Ein Designmodell wird im Designprozess iterativ von diesen zwei Perspektiven her bearbeitet. Um es zugespitzt auszudrücken: einmal wird geformt, dann wieder gemessen. Wenn verkannt wird, dass im Designprozess „zwei Modelle in einem“ zur Anwendung kommen, hat das Auswirkung auf die Konzeption von Designmodellen. Da das Designmodell in seiner technisch-praktischen Verwendung ein mathematisches Modell ist, wird das originale Muster ebenfalls als mathematisches Modell konzipiert, wobei wir wieder bei einer sensualistischen oder rationalistischen Konzeption des Designprozesses angelangt wären. Das originale Muster, das ein Designer im Designprozess zustande bringt und das, wie Kant schreibt, „von allem Zwange willkürlicher Regeln [...] frei scheinen“72 muss, wird als geometrisches Ordnungsprinzip verstanden. Das ästhetische Urteil wird hier gegen ein Urteil über objektiv formale Zweckmäßigkeit ausgetauscht. Das liegt nahe, haben doch geometrische Figuren, als reine Anschauung des Raumes und Schönheit gemeinsam, dass ihre Zweckmäßigkeit „ohne Bezug auf einen begrifflich bestimmten Zweck“ 73 ist. D.h. es ist eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“. In der Relation x ist zweckmäßig für y ist y nicht bestimmbar. Die Folge dieser Gemeinsamkeit ist, dass Geometrie oftmals zur alleinigen Basis des Urteilsprinzips im Designprozess erklärt wird und dadurch Schönheit mit Ordnung verwechselt wird.
72 KdU B179. 73 Andrea Kern: Schöne Lust: Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt/Main 2000. S. 77.
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8.4 U RTEILE
ÜBER
D ESIGNGEGENSTÄNDE
SIND NICHT
NUR ÄSTHETISCH Drei Irrtümer über die Beurteilungsprinzipien von Designgegenständen bzgl. ihrer ästhetischen Aspekte habe ich bisher versucht darzustellen: V Designgegenstände werden daraufhin beurteilt, ob sie sinnliche Bedürfnisse
erfüllen oder nicht. Dahinter steht das Geschmacksprinzip der Annehmlichkeit. V Designgegenstände werden daraufhin beurteilt, ob sie ihren Zweck anschaulich erfüllen. Dahinter steht das Geschmacksprinzip der Vollkommenheit. V Designgegenstände werden daraufhin beurteilt, ob sie die geeigneten Mittel sind einem durch demokratische Willensbildung gesetzten Zweck zu erfüllen. Dahinter stehen praktisch-moralische Urteile. Ein weiterer Irrtum, der in der bisherigen Argumentation noch nicht behandelt wurde, ist es, Designgegenstände bloß als ästhetischen Urteilen unterworfen zu sehen. Designgegenstände werden in dieser Perspektive nicht als Gegenstände anhängender Schönheit, sondern als freie Schönheiten konzipiert. Designgegenstände sind sicherlich Kunstwerke, die Symbol von Ideen (z.B. von Freiheit oder Gerechtigkeit) sind.74 Designgegenstände lassen sich aber so noch nicht von Kunstwerken unterscheiden. Der Unterschied besteht aber darin, dass sie als schön und nützlich beurteilt werden und diese Urteile aufeinander bezogen sind. Ein Kunstwerk kann natürlich auch schön und gleichzeitig nützlich sein. Z. B. kann ein schönes Gemälde auch nützlich dafür sein, ein Loch in einer Wohnzimmerwand zu verdecken. Die beiden Urteile sind aber voneinander unabhängig, weil gar nicht derselbe „Inhalt“ des Gemäldes beurteilt wird. Ich kann auch mit einem hässlichen Bild das Loch in der Wand verdecken, und ein Bild, das ein Loch verdeckt, wird dadurch nicht schöner oder hässlicher. Bei einem Stuhl ist das anders. Ein schöner Stuhl der zusammenbricht, wenn man sich draufsetzt, weil aus gestalterischen Gründen die Rahmenkonstruktion zu fragil gefertigt wurde, lässt auch seine Schönheit schal werden: „Dieser Stuhl sieht bloß schön aus.“ Das ästhetische Urteil wird vom praktischen Urteil tatsächlich eingeschränkt und sie sind nicht nur symbolisch aufeinander bezogen. Da auch anhängende Schönheiten im Rahmen ihres Begriffes freie Schönheiten sind, ergeben sich für ihre Herstellbarkeit Grenzen. Freie Schönheit lässt sich
74 Siehe über das Symbolverhältnis der Schönheit zu Ideen: KdU §59. Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit.
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nicht intendieren, also nicht herstellen. Das muss auch für die in anhängenden Schönheiten enthaltene Schönheit gelten. Soll für Gebrauchsgegenstände so etwas wie anhängende Schönheit geltend gemacht werden können, bietet sich hier die aus der Analyse von Kunstgegenständen gewonnene Konstruktion der scheinbar freien Schönheit an. Wir erhalten somit mit der Herstellung eines Artefakts mit anhängender Schönheit einen komplexen Gegenstand – es ist erstens ein Gegenstand mit objektiver Zweckmäßigkeit (z.B. seinen praktischen Nutzen), zweitens ein Gegenstand mit der Zweckmäßigkeit zweckmäßig ohne Zweck zu sein (ästhetische Idee), aber innerhalb der Grenzen des Begriffs (der objektiven Zweckmäßigkeit) und drittens mit einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck (freie Schönheit). Bei der Herstellung anhängender Schönheiten erfolgt demnach eine zweifache Einschränkung der freien Schönheit und somit ihre doppelte Bindung an einen Gegenstand bzw. Begriff. Auf Rezeptionsseite würde diese komplexe Konstruktion ein stark differenziertes Urteilen notwendig machen. Da die drei aufeinander bezogenen Urteile aber im Alltagsgebrauch als eines gefällt werden, ergibt sich somit ein Urteil über eine objektive Zweckmäßigkeit, das ein scheinbar freies Schönheitsurteil ist. Für den Rezipienten ergibt sich daraus eine Urteilssituation, in der ein objektives praktisches Urteil, als subjektives oder sogar freies Geschmacksurteil erscheint und auch umgekehrt freie Geschmacksurteile als objektiv erscheinen – eine Situation die von Herstellern anhängender Schönheiten in vielen Fällen beabsichtigt ist. Diese Verwirrung der Urteile treibt die Dialektik des Designdiskurses an. Sie entfaltet sich im Verhältnis von Nützlichkeit (oder Funktion) und Erscheinung des Gegenstandes und befeuert die Theoriebildung in der jeweiligen Designdisziplin. Diese komplexe Urteilssituation tritt bei Kunstgegenständen, die ja besondere Gegenstände anhängender Schönheit sind, in der Regel nicht auf. Sowohl Künstler wie Kunstbetrachter zeichnet in den meisten Fällen ein gewisses „Bewusstsein vom Scheine“75 aus. Zwar haben wir es auch hier mit unterschiedlichen Urteilsmöglichkeiten auf Produktions- und Rezeptionsseite zu tun, aber die Manipulierbarkeit der Urteile auf Rezipientenseite ist, durch das Bewusstsein des Scheincharakters des Kunstgegenstandes durch alle Beteiligten, relativ gering, wenn nicht der Versuch der Manipulation des Rezipienten durch Kunstwerke in den meisten Fällen sogar lächerlich wirkt (z.B. sozialistischer Realismus). Ebenso lächerlich wirkt so mancher Versuch, Kunstwerke objektiven bzw. moralischen Urteilen zu unterwerfen.
75 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, §54.
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Dieses „Bewusstsein vom Scheine“ ist bei Designgegenständen nur schwer aufrecht zu erhalten, da im Unterschied zur Kunstrezeption, die in der Regel als reflexive Praxis betrieben wird, dies im Gebrauch von praktischen Gegenständen selten der Fall ist. Zweckmäßigkeitsurteile über Designgegenstände sind auf objektive Zweckmäßigkeit aus (auf Nützlichkeit und/oder moralisch-praktische Zweckmäßigkeit), die durch bestimmte Zwecke (y) bestimmbar ist (z.B. ein Backofen (x) ist zweckmäßig, um Brot zu backen (y), oder „barrierefreies Bauen“ (x) ist zweckmäßig, um die Bewegungsfreiheit und damit Gleichberechtigung von Menschen, die zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen sind (y), zu fördern). Dieser Umstand birgt die Möglichkeit, dass durch die komplexe Urteilssituation „verborgene“ ästhetische Urteil als scheinbar praktisches Urteil ungleich „ernsthafter“ zu machen, als es im ästhetischen Kontext möglich wäre. Ein Umstand der z.B. von Produzenten von Designgegenständen dazu benutzt wird, einem Produkt ein „Image“ zu verleihen und so das Verhältnis von ästhetischer und praktischer Zweckmäßigkeit im Designgegenstand umzukehren. Der Tauschwert löst den Gebrauchswert ab.76 Hier tut sich auch der Unterschied zwischen Schein und Lüge auf: Produktionspraktiken, die beim Rezipienten auf ästhetische Urteile aus sind, den Gegenstand des Urteilens aber als praktisch „markieren“, unterliegen entweder einer Selbsttäuschung (z.B. die Anhänger von „form follows function“) oder sie täuschen willentlich und lügen somit. Das ist eine Praxis, die mit der Kritik an Werbung und Warenästhetik schon länger gegeißelt wird.77 Diese Praxis der Vergegenständlichung des Ästhetischen ist nun keine exklusive Praxis des Warenkapitalismus, wie es in konservativer Kulturkritik dargestellt wird, sondern umfasst alle Praktiken, die mit Gegenständen anhängender Schönheit hantieren. Selbsttäuschung und willentliche Täuschung der Rezipienten gehen mit diesen Praktiken fast unausweichlich einher.
76 Siehe dazu: Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/Main 2009. 77 Siehe dazu: Zur deutschen Kulturkritik an Werbung bis 1945: Alexander Schug: „Deutsche Kultur“ und Werbung, Studien zur Geschichte der Wirtschaftswerbung von 1918 bis 1945, Dissertation, Berlin 2007. Aufgerufen am 04.09.2014 unter: http:// edoc.hu-berlin.de/dissertationen/schug-alexander-2007-05-09/PDF/schug.pdf.
9. Die Dialektik des Diskurses der Landschaftsgestaltung
Der Diskurs über die Gestaltung von Landschaft folgt der Dialektik des Designdiskurses. Seine Wurzeln liegen, wie bei anderen Designfeldern, in den beiden Auffassungen von Schönheit, die nicht auf einem autonomen ästhetischen Urteil beruhen, sondern auf einem technisch-praktischen Urteil und somit dem Urteilsprinzip der Annehmlichkeit oder auf einem objektivem Geschmacksurteil und somit dem Urteilsprinzip der Vollkommenheit. Die Hypostasierung des Musters „Landschaft“ erfolgt somit ebenfalls durch die Erhebung der beiden Perspektiven des Geschmacks (Annehmlichkeit und Vollkommenheit), zu denen uns unserer Denken nötigt, zu Geschmacksprinzipien und verwandelt ästhetische Ideen, die sich des Musters „Landschaft“ bedienen, in Landschaftsideologien. Da diese aber auf falschen Prinzipien beruhen, wird in einer Art Suchbewegung zwischen der Subjektivität des Urteils über Annehmlichkeit und der Objektivität des Urteils über Vollkommenheit ein unabschließbarer Diskurs über die Prinzipen der Gestaltung von Landschaft in Gang gesetzt. Die Landschaftsideologien, die in dieser Studie behandelt werden, sind Gestaltungsideologien und beschäftigen sich daher mit Prinzipien der Gestaltung von Landschaft. Sie basieren entweder auf der Hypostasierung des ästhetischen Musters „Landschaft“ zur grünen Stadttechnik, wie sie in der Landschaftsarchitektur des 19. Jahrhunderts in den USA durch Frederick Law Olmsted vorgenommen wurde, oder auf der Hypostasierung des Musters zur Kulturlandschaft, wie sie durch die Landschaftsgeografie in Deutschland erfolgt ist. An beiden Beispielen von gestalterischen Landschaftsideologien lässt sich die jeweils durch die Hypostasierung ausgelöste Dialektik der Diskurse über die Prinzipien der Gestaltung von „Landschaft“ erkennen, die mit ihren Argumenten ohne einen erkennbaren Ausweg zwischen den beiden Geschmacksprinzipien pendelt.
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9.1 D IALEKTIK DER L ANDSCHAFTSGESTALTUNG IN D EUTSCHLAND Ich möchte zunächst kurz die Dialektik des Diskurses der Landschaftsgestaltung in Deutschland darstellen, wobei ich mich hauptsächlich auf Körners umfangreiche Behandlung der Theorien und Methoden der Landschaftsgestaltung in Deutschland beziehe.1 Körner beginnt seine Darstellung mit der Landespflege im Nationalsozialismus, der es gelang, die Pflege und Entwicklung der „geografischen Landschaft“,2 die auf einem Entwicklungsprozess von verschiedenen Land und Leute-Einheiten beruht, mit technischem Fortschritt und Industrialisierung zu verbinden. Die damit einhergehende Landschaftsideologie geriet dabei in innere Widersprüche zwischen der Vollkommenheit der individuellen Landschaften, die Ausdruck der „Kulturarbeit an und mit der Natur“ der dort siedelnden (und verwurzelten) Menschen sind, und der abstrakten Naturbeherrschung des technischen Fortschritts. Diese inneren Widersprüche wurden im Nationalsozialismus durch Rassismus aufgelöst. Wenn eine bestimmte Land und LeuteEinheit, nämlich die deutsche, sich als besonders erfolgreich in der Kultivierung der natürlichen Gegebenheiten erweisen sollte und der Vergleich mit den weniger kultivierten „Landschaften“ anderer Völker sollte dies beweisen, habe sie die Pflicht, im Sinne eines universellen Auftrags des Menschen zur Kulturarbeit, ihre schöpferischen Fähigkeiten zur Kulturlandschaftsentwicklung auch auf andere Länder anzuwenden. Dieser universelle Auftrag, der den Deutschen als höchstentwickelte Rasse quasi durch die konkrete Natur selbst verliehen worden sei, lässt sich mit technischem Fortschritt und ökonomischer Modernisierung verbinden, die nun zu Werkzeugen einer universellen deutschen Kulturarbeit werden, die irgendwann die ganze Welt in vollkommene Land und Leute-Einheiten entwickeln sollten. Träger dieser Aufgabe der Kulturarbeit durch die Anwendung rationaler Mittel für die organisch-schöpferische Entwicklung von Landschaft ist der Landschaftsgestalter als Künstler-Ingenieur. Auf dieser Landschaftsideologie gründete auch der Anspruch der Landespflege, als gesamtstaatliche Aufgabe verankert zu werden, da das ganze Land nach dieser Landschaftsideologie umgestaltet werden sollte. Diese Landschaftsi-
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Stefan Körner: Theorie und Methodologie der Landschaftsplanung, Landschaftsarchitektur und Sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung vom Nationalsozialismus bis zur Gegenwart. Berlin 2001.
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Körner verwendet diesen Ausdruck nicht, aber innerhalb dieser Studie soll damit das materiell gewordene Muster „Landschaft“ unter dem Prinzip der Vollkommenheit bezeichnet werden. Eine andere Bezeichnung ist Kulturlandschaft.
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deologie machte es ebenso möglich, auch die Eroberung und Ausbeutung anderer Länder und die Vernichtung und Unterdrückung der dortigen Bevölkerung als Voraussetzung für eine zu leistende Kulturarbeit und Landschaftsgestaltung zu sehen. Auch die Vernichtung der Juden, die als allochthones und international verbreitetes Volk einer erfolgreichen Kulturarbeit im Wege stünden und als Protagonisten des internationalen Kapitalismus gewachsene Landschaften zerstören würden, lies sich so aus Sicht der Landespflege zumindest erklären. Dass aber die Idee von Kulturlandschaft als Begründung für die Vernichtung oder Vertreibung von Menschen herhalten konnte, setzte Rassismus oder zumindest anbiedernden Opportunismus bei den damaligen Landschaftsgestaltern voraus. In der konkreten Arbeit der Landschaftsgestalter konnte die Antinomie zwischen organischer-schöpferischer Entwicklung von Landschaft und der ökonomischen und technischen Modernisierung aber nur scheinbar aufgelöst werden – durch die (bereits in den 1920er Jahren u.a. von Lindner konzipierte) 3 Integration von technischen Bauwerken in die Landschaft, wie z.B. die landschaftliche Eingliederung der Reichsautobahnen. Die Zerstörung von geografischen Landschaften durch Autobahnbau, den Bau von Industrie- und Militäranlagen oder die industrielle Forstwirtschaft konnten durch landschaftliche Eingliederung und die Individualisierung von technischen Anlagen, als „Deutsche Technik“, nur kaschiert werden. Im Rahmen der landespflegerischen Praxis zeigte sich der Konflikt, der bereits Anfang des 19. Jahrhunderts zur Entstehung der Heimatschutzbewegung führte, zwischen der organischen Vollkommenheit von individuellen Kulturlandschaften und dem Eindringen von technischer Infrastruktur oder ökonomisch rationalisierter Bewirtschaftung. Dieser Konflikt konnte durch die Individualisierung technischer Anlagen und gestalterische Integrationsmaßnahmen, wie die Landschaftsgestaltung entlang von Autobahnen, teilweise entschärft werden – ein landschaftliches Ganzes konnte durch harmonisches Einfügen nicht erreicht werden. Daran zeigt sich das Problem jeder organischen Vollkommenheitsästhetik, dass eine organische Entwicklung nur im Rückblick auf bereits durch ästhetische Ideen entstandene Ganzheiten erkennbar werden kann: Ein ästhetischer Gegenstand wird zur organisch gewachsenen Einheit hypostasiert (Landschaft, Stadt, Gesicht) und damit ein individueller Entwicklungsprozess erkennbar, der durchaus auch mit empirischen Daten untermauert werden kann. Dieser individuelle Entwicklungsprozess soll vom Künstler-Ingenieur durch seine schöpferische Intuition (die die quasi-natürliche des Genies ist) für die Weiterentwicklung oder Neuschaffung von organischen Einheiten nachvollzogen werden. Er soll sich sozusagen in eine bereits vorhandene organische Ein-
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Werner Lindner: Ingenieurwerk und Naturschutz. Berlin 1926.
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heit einfühlen und diese in ihrem Geist weiterentwickeln oder ein organisches Kunstwerk produzieren, das wiederum Teil des Gesamtorganismus wird. Dieses organische Schaffensprinzip gerät in Konflikt zur technischen Produktion, die auf naturwissenschaftlichen Gesetzen beruht. Eine technische Anwendung ist universell einsetzbar nicht nur z.B. im Schwarzwald. Die Form eines technischen Gegenstandes folgt daher der verwendeten Technik (alles was darüber hinausgeht nennt man Ornament) und nicht z.B. vorhandenen Naturgegebenheiten. Technische Gegenstände werden durchaus für spezifische Kontexte entwickelt, sind aber nicht an diese gebunden, sondern werden überall dort verwendet, wo sie nützlich sind. So wurden z.B. Automobile des Zaren für die Schneelandschaften des russischen Winter erstmals mit Kettenantrieb ausgestattet – in den 1920er Jahren durchquerten mit diesem Antrieb Modelle von Citroen bereits die Sahara und China.4 Eine unausweichliche Folge der Hypostasierung der ästhetischen Idee „Landschaft“ zu organischen Ganzheiten unter Anwendung des Geschmacksprinzips der Vollkommenheit ist daher die (empfundene) Zerstörung von individuellen Kulturlandschaften durch die Artefakte universeller Technik. Desweiteren beschreibt Körner in seiner Arbeit mit welchen Zielen und Motiven die Landespflege nach der NS-Zeit modernisiert wurde: Einmal um sich von der Landschaftsideologie des Nationalsozialismus abzugrenzen, aber auch um die Widersprüche der organischen Vollkommenheitsästhetik dialektisch aufzulösen. Die Modernisierung im Rahmen einer nun demokratischen Gesellschaft verstärkte die Verwissenschaftlichung der Landespflege und erarbeitete ein Programm rationaler ökologischer Planung,5 zunächst unter der Ideologie eines ganzheitlichen Ökologismus, in der durch einen „gesunden Naturhaushalt“ die „Volksgesundheit“ sichergestellt werden sollte. Es wurde versucht, der menschlichen Gesundheit förderliche und für die Psyche erholsame Wirkungen des ästhetischen Gegenstands „Landschaft“ mit empirischen Methoden zu erfassen und wie naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu behandeln. Diese Ökologisierung und Verwissenschaftlichung führt zum Widerspruch durch weiterhin künstlerisch arbeitende Landschaftsarchitekten, die den Verlust der Individualität von Landschaft und ihrer kulturellen Bedeutung kritisierten. Durch die politische Notwendigkeit der rationalen Legitimierung von Planungsentscheidungen im Rahmen demokratischer Verfahren kam es zu einem weiteren Schub der
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Erik Eckermann: World History of the Automobile. Society of Automotive Engineers 2001. S. 148.
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Stefan Körner: Theorie und Methodologie der Landschaftsplanung, Landschaftsarchitektur und Sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung vom Nationalsozialismus bis zur Gegenwart. Berlin 2001. S. 77ff. und S. 426ff.
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Verwissenschaftlichung der Landespflege zu einer „konsequent funktionalen Planungsdisziplin“.6 „Dies sollte durch die Ausrichtung an genau definierten gesellschaftlichen, letztendlich ökonomischen Nutzeninteressen, der Erfassung der Funktionen des Naturhaushaltes und der exakten Quantifizierung der Landschaftsbewertung geschehen, um so intuitive Anteile des Planens zu eliminieren. Landschaft wurde lediglich noch als Ressource von Nutzungen verstanden [...].“
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Vor allem der Bereich der Erholungswirksamkeit von Landschaft sollte durch empirische Methoden argumentativ gestärkt werden, um hier politisch schlagkräftig agieren zu können. Besonders deutlich zeigt sich der Versuch, den ästhetischen Wert und die symbolische Bedeutung von Landschaft messbar zu machen, an dem von Hans Kiemstedt entwickelten Verfahren der V-WertErmittlung im Rahmen der Nutzwertanalyse.8 Diese Entwicklung der Landespflege wurde nun nicht nur von den künstlerisch arbeitenden Landschaftsarchitekten kritisiert, sondern auch von sozialwissenschaftlich argumentierenden Freiraumplanern, die der instrumentellen Landschaftsplanung ein technokratisches Politikverständnis vorwarfen, das zur Folge hätte, dass die Planung von Freiräumen nicht ausreichend einer demokratischen Willensbildung unterläge. Aus demselben Grund wurde aber von ihnen auch die intuitiv-künstlerische Herangehensweise der Landschaftsarchitektur abgelehnt, da in dieser Form in demokratischen Entscheidungsprozessen nicht rational argumentiert werden könne. Daher bemühte sich auch die sogenannte Sozialwissenschaftliche Freiraumplanung um rationale Verfahren, die aber nicht abstrakte gesellschaftliche Interessen in quantitativen Bewertungsverfahren gegeneinander abwägen sollen, sondern die dem Nutzer die Möglichkeit der individuellen Aneignung von Freiräumen ermöglichen und ihm so die Möglichkeit zur Emanzipation von traditionellen und kapitalistischen Nutzungsmustern geben sollen. Diese durchaus revolutionär gedachte Selbstbefreiung sollte zu neuen progressiven Freiräumen und Freiraumnutzungen führen. Diese emanzipatorische Freiraumplanung basierte methodisch auf empirischer Sozialforschung und damit auf Nutzerbefragungen, um von diesen Daten ausgehend individuell aneigenbare Freiräume entwickeln zu können. Beide Positionen (Instrumentelle Landschaftsplanung und Sozialwissenschaftliche Freiraumplanung) wurden wiederum von
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Ebd. S. 428.
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Ebd. S. 428.
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Ebd. S. 428.
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der Landschaftsarchitektur kritisiert, da mit empirischen Methoden zwar ökologische Gesetzmäßigkeiten und auch menschliche Bedürfnisse ermittelt werden könnten, aber bezüglich der Qualitäten von Landschaft nur bereits vorhandene Landschaftsklischees der Planer selbst oder des Massengeschmacks abgebildet werden würden, die keine Grundlage für die Bewertung der ästhetischen Qualität von Landschaften oder für eine progressiv ausgerichtete Landschaft- und Freiraumgestaltung sein könnten. Körners Analyse der Entwicklung der „Theorien und Methoden der Landespflege in Deutschland von der NS-Zeit bis heute“ zeigt deutlich eine unauflösbare Dialektik zwischen einer empirisch-instrumentellen Position und einer intuitiv-gestalterischen Position bezogen auf die Planung und Gestaltung von Landschaft. Diese Dialektik ist zurückzuführen auf die zwei widersprüchlichen Geschmacksprinzipien – erstens der Annehmlichkeit, die in diesem Fall von der Landschaftsplanung als Erholungsplanung und der Sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung vertreten wird, und zweitens der Vollkommenheit, die von der Landschaftsarchitektur vertreten wird. Eine ähnliche Dialektik, nur mit umgekehrten Positionen, findet sich im Diskurs der Landschaftsgestaltung in den USA, der nun ebenfalls kurz dargestellt werden soll.
9.2 D IALEKTIK DER L ANDSCHAFTSGESTALTUNG IN DEN USA Methoden und Theorien der Landschaftsgestaltung in den USA basierten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf den Werken und Theorien der Landschaftsarchitektur des 19. Jahrhunderts – vor allem Frederick Law Olmsteds. Es war eine funktionalistisch-sensualistische Position, die Landschaft als scenery und als Bewegungsraum für die Großstadtbevölkerung und als Bestandteil sanitärer Stadttechnik verstand, mit der Aufgabe hygienische Defizite (auf somatischer und psychischer Ebene) zu beheben. Gleichzeitig wurde Landschaft in der Stadt, aber auch als emanzipatorischer Freiraum zur politischen Organisation und privaten Versammlung verstanden. Die Herstellung dieser grünen Stadttechnik erfolgte durch die politische Organisation von geeigneten Flächen, die in Form eines Freiflächensystems sinnvoll im Stadtgebiet verteilt sein sollten, um gut von allen Stadtteilen erreicht werden zu können. Diese Flächen wurden mit Landschaftselementen ausgestattet, die sich in der Geschichte der Gartenkunst (v.a. im englischen Landschaftsgarten) als erfolgreich erwiesen hatten, um die angestrebten Zwecke der Annehmlichkeit und Emanzipation zu erfüllen. Der Landschaftsarchitekt hatte die Aufgabe, das Flächensystem zu organisieren und die
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geeigneten Landschaftselemente sinnvoll als scenery auf den Flächen anzuordnen. Diese Aufgabe wurde in Nachfolge der Stadttechniker (zu denen auch Landschaftsarchitekten gehörten) von Stadtplanern wahrgenommen und wurde in den USA, ähnlich wie durch Martin Wagner in Deutschland, weiter rationalisiert. Die picturesquen Elemente wurden dabei schematisiert. Dies führte zu einer rein nutzungsbezogenen Freiraumplanung, wie sie z.B. durch Robert Moses in New York umgesetzt wurde, die aber für die Funktion Erholung Aspekte des Musters „Landschaft“ beibehielt. Ein ähnlich funktional-picturesques Verständnis von Freiraum vertraten die Protagonisten funktionalistischer Architektur wie Le Corbusier oder Mies van der Rohe, die den Städtebaudiskurs seit den 1920er Jahren prägten. Den Freiraum um ihre „architektonischen Maschinen“ verstanden sie als frei fließende szenische Landschaft, die von den Gebäuden aus in ästhetischer Distanziertheit betrachtet wird.9 Landschaft erfüllt dabei einen ähnlichen Zweck wie bei Olmsted, nur ist die Stadtkonzeption eine völlig andere: Olmsted versuchte, die negativen Wirkungen und hygienischen Defizite des liberalen Städtebaus durch landschaftliche Freiräume zu heilen; bei Corbusier und van der Rohe wird die ganze Welt zur Landschaft und ist die Unterlage für funktionalistische Wohn- und Arbeitsmaschinen, die auf ihr verteilt sind. Diese funktional-picturesquen Positionen wurden in den USA bereits seit den 1930er Jahren von einer neuen Generation von Landschaftsarchitekten als schematisch, uninnovativ, inhaltslos und als bar aller kulturellen oder ökologischen Bezüge, kritisiert.10 Auch Architekten wie Frank Lloyd Wright formulierten in negativer Anpassung daran eine alternative, organische Form von Architektur, die den genius loci der regionalen Landschaft in den Entwurf einbeziehen und so Teil der konkreten Natur vor Ort werden sollte.11 Landschaftsarchitekten wie James Rose, Garett Eckbo oder Christopher Tunnard versuchten, dem picturesquen Schematismus Olmsteds und seiner Nachfolger eine innovative künstlerische Position entgegen zu setzten und waren bestrebt, zunächst Anschluss an den modernen Funktionalismus, wie ihn Gropius in Harvard lehrte, zu finden.
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Siehe dazu z.B.: Jan Woudstra: The Corbusian Landscape: Arcadia or No Man’s Land? In: Garden History, Vol. 28, Nr. 1, Maney Publishing 2000. S. 135ff.
10 Elizabeth K. Meyer: The Post-Earth Day Conundrum: Translating Environmental Values into Landscape Design. In: Michel Conan (Hg.): Environmentalism in Landscape Architecture, Dumbarton Oaks 2000. S. 190. 11 Siehe dazu: Catherine Howett: Modernism and American Landscape Architecture. In: Marc Treib (Hg.): Modern landscape architecture: a critical review. MIT Press 1993. S. 23f.
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Sie erarbeiteten Modelle, die Vollkommenheitsästhetik des mechanistischen Funktionalismus der Architektur auf Freiräume und Gärten anzuwenden. Die dabei entstandenen Entwürfe konnten aber nicht als eigenständiger, innovativer Beitrag der Landschaftsarchitektur überzeugen, da sie unter dem Widerspruch zwischen der konstruktiv hergeleiteten Ästhetik des mechanistischen Funktionalismus und der Tradition der Landschaftsarchitektur, die ihr Gestaltungsmaterial aus der konkreten Natur bezieht, litten. Hätte man diesen Bezug zu konkreter Natur aufgegeben, wäre aber ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zur Architektur verloren gegangen. Die Landschaftsarchitekten beriefen sich daher entweder auf rationalistische Traditionen in der Gartenkunst, wie den französischen Barockgarten, oder verstärkten, wenn sie progressiv bleiben wollten, die Rolle konkreter Natur in ihren Entwurfskonzeptionen. Das äußerte sich entweder in einer biomorphen Formensprache der Garten- und Parkgrundrisse, aber auch z.B. darin, dass Bäume und Sträucher so verwendet werden sollten, dass sie als pflanzliche Individuen ihr natürliches Potential entfalten können sollten. 12 Dieser erste organizistische Schub in der US-amerikanischen Landschaftsarchitektur blieb bis in die 1950er Jahre auf die Garten- und Parkgestaltung beschränkt. Die Freiraumplanungen im Städtebau waren in der Hand von Architekten und Stadtplanern und folgten dem Leitbild der „Towers in the Park“ und weiterhin dem funktional-picturesquen Verständnis von Freiräumen. Landschaftsarchitekten waren in diesem Kontext Fachplaner, die die durch den Städtebau strukturierten Freiräume funktional-picturesque ausstatten sollten. Das Verständnis von scenery als natürliche Ressource, die dem Menschen dienen soll, prägt auch die Landschaftsideologie der US-amerikanischen Regionalplanung seit den 1920er Jahren, aber vor allem während der Zeit des New Deal, einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen unter Franklin D. Roosevelt, die in Folge der Weltwirtschaftskrise 1929 begonnen wurde. Eines der Maßnahmenpakete war der Ausbau von technischer und sozialer Infrastruktur, wie Autobahnen, Wasserkraftwerken, Schulen oder öffentlichen Bädern unter der Leitung bundesstaatlicher Institutionen, wie der Works Progress Administration (WPA), sowie von staatlichen corporations, wie der Tennessee Valley Authority (TVA) oder state agencys wie dem Texas Highway Department (THD). Der Bau von großen Infrastrukturen und seine Auswirkungen im Landschaftsbild wurden zwar als Herausforderung begriffen, aber nicht als unlösbarer Konflikt. Es bedurfte nur des richtigen Ressourcenmanagements um scenery, sowie Naturhaushalt im Gleichgewicht zu halten oder sogar die Folgen falscher
12 Siehe dazu: Marc Treib: Axioms for a modern landscape architecture. In: Marc Treib (Hg.): Modern landscape architecture: a critical review. MIT Press 1993. S. 55f.
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Nutzungen, wie soil erosion, die als Folge mangelnder naturwissenschaftlicher Kenntnisse auftraten, zu heilen13 und natürliche Defizite wie Überschwemmungen und malariaverseuchtes Wasser zu beheben.14 Die Planer der TVA oder der THD konnten bei den Projekten einer organischen Weltanschauung, wie sie von Protagonisten des conservation movement wie John Muir oder Aldo Leopold15 vertreten wurde, folgen, ohne aber den Rahmen rationaler Planung verlassen zu müssen, da sie in der Nachfolge Olmsteds die Schönheit von Landschaft in einem pastoralen Schematismus als scenic ressources16 „verpacken“ und so mit ihr rational umgehen konnten. Eine irgendwie geartete künstlerische Intuition oder Innovation war im Rahmen US-amerikanischer organischer Planung nicht notwendig. Landschaftsarchitekten waren, wie auch Ökologen, Teil des Ingenieurteams, die das Bauwerk funktionalistisch planten. „Organic technology“17 im Verständnis der New Deal-Landschaftsgestaltung war exzellente Naturbeherrschung. Einen Ausweg für die „Landschaftsarchitekten“ aus der gestalterischen Zwangsjacke der funktionalisierten scenery und der Rolle als nachrangige Fachplaner im civil engineering oder städtebaulichen Projekten bot die Ökologisierung der Profession, wie sie von Ian McHarg seit den 1950er Jahren betrieben wurde. Sein 1969 erschienenes Buch „Design with Nature“18 zeigte daher große Wirkung in der Profession.19 Beeinflusst von den Ideen organischer Planung von Lewis Mumford und Patrick Geddes, die Planung als Voraussetzung für eine geordnete und harmonische Entwicklung von Stadt und Region verstanden, konnte McHarg die Aufgabe von Landschaftsarchitekten umfassender definieren:
13 Siehe dazu: Gregory T. Cushman: Environmental Therapy for Soil and Social
Erosion: Landscape Architecture and Depression-Era Highway Construction in Texas. In: Michel Conan (Hg.): Environmentalism in Landscape Architecture, Dumbarton Oaks 2000. S. 45ff. 14 Siehe dazu: Brian Black: Organic Planning: Ecology and Design in the Landscape of the Tennessee Valley Authority, 1933-45. In: Michel Conan (Hg.): Environmentalism in Landscape Architecture, Dumbarton Oaks 2000. S. 72ff. 15 Ebd. S. 72. 16 Ebd. S. 90. 17 Ebd. S. 74. 18 Ian L. McHarg: Design with Nature, New York 1969. 19 Ann Whiston Spirn: Ian McHarg, Landscape Architecture, and Environmentalism: Ideas and Methods in Context, in: Michel Conan (Hg.): Environmentalism in Landscape Architecture, Washington, D.C. 2000. S. 98f.
226 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG „There clearly is a desperate need for professionals who are conservationists by instinct, but who care not only to preserve but to create and to manage. These persons cannot be impeccable scientists for such purity would immobilize them. They must be workmen who are instinctively interested in the physical and biological sciences, and who seek this information so that they may obtain the license to interpose their creative skills upon the 20
land. The landscape architect meets these requirements.“
Nicht das passive Schützen von natural scenery ist die Aufgabe von Landschaftsarchitekten, sondern das aktive Management von land use in Übereinstimmung mit den natürlichen Gegebenheiten. Grundlage der Raumentwicklung (Siedlung, Verkehr und Wirtschaft) sind nicht vorrangig wirtschaftliche Interessen, sondern „Natur“ verstanden als „interacting process, responsive to laws, constituting a value system, offering intrinsic opportunities and limitations to human uses.“21 Ermittelt werden die Nutzungsmöglichkeiten und -einschränkungen, die die konkrete Natur (und somit „geografische Landschaft“)22 bietet, durch die Analyse der physiographic region mit Hilfe von Methoden, wie den grafischen overlays aus verschiedenen Faktoren der Region (physiography, hydrology, soils, plant associations etc.), die dann ausgewertet die Definition von intrinsic suitabilities für verschiedene Landnutzungen (agriculture, forestry, recreation, urbanization) ermöglichen. In einer matrix werden dann die verschiedenen land uses vor dem Hintergrund der natural determinants gegeneinander abgewogen, um ein Optimum an multiple compatible land uses zu ermitteln.23 Aufbauend auf diesem ecological planning sollten dann designs für Nutzungen (z.B. städtebauliche Projekte) angefertigt werden. Die designs sollten die Anpassungsstrategie24 der Planung an die Natur auf weiteren Maßstabsebenen fortsetzen. Ökologische Planung und Design ist für McHarg die richtige ästhetische,
20 Ian L. McHarg: Design with Nature, New York 1969. S. 151. 21 Ebd. S. 55. 22 Zur Geografie in den USA siehe: Paul Groth, Chris Wilson: Die Polyphonie der Cultural Landscape Studies (2003), in: Brigitte Franzen, Stefanie Krebs (Hg.): Landschaftstheorie – Texte der Cultural Landscape Studies, Köln 2005. S. 58ff. 23 Ian L. McHarg: Design with Nature, New York 1969. S. 127-144. 24 Zur Verwendung von evolutionstheoretischen Metaphern durch McHarg siehe: Ann Whiston Spirn: Ian McHarg, Landscape Architecture, and Environmentalism: Ideas and Methods in Context, in: Michel Conan (Hg.): Environmentalism in Landscape Architecture, Washington, D.C. 2000. S. 109f.
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technische und moralische Praxis, um die „Krankheit Mensch“25 wieder in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur zu bringen. „As a means of lending scientific integrity to his ecological approach, Mc Harg developed a scientific theory called creative fitting that both explained and validated designing with nature. McHarg’s method was ecological not only because it used ecological data but also because the outcomes it produced matched the processes of adaptation and evolution. It helped determine where proposed human uses, such as buildings and roads, intrinsically fit on the land. Since this design method located the fittest environment for various land uses, it also fulfilled the basic principles of adaptation.“
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Gelungene Gestaltung ergibt sich daher für McHarg aus der erfolgreichen Naturanpassung von menschlichen Landnutzungen. Das Ergebnis ist schöne Natur als stabiles Ökosystem. Vorbild für diese vollkommene Gestaltung ist der englische Landschaftsgarten: „Moreover, to represent nature’s design at a larger scale, McHarg consistently referred to 18th-century English landscape gardens, which he viewed as representing ecological concepts. Humans creating these gardens were designing with nature, while earlier Western 27
gardens were not designed with nature.“
McHarg versteht die Anpassung des Menschen an konkrete Natur durch Gestaltung als Eingliederung der Menschheit in einen Superorganismus, der durch die Anpassungsleistung des Menschen die vollkommene Form eines englischen Landschaftsgartens erhält. Lokale Unterschiede und individuelle Kulturlandschaften scheinen ihn dabei nicht besonders zu interessieren. Das mag vielleicht dran liegen, dass, trotz aller Kritik am „American failure“, das liberale Gesellschaftsmodell der USA für McHarg weiterhin das ideale ist, das sich nicht in individuellen und damit ortsgebundenen Kulturlandschaften ausdrückt, sondern in picturesque scenery, einem universellen Schönheitsprinzip nach dem Vorbild des englischen Landschaftsgartens. Das Problem ist aber, dass dieser Gesellschaft die Bindung an die Natur und das richtige Maß an ihrer Nutzung verloren gegangen ist:
25 Ian L. McHarg: Design with Nature, New York 1969. S. 43. 26 Susan Herrington: The Nature of Ian McHarg’s Science, in: Landscape Journal, Heft 29, 2010. S. 6. 27 Ebd. S. 5.
228 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG „The ransacking of the world’s last great cornucopia has as its visible consequence the largest, most inhumane and ugliest cities ever made by man. This is the greatest indictment of the American experiment. Poverty can exercise a great constraint on vulgarity – and wealth is its fuel: but this alone cannot explain the American failure. It is clear that a profound ignorance, disdain and carelessness prevails. It is because of these that we are unable to create a handsome visage for the land of the free, the humane and life-enhancing 28
forms for the cities and homes of the brave.“
McHargs großer Einfluss auf das Selbstverständnis und die Praxis der Landschaftsarchitekten als ökologische Planer rief die Kritik einer neuen Generation von Landschaftsarchitekten hervor, die sich vor allem gegen die ökologistische Ästhetik McHargs und die starren Planungsverfahren wendete. So schreibt Marc Treib: „McHarg’s method insinuated that if the process were correct, the consequent form would be good, almost as if objective study automatically gave rise to an appropriate aesthetic. In response to his strong personality and ideas, landscape architects jumped aboard the ecological train, becoming analysts rather than creators, and the conscious making of form and space in the landscape subsequently came to a screeching halt.“
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Als einer der Protagonisten eines neuen „künstlerischen“ Selbstverständnisses von Landschaftsarchitektur übte James Corner Kritik an der Idee der scenery: „[...] the landscape idea throughout much of this century has come mostly in the form of picturesque, rural scenery, whether for nostalgic, consumerist purposes or in the service of environmentalist agendas.“30 Er lehnt damit das ab, was er zu Recht als Kern der bisherigen Tradition (und Dialektik) US-amerikanischer Landschaftsarchitektur sieht, um sich sowohl vom Ballast der Gestaltungstradition des Picturesquen, wie auch des ecological planning und von preservation zu befreien. Landschaftsarchitektur soll sich endlich wieder visionären Projekten, dem Experimentieren und Erfinden zuwenden und vor allem wieder einen relevanten Beitrag zur Stadtentwicklung leisten. Die Alternative zur scenery, die Corner als progressive ästhetische Idee für die Profession vorschlägt, soll nun
28 Ian L. McHarg: Design with Nature, New York 1969. S. 77. 29 Marc Treib: Nature Recalled, in: James Corner (Hg.): Recovering Landscape – Essays in Contemporary Landscape Architecture, New York 1999. S. 31. 30 James Corner: Introduction, in: Ders. (Hg.): Recovering Landscape – Essays in Contemporary Landscape Architecture, New York 1999. S. 8.
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aber etwas ganz „altes“ werden: „Landschaft“ als „physische und soziale Realität“.31 „Inasmuch as landscape objectifies the world – in the form of ‚scenery’, ‚resource’, or ‚ecosystem’, for example – it sets up hierarchical orders among social groups, and among humans and nature more generally. One is always an ‚outsider’ as far as the beholding of manufactured landscapes goes, for to be ‚inside’ entails the evaporation of landscape into everyday place or milieu. It is in this deeper sense that landscape as place and milieu may provide a more substantial image than that of the distanced scenic veil, for the structures of place help a community to establish collective identity and meaning. This is the constructive aspect of landscape, its capacity to enrich the cultural imagination and provide a basis for rootedness and connection, for home and belonging.“
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Wie Herrington betont,33 übernimmt der u.a. von Corner geprägte landscape urbanism Aspekte von McHargs Programm: Das wäre der Anspruch auf Gestaltung im regionalen Maßstab, die große Bedeutung von Ökologie als ästhetische Idee und das Zeichnen komplexer Pläne und Prozessdiagramme als morphologische Analysemethode. Die Positionen von McHarg und Corner verdeutlichen die Dialektik des Diskurses um Landschaftsgestaltung: McHarg strebte mit rationalen Methoden nach dem picturesquen Superorganismus, während Corner auf intuitive Weise gebrauchsfähige und aneigenbare Orte und Freiräume für communities der Stadtlandschaft des 21. Jahrhunderts entwerfen will.
9.3 A UTONOMIE DES ÄSTHETISCHEN U RTEILS IN DER L ANDSCHAFTSGESTALTUNG Es handelt sich bei „Landschaft“ um ein erfolgreiches Muster, das in der Malerei entwickelt und unter der Regie verschiedener ästhetischer Ideen variiert und weiterentwickelt wurde. Die Entwicklung von ästhetischen Ideen, im Rahmen der in der Neuzeit autonomer werdenden Kunst, verstehe ich nicht in erster Linie als Darstellung von Ideen wie Freiheit oder Frieden, sondern als künstlerische
31 Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft – Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. S. 162. 32 James Corner: Recovering Landscape – Essays in Contemporary Landscape Architecture, New York 1999. S. 12. 33 Susan Herrington: The Nature of Ian McHarg’s Science, in: Landscape Journal, Heft 29, 2010. S. 8.
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Innovationsstrategien, die sich symbolisch auf Ideen beziehen und diese für die formale Erneuerungen von ästhetischen Mustern, wie z.B. „Landschaft“, nutzen. Mit der Autonomisierung der Kunst ist gleichzeitig ein gesellschaftliches Relevanzproblem verbunden, weil sich Künstler nun bloß auf ihre Subjektivität und auf den Kunstmarkt oder die entstehenden Sammlungsinstitutionen beziehen können und nicht mehr auf die Verkörperung von religiösen oder politischen Inhalten. Das schränkt die Zuständigkeit von Künstlern auf die Produktion von Kunstwerken, mit dem Zweck, ästhetische Erfahrung zu ermöglichen, ein und damit auch ihre gesellschaftliche Relevanz. Künstler sind zu Spezialisten der Darstellung von Subjektivität geworden. Diese Spezialisierung stimmt aber nicht mit der Eigenwahrnehmung des künstlerischen Subjekts in der Ausübung künstlerischer Praxis überein. In der künstlerischen Produktion kann nämlich alles – Theorien, Dinge, andere Kunst, Ideen – zu Erscheinungsmaterial werden, das zu neuen ästhetischen Ideen und Gestaltungsprinzipien führt und so zu neuen exemplarischen Kunstwerken. Mit der Spezialisierung der Kunst auf das Ästhetische geht also keineswegs eine Spezialisierung auf bestimmte Themen oder Gegenstandsbereiche einher. Künstler sind zuständig für alles. Dieser uneingeschränkte Zugriff auf die Welt im Ästhetischen und das damit verbundene Selbstbild steht im Widerspruch dazu wie Kunstwerke, also die Produkte dieser Beschäftigung mit der Welt, bewertet werden. Die Bewertung, durch Kunstkäufer, Galeristen, Kuratoren, Galeriebesucher, erfolgt nämlich im Rahmen der Spezialisierung der Künste auf das Ästhetische, durch ästhetische Urteile. Diese Beurteilung nimmt sozusagen den Weltbezug von Kunstwerken nicht ernst, sondern bloß so, wie er im Rahmen des Ästhetischen sein kann – symbolisch. Daher ist es auch für Künstler so wichtig (nicht nur aus finanziellen Gründen), mit hohem Wert am Kunstmarkt oder in den kulturellen Archiven gehandelt zu werden. Hier wird die eigene Relevanz über die Zustimmung der Kunstbetrachter hinaus bestätigt – das ästhetische Urteil wird objektiviert. Eine Form der Relevanzsteigerung im Rahmen ästhetischer Praxis ist es, ästhetische Muster, wie z.B. „Landschaft“, nicht mehr nur für die Produktion von Kunstgegenständen zu nutzen, sondern für die Herstellung praktischer Gegenstände, wie von Gärten oder ganzen Gegenden. Zu diesem Zweck wurden für das Muster „Landschaft“ neue Darstellungsformate entwickelt bzw. vorhandene Formate adaptiert: der Landschaftsgarten und das landschaftliche Reisen (mit der dazugehörigen Landschaftsbeschreibung). Hier kommt es, wie bei der Landschaftsmalerei, nicht auf den Erfolg bei Sammlern und am Kunstmarkt an, sondern der Wert der Darstellung bemisst sich an den Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung innerhalb eines praktischen Bezugsrahmens. So sind z. B. die Schönheit eines Landschaftsgartens und die ökonomische Führung des ländlichen Be-
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sitzes aufeinander bezogen. Der Gartenschöpfer und -eigentümer präsentiert sich als Gestalter einer verwirklichten Utopie, die eine Vorausschau auf erstrebenswerte gesellschaftliche Naturverhältnisse ermöglicht. Das kann er aber nur vermitteln, wenn der Garten (der eben kein autonomes Kunstwerk ist) gleichzeitig Teil eines ökonomisch (einigermaßen) gut geführten ländlichen Besitzes ist. Dieses physiognomische Verhältnis zwischen Garten und seinem Eigentümer lockert sich in den Landschaftsgärten des liberalen Bürgertums. Ihre Einkünfte erwirtschaften diese Gartenbesitzer kaum noch mit ihrem ländlichen Besitz, und der Garten wird ästhetisch „unabhängiger“. Das ermöglicht auch das Delegieren der Gestaltung der Gärten an Spezialisten, wie Lancelot Brown. In einem weiteren Schritt der Relevanzsteigerung von „Landschaft“ wird, ausgehend von Garten und freier Landschaft, das Muster „Landschaft“ zum materiellen Gegenstand hypostasiert. „Landschaft“ ist nicht mehr etwas, das man als betretbaren Kunstgegenstand ästhetisch erfahren kann, sondern „Landschaft“ wird zu etwas, in dem man lebt und das man bearbeitet. „Landschaft“ wird zum realen Ort des guten Lebens. Dass diese verschiedenen, materiellen Landschaften schön sind, wird als Ausdruck dafür gesehen, dass sie einem gut tun und dass Menschen und ihre Landschaften optimal aufeinander eingestimmt sind. Landschaftsgestalter sind in diesem Zusammenhang diejenigen, die durch Gestaltung dafür sorgen, dass Landschaften ihre wohltuende Wirkung optimal entfalten können und dass das Mensch-Landschafts-Verhältnis sich gut aufeinander abgestimmt entwickelt. Diese Gestalter sind somit nicht bloß Künstler, sondern Künstler-Ingenieure, die die Nutzungsansprüche des Menschen und die Schönheit der Landschaften in Übereinstimmung bringen. Sie aktualisieren durch ihre Gestaltung die Schönheit von Landschaften und bewahren sie damit gleichzeitig vor zerstörerischem Zugriff. Dieses Selbstbild des Künstler-Ingenieurs, objektive Schönheit als Ausdruck eines gelungenen Mensch-Natur-Verhältnisses herstellen oder zumindest verwalten zu können, ist mit dem Anspruch verbunden, dieser objektiven Schönheit auch überall zum Durchbruch zu verhelfen. Da Landschaften in diesem materiellen Verständnis die komplette Erdoberfläche „bedecken“, ausgenommen dort, wo sie bereits „zerstört“ wurden (aber die könnte man ja wiederherstellen), ist dieser Gestaltungsanspruch sehr umfassend. Der ungeheure Machtanspruch, der sich aus diesem Verständnis von künstlerischer Praxis ergibt, kann nicht eingelöst werden – schon gar nicht in demokratischen Gesellschaften. Das liegt aber nicht nur an dieser Gestaltungshybris, sondern auch daran, dass der empirische Nachweis für die objektive Schönheit von Landschaft bisher noch nicht erbracht werden konnte und der umfangreiche Gestaltungsanspruch, der sich z. B. darin äußerte, dass Landschaftsgestaltung im Rahmen gesamtstaatlicher Planung
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betrieben wurde, außerhalb von autoritären Staatsformen völlig überzogen erscheinen muss. Bevor ich in einem nächsten Schritt diskutiere, wie ich das durch die Anerkennung von „Landschaft“ als ästhetische Idee modifizierte Aufgabenverständnis von Landschaftsarchitektur verstehe, möchte ich in einem Schema die bisherige Entwicklung des Musters „Landschaft“ in seinen Formaten, Erscheinungsmaterialien, Gestaltungstechniken und professionellen Anwendern zusammenfassend darstellen. Die Formate des Musters „Landschaft“ werden in diesem Schema (siehe Tabelle 8) verschiedenen Klassen von ästhetischen Gegenständen zugeordnet. Tabelle 8: Entwicklung des Musters „Landschaft“ Muster „Landschaft“ Format
Bild
Garten
Landschaftliche Reise/ Wandern/ Spaziergang in der freien Landschaft
Materielle Landschaft
Erscheinungsmaterial
Alles, was zwischen Horizontebene und Himmel als bildliche Einheit dargestellt werden kann
Alles was auf ein Gartengrundstück passt (und vom Grundstück aus gesehen werden kann) und zu einer bildlichen Einheit arrangiert werden kann
Alles was man beim Wandern zwischen Horizontebene und Himmel sehen kann und sich zu einer bildlichen Einheit zusammenfassen lässt
Verschiedene Mensch-NaturEinheiten auf der gesamten Erdoberfläche oder landschaftliche Infrastrukturen in der Stadt
Gestaltungstechnik
Zentralperspektive, Lichtzusammenhang (z.B. sfumato, Luftperspektive) Beleuchtungsfarbe, Schattenwurf
Gartenszenen
Landschaftlicher Blick
Gestaltung der harmonischen räumlichen Entwicklung von Mensch und Natur
Profession
Landschaftsmaler Landschaftsfotograf
Gartenkünstler Gartengestalter
Reiseschriftsteller
Landschaftsarchitekt
Ästhetischer Gegenstand
Kunstschönheit
Schöner Gebrauchsgegenstand
Naturschönheit
Ästhetische Hypostase
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Ich möchte nun zumindest andeuten, wie man in der Landschaftsarchitektur, indem man „Landschaft“ als ästhetische Idee und Muster begreift, größeren Gestaltungsspielraum gewinnen könnte, weil man das hypostasierte und dadurch fixierte Muster „Landschaft“ weiterentwickeln könnte, ohne aber als Profession im Bereich der autonomen Kunst den praktischen Bezugsrahmen aufgeben zu müssen. Die im Kapitel 8.3 beschriebene Auflösung der Antinomie der Geschmacksprinzipien durch die Trennung von ästhetischen und praktischen Urteilen im Entwurfsprozess erachte ich dafür als unbedingt notwendig. Wie man „Landschaft“ im Praxisbezug der Landschaftsarchitektur als ästhetische Idee begreifen könnte und was es für diese Praxis bringen könnte, will ich versuchen anhand von Beispielen darzustellen. Ästhetische Idee: Übermalung Es ist nicht so, dass man das allgemein verbreitete Verständnis von „Landschaft“ einem „Neustart“ unterziehen könnte, um so das Muster „Landschaft“ von seinen Hypostasierungen und von alten ästhetischen Ideen „bereinigen“ zu können. Dafür ist „Landschaft“ eine viel zu „mächtige“ ästhetische Alltagspraxis geworden – in Form des Spaziergangs und der Wanderung. Zunächst nur von einer Gruppe bürgerlicher Genießer, wie den picturesque travellers betrieben, ist diese Praxis heute ein Massenphänomen, das z.B. auch Grundlage des Tourismus ist. Das Muster „Landschaft“ wird in diesem Zusammenhang auf all das angewandt, was man zwischen Horizontebene und Himmel sehen kann und das sich zu einer bildlichen Einheit verbinden lässt. Trepl beschreibt diese ästhetische Landschaftspraxis sehr anschaulich: „Man steht [...] der Landschaft nicht gegenüber, sondern ist in ihr. Und was die jeweilige Landschaft ist, hängt ab von meinem Standpunkt, d.h. meinem Ort im Raum. Wechsle ich den Platz, dann ist auch die Landschaft eine andere geworden. Die Landschaft ist das, was ich um mich sehe, sie reicht immer bis zum Horizont; auch das Entfernteste, wenn ich es nur sehen kann, ist Teil dieser Landschaft um mich. Und da der Horizont mit mir wandert, ändert sich auch die Landschaft. Landschaft scheint also weniger etwas von der Art eines 34
Gegenstandes zu sein als eine Situation.“
34 Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft: Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. S. 18-19.
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In Abgrenzung zum Begriff der Umwelt spezifiziert er weiter: „Aber ist es denn richtig, dass Landschaft [...] alles Sichtbare um mich herum ist? Gewiss, so reden wir; die Landschaft, in der ich bin, liegt vor mir und auch hinter mir, sie umgibt mich. Wir reden aber auch anders. Die Landschaft, die zu mir gehört und die sich mit mir ändert, ist nicht einfach alles um mich herum – nach allen Seiten bis zum Horizont. Denn wenn ich mich umdrehe, sehe ich eine andere Landschaft. So gesehen ist man nicht in der Landschaft, wie oben formuliert, aber doch auch nicht ihr gegenüber, wie das bei einem Gegenstand der Fall ist, sondern man hat sie vor sich.“
35
Diese Landschaft des Spaziergängers, die freie Landschaft a la Gilpin (Trepl nennt sie Landschaft1)36 ist als ästhetische Praxis subjektiv, folgt aber in den meisten Fällen einem Muster von „Landschaft“, wie es in der klassischen Landschaftsmalerei ausgebildet wurde – Landschaft als harmonisches Bildganzes. Alle Teile des Landschaftsbildes ordnen sich einem großen Ganzen unter und sind untrennbar aufeinander bezogen. Verhindern nun als unpassend empfundene Dinge diese Verbindung zu einem Bildganzen, werden sie als landschaftszerstörend wahrgenommen. Dinge wie Autobahnen, Hochspannungsleitungen, etc. verhindern im Betrachter das Zustandekommen der bildlichen Einheit – sie widersprechen der ästhetischen Idee des harmonischen Bildganzen, die ja als Gestaltungsprinzip die Bildwerdung bestimmt. Das hat damit zu tun, dass diese Gegenstände symbolisch und formal den Rahmen der freien Landschaft „sprengen“. Symbolisch tun sie das, weil sie der ästhetischen Idee der Natürlichkeit widersprechen, die ja der freien Landschaft in der Tradition des Picturesquen zu Grunde liegt. Formal tun sie das, weil sie den Bildraum „zerschneiden“ und so die mentale Komposition eines Bildganzen verhindern oder zumindest stören. Dieses formale und symbolische Problem ließe sich aber, wie es die Avantgarden der Moderne in der Kunst gezeigt haben, durch andere ästhetische Ideen lösen. Ästhetische Ideen d.h. Kompositionsprinzipien wie Montage (verwendet von Hannah Höch, Robert Rauschenberg, etc.) oder Informe (Bataille) könnten in der ästhetischen Praxis der freien Landschaft, das Muster „Landschaft“ verändern. Es wäre denkbar, dass die Etablierung dieser ästhetischen Ideen innerhalb der populären ästhetischen Landschaftspraxis durch Vorbilder in Kunst und Landschaftsarchitektur, als Alternativen zum harmonischen Bildganzen, eine „Befreiung“ der freien Landschaft aus dem Konflikt mit „bildzerstörenden“ Gegenständen (Autobahnen, etc.) ermöglicht.
35 Ebd. S. 22. 36 Ebd. S. 20.
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Doch kann man das Muster der Wahrnehmung von freier Landschaft verändern? Kann man es neu gestalten? Das erweist sich aus zwei Gründen als problematisch: 1. Da freie Landschaft als Kunstwerk im Subjekt verbleibt und höchstens in Reiseblogs oder in plein air Aquarellen verkörpert wird, ist hier der Einfluss auf die Musterbildung beschränkt. Landschaftsbilder und Landschaftsbeschreibungen aus dem Kontext der Kunst, die nicht auf dem harmonischen Bildganzen beruhen, könnten Einfluss auf das Muster der populären ästhetischen Landschaftspraxis ausüben. Da im Bereich autonomer Kunst aber in der Regel ein Distinktionsabstand zu populären ästhetischen Praktiken gehalten wird, kann es Künstlern nur recht sein, wenn diese sich weiterhin in Klischees verausgaben. Initiativen zur Etablierung anderer ästhetischer Ideen für die populäre ästhetische Landschaftspraxis folgen in den meisten Fällen eher den Interessen einer Profession, um ihren Gestaltungsanspruch zu legitimieren oder um sogenannte Akzeptanzprobleme (z.B. bei der Errichtung von Windrädern) abzubauen. Sie wirken daher oft bevormundend oder manipulativ. 2. Ein noch gewichtigerer Grund für die Schwierigkeit, neue Muster zu etablieren, liegt darin, dass „Landschaft“ zu einem Gegenstand hypostasiert wurde. Trepl (er nennt das Landschaft2) definiert diese materielle Landschaft folgendermaßen: „Ich kann von Landschaft auch wie von einem von mir unabhängigen Gegenstand sprechen: ‚Dort hinten beginnt die Hügellandschaft des Vogtlands.’ Da scheine ich ein Objekt mit objektiven Eigenschaften zu meinen, die für alle Betrachter die gleichen sind und mit bestimmten Grenzen. Sie ändern sich nicht mit dem, der sich in der Landschaft bewegt. Er kann auf seiner Wanderung den Rand dieser Landschaft erreichen und sie verlassen. Was er in weiter Ferne sieht, muss nicht mehr zu der, d.h. dieser Landschaft, gehören. Er muss 37
sich auch nicht in ihr bewegen, sie kann ‚dort hinten’ oder ganz woanders liegen.“
Materielle Landschaft kann man nun gestalten, handelt es sich doch um einen realen Gegenstand und nicht nur um eine ästhetische Sehgewohnheit. Die Hypostasierung von freier Landschaft zu materieller Landschaft erfolgte nach dem traditionellen Muster von „Landschaft“ – dem harmonischen Bildganzen. Durch die Anwendung des Musters auf das vorliegende Erscheinungsmaterial und dessen Hypostasierung zu einer materiellen Landschaft entsteht ein landschaftliches Individuum, das es, obwohl den Regeln des Musters folgend, nur an diesem Ort gibt. Das harmonische Bildganze „trägt“ die materielle Landschaft nun als Ge-
37 Ebd. S. 20.
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genstand in sich, und jeder Verstoß gegen die Kompositionsprinzipien des Musters ist gleichzeitig eine Zerstörung der materiellen Landschaft. Die Anwendung von anderen ästhetischen Ideen bei Veränderungen dieses landschaftlichen Individuums kann daher nur seine Zerstörung zur Folge haben. Man hat als Gestalter also nur die Möglichkeit, entweder dem Wesen der materiellen Landschaft zu entsprechen, und sie ihren Gesetzen folgend weiter zu gestalten, oder sie zu zerstören. Hier ist „Landschaft“ somit tatsächlich Gesetz geworden,38 doch dieses Gesetz hat keinen naturwissenschaftlichen Hintergrund, sondern beruht auf den Gestaltungsprinzipien eines ästhetischen Musters. Die zahlreichen materiellen Landschaften, die z.B. über Deutschland verteilt „herumstehen“ (wie die 750 Gebiete, die in der Topographischen Karte 1:1000 Landschaften des Bundesamt für Kartografie und Geodäsie dargestellt sind),39 sind, da sie bewohnt und bearbeitet werden, keine ästhetischen, sondern praktische Gegenstände, die über individuelle und objektive Schönheit verfügen. Jeder praktiziert diese beiden landschaftlichen Sichtweisen, wobei die Wahrnehmung freier Landschaft als ästhetische Alltagspraxis darauf angewiesen ist, dass man sie erlernt, und materielle Landschaft darauf, dass man in irgendeiner Form den typologischen Blick der Schulgeografie vermittelt bekommt, und mag es über die Werbung für 1a-Landschaften wie den Grand Canyon, die Toskana oder die Oberengadiner Seenplatte sein. In der Regel wird beides zusammen vermittelt. Arbeitet man nun als Gestalter in einem solchen kulturellen Kontext, so kann man sich diesem gar nicht entziehen, weil man erstens selber auch so denkt, und zweitens, weil die öffentliche Legitimation für die Profession der Landschaftsarchitektur sich daraus ergibt, im Sinne dieser landschaftlichen Sichtweisen zu arbeiten. Nun gibt es aber sogenannte Eingriffe, wie die Errichtung von Windkraftanlagen, Hochspannungsleitungen oder Autobahnen, die zwangsläufig mit der Zerstörung, sowohl von freier wie auch von materieller Landschaft verbunden sind. Das könnte man einfach akzeptieren und darauf vertrauen, dass diese Eingriffe irgendwann auch als Bestandteil der landschaftlichen Individualität gesehen werden. Abgesehen davon, dass der Schutz von materieller Landschaft gesetzlich verankert ist und daher „gestaltet“ werden muss, werden diese Eingriffe immer seltener von der lokalen Öffentlichkeit hingenommen und akzeptiert. Gestaltung wird daher zunehmend von Seiten der Eingreifenden wie auch der Be-
38 Siehe dazu: Walter Rossow: Die Landschaft muß das Gesetz werden. Hrsg. von Monika Daldrop-Weidmann. Stuttgart 1991. 39 Siehe: Sören Schöbel: Windenergie und Landschaftsästhetik. Zur landschaftsgerechten Anordnung von Windfarmen. Berlin 2012. S. 56.
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troffenen eingefordert. Da aber etwas per se Landschaftszerstörendes gestaltet werden soll, besteht die Gestaltungsaufgabe entweder in der Abmilderung der Zerstörung durch den Schutz besonders wichtiger Landschaftselemente oder durch die sogenannte visuelle Integration der Eingriffe in die Individualität der jeweiligen Landschaft. Das ist nicht neu – Gestaltungskonzepte für die Integration von Technik in „Landschaft“ gibt es z.B. im Rahmen der Heimat- und Naturschutzbewegung und in der Landespflege seit mehr als hundert Jahren. Doch gibt es Ideen, die über das Gestaltungsprinzip der Integration (und somit des Einpassens in den Bestand) hinausgehen? Um diese Gestaltungsaufgabe mit einer überzeugenderen ästhetischen Idee auszustatten, als nur „das Schlimmste zu verhindern“, lohnt sich vielleicht zur Inspiration ein Blick in den Bereich autonomer Kunst. Ich möchte hier auf das Gestaltungsprinzip der Übermalung hinweisen, wie es von Kasimir Malewitsch, Marcel Duchamp, Gerhard Richter oder Arnulf Rainer betrieben wurde. Die von den Avantgarden der Moderne entwickelten Übermalungen eröffnen einen Dialog zwischen der alten und der neuen Bildebene, wobei dieser Dialog sich anfangs als Spott oder Schmähung kulturschwerer Meisterwerke wie der Mona Lisa entfaltet. „Der Angriff richtet sich vor allem gegen die Meisterwerke der Kunstgeschichte; ihnen, die als einzigartige, unwiederholbare Originale gelten, wird – im Geniestreich – übel mitgespielt.“
40
Ohne etwas darstellen zu wollen, mit banalen Zeichen oder Gesten, die technisch von jedem ausgeführt werden könnten, interpretieren Übermalungen die Zeichen und Formen der Malunterlage mit dem Ziel, das harmonische Bildganze aufzulösen, um ihm seine Aura, seine Originalität und Individualität zu nehmen. Das Meisterwerk soll sich einreihen in die Masse der Reproduktionen und banalen Zeichen des Alltags und des Kommerziellen.41 Trotz dieser Zerschlagung des harmonischen Bildganzen bleibt das Ergebnis der Übermalung eine ästhetische Einheit. Die ästhetische Idee der Übermalung stiftet diese Einheit, auch wenn sie darauf aus war, ein harmonisches Bildganzes zu zerstören. Wird eine ästhetische Idee gestalterisch erkennbar, stellt sie eine neue formale Einheit her – nimmt sie erkennbar Bezug auf Ideen, macht sie ein Kunstwerk symbolisch bedeutungsvoll.
40 Birgit Mersmann: Bilderstreit und Büchersturm. Medienkritische Überlegungen zur Übermalung und Überschreibung im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999. S. 58. 41 Vgl. Ebd.
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So ein Vergleich bzw. der Versuch der Übertragung einer ästhetischen Idee in die Entwurfspraxis der Landschaftsarchitektur ist nicht bloß eine ästhetizistische Spielerei. Er kann vielmehr, wenn das übertragene Gestaltungsprinzip es vermag, das Erscheinungsmaterial und die Gestaltungstechniken der Entwurfspraxis der Landschaftsarchitektur neu zu strukturieren, eine Möglichkeit sein, das Muster „Landschaft“ weiterzuentwickeln. Die „landschaftsgerechten Anordnung von Windfarmen“ als Übermalung Ich möchte nun am Gestaltungskonzept der „landschaftsgerechten Anordnung von Windfarmen“ von Sören Schöbel42 testen, ob sich die ästhetische Idee der Übermalung in einer für die Praxis der Landschaftsarchitektur relevanten Art und Weise als Mittel der Kritik und der Konzeptgewinnung verwenden lässt. Dafür möchte ich zunächst Schöbels „Methode“ vorstellen und diese dann vor dem Hintergrund der ästhetischen Idee der Übermalung analysieren. Schöbel weist in seinem Buch zunächst die Notwendigkeit von Gestaltung für die Anordnung von Windenergieanlagen unter Bezugnahme auf Landschaften in Deutschland nach. Er tut das anhand der Diskrepanz zwischen der hohen Akzeptanz für die Windenergienutzung als regenerative Energiequelle und der Verunsicherung der Betroffenen, wenn Windkraftanlagen in „ihrer“ Landschaft errichtet werden sollen. „Wir können jedenfalls festhalten, dass Windenergieanlagen als Technologie begrüßt, als technische Objekte akzeptiert, als räumliche Nachbarn erst gefürchtet, dann toleriert werden – in der Landschaft aber nur in Kauf genommen, nicht als sinnstiftend einfügend erfahren werden. Damit basiert die gesellschaftliche Akzeptanz auf funktional-rationalen Argumenten, kontextuell-ästhetische Elemente werden ausgeklammert.“
43
Des Weiteren erläutert Schöbel die aktuellen rechtlichen Setzungen und die bestehende Planungspraxis in Deutschland. Obwohl die rechtlichen Rahmenbedingungen eine landschaftsgerechte Positivplanung fordern, wird in der Praxis „eine ‚inkrementalistische Negativplanung’ angewendet.“44 Das hat nach Schöbel folgenden Effekt:
42 Sören Schöbel: Windenergie und Landschaftsästhetik. Zur landschaftsgerechten Anordnung von Windfarmen. Berlin 2012. 43 Ebd. S. 16. 44 Ebd. S. 17-22.
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„Diese Verfahren deklassieren Windenergiestandorte zu Nicht-Landschaften, nach außen abgewertet, nach innen mechanisch und nach Einzelinteressen zusammengestellt. In ihrer inneren Struktur wie ihrem äußeren Erscheinungsbild werden nur Partikularinteressen, kein kollektiver Sinn erkennbar. Eine solche Landschaft kann nicht als schön empfunden werden, weil hier kein Gelingen erkennbar wird.“
45
Aufbauend auf diesen Gestaltungsbegründungen erläutert er seine „Gestaltungsmethode“ zur landschaftsgerechten Anordnung von Windrädern. Diese ist als Verfahren konzipiert, das aus drei Typologisierungen (von Landschaftsstrukturen, Windenergieanlagen und Anordnungen derselben) besteht (1-3), des weiteren aus einem Planungsverfahren (genannt dialogische Landschaftsentwicklung), das eine qualitätsvolle räumliche Anordnung dieser Typen ermöglichen soll (4), einer Analysemethode (Landschaftsstrukturanalyse), die dazu dient die definierten Typen in konkreten Landschaften zu bestimmen (5) und aus einer Synthesemethode, die Landschaftsstruktur und Formationen von Windrädern in einer Matrix zusammenführt (6). Diese sechs Schritte sollen hier kurz vorgestellt werden: 1. Zunächst stellt Schöbel eine Typologisierung der „Strukturen von Landschaft“46 vor, die als Grundlage dienen soll, um Windenergieanlagen in einer Positivplanung in Landschaft integrieren zu können. Schöbel unterscheidet Morphologien, das ist das Relief der Erdoberfläche von Naturlandschaften, und Morpheme, das sind „die einzelnen lesbaren Elemente oder Bausteine“ der Morphologie der Naturlandschaften, wie z.B. für eine Morphologie typische Bergketten, Senken, Schotterebenen oder Kanten.47 „Relief und Morpheme können [...] im Zusammenhang sowohl typologisch gefasst wie spezifisch beschrieben werden. Dabei spielen die Dimensionen und Proportionen in der Naturlandschaft bei der Planung eine herausragende Rolle.“48
Die Morphologie der Naturlandschaften wurde durch die Nutzungen des Menschen überformt und mit eigenen Strukturen, Schöbel nennt das Texturen, überlagert – die „kleinsten bedeutungstragenden Teile“ dieser Textur nennt er Kulturlandschaftselemente. Das wären bauliche Anlagen, Infrastrukturen und Vege-
45 Ebd. 46 Ebd. S. 37. 47 Ebd. S. 41. 48 Ebd. S. 41.
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tationsformen.49 Kulturlandschaftselemente haben in verschiedenem Maße die Morphologie der Naturlandschaft „interpretiert“ und sich zunehmend von ihr emanzipiert bzw. entfremdet. Schöbel stellt daher vier verschiedene Entwicklungstypen von Kulturlandschaftselementen vor: Frühneuzeitliche Kulturlandschaftselemente, die die Naturlandschaft weitgehend kulturell überformt haben, aber z.B. durch die Verwendung von Material der Naturlandschaft weitgehend von ihr geprägt sind. Neuzeitliche Kulturlandschaftselemente, die mit dem Ziel der Naturbeherrschung, z.B. durch Trockenlegung und Eindeichungen zu einer tiefgreifenden Veränderung der Landschaft geführt haben. Industrielle Landschaftselemente sind völlig von der lokalen Morphologie emanzipiert und folgen keiner landschaftlichen Logik, sondern gestalten das Relief maschinengerecht um und breiten industrieller Logik folgend ein Netz aus Infrastrukturen über die Landschaft. Postfossile Landschaftselemente, wie die Anlagen erneuerbarer Energieproduktion, sind wieder auf die vorhandene Morphologie, die sie für die Energieerzeugung nutzen, angewiesen. Die erzeugte Energie wird bedingt durch hohe Transportverluste ebenfalls eher im lokalen Kontext an die Verbraucher verteilt.50 Diese zwei Strukturtypen (Morphologie und Textur) führt Schöbel ganzheitlich in Charakterlandschaften zusammen. Diese entstehen im historischen Wechselspiel aus Morphologie und Kulturlandschaftselementen und bilden landschaftliche Individuen aus. Jede Landschaft ist somit einzigartig, weil sie einen eigenen Charakter hat, aber Landschaften sind auch vergleichbar, weil sich Kulturlandschaftselemente und Morpheme nicht bloß in einer Landschaft finden lassen, sondern sich wiederholen. In jeder Landschaft sind sie nur durch die Geschichte anders arrangiert und ausgeprägt. Er versteht somit „Landschaft“, im Zusammenhang mit der Errichtung von Windenergieanlagen, als Erscheinungsmaterial, das er zwar nicht als etwas statisches versteht, aber das der passive Hintergrund für hinzugefügtes Erscheinungsmaterial ist, nämlich Windenergieanlagen. 2. Im nächsten Schritt werden von Schöbel Windenergieanlagen typologisiert. Er folgt dabei nicht den technischen Typen der Hersteller, sondern definiert Dimensionstypen nach Gestalt und Größe der Anlagen. Diese Typen setzt er ins Verhältnis zur Höhe von Kultur- und Naturlandschaftselementen und leitet davon ein erstes Gestaltungsprinzip ab: Er schreibt, dass „Windenergieanlagen der heutigen Generation [Höhe 130-200m] eine neue Dimension in die Landschaft einfügen, die ein Mehrfaches der in der Landschaft sonst vorhandenen Höhen-
49 Ebd. S. 47. 50 Ebd. S. 48.
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differenzen ausmacht und nur zu den bedeutenden morphologischen Grenzstrukturen der Naturlandschaft in Beziehung gesetzt werden kann.“51 3. Danach typologisiert Schöbel die Anordnungsstrukturen von Windenergieanlagen. Er unterscheidet geometrische von organischen Grundformen und unterteilt diese weiter in punktuelle Anordnungen (Solitär, Sprenkel), lineare (Ketter, Reihe, Bogen, Welle, Spline), parallele/radiale (Allee, Phalanx, Strom) und flächige (Raster, Cluster, etc.). Diese Anordnungen sind die wichtigste Gestaltungstechnik, mit denen Windanlagen nun in die Landschaft eingefügt werden können. 4. Im nächsten Schritt führt Schöbel nun Landschaft mit ihren jeweiligen Strukturen und ihrem Charakter und Windenergieanlagen mit ihren Gestaltungsmöglichkeiten (bzw. ihren Gestaltungsregeln) in einer Dialogischen Landschaftsentwicklung zusammen, die er als Planungsmethode versteht, um Windenergieanlagen so planen zu können, dass „Landschaft, Gesellschaft und Windenergie miteinander in Verbindung gesetzt werden können.“ 52 Sein dialogisches Planungsverfahren kommuniziert auf zwei Ebenen: Erstens führt es einen Dialog mit den Strukturen der Landschaft, um eine behutsame Erneuerung der Landschaft zu ermöglichen, die sich an den vorhandenen Morphologien und Texturen orientiert. Die gleichrangigen Entwicklungsziele dieses landschaftlichen Dialogs sind die Erhaltung von Identität und Kontinuität, aber auch Erneuerung und Modernisierung.53 Die zweite Kommunikationsebene ist der gesellschaftliche Dialog im Rahmen eines transparenten Planungsprozesses über alternative Konzepte und Beteiligungsmöglichkeiten.54 5. Nachdem im nächsten Schritt die geeigneten Planungsebenen identifiziert werden (Planungsregionen und Landesplanung), werden die oben typologisch definierten Bestandteile von Landschaften in der Landschaftsstrukturanalyse (zielt auf Landschaftsstrukturen) und in Bedeutungsanalysen (zielen auf die gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung) im konkreten Planungsraum erfasst. Diese ergeben im Zusammenspiel den Charakter der untersuchten Landschaft. 6. Landschaftsstrukturen und die Formationen von Windenergieanlagen werden im letzten Schritt in einer Matrix – einem Natur- und kulturlandschaftlichen Regelwerk – verbunden. In dieser Matrix werden den verschiedenen Landschaftsstrukturen, unter dem Gestaltungsprinzip landschaftsgerechter Relationen und Proportionen, bestimmte Formationen von Windenergieanlagen zugeordnet.
51 Ebd. S. 69. 52 Ebd. S. 87. 53 Ebd. S. 88. 54 Ebd. S. 88.
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Ausgehend von diesem Regelwerk werden dann regionalspezifische Konzepte (stets mehrere Alternativen beinhaltend) „auf der räumlichen Bezugsebene von ‚Charakterlandschaften’“55 in einem öffentlichen Diskurs entwickelt. „Die Alternativen müssen vier wesentliche Bedingungen erfüllen. Sie müssen jeweils: technisch, ökonomisch und rechtlich realistisch sein; ganzheitlich angelegt sein, das heißt auf weitere Ziele der Raumentwicklung abgestimmt; kommunizierbar sein, das heißt mit programmatischen Zielen, prägenden Begriffen und allgemein lesbaren Visualisierungen verbunden werden; entwicklungsoffen sein, das heißt im öffentlichen Diskursprozess verändert – zum Beispiel angepasst oder verbunden – werden können.“
56
Betrachtet man aus einer künstlerischen Perspektive das Erscheinungsmaterial, das Schöbel verwendet, und vergleicht es mit den eingesetzten Gestaltungstechniken, zeigt sich eine deutliche Parallele zur Übermalung: Das als passiver Hintergrund (Malunterlage) für die Übermalung verwendete Erscheinungsmaterial ist ein „Bild“, das dem Gestaltungsprinzip des harmonischen Bildganzen folgend komponiert ist – die „Charakterlandschaft“. Diese „Malunterlage“ wird nun mit einem Gestaltungsmittel (den Anordnungen der Windkraftanlagen), das nicht dem Gestaltungsprinzip des harmonischen Bildganzen folgt, sondern, wie Schöbel es nennt, der industriellen Logik, überformt, wobei mit dem industriellen Gestaltungsmittel die Strukturen der Landschaft „interpretiert“ werden. Was heißt das? Windkraftanlagen, man mag sie anordnen wie man will, bleiben technische Gegenstände der industriellen Produktion, die zwar organisch gestaltet werden könnten, wie z.B. der VW-Käfer, aber dennoch ein technisches, immer gleiches Produkt bleiben würden, die eher dazu geeignet sind ästhetische Ideen wie die des Seriellen (z.B. Sol LeWitts Cubes) zu verwirklichen als ein harmonisches Bildganzes. Das Kunststück der Übermalung ist es nun, mit einem dem harmonischen Bildganzen widersprechenden Gestaltungsprinzip, wie dem Seriellen oder dem Formlosen, dennoch Formen und Strukturen des Bildganzen formal zu interpretieren, indem man sie nachzeichnet, sie wiederholt oder ihnen widerspricht. Schöbel tut genau das, indem er Landschaftsstrukturen, die er als Erscheinungsmaterial des Bildganzen ausgewählt hat, durch die Aufstellung von Windrädern verschieden interpretiert. Schöbels Gestaltungsprinzip könnte nun ein Weg sein, der materielle Landschaft und Windkraftanlagen in ein ästhetisch ansprechendes und pragmatisch umsetzbares Verhältnis bringt. Die ästhetische Idee der Übermalung auf der
55 Ebd. S. 107. 56 Ebd. S. 110.
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(nach meiner Interpretation) sein Vorschlag beruht, bietet dafür das geeignete Gestaltungsprinzip. Schöbel versteht aber offenbar seinen Vorschlag gar nicht als Gestaltungsprinzip (also als ein subjektives Prinzip zur Gestaltung von Erscheinungsmaterial), sondern als Design-Methode (beruhend auf objektiven Prinzipien). Das zeigt sich an zwei Punkten seines Gestaltungsvorschlags: T Schöbel folgt in der Auswahl des Erscheinungsmaterials für seinen Entwurf,
er nennt das Landschaftsstrukturanalyse, der ästhetischen Idee des harmonischen Bildganzen und folgt somit dem Landschaftsverständnis eines organizistischen Funktionalismus a la Herder von materieller Landschaft als Kulturlandschaft. Das ist aus pragmatischen Gründen sinnvoll, weil es genau das Verständnis von „Landschaft“ ist, an dem sich die Konflikte bei der Errichtung von Windkraftanlagen entzünden. Er macht aber nicht nachvollziehbar, dass er mit der Landschaftsstrukturanalyse einer bestimmten ästhetischen Idee folgt – dem harmonischen Bildganzen. Er erweckt vielmehr den Eindruck als wäre es aus objektiven Gründen zwingend notwendig das Material, das er ausgewählt hat, zu analysieren. Man könnte aber, würde man einer anderen ästhetischen Idee folgen, auch ganz andere Formen und Strukturen analysieren. Die Auswahl der analysierten Landschaftsstrukturen ist subjektiv. Diese Verschleierung der notwendig subjektiven Herangehensweise wäre gar nicht notwendig, da es sich auch pragmatisch sehr gut begründen lässt, warum man „Landschaft“ so analysiert, z.B. weil sich der Widerstand gegen Windenergieanlagen fast ausschließlich an Fragen entzündet, die das Verständnis von „Landschaft“ als Kulturlandschaft betreffen. Erst durch das Offenlegen der ästhetischen Idee hinter seinem Gestaltungsprinzip könnte der von Schöbel angestrebte Planungsdialog tatsächlich ergebnisoffen und transparent geführt werden. T Schöbel stellt in Folge seiner funktionalistischen Argumentationsweise, das Natur- und Kulturlandschaftliche Regelwerk, das ja im wesentlichen Gestaltungsregeln für die Übermalung formuliert, ebenfalls nicht zur Diskussion. Man könnte aber, je nach ästhetischer Idee, doch auch ganz andere Regeln formulieren. Zum Beispiel lehnt Schöbel es ab, Windkraftanlagen an Autobahnen zu positionieren, weil diese bereits nicht in die Landschaft integriert wären. Durch die Orientierung der Aufstellung von Windkraftanlagen an der Linienführung von Autobahnen käme es daher zu einer gegenseitigen Stärkung von landschaftlich nicht integrierten industriellen Strukturen. Dass er dies auf Grund der ästhetischen Idee des harmonischen Bildganzen ablehnt wird nicht klar. Dadurch wird aber die von Schöbel geforderte Diskussion über Alternativen unnötig eingeschränkt. Denn man könnte doch alternativ
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zum harmonischen Bildganzen durch die Ballung von industriellen Strukturen, wie Windräder und Autobahnen, sehr gut einen gestalterischen Höhepunkt des Seriellen formulieren, also die Übermalung stärker in ihrer Eigengesetzlichkeit hervortreten lassen. So verschleiert Schöbel, dass die Interpretation einer materiellen Landschaft durch die Anordnung der Windkraftanlagen subjektive künstlerische Gestaltung ist – er nennt das einen (behutsamen) Dialog mit der Landschaft. Dieser Dialog kann behutsam sein oder auch brutal, er ist in Schöbels Konzept künstlerischer Subjektivität unterworfen und basiert auf ästhetischen Ideen. Obwohl Schöbel dezidiert ein Konzept für die Gestaltung von Windkraftanlagen vorlegt, neigt er dazu, den subjektiven, gestalterischen Anteil zu verbergen, vielleicht, um sich nicht den Vorwurf der Irrationalität auszusetzen. Ich vermute aber, dass Schöbel, obwohl er großen Wert auf ein Planungs- bzw. Entwurfsverfahren legt, das die Bewohner der „Landschaft“ mit einbezieht, dennoch einer „Verlockung“ des ästhetischen Funktionalismus erlegen ist. Die lautet: Man nehme objektive Schönheitsprinzipien an (z.B. die Proportionen und Relationen einer Landschaftsstruktur) und leite von diesen bestimmte Gestaltungsprinzipien ab. Diese sind dann natürlich auch objektiv. Ein Entwurf, der durch die Anwendung dieser Gestaltungsprinzipien entsteht, ist dann Ausdruck der Erfüllung dieser objektiven Schönheitsprinzipien. Der Gestalter kann somit die „selbstgemachten“ Schönheitsprinzipien durch ein „selbstgemachtes“ Beispiel begründen und umgekehrt. Daher ist das Schönheitsurteil des Gestalters ausreichend (weil auf objektiven Prinzipien beruhend), um die Qualität einer Gestaltung zu beurteilen. Die Einbeziehung von anderen ist dann (außer zur Herstellung von Akzeptanz für die Gestaltung) nicht mehr unbedingt notwendig. Ästhetische Idee: Montage Aus demselben Vergegenständlichungsprozess, den das Muster „Landschaft“ durchlaufen hat, lässt sich ebenso die Entstehung des Musters „Stadt“ ableiten. Das Muster „Landschaft“ in der Landschaftsmalerei kennt zunächst gar kein Unterschied zwischen ländlichem oder urbanem Erscheinungsmaterial – Städte sind Teil des Bildganzen. Erst mit der Übertragung des Musters „Landschaft“ in den realen Raum erfolgt im späten 18. Jahrhundert, die Trennung von „Stadt“, als eigenständiges Muster, vom Muster „Landschaft“, ohne aber die Gestaltungsprinzipien wesentlich zu verändern. Der mit der Industrialisierung verbundene massive Stadtumbau, die entstehende Trennung von Wohnen und Arbeiten, die damit und mit dem industriellen Warenhandel verbundene Zunahme des Stadtver-
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kehrs, die durch Zuwanderung gewachsene Stadtbevölkerung, das alles verbunden mit einer neuen sozialen Unübersichtlichkeit führte im 19. Jahrhundert zu einer Wahrnehmungskrise des Musters „Stadt“. Das aus dem Muster „Landschaft“ übernommene harmonische Bildganze konnte mit den tatsächlichen städtischen Verhältnissen nicht mehr in Übereinstimmung gebracht werden. Obwohl der Stadtumbau, wie er z.B. von Haussmann in Paris vorgenommen wurde, als Zerstörung der gewachsenen Stadtstruktur beklagt wurde, eröffnete sich dadurch aber die Möglichkeit, Quartiere und Straßen der Großstadt zweckfrei zu durchstreifen und das Muster „Landschaft“ an den Metropolen auszuprobieren und unter der „Regie“ einer neuen ästhetischen Idee zu reformieren.57 „Denn so wie die Flanerie Paris durchaus in ein Interieur zu wandeln vermag, eine Wohnung, deren Gemächer die Quartiers sind und in der sie nicht wieder deutlich durch Schwellen geschieden sind als eigentliche Zimmer, so kann auch wiederum die Stadt vor dem Spaziergänger schwellenlos wie eine Landschaft in der Runde sich auftun.“
58
Die Stadt wird zur inneren Landschaft der Gesellschaft – zum Interieur. Doch dieser landschaftliche Blick auf das Interieur der Gesellschaft vermag nicht mehr ein harmonisches Bildganzes zu erblicken, sondern einen von gesellschaftlichen Konflikten geprägten öffentlichen Raum. „Das Erlebnis der sich im Bürgerkrieg [in Paris] manifestierenden offenen Gewalt und die sich zunehmend in Streiks und Demonstrationen äußernden Konfrontationen sozialer und politischer Gruppierungen ließen den neugestalteten öffentlichen Raum [der Boulevards] nicht zu einem mit beruhigender gesellschaftlicher Sicherheit gleichgesetzten Ort werden.“
59
Auf diese Diskrepanz im landschaftlichen Blick auf die Metropolen gibt es verschiedene Antworten:
57 Siehe dazu: Thomas Hauck: Phantasmagorie der Straße. In: Sandra Maria Geschke (Hg.): Straße als kultureller Aktionsraum, Wiesbaden 2009. S. 264ff. 58 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Frankfurt/Main 1983. S. 531. 59 Andrea Frey: Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860-1900. Berlin 1999. S. 33f.
246 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG T Erstens die Herausbildung eines spezifisch ästhetischen Blicks auf die Stadt;
ich will dieses Stadtverständnis Urbanität nennen, da es sich dabei (analog zur Landschaft1 von Trepl) eher um eine Situation als um ein Ding handelt.60 T Zweitens werden Lösungsvorschläge formuliert, die diese Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Realität und Stadtgestalt mit der Formung neuer Stadtgestalten lösen wollen. Dieses Idee von Stadt nenne ich die gestaltete Stadt. Kulturelle Praxis der Urbanität ist in Entsprechung zum Wandern in der „Landschaft“ das Flanieren. Das Muster ist ein im 19. Jahrhundert mit dem Darstellungskonflikt zwischen dem Muster „Landschaft“ und den Industriemetropolen herausgebildetes fragmentiertes Sehen und Erleben, wie es exemplarisch von Baudelaire und Benjamin verkörpert wird, das sich u.a. in der französischen Malerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. „Räumlich, zeitlich, gesellschaftlich und funktionell fragmentiert, bricht Baudelaires persönliches Erleben der städtischen Welt, bei dem übergreifende soziale und moralische Bindungen zugunsten einer Ästhetisierung und Sublimierung des Schönen wie des Erschreckenden aufgegeben sind, deutlich mit Versuchen, die Stadt in ihrer Gesamtheit gliedernd zu erfassen.“
61
Der Städtebau mit seinem Verständnis von Stadt als gestaltete Stadt hingegen stellt den Versuch dar, diese Diskrepanz mit künstlerischen Mitteln zu lösen. Hier gibt es ähnlich der Hypostasierung des Musters „Landschaft“ alternative ideologische Begründungen (Stadtideologien) für die Notwendigkeit von Gestaltung. Ich möchte hier nur zwei herausgreifen, die mir, um die weitere Argumentation zu schärfen, dienlich erscheinen: T Camillo Sitte, der einen künstlerischen Städtebau vorschlägt, der sich auf die
ästhetische Idee des harmonischen Bildganzen stützt: Seine Argumentationsstruktur folgt einem organizistischen Funktionalismus. Die gebaute Stadt ist der Organismus einer versöhnten Gesellschaft, in der jeder seinen ihm gemäßen Platz einnimmt.62
60 Siehe dazu: Ludwig Trepl: Die Idee der Landschaft: Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012. S. 18-19. 61 Ebd. S. 32. 62 Camillo Sitte: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1901 (3. Auflage). S. 152.
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T Le Corbusier, der auf eine Einheit ganz anderer Art aus ist: Es ist nicht die
Ganzheit eines historisch gewachsenen individuellen Stadtkörpers, wie bei Sitte, sondern eine Stadt aus künstlerisch geformten Funktionstypen im Sinne eines mechanistischen Funktionalismus, die den Bedürfnissen des Menschen dienen und daher eine universell gültige Stadtform produzieren. Beide Varianten der gestalteten Stadt nehmen verschiedene Verhältnisse zur materiellen Landschaft ein. Sittes Stadtgestalt, die sich in einem harmonischen Verhältnis zur sie umgebenden Kulturlandschaft entwickelt hat, ist deutlich als Stadtkörper in der Landschaft zu erkennen. Stadt und Kulturlandschaft sind somit Teile eines übergeordneten Ganzen bzw. die Stadt ist Teil des landschaftlichen Individuums. Le Corbusiers Stadtgestalt ist nur formal (nicht körperhaft) von materieller Landschaft zu unterscheiden, und doch bilden auch sie eine Einheit – eine Funktionseinheit. Da sowohl das Muster „Stadt“ als auch „Landschaft“ bei Le Corbusier funktionalisiert werden, kann er die Funktionen von „Stadt“ und von „Landschaft“ nach Belieben in räumliche Funktionszusammenhänge bringen. Die beiden Muster bedürfen keiner räumlichen Differenzierung, sondern sind frei mischbar. Le Corbusiers Stadtgestalt ist eine universelle Stadtlandschaft. Nun zurück zur Urbanität: Es ist faszinierend, dass die Kulturtechnik des Flaneurs es vermag, „Stadt“ ganz anders zu sehen, als es in beiden Varianten der gestalteten Stadt geschieht, die beide ein harmonisches Bildganzes konstruieren. Der Flaneur hat eine ganz andere ästhetische Idee im Kopf, mit der er herumstreift: Einzelne Bilder, Begegnungen, Situationen im Interieur der Gesellschaft werden nur durch die Person des Betrachters zu einem heterogenen Zusammenhang verbunden – durch die ästhetische Idee der Montage. „Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt [gemeint ist der Impressionismus], soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert.“
63
Die Montage ist eine der wichtigsten künstlerischen Innovationen der Avantgarden der Moderne: Wie soll man zu dieser Zeit als Künstler denn noch anders Bilder machen als sie aus den tausenden Schnipseln der industriellen Bildproduktion zu montieren? Wie die Übermalung wird daher die Montage als ästheti-
63 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main, 1993 (1. Auflage 1973). S. 232.
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sche Idee für die Gestaltung und ästhetischen Beurteilung der Großstadt aktuell. Mit ihr im Blick vermag man die Brüche und Diskontinuitäten der modernen Metropolen als Urbanität erleben – mit Melancholie angesichts verlorener Ganzheit oder mit Euphorie angesichts sublimer Überforderung. Die Montage wurde als ästhetische Idee daher auch im Städtebau für die Gestaltung von Stadt entdeckt. Der 1973 verfasste Text Collage City (erschienen als Buch 1978)64 von Rowe und Koetter stellt die Collage (Collage verstehe ich als spezielle Form der Montage) als neue ästhetische Idee für städtebauliches Entwerfen vor. Das spannungsreiche Kollidieren und Nebeneinander von verschiedenen Arten von Stadtgestalten als Gestaltungsprinzip einzusetzen, ist das Thema des Buchs. Diese ästhetische Idee wird im Zuge des „Zwischenstadt“-Diskurses“65 von zahlreichen Seiten66 als mögliches Prinzip zur Lösung des Gestaltungsproblems der (europäischen) „Zwischenstadt“ vorgeschlagen. Im Rahmen dieses Diskurses geht es aber nicht wie bei Collage City um die Montage von widersprüchlichen Stadtideen, sondern um „Stadt“ und „Landschaft“. Im „Zwischenstadt“Diskurs wird eine bestimmte Form der zeitgenössischen Stadtentwicklung als ästhetisch problematisch empfunden, die als Mischung von „Stadt“ und „Landschaft“ aufgefasst wird. Ich will an einem der Qualifizierungsvorschläge die Verwendung der ästhetischen Idee Montage im Zusammenhang mit der Gestaltung von „Zwischenstadt“ kurz vorstellen. „Zwischenstadt: Inzwischen Stadt“ als Montage Die Autoren von „Zwischenstadt: Inzwischen Stadt“67 verweisen in ihrem Artikel, in dem sie ein Konzept für das Limattal in der Schweiz vorstellen, zunächst auf Le Corbusiers Stadtverständnis (paysage urbain), um der Zwischenstadt, für
64 Colin Rowe, Fred Koetter: Collage City, Basel Boston Berlin 1997 (1. deutsche Auflage 1984). 65 Vera Vicenzotti: Der „Zwischenstadt“-Diskurs. Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt, Bielefeld 2011. 66 Z.B. Thomas Sieverts: Zwischenstadt: zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Wiesbaden 1999 (3. Verbesserte und ergänzte Auflage). S. 106ff. Und als „Patchworklandschaft“ in: Stefan Körner: Natur in der urbanisierten Landschaft. Ökologie, Schutz und Gestaltung, Zwischenstadt Bd.4, Wiesbaden 2005. S. 142 ff. 67 Oliver Bormann, Michael Koch, Martin Schröder, Maresa Schumacher: Zwischenstadt: Inzwischen Stadt. In: der Architektur Graz (Hg.): 100% Stadt – Der Abschied vom Nicht-Städtischen, Graz 2003Haus. S. 31ff.
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die sie dann Qualifizierungsvorschläge vorstellen werden, Existenzrecht zuzugestehen: „Schließlich stellte die Industriegesellschaft mit Nachdruck neue Anforderungen an Stadt, Region und Landschaft. Der vormoderne Gegensatz von geschlossener Stadt und freier Landschaft galt zu Recht als überholt. Die Vision von einer ‚paysage urbain’ lebte von der Durchdringung städtischer und landschaftlicher Elemente.“
68
Doch fehlte es den Gestaltern der „paysage urbain“ an Visionen für die „Landschaft“, die ja heute ebenfalls Ort der Urbanität geworden sei. Erst die Entdeckung des „landschaftlichen Blickwinkels“ in den Gestaltungsprinzipien für „Stadt“ würde die Gestaltung dieser „Landschaft suburbaner Räume“69 ermöglichen. Zunächst sei es, um überhaupt in relevanter Weise gestalten zu können, notwendig, die Zwischenstadt zu verstehen. „Die Zwischenstadt ist ein Konglomerat von Gestaltungsversuchen, die in ihrem fragmentarischen Charakter verstanden werden müssen: verschiedenartige Wohncluster, Arbeitsund Einkaufszentren, Freizeitstätten, Gewerbe- und Industrieareale, Infrastrukturen spiegeln sehr häufig die planerischen und städtebaulichen Leitbilder ihrer Entstehungszeit wider.“
70
Die Zwischenstadt sei daher nichts wild wucherndes, sondern eine Ansammlung von getätigten Gestaltungen, denen aber offenbar, vielleicht weil sie nicht mehr in ein Muster „Stadt“ oder „Landschaft“ einzuordnen sind, eine zusammenfassende ästhetische Idee fehlt. Diese ästhetische Idee sei aber bereits in der Zwischenstadt, sozusagen embryonal, angelegt, man müsse nur genau hinsehen und analysieren, um sie dann zum Vorschein bringen zu können: „Bei genauerem Hinsehen offenbart sich diese ‚Vorstadt- oder Zwischenstadtzone’ als urbaner Kosmos mit einer erstaunlichen atmosphärischen Attraktivität. Eine ‚Qualifizierung’ dieses Gebietes könnte heißen, die hier angesprochenen verschiedenen konstituierenden Elemente in einen bewussten, sichtbaren Zusammenhang zu bringen: gewissermaßen aus dem Siedlungskonglomerat zumindest in Teilen ein absichtsvolles Patchwork, ei71
ne Collage zu machen.“
68 Ebd. S. 32. 69 Ebd. S. 32. 70 Ebd. S. 33. 71 Ebd. S. 36.
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Die Autoren erklären in ihrem Text auch kurz ihre Analysemethode – sie nennen das Scan – um die Zwischenstadt im Limmattal zu verstehen. Sie erfassen dafür eine Reihe von „Strukturelementen“, die „als Schichten einer urbanen Topographie“ freigelegt werden. Durch dieses Freilegen entstehen „Ikonogramme“ der einzelnen Strukturelemente.72 Diese Ikonogramme bzw. Strukturelemente sind: Ränder, die die Kontaktlinien zwischen Stadt und Landschaft zeigen; historische Siedlungskerne und Biotope (als Naturerbe); Infrastrukturen (Autobahn), die einer exterritorialen Logik folgen; Siedlungen (Einfamilienhaus) und Gewerbegebiete, als generische Stadt (also ebenfalls einer exterritorialen Logik folgend); Ufos, als auf die Verkehrsinfrastrukturen bezogene Solitärformen (Einkaufszentrum, Ballungen von Gewerbekisten, Autobahnrestaurant); Blinde Flecken, als monofunktional genutzte Freiflächen (Verschiebebahnanlagen, Parkplätze, Lagerplätze).73 Diese Ikonogramme werden in verschiedenen Varianten überlagert und lassen als „Limmattal DNA“ 74 strukturelle Eigenschaften und Entwicklungspotentiale sichtbar werden. Das Überlagern der Raumstruktur erlaubt eine Analyse und Bewertung der Potentiale und Probleme des Raumgefüges. Die Analyse der DNA des Limattals ist der Versuch, ein Muster der Zwischenstadt sichtbar werden zu lassen, das von den Autoren durch folgende Merkmale charakterisiert wird: „Ambivalenz“, „Emanzipation“, „Neue Zentren“, „Verflüssigter Raum“ und „Hybridisierung“.75 Diese Charakterisierung wird von den Autoren vor dem Hintergrund der historischen Stadt vorgenommen: Bestandteil der DNA des Limmattals ist z.B. Ambivalenz, als „komplexes Gewebe verschiedener einzelner, oft nicht aufeinander bezogener Bausteine“ 76 (vermutlich im Gegensatz zur Eindeutigkeit und Kohärenz der historischen Stadt im Sinne von Camillo Sitte). Ein weiterer Teil der DNA ist verflüssigter Raum. Im Gegensatz zum öffentlichen Raum der alten Stadt, der sich durch die verdichtete und räumlich begrenzte Überlagerung vielfältiger Nutzungen ergab, ist der öffentliche Raum im Limattal „entzerrt, temporär genutzt und gleichsam verflüssigt.“77 Die DNAEigenschaft der Hybridisierung zeigt deutlich die ästhetische Innovationsstrategie der Autoren: Sie konstatieren, dass der Kontrast zwischen „Stadt“ und „Landschaft“ in der Zwischenstadt aufgelöst wird. „Landschaft wird Teil von
72 Ebd. S. 36. 73 Ebd. S. 37-38. 74 Ebd. S. 38. 75 Ebd. S. 38-39. 76 Ebd. S. 38. 77 Ebd. S. 39.
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Stadt und Stadt wird Teil von Landschaft“; es handelt sich um „ein Verhältnis gegenseitiger Durchdringung und Abhängigkeit“, in der die Möglichkeit eindeutiger Erkennbarkeit als Landschaft oder Stadt verlorengeht – es ist immer beides – eine Mischung aus Stadt- und Landschaftsbestandteilen.78 In einem letzten Schritt werden drei kurze Szenarien (oder Visionen bzw. Entwürfe) für das Limattal vorgestellt. Es geht in den drei Vorschlägen um eine Verbesserung der gestalterischen Qualität der Zwischenstadt, die nach Meinung der Autoren dadurch so mangelhaft ist, weil die „verstädterte Landschaft“ vorwiegend durch „isolierte Sektoralplanung“, insbesondere Verkehrsplanung, geprägt wird. Visionen für die Gestaltung der „hybriden Räume der Zwischenstadt“ seien daher notwendig.79 Vorgeschlagen wird erstens eine bottom-up Strategie der Aneignung der hybriden Räume durch „Urbanophile“, wie Künstler und Zwischennutzer, die die Brachen und offenen Räume der Zwischenstadt als Experimentierfeld für Projekte nutzen und dadurch aus den längst nicht mehr experimentell nutzbaren Zentren, Urbanität und Spannung in die soziale Langeweile (aus Einfamilienhäusern, Gewerbe und Einkaufszentren) der Zwischenstadt bringen sollen. Hipster, die aus den gentrifizierten und touristifizierten Zentren fliehen, sollen die ungenutzten Potentiale der Zwischenstadt zum Leben erwecken. Der zweite Vorschlag ist städtebaulich: Die großen Infrastrukturen, wie die Autobahn, werden in die städtebauliche Betrachtung zurückgeholt (und sind nicht mehr nur Angelegenheit der Verkehrsplaner) und werden reurbanisiert. Die Autobahn wird zur „Champs Elysees“, indem ihr eine „Skyline“ aus Hochhäusern und anderen Solitären zur Seite gestellt wird, die „für die maßstäbliche Einbindung in einen neuen urbanen Raum sorgen“80 soll. Der dritte Entwurfsvorschlag setzt auf die „städtische Natur“ der Zwischenstadt. „Aus brachliegenden Industrieflächen werden neuartige Parkanlagen zwischen Ökotop und Trendsport, die Teil einer sich ständig verändernden Landschaft sind.“81 Das vorgestellt Konzept interpretiert Zwischenstadt als Montage aus verschiedenen Gestaltungsversuchen und technischen Artefakten, wie Autobahnen, Einfamilienhausgebieten, Einkaufszentren, Gewerbegebieten, die zwar funktional vielleicht durchaus sinnvoll, aber visuell ohne Zusammenhang nebeneinander angeordnet sind. Folgt man dem Gestaltungsprinzipien der Avantgarden der
78 Ebd. S. 39. 79 Ebd. S. 39. 80 Ebd. S. 42. 81 Ebd. S. 42.
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Moderne, wäre es nun die Aufgabe der Gestaltung, die vorhandenen Trümmer der Empirie82 so anzuordnen, dass aus der Anerkennung der Brüche als Gestaltungsmittel ein Gestaltungsmuster der Nicht-Versöhnung erkennbar und dadurch ästhetisch erfahrbar wird. Dieser Anspruch wird zunächst in der Analyse des Limattals, wenn auch unscharf, erfüllt: Verschiedene Teile der Montage werden typologisiert und ihr widersprüchliches Verhältnis zueinander und ihre Kollisions- und Bruchstellen erkennbar gemacht. Die Typologie umfasst Strukturelemente der „Landschaft“, wie Biotope und etwas allgemein Landschaft, damit sind aber wohl Agrarflächen gemeint (also nicht so etwas bedeutsames wie Biotope); Strukturelemente der „Stadt“, das sind historische Siedlungskerne (die man aber auch der „Landschaft“ zuschlagen könnte); generische Strukturelemente, wie Gewerbegebiete und Einfamilienhausgebiete; Verkehrsinfrastrukturen und Funktionsflächen (Parkplätze, Lagerplätze, Bahnflächen) und große Einkaufszentren. Diese Strukturelemente aus „Stadt“ und „Landschaft“ werden nun jeweils zusammengefasst und ihre Ränder und Kollisionsstellen in einer Karte erkennbar gemacht. Bemerkenswert an dieser Karte, die die Kontaktlinien von Stadt und Landschaft zeigen soll, ist aber, dass technische Strukturelemente, wie Autobahn oder technische Funktionsflächen gar nicht zur Stadt gezählt werden, sondern offenbar etwas eigenes sind. Wir haben es hier also mit etwas zu tun, was weder in das Verständnis der Autoren von „Stadt“ noch von „Landschaft“ hineinpasst – große Infrastrukturen. Die drei im Rahmen von „Zwischenstadt: Inzwischen Stadt“ gemachten Entwurfsvorschläge verdeutlichen, wie sich das Gestaltungsprinzip der Montage auf Zwischenstadt anwenden lässt und wo offenbar seine Grenzen sind. Die Autoren verstehen die Gestaltung von Zwischenstadt als Qualifizierung eines gestalterisch unbefriedigenden Zustands einer Mischung von „Stadt“ und „Landschaft“. Das Gestaltungsprinzip dafür wäre die Montage, die die Brüche und Kollisionen, die bei der Entstehung der Zwischenstadt auftreten, betont. Da sich in der Montage die ästhetische Wirkung aus der Spannung zwischen den montierten Teilen ergibt, ist es nahezu gleichgültig, was man für Teile in der Montage verwendet, solange man damit Brüche und Kollisionen aufbauen kann. Strukturelemente der sogenannten generischen Stadt sind durch ihre repetitive formale Struktur wohl besonders dafür geeignet, in Kontrast zu den Strukturelementen der gewachsenen Landschaft und der historischen Ortskerne gesetzt zu werden. Da diese Strukturelemente, wenn der Gestalter beginnt, die Zwischenstadt zu qualifizieren, in der Regel schon da sind, erscheint es folgerichtig, die Ränder
82 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main, 1993 (1. Auflage 1973). S. 232.
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und Kollisionsräume zu bearbeiten. Zwei der Gestaltungsvorschläge gehen in diese Richtung: Einmal sollen die Ränder durch urbanophile Akteure experimentell genutzt und dadurch bewusster wahrnehmbar werden; im zweiten Vorschlag werden die Ränder und Zwischenräume zu Räumen städtischer Natur, als neuartig nutzbare und veränderliche Parkanlagen und dadurch aneigenbar und erkennbar. Im Kern geht es in beiden Vorschlägen darum, die Zwischenräume im Sinne der Kulturpraxis des Flanierens oder Wanderns (den ästhetischen Praktiken von Urbanität oder freier Landschaft) zu erschließen. Der dritte Vorschlag versucht mit einem Mittel aus dem Städtebau die Verkehrsinfrastruktur „Autobahn“ gestalterisch zu qualifizieren. Hochhäuser und Solitärgebäude sollen an der Autobahn angeordnet werden, um eine, dem Maßstab der Autobahn entsprechende, urbane Struktur zu erhalten, die die Proportion zwischen Autobahn und gebauter Struktur so gestaltet, dass die Autobahn als Boulevard in der Zwischenstadt erkennbar wird. Hier wird ein Gestaltungsmittel konzipiert, das mit der ästhetischen Idee der Montage nichts mehr zu tun hat, sondern es wird versucht, durch die Monumentalisierung von Gestaltungsprinzipien des Urbanismus des 19. Jahrhunderts die Autobahn zum integrierten Teil einer zusammenhängenden Stadtgestalt zu machen. Hier zeigt sich, dass die ästhetische Idee der Montage es vielleicht vermag (exemplarische Beispiele stehen noch aus), der Zwischenstadt ein neues ästhetisches Muster abzuringen, es mit ihrer Hilfe aber offenbar nicht gelingt, ein Gestaltungsprinzip für große Infrastrukturen zu entwickeln. Ästhetische Idee: Fluxus und dissipative Strukturen Eine weitere wichtige Innovationsstrategie zur Auflösung des harmonischen Bildganzen in der Kunst war die ästhetische Idee des Zufalls und der Unbestimmtheit. In vielen Kunstwerken von Fluxus (gemeint ist das lose Netzwerk von Künstlern unter diesem Namen) werden gestalterische Entscheidungen nicht in einem intuitiven Schöpfungsakt vom Künstler getroffen, sondern unsteuerbaren Prozessen überlassen – mögen sie natürlich sein oder der „Natur“ der Gesellschaft entspringen. Der Künstler gibt damit die Kontrolle über das Kunstwerk an Prozesse ab, die als irrational, aber dennoch strukturbildend, angesehen werden. Die Aufgabe des Künstlers ist es, in diesem Zusammenhang als Vermittler tätig zu sein, der den zufälligen Verläufen der Prozesse die Möglichkeit bietet, durch ein Darstellungsmedium (Performance, Zeichnung, Environment) in Erscheinung zu treten. Die Produktion des Kunstwerkes (wenn man überhaupt von „Werk“ noch sprechen kann) wird daher als Prozess der Interaktion verstanden, der zwischen konventionellen Darstellungsformen abläuft (Intermedial) und der zu neuen Darstellungsformen, wie Event oder Situation, führt. Der Künstler
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bleibt weitgehend indifferent in der Gestaltung des Erscheinungsmaterials und definiert nicht abschließend, was Teil des Prozesses werden soll (z.B. bei Performances im öffentlichen Raum), sondern gibt die Kontrolle zugunsten eines Stroms der Ereignisse ab, in den Künstler und Rezipienten eingehen sollen. „The artists of Fluxus were committed to the acceptance and the investigation of natures ‚musts’, choosing in many cases to relinquish artistic control in favour of participation in, assimilation of, and identification with the processes of nature.“
83
Der Zufall für die Produktion „unbewusster“ Kunstwerke (die somit auch nicht auf einem subjektiven ästhetischen Urteil beruhen) hatte schon bei den ersten Avantgarden der Moderne – im Dadaismus, Surrealismus – eine große Bedeutung und wurde von Fluxus wieder aufgegriffen und verändert. Marcel Duchamps 3 Standard Stoppages, das drei einmeterlange Schnüre, die von einem Meter Höhe auf Leinwände fallengelassen wurden und so, wie sie aufgekommen waren, fixiert wurden, zeigt, war daher ein wichtiges Referenzwerk für Fluxuskünstler.84 Im Unterschied zu Duchamp ging es im Fluxus aber nicht in erster Linie um die Auflösung der harmonischen Ganzheit des klassischen Kunstwerks und seiner Geschlossenheit, sondern um die „Konfrontation mit dem völligen Nichtverstehenkönnen“,85 das ein Kunstwerk im Sinne der Mäeutik zur Entfaltung bringen und nicht – wie das klassische Kunstwerk – mit Schein überdecken soll. Kunstwerke sollen wie beim koan, dem Rätsel ohne Lösung im Zen Buddhismus (auf das John Cage sich in seiner Kunstproduktion bezieht), Situationen herstellen, die ein intentionsloses Wahrnehmen (das nichts erkennen will) am zufällig ablaufenden Prozess ermöglicht. „Neither overwhelming nor unknowable, nature is thus revealed through simple, direct engagement in its processes. Further, the operations of the individual are themselves re-
83 David D. Toris: Zen Vaudeville: A Medi(t)ation in the Margins of Fluxus, in: Ken Friedman: The Fluxus Reader, Chichester 1998. S. 93. 84 Zur Rezeption von „3 Standard Stoppages“ und seiner tatsächliche Zufälligkeit siehe: Rhonda Roland Shearer, Stephen Jay Gould: Hidden in Plain Sight: Duchamp’s 3 Standard Stoppages, More Truly a „Stoppage“ (An Invisible Mending) Than We Ever Realized, in: tout-fait, Issue1, Vol.1, Dezember 1999. 85 Umberto Eco: Zen und der Westen, in: Ders.: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/Main 1977. S. 222.
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vealed through engagement in this unfolding; one becomes an actively perceiving, infi86
nitely mutable organ of response, not differentiated from nature.“
Das künstlerische koan führt den Betrachter aus der Rezeption bekannter ästhetischer Muster hinaus mit dem Ziel, ihn in einen Zustand ästhetischer Kontemplation87 zu versetzen, offen für die ästhetische Erfahrung aller möglichen Erscheinungen. Eco schildert dies am Beispiel John Cage: „Wer Cage bei der Montage des Tonbandes mit konkreten Geräuschen und elektronischen Klängen für sein Fontana Mix (für Sopran und Tonband) zusehen konnte, hat dabei verfolgen können, wie er verschieden schon bespielten Bändern je eine Linie mit unterschiedlicher Farbe zuordnete; wie er dann nach einem graphischen Modell diese Linien sich zufällig auf einem Blatt Papier verschlingen ließ; und wie er schließlich, nachdem die Punkte, an denen die Linien sich kreuzten, fixiert waren, die Teile des Bandes, die den vom Zufall bestimmten Punkten entsprachen, auswählte und montierte, womit er eine von der Logik des Unwägbaren bestimmte Klangfolge erhielt. In der trostvollen Einheit des Tao gelten alle Töne gleich, jedes Zusammentreffen von ihnen wird die höchste und reichhaltigste aller Offenbarungen sein: dem Hörer bleibt nichts übrig, als seine Bildung abzutun und sich in der Punktualität einer wiedergefundenen musikalischen Unendlichkeit zu verlieren.“
88
Die ästhetische Idee des Fluxus ist es, den Betrachter in einen intentionslosen Prozess zu involvieren, der ihn, da kein Gestaltungsprinzip erkennbar wird, in den Zustand ästhetischer Kontemplation führen soll, der etwas erkennbar werden lässt, was sich rational nicht erschließt und dennoch in der ästhetischen Kontemplation erfahrbar wird. Fluxus bietet somit ein Kunstwerk an, dessen ästhetische Idee es ist, den Betrachter auf das autonome Prinzip ästhetischer Erfahrung zurückführen (da die Lust am Schönen etwas ist, das man sich selber macht), gleichzeitig aber dieses subjektive Prinzip als übersinnlichen Prozess (z.B. als Natur) zu veräußerlichen. Die sich offenbarenden Strukturen solcher „übersinnlichen“ Prozesse werden seit den 1970er Jahren künstlerisch wieder interessant, als mit den mathematischen Modellen nichtlinearer Systeme und dynamischer Systeme sogenannte
86 David D. Toris: Zen Vaudeville: A Medi(t)ation in the Margins of Fluxus, in: Ken Friedman: The Fluxus Reader, Chichester 1998. S. 104. 87 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München Wien 2003. S. 150. 88 Umberto Eco: Zen und der Westen, in: Ders.: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/Main 1977. S. 223.
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dissipative Strukturen populär werden. Dissipative Strukturen entstehen durch die Störung des thermodynamischen Gleichgewichts von Systemen bei Energiezufuhr. Den dabei ausgelösten Vorgang der Struktur- bzw. Musterbildung nennt man Selbstorganisation. Es entsteht ein nichtlineares offenes System (mit Energiezufluss und -abfluss), das sich relativ stabil gegenüber Störungen erweist. „Nichtlineare Dynamik erschließt eine zuvor ungeahnte Vielfalt an Strukturbildungen. Sie bietet damit zugleich einen neuen konzeptionellen Ansatz, der Evolution und Historizität zum Gegenstand aller Naturwissenschaften werden lässt. Eine wichtige Rolle spielen dabei nichtlineare Systeme, die offen und dissipativ sind. Dissipativ bedeutet, dass ein System im Verlauf der Zeit Energie durch Reibung verliert. Im Gegensatz zu einem offenen System strebt ein abgeschlossenes System einen ‚simplen’ Gleichgewichtszustand maximaler Entropie an – das System verödet. Der Zeitpfeil solcher Systeme ist zwangsläufig auf Strukturlosigkeit gerichtet. Offene Systeme sind hingegen durch einen Entropieexport mittels Energie- und Materietausch zur Strukturbildung fähig. Wegen der Nichtlinearität sind diese Systeme zur Selbstorganisation fähig; sie können also bei kleinen Änderungen der Umgebung völlig neuartige Strukturen intern generieren und somit stabile Zustände fernab von dem simplen Gleichgewicht annehmen.“
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Diese „Nichtlinearen Wissenschaften“ erweisen sich für die Kunst (aber nicht nur dort) als wahre Metaphernmaschinen: Verschiedenste postavantgardistische Gestaltungstechniken und -prinzipien, wie Intermedialität, Hypertext, Sampling, Vernetzung, Indexikalität, usw. lassen sich auf ein gemeinsames Prinzip zurückführen, dem schon die Fluxus Künstler auf der Spur waren. Es sind die „völlig neuartigen Strukturen“ von Nichtgleichgewichtssystemen, die mit ihrer Umgebung Energie und Materie austauschen, statt in einem „simplen Gleichgewichtszustand“ zu „veröden“,90 auf die sich „nichtlineare Künste“ 91 als ästhetische Idee beziehen. Sie verfolgen damit eine künstlerische Innovationsstrategie, die „traditionell“ avantgardistisch ist, weil das harmonische Bildganze negiert wird (das wären die verödeten simplen Gleichgewichtszustände geschlossener Systeme), die aber auch eine neuartige Ganzheitlichkeit anklingen (oder vorausscheinen) lässt, die sich aus der komplexen Verflochtenheit und den Wechselwirkungen
89 Jürgen Kurths, Udo Schwarz: Nichtlineare Wissenschaften – neue Paradigmen und Konzepte, in: Kunstforum international, Bd. 155, Juni-Juli 2001. S. 68. 90 Ebd. 91 Thomas Wulffen: Der gerissene Faden – Von der Wunderkammer bis zum Hypertext, Nichtlineare Techniken in der Kunst, in: Kunstforum international, Bd. 155, Juni-Juli 2001. S. 59.
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von Nichtgleichgewichtssystemen mit ihrer Umgebung ergibt. Es sind dynamische, temporäre, dissipative Strukturen, die einen dynamischen, nichtlinearen, vielfältig verflochtenen Wirkungszusammenhang erkennbar werden lassen. Strukturen von offenen Prozessen, die Fluxus Künstler nur erahnen oder sich offenbaren lassen konnten, werden als ästhetische Idee ein neues Gestaltungsprinzip in verschiedensten Formaten, mit verschiedensten Gestaltungstechniken. Diese lassen sich unendlich kombinieren, solange sich im Sampling, im Hypertext, im Rhizom oder Netzwerk, im Ensemble, in Indizes eine das Erscheinungsmaterial dynamisch durchflechtende Struktur erkennen lässt. Ein Beispiel dafür ist das Werk von Anna Oppermann: „Rückblickend begründete Anna Oppermann die Entwicklung ihrer multimedialen, verzweigten Arbeitsweise, ihre Entgrenzung und Verräumlichung des Einzelbildes als konsequente Entscheidung zur Unentschiedenheit: Ich wollte mich nicht entscheiden, was im Hinblick auf die Aussage wichtiger oder als besser gelungen zu bezeichnen sei: das reale Objekt, die Skizze, die gedankliche Auseinandersetzung, oder das fertige Bild. Jedes Teil hatte etwas, das dem anderen fehlte. [...] Schritt für Schritt entsteht ein komplexes, in die dritte Dimension geöffnetes Bildgefüge, das Medien und Materialien in ihrer jeweiligen Potenz und Eigenart zur Darstellung, zur Aussage nutzt und zugleich ineinander reflektiert.“
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Das Werk von Anna Oppermann zeigt, dass dem Künstler mit dieser ästhetischen Idee eine neue Rolle zukommt: „Sie [Anna Oppermann] setzt sich selbst als Medium in der Welt, in Alltag und Kunstwelt ein, durch das Ansichten, Bilder , Eindrücke, Erfahrungen, Diskurse laufen, gesammelt, fortlaufend transformiert und kommentiert werden.“
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War im Fluxus der Künstler ein Roshi, der durch paradoxe Rätsel den Kunstbetrachter in die interesselose Betrachtung von zufälligen Prozessen führt, ist der Künstler in der nichtlinearen Kunst das Medium, das durch seine Subjektivität und Empfindlichkeit Strukturen dieser Prozesse zur Erscheinung bringt.
92 Ute Vorkoeper: Anders sein – Anna Oppermanns Vermittlungen zwischen Welten, in: Kunstforum international, Bd. 155, Juni-Juli 2001. S. 170f. Darin zitiert: Anna Oppermann, Lebensprozess und künstlerisches Vorgehen. Wodurch wird mein Leben strukturiert? In: Anna Oppermann. Pathosgeste – MGSMO. Installation im Altonaer Rathaus, Ausstellungskatalog, Hamburg/Brüssel, 1991, o.S. 93 Ebd. S. 175.
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Netzstadtmodell als dissipative Struktur Den großen Infrastrukturen und Bewegungsströmen im Zusammenhang mit dem Entwerfen von sogenannten urbanen Systemen nimmt sich konzeptionell das Stadtentwerfen mit dem Modell und der Methode der Netzstadt an, die von Oswald und Baccini an der ETH Zürich entwickelt wurde.94 Netzstadt ist von den Autoren erstens als Modell gedacht, um zeitgenössische Stadt, sie nennen das neue Urbanität, beschreiben zu können, und zweitens als Methode mit „zwei Werkzeugsätzen“, nämlich einer Analysemethode zur Erfassung morphologischer Eigenschaften eines urbanen Systems und einer zur Erfassung der physischen Eigenschaften – sie nennen das morphologische und physiologische Instrumente.95 Im Zentrum der Betrachtung steht das Objekt des urbanen Systems. Dieses ist nun nicht nur ein theoretisches Modell, um „Stadt“ unter klar definierten Gesichtspunkten und methodisch nachvollziehbar analysieren zu können, sondern es ist auch ein normatives Modell (als Leitbild) in der Hinsicht, dass es helfen soll, die Tatsache der neuen Urbanität anzuerkennen und mit ihr gestalterisch zu arbeiten, statt sich an der Vergangenheit und somit an alten Stadt- und Landschaftsvorstellungen zu orientieren. Oswald und Baccini definieren ein urbanes System folgendermaßen: „Das urbane System ist ein aus geogenen (erdgeschichtlich entstandenen) und anthropogenen (kulturell gestalteten) Subsystemen zusammengesetztes Gross-System auf einer Fläche, die Hunderte bis Zehntausende Quadratkilometer umfasst, und einer Dichte von Hunderten von Einwohnern pro Quadratkilometer. Es ist ein flächendeckendes dreidimensionales Netzwerk von vielfältigen sozialen und physischen Verknüpfungen. In den Knoten dieses Netzwerks bestehen relativ hohe Dichten von Menschen, Gütern und Informationen. Zwischen diesen Knoten unterschiedlicher Dichten finden hohe Flüsse von Personen, Gütern und Informationen statt. Die kolonialisierten Ökosysteme der Land- und Forstwirtschaft und die Gewässer sind integrierte Teile dieses Systems.“
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Da es sich aber nicht nur um ein theoretisches Modell handelt, sondern auch um ein Modell, das die Form eines Objektes erkennbar machen soll, sind die oben genannten Bestandteile eines urbanen Systems eben nicht nur die Objekte einer Modellgleichung, sondern individuelle Gegenstände mit morphologischen Qualitäten. Mit geogenen und anthropogenen Subsystemen sind also nicht nur z.B. 94 Franz Oswald, Peter Baccini: Netzstadt – Einführung in das Stadtentwerfen, Basel 2003. 95 Ebd. S. 8f. 96 Ebd. S. 46. (Hervorhebungen im Original).
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ein hydrologisches System oder das Verkehrssystem eines Untersuchungsgebietes gemeint, sondern die Formen konkreter Natur und menschlicher Bautätigkeit – also materielle Landschaft und gebaute Stadt. Es geht daher beim Stadtentwerfen mit Hilfe der Netzstadt, verschleiert durch einen systemtheoretischen Mantel, um das ästhetische Problem der Diffusion von „Stadt“ und „Landschaft“ und um deren Zerschneidung durch Infrastrukturanlagen. Hier bietet das Netzstadtmodell eine ästhetische Lösung an: Das dreidimensionale Netzwerk des urbanen Systems entsteht durch das Fließen und die Bewegung von Gütern, Menschen, Informationen, Energie und Material – durch den Stoffwechsel des urbanen Systems. Morphologisch drückt sich das in den sichtbaren Infrastrukturen aus, die „Landschaft“ überziehen und „Stadt“ neu formieren. Das Netzwerk der Infrastrukturen ordnet den morphologischen Raum neu und löst den Kontrast zwischen „Stadt“ und „Landschaft“ auf, produziert aber eben auch eine neue erkennbare Form – das urbane System. Das urbane System ist nun beides – „Stadt“ und „Landschaft“. Es ist aber nicht bloß ein Modell, sondern ein materieller Gegenstand, entstanden aus der Neuanordnung und Durchdringung von gebauter Stadt und materieller Landschaft. Die Relation zwischen den beiden – ihre systemare Verflechtung – ist in der neuen Urbanität, die „dem Bild andauernder Ströme von Akteuren, Gütern und Daten, die zu ausgewählten Orten fließen, sich dort verteilen, versickern, neu sammeln und weiterfließen [gehorcht]“,97 Form geworden. Dieser Stoffwechsel im urbanen System und als urbanes System findet auf der Basis sogenannter Territorien statt: „Der Begriff ‚Territorium’ fasst sehr komplexe Sachverhalte der Erdoberfläche zusammen. Er bezeichnet die Schnittstelle von gegensätzlichen, aber sich ergänzenden anthropogenen und geogenen Kräften, die Konstitution und Aussehen des Territoriums in sich überwerfenden Bewegungen laufend verändern. Territorien werden vom Menschen unter anderem zur Gewinnung von Roh- und Nährstoffen, zu Lager- und Verkehrszwecken genutzt. Sie sind vitale Ressourcen. Die Art und Weise, wie Territorien verwendet werden, 98
gibt ihnen eine spezifische Gestalt.“
Das Territorium ist somit die physische und morphologische Basis des Stoffwechsels des urbanen Systems. Aus ihm bezieht es seine Rohstoffe, auf ihm manifestiert es sich räumlich und lagert sich ab. Dieses Wegnehmen und Ablagern lässt sich am Territorium wie an einem Palimpsest ablesen; einen Begriff den die Autoren von Corboz übernehmen: 97 Ebd. S. 23. 98 Ebd. S. 80.
260 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG „Das Territorium ist ein Palimpsest. Ein Territorium kann Attribute oder auch Beigaben besitzen, die durch ihre Eigenart unterschieden werden können.“ 99
Die morphologische Analyse lässt die Architektur des Territoriums, die sich aus dem Wechselspiel zwischen den natürlichen und kulturellen Territorientypen ergibt, sichtbar werden. „Das Territorium kann aus unterschiedlichen Territorientypen bestehen, die das größere Ganze der Erdoberfläche aufbauen und ein Muster aus gewählten Regeln und deren Abweichungen bilden. Dafür schlagen wir den Begriff ‚Architektur des Territoriums’ vor. Welche spezifischen Eigenschaften die Architektur des Territoriums, die Territorientypen und deren Aufbau im Kleinen und Großen zeigen, ist Gegenstand morphologischer Untersuchungen. Dabei soll auch zum Vorschein kommen, wie diese Eigenschaften entstanden sind, sich verändert haben oder in Zukunft verändert werden können.“100
Das urbane System, das sich als Netz verkörpert, ist das zeitgemäße Ergebnis dieses Wechselspiels des urbanen Stoffwechsels. Der Erfassung von Infrastrukturen kommt daher im morphologischen Instrumentarium der Netzstadt eine wichtige Rolle zu: „In der Netzstadtmethode ist Infrastruktur ein sehr bedeutsamer territorialer Typus. Er bündelt Erschließung und Ausstattung zu einem urbanen Subsystem, das Orte und Aktivitäten einander direkt zuordnet, indem eine hohe oder niedrige Erschließung und Ausstattung entweder Aktivitäten ermöglicht oder behindert.“
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Infrastrukturen und Siedlungen sind die morphologischen Typen, die das Netz (also die Form) des urbanen Systems verkörpern, das auf der Basis und im Wechselspiel zu anderen Territorientypen (Gewässer, Landwirtschaft, Wald) entstanden ist. Vergleicht man die Charakterisierung des urbanen Systems mit denen von „Landschaft“ als Kulturlandschaft, die ja ebenfalls als Wechselspiel zwischen natürlichen Grundlagen und der kulturellen Tätigkeit des Menschen entstanden ist, so zeigt sich, dass es sich beim urbanen System nicht nur um einen zeitgemäßen Begriff für „Stadt“, sondern auch um eine Bezeichnung für eine neue Entwicklungsstufe von Kulturlandschaft handelt. „Das urbane System
99 André Corboz: Das Territorium als Palimpsest, in: Ders.: Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen. Basel Berlin Boston 1983. S. 80. 100 Ebd. S. 80. 101 Ebd. S. 93.
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manifestiert sich als großräumige urbane Kulturlandschaft, in der nicht mehr grundsätzlich zwischen städtischem und ländlichem Raum unterschieden wird.“102 Die prägnanteste Form dieser urbanen Kulturlandschaft ist das Netz des urbanen Systems. Mit dem Netzstadtmodell wird in der morphologischen Analyse, vergleichbar mit Fluxus, das Augenmerk auf die quasi natürlichen Stoffströme (der kapitalistischen Ökonomie) und ihre Netzwerke gelenkt. Sie sollen die Basis für die Wahrnehmung von zeitgenössischer „Stadt“ als urbanes System sein. Das, was als aktuelle „Stadt“ wahrgenommen werden soll, beruht also nicht auf einem traditionellen Muster (hier erfolgt die Auflösung des harmonischen Bildganzen), sondern auf dem, was sich morphologisch als Ausdruck der Prozesse des urbanen Stoffwechsels offenbart – als dissipative Struktur der Netzstadt. Der Vorschlag, seine ästhetische Aufmerksamkeit neuem Erscheinungsmaterial (z.B. den Infrastrukturnetzen) zuzuwenden, ist durchaus sinnvoll und wird ja auch in der Kunst seit den 1960er Jahren betrieben – z.B. von Robert Smithson, Ed Ruscha oder Robert Adams,103 die sich intensiv mit infrastrukturellen „Resträumen“ befassen. Hier kann ästhetische Erfahrung und ihre künstlerische Bearbeitung zu neuen Kunstwerken und Mustern führen, die sich am Erscheinungsmaterial der Infrastrukturnetze entzünden mag. Statt aber hierfür exemplarische Beispiele zu liefern, sollen bei der Netzstadtmethode stattdessen die Strömungsprozesse und ihre Netze als neue ästhetische Idee für ein urbanes System oder eine urbane Kulturlandschaft dienen. Das wirft zwei Probleme auf: T Wenn, wie bei Fluxus geschehen, die ästhetische Aufmerksamkeit auf Prozes-
se gelenkt wird, denen keine Gestaltung zu Grunde liegt, wird man auf sie in ästhetischer Kontemplation aufmerksam. Das heißt sie werden zum Erscheinungsmaterial einer ästhetischen Erfahrung, die man sich selber macht, und nicht zum ästhetischen Urteil über ein künstlerisches Artefakt, bei dem man eine ästhetische Idee beurteilt. In diesem Fall ist für das Ziel eine neue Typologie, zum Beispiel eine Mischung von „Landschaft“ und „Stadt“ zu definieren, nichts gewonnen. Denn man sieht ja in dieser ästhetischen Erfahrung nichts Bestimmtes. Dafür brauchte man zunächst ein Muster – das entsteht aber erst durch künstlerische Gestaltung.
102 Ebd. S. 47. 103 Siehe dazu: Matteo D’Ambros, Roberto Zancan: Infrastructure’s Marginal Spaces and the Invention of a Prosaic Landscape – Visual Knowledge and Design. In: Thomas Hauck, Regine Keller, Volker Kleinekort (Hg.): Infrastructural Urbanism – Adressing the In-between, Berlin 2007. S. 63ff.
262 | L ANDSCHAFT UND G ESTALTUNG T Als Folge dieses Problems kann ich einen ungestalteten Prozess (und seinen
materiellen Ausdruck) gar nicht zum Objekt von Gestaltung machen. Denn nach welchen Kriterien sollte ich das tun? Ein ästhetisches Urteil über einen ungestalteten Prozess ist nur eines über Lust und Unlust, die ich angesichts dieses Prozesses empfinde. Eine gelungene ästhetische Erfahrung kann überhaupt erst Anlass für den Versuch werden, ein Kunstwerk herzustellen. Erst wenn ein Muster gestaltet wurde, kann ich nach den Gestaltungsprinzipien desselben Erscheinungsmaterial formen. Ich kann nicht einfach eine Struktur oder ein Muster, so einfach oder komplex sie auch sein mögen, aus einem Prozess intuitiv herauslesen – dann würde man als Künstler sozusagen auf seine eigene Metapher hereinfallen – ein Muster ist etwas, das ich nach einem Gestaltungsprinzip, d.h. einer ästhetischen Idee, formen muss. Das ist auch bei dynamischen, komplexen, flüchtigen, usw. Strukturen so. Ob sich dieses Muster dann dafür eignet, mit bestimmtem Erscheinungsmaterial und mit bestimmten Gestaltungstechniken gelungene Kunstwerke zu produzieren, muss man ausprobieren. Auch ob ein Muster wie das Netz zu einer Alternative von „Landschaft“ und „Stadt“ werden kann, muss ausprobiert werden. Vor allem auch ob dieses Muster als sinnfällige Alternative von den Leuten, die es dann bewohnen sollen, akzeptiert oder sogar begrüßt wird. Mit dem Netzstadtmodell präsentieren die Autoren eine an fluxus erinnernde ästhetische Idee für die Rezeption von sogenannten urbanen Systemen oder urbaner Kulturlandschaft; es gelingt ihnen aber nicht anhand dieser ästhetischen Idee anwendbare Gestaltungsprinzipien zu formulieren. Es verwundert daher auch nicht, dass angesichts dieses Mangels, in den Entwurfsbeispielen, die mit der Netzstadtmethode erarbeitet wurden (v.a. mit den morphologischen Instrumenten), hauptsächlich auf ein traditionalistisches Kriterium urbaner Qualität zurückgegriffen wurde, nämlich Identifikation104 – man könnte stattdessen auch Heimatgefühl sagen. Da das Netz (als Ausdruck von Stoffströmen) als gestalterisches Muster in den bisher gemachten Gestaltungsvorschlägen (die ja gar keine sein sollen) zu abstrakt bleibt, zielen die im Buch vorgestellten Entwürfe zwangsläufig auf die Muster von „Stadt“ und „Landschaft“ und auf von diesen Mustern abgeleitete Ziele, wie die Schaffung lokaler Identität durch individuelle Kulturlandschaft, die Schaffung von Urbanität durch bauliche Dichte oder die Akzentuierung der Grenzen zwischen Siedlung und freier Landschaft.
104 Franz Oswald, Peter Baccini: Netzstadt – Einführung in das Stadtentwerfen, Basel 2003. S. 52.
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9.4 „L ANDSCHAFT “
UND
G ESTALTUNG
Die drei hier vorgelegten Interpretationen von zeitgenössischen „Gestaltungsmethoden“ für „Landschaft“ nach den ihnen zu Grunde liegenden ästhetischen Ideen verstehe ich nicht nur als Aufdeckung der ästhetischen Ideen, die sich „unter“ den objektivistischen Schönheitsprinzipien verbergen, auf denen die drei Konzepte aufgebaut sind. Denn es handelt sich nicht nur um ein Sichtbarmachen einer verborgenen ästhetischen Perspektive, sondern auch um eine Umdeutung der Gestaltungsmethoden zu ästhetischen Praktiken, die mit diesen ästhetischen Ideen arbeiten. Die Interpretationen enthalten daher auch einen Vorschlag für ein Planen und Entwerfen von „Landschaft“ als ästhetische Praxis, bei der die ästhetischen Ideen, auf denen ein Planungskonzept beruht, deutlich gemacht werden. Das erscheint mir für die Planung und Gestaltung von „Landschaft“ prinzipiell notwendig, um mit so etwas wie „dialogischer Landschaftsentwicklung“ 105 oder der „Synoikos-Methode“106 überhaupt erst beginnen zu können. Dieses Zeigen der subjektiven Gründe für Entwürfe und Konzepte im Zusammenhang mit „Landschaft“ raubt dem Planer und Gestalter aber ein starkes Argument zur Durchsetzung seiner Interessen in einem Planungsprozess – das der Notwendigkeit. Da funktionalistische Herleitungen von Prinzipien für die Gestaltung von „Landschaft“ auf Zirkelschlüssen beruhen, wie sie die Gestaltungsauffassung des ästhetischen Funktionalismus hervorbringt, wäre das aber ein Verzicht auf ein falsches Argument. Der Zirkelschluss des ästhetischen Funktionalismus lautet: Es gibt objektive Schönheitsprinzipien (der Annehmlichkeit und/oder der Vollkommenheit), von denen man objektive Gestaltungsprinzipien ableiten kann (also wie ein vollkommener oder optimal angenehmer Gegenstand aussehen muss). Ein Gegenstand, der diesen Prinzipien entspricht (sie zum Ausdruck bringt), wird als schön beurteilt. Der Gegenstand wird somit nach diesen Prinzipien beurteilt und beweist gleichzeitig ihre Gültigkeit. Der Verzicht auf diese Argumentation eröffnet zwei Möglichkeiten: T Versteht man das Planen und Entwerfen von „Landschaft“ als ästhetische Pra-
xis, deren Gestaltungsprinzipien auf ästhetischen Ideen beruhen und nicht auf (scheinbar) objektiven Kriterien, eröffnet das einen weiten Möglichkeitsraum für neue ästhetische Ideen für das Muster „Landschaft“. Man verliert die
105 Sören Schöbel: Windenergie und Landschaftsästhetik – Zur landschaftsgerechten Anordnung von Windrädern, Berlin 2012. S. 85ff. 106 Franz Oswald, Peter Baccini: Netzstadt – Einführung in das Stadtentwerfen, Basel 2003. S. 248ff.
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Zwänge, die durch den mechanistischen und organizistischen Funktionalismus in der Landschaftsgestaltung aufgebaut wurden – Tradition und Effizienz. Das funktioniert auch, wie das Beispiel der Übermalung zeigt, wenn man sich mit ästhetischen Hypostasen (wie Kulturlandschaft) herumschlagen muss. T Erst ein solches Verständnis einer ästhetischen Praxis der Landschaftsplanung und -gestaltung lässt überhaupt sichtbar werden, worum es in Beteiligungsverfahren, die „Landschaft“ zum Thema haben, auch gehen sollte: Um Beteiligung an der Beurteilung ästhetischer Ideen (dazu gehört auch, dass man selber welche haben darf) und nicht nur um das Einbringen und Aushandeln von praktischen Interessen. Ein Planungsdialog ist in diesem Verständnis auch ein Geschmacksdiskurs. Dieser ermöglicht dann etwas, das ästhetische Erfahrung über das bloß Subjektive hinausbringt – Austausch und Reflexion darüber mit anderen. Wo könnte man mit der Umsetzung dieser Forderung nach einer reflektierten ästhetischen Praxis des Planens und Entwerfens von „Landschaft“ beginnen? Ein erster Ansatzpunkt wären die „Analysen“, mit denen Landschaftskonzepte begründet werden. Die Beispiele haben verschiedene Analyseverfahren gezeigt: Das wären die Landschaftsstrukturanalyse und die Bedeutungsanalyse bei Schöbel, der Scan bei Borman et al. und die morphologische Analyse bei Oswald und Baccini. Es handelt sich bei diesen drei Beispielen nicht um empirische Analysen, sondern um ästhetisch wertende Verfahren, die ich daher gestalterische Analysen nennen möchte. Empirische Analysen dienen im Rahmen von Planung dazu, relevante Daten für allgemein nachvollziehbare Planungsentscheidungen zu erfassen und methodisch auszuwerten. So werden zum Beispiel in der Verkehrsplanung mit der Auswertung von Daten über Verkehrsmengen, mit Hilfe von Modellrechnungen bezogen auf Siedlungsstruktur, Modal Split, etc., Prognosen über die Neuverteilung dieser Verkehrsmengen zum Beispiel beim Neubau einer Straße möglich. Das Modell erlaubt es, Prognosen für verschiedene Varianten zu formulieren. Aufgrund dieser Analyse können dann nachvollziehbar Planungsentscheidungen getroffen werden, indem die Vor- und Nachteile der verschiedenen Problemlösungen gegeneinander abgewogen werden. Voraussetzung für Analyse und Planung ist natürlich das Bedürfnis, ein Problem zu lösen, zum Beispiel die Verringerung des Durchfahrtsverkehrs durch ein Ortszentrum. In einer gestalterischen Analyse geht es hingegen darum, die Erfassung und Bewertung von Erscheinungsmaterial unter dem Kriterium des Typischen zu subsumieren und damit vergleichbar zu machen. „Der Typ ist [...] eine individuelle Einheit des einzelnen Ausdrucks von allgemeinen Prinzipien und eine indi-
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viduelle Einheit des allgemeinen Ausdrucks, den ein einzelner Gegenstand (oder Mensch) vermittelt. Es geht immer um zwei Fragen: typisch wodurch im Einzelnen und typisch wofür im Allgemeinen?“107 Das Typische eröffnet die Möglichkeit, im Rahmen einer gestalterischen Analyse z.B. die Typisierung des Geländereliefs nach Geländeformen, wie Kante, Rücken, Ebene, etc., das für den Entwurf als relevant erachtete Erscheinungsmaterial nach Erscheinungsformen zu strukturieren und dadurch vergleichbar und bewertbar zu machen. So kann man relativ nachvollziehbar begründen, unter der Voraussetzung, dass man die Gestaltungsprinzipien und somit die ästhetische Idee offenlegt, warum man zum Beispiel bestimmte Geländeformen in einem Entwurf ausschließt oder verwendet.108 Gleichzeitig eröffnet die Verwendung von Typen die Möglichkeit der technischen Reproduktion, da diese auf nachvollziehbaren Formprinzipien beruhen und daher leicht von anderen „nachgebaut“ werden können. Die Bildung von Typen in der gestalterischen Analyse folgt einem subjektiven Prinzip (einem Muster und einer ästhetischen Idee), ermöglicht aber einen nachvollziehbaren Diskurs. Typen helfen somit, eine von ästhetischen Urteilen bestimmte Auswahl von Erscheinungsmaterial diskursiv nachvollziehbar zu machen. Sie bergen aber gleichzeitig die Gefahr, zu allgemeingültigen Gestaltungsprinzipien hypostasiert zu werden. Eine gestalterische Analyse kann daher nicht die Aufgabe haben, Erscheinungsmaterial wie z.B. das Geländerelief ein für alle mal in Typen zu fassen und davon universelle Regeln für die Verwendung des Erscheinungsmaterials abzuleiten. Typenbildung im Zusammenhang mit einer gestalterischen Analyse bedarf daher der Offenlegung der Gestaltungsprinzipien bzw. der ästhetischen Idee. Bedient man sich bei der Entwurfsarbeit bereits vorhandener Typen (z.B. der des Landschaftsgartens) und den damit verbundenen Gestaltungsprinzipien (und somit eines Musters), ist es notwendig, um den Entwurf diskursiv nachvollziehbar zu machen, das dahinterstehende Muster zu reflektieren. Fehlt diese Reflexion und „Markierung“ als ästhetische Praxis, dient die gestalterische Analyse nicht dazu, einen Geschmacksdiskurs anzuregen, sondern es werden objektivistische Schönheitsprinzipien für das jeweiligen Landschaftskonzept formuliert und somit (mit Hilfe des Zirkelschlusses des ästhetischen
107 Ulrich Eisel: Emanzipation und Würde in einfachster Form. In: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit: Landschaftsgestaltung im Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Nutzen, Kassel 2007. S. 67. 108 Whatelys „Observations on Modern Gardening Illustrated by Descriptions“ zeigt diese Typisierung von Erscheinungsmaterial bezogen auf die Gestaltungsprinzipien des Landschaftsgartens sehr deutlich.
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Funktionalismus) objektive Gründe für das Konzept vorgetäuscht. Diese in der „Analyse“ angelegte Täuschung wird dann durch die Anwendung der davon abgeleiteten Gestaltungsprinzipien (in ihren dann hypostasierten Formen als Gesetze oder quasi-natürliche Prozesse), wie einem Natur- und Kulturlandschaftlichen Regelwerk109 oder den Strömen in einem flächendeckenden dreidimensionalen Netzwerk110 zu einer notwendigen zukünftigen Gestalt von „Landschaft“ (als zeitgenössische Kulturlandschaft) vergegenständlicht. Diese ästhetischen Hypostasen werden dann, je nach dem „Problem“, das mit ihnen gelöst werden soll, als „[gelungene] Energielandschaften“,111 „qualifizierte Zwischenstadt“112 oder „urbane Kulturlandschaft“113 bezeichnet. Woher kommt aber diese Scheu vor dem Zeigen der subjektiven Prinzipien, die Landschaftskonzepten zu Grunde liegen? Woher die Verführbarkeit zur Täuschung? Dafür gibt es zwei Gründe: T Der Prozess der Vergegenständlichung des ästhetischen Musters „Land-
schaft“, hin zu verschiedenen ästhetischen Hypostasen, wie grüner Stadttechnik und Kulturlandschaft lässt sich als Folge von künstlerischen Innovationsstrategien (angetrieben von etwas, das Groys den kulturellen Mechanismus114 nennt, der kulturelle Innovation vorantreibt und erzwingt) und Bemühungen um gesellschaftliche Relevanz (die Künstler durch die „Autonomisierung“ der Kunst verloren haben) verstehen. Die in dieser Studie beschriebenen Formatsprünge des Musters „Landschaft“ beruhen auf Innovationen, die aber nicht bloß formal sind (d.h. eine Erneuerung des Musters durch eine neue Idee darstellen), sondern gleichzeitig das Muster „Landschaft“ auf neue Gegenstände anwenden (Bild, Garten, Spaziergang, Erdoberfläche). Jede dieser Übertragungen wird in dieser Studie als Änderung der „Gegenständlichkeit“ von
109 Sören Schöbel: Windenergie und Landschaftsästhetik – Zur landschaftsgerechten Anordnung von Windrädern, Berlin 2012. S. 103-105. 110 Franz Oswald, Peter Baccini: Netzstadt – Einführung in das Stadtentwerfen, Basel 2003. S. 46. 111 Sören Schöbel: Windenergie und Landschaftsästhetik – Zur landschaftsgerechten Anordnung von Windrädern, Berlin 2012. S. 151. Einfügung vom Autor. 112 Siehe dazu die Programmatik des Ladenburger Kollegs: Mitten am Rand – Zwischenstadt: Zur Qualifizierung der verstädterten Landschaft. Ladenburger Kolleg (2002-2005) unter Leitung von Thomas Sieverts. 113 Franz Oswald, Peter Baccini: Netzstadt – Einführung in das Stadtentwerfen, Basel 2003. S. 47. 114 Boris Groys: Über das Neue: Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt/Main 1999. S. 63ff.
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„Landschaft“ verstanden. Kurz Zusammengefasst: „Landschaft“ wird von einer ästhetischen Idee zum materiellen Gegenstand (der aber noch immer schön sein soll). Das ist nur möglich, wenn dafür die Schönheitsprinzipien (denn Schönheit ist bei allen Varianten von „Landschaft“ ihr bedeutendstes Merkmal) nach denen „Landschaft“ beurteilt wird, geändert werden: von subjektiven zu objektiven Schönheitsprinzipien. Die Berufung von Künstlern auf objektive Schönheitsprinzipien kann man sowohl als Rückbindung an einen Zustand der Einheit des Wahren, Guten und Schönen verstehen, wie auch als Akt der Selbsterhöhung, in dem der gewonnenen künstlerischen Autonomie auch noch die Lösungskompetenz für praktische Probleme hinzugefügt werden soll. Dieser Änderung der Schönheitsprinzipien im Prozess der Vergegenständlichung des Musters „Landschaft“ erfolgte aber nicht direkt von subjektiv zu objektiv, sondern über die Beurteilungspraxis von Gegenständen anhängender Schönheit. Hier wird ein ästhetisches Urteil, das auf subjektiven Schönheitsprinzipien gründet, in Zusammenhang mit einem praktischen Urteil über einen Gegenstand gefällt. Diese komplexe Urteilspraxis findet sich bei Kunstwerken, Naturschönheiten und schönen Gebrauchsgegenständen. Vor allem bei schöner Natur und bei schönen Gebrauchsgegenständen wird aber nicht zwischen den beiden Urteilsformen differenziert, sondern man vermischt sie und glaubt ein objektives Schönheitsurteil zu fällen. Ausgehend von dieser „Unaufmerksamkeit“ werden dann in objektivistischen Ästhetiken a la Burke oder Herder objektive Schönheitsprinzipien hergeleitet. Die Verführbarkeit zur Täuschung liegt somit, einerseits in einem Fehler in der Reflexion der eigenen Urteilspraxis, es handelt sich dabei also um einen Irrtum bzw. um Selbsttäuschung, andererseits aber auch in der Erhöhung der ästhetischen Praxis zu etwas, was sie gar nicht leisten kann, auf technische und politische Fragen sinnvolle Antworten zu geben. Dabei handelt es sich aber nicht nur um Selbstüberschätzung, sondern auch um die absichtsvolle Täuschung anderer. T Der zweite Grund für die Verführbarkeit zur Täuschung in der Gestaltung von „Landschaft“ findet sich in der Krise der Herstellung von ästhetischen Gegenständen, die von der industriellen Produktion ausgelöst wurde und die Ende des 19. Jahrhunderts alle Bereiche ästhetischer Praxis erfasste. Angesichts der Massenproduktion von Waren und der massiven Veränderungen der Lebenswelt durch Technik erschien die ästhetische Bedeutung künstlerischer Produktion plötzlich vergleichsweise marginal. Was bedeutete denn schon ein Kunstwerk im Vergleich zur Ästhetik der Maschinen, Infrastrukturen und der Welt der Waren? Die ästhetische Praxis, die mit der Herstellung von Kunstwerken befasst war, nahm in positiver oder negativer Anpassung an diese industrielle Formenwelt das neue Erscheinungsmaterial auf, um daraus neue äs-
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thetische Ideen zu gewinnen. Die ästhetischen Praxis hingegen, die mit der Herstellung schöner Gebrauchsgegenstände befasst war, wie Architektur und Gartenkunst, war dazu gezwungen, das Verhältnis von Inhalt und Form (also zwischen den beiden Urteilsformen, die bei Gegenständen anhängender Schönheit zur Anwendung kommen), neu abzustecken, denn die bisherigen ästhetischen Muster und Ideen passten nicht mehr zu den neuen Gegenständen. Auch hier machte man sich auf die Suche nach ästhetischen Ideen. In der Differenz zwischen alten und neuen ästhetischen Ideen (bzw. zwischen passenden und unpassenden) kommt es hier aber zu einem bemerkenswerten Effekt. Das Alte, verliert nicht – wie in der Kunst – einfach an symbolischer Aktualität und wird historisch (oder bedeutungslos), sondern die bisherigen ästhetischen Ideen werden plötzlich als falsch beurteilt. Dieser Effekt stellt sich durch die doppelte Urteilsstruktur bei Gegenständen anhängender Schönheit ein, wenn die Urteile (was ja wie gesagt in den meisten Fällen passiert) vermischt werden. Ästhetisches und praktisches Urteil fallen zusammen, und was eigentlich bloß nicht mehr schön ist, wirkt nun falsch und verlogen. Um den Diskurs, der sich im historischen ästhetischen Funktionalismus um Täuschung und Lüge entwickelt hat, zu verstehen, lohnt sich ein Blick weg von „Landschaft“ auf Kunstgewerbe und Architektur: Design, als Gestaltung von industriell gefertigten Produkten (Waren), wurde seit dem Beginn der Massenproduktion mit dem Begriff der Täuschung verknüpft. Entweder war die Form eines Gegenstandes zweckmäßiger Ausdruck seiner Brauchbarkeit oder nur verlogenes Dekor. Um industriell hergestellte Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände entstand Ende des 19. Jahrhunderts eine kontroverse Diskussion bzgl. ihrer Gestaltung und somit um guten und schlechten Geschmack in der Praxis des Konsumierens und der Konsumenten. Die neuen Industriewaren wurden von einer meinungsbildenden Elite bürgerlicher Kritiker als „überdekoriert“ empfunden: „Im Kampf gegen „Hausgreuel“, „Schund-erzeugnisse“ und „Pimpeleien“ – zeitgenössische Begriffe für überdekorierte Gegenstände – fand eine aufklärerische Diskussion ihren Ort der Auseinandersetzung in Flug- und Zeitschriften, in der Ratgeberliteratur und in Ausstellungen.“115 In der industriellen Massenproduktion von Waren gerieten, nach Meinung der Kritiker, der Gebrauch und die Form der Dinge in ein unausgewogenes Verhältnis, ja überhaupt lösten sich Form und Gebrauch voneinander. Handwerklich produzierte Gegenstände stell-
115 Gudrun M. König: Die Fabrikation der Sichtbarkeit: Konsum und Kultur um 1900, in: Heinz Drügh, Christian Metz, Björn Weyand (Hg.): Warenästhetik – Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011. S. 160.
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ten sich hingegen retrospektiv als eine Einheit von Form, Gebrauch und Ökonomie dar. „Die Dominanz des Visuellen, neue Abstandsregelungen zwischen Dingen und Menschen, Materialsurrogate und neue Formen des Konsums begleiteten das Ende der ökonomischen, organisatorischen und ästhetischen Einheit handwerklicher Arbeit. In der Phase der immensen Vervielfältigung der Dinge und der Expansion nationaler Märkte wurde eine konsumkulturelle Ordnung der Alltagsdinge sichtbar, die auf unendliche Reproduzierbarkeit, auf neue Materialien und distanzierte Herstellungsprozesse reagierte. Als Effekt und Reflex sekundierte die Geschmackserziehung im Kontext der bürgerlichen Reformbewegungen den Modernisierungsprozess.“
116
Es verwundert daher nicht, dass sowohl modernisierungsfreundliche (oder enthusiastische), wie auch konservative Kritiker mit unterschiedlichen Zielen auf Gebrauchsgegenstände der Biedermeierzeit, als handwerkliche Einheit von Form und Gebrauch, verwiesen. Mit dem Auseinandertreten von Form und Gebrauch wurden zwei damit verbundene verlogene Effekte kritisiert: T Die wuchernden Dekorationen der Industriewaren dienen dazu, mangelhaften
Gebrauchswert und sozial und ökologisch schädliche Produktionsbedingungen zu verschleiern. T Der Gebrauch eines Gegenstandes wird durch die auffällige Form marginalisiert. Das Produkt wird nicht gekauft weil es nützlich ist, sondern weil seine Reize die Schaulust, sexuelles Begehren u.ä. wecken. Beide Argumente wurden auch später in konsumkritischen Schriften immer wieder verwendet. So schreibt z.B. Haug in seiner Kritik der Warenästhetik von 1971 über die Verschleierung durch Dekoration: „Es ist das Ideal der Warenästhetik: das gerade noch durchgehende Minimum an Gebrauchswert zu liefern, verbunden, umhüllt und inszeniert mit einem Maximum an reizendem Schein, der per Einfühlung ins Wünschen und Sehnen der Menschen möglichst 117
zwingend sein soll.“
116 Ebd. S. 162. 117 Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/Main 1972 (3. Auflage). S. 66.
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Er kritisiert aber ebenso die Verführung durch sexuelle und ähnliche Reize: „Denn eine Gattung der starken Reize, mit denen die Produktion von Waren zum Zwecke der Verwertung operiert, ist die der Liebesreize. Dementsprechend wirft eine ganze Warengattung Liebesblicke nach den Käufern, indem sie nichts anderes nachahmt und dabei überbietet, als deren, der Käufer, eigne Liebesblicke, die die Käufer wiederum werbend ihren menschlichen Liebesobjekten zuwerfen.“
118
Die Kritiker der Warenästhetik formulierten ein nicht-autonomes ästhetisches Programm, um diese Verlogenheit zu überwinden. Es handelt sich dabei um den Versuch einer Reform der Industrieproduktion durch ästhetischen Funktionalismus. Die Reform geschah einmal in einer affirmativen Variante, als mechanistischer ästhetischer Funktionalismus, und einmal in einer konservativen Variante, als organizistischer ästhetischer Funktionalismus.119 Diese zwei Strömungen kreuzten und durchdrangen sich, sodass bei den Protagonisten sowohl mechanistische, wie auch organizistische Ideen zu erkennen sind, wie zum Beispiel bei Walter Gropius: „Die Kunst des Bauens versank in den letzten Generationen in einer schwächlich sentimentalen, ästhetisch-dekorativen Auffassung, die ihr Ziel in formalistischer Verwendung von Motiven, Ornamenten und Profilen erblickte, die den Baukörper bedeckten. Der Bau wurde ein Träger äußerlicher, toter Schmuckformen, anstatt ein lebendiger Organismus zu sein. Die natürliche Verbindung mit der fortschreitenden Technik neuer Materialien und neuer Konstruktionen ging naturgemäß in diesem Niedergang verloren, der Architekt blieb im akademischen Ästhetentum hängen, ward müde und konventionsbefangen, und die Gestaltung der Städte entglitt ihm. – Dieses Bauen lehnen wir ab. Wir wollen den klaren organischen Bauleib schaffen, nackt und strahlend aus innerem Gesetz heraus ohne Lügen und Verspieltheiten, der unsere Welt der Maschinen, Drähte, und Schnellfahrzeuge bejaht, der seinen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus durch die Spannung seiner
118 Ebd. S. 20. 119 Siehe dazu: Eisel, Ulrich: Emanzipation und Würde in einfachster Form – Die
philosophische und politische Struktur funktionalistischer Ästhetik, in: Ulrich Eisel, Stefan Körner (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit, Band II, Kassel 2007. S. 64 ff.
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Baumassen zueinander funktionell verdeutlicht und alles Entbehrliche abstößt, das die absolute Gestalt des Baues verschleiert.“
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Die funktionalistische Reform forderte, mit Berufung auf die (idealisierte) handwerkliche Produktion, auch für Industrieprodukte eine Einheit von Form, Gebrauch und Produktion: Die gute Form.121 „Um 1900 entdeckten die Kulturexperten den fungiblen Begriff des Geschmacks neu und verbanden ihn mit dem Begriff der Qualität. Die Vermittlung von Geschmack, verstanden als Anpassungsleistung an industrielle Standards, popularisierte nicht nur die Warenqualität, sondern problematisierte auch die Rückwirkungen des Einkaufsverhaltens auf Produktion und Distribution.“
122
Das bedeutet, dass die sich aus der Logik industrieller Herstellung ergebende Form und Materialität von Produkten nur dann geschmackvoll sein kann, wenn sie außerdem noch Ausdruck eines hohen Gebrauchswertes und sozial und ökologisch „nachhaltiger“ Herstellung ist. „’Guter Geschmack’ war nicht nur äußerlich an Konstruktion, Material und Dekor der Waren ablesbar, sondern ebenfalls sozial, nachhaltig und ökologisch formatiert. [...] Die intensive und breite Diskussion über Gestalt, Material und Form alltäglicher Gebrauchsgegenstände war zugleich Ausdruck der zunehmenden Distanzierung von den Dingen als Waren, die aber durch Ästhetisierungen und Moralisierungen in der Konsumdebatte abgefedert wurden. Das Sprechen und Handeln im Namen des Geschmacks bedeutete, neue Ordnungssysteme einzusetzen und die entfremdeten Dinge ästhetisch-moralisch zu bändigen.“
123
Das definierte die Rolle des Künstlers beziehungsweise Gestalters neu: Der zweckfreie Ästhetizismus der Künste wird, im Zusammenhang mit industrieller Produktion und überhaupt der Moderne, als bloß Schein und Sentimentalitäten
120 Walter Gropius: Idee und Aufbau des staatlichen Bauhauses, in: Karl Nierendorf (Hg.): Staatliches Bauhaus Weimar. 1919-1923. (1923). Reprint durch Hans Wingler, München 1980. S. 14. 121 Max Bill: Die gute Form, Winterthur 1957. 122 Gudrun M. König: Die Fabrikation der Sichtbarkeit: Konsum und Kultur um 1900, in: Heinz Drügh, Christian Metz, Björn Weyand (Hg.): Warenästhetik – Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011. S. 163. 123 Ebd. S. 164.
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produzierend oder als ein die Produktionsbedingungen des Industriekapitalismus verbergender Schein wahrgenommen. Die Aufgabe von Gestaltern hingegen ist es, die Industrieproduktion so zu reformieren, dass wieder eine Einheit von Form, Produktion und Gebrauch im Produkt erreicht wird. Das geschieht einmal durch die Erziehung der Konsumenten durch Ausstellungen und Publikationen (z.B. des Deutschen Werkbundes), die dann durch geschulten Geschmack und Qualitätsbewußtsein die Produktion beeinflussen sollen (hier kommt es zum Beispiel zur Gründung des Deutschen Käuferbundes),124 und das geschieht durch die gestalterische Beteiligung an der industriellen Produktion, durch die in Kooperation mit Technikern und Ökonomen erfolgende Entwicklung von Formtypen bzw. Prototypen, die dann normiert von der Industrie als Massenprodukte vervielfältigt werden. Im Kern der Bemühungen um einen ästhetischen Funktionalismus steht somit ein Versuch der Neupositionierung künstlerischer Praxis angesichts der massenhaften Fertigung von Waren und damit verbunden massenhafter Verbreitung ästhetisch relevanter Gegenstände. Im Kern des ästhetischen Funktionalismus steht eine Vollkommenheitsästhetik, die entweder mechanistisch und/oder organizistisch argumentierend, immer den Ausdruck der Einheit von Produktion, Gebrauch und Form als zentrales Beurteilungskriterium für die Schönheit (Vollkommenheit) eines Gebrauchsgegenstandes definiert. In der Argumentationsstruktur dieses historischen ästhetischen Funktionalismus sind auch die Protagonisten eines zeitgenössischen ästhetischen „grünen“ Funktionalismus gefangen. Die Parallelen sind deutlich: T Damals beklagte man sich über die Sentimentalität und Aufgeklebtheit
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der Gestaltung von Waren, die angesichts der technischen Überformung von Lebenswelt und Gesellschaft keine angemessenen Lösungen für die mit den neuen Produktionsformen verbundenen Probleme liefern kann. Ähnlich dazu werden die bisherigen Muster von „Landschaft“ (mit erheblichem ikonoklastischen Furor) als antiquierte Wunschbilder dargestellt, die nichts mit der Faktizität der realen Raumentwicklung zu tun hätten und mit denen keine Lösungen für aktuelle Probleme räumlicher Entwicklung zu finden oder Visionen für die Zukunft zu machen wären. Der Vorwurf richtet sich sowohl gegen den Popu-
124 Ebd. S. 170f. 125 Der Vorwurf der bloßen Bildhaftigkeit der Gestaltung, die nur an der Oberfläche bleibt, ist in beiden Fällen ein wichtiger Punkt.
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lärgeschmack, wie auch gegen rückwärtsgewandte Teile der Profession, die mit etablierten Methoden veraltete Landschaftsbilder reproduzieren würden.126 T Damals forderte man statt der Produktion von ästhetischem Beiwerk ein neues Verständnis von Gestaltung. Sie sollte „sachlich“ die Funktion des gestalteten Gegenstandes bestimmen und gleichzeitig zum Ausdruck bringen. Um das zu erreichen, musste die Ausbildung der Gestalter neu ausgerichtet werden, aber auch der Populärgeschmack durch pädagogische Maßnahmen an die neue Zeit angepasst werden. Ähnlich dazu wird ein neues Verständnis von „Landschaft“ gefordert. Sie soll nicht mehr bloß ästhetisch, bildhaft, romantisch oder bukolisch sein, sondern produktiv, integrativ und leistungsstark. Durch eine ästhetische Neuausrichtung der Profession und durch Erziehung des Populärgeschmacks soll „Landschaft“ wieder mit der Wirklichkeit zusammen gebracht werden. Das tut man erstens, indem man die Realität der Landschaftsentwicklung anerkennt und die eigene Affektstruktur und die des Massengeschmacks anhand der Fakten neu ausrichtet. Denn das was gut tut (wie z.B. Windkraftanlagen) soll auch schön sein. Zweitens indem man, mit Hilfe dieser Einsicht in die Realität, neue Gestaltungsprinzipien extrahiert und verfeinert, um so ein ästhetisches Prinzip wahrhaftiger Schönheit, das sich in Einklang mit der Realität befindet, zu gewinnen, mit dem man die Welt als Landschaft neu gestalten kann. Hier stellt sich die Frage, warum das funktionalistische Ritual der Ablehnung des bloß Ästhetischen in der Gestaltung als verlogener und sentimentaler Schein, verbunden mit der Errichtung funktionalistischer Gestaltungsregelwerke im Zusammenhang mit der Gestaltung von „Landschaft“ aktuell wieder praktiziert wird? Es ist ja nicht so, dass es sich bei den neuen Landschaftsfunktionalisten um eine verspätete Avantgarde handeln würde. Das Muster „Landschaft“ wurde bereits in der ästhetischen Suchbewegung, die in der Krise der Gestaltung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die Diskrepanz zwischen Gestaltung und industrieller Produktion zu beheben versuchte, sehr wohl miteinbezogen. Das Muster wurde aber hypostasiert, d.h. sein Status als ästhetischer Gegenstand wurde verändert (es wurde materiell und funktional z.B. als grüne Stadttechnik); es wurde aber nicht durch ästhetische Ideen erneuert, die dem Muster eine zeit-
126 Siehe dazu z.B.: Martin Prominski: Landschaft entwerfen. Zur Theorie aktueller Landschaftsarchitektur. Berlin 2004. S. 51ff. James Corner: Terra Fluxus. In: Charles Waldheim (Hg.): The Landscape Urbanism Reader. New York 2006. S. 2133. Pierre Bélanger: Landscape As Infrastructure. In: Landscape Journal Jg. 2009, vol. 28. S. 92.
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gemäße symbolische Bedeutung verliehen hätten. Die alten Muster (aus dem englischen Landschaftsgarten oder der freien Landschaft) blieben nach der Hypostasierung erhalten. Sie wurden entweder schematisiert und in rationale Planungsverfahren (Freiraumplanung, Landschaftsplanung) „eingeschlossen“ oder zu praktischen Prinzipien einer neuen Raumpolitik und Technik erhöht (organische Planung, organic technology). Das hatte zur Folge: T Die Anwendung des Musters „Landschaft“ wurde in seiner schematisierten
Form als „Grün“ oder auch „Ökosystem“ in der Freiraumplanung und Landschaftsplanung als wirkungsvolle Methode etabliert, um in (demokratischen) politischen Prozessen die gesellschaftlichen Bedürfnis nach „Grün“, „Natur“ und „Landschaft“ zu erfüllen – aber eben nur nach Quadratmeterzahlen und erbrachten Ökosystemleistungen. Das, was zur Befriedigung der Bedürfnisse nach schöner Natur und Landschaft (als ästhetische Qualitäten) geboten wurde, konnte ästhetisch selten überzeugen, da zwar ästhetische Qualitäten „geplant“ und über sie verhandelt wurde, doch diese immer als hoch oder ausreichend angesehen wurden, wenn das „Grün“ einigermaßen dem Muster „Landschaft“ entsprach. T Das Muster „Landschaft“ wurde unter dem Vorwand landschaftlicher Gesetze dazu benutzt, expansive Nationallandschaften zu etablieren, um damit imperialistische, autoritäre und/oder rassistische politische Interessen durchzusetzten. „Landschaft“ war Begründung und „Form“ von Raumpolitik. Durch diese Variante der Hypostasierung von „Landschaft“ ist genau das eingetreten, was die ästhetischen Funktionalisten immer beklagt und befürchtet haben: Die schöne Form verschleierte die böse Absicht. Die Suche nach neuen ästhetischen Ideen für das Muster „Landschaft“, die symbolische Bezüge, die „einem was zu sagen haben“, zu gesellschaftlichen Fragen der Raumentwicklung etc. herstellen würden, ist, bedingt durch den Stillstand dieser Suche (oder durch ihre Absorption) durch die hier beschriebenen Hypostasierungen, tatsächlich eine Aufgabe für Gestalter, die lange Zeit „brachgelegen“ hat. Es wäre daher an der Zeit, Vorschläge zu machen für die Erneuerung der historischen Muster von „Landschaft“ durch innovative ästhetische Ideen, um damit gesellschaftliche Bedürfnisse nach schöner Natur und Landschaft zu befriedigen, die angesichts der aktuellen Raumentwicklung mit den alten Mustern in bestimmten räumlichen Situationen nur unzureichend erfüllt werden können. Dieser Fokus auf die ästhetische Praxis ist kein Eskapismus, denn das Praktische und die gesellschaftliche Bedeutung sind ja in der ästhetischen Praxis der Herstellung von Gegenständen anhängender Schönheit durch die doppelte Ur-
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teilsstruktur enthalten. Das heißt: Der Fokus auf die ästhetische Praxis entbindet den Gestalter nicht davon, auch praktische (moralische) Urteile zu fällen, diese zu vertreten und nach diesen in seiner Gestaltungstätigkeit zu handeln. Es ist nun nicht so, dass niemand Vorschläge für Musterinnovationen machen würde, drei davon wurden in dieser Studie besprochen, viele weitere liegen vor: „Landscape Urbanism“,127 „komplexes landschaftsentwerfen“,128 „landscape as infrastructure“,129 „landscape machines“,130 viele Varianten von „Green Infrastructure“,131 etc. Diese Vorschläge werden aber nicht als Musterinnovationen auf Grund ästhetischer Ideen präsentiert und verstanden, sondern als Methoden oder Techniken zur Erfüllung praktischer Zwecke (z.B. Optimierung von ecosystem services oder Errichtung von dezentralen, nachhaltigeren Infrastruktursystemen). Das aber in der Begründung dieser Methoden und Techniken weiterhin am Muster „Landschaft“ festgehalten wird, zeigt, dass es auch weiterhin um ästhetisches Wohlgefallen geht. Denn, das ist es ja was diese Vorschläge neben ihren technischen Leistungen auch noch versprechen: Schönheit. Und es ist keine Schönheit, die sich durch die jeweilige Methode als surplus nebenbei ergibt; nein, es ist Schönheit, die sich auf Grund der technischen Leistungsfähigkeit einstellt – sie ist deren Ausdruck. Es wird also weiterhin das funktionalistische Ritual gepflegt. Daher stellt sich mir zuletzt noch die Frage, warum es gerade im Zusammenhang mit „Landschaft“ so schwer fällt, ohne das funktionalistische Ritual auszukommen und stattdessen die Urteilsformen im Designprozess zu unterscheiden? Da hilft vielleicht wieder ein Blick hundert Jahre zurück: Die Suchbewegung in der ästhetischen Praxis des Design wandte sich angesichts der „Hausgreuel“ und „Pimpeleien“ von den alten ästhetischen Mustern ab und suchte neue ästhetische Ideen für die Gestaltung von industriellen Produkten. Warum führte diese Suchbewegung in den ästhetischen Funktionalismus? Ich habe vorhin als Gründe die Mischung der Urteilsprinzipien und die Selbsterhö-
127 Vgl. z.B.: Charles Waldheim (Hg.): The Landscape Urbanism Reader. New York 2006. 128 Martin Prominski: Landschaft entwerfen. Zur Theorie aktueller Landschaftsarchitektur. Berlin 2004. S. 117ff. 129 Pierre Bélanger: Landscape As Infrastructure. In: Landscape Journal Jg. 2009, vol. 28. S. 79-95. 130 Paul A. Roncken, Sven Stremke, Maurice P. C. P. Paulissen: Landscape machines : productive nature and the future sublime. In: JoLA Spring 2011. S. 68-81. 131 Vgl. z.B.: Mark A Benedict, Edward T. McMahon: Green Infrastructure. Linking landscapes and communities. Island Press, Washington, DC 2004.
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hung von Gestaltern zu praktischen Problemlösern mit besonderen Methoden (also zu so etwas wie sinnlichen Ingenieuren) genannt. Wodurch wurde das der Selbsterhöhung zu Grunde liegende Bedürfnis nach mehr gesellschaftlicher Relevanz ausgelöst? Sicherlich nicht nur durch das gestalterische Problem der Unangemessenheit der alten Gestaltungsmuster für die industrielle Produktion. Das wäre ja, wie gesagt, durch neue ästhetische Ideen zu lösen gewesen. Der Grund war die Rolle, die Gestaltern im Produktionsprozess zufiel. Sie waren nun nicht mehr Handwerker, die den ganzen Produktionsprozess selbst in der Hand hatten, sondern geistige und materielle Produktion wurden getrennt, und Gestalter wurden „künstlerische Proletarier“, die in der Hierarchie der Arbeitsteilung unter den Ingenieuren standen. Die gestaltete Form folgte auf die notwendige Form, die sich aus technischen Ursachen ergab. Der Furor gegenüber Ornament und Zierrat am Industrieprodukt war eine Folge des geringen sozialen Status von Gestaltern im Produktionsprozess, den diese überflüssigen Formen repräsentierten. Sie waren Symbole der Abkömmlichkeit. Darauf gab es zwei Reaktionen: T Erstens, die Rückbindung der Gestaltungspraxis an ein als ganzheitliche ima-
giniertes Handwerk, wie es zum Beispiel beim Arts and Crafts Movement der Fall war. T Zweitens, den Versuch mit der ästhetischen Idee der Sachlichkeit ins Herz der industriellen Produktion vorzustoßen – zur Konstruktion der Produkte. Dies aber mit den Mittel der Gestaltung: mit ästhetischen Ideen und mit Prinzipien für die Formgebung von Gegenständen, die zu objektiven Prinzipien hypostasiert wurden. Diese Simulation von praktischer Relevanz von Gestaltungsprinzipien konnte durch die Vermischung mit Urteilen über praktische Fragen gelingen, wie sie ja in der ästhetischen Praxis der Herstellung von Gegenständen anhängender Schönheit bereits angelegt war. Diese beiden Reaktionen finden sich angesichts der „Ausbreitung“ technischer Artefakte auch in der ästhetischen Praxis von „Landschaft“: T Die Forderung nach Rückbindung des technischen Fortschritts an die Gesetze
der Kulturlandschaft mit dem Ziel einer harmonischen Raumentwicklung findet sich zum Beispiel in der deutschen Natur- und Heimatschutzbewegung und der Landespflege. T Das Ziel, das Muster „Landschaft“ zu einem relevanten Werkzeug der modernen Raumentwicklung zu machen, verfolgen auf verschiedenen Pfaden des ästhetischen Funktionalismus, zum Beispiel die grünen Stadttechniker wie Olm-
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sted und Eliot, wie auch die Landesplanung in der Weimarer Republik und die Landschaftsgestaltung im Nationalsozialismus. Es stellt sich mir am Schluss die Frage, ob diese Angst vor mangelnder Relevanz von Gestaltung in der zeitgenössischen Raumentwicklung noch immer oder wieder so groß ist, dass sie eine Neuauflage eines ästhetischen Landschaftsfunktionalismus auslöst? Es ist offenbar so, auch wenn diese Angst angesichts der breiten Widerstände gegen die Zerstörung „schöner Natur“ und „Landschaft“ durch technische Artefakte überflüssig erscheint. Ich halte es daher für wichtiger Wege zu finden, wie eine ästhetische Praxis der Gestaltung von „Landschaft“ Teil demokratischer Planungsprozesse werden kann, ohne den „Eigensinn“ des Ästhetischen im Prozessverlauf zu verlieren. Dafür böten sich argumentative Planungsverfahren an, die sich aber im Bezug auf diesen „Eigensinn“ des Ästhetischen als problematisch erweisen. In der Theorie argumentativer Planung ist das Bedürfnis nach Schönheit bzw. gutem Design nur eines von vielen Interessen und hat seinen Platz neben ganz vielen anderen. Daraus ergibt sich das Problem, dass sich über Subjektives – wie eine gestalterische Idee oder Schönheit – schwer in einem versachlichten Diskurs sprechen lässt, wie er in der argumentativen Planung angestrebt wird. Es ist eben subjektiv und kann nicht durch allgemeingültige Sachverhalte begründet werden und hat daher im Planungsdiskurs eine sehr schwache Position. Obwohl gleichzeitig die Öffentlichkeit in vielen Fällen gute gestalterische Qualität einfordert (schöne Landschaft, gute Stadtgestaltung, Architektur und Infrastruktur die sich in die Umgebung einfügen etc.). Das heißt, obwohl das gesellschaftliche Bedürfnis nach guter Gestaltung vorhanden ist, lässt es sich in einem argumentativen Planungsdiskurs, durch dessen Ausrichtung auf allgemein nachvollziehbare Argumentationsverläufe oft nur schwer erfüllen. Man hat daher, um Gestaltung eine gewichtigere Stimme zu verleihen, Geschmacksrepräsentanten eingeführt: Wettbewerbsjurys. Namhafte Vertreter aus Planung, Gestaltung und Politik entscheiden hier stellvertretend für die Bevölkerung über Geschmacksfragen. Doch ist dieses Geschmacksexpertentum im Sinne demokratischer Planungsprozesse gerechtfertigt? Ein Argument, dass es das nicht ist, wäre: Wenn ästhetische Urteile subjektiv sind, dann ist es ja egal, ob Gestaltungsexperten in Jurys sitzen oder Banker und Supermarktkassierer. Egal welches Milieu man in der Jury bevorzugt (z.B. wie jetzt Experten aus kreativen Berufen), sie setzten einfach nur ihre Partikularinteressen durch. Das stimmt und bestätigt sich, wenn man sieht, wie sehr der Geschmack der Gestaltungsexperten, die über die Gestaltung z.B. von „Eingriffen“ in „Landschaft“ entscheiden, und der Geschmack der Mehrheit der Bevölkerung auseinanderklaffen. Aber
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man sieht auch, dass gute Gestaltung (vor allem wenn sie einmal in Gebrauch ist) großen Anklang finden kann und geliebter Teil des Alltags wird. Es lässt sich also doch ein gesellschaftlicher Konsens über gute Gestaltung erzielen. Woran liegt das? Da das Empfinden von Schönheit eine Erfahrung ist, die wir alle teilen könnten, ist es auch hypothetisch möglich, durch Geschmacksdiskurse Einigkeit über die Qualität von Gestaltung zu erzielen. Das kann aber nur geschehen, wenn ein solcher Diskurs offen und transparent geführt wird. Das heißt, wir brauchten eigentlich kein Geschmacksexpertentum, um gute Gestaltung zu erreichen, sondern parallel zu versachlichten und transparenten Planungsdiskursen, die der nachvollziehbaren Aushandlung von Kompromissen zwischen verschiedenen Interessen dienen, offene und transparente Geschmacksdiskurse. Diese können aber nicht versachlicht werden (geht es doch um den Gefühlszustand ästhetischer Erfahrung), sondern sie können nur auf bereits gemachte ästhetische Erfahrung aufbauen und auf das Sprechen über diese. Das funktioniert umso besser, je größer diese Erfahrung ist. Aber nur wenn man offene und transparente Geschmacksdiskurse führt, wird ein Reichtum an ästhetischer Erfahrung kein Merkmal einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder des kreativen Milieus sein, sondern eine Erfahrung, die allgemein zugänglich ist. Gute Gestaltung stellt dann nicht die Befriedigung von Partikularinteressen dar, sondern einen erzielten gesellschaftlichen Konsens über die gestalterische Qualität unserer Umwelt. Doch wie soll man einen iterativen Entwurfsprozess als offenen und nachvollziehbaren Diskurs gestalten? Für die praktischen und sachlichen Urteile im Entwurfsprozess stehen die Methoden partizipativer Planung bereit – aber gibt es diese für die ästhetische Seite? In den 1970er Jahren und wieder in den 1990er Jahren gab es Experimente v.a. im Kunstkontext mit partizipativen und offenen Gestaltungsprozessen, zum Beispiel von der Münchner Gruppe KEKS (partizipative Kunstprojekte für Kinder),132 in Hamburg mit dem Projekt Park Fiction (Parkgestaltung)133 oder in Berlin mit der Werkstatt der Veränderung (Parkge-
132 Siehe dazu: Susann Ahn et al.: Stadt und Spiele – Das Spielkonzept des Olympischen Dorfs als partizipativer Gestaltungsprozess. In: Stefanie Hennecke et al.: Demokratisches Grün – Olympiapark München. Berlin 2013. S. 86-95. 133 Siehe: http://www.parkfiction.org. Zugriff: 28.08.2013. Park Fiction ist ein Kunstprojekt, das seit 1994 einen Park am Hamburger Elbufer unter der Maxime der "kollektiven Wunschproduktion" auf Initiative einer Nachbarschaftsinitiative und unter der Beteiligung von Künstlern wie Christoph Schäfer oder Cathy Skene in Form eines gemeinsamen Gestaltungsprozesses errichtet.
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staltung).134 Das Stichwort lautet hier: kollektive Autorenschaft. Das heißt, das Entwerfen ist in diesem Fall keine Tätigkeit von Spezialisten, sondern der iterative Entwurfsprozess wird diskursiv von mehreren Beteiligten vollzogen. Hier gibt es für Gestalter noch viel auszuprobieren und neues Terrain zu entdecken. Auch wenn kollektives Entwerfen nicht der Weisheit letzter Schluss sein mag, da ja auch damit nur Partikularinteressen erfüllt werden können, so ist es dennoch eine mögliche Antwort auf die Herausforderungen, vor denen die Designdisziplinen stehen: Die Demokratisierung der Planung praktisch umzusetzen (durch argumentative Planung) und die Demokratisierung der Gestaltung (durch partizipative Gestaltungsprozesse) einzuleiten. Wie das gehen soll, muss durch Experimente überhaupt erst einmal ausprobiert werden. Mit einem ästhetischen Funktionalismus, der mit Notwendigkeiten und Sachzwängen argumentiert, statt neue ästhetische Ideen zur Diskussion zu stellen, ist das nicht zu erreichen.
134 Siehe dazu: Seraphina Lenz: Werkstatt der Veränderung. Köln 2011. Die Werkstatt für Veränderung war ein Kunstprojekt Lenz in dem von 2003 bis 2010 im CarlWeder-Park in Berlin-Neukölln jedes Jahr eine Ortsveränderung in Form von Aktionen, baulichen oder gärtnerischen Eingriffen (z.B. Pferdekoppel, Eintopfküche, Filmset) vorgenommen wurde, um damit Nutzungsmöglichkeiten für die neue Parkanlage über der Stadtautobahn A100, die das Quartier zerschneidet, auszuloten und anzuregen.
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B ILDNACHWEIS Abbildung Buchumschlag: Für die Collage (angefertigt vom Autor) wurden folgende Bilder verwendet: Adrian Ludwig Richter: „Ansicht der Burgruine Straßberg bei Gossensass am Brenner“, Bleistiftzeichnung, 19. Jh., (wikipedia commons). Edward Whymper: Scrambles amongst the Alps in the years 1860-69, Philadelphia 1872 (digitale Ausgabe von Google). S. 37. Edward Whymper: Scrambles amongst the Alps in the years 1860-69, Philadelphia 1872 (digitale Ausgabe von Google). S. 46.
Danksagung
Diese Studie entstand als Dissertation am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur und öffentlichen Raum der Fakultät für Architektur an der Technischen Universität München. Mein besonderer Dank gilt der Betreuerin meiner Arbeit, Professorin Regine Keller, und meiner Mentorin, Professorin Dr. Stefanie Hennecke, für die wertvollen Anregungen, die sie gegeben haben und die große Geduld, die sie bei der Betreuung dieser Arbeit bewiesen haben. Bedanken möchte ich mich zudem bei Professor Dr. Dietrich Erben, dem Vorsitzenden der Prüfungskommission, und den Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur und öffentlichen Raum. Die Publikation dieses Buches wurde von der Dr. Marschall Stiftung der Fakultät für Architektur der Technischen Universität München durch eine Publikationsförderung ermöglicht – dafür herzlichen Dank an den Vorstand der Stiftung. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei der Dekanin der Fakultät für Architektur, Professorin Sophie Wolfrum, und bei Martin Luce für ihre Unterstützung meiner wissenschaftlichen Arbeit an der Fakultät. Ebenso bedanke ich mich bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Arbeitskreises Kulturlandschaft am Lehrstuhl für Landschaftsökologie der Technischen Universität München, die mir wichtige Themen und Fragen deutlich gemacht haben. Für die geduldige Korrektur des Textes möchte ich mich ganz besonders bei Werner Polinna bedanken. Großer Dank gilt meiner Familie, meinen Eltern Josefa Hauck und Emmerich Wagner für die nie nachlassende Unterstützung, meiner Schwester Martina Rudischer-Hauck für wichtige Gespräche und ganz besonders Antonia und Cordelia Polinna.
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Rainer Guldin Politische Landschaften Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität Oktober 2014, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2818-0
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven Januar 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
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Elisabeth Gülich, Gabriele Lucius-Hoene, Stefan Pfänder, Elke Schumann (Hg.) Wiedererzählen Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis Mai 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2851-7
Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.) Ästhetischer Heroismus Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden 2013, 462 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2253-9
Yuichi Kimura, Thomas Pekar (Hg.) Kulturkontakte Szenen und Modelle in japanisch-deutschen Kontexten Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2739-8
Alfrun Kliems Der Underground, die Wende und die Stadt Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa Dezember 2014, ca. 372 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2574-5
Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls 2013, 584 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2110-5
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