Die Erzahlung der Landschaft 9783205781868, 3205781864


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Die Erzahlung der Landschaft
 9783205781868, 3205781864

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Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg Herausgegeben von Robert Kriechbaumer · Franz Schausberger · Hubert Weinberger Band 34

Dieter A. Binder · Helmut Konrad · Eduard G. Staudinger (Hg.)

Die Erzählung der Landschaft

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78186-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: finidr, Tschechische Republik

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eduard G. Staudinger: Aspekte zum Thema »Grenzen – Grenzziehungen« aus regionalgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rainer Guldin: Trennender Graben und verbindendes Band. Zur topografischen Ambivalenz von Flüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Georg Madeja : Die Teufelsmauer von Dürnstein oder Auch Märchen werden manchmal wahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Thomas Hellmuth: Die Erzählungen des Salzkammerguts. Entschlüsselung einer Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Beatrix Müller-Kampel: Landschaft als magisch-tellurische Bestimmung und als soziales Feld. Jakob Wassermann und Marta Karlweis im Ausseer Land . . . . .

69

Jakob Perschy: Die Erfindung von Pannonien oder Burgenland . . . . . . . . . .

87

Helmut Konrad: Die Weinberge der Steiermark . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Heimo Hofgartner: »Und hinterm Dorf war noch ein Loch« . . . . . . . . . . .

121

Dieter A. Binder: Dorfgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

Johannes Kassar: Urbane Spielwiese und multifunktionale Stadtlandschaft. Eine praxisorientierte Lektüre des Denkmals für die ermordeten Juden Europas 177

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

»Ob nun«, so schreibt Hansjörg Küster, »Landschaften ›in der freien Natur‹ betrachtet werden, auf eine Leinwand gebannt sind, auf einer Landkarte präsentiert oder architektonisch gestaltet werden, immer geht es darum, lebendige und tote Elemente, Elemente der Natur und der Kultur in einer Zusammenschau zu sehen, dabei Empfindungen über sie zu gewinnen und die Zusammenhänge zwischen den Einzelheiten zu erkennen, die man vor Augen hat. Empfinden und Erkenntnisse sind immer subjektiv. Da sich beim Betrachten einer Landschaft die Blicke mehrerer Menschen auf die gleichen Dinge richten, sollten sie sich über das Geschehene gegenseitig unterrichten.«1 Für diesen Band nehmen die Herausgeber zunächst als Schlüsselwort ihres Verständnisses »Empfinden und Erkenntnisse sind immer subjektiv« in Anspruch. Gleichzeitig konstatieren sie, dass im österreichischen Denken der Landschaft hohe identitätsstiftende Kraft zugesprochen wird. Vergleicht man die einschlägigen Kapitel von Etienne François’ und Hagen Schulzes deutschen Erinnerungsorten2 und jene von Martin Sabrows Erinnerungsorten der DDR3, so fällt auf, dass zum einen der »deutsche Wald« im Kapitel über das Gemüt angesiedelt wird,4 während im Hinblick auf die untergegangene DDR die »Ostsee« unter den »kleinen Fluchten« aus dem Alltag zu finden ist.5 Völlig anders ist die Sichtweise in den Memoria Austriae, in denen Landschaftsformationen breiter Raum gegeben wird.6 In der Einleitung zu diesem Band halten Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl fest, dass die »Landschaft […] in den kollektiven Bildern über Österreich bei allen Altersgruppen allgegenwärtig« sei.7 Man könnte hier ausgehend von der Massenmobilisierung der 1950er- und frühen 1960er-Jahre den Verdacht äußern, dass die Österreichrundfahrt und der Ausflug in eine vertraute Landschaft jene Bilder verfestigten, welche die Österreich-Imagination spätestens seit der Mitte der 1920er-Jahre formte. Überspitzt ließe sich die Österreich-Rundfahrt des Herrn Karl mit der Schweizer Reise der bürgerlichen Oberschichten dieser Region im 18. Jahrhundert vergleichen, die zwar »an der adeligen Kavalierstour« orientiert war, wobei der »bezeichnende Unterschied […] jedoch darin« lag, dass die »Schweizer nur innerhalb der Schweiz reisten, 1 2 3 4 5 6 7

Hansjörg Küster, Schöne Aussichten. Kleine Geschichte der Landschaft, München 2009, 14. Etienne François/Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, München 2009. Martin Sabrow, Erinnerungsorte der DDR, München 2009. Albrecht Lehmann, Der deutsche Wald, in: François/Schulze, Erinnerungsorte, 3, 187–200. Christopher Görlich, Die Ostsee, in: Sabrow, Erinnerungsorte, 326–331. Emil Brix/Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl, Memoria Austriae II. Bauten, Orte, Regionen, Wien 2005. Brix/Bruckmüller/Stekl, Einleitung, in: Dies., Memoria, 12.

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Einleitung

aus gewissermaßen volkspädagogischen Gründen«. 8 Ein derartiges Verhalten führt weg vom individuellen Zugang und provoziert ein kollektives »Speichergedächtnis«, das Sichtweisen auf Landschaften katalogisiert : die Donau als »europäischer Fluss«, als länderüberschreitender Verkehrsweg, als »europäischer Gedächtnisort«, als vernetztes Konstrukt der Freizeitlandschaft. Die Wahrnehmung der Bewohner einer Landschaft und die touristische, wirtschaftliche, politische etc. Wahrnehmung haben höchst unterschiedliche Koordinaten. Daher erscheint es den Herausgebern legitim, einen dekonstruierenden Blick in die »Landschaft« zu werfen, um den Blick auf diese etwas freier zu machen.

Budapest, Yale, Graz im Frühjahr 2010 Dieter A. Binder, Helmut Konrad, Eduard Staudinger

8 Manfred Hettling/Mario König/Martin Schaffner/Andreas Suter/Jakob Tanner, Eine kleine Geschichte der Schweiz. Der Bundesstaat und seine Traditionen, Frankfurt a. M. 1998, 9.

Eduard G. Staudinger

Aspekte zum Thema »Grenzen – Grenzziehungen« aus regionalgeschichtlicher Perspektive

Das Thema »Grenzen« hat in vielfacher Hinsicht auch in der Geschichtswissenschaft europaweit wie global gesehen Tradition und Aktualität zugleich.1 Allein auf H-SOZU-KULT finden sich regelmäßig zahlreiche Calls, Konferenzen, Forschungsprojekte und Rezensionen von Büchern, die sich mit Grenzgebieten bzw. -räumen, mit zu Grenzen gemachten Flüssen, mit Menschen und ihren Leben mit und an einer Grenze beschäftigen. Zu dieser Konjunktur trug nicht zuletzt der Fall des Eisernen Vorhangs wesentlich bei, wobei der Begriff Eiserner Vorhang als eine markante Metapher für eine konkrete historische Ausprägung einer Grenze gelten kann, die »Grenze«, »Leben mit und an einer Grenze«, »Grenzerfahrungen« etc. sogar zu einer spezifischen »Erkenntnisweise« ausformte.2 Auch im engeren regionalen Kontext der steirischen Landesgeschichte kommt dieser Thematik ein zentraler Stellenwert zu. Das belegen beispielhaft Bücher wie »Land an der Grenze« von Ferdinand Tremel, »Flammende Grenze« von Fritz Posch oder die Landesausstellung des Jahres 1986 auf Schloss Herberstein, die die Steiermark als »Brücke und Bollwerk« präsentierte.3 Durch diese landesgeschichtliche Tradition sehr stark getragen und gefördert, wenn nicht sogar geschaffen, wurden »Grenze«, »Grenzland sein« und »Leben mit und an einer Grenze« verbreitet konstitutive Elemente individueller und kollektiver, privater und öffentlicher Lebensgestaltungen und Konstruktionen von Identitäten mit ihren Vielschichtigkeiten und Strategien des Managements, sodass auch hier von »Grenze« als einer spezifisch historischen wie auch aktuell öffentlichen »Erkenntnisweise« gesprochen werden kann. Weitestgehend ausgeblendet bleiben in diesem Zusammenhang allerdings Fragmentierungen

1 Auf die zahlreichen Semantiken zu Begriffen wie »Raum« und »Grenzen«, wie sie im Zuge des »Spatial Turn« in den Kulturwissenschaften diskutiert werden, soll hier nicht näher eingegangen werden. Siehe dazu u. a. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006, 284–328. 2 Zur Begriffsbildung »Grenze als Erkenntnisweise« vgl. Andrea Komlosy, Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien 2003, 14–16. 3 Ferdinand Tremel, Land an der Grenze. Eine Geschichte der Steiermark, Graz 1966. Fritz Posch, Flammende Grenze. Die Steiermark in den Kuruzzenstürmen, Graz 1968. Die Steiermark. Brücke und Bollwerk. Katalog zur Landesausstellung, Graz 1986.

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nach innen und damit verbundene Binnengrenzen, die sich speziell auch in der steirischen Zeitgeschichte aufzeigen ließen. Mit dieser Tradition vor Augen und eingebunden in diesen historisch geformten Kontext stellt es eine gewisse Herausforderung dar, sich mit der Thematik »Grenzen – Grenzziehungen« näher zu befassen und dabei als ersten Schritt zunächst weiterführende Perspektiven bzw. Zugänge zu entwickeln. Im Wesentlichen stelle ich drei Perspektiven bzw. Zugänge zur Diskussion: die Perspektive der Vieldeutigkeiten von »Grenze« und des Verständnisses von »Leben mit und an Grenzen«; die Perspektive der historischen und aktuellen Veränderungen bzw. der Veränderbarkeit von »Grenzen«, vor allem im Sinne von ausverhandelten und vertraglich festgelegten Grenzen zwischen Staaten, die Perspektive einer möglichen Typologisierung von »Grenzen« und der durch sie geschaffenen »Grenzräume bzw. -gebiete«. Eine solche Typologisierung ist allerdings nicht als ein Stufen- und Verlaufsmodell zu verstehen, wie sich Grenzgebiete linear entwickeln, sondern als Versuch einer Charakterisierung von möglichen Lebens-, Arbeits-, Interaktions- und Kommunikationssituationen an »Grenzen« und in »Grenzgebieten«.

Zur Perspektive der Vieldeutigkeiten Das Sprechen über, das Umgehen mit und auch das Erinnern an »Grenzen« ist geprägt von Vieldeutigkeiten und einem Wechselspiel zwischen verschiedenen Vorstellungen von »Grenzen«. So wird »Grenze« einmal als zeitlich und territorial festgelegte Linie im Sinne einer politisch-administrativen Grenze im Raum verstanden, die staatliche Territorien mit jeweiligen Souveränitäts- und Rechtsansprüchen begrenzt bzw. voneinander abgrenzt. Zusätzlich enthält »Grenze« aber auch eine räumliche Vorstellung eines allerdings nicht eindeutig »eingrenzbaren« Raumes, in dem beiderseits einer politisch-administrativen Grenzlinie unterschiedlicher Überschreitbarkeit und Sichtbarkeit Menschen leben, deren alltägliche Lebenspraxen und Interaktionen sich in hohem Maße an einem »Leben mit und an einer Grenze« zu orientieren haben und durch ein solches geprägt sind. Eine derart vorgenommene Personalisierung des Themas lässt »Eigenwelten« erkennen, die Menschen eines Grenzgebietes aufbauen und tradieren. »Grenze« ist aber auch immer beides zugleich : eine konkret markierte, unterschiedlich sichtbar gemachte, bewachte und passierbare Linie, deren politischadministrativer Charakter verändert werden kann, und eine räumlich gebundene Lebens- und Interaktionswelt. Schon daraus ist ersichtlich, dass »Grenzen« selbst im politisch-administrativen Verständnis kein homogenes Phänomen darstellen. Mehr noch geben sie einerseits Anlass zur und sind Ausgangspunkt für die Ausformung von Identitäts- und Gegenidentitätskonstruktionen mit ihrem Wechselspiel, wofür Formulierungen wie »Wir

Aspekte zum Thema »Grenzen – Grenzziehungen« aus regionalgeschichtlicher Perspektive

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und die Anderen« oder »Wir hier und die da drüben« Ausdruck sind. Verschränkungen und Überschneidungen, die Existenz von Minderheiten, Bi- und Multilingualitäten – nicht nur in einem Gebiet, sondern von Menschen selbst – werden zwar vonseiten der Wissenschaften thematisiert und beforscht, sie sind auch durchaus bekannt, werden aber in der Alltagspraxis häufig ausgeblendet, tabuisiert und beschwiegen.4 Anderseits können fixierte Grenzlinien gemeinsam mit anderen Komponenten aber auch zu Folgen solcher Identitäts- und Gegenidentitätskonstruktionen werden. Pieter Judson zeigt diesen Aspekt u. a. in seiner Analyse der Tätigkeit des deutschen Schulvereins »Südmark« und der nationalen Diskurse im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert auf, als die »Sprachgrenze« gesucht, »entdeckt« und festgeschrieben werden sollte und auch wurde.5 Durch Grenzen erfolgen Festlegungen von Peripherien und Zentren, wie diese sich verschieben und zueinander in Beziehung stehen. Grenzgebiete werden dabei oft als Randzonen gesehen oder durch die politischen, ökonomischen und kulturellen Machtzentren zu solchen gemacht. Sie werden als Peripherie, als marginalisierte Zonen verstanden und charakterisiert, die aus dem Blick geraten, dementsprechend an Partizipationsmöglichkeiten, Aufmerksamkeit und Zuwendung verlieren. Ökonomische Rückständigkeit, Abwanderungen junger Menschen und andere negative Marker prägen die Wahrnehmungen. Diese Sichtweise von Grenzgebieten als »Räumen der Entleerung« geht davon aus, wie Grenzgebiete in den Gesamtstaat integriert sind und zu dessen Machtzentren in Beziehung stehen.6 Ein Automatismus, dass grenznahe Gebiete Randzonen per se sind, trifft allerdings nicht zu. Grenzgebiete stehen immer wieder im Zentrum des Geschehens. Sie werden u. a. auch im Kontext von Tourismuskonzepten bewusst kultiviert und vermarktet. »Grenzgebiet sein« bedeutet hier vorwiegend eine ökonomische Ressource, indem »Leben an der Grenze« einen lukrativen Anreiz darstellen und damit eine spezielle Erfahrung vermitteln soll. Dieser Aspekt von »Grenzgebiet als ökonomische Ressource« hat viele Facetten. Zu diesen gehört, dass Grenzgebiete und -orte, wie z. B. Spielfeld und Bad Radkersburg in der südlichen Steiermark, jahrzehntelang Standorte von behördlichen Einrichtungen wie Zoll und Grenzpolizei waren. In Spielfeld spielte der Bahnhof eine wesentliche Rolle, zumal hier und nicht im slowenischen Šentilj auch die jugoslawischen und ab 1991 die slowenischen Grenzorgane ihre Büros hatten. In Bad Radkersburg bestand kein Grenzbahnhof, wohl aber eine Kaserne des Österreichischen Bundesheeres. Diese Einrichtungen waren für das lokale Selbstbild ebenso von Bedeutung wie die Kaufkraft ihres Personals für die lokale Wirtschaft. 4 Elisabeth Schober, Hinüberschauen und wegsehen, Graz 2006. 5 Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge/London 2006. 6 Stein Rokkan et al., Economy Territory Identity. Politics of West European Peripheries, London u. a. 1983.

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Eduard G. Staudinger

Dies änderte sich, als im Zuge des Prozesses der europäischen Integration Österreich 1995 und Slowenien 2004 Mitglieder der Europäischen Union wurden. Seit Dezember 2007 gehört Slowenien, wie schon zuvor Österreich, dem Schengen-Raum an. Durch diese Entwicklung wurde der politisch-administrative Charakter der österreichisch-slowenischen Grenze grundlegend verändert. Heute ist der Bahnhof in Spielfeld kaum mehr besetzt. Lediglich die Lokomotiven und das Zugpersonal werden bei der »Grenzübergabe«, wie es in Durchsagen heißt, gewechselt. Die Grenzstationen an der Autobahn und der alten Straße sind unbesetzt, die Schranken sind nicht mehr vorhanden bzw. stehen offen. Gleiches gilt für die Grenzstation an der Murbrücke in Bad Radkersburg. Hier hatten zuvor schon seit einigen Jahren die österreichischen und slowenischen Grenzorgane nebeneinander in der österreichischen Grenzstation ihren Dienst versehen. Alte Halte- und Verweilpunkte wurden zu Durchgangsstationen. Im Jahr 2009 wurde die Kaserne in Bad Radkersburg geschlossen. »Wir waren immer Grenzgebiet. Was ist heute ?«, meinte Anfang 2009 ein etwa 40-jähriger Mann in einem Spielfelder Gasthaus im Gespräch. Er brachte damit wohl auch eine gewisse »Verlusterfahrung« und Verunsicherung zum Ausdruck. Jedenfalls fand er die Zustimmung seiner Zuhörer. Wie schon erwähnt, können Grenzgebiete Kristallisationsräume für die Ausformung von spezifischen »Eigenwelten« oder »Grenzgesellschaften« sein, in denen Selbstverständnisse, Alltagspraktiken und Lebensorientierungen vom Leben mit und an einer Grenze geprägt sind.7 Grenzen im politisch-administrativen Verständnis von Grenzlinien entstehen in konkreten politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, zumeist Kriegen, in denen um Grenzverläufe erbittert gekämpft und gestritten wird und Kriterien von Zu- und Nichtzugehörigkeiten, von Ein- und Ausschlüssen festgelegt werden. Jeder »Streit um Grenzen« trägt so wesentlich dazu bei, dass schließlich gezogene Grenzen von den verschieden aktiv und passiv Beteiligten, ob individuell und/oder als Gruppe, unterschiedlich intensiv akzeptierend oder ablehnend wahrgenommen und erlebt werden: als Recht oder Unrecht, als Gewinn oder Verlust. Grenzen weisen demnach auch, nicht nur aus Gründen, die im jeweiligen politisch-administrativen Grenzregime gelegen sind, unterschiedliche Formen von Überschreitbarkeiten und Durchlässigkeiten auf. Jedes Leben mit und an Grenzen kennt eine Vielzahl von Regeln und Praktiken, durch die die Modalitäten der Grenzüberquerungen bzw. -überschreitungen über die offiziellen Normierungen hinaus gestaltet und umgesetzt werden. Grenzen können schützen, sie können aber auch einsperren. »Über die Grenze kommen« heißt dann womöglich entkommen und sich retten können. Wohl jedes Grenzgebiet hat seine Geschichten von Schmuggelaktivitäten, aber auch von spontanen grenzübergreifenden Kooperationen, die nach den bestehenden bürokratischen Richtlinien nicht oder nur sehr schwer möglich wären. In allen diesen Zusammenhängen spielen 7 Franz Josef Schober, Vom Leben an der Grenze/O Življenju ob meji, Graz 2009.

Aspekte zum Thema »Grenzen – Grenzziehungen« aus regionalgeschichtlicher Perspektive

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das diffizile Verhältnis zwischen den offiziellen Grenzorganen beiderseits der Grenzen, ihre Herkunft und Verweildauer im Dienst an der Grenze sowie der Grad ihrer Integration bzw. Nicht-Integration in die »Grenzbevölkerung« eine zentrale Rolle. Grenzgebiete sind nicht zuletzt markante »Merkräume« in individuellen und kollektiven Gedächtnissen,8 die mit emotional aufgeladenen Erinnerungen und Bildern befüllt sind und durch entsprechende Denkmäler im öffentlichen Raum, Inschriften auf Grabsteinen und Gebäuden, Liedtexte, weitererzählte Erfahrungen etc. gefestigt werden bzw. bleiben.9 Diese Phänomene können derart nachhaltig eingeschrieben sein und wachgehalten werden, dass in Grenzgebieten soziale Distanzen bestehen bleiben, auch wenn Grenzlinien hinsichtlich ihres politisch-administrativen Charakters weitestgehend durchlässig und unsichtbar geworden sind.

Zur Perspektive der historischen und aktuellen Veränderungen bzw. der Veränderbarkeit von Grenzen Die Perspektive der historischen und aktuellen Veränderungen bzw. der Veränderbarkeit von Grenzen zu verfolgen, liegt aus mehreren Gründen nahe. Im Zuge des Prozesses der europäischen Integration und bedingt durch den Fall des Eisernen Vorhanges vollzog und vollzieht sich auch ein grundlegender Wandel der Binnen- und Außengrenzen von EU-Europa. Vor allem die Grenzen entlang der Nord-Süd-Achse von der Ostsee bis zur Adria und zum Schwarzen Meer änderten sich nachhaltig in ihrem politisch-administrativen Charakter, allerdings nicht in gleicher Weise in ökonomischer und sozialer Hinsicht. Das größer gewordene EU-Europa weist nach wie vor erhebliche ökonomische und soziale Asymmetrien auf und stellt auch einen Konkurrenzraum dar, wenn große Konzerne mit Sitz in einem EU-Land ihre Produktionsstätten aus Kostengründen innerhalb der EU etwa von Deutschland nach Rumänien verlagern. Im Jahr 1990 verschwand die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten als Staatsgrenze überhaupt von der Landkarte. Grenzen im politisch-administrativen Sinn schienen an Bedeutung zu verlieren. Grenzüberschreitende (Verwaltungs-) Zusammenarbeit findet, wie Simon Lang schreibt, heute in rund 150 Grenzregionen innerhalb der EU in mehr oder weniger institutionalisierten Formen zwischen Gebietskörperschaften beiderseits der Grenzen statt. Das deutsch-französisch-schweizerische Grenzgebiet entlang des Oberrheins gilt dabei vielfach als modellhaftes Beispiel.10 Gleichzeitig mit diesen grenzübergreifenden Prozessen in Politik, Wirtschaft, 8 Vgl. dazu Markus Bauer/Thomas Rahn (Hg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997, 8. 9 E. Schober, Hinüberschauen und wegsehen. J. Schober, Vom Leben an der Grenze. 10 Simon Lang, Der Oberrhein. Ein Fluss, zwei Sprachen, drei Staaten … und viele Grenzen, in: politicum 109, Graz 2009, 37.

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Kommunikation (Mobilfunk-Netze ausgenommen) und Denken entstanden in den letzten beiden Jahrzehnten in Europa zahlreiche neue »Nationalstaaten« unterschiedlicher Größe, womit auch Grenzziehungen, Grenzadministration und -management wieder und verstärkt ins Zentrum politisch-gesellschaftlicher Auseinandersetzungen rückten, und dies geschah und geschieht mit erheblichen, historisch aber durchaus vertrauten Konfliktpotenzialen. Dies gilt hinsichtlich der Fixierung von konkreten Grenzverläufen und ihrer Sichtbarmachung ebenso wie für verschobene Mehrheitsund Minderheitsverhältnisse. Aus Mehrheiten wurden Minderheiten, aus privilegierten Gruppen minderprivilegierte und jeweils umgekehrt. Das Erfahren und Empfinden solcher neuen Konstellationen evozierte Diskurse von Identitäten, Zu- bzw. Nicht-Zugehörigkeiten, von Anerkennung und Akzeptanz bzw. Ausgrenzung und Marginalisierung, von Gleichberechtigung und Benachteiligung etc., oft gebündelt in der Problematik der StaatsbürgerInnenschaften.11 Die historische Reflexion zeigt, dass die soeben kurz skizzierten Phänomene der Gegenwartsgeschichte zu den zentralen Themen auch der Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts zählen, um nur die zeit- und nicht auch die universalgeschichtliche Dimension in den Blick zu nehmen ; wenngleich Rahmenbedingungen und Abläufe weit dramatischer waren. Schon allein die weniger als 100 km lange Grenze zwischen der Steiermark und Slowenien hat seit ihrer umkämpften Entstehung zwischen 1918 und 1922 im Laufe des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts mehrfach grundlegende Veränderungen hinsichtlich ihres Charakters und ihrer Bedeutung als politisch-administrative Grenze erfahren. Sie war zunächst Teil der Staatsgrenze zwischen der Republik Österreich und dem Königreich Jugoslawien, mit der Annexion Österreichs im März 1938 dann Teil der Staatsgrenze zwischen NS-Deutschland und dem Königreich Jugoslawien. Nach der Zerschlagung Jugoslawiens und der Aufteilung Sloweniens auf die Besatzungsmächte Deutschland, Italien und Ungarn im Frühjahr 1941 wurde diese Grenze insoferne zu einer nicht klar bestimmbaren »Binnengrenze« im Deutschen Reich, als der von Deutschland okkupierte Teil Sloweniens formal nicht in den Gau Steiermark integriert wurde. Mit der militärischen Niederlage von NS-Deutschland, dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Wiedererrichtung Österreichs und Jugoslawiens wurde dieser Grenzabschnitt erneut Staatsgrenze, allerdings mit neuen Kennzeichnungen. Die südliche Steiermark war nach dem 8./9. Mai 1945 zunächst dreifach besetzt, nämlich von sowjetischen, bulgarischen und jugoslawischen Verbänden, ehe am 24./25. Juli die Briten die Besatzung übernahmen und entlang der Grenze eine sogenannte Prohibited Zone einrichteten, die nur mit speziellen Legitimationen betreten und verlassen werden durfte. In Jugoslawien wiederum übernahmen Tito und die Kommunisten die Macht und bauten Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur nach 11 Ulrike H. Meinhof (Hg.), Living (with) Borders. Identity discourses on East-West borders in Europe, Aldershot 2002, 1 f.

Aspekte zum Thema »Grenzen – Grenzziehungen« aus regionalgeschichtlicher Perspektive

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ihren Prinzipien und unter Verfolgung und Ausschaltung oppositioneller Kräfte um. Die Grenze war nun nicht nur eine Grenze zwischen zwei Staaten, sondern auch eine solche zwischen zwei ideologisch unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen : ein Teil der Grenzlinie im frühen Kalten Krieg, belastet mit Erfahrungen aus der Endphase des Zweiten Weltkrieges, im Raum stehenden Gebietsforderungen vonseiten Jugoslawiens und vielfachen Unsicherheiten. Immer wieder hielten sich im Grenzbereich bewaffnete Gruppen auf, die in Slowenien gegen die Errichtung der kommunistischen Herrschaft aktiv waren. Sie zogen sich wiederholt über die Grenze auf österreichisches Gebiet zurück, um sich so der Verfolgung zu entziehen, aber auch, um sich neu zu versorgen. Bis in den Sommer 1947 blieben einzelne Grenzabschnitte Schauplätze bewaffneter Auseinandersetzungen mit mehreren Toten. Dementsprechend geschlossen und streng bewacht wurde die Grenze administriert. Dies änderte sich nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin im Jahr 1948. Die Wiedereröffnung der Murbrücke in (Bad) Radkersburg und vor allem dann das Abkommen von (Bad) Gleichenberg im Jahr 1953 zwischen Österreich und Jugoslawien erleichterten Grenzüberschreitungen insbesondere für die sogenannten Doppelbesitzer und den kleinen Grenzverkehr. Gefördert durch den Staatsvertrag und Österreichs Neutralität ab 1955 wurde die Grenze in den folgenden Jahren offener. Das Projekt einer »neutralen Straße« wurde am Kamm des steirisch-slowenischen Hügellandes, entlang dem die Staatsgrenze verlief, verwirklicht. Vom Status der Staatsgrenze Österreichs zu Ungarn oder gar zur Tschechoslowakei unterschied sich dieser südliche Grenzabschnitt erheblich. Ein historisch vielfach geprägter und belasteter »Merk- und Erinnerungsraum« blieb er aber dennoch. Bis 1991 blieb die Grenze eine Staatsgrenze zwischen der Republik Österreich und der Föderativen Sozialistischen Republik Jugoslawien. Dies änderte sich mit der Proklamation der unabhängigen Republik Slowenien 1991. Für wenige Tage rückten kriegerische Kampfhandlungen Ende Juni/Anfang Juli 1991 an den Grenzabschnitt heran. Seither bildet er einen Teil der Staatsgrenze zwischen den demokratisch verfassten Republiken Österreich und Slowenien. Im Zuge des Prozesses der europäischen Integration veränderte sich allerdings die Charakteristik der Grenze grundlegend. Sie wurde von einer EU-Außengrenze (1995) zu einer EU-Binnengrenze (2004), blieb aber Schengen-Außengrenze. Mit dem Beitritt Sloweniens zum Schengen-Abkommen im Dezember 2007 »verlor« sie auch diese Funktion. Heute ist diese Grenze gemessen an ihrer Überschreitbarkeit und Sichtbarkeit weitestgehend abgebaut. Einzelne alte Grenzsteine, noch mit 10. September 1919 St. Germain als Aufschrift, leer stehende, Patina und Rost ansetzende alte Grenzstationen, Bezeichnungen auf steirischer Seite wie »Grenzlandchor«, »Grenzlandhalle«, »Grenzlandraststätte«, »Grenzland-Radweg«, »Wasserversorgung Grenzregion Südost« verweisen auf die frühere Präsenz dieser Grenze in alltäglichen Lebenszusammenhängen und -orientierungen. Trotz dieses »Verschwindens« ist die Grenze im Sprachgebrauch (»Ich war noch nie drüben seither«) in Erinne-

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Eduard G. Staudinger

rungen, in Mentalitäten, in sozialen Kontakten vielfach ein bestimmendes Element geblieben. Mitunter werden von behördlicher Seite sogar Initiativen gesetzt, die alte Grenze zumindest symbolisch wieder sichtbarer zu machen. Aus Anlass des österreichischen Nationalfeiertages 2009 wollten südsteirische Bezirkshauptleute auch die alten Grenzstationen wieder beflaggen lassen. Von den »Grenzen in den Köpfen« wird in diesen Zusammenhängen gerne gesprochen.12

Zur Perspektive einer möglichen Typologisierung von »Grenzen und Grenzgebieten« Der Versuch, »Grenzen und Grenzgebiete« zu typologisieren, geht nicht davon aus, diese unter dem Gesichtspunkt ihres Verhältnisses zu den Zentren zu verstehen, sondern davon, die hier stattfindenden Interaktionen beiderseits der Grenze und über die Grenze hinweg in den Blick zu nehmen und damit ein »Grenzgebiet« als einen Raum mit unterschiedlichen Interaktionsmöglichkeiten zu sehen. Wenn in der Folge sechs solcher Typen skizziert werden, dann ist die Reihenfolge ihrer Nennung nicht als ein linear verlaufendes Entwicklungs- und Stufenmodell von »Grenzgebieten« zu interpretieren, sondern als Versuch einer Typenbildung von »Grenzgebieten« zu werten, wobei sich einzelne Typen durchaus überschneiden und ineinanderschieben können.13 Einen ersten Typus möchte ich als die »faktisch geschlossene Grenze« bezeichnen, die ein Grenzgebiet schafft, in dem grenzübergreifende Interaktionen, wenn überhaupt, nur sehr schwer möglich sind. Die beiderseits der Grenzlinie lebenden Menschen nehmen sich nicht nur als die jeweils »Anderen« wahr, sondern sogar als Feinde, oder sie werden als solche durch publizistische Kampagnen und politische Propaganda dargestellt. Verbunden damit entstehen tiefgreifende und nachhaltige Effekte von Misstrauen und Entfremdung. Etwaige Minderheiten verstecken sich, praktizieren Methoden der Mimikry und wollen so als »den Anderen zugehörig« nicht wahrgenommen werden. Völlig undurchlässig und hermetisch abgeschlossen sind solche Grenzen allerdings nie. Neben den sehr restriktiv gehaltenen legalen Überschreitungsmöglichkeiten spielen Schmuggel, Fluchtversuche, aber auch Bemühungen sozialer Kontaktaufnahmen eine wesentliche Rolle. Ein zweiter Typus kann mit dem Schlüsselwort »Koexistenz« gekennzeichnet werden. In den grenzüberschreitenden bzw. -übergreifenden Beziehungen werden auf of12 Vgl. u. a. Peter Haslinger (Hg.), Grenze im Kopf. Beiträge zur Geschichte der Grenze in Ostmitteleuropa, Frankfurt a. M. 1999. 13 Vgl. Hans Knippenberg/Jan Markusse, 19th and 20th Century Borders and Border Regions in Europe. Some Reflections, in: Dies. (Hg.), Nationalising and Denationalising European~Border Regions, 1800– 2000. Views from Geography and History, Dordrecht 1999, 12f.

Aspekte zum Thema »Grenzen – Grenzziehungen« aus regionalgeschichtlicher Perspektive

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fizieller Ebene Erleichterungen ausverhandelt und es tritt eine gewisse Stabilisierung ein. Davon ausgehend entwickeln die Menschen im »Grenzgebiet« in den Praktiken des Alltags mehr Austausch, Kommunikation und Kooperation über die Grenzlinie hinweg, wenn auch unter Umständen vorwiegend aus pragmatischen Gründen. Für den steirisch-slowenischen »Grenzraum« kann dafür das (Bad) Gleichenberger Abkommen von 1953 mit seinen Auswirkungen als signifikant bezeichnet werden. Eine dritte Charakterisierung geht vom Begriff Interdependenz aus. Wirtschaftliche, soziale, kulturelle Komplementaritäten werden genutzt und führen zu verstärkten grenzüberschreitenden Interaktionen in Form von Arbeitsmigration und der Durchführung von Arbeitsaufträgen, im Konsumverhalten, bei Investitionen und Kapitalanlagen, in Kooperationen von Vereinen, Schulen und anderen Einrichtungen. Bemerkenswert erscheint darüber hinaus, dass über bürokratisch-administrative Regelungen hinweg, die normieren, was erlaubt ist und was nicht, etwa bei den Feuerwehren, bei der Rettung, im landwirtschaftlichen Bereich situativ bedingt Kooperationen und Interaktionen durchgeführt werden; Indikatoren dafür, dass »Grenzlinien« zwar als »Trennlinien« erlebt, aber als solche nicht vorbehaltlos hingenommen und akzeptiert werden. Der Begriff der »Integration« steht im Mittelpunkt einer vierten Charakterisierung von »Grenzgebieten«. Die formelle zwischenstaatliche Grenze, deren Verlauf in der Vergangenheit immer wieder strittig gewesen sein konnte, ist kein Thema mehr. Freier Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr, intensive Kooperationen im institutionell-bürokratischen und rechtlichen Bereich etc. lassen das Vorhandensein von »Grenzen« in der alltäglichen Mobilität und Kommunikation nicht mehr erkennen. Die bereits erwähnte Region am Oberrhein mag für diesen Typus als ein mögliches aktuelles Beispiel dienen. Daran schließt sich ein möglicher fünfter Typus an, der als ein »pseudo-integriertes Grenzgebiet« bezeichnet werden kann. Ein solches »Grenzgebiet« weist hinsichtlich der grenzübergreifenden politisch-institutionellen Kooperationen und Einrichtungen, der rechtlich unbehinderten Mobilität und Arbeitsmöglichkeiten, der Kommunikation etc. alle Kennzeichen einer »integrierten Grenzregion« auf. Dennoch zeigen sich in den Praktiken und Begegnungen des Alltags wie auch in den Ritualen der institutionalisierten Zusammenarbeit Barrieren und Distanzen. Damit sind nicht andere Mobilfunk-Netze gemeint, die sofort nachhaltig bemerken lassen, dass trotz aller Unsichtbarkeit eine »Grenze« passiert wurde. Es geht vielmehr um Manifestationen im Sprechen über »Grenzen« und Begrenzungen, um Handlungs-, Erinnerungs-, Denkund Argumentationsmuster, die aus historischen Phasen stammen, als die Grenzen in einer Region noch einen trennenden, wenig durchlässigen und passierbaren Charakter hatten und für die Definition des »Eigenen« und des »Anderen« von erheblicher Relevanz waren. Der Terminus »Integration« ist im öffentlichen Sprachgebrauch aber entschieden positiver besetzt als jener der »Grenze«. Bloß zahlreiche Texte von

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Eduard G. Staudinger

Hymnen betonen – oft auf drastische Weise – »Grenzen« als konstitutiv für jeweilige Identitäten. Ein abschließender sechster Typus schließlich bezieht sich auf Grenzen und Grenzerfahrungen, die in das Innere umgrenzter Territorien verlagert werden. Ich denke dabei in erster Linie an internationale Flughäfen. Zum einen bestehen bereits grenzübergreifend gemeinsame Nutzungen von Flughäfen wie Basel und Mulhouse bzw. Aachen und Maastricht oder es stehen solche in Planung wie im Fall von Wien und Bratislava. Zum anderen sind Flughäfen konkrete Orte, wo in engen Räumen und Gängen mit vielen Türen und Schaltern sehr unmittelbare Wahrnehmungen und Erfahrungen von Grenzen, Abgrenzungen, Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten gemacht werden. Im Flugzeug saß man noch nebeneinander. Auf dem Weg zur Passkontrolle trennten sich die Wege.

Rainer Guldin

Trennender Graben und verbindendes Band Zur topografischen Ambivalenz von Flüssen »Der scheinet aber fast Rückwärts zu gehen und Ich mein, er müsse kommen Von Osten.« Friedrich Hölderlin, Der Ister

Wenn man das Topografische als Ausgangspunkt der Betrachtung wählt, kann man Flüsse grundsätzlich zweifach sehen, je nachdem, ob man sich dabei auf das Trennende oder Verbindende bezieht.1 Der Flussverlauf verknüpft nicht nur Anfang und Ende, Quelle und Mündung, was Anlass zu zahlreichen mythenbildenden Interpretationen war, auch die einzelnen, vom Fluss berührten Gebiete werden durch den Strom, Perlen vergleichbar, aufgefädelt und so zusammengeführt. Zwei Richtungen mit entsprechenden metaphorischen Konnotationen sind dadurch gegeben: flussaufwärts und flussabwärts. Die beiden Bewegungsvektoren scheinen einander auszuschließen, weisen aber bei näherer Betrachtung, wie dies Simone Vierne hervorhebt,2 eine grundlegende Verwandtschaft auf, die mit einem schöpferischen Traum zu tun hat: dem Traum, den richtigen Weg wiederzufinden. Mehr noch : Die beiden Richtungen verneinen einander und gehen doch stets ineinander über. Wer den Weg zur Flussmündung verfolgt, legt unwillentlich den Weg zur Quelle zurück. »Er hat zum Schöpfungsmoment zurückgefunden und den langen Weg zurückgelegt, der zum Ursprung des Wassers führt. Auf den existentiell erfahrenen Abstieg folgt somit eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Flußlaufes […], man kann dem Fluß auf seinem Weg zum Meer nicht folgen, ohne zugleich den Wunsch zu hegen, an seine Quelle zurückzukehren.«3

1 Vgl. dazu J. F. Bergier, Montagnes, Fleuves, Forets dans l’histoire. Barrières ou lignes de convergence ?/ Berge, Flüsse, Wälder in der Geschichte. Hindernisse oder Begegnungsräume?, St. Katharinen 1989. 2 Vgl. S. Vierne, Remonter ou descendre le fleuve? De Jules Verne à Le Clézio, in: Le fleuve et ses metamorphoses, Actes du Colloque International tenu à l’Université de Lyon 13.–15 Mai 1992, hg. v. François Piquet, Paris 1993, 385–389. 3 C. Foucart, Le fleuve: trésor aux multiples mystères, in: Le fleuve et ses metamorphoses, hg. v. Piquet, 379.

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Wer den Fluss auf seinem Weg zum Meer begleitet, verfolgt »die gute Richtung«, wie Gaston Bachelard in seinem L’eau et les rêves zu Beginn festhält : »die Richtung des fließenden Wassers, des Wassers, welches das Leben anderswohin führt.«4 Dem natürlichen Dahinfließen des Stromes wird eine Art moralischer Überlegenheit attestiert und daraus ein Bild der Reifung abgeleitet : Der Fluss wird wie eine Person an der Quelle gezeugt, wächst und wird breiter auf seinem Weg zum Meer, in dem er sich wieder auflöst.5 Ein Flusslauf ist immer »auch so etwas wie ein Lebenslauf«6 und das endlose Strömen der Fluten ein Zeichen des unaufhaltsamen Vergehens der Zeit. Aus diesem Grund kann die Suche nach der Mündung für einen impliziten Todeswunsch stehen, ein Verlangen nach endgültiger Fusion in der mütterlichen Matrix, im Wahnsinn und Vergessen, wie dies zum Beispiel in Rimbauds Gedicht Le bateau ivre oder Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes zum Ausdruck kommt. Wer sich dem Strömen des Flusses hingibt, vollzieht auch eine unweigerliche Abstiegsbewegung, bei der es um Verlust und Verrat geht, begibt er sich doch auf eine Reise, die vom reinen, unvermischten Quell hinab in die Niederungen des Promisken führt. Jede Suche nach der Quelle ist eine Suche nach den unverfälschten Ursprüngen, ein initiatorischer Aufstieg ins Geheime und Verborgene. Wer zur Quelle will, um den Ursprung der Dinge zu ergründen, kann nicht mit dem Strom, sondern muss gegen ihn schwimmen. Simone Vierne beschreibt diese Rückkehr als Suche nach einer unbekannten Vaterschaft und setzt sie somit von der mütterlichen Mündung des Meeres ab. Der Held, der den Wasserlauf hinaufsteigt, ist durch den unvernünftigen Wunsch beseelt, den Zeitfluss nicht nur zu verneinen, sondern umzudrehen, um dadurch Zugang zur Unendlichkeit zu erlangen. Die Suche nach den Quellen kann auch für eine symbolische Suche nach den allerersten mythischen Anfängen der Zivilisation7 stehen. Dies gilt zum Beispiel für die sagenumwobenen Anfänge des Nils, die schon in Herodots Historien eine Rolle spielen. Der Ausspruch fontes Nili quaerere – sich auf die Suche nach den Quellen des Nils machen – stand in der Antike für ein unmögliches Unterfangen. Innerhalb dieses von Mythen besetzten Kontexts ist auch die Reise Richard Francis Burtons und John Hanning Spekes8 anzusiedeln, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu den großen Seen reisten, um die noch immer unbekannten Quellen des Nils ausfindig zu machen. Am 13. Februar 1858 entdeckten sie den Tanganjikasee, den Burton für die Quelle des Nils hielt. Nachdem sie sich getrennt hatten, entdeckte Speke am 3. August jedoch 4 G. Bachelard, L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matiere, Paris 1993, 15. 5 Vgl. dazu auch M. Albus, Alles fließt. Der Fluss als Lehrer des Lebens, in: Ost-West. Europäische Perspektiven, 5. Jg. 2004, Heft 3, 164–170. 6 B. Setzwein, Die Donau. Eine literarische Flußreise von der Quelle bis Budapest, Stuttgart 2004, 7. 7 Zur umstrittenen Quelle der Donau vgl. C. Magris, Donau. Biographie eines Flusses, München 1988, 18 ff. 8 Vgl. dazu S. Schama, Landscape and Memory, New York 1996, 374 ff.

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den Viktoriasee, den er nun wiederum als Quellsee des Nils ansah. Heute gilt der 1893 von Oscar Lenz und Oscar Baumann entdeckte, in Burundi dem gleichnamigen Berg entspringende Luvironza als Quellfluss des Nils. Rückt das Trennende von Flüssen in den Vordergrund, erscheinen sie als Furchen und Gräben, welche die Gebiete, die sie durchlaufen, durchschneiden und voneinander trennen. Diese trennende Tendenz wird durch spezifische Geländeformationen wie Stromschnellen, Cañons oder Sumpfstreifen noch zusätzlich verstärkt. In diesem Zusammenhang weist Lucien Febvre in seinem 1922 zuerst erschienenen La terre et l’évolution humaine. Introduction géographique à l’histoire auf ein grundsätzliches theoretisches Vorurteil hin. Da Nationalstaaten oft als Individuen beschrieben werden, liegt es nahe, nach deren Grenzen zu fragen, deren geometrisch definierbaren Formen. Selbst heute noch werden Staaten zuerst einmal durch ihre Grenzen zu anderen politischen Gebilden definiert. Bergketten und Flüsse spielen dabei eine wesentliche Rolle. »Ihre Bedeutung ist nicht vorübergehend und relativ. Es sind nicht einfach Demarkationen, sondern ›natürliche‹ Grenzen. Im Wort ›natürlich‹ ist eine ganze Geschichtsphilosophie zusammengefaßt. Wer von natürlichen Grenzen spricht, meint prädestinierte Grenzen – ein Ideal, das es gilt zu erobern und zu verwirklichen. Zwischen den Grenzen und den natürlichen Grenzen gibt es oft einen irritierenden Unterschied. Er wird verschwinden. Er muß verschwinden. […] Es ist erstaunlich, feststellen zu müssen, daß praktisch alle Begriffe der physischen Geographie einmal durch die Vorstellung der Grenze bedingt waren. Berge waren nichts anderes als schwer zu bezwingende hohe ›Ketten‹, die sich zwischen die einzelnen Länder lagerten, wie göttlich gewollte Mauern. Einfaches Hindernis oder Mauer, Berge wurden nie als solche studiert; es waren Grenzen und nicht eigenständige Regionen.«

Dasselbe gilt weitgehend für Flüsse, die seit der Antike zusammen mit den Bergmassiven den Staaten ihre natürlichen Grenzen aufzuerlegen schienen.9 »Man muß nur den Beginn des ersten Buches von Caesars Kommentaren nachschlagen, Flüsse werden immer als Grenzen angeführt : ›Gallos ab Aquitanis Garumna flumen, a Belgis Matrona et Sequana dividit.‹ Und was die Germanen angeht, so weiß man, daß es diejenigen sind, die ›trans Rhenum incolunt‹, eine berühmte Behauptung, die in der Vergangenheit viel Blut fließen ließ […].«10 Der erste Eindruck, der sich einem darbietet, wenn man einem Fluss begegnet, ist tatsächlich der eines Hindernisses : Flüsse legen sich quer. Ihre Breite steht da9 Vgl. dazu H. D. Schulz, Natürliche Grenzen als politisches Programm, in: Claudia Honegger u. a. (Hg.), Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie … in Freiburg im Breisgau, 1998, Teil 1, 328–343. 10 L. Febvre, La terre et l’évolution humaine. Introduction géographique à l’histoire, Paris 1949, 359 ff.

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bei nicht so sehr für eine unüberbrückbare Trennung als für eine Herausforderung, diese zu bezwingen. Furtübergänge und Flussverengungen laden gerade dazu ein, mit Fähren, Booten oder Brücken überwunden zu werden. Dadurch entwickelt sich eine weitere metaphorische Dimension von Flüssen, welche das Übersetzen, Hinübersetzen und die Vorstellung zweier unterschiedlicher Ufer in den Mittelpunkt rückt und zu einer ebenso reichhaltigen mythischen und metaphorischen Tradition geführt hat wie die Spannung zwischen Quelle und Mündung. Noch heute steht der Cäsar zugeschriebene Ausdruck »den Rubikon überschreiten« dafür, sich unwiderruflich auf eine riskante Handlung einzulassen, aus der es kein Zurück mehr gibt. Das symbolträchtige Überwinden eines Grenzflusses spielt auch in der griechischen Mythologie beim Eintritt ins Totenreich ein Rolle. Die Seelen der Verstorbenen gelangten an den Styx, den Fluss der Unterwelt, und wurden dort vom Fährmann Charon empfangen, der sie gegen Bezahlung eines Obolus auf die andere Seite führte.11 Besonders bedeutsam ist die Verwendung der Metapher beim Vorgang des Hin- und Herübersetzens zwischen zwei sprachlichen Ufern, wobei der jeweilige Ausgangs- und Ankunftsort die hinübergetragenen Worte nachhaltig verändert. Dem zweifachen Fließen des Flusses von der Quelle zum Meer und zu den Quellen zurück entspricht hier somit eine ähnliche Zweifaltigkeit des Kommens und Gehens. Trotz der hier festgestellten Differenz implizieren die trennende und die verbindende Perspektive einander und lassen sich vielfach kombinieren. Längere Flüsse zerfallen in einzelne, deutlich voneinander gesonderte Abschnitte, wodurch die im Grunde genommen verknüpfende Funktion von Flussläufen aufgrund unterschiedlicher territorialer Gegebenheiten in ihr Gegenteil umschlägt, was zu markanten regionalen Unterschieden führen kann. Untersucht man den Verlauf des Rheins, so bietet sich einem nicht ein durchgehend Homogenes, sondern eine Reihe von heterogenen Teilstrecken. »Statt Einheit gibt es Vielfalt, also jeweils unterschiedliche Sektionen eines riesigen Stromes, wobei sich jedes Teilstück dem Alter und dem Ursprung nach unterscheidet […]. Worin besteht überhaupt die Gemeinsamkeit, vom Namen abgesehen, zwischen dem reißenden Fluß, der wie ein Fremder zwischen Basel und Straßburg durch die Länder strömt […] und jenem mächtigen Rhein, der zwischen Köln und der Nordsee eine ganze Landschaft prägt? […] So gibt es zwar einen Rhein als Ganzen, wenn man sich vereinigen will – aber auch mehrere Rheine, wenn man sich abgrenzen oder bekämpfen will. Mehrere Rheine, die manchmal verbinden und manchmal trennen. Mit anderen Worten : zwei Welten.«12 11 Vgl. dazu M. Cariou, De la sagesse des métaphores fluviales, in: Le fleuve et ses metamorphoses, hg. v. Piquet, 40. 12 L. Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, Frankfurt a. M./New York 2006, 28 f.

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Umgekehrt kann die Präsenz eines Flusslaufes integrierend wirken, vor allem in bergigen Regionen. Hier ist die Gegenwart eines die Landschaft zerteilenden Flusses durch Intensivierung kulturellen und wirtschaftlichen Austausches grundsätzlich verbindend. Die Existenz zweier Ufer setzt eine Austauschdynamik in Gang, die diejenige von Quelle und Mündung ergänzt und durchquert. Wie die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen werden, hat die grundlegende Ambivalenz von Verbindung und Trennung unter anderem zur Folge, dass derselbe Fluss je nach historischen und geopolitischen Dispositionen einmal als Grenze, dann aber wieder als verbindendes Band erfasst werden kann und dass ein stetes Schwanken zwischen diesen zwei Positionen auszumachen ist. Die Elbe hat wegen des über Jahrhunderte hinweg gepflegten, gemeinschaftlich geführten Deichbaus in der Mündungsgegend13 gerade aufgrund ihrer trennenden Kraft stark verbindend gewirkt, während zur gleichen Zeit auf der Strecke zwischen Lauenburg und Schnackenburg, wo bis 1989 die innerdeutsche Grenze verlief, der Fluss zeitweise als Symbol der Trennung erlebt wurde.14 Jahrzehntelang wurde gestritten, ob die Grenze in der Mitte des Flusses oder am rechten Ufer verlief. So kam es 1966 zu einer gefährlichen Eskalation, als die DDR ein Peilboot einsetzte, um Echosondierungen vorzunehmen, die ermitteln sollten, wo der Flusssand die Fahrrinne verengte. Denn dazu musste der Fluss in der gesamten Breite befahren werden. Darüber hinaus kann man auch Beispiele einer spannungsgeladenen Gleichzeitigkeit von Trennung und Verbindung ausmachen, wobei das eine aufgrund historischer Veränderungen in sein Gegenteil umschlagen kann. Dies ist oft bei Doppelstädten15 der Fall. Da sie zumeist an Flüssen, oft auch an Grenzflüssen gelegen sind, gehören sie zwar in denselben geografischen und historischen Kontext, belegen aber entgegengesetzte Ufer, was je nach historischem Kontext eher trennend oder verbindend wirken kann. Manchmal wachsen Doppelstädte endgültig zusammen, wie im Falle von Buda und Pest, oder ihr Verhältnis kann von Konkurrenz in Partnerschaft übergehen, wie im Falle einer ganzen Reihe von Städten im Osten Europas nach dem Sturz der kommunistischen Regimes. Bevor ich diese topografische Ambivalenz und einige der damit verbundenen geopolitischen Folgen am Beispiel der Geschichte des Rheins und der Donau untersuche, möchte ich Carl Cherubims Inauguraldissertation Flüsse als Grenzen von Staaten und Nationen in Mitteleuropa. Ein Beitrag zur Anthropogeographie16 aus dem Jahr 1897 unter-

13 Vgl. dazu N. Fischer, … das Alles, das sich selbst enthält. Flusslandschaften aus interdisziplinärer Perspektive, Typoskript. 14 Für diesen Hinweis danke ich Norbert Fischer. 15 Vgl. dazu H. Schultz (Hg.), Stadt – Grenze – Fluss. Europäische Doppelstädte, Berlin 2005. 16 C. Cherubim, Flüsse als Grenzen von Staaten und Nationen in Mitteleuropa. Ein Beitrag zur Anthropogeographie, Halle 1897.

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suchen, der eine evolutionistische Lektüre der hier zur Diskussion stehenden fluvialen Ambivalenz vorschlägt. Die Anthropogeografie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Mensch und Raum und geht dabei, wie Cherubim zu Beginn festhält, von »geschichtlichen und geographischen Tatsachen zusammen«17 aus. Dabei geht es darum, die aus der geografischen Natur abgeleiteten trennenden Eigenschaften von Flüssen auf ihre Richtigkeit an den historischen Erfahrungen zu überprüfen. Cherubim führt drei wesentliche Punkte an. »Flüsse sind geeignet, staatliche und nationale Scheiden zu bilden in ihrer Eigenschaft als Verkehrshemmnisse ! Dies tritt in erhöhtem Grade dann ein, wenn der Fluß durch jähe Stromgeschwindigkeit, Felsriegel oder Versandung die Schiffahrt unmöglich macht.« Als Beispiele führt Cherubim den untersten Teil der Donau, die »mit ihrem breiten Morastgürtel auf der linken Seite, gegenüber dem Steilabfall des rechts gelegenen Randes […] seit jeher eine zähe Staaten- und Völkergrenze war«.18 Auch der obere Teil des Rheins in der oberrheinischen Tiefebene habe bis in die jüngste Vergangenheit hinein trennend gewirkt. Hier klingt implizit schon die deutschnationale Wendung von Cherubims Argumentation an, auf die ich noch zu sprechen komme. »Flüsse«, so Cherubim, »sind aber schon Verkehrshemmnisse – wenngleich nur in sekundärem Grade – durch ihren einfachen Wasserlauf. […] Dies gilt naturgemäß da am meisten, wo die Wassermasse am stärksten ist, d. h. im Unterlauf der großen Ströme.« Bergflüsse unterscheiden sich dabei von Flüssen im Flachland insofern, als dort das Terrain »sich nach der Mitte« senkt und die daraus resultierende Beckenform zu einer »konzentrierte[n] Einigung« führt. Der Fluss bietet sich unter diesen Umständen für Verkehr und Ansiedlungen gleichermaßen als »natürlichste Straße«19 an. Beispiele dafür kann man in den Tälern des Hochgebirges finden, deren Flüsse meist genau in dem Moment, wo sich das Tal deutlich erweitert, trennende Auswirkungen herbeiführen können. »Dieselbe Regel […] gilt auch für die Muldenländer. In der tiefsten Senke vom Strom durchflossen, rings von Randhöhen ummauert, bilden sie eine Landschaftseinheit, stellen sie also gleichsam ein erweitertes Gebirgsthal dar.«20 Der zweite Punkt betrifft die strategische Funktion von Flüssen. Dabei ist eine »möglichst gerade Richtung«, die in einem rechten Winkel zum bedrohlich andrängenden Heer oder kriegerischen Volk zu liegen kommt, entscheidend. »Denn beides vereint macht erst den Wassergraben zum Schutze recht brauchbar.«21 Cherubim diskutiert diesen Aspekt vor allem in Hinblick auf die Vermischung von Völkern, die in erstaunlicher Umkehr zu stürmischen Flüssen werden, die sich an den fluvialen 17 18 19 20 21

Ebd., 5. Ebd., 6. Ebd., 8. Ebd., 10. Ebd., 11.

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Mauern brechen und zum Stillstand kommen. Auch hier sind Anklänge an europazentrische Positionen nicht von der Hand zu weisen. »In der rumänischen Tiefebene brandeten fast stets die letzten Wogen der Völkerfluten aus der weiten nordöstlichen Steppenflur an der hemmenden sumpfigen Niederung des mächtigen Stromes.« Diesem das Land senkrecht durchfurchenden Schutzwall, »dieser Landwehr also dankt die heutige Bewohnerschaft vor allem den Bestand ihrer Volksart. […] Darin finden wir eben die Hauptbedeutung der Flußgrenzung, daß sie diesen Völkerschutz – den auch Gebirgsmauern, und an sich wirksamer gewähren – in der strategisch so viel wichtigeren Form einer bestimmten geraden Linie leistet!«22 Der dritte Grund, der eigentlich aus dem zweiten abgeleitet werden könnte, betrifft den »Vorzug der gegebenen bestimmten Linie, der den Flüssen allein eigen ist.«23 Die Schwäche dieser Form der Argumentation liegt nicht so sehr in der mangelnden theoretischen Ausdifferenzierung der drei Momente wie in ihrer Einseitigkeit. Geht doch Cherubim in seiner Analyse nur scheinbar auf das Widerspiel von geografischen und historischen Bedingungen ein. Es wird vielmehr eine Natürlichkeit suggeriert, die dann im Historischen ihre Bestätigung findet. Dasselbe ließe sich für die Einseitigkeit des Blickpunktes sagen. Wie viel reichhaltiger und flexibler eine Argumentation sein kann, die von der hier diskutierten Ambivalenz ausgeht, beweist Lucien Febvres Geschichte des Rheins, auf die ich im Folgenden noch zu sprechen komme. Der zweite Teil der Arbeit ist der Frage nach der Dauerhaftigkeit von Flussabgrenzungen gewidmet. »Grenzen sind an sich etwas Fließendes,«24 hält Cherubim zu Beginn fest, was für Flüsse gleich in zweifacher Hinsicht zutrifft. »Es fragt sich, stellen die Flüsse derartig entschiedene Spalten in der Erdoberfläche dar, daß sie auch überschritten, mit der Zeit stets wieder als Scheiden der Menschheit zur Geltung kommen !« Cherubim versucht diese Frage anhand der geopolitischen Situation der deutschen Hauptströme am Ende des 19. Jahrhunderts zu beantworten und unterlegt seiner Analyse einen evolutionistischen Standpunkt. Dabei nimmt sein deutschnational inspiriertes Projekt explizite Formen an. Er stellt fest, dass keiner der deutschen Hauptströme, abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen, zum Beispiel der untersten Donau, als nationale oder staatliche Grenzen primärer Ordnung dienen. Dennoch haben große und kleinere Flüsse ihre Rolle als untergeordnete Grenzlinien bewahrt. »Die Bedürfnisse des gesteigerten Verkehrs«, folgert Cherubim, »drängen darauf hin, die trennende Wirkung der Stromlinien zu überwinden ! Denn diese trennende Natur, ist gewissermaßen das kleinere Übel zu den […] verkehrsfördernden Eigenschaften der Ströme. 22 Ebd., 17. 23 Ebd., 18. 24 Ebd., 19.

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[…] Anfangs, bei niedriger Kultur der umwohnenden Menschheit, überwiegen die trennenden Eigenschaften. Die sich zunächst praktisch äußernden Schwierigkeiten der Stromüberschreitung lassen ein Volk oft auf lange Zeit in seiner Wanderung an der einen Stromseite Halt machen, oder doch – wenn überschritten – einen Gegensatz zwischen beiden Ufern entstehen. […] Aber ›eine höhere Kultur, eine gesteigerte Verkehrskraft, die Fortschritte der mechanischen Erfindungen‹ befähigen die Menschheit, sich von diesem primitiven trennenden Einfluß der Stromlinien frei zu machen ! […] und nun tritt die verbindende Kraft des Flusses ungehindert in ihr Recht und bringt den Stromlanden das ihnen von der Natur zugedachte, nur der Unkultur gleichsam verschleierte Geschick der Vereinigung!«25

Hier spricht eine vermeintlich kulturtheoretische und für technische Fortschrittlichkeit eintretende Argumentation letztlich einer expansionistischen Eroberungspolitik das Wort. Die Donau und vor allem der Rhein nach 1871 sind tatsächlich »deutsche« Flüsse geworden und sichern als solche den Verkehr und Austausch im Innern der beiden Reiche. Die langsame kulturstiftende Umwandlung von der Grenze zum Bindemittel lässt sich, so Cherubim weiter, an der Geschichte des Rheins ablesen, die »erst seit dem letzten deutsch-französischen Kriege im großen Ganzen beendet« ist. »Seit 25 Jahren ist auch das letzte Stück Rheinlaufes als deutsch-französische Grenze verschwunden. Und jetzt […] wurde der Rhein ein schönstes Beispiel inniger Verbindung der Stromseiten in Volkswirtschaft und Verkehr!«26 Wie im Folgenden noch gezeigt werden soll, war der Rhein eine hoch integrierte Kulturzone lange vor der Gründung des deutschen Reiches unter Bismarck. Ein ähnlicher Prozess, so Cherubim, lässt sich auch im Zusammenhang mit der Geschichte der Donau feststellen. »Die Donau, einst die große Scheidelinie zwischen den Ländern rechts und links, ist jetzt vielmehr der eigentliche Verbindungsstrom, die Lebensader der österreichisch-ungarischen Monarchie geworden !« Die geopolitische und verkehrstechnische Geschichte eines Flusses lässt sich daher anhand der Dualität von Trennung und Verbindung erfassen, wobei den beiden Polen zugleich die Extrempunkte der Entwicklung zugeschrieben werden: Hier die unkultivierten in der Trennung lebenden Völker auf einer tieferen Entwicklungsstufe, dort die höheren Stadien der Kultur im Zeichen der Vereinigung. Cherubim nennt es »die primitive Trennungskraft des Flusses«.27 Diese Entwicklung ist zwar durch ein schwankendes Hin und Her zwischen Trennung und Verbindung gekennzeichnet, am Ende aber setzt sich naturgemäß die vereinigende Tendenz durch: So »steigt mit der Kultur der Anwohner die Überwindung der widerstrebenden Natur«.28 25 26 27 28

Ebd., 20 f. Ebd., 22 f. Ebd., 24. Ebd., 22.

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Cherubims polarisierende und vereinfachende Verwendung der in sich untrennbaren Gegensätze dient zugleich implizit als Grundlage imperialistischer Ansprüche im Osten Europas. »Im allgemeinen können wir feststellen – zufolge dem dargestellten Entwicklungsgang –, daß die Grenzbedeutung der Flüsse häufiger im unkultivierten Osten Mitteleuropas sich erhalten hat, als im kultivierten Westen.«29 Dies mündet in ein enthusiastisches Schlusswort : »(…) jede Nation, jedes Volk [hat] den Beruf, die Grenzen, die es in der Schwäche seines Kindheitsalters beengten, zu erweitern und den Beruf auszufüllen, der ihm in seinem Wohnraum bestimmt ist, wenn es sich als tüchtig bewährt.«30 Der Rhein und die Donau haben in ihrer Geschichte sowohl als Grenze wie auch als Verbindung gewirkt. Weder kann man von einer einseitigen Vorherrschaft des einen Aspektes gegenüber dem anderen sprechen, noch deren Verhältnis in evolutionistischen Begriffen erklären, wie dies Cherubim tut. Die beiden Perspektiven sind stets gleichzeitig zu denken und lassen sich kaum voneinander trennen. Dennoch hat sich im Laufe der Zeit und vor allem seit dem 19. Jahrhundert im Zuge nationalistischer Überlegungen so etwas wie ein privilegierter Blickwinkel auf die beiden Flüsse herausgebildet, der bis heute deren Bild prägend beeinflusst. Ein Beispiel dafür findet sich in Lothar Zögners Flüsse im Herzen Europas. Rhein – Elbe –Donau. Im Vorwort begründet Zögner die Konzeption der Ausstellung, aus der das Buch hervorgegangen ist, damit, man habe jeweils einen thematischen Schwerpunkt finden wollen. Es sei versucht worden, »für jeden der drei großen Flüsse eigene Akzente zu finden, Vorstellungen, die sich spontan [sic !] mit dem jeweiligen Fluß verbinden«. Für den Rhein wurden die Stichworte »Grenzfluß und Verkehrsverbindung« und für die Donau »Völker und Staaten«31 ausgewählt. Damit sind die beiden klassischen Interpretationsmuster genannt. Der Rhein als trennende Grenze und die Donau als verbindendes Band. Dass der Rhein über längere Zeiten hinweg stark integrierend gewirkt hat und dies besonders heute innerhalb der EU wieder tut32, und dass die Donau auch immer wieder zu Trennungen Anlass gab, ja, dass diese beiden Aspekte nicht nur nacheinander, sondern oft auch nebeneinander herlaufen, kurz, dass ein Aspekt den anderen in sich enthält und dies Teil der grundsätzlichen Ambivalenz von Flüssen als geografischen Gegebenheiten und historisch-kulturellen Konstrukten darstellt, sollen die nun folgenden Überlegungen zeigen.

29 Ebd., 23. 30 Ebd., 27. 31 L. Zögner, Flüsse im Herzen Europas. Rhein – Elbe – Donau, Kartenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Berlin 1993, 5. 32 Vgl. dazu R. Hahn, Auf dem Weg zu einem europäischen Zentralraum, http://www.buergerimstaat. de/2_00/rhein09.htm.

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Lucien Febvre verfasste Der Rhein und seine Geschichte Anfang der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Der damalige historische Kontext hat sich auf entscheidende Art und Weise in den Text eingeschrieben. Es ist ein zukunftsträchtiger Text, wenn man an die gegenwärtige historische Konjunktur eines zusammenwachsenden Europas denkt. Die Rhein-Region vereinte stets die »Vorzüge eines Territoriums, das als Kontaktzone und Verkehrsknotenpunkt fungierte […] Statt dessen haben sich [die Historiker] darauf beschränkt, den Rhein als Grenze zu betrachten, die man besetzen oder bewahren muß […]. Die Geschichte des Rheins erhält (dadurch) einen zwangsläufigen und fatalen Charakter […]«.33 Aus diesem Grund ist Febvres Buch vor allem der Versuch einer radikalen Entmythologisierung, die dadurch erreicht wird, dass man vorerst einmal all jene Ereignisse zusammenstellt, die der Geschichte des Rheins als reiner Abfolge von Konflikten und Grenzstreitigkeiten widersprechen, ohne dabei jedoch die trennenden Momente einfach negieren zu wollen. Es geht um die Infragestellung einfacher und bequemer Interpretationsraster, die eine im Grunde genommen viel komplexere und widersprüchlichere Realität begrifflich zu bezähmen versuchten. »Als Mittler zwischen Nordsee und südlichen Ländern – so sehen wir heute instinktiv den Rhein. Und die Geschichte scheint uns darin zu bestätigen. Aber bildet er nicht zugleich auch einen Graben zwischen dem peninsularen Europa und der übrigen Masse des Kontinents?«34 Ein Grundproblem bei Flüssen, so Febvre, ist deren Gleichsetzung mit einer Person, d. h. mit einer organisch gewachsenen Einheit. Dies hat zur Folge, dass deren geopolitische Konstruiertheit letztlich in den Hintergrund gerückt, wenn nicht gar völlig ausgeblendet wird. Flüsse besitzen einen von der Quelle bis zur Mündung durchgehenden einheitlichen Körper. Alle Zuflüsse, die sich in den Strom ergießen, werden von diesem geschluckt und hören damit auf zu existieren. Flüsse haben Arme. »Hier ist der Hauptarm, der eigentliche Strom; dort sind Hilfsarme, die vielen Nebenflüsse. Wer aber entscheidet, daß dies der Strom und dies die Nebenflüsse sind ? […] Zwar mag der Rhein ein Individuum sein, aber er ist kein von der Natur fertig hervorgebrachtes, sondern ein vom Menschen geformtes […].«35 Der Rhein,36 wie jeder andere große Fluss auch, wurde zuerst aus verschiedenen Strömen zusammengesetzt und daher anfänglich hauptsächlich aus der Perspektive des Verbindungsweges gesehen. Dies gilt besonders für die vom Rhein geleistete Verbindung von Norden und Süden, den Niederlanden und Venetien. Herodot spricht im Zusammenhang mit den Ländereien nördlich der Alpen noch nicht vom Rhein, jedoch vom »Istros«, der Donau, einem Strom, der mitten ins Zentrum der okzi33 34 35 36

Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, 9 ff. Ebd., 30. Ebd., 17. Für folgende Ausführungen vgl. ebd., 25 ff.

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dentalen Welt führt. Schon Dionys von Halikarnass hingegen erwähnt den Rhein als zweitgrößten Wasserlauf nach der Donau und weist ihm eine grundsätzliche Grenzfunktion zu. Er zerteilt die Länder der Kelten in zwei Gebiete, Germanien nach Osten hin und Galatien im Westen, das bis zu den Pyrenäen reicht. Cäsar nimmt im Zuge der militärischen Eroberung diese Vorstellung wieder auf. Von einem Verbindungsweg ist der Rhein somit zu einer politisch-militärischen Grenze geworden, einer Grenze jedenfalls, die immer wieder von größeren oder kleineren Völkerschaften durchbrochen und überwunden wurde. Tacitus beschreibt den Rhein deswegen auch als höchst poröse Trennungslinie. An gewissen Stellen nur, dort, wo er »noch ein festes Bett und als Grenzscheide genügt«37, fungierte er tatsächlich als politisch-militärische Demarkationslinie. Trotz dieser Betonung des Grenzaspektes war der Rhein bis zum zweiten Jahrhundert n. Chr. unter der Kontrolle der römischen Obrigkeit, deren kultureller Einfluss sich auf beide Ufer des Stromes erstreckte. Dieser lag weitgehend im Schutze des Limes. Der Rhein war zur römischen Zeit somit zwar eine sprachliche und teilweise auch kulturelle Grenze, aber niemals eine unüberbrückbare Kluft. Die Unterschiede zwischen den beiden Kulturen waren »eher kolonialer, als nationaler Art«.38 Ein zweiter historischer Moment, in dem der Rhein im Zentrum eines integrierten Territoriums stand, als dessen Herzstück sozusagen, ist die Zeit der großen rheinischen Kirchenprovinzen zu Beginn des elften Jahrhunderts. Der Rhein spielte hier die Rolle einer bewährten, wohlversorgten und nach verschiedenen Seiten offenen Basis, Drehscheibe für wirtschaftlichen Austausch und Ausgangspunkt für eine Rückeroberung aller deutschen Gebiete im Zeichen des christlichen Glaubens. Von Mainz ausgehend, sollte das gesamte Territorium mit einer von den Römern ererbten Verwaltungsstruktur überzogen werden. Der Geist des Rheins war stets ein kulturell mehrschichtiger, umfassend europäischer. Auf den römischen folgte somit ein germanischer Einfluss, der durch einen kirchlich-christlichen wieder überlagert wurde. »Der Rhein eine Grenze ? […] Eine Grenze, nein, aber eine Ausgangsbasis. Wie jede Basis lebt sie vom Austausch. […] Der Rhein gibt sich nicht damit zufrieden, eine Grenze zu sein, also etwas, das abseits, am äußersten Rand liegt : wie ein Saum oder irgendein Graben. Er will vielmehr Schmelztiegel sein. […] zu allen Zeiten war der Rhein auch ein brüderlicher und rezeptiver Rhein, niemals feindlich und borniert.«39

Das eigentliche Drama des Rheins als Grenze beginnt grundsätzlich mit der Reformation und verschärft sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte. Dadurch wurde die 37 Tacitus, Germania, Stuttgart 1998, 24. 38 Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, 65. 39 Ebd., 92f.

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Vermittlerrolle, die er bis dahin stets gespielt hatte, durch die Grenzfunktion überlagert. Dasselbe Schicksal, zwischen zwei Kulturen hin- und hergerissen zu sein, widerfuhr auch dem Rheinland selbst, welches einmal von der einen und dann wieder von der anderen Partei besetzt wurde. Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts jedenfalls ist die Grenzrolle des Rheins noch geringfügig. Dies wird sich mit der Französischen Revolution verändern. Im Kapitel »Wie eine Grenze entsteht und vergeht« beschreibt Febvre die darauffolgende, hin und her schwankende geopolitische Entwicklung in zwei Etappen: vom Rhein als Grenze Frankreichs zum Rhein als Strom des französischen Kaiserreichs und vom Rhein als Grenze Deutschlands zum Rhein als deutscher Strom.40 Im Zuge der Napoleonischen Feldzüge wird der Rhein ins neu gewachsene Kaiserreich integriert. Forderten noch 1793 die Rheinländer selbst eine Ausweitung der französischen Republik bis an den Rhein mit Parolen, welche die Natürlichkeit dieser Grenze hervorhoben, so nahm die darauffolgende Generation die neue, französisierte Umgebung als gegeben hin. Als dann am 1. Januar 1814 Blücher den Rhein bei Kaub überschritt, wendete sich das Blatt. Ein vollkommener Frontwechsel fand statt: Die revolutionäre Einstellung wurde durch eine deutlich deutschnational ausgerichtete Gesinnung abgelöst. »Nein, der Rhein konnte und durfte nicht Deutschlands Grenze sein. Als Ausgangspunkt aller Deutschen sollte er eine Verbindungslinie sein – ein Ausgangspunkt deutscher Kultur.«41 Nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich 1870 und der Annexion Elsass-Lothringens wurde dieses politische Programm in die Tat umgesetzt. Fast der ganze Rhein war nun von Basel bis Emerich deutsch geworden. Der Rhein war nicht mehr »Teutschlands Gränze«, sondern »Teutschlands Strom« geworden, um den programmatischen Titel des 1813 von Ernst Moritz Arndt publizierten Buches aufzunehmen. Die weiteren Folgen sind nur allzu gut bekannt. Abschließend hält Febvre fest, der Rhein habe im Laufe der Zeit vor allem als integrierender territorialer Faktor gewirkt. Dies sei wohl seine bemerkenswerteste Eigenheit überhaupt gewesen, eine integrative Fähigkeit zu verbinden und zu versöhnen, die selbst von nationalistischen Leidenschaften nicht zum Verschwinden gebracht werden konnte. »Allerdings muß der Historiker darauf hinweisen, daß der Rhein die Menschen nicht immer nur miteinander verbunden, sondern gelegentlich auch getrennt und gespalten hat. Neben 40 Der Rhein avancierte zu einem doppelten, französischen und deutschen Nationalsymbol, als natürliche Grenze Frankreichs und als nährende Mitte und Herzschlagader Deutschlands (vgl. dazu M. Erbe, Der Rhein als Nationalsymbol, http://www.buergerimstaat.de/2_00/rhein02.htm sowie J. Smets, Der Rhein, Deutschlands Strom, aber Frankreichs Grenze. Zur Rheinmythologie in Frankreich und in Deutschland vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, hg. v. Heinz Günther Borck und Wolfgang Laufer, 24. Jg. 1998, 7–50). 41 Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, 175.

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der leuchtenden und fruchtbaren Wasserstraße gab es auch die blutige und unfruchtbare Grenze. […] Der These von der vorbestimmten Grenze kann allerdings weder eine Untersuchung der Vergangenheit noch eine Beobachtung der Gegenwart standhalten.«42

Vergleicht man Cherubims und Febvres Position, so fällt auf, dass ihre historische Argumentation gegenteilige Schwerpunkte setzt. Der ursprünglichen Trennung, die durch Zuwachs an Kultur aufgehoben wird, steht eine Vision gegenüber, die das Verbindende als Ausgangspunkt versteht, der durch Zerwürfnis und Krieg infrage gestellt wird. Beide Autoren geben dem verbindenden Moment den Vorrang, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Cherubim assoziiert die integrierende Funktion von Flüssen mit einem expansionistischen und nationalistischen Projekt, während Febvre, wohl auch aufgrund des unterschiedlichen historischen Kontextes, nationalistischen Gelüsten zutiefst misstraut und gerade darin den Ursprung von Grenzen sieht. Febvre verzichtet zudem auf eine evolutionistische Perspektive und geht davon aus, dass es immer wieder zu Umschwüngen von einem Prinzip zum anderen kommt. Hervorzuheben wäre hier allerdings noch, dass Trennung immer Verbindung und Verbindung immer auch Trennung impliziert. Es ist dabei gerade die Existenz unterschiedlicher Ufer, welche verbindende Austauschbewegungen in Gang setzt. Umgekehrt setzt die Betonung von Einheit in der Differenz unter gewissen Umständen eine Negation kultureller Unterschiede zugunsten eines Anspruchs auf Hegemonie voraus. Dies ist weitgehend der Fall bei den Mythen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts um die Donau herauszubilden beginnen. Geht es beim Rhein vor allem um einen Mythos der Trennung, aus dem sich, besonders in nachnapoleonischen Zeiten, nationalistische Einheitsgefühle speisen, so bildet sich im Zusammenhang mit der Donau, besonders nach dem Ausgleich von 1867 und der Verlagerung der Interessen des Hauses Habsburg nach Osten, eine komplementäre kollektive Erzählung heraus, die auf eine Integration des umfangreichen Vielvölkerstaates der Donaumonarchie abzielt, dessen Zweck es ist, regionale und kulturelle Ungleichgewichte zu überspielen. Die Donau spielt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich so etwas wie eine innerdeutsche komplementäre Rolle zum Rhein, die auf früheren Momenten der Mythologisierungen aufbaut. Claudio Magris fasst diesen Unterschied anhand des Nibelungenliedes zusammen : einerseits aufrichtige deutsche Tugend und ritterliche Kampfeslust, andererseits die diffuse orientalische Völkerflut, in der die deutschen Werte sich zersetzen und auflösen müssen. In dem Moment, in dem die Burgunder über die Donau setzen, ist ihr Verhängnis besiegelt. »In symbolischen Zusammenhängen erscheint die Donau häufig als das, was ›dem‹ Deutschen entgegengesetzt und feindlich ist ; sie ist der Fluß, an dessen Ufern die verschie42 Ebd., 186.

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Rainer Guldin

densten Völker sich begegnen und vermischen, ganz anders als der Rhein, der mythische Wächter über die Reinheit des germanischen Geschlechts. Die Donau ist der Fluß von Wien, Bratislava, Budapest, Belgrad, Dakien, das Band, das […] das habsburgische Österreich durchzog und umschloß. Dessen Mythos ließen sie zum Symbol einer vielfältigen, übernationalen Koine werden, eines Reiches dessen Herrscher sich an ›meine Völker‹ wandte und dessen Hymne in elf verschiedenen Sprachen gesungen wurde. Die Donau ist das deutsch-ungarisch-slawisch-romanisch-jüdische Mitteleuropa […].«43

Die Donau umfasste seit dem Altertum ein Einzugsgebiet, das Raum für die Begegnung zahlreicher Völker bot. Kein Fluss hat wohl insgesamt mehr Völker und Kulturen angezogen und die Siedlungen, die sich seinem Lauf entlang bildeten, miteinander in Kontakt gebracht. Ein Fluss, der, wie Hölderlin festhält, nach Europa und zugleich darüber hinausführt. Die Donau bot Raum für die Entstehung großflächiger Staaten und verband die verschiedenen Reichsteile miteinander. Dies gilt für die Römer, die Habsburger und die Osmanen gleichermaßen. Trotzdem diente sie über längere Zeitperioden hinweg und in verschiedenen historischen Kontexten immer wieder als Grenze. In römischen Zeiten dienten gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. große Abschnitte des oberen Flussverlaufes als Nordgrenze des spätrömischen Reiches. Auch heute wieder markiert die Donau die Grenze zwischen der Slowakei und Ungarn, Serbien und Rumänien sowie Rumänien und Bulgarien. Unter Augustus zogen sich die römischen Legionen nach den militärischen Niederlagen in Pannonien und dem Teutoburger Wald hinter den Rhein und die Donau zurück, deren oberer Verlauf zur Reichsgrenze wurde. Augustus’ Nachfolger eroberten Mösien und Thrakien und sicherten dadurch ihre Herrschaft über den Balkan. Der untere Verlauf der Donau wurde damit ebenfalls in die Reichsgrenze integriert. In der Folge wurde zwischen dem Rhein und der Donau zum Schutz gegen andrängende Völkerschaften der Limes erbaut, unter Einbezug eines Teiles des Neckars. In dieser fast durchgängigen Grenze, die nahezu fünfhundert Jahre hielt und wohl die längste und beständigste Europas war, spielte die Donau die Rolle eines »nassen« Limes. Erst unter dem Druck der anstürmenden Barbaren erfolgte im Laufe des dritten Jahrhunderts die allmähliche Auflösung der Donaugrenze. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts erreichten die Türken den Unterlauf der Donau, der für kurze Zeit als Nordgrenze des osmanischen Reiches fungierte. In der Folge aber diente der Strom vor allem als Rückgrat des Vorstoßes auf Wien und diente als Verkehrsader für den Transport von Nachschub. Rund um den Fluss baute sich ein zweites Imperium auf, das bis zum Ende des 17. Jahrhunderts den Balkan beherrschte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, nach dem definitiven Sieg gegen die osmanischen Truppen vor Wien, war das Herrschaftsgebiet der Habsburger ein heterogenes mul43 Magris, Donau, 30.

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tikulturelles Gebilde, das im Folgenden auf über ein Dutzend ethnischer Gruppen in verschiedenen Stadien der nationalen Entwicklung anwuchs. Die Donau wurde in diesem Zusammenhang – und dies eigentlich zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte – zum Strom, der Mitteleuropa als geopolitische Formation hervorbrachte und zugleich zusammenfasste.44 Der Ausgleich von 1867 hatte ein zweifältiges Gebilde hervorgebracht, das zwar einen Herrscher, aber zwei Regierungen und zwei Parlamente besaß. Der damit begründete österreichisch-magyarische Dualismus wurde gegen die immer stärker werdenden Forderungen der weitgehend unterdrückten, zahlenmäßig aber bald überlegenen Minderheiten durchgesetzt. Dieses riesige Gebilde wurde nicht nur durch das mehrere Tausend Kilometer lange, ost-westliche Band der Donau umfasst, sondern durch einen zweiten, kurzen, als Verbindungsweg eher unbedeutsamen Fluss gespalten, der den beiden ungleichen Teilen, wie auch die Donau dem gesamten von ihr durchflossenen Gebiet, seinen Namen lieh: Cisleithanien und Transleithanien. Die Leitha ist ein 180 Kilometer langer, aus dem Zusammenfluss von Schwarza und Pitten hervorgegangener Nebenfluss der Donau. In seiner Nähe besiegte der Babenberger Herzog Friedrich II. die Truppen des ungarischen Königs Béla IV. im Jahr 1246: eine äußerst symbolische Grenze also, stellen doch die Babenberger Herzogtümer zwischen Linz und Wien das eigentliche Kerngebiet des späteren Österreich dar. Die Leitha45 zerteilt, wenn auch auf symbolische Weise bloß und auf ganz kurzer Strecke, das riesige vielsprachige Reich, denn gegen Süden, Norden und Osten hin sind die Grenzmarken ganz anders bestimmt worden. Sie drückt damit aber, wenn auch auf andere Art und Weise als die Donau oder der Rhein, die grundsätzliche Ambivalenz von Flüssen aus, die darin besteht, die durchflossenen Gebiete zu zerteilen und dadurch die beiden fremden Ufer miteinander zu verbinden.

44 Vgl. dazu Magris, Donau, 19. 45 Vgl. dazu H. Haselsteiner, Leitha/Lajta. Fluss an der Grenze – Grenze als Flußlauf, in: Ost-West. Europäische Perspektiven, 5. Jg. 2004, Heft 3, 200 f.

Georg Madeja

Die Teufelsmauer von Dürnstein oder Auch Märchen werden manchmal wahr

Die zahlreichen Wunder und Schönheiten, welche die Landschaft und die vielen Kirchen und Kirchlein der Wachau zu bieten haben, lockten seit jeher viele Besucher und Touristen an. Das wieder ärgerte den Teufel ganz fürchterlich, und er sann darüber nach, wie er dem unverschämt göttlichen Treiben ein Ende machen könnte. Da kam ihm der Einfall, mithilfe seiner Handlanger von der DOKAWE eine Mauer durch die Donau zu errichten, damit das aufgestaute Wasser das Klima, den Weinbau und letztlich die ganze Region schädige. Der liebe Gott und sein Bundeskanzler Kreisky erlaubten ihm sogar die Planung. Gemäß einer alten Tradition sollte alles quasi über Nacht erledigt sein. Die Mauer musste vor dem dritten Hahnenschrei stehen. Auch so ein altmodisches Relikt. Um diese Bedingung zu umgehen, begann der Teufel alle Hähne der Umgebung aufzukaufen. Nur einige alte Hähne der Umgebung gaben ihre Stimmen nicht um alles Geld her. So begann mithilfe vieler Höllengeister der Bau. Mächtige Steinblöcke wurden virtuell aufeinandergeschichtet ; schon war die Mauer fast fertig, da begann der erste Hahn zu krähen. Nach einer anderen Überlieferung ließ sich der Böse nicht gleich abschrecken. Zunächst war es ein weißer Gockel, welcher unbeachtet dreimal krähte. Am anderen Tag tat dies ein schwarzer. Natürlich scherten sich der Teufel und seine Handlanger nicht weiter darum. Auch der dritte Hahnenschrei blieb ohne Folgen. Der Teufel wollte nicht aufhören, bis nicht ein roter Hahn gekräht hätte. Am dritten Tage erschien der rote Hahn Kreisky, und als auch er dreimal gekräht hatte, musste der Teufel die Arbeit einstellen. Wütend zog er sich in die Hölle zurück, nicht ohne dem nächsten Wetterhahn einen Pfeil zu verpassen. So blieb das schöne Tal der Wachau erhalten und wurde schließlich sogar als Weltkulturerbe anerkannt.

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Georg Madeja

Da sitzen sie Drei alte Herren Sie blicken Über Fluss und Tal Ihr Stolz Ist die Bescheidenheit Die Heimat Hat hier noch Gewicht Sie haben viel erreicht In ihrem Leben Manch ein Erfolg Lag im Verhindern Die Landschaft blieb Wie sie gewesen Die Herren auch Gelassen sitzen sie Ein wenig lächelnd Weingärtner Inmitten Gärten Voller Wein. Die drei Herren, die hier in der Ried Klaus sitzen, hoch über der Donau, sind Wachauer Urgesteine, untrennbar mit der Landschaft und dem Weinbau verbunden. Josef Jamek, Doyen des Wachauer Weinbaus, Franz Prager, Paradewinzer aus Weißenkirchen, und Franz Hirtzberger, ehemaliger Bürgermeister von Spitz und wortgewaltiger Sprecher der damals noch unerwarteten Bürgerbewegung. Ihre Erinnerungen an den jahrelangen Kampf gegen die Zerstörung dieser wunderbaren Stromlandschaft zeigen, in welcher Einfachheit große Entscheidungen erkämpft werden können. Das Gespräch fand vor zwei Jahren statt und soll uns allen Mut machen, das Richtige zu tun. F. H. sen.: Es war Ende des Jahres 1971, als Josef Jamek erfuhr, dass ein Donauausbaugesetz von der Bundesregierung beabsichtigt wurde. Drei Monate später war ein Arbeitskreis zum Schutz der Wachau gegründet, dessen Vorsitzender ich wurde. Josef Jamek und Dr. Skalnik wurden Stellvertreter und enge Freunde, haben uns von

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Franz Hirzberger

Anfang an in diesem Arbeitskreis unterstützt. Wir haben damals schon, innerhalb des ersten Jahres, drei große Ziele festgelegt : Verhinderung des Donaukraftwerkes Wachau, Verhinderung des Schwerverkehrdurchzugs durch die Wachau auf beiden Uferstraßen. Drittes Ziel war es, für die Wachau als Stromlandschaft von besonderem Rang das europäische Naturschutzdiplom in Straßburg zu erreichen. J J J, Josef Jamek Joching – das ist sein Markenzeichen, aber in Wirklichkeit ist er der »Jamek«. Man geht zum Jamek, man trinkt einen Jamek, selten ist eine Person so zum Synonym geworden. In den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts verwandelte er das elterliche Gasthaus in das Weingut Jamek mit Restaurant und begann seine Weine trocken auszubauen – ganz naturbelassen ohne jeden Zusatz. Damals eine Sensation. Mit dem Erwerb der Ried Klaus gelang ihm der Durchbruch. Sein Riesling »Ried Klaus« wurde bald zum Kultgetränk des gehobenen Bürgertums, und mit dem Gasthof hatte er seine Bühne gefunden, auf der er meisterlich – in aller Bescheidenheit – als Hauptdarsteller agierte. Wen wundert es, dass auch die Herren der Dokawe ein williges Publikum abgaben. Nicht nur die Liebe geht durch den Magen. J. J.: So einfach war das wieder nicht, wir sind sehr früh informiert worden, dadurch, dass sich bei uns im Gasthaus die Herren von der Dokawe getroffen haben. Dann ist

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Georg Madeja

Josef Jamek

Franz Hirtzberger aktiv geworden, und er war die treibende Kraft im Kampf gegen die Staustufe. Bei aller Bescheidenheit, das Weingut Jamek entwickelte sich zu einer zentralen Schaltstelle des Neuen Arbeitskreises. Unterschriftenlisten lagen auf, und so mancher Gast hatte auch genügend politischen Einfluss. J. J.: Statt der fließenden Donau einen Staudamm vor uns zu haben, das war einfach nicht zu verkraften. Ich kann mich erinnern, wir hatten im Gasthof eine Liste aufliegen, und es war erstaunlich, wie viele sich namentlich beteiligt haben. Wir waren sehr davon überzeugt, sonst hätte man nicht so viel Kraft dafür eingesetzt. An die 70.000 Unterschriften aus aller Welt konnten zum Schutz der Wachau gesammelt werden. Der Kampf gegen das geplante Donaukraftwerk entwickelte sich zu einer langen und zähen Auseinandersetzung. F. H.: Wir haben uns auf die Überzeugung gestützt, dass es einfach nicht sein darf, dass die Wachau vollkommen verändert wird. Neben dem fließenden Strom sind die

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Franz Prager

Rebhänge, sind die Ortschaften mit den kulturell so äußerst wichtigen Bauwerken. Wenn wir bedenken, dass bis zu vier Meter hohe Dämme errichtet werden sollten, die hätten die Ortschaften dahinter in die Depression gestürzt. Es wäre wirklich Teufelswerk gewesen. »Die Teufelsmauer von Dürnstein« habe ich das einmal in einer Pressekonferenz genannt. Hier zwischen Weißenkirchen und Dürnstein wäre das Kraftwerk gewesen. Stellen sie sich vor, welche Katastrophe das für die Wachau gewesen wäre. Wesentliche Unterstützung kam von Prof. DDr Herbert Grubinger, einem österreichischen Wissenschaftler an der ETH Zürich. Seine fachlichen Expertisen prägten den Kampf gegen die Staustufe mit. Sie ermöglichten es, den Argumenten der Kraftwerksbetreiber auch auf einer fachlichen Ebene zu begegnen. F. P.: Abgesehen von der totalen Verunstaltung der Landschaft hätte sie für die Winzer den großen Nachteil gehabt, dass kleine Klimaveränderungen entstanden wären. So wäre z. B. durch die Staumauer ein Frostsee entstanden, der sich auf die Ertragssicherheit der Kulturen negativ ausgewirkt hätte. Beim geringsten Frost, der normal durch die fließende Donau abzieht, wären die Kulturen geschädigt worden.

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Es kommt natürlich immer wieder zu Frost, der aber durch die fließende Donau abgeschwächt wird. Als Winzer musste man große wirtschaftliche, existenzielle Bedenken haben. Die Wachauer fanden auch international Unterstützung, aber erst 1983 wurde es klar, dass die politische Entscheidung gegen die Staustufe gefallen war. J. J.: Wir sind damals bis zum Bundeskanzler gegangen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich bei Kreisky war und mich bedankt habe für seine Aussage : Kein Kraftwerk in der Wachau. Da hat er die Brille hochgeschoben und gesagt : Wenn ich das gesagt habe, dann wird es auch so bleiben. Ich hab nicht einmal Danke sagen können, ich war so berührt. Ich hab mich nur verbeugt und bin gegangen. F. P.: Ich bewundere heute noch den Mut und die Tatkraft dieser beiden Herren – Hirtzberger und Jamek – und die Zähigkeit, die dazu geführt hat, dass man den Bau des Kraftwerks verhindern konnte. Das war zu dieser Zeit gar nicht so selbstverständlich. Es war erst der Beginn dieser Bürgerbewegungen. F. H.: Manchmal ist es für uns selbst noch unglaublich, dass es gelang, die drei Ziele zu erreichen. Wir haben Freunde gehabt, die uns unterstützt haben. Dabei waren Prof. Broda, Bruder des Justizministers, und ein Professor von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, der uns als Fachmann mit wissenschaftlich begründeten Arbeiten unterstützt hat. Und letztlich haben wir auch das europäische Naturschutzdiplom erreichen können. Es ist aus der Sicht der kommenden Generationen wertvoller als das Weltkulturerbe, das wir später erreichen konnten, weil es alle fünf Jahre eine Visitation durch Vertreter des Europarates in Straßburg vorschreibt. Alle fünf Jahre wird kontrolliert, ob den Bedingungen noch entsprochen wird. Es war für uns schicksalhaft, in dieser Epoche zu leben und dieses Lebenswerk – ja, es war ein Lebenswerk – zu erreichen. F. P.: Der unmittelbar nachfolgenden Generation brauchen wir keine Botschaft hinterlassen. Sie ist sich bewusst, welches Erbe und welch schöne, intakte Landschaft sie übernommen hat, und beweist uns täglich, wie sorgsam sie damit umgeht. F. H.: Wir haben immer wieder argumentiert, die Wachau ist eine Art Nationalheiligtum, das nicht so ohne Weiteres preisgegeben werden darf. Der fließende Strom, die rinnende Donau ist integrierender Bestandteil, sonst könnte man ja nicht von einer Stromlandschaft sprechen. Man hat gesagt, die Wachau wird nachher auch so schön sein und die späteren Generationen werden sie auch so schön finden. So teuflisch hat man argumentiert,

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und ich habe damals schon bei der ersten Pressekonferenz, wie Konrad Lorenz da war, gesagt, die 13 Staustufen werden zu 13 goldenen Sargnägeln, ja, und die Bundeshymne muss man abändern, denn man kann ja nicht mehr vom Land am Strome singen. Aber mit einem literarischen Gutachten wird auch das gehen. Im Jahr 1983 ist dann die politische Entscheidung gegen das Donaukraftwerk Wachau gefallen, die haben alle Parteien mitgetragen, und darauf trinken wir ein Glas von der Steinfeder. Der Kampf gegen das Donaukraftwerk und damit gegen die Zerstörung einer uralten Kulturlandschaft und eines der schönsten Stromtäler Österreichs hatte über zehn Jahre gedauert, und der Arbeitskreis Wachau widmet sich bis heute dem Anliegen der Gründer, dem Schutz der Wachau. 1983 war aber nicht nur für die Winzer der Wachau ein einschneidendes Jahr. »Das moderne österreichische Weinmärchen handelt vom Untergang durch einen bösen Zaubertrank namens Diethylenglykol und dem verblüffend rasanten Wiederaufstieg danach durch Weine, die nach Gräsern, Raubvögeln und Eidechsen benannt wurden.« So beginnt der englische Weinexperte und Publizist Stuart Pigott seine Liebeserklärung an das »Tal der märchenhaften Weingiganten«. Schon immer hatte sich der kurze Abschnitt im Donautal seiner langen Historie im Weinbau gerühmt, aber die entscheidenden Schritte in Richtung Weltspitze wurden erst in den letzten Jahrzehnten gesetzt. Franz Prager und Franz Hirtzberger sen. waren gemeinsam mit Wilhelm Schwengler von den Freien Weingärten Dürnstein schon längst, wenn auch jeder auf seine Weise, der Jamek-Doktrin vom unverfälschten Wein gefolgt. Die Gründung der »Vinea Wachau Districtus Nobilis« war nur die logische Weiterentwicklung dieser Bestrebungen. F. P.: Gemeinsam mit Willi Schwengler haben wir im Jahr 1983, vielleicht unter dem Druck einiger großer Ernten, darüber nachgedacht, wie wir den bestehenden Herkunftsschutz noch verbessern könnten. Unser Freund Willi Schwengler war damals Direktor der Winzergenossenschaft Dürnstein, und von ihm kam die Idee, die gesetzlichen engen Gebietsgrenzen noch zu verschärfen und den Verein Vinea Wachau zu gründen. Im Laufe der Jahre sind dann noch die eigenständigen Kategorien dazugekommen. Im Jahr 1984 haben wir mit der Steinfeder begonnen, einem Leichtwein, nach dem große Nachfrage bestand. Es waren alles Namen mit einem Bezug zur Gegend. Steinfeder ist ein Gras, stiper penatus, das die Wachauer ausgekämmt auf ihren Trachtenhüten tragen. Dann kam der Name Federspiel, der zurückging auf die herrschaftlichen Falkenspiele und der die Bezeichnung Kabinett ersetzte. Als letzte Kategorie wurde als Ersatz für Spätlese der Name Smaragd gewählt. In unserem Fall hat das nichts mit dem Edelstein zu tun, sondern mit der Smaragdeidechse, die hier heimisch ist.

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Georg Madeja

Natur und sonst nichts. Das sollte der Codex Wachau ausdrücken. Keine Anreicherung, keine Fermentierung, keine Aromatisierung und das strenge Herkunftsprinzip waren nichts anderes als die zeitgemäß adaptierten Forderungen Josef Jameks von 1960. Das Wachauer Quartett bestimmte die Weinszene jener Jahre und fand seine Nachfolger in den neuen Wein-Giganten : F. X. Pichler, Franz Hirtzberger, Emmerich Knoll und Toni Bodenstein – Schwiegersohn Franz Pragers – schafften den Durchbruch zur Weltspitze mit Weinen, die Erstaunliches für die Wachau bewegt haben und die in der Terroir-Idee wurzeln. Die Weißweine der Wachau setzen sich mittlerweile erfolgreich bei internationalen Verkostungen durch und übertreffen manche große Namen. Das Tal der Wachau aber bleibt ein landschaftliches Kleinod, erhalten gegen falschen Fortschrittsgedanken und Profitdenken. Wer heute in Weißenkirchen, Joching oder Dürnstein einkehrt, wird dankbar sein Glas auf alle erheben, die verhinderten, dass er statt der »rinnerten« Donau die Teufelsmauer sieht.

Ried Klaus Der Blick übersteigt Die Enge des weiten Tals Kirche – Kloster – Fluss Verschmelzen Zu einer Geraden Barockes Blau Bleibt fremd Im Grün der Terrassen Jahrhunderte lang Sorgsam geschichtet Stein auf Stein Mühsam Kaum einer erinnert sich Der Bildstock Der Weinstock Geschichte und Tradition Neu gekeltert Von Jahr zu Jahr.

Thomas Hellmuth

Die Erzählungen des Salzkammerguts Entschlüsselung einer Landschaft

Es scheint seltsam, eine Landschaft als »Erzählung« zu verstehen, sie wie einen Text zu entschlüsseln, der immer wieder verfasst oder besser noch : kunstvoll zu einem Ganzen verwoben wird. Gerade dadurch werden aber Ideologien und Werthaltungen aufgedeckt, die hinter den Vorstellungen einer Landschaft stecken. Diese spiegeln die Erwartungen und Hoffnungen, aber auch die Ängste der jeweiligen Gesellschaft, in der sie entstanden sind. Sie sind letztlich Ergebnis von gesellschaftlichen Diskursen, die nicht primär von Landschaften, sondern von gesellschaftlichen Modellen handeln bzw. »erzählen«.1 Da sich die Vorstellungen über Gesellschaft wandeln, verändert sich auch die »Erzählung« der Landschaft : Eine Landschaft strahlt nicht von selbst, sie ist vielmehr Resultat eines Deutungsprozesses im Zuge kollektiver und individueller Sinnstiftungen, kurzum: von Identitätsarbeit, die als Interaktionsprozess zwischen Individuum und Kollektiv, in dem Ersteres eingebunden ist, verstanden werden muss, als eine Anpassung von »innerer« und »äußerer« Welt. 2 Wenn folglich eine Landschaft als »Erzählung« verstanden wird, dann ist damit weniger das traditionelle Erzählen als Darstellungsform als vielmehr eine »mentale Erzählung« gemeint, die das Erinnern an die Vergangenheit, d. h. die Konstruktion und Rekonstruktion von Geschichte3 als einen zeitlichen Sinnzusammenhang, als eine Verbindung von Vergangenheitserfahrung, Gegenwartsdeutung und Zukunftsorientierung begreift.4 1 Marcus Termeer, Verkörperung des Waldes. Eine Körper-, Geschlechter- und Herrschaftsgeschichte (Sozialtheorie), Bielefeld 2005, 10. 2 Heiner Keupp/Thomas Ahbe/Wolfgang Gmür/Renate Höfer/Beate Mitzscherlich/Wolfgang Kraus/Florian Straus, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek b. Hamburg 1999, 7, 9 f., 12, 67. Detlef Ipsen, Regionale Identität. Überlegungen zum politischen Charakter einer psycho-sozialen Raumkategorie, in: Wolf Lindner (Hg.), Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität, Frankfurt a. M./New York 1994, 243. 3 Unter »Rekonstruktion« ist das Ergebnis der Geschichtswissenschaft zu verstehen, unter »Konstruktion« etwa das Bild, das die Belletristik, historische Filme oder auch die Populärwissenschaft von der Vergangenheit zeichnen. »Rekonstruktion« verläuft nach bestimmten, allgemein akzeptierten Regeln, die »Konstruktion« malt dagegen ein Geschichtsbild, das sich solcher intersubjektiv überprüfbarer Regeln mehr oder weniger entzieht. Sowohl durch Rekonstruktion als auch durch Konstruktion werden jedoch Geschichtsbilder vermittelt, die ihren Ursprung letztlich in der Gegenwart haben bzw. in der Gesellschaft, in der sie entstanden sind. 4 Jörn Rüsen, Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a. M. 1990. Ders., Historisches Erzählen, in: Klaus Bergmann/Annette Kuhn/Jörn Rüsen/Gerhard Schneider (Hg.), Handbuch der Ge-

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Bei der Analyse der Transformation von Landschaften sind »Außen-« und »Innenperspektiven« zu unterscheiden, also die Deutungen der Einheimischen und jene der Fremden, die gleichsam mit einem Filter »von außen«, selbst wenn sie sich in einer Landschaft aufhalten, auf diese blicken. Außen- und Innenperspektiven können allerdings nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Sie sind vielmehr im Sinne einer »dialektischen Narration« zu verstehen, das heißt, dass sie voneinander abhängen bzw. sich gegenseitig beeinflussen. Daher kann eine Landschaft auch als »dritter Raum« (Homi K. Bhabha) bezeichnet werden, als regionaler bzw. lokaler Raum, in dem gleichsam Kontaktzonen zweier oder mehrere Kulturen existieren. In diesem »dritten Raum« können letztlich neue Kulturen hervorgebracht werden.5 Landschaft wird daher im Folgenden nicht nur als Landschaft im traditionellen Sinn verstanden, d. h. im Sinne einer »Naturlandschaft«, also einer Landschaft, die durch Berge, Täler, Ebenen, Flüsse und Seen geprägt ist. Vielmehr geht es um die kulturelle Ausformung der Landschaft, d. h. zum einen um die gesellschaftliche, sinngebende Deutung der Vergangenheit, der Natur und auch der darin lebenden Menschen, zum anderen um deren sozialen Praktiken, die sich etwa in der ständigen Transformation von Brauchtum infolge wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandlungsprozesse spiegeln. Die »Entschlüsselung« der Landschaft als »Erzählung« soll im Folgenden exemplarisch anhand des Salzkammerguts erfolgen. Dabei müssen drei Landschaftserzählungen unterschieden werden : eine bürgerliche, eine nationale bzw. österreichische und eine proletarische. Das Salzkammergut stellte dafür einerseits Ressourcen zur Verfügung, aus denen reichlich geschöpft werden konnte : die Vergangenheit als Salzregion, den habsburgischen Mythos und die Natur. Andererseits übernahmen die Einheimischen viele der »Textbausteine«, die von außen in die Region getragen wurden, nicht zuletzt, weil im »dritten Raum« eine eigene Kultur geschaffen wurde.

Die bürgerliche Erzählung Um 1800 entdeckten Naturforscher, Landschaftsmaler und Reiseschriftsteller das Salzkammergut, eine jahrhundertealte Salzregion, die nun aus einer neuen Perspektive betrachtet bzw. neu »erzählt« werden sollte. Im Übergang von der Aufklärung schichtsdidaktik, 5., überarb. Auflage, Wolfenbüttel 1997, 57–63. Siehe dazu auch: Dirk Lange, Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen Lernens (Studien zu Politik und Wissenschaft), Schwalbach/Ts. 2004, 22f. 5 Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur (Stauffenburg Discussion, 5), Tübingen 2000. Bezogen auf eine »österreichische« Mikrohistorie siehe: Thomas Hellmuth, Transkulturelle Kontaktzonen. »Österreichische« Mikrohistorie als Geschichte des »dritten Raumes«, in: Martin Scheutz/Arno Strohmeyer (Hg.), Was heißt und wozu »österreichische Geschichte«? Probleme, Perspektiven und Räume der Neuzeitforschung (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit), Innsbruck/Wien/Bozen 2008.

Die Erzählungen des Salzkammerguts

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Abb. 1: »Traunseelandschaft mit Schloss Orth und dem Traunstein« (Ferdinand Georg Waldmüller, um 1830)

zur Romantik bereiteten sie die Basis für eine zunächst naturwissenschaftliche und ethnologische, schließlich für eine harmonische »Erzählung«, die die Landschaft des Salzkammergutes als einen positiven Gegenpol zu den industrialisierten Zentren der »Zivilisation« inszenierte. Die Naturwissenschaftler nahmen zunächst die Gegensätze und die Vielfalt der Landschaft wahr, und die Landschaftsmaler – darunter Jakob und Ludwig Alt, Moritz von Schwind und Ludwig Richter – forderten zugleich einen realistischen Blick auf die Natur, allerdings nicht ohne auf den Gesamteindruck zu verzichten. Besonders hervorzuheben ist hier Ferdinand Georg Waldmüller, der zwar die Einheit zwischen Abgebildetem und Abbild forderte, aber dennoch von der Romantik beeinflusst war und daher in seinen Gemälden letztlich eine gewisse Harmonie vermittelt.6 Beispielhaft zeigt sich dieser Einfluss in seinem Gemälde »Traunseelandschaft mit Schloss Orth und dem Traunstein« (um 1830), das den Traunstein und seine Felsenklüfte, die »Schlafende Griechin« und andere Berge in realistischer Weise abbildet, ebenso den Traunsee und die ihn umgebende Vegetation, wobei der Betrachter aber von keinem Detail abgelenkt wird, sondern sich ganz im Gegenteil in der harmonischen Landschaft zu verlieren scheint (Abb. 1). Waldmüllers Verständnis von Malerei entsprach 6 James Kaye, No One Such Place. »Home« in Austrian and Swedish »Landscape«, phil. Diss., Florenz 2003.

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ohne Zweifel einem allgemeinen Trend dieser Zeit : Der einflussreiche französische Maler Dominique Ingres empfahl beispielsweise, nach einem lebenden Modell und der Natur zu malen, allerdings in einem weiteren Schritt zu simplifizieren bzw. zu stilisieren. »Die schönen Formen«, meinte Ingre, »sind jene, die Geschlossenheit und Fülle aufweisen und bei denen die Details nicht den Gesamteindruck gefährden«.7 Ähnlich verhält es sich auch bei Adalbert Stifters Gemälde »Saarstein bei Altaussee« (1835), das die Natur und die wenigen Spuren der Zivilisation, eine Hütte am Seeufer, detailgetreu darstellt, ohne auf den Eindruck eines Ganzen zu verzichten (Abb. 2). Der Weg zur ästhetischen Verklärung des Salzkammerguts war unter diesen Vorzeichen bereits vorgegeben. So sind etwa die naturkundlichen Betrachtungen in Friedrich Simonys Aufzeichnungen über die Erstbesteigung des Dachsteins im Jahr 1842 gleichsam poetisch umrahmt, indem der Autor den geologischen Aufzeichnungen eine Reise in das Reich der Poesie folgen lässt: »Wie ein feuriger Rubin von ungeheurer Größe tauchte mit einem Male die Sonnenscheibe aus der Tiefe des Ostens auf. Ihr Lichtstrahl zuckte zuerst über die höchsten Spitzen der Alpen, dann über ihre Wände und verdrängte Minute um Minute die fliehenden Schatten der Nacht, immer tiefer und tiefer steigend, bis endlich auch in den Tälern der Tag angebrochen war.«8 Seine literarisch festgehaltenen Emotionsausbrüche finden ihr Äquivalent in seinem Aquarell »Das Innere einer Gletscherhöhle im Karlseisfeld« (Abb. 3), das er ebenfall bei der Erstbesteigung des Dachsteins gemalt hatte: Nicht die detaillierte Darstellung dominiert, vielmehr verschmelzen die konkaven Vertiefungen der Eisoberflächen, die vom Gewölbe hängenden Eiszapfen und die zermalmten Kalksteine am Boden der Höhle zu einem grünlichen, manchmal durch violette und blaue Farbe durchbrochenen Ganzen. Der Eindruck eines abstrakten Gemäldes entsteht, das keinem naturwissenschaftlichen Zweck mehr dient, sondern die Gefühlslage des Malers vermittelt – vielleicht mehr noch: Es fordert den Betrachter auf, das Dargestellte auf sich wirken zu lassen und es selbst auf Basis der eigenen Erfahrungen und aus dem Unterbewussten heraus zu interpretieren. Adalbert Stifter, der mit Simony befreundet war, verarbeitete das Höhlenbild in seiner Novelle »Bergkristall« (1853),9 in der er einen legendenumwobenen Schneeberg und eine zerklüftete Eishöhle in das seltsam anmutende Licht taucht, das Simony mit seinem Bild einzufangen suchte, wobei aber bei Stifter vor allem die blaue Farbe dominiert: »Die Kinder gingen nun in das Eis hinein, wo es zugänglich war. […] Wie sie so 7 Zit. bei: George Pillement/Claude Noisette de Crauzat, La Peinture, in: Francis Claudon (Hg.), Le Romantisme, Paris 1996, 44. Originalzitat: »Les belle formes sont celles qui ont de la fermeté et de la plénitude, et où les détails ne compromettent pas l’aspect des grandes masses.« 8 Friedrich Simony, Drei Dezembertage auf dem Dachsteingebirge, in: Hubertus Czernin (Hg.), Salzkammergut (Europa erlesen), Klagenfurt/Celovec 1998, 33. 9 Robert Reiter, Am Dach der Salzkammergut-Welt. Die alpinen, wissenschaftlichen und künstlerischen Unternehmungen des Friedrich Simony, in: Hellmuth et al. (Hg.), Visionäre bewegen die Welt, 134.

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Abb.: 2: »Saarstein bei Altaussee« (Adalbert Stifter, 1835)

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unter die Überhänge hineinsahen, […] gelangten sie in einen Graben, in einen breiten, tiefgefurchten Graben, der gerade aus dem Eise hervorging. Er sah aus wie das Bett eines Stromes, der aber jetzt ausgetrocknet und überall mit frischem Schnee bedeckt war. Wo er aus dem Eise hervorkam, ging es gerade unter einem Kellergewölbe heraus, das recht schön aus Eis über ihn gespannt war. Die Kinder gingen in den Graben fort und gingen in das Gewölbe hinein. […] In der ganzen Höhlung […] war es blau, so blau, wie gar nichts in der Welt ist, viel tiefer und viel schöner blau als das Firmament, gleichsam wie himmelblau gefärbtes Glas, durch welches lichter Schein hineinsinkt. Es waren dickere und dünnere Bogen, es hingen Zacken, Spitzen und Troddeln herab […].«10 Die Nachricht von der atemberaubenden Landschaft des Salzkammerguts verbreitete sich und verschaffte dieser den Beinamen »österreichische Schweiz« 11, die als »Vielfalt in der Einheit« umschrieben wurde. »Auf verhältnismäßig kleinen Raum zusammengedrängt«, berichtet Ludwig Wörl in seinem um 1900 herausgegebenen Reiseführer, »finden sich hier liebliche, lachende Gegenden, durch freundliche Dörfer und elegante Kurorte belebt, im Wechsel mit großartigen Gebirgskesseln, welche schimmernde Seen umschließen, in deren Fluten sich dunkel dräuende Felswände und schneeige Gletscher spiegeln, und zu denen aus schwindelnden Höhen silberne Bäche herabstürzen.«12 Ein ähnliches Bild findet sich in zahlreichen anderen Reiseführern, etwa in einem 1904 herausgegebenen »Führer für Kurgäste«, der geografische Genauigkeit mit Naturbegeisterung verbindet: »Im Zentrum des herrlichen Salzkammergutes, welches auf dem verhältnismäßig engen Raume von zirka 15 Quadratmeilen einen wahren Schatz alpiner Naturschönheiten birgt, am Zusammenfluss der Traun und Ischl, unter 47’ 42’’ nördlicher Breite und 31’ 17’’ östlicher Länge, 468,7 m über dem Meeresspiegel gelegen, verdankt der Kurort Ischl der überaus glücklichen Kombination von Hochgebirgen, reich bewaldeten Alpen und Hügeln, welche die beiden Flußufer umrahmen, einen ausgiebigen Schutz vor dem Anprall rauer Winde und vor dem Eindringen größerer Staubmassen, andererseits der schönen Formation seiner Berge, seinen üppigen Wäldern, Wiesen und Auen und den in der Nähe gelegenen, leicht erreichbaren Alpenseen den unerschöpflichen, erquickenden Reiz seines landschaftlichen Charakters.«13 Nicht zufällig hatte sich Willibald Alexis bereits in den 1830er-Jahren auf das Salzkammergut bezogen, wenn er meinte: »Es sind drei Ursachen, welche den 10 Adalbert Stifter, Bergkristall, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2. Novellen II, hg. von Dietmar Grieser, München 1982, 235 f. 11 Johann Steiner, Der Reisegefährte durch die Österreichische Schweiz oder das obderennsische Salzkammergut. In historisch, geographisch, statistisch, kameralisch und pittoresker Ansicht. Ein Taschenbuch zur geseeligen Begleitung in diese Gegenden, zweite, vermehrte und verbesserte Auflage, Linz 1832. 12 Ludwig Wörl, Illustrierter Führer durch das Salzkammergut und die angrenzenden Gebiete mit Einschluß von Salzburg, Hallein und Golling. 4. Aufl., Leipzig 1907, 7. 13 Bad Ischl im Salzkammergut. Ältestes Solebad in Österreich. Ein Führer für Kurgäste. Verfaßt von den Mitgliedern der Kurkommission, Ischl o. J. [1904], 25.

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Abb. 3: »Das Innere einer Gletscherhöhle im Karlseisfeld« (Friedrich Simony, 1842)

Österreicher hindern, ins Ausland zu reisen; erstens, weil er verhindert ist, zweitens, weil er’s zu Hause bequemer hat, und drittens, weil es auch schöner bei ihm ist.«14 Diese Schönheit, mit der weniger die unberechenbaren Naturgewalten als vielmehr eine Parklandschaft oder zumindest eine »kultivierte Wildnis« gemeint war, musste freilich geschaffen werden. So wurde die Natur nach den Vorstellungen der bürgerlichen Zivilisationsflüchtlinge »gezähmt«: Verschönerungsvereine und Alpenvereinssektionen legten Wanderwege an, stellten Ruhebänke auf und schufen Aussichtsplätze. Der Goiserer Verschönerungsverein sah etwa seine Aufgabe darin, »das, was Mutter Natur versäumte, durch seine Wirksamkeit zu ersetzen«. 15 Dazu gehörten auch die Bemühungen, schöne Aussichtsplätze nicht nur für sportliche Wanderer, sondern für alle Sommergäste zugänglich zu machen. Aus Anlass ihres 25-jährigen Bestehens ließ etwa die Alpenvereinssektion »Salzkammergut« den »Kaiser-FranzJoseph-Jubiläumsweg« und einen »Jubiläumspavillon« mit einer »außerordentlich schöne[n] Aussicht« auf dem Hubkogel anlegen, womit zugleich das 50-jährige Regierungsjubiläum des Kaisers gefeiert wurde.16 »Bequeme Kurgäste«, berichtet ein 14 Willibald Alexis, Reise durch Österreich, Süddeutschland und die Schweiz, Berlin 1992. 15 Fremden-Zeitung, 21. August 1891. 16 Bad Ischl im Salzkammergut, 95.

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Anfang des 20. Jahrhunderts herausgegebener Reiseführer, »ziehen es zumeist vor, den Jubiläumsweg in umgekehrter Richtung zu machen, indem sie zu Wagen bis Dorf Perneck fahren und von dort zu Fuß gehen. Der Weg ist ja gleich entzückend, ob so oder so gemacht […]«.17 Ein müheloser »Naturgenuss« wurde auch durch die Errichtung von Esplanaden und Promenaden ermöglicht, zudem eroberten Kaffeehäuser, Hotels und Villen die Provinz und ermöglichten einen bequemen und komfortablen Aufenthalt. Konzerte und Theateraufführungen gestalteten den Aufenthalt abwechslungsreich und ließen die »Zivilisation« nicht ganz vermissen ; und auch moderne Sportarten eroberten die »gezähmte Wildnis« : In Bad Ischl standen etwa um 1900 Lawn-Tennisplätze und »schöne ebene Straßen« zur Verfügung, die auch dem modernen Radsport dienten, der zugleich Naturgenuss garantieren sollte. Eine Kurkapelle und eine »sehr gute Salinenkapelle« boten bürgerlichen Musikgenuss.18 Der Komfort und Fortschritt der modernen bürgerlichen Zentren vermischte sich mit dem Fremden und Wilden der Peripherie zu einer Kultur der »Ursprünglichkeit«.19 Dieser »Ursprünglichkeit« entsprachen auch die angeblich eng mit der Natur verbundenen und daher in »Freiheit« lebenden Einheimischen. »Bewohner und Bauten sind mit diesem Landschaftsbild innig und malerisch verbunden«, schreibt Peter Iller noch 1947 und tradiert somit die im 19. Jahrhundert entstandene bürgerliche Erzählung.20 Bereits seit dem 15. Jahrhundert hatte sich die Rezeption der »Wildnis« und der darin wohnenden »wilden Leute« gewandelt : Einer negativen Konzeption, die aus theologischer Sicht das Böse in der Wildnis und somit auch bei deren Bewohnern verortete, vor allem in den Bergen, die als Ruinen des einstigen Paradieses galten, 21 wurde eine positive Konzeption des »Wilden«, der »edle Wilde«, entgegengesetzt.22 Der »archaism«, der in der Natur eine animalische, brutale, weil den Gesetzen des Stärkeren unterworfene Welt sieht, wurde vom »primitivism« verdrängt, von einer Vorstellung von Natur als friedvoller und an das Paradies erinnernde Welt.23 Norbert Elias führt diese Entwicklung auf die zunehmende Erschließung der Natur und die 17 Ebd., 96. 18 Ebd., 75 f., 82. 19 Hellmuth, Transkulturelle Kontaktzonen. Ders.: Der Glanz der Provinz. Visionen einer heilen Welt, in: Hellmuth et al. (Hg.), Visionäre bewegen die Welt, 16, 18 f. Ders., Das Salzkammergut, in: Emil Brix/ Ernst Bruckmüller/Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae, Bd. 2. Bauten, Orte, Regionen, Wien/München 2005, 346–354. 20 Peter Iller, Salzkammergut (Perlen aus Österreich), Bad Ischl 1947, 13 f. 21 Dieter Groh/Ruth Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt a. M. 1991, 113; Hanns Haas, Die Eroberung der Berge, in: Ders./Robert Hoffmann/Kurt Luger (Hg.), Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, Salzburg 1994, 29–37. 22 Termeer, Verkörperung des Waldes, 225. 23 Hayden White: The Forms of Wildness: Archaeology of an Idea, in: Edward Dudley/Maximilian E. Novak (Hg.), The Wild Man Within. An Image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism, Pittsburgh 1972, 27 f.

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Abb. 4: »Natur pur«: Naturprodukte konsumierende und gesunde Einheimische als Vorbild der bürgerlichen Gesellschaft

damit verbundene Befriedung der Wildnis zurück : »[…] erst damit hören Wälder, Wiesen und Berge allmählich auf, Gefahrenzonen erster Ordnung zu sein, aus denen beständig Unruhe und Furcht in das Leben des Einzelnen einbricht ; und nun […] wird den befriedeten Menschen die entsprechend befriedete Natur in einer neuen Weise sichtbar.«24 Die Entdeckung von Landschaften wie der des Salzkammerguts ist letztlich eine Variation der »Entdeckung« der sogenannten »primitiven« Kulturen in den Kolonien, wie sie sich etwa in den Gemälden von Paul Gauguin oder Pablo Pi24 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a. M. 1997, 416.

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casso widerspiegeln.25 Wolfgang Kos spricht vom »initiativen Transfer von Referenzlandschaften in die heimische Topographie«, zu dem unter anderem auch das Konzept des »edlen Wilden« gehört.26 Dieses Konzept wurde von der bürgerlichen Gesellschaft auch auf das Salzkammergut projiziert. Zwar waren dem Reiseschriftsteller Franz Sartori zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch »Mitteldinger zwischen einem Orang-Outang und einem Menschen« begegnet, »die [ihn] mit triefenden Augen und struppigen Haaren, drey bis vier Kröpfe am Halse, sprachlos und kreischend« über den Hallstätter See gerudert hatten. »Man kann sich also denken«, schrieb er verdrossen, »dass ich hier, wo die Natur klassisch ist, […] nicht wenig über die ganz unvermuthete Erscheinung der drey weiblichen Paviane erstaunen musste.«27 Dieses negative Bild der Einheimischen wandelte sich aber noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Johann Steiner bewunderte etwa 1832 den kräftigen und gesunden Körperbau der Salzkammergütler und wies darauf hin, dass »das männliche und weibliche Geschlecht […] in diesem rauhen, gebirgigen Salzkammergut nicht so ganz stiefmütterlich von der Natur behandelt« worden seien.28 Selbst Franz Sartori, von der »Affengesellschaft« erschreckt, hatte bereits eingeräumt, neben »mittelmäßig hübsche[n] Gesichter[n]« im Salzkammergut auch »schöne Physiognomien mit griechischen Umrisse[n]« entdeckt zu haben.29 Die »Ursprünglichkeit«, die angeblich die Einheimischen verkörperten, spiegelte sich gemäß der bürgerlichen Erzählung auch in deren Kleidung, in den Trachten, die allerdings im »dritten Raum« erfunden und ständig verändert wurden, wider. Es kann keine Rede davon sein, dass »Landestracht und Dirndl« als »Symbole urwüchsigen Verbundenseins mit Land und Kultur […] unverändert seit Jahrhunderten« existierten.30 Und auch die Annahme, mattes »Grau der Felsberge, dunkles Grün der Wälder und leuchtendes Rot der Alpenrosen« spiegelten sich in den »Farben von Hut und Anzug, in weicher bunter Anlehnung jene[n] der Dirndlkleider«, transportiert den Mythos einer unveränderlichen, von äußeren Einflüssen abgeschirmten ländlichen Gesellschaft. Tatsächlich befanden bzw. befinden sich die Trachten im ständigen Wandel. Noch bis in das 18. Jahrhundert gestaltete sich die Tracht im Salzkam25 Zur »primitiven Kunst« siehe u. a.: Karl Schawelka, Das Primitive als Kulturschock. Pablo Picasso, in : Monika Wagner (Hg.), Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Bd. 1, Reinbek b. Hamburg 1992, 218–236. 26 Wolfgang Kos, »Landschaft«. Zwischen Verstaatlichung und Privatisierung, in: Brix et al. (Hg.), Memoria Austriae II, 206. 27 Franz Sartori, Neueste Reisen durch Österreich ob und unter der Enns, Salzburg, Berchtesgaden, Kärnthen und Steyermark in statistischer, geographischer, naturhistorischer, ökonomischer, geschichtlicher und pittoresker Hinsicht, Bd. 1, Wien 1811, 287, 303. 28 Steiner, Reisegefährte, VI. 29 Sartori, Neueste Reisen, 302. 30 Iller, Salzkammergut, 13.

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Abb. 5: Lodenboom im Salzkammergut – Das »Herren- und Damen-Modegeschäft« Gottwald in Bad Ischl

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mergut außerordentlich vielfältig. Wie in anderen Regionen 31 waren etwa bei den Männern die Röcke und Joppen, »Leibln« bzw. Westen, Kniebundhosen (in denen sich die Mode der vom Adel getragenen »culotte« spiegelte), Strümpfe und Hüte in den unterschiedlichsten Farben gehalten. Im 19. Jahrhundert ist aber – auch wenn kleine, kaum bemerkbare Variationen auch weiterhin bestanden – eine Normierung der Männertracht feststellbar : Grau-grüne Stoffe, die Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommen waren und heute für die Tracht im Salzkammergut als typisch gelten können, setzten sich zunehmend durch. Der Langrock rutschte nach oben, und die Hosen wurden länger. Allerdings blieb die Kniebundhose, die aus Leinen oder Loden gefertigt worden war, in abgewandelter Form, als Lederhose, weiterhin erhalten. Als Schuhwerk dienten nun die sogenannten »Goiserer«, genagelte Bergschuhe mit einer Zwie- oder Doppelnaht, und die vielgestaltigen und vielfärbigen Hüte wurden vom stahlgrauen, fast schwarzen Filz- oder Hasenhaar-»Ausseer« abgelöst.32 Wie am Beispiel der Männerröcke und der langen Hosen deutlich wird, entsprachen Form und Schnitt der Trachten den bürgerlichen Modetrends, nicht zuletzt auch deshalb, weil die bürgerlichen Sommerfrischler und »Zivilisationsflüchtlinge« die Kleidung der Einheimischen als Ausdruck der »Ursprünglichkeit« betrachteten und daher für sich beanspruchten. Sie formten sie nach ihren Vorstellungen, ergänzten etwa die Damentracht durch luxuriöse Accessoires wie Seide, Brokat und Spitzen sowie Silberschmuck.33 Der Verkauf von Trachtenmode wurde zu einem lukrativen Geschäft. So bot etwa das Ischler Modegeschäft Gottwald den bei Sommerfrischlern beliebten Herren- und Damenloden feil (Abb. 4) und diente zugleich als Niederlage der ersten Tiroler und Steirer Lodenfabriken. Der Schriftsteller Oscar Blumenthal schreibt 1910: »Die Modengecken haben sich nun in Lodengecken verwandelt. Kratzen sie an diesen Naturmenschen, und sie werden das Alpengigerl finden. Untersuchen sie ihren Rucksack, und sie entdecken die Bartbinde.«34 Die Einheimischen übernahmen die geschönten Trachten, vor allem die finanziell erschwinglichen Accessoires wie Seidentücher, Bänder und Gürtel.35 Damit wurde ih31 Siehe dazu etwa die Kuenburger-Sammlung aus Salzburg (letztes Drittel des 18. Jahrhunderts): Friederike Prodinger/Reinhard Heinisch, Gewand und Stand. Kostüm- und Trachtenbilder der Kuenburg-Sammlung, Salzburg 1983. Monika Gaurek, Trachten, Bauernhäuser, Kleindenkmäler, in: Josef Irnberger/Ewald Hiebl/Thomas Hellmuth (Hg.), Scheffau am Tennengebirge. Natur – Geschichte – Kultur, Scheffau a. T. 1999, 309–315. 32 Franz Lipp, Oberösterreichische Trachten. Vorlage für die zeitgemäße und echte Tracht in Oberösterreich, Folge 5. Salzkammergut und Eisenwurzen, Linz 1960, 11–15. 33 Siehe dazu allgemein: Wolfgang Kaschuba, Lebenswelten und Kultur unterbürgerlicher Schichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, 10. 34 Oscar Blumenthal, Ischler Frühlingsgespräche, in: Czernin (Hg.), Salzkammergut, 102. 35 Kaschuba, Lebenswelt und Kultur, 104. Hermann Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (Sammlung Vandenhoeck), Göttingen 1987, 138.

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nen in einer Zeit des radikalen Umbruchs der Lebenswelten, wie sie das 19. Jahrhundert darstellte, sowohl die Annäherung an die bürgerliche Lebensform als auch die Rückbindung an den Herkunftsort erleichtert. Der Eindruck des Status quo wurde erzielt, wenn etwa das Salzkammergut-Museum in Gmunden, das um 1900 von einem Museumsverein unter Leitung des Landesgerichtsrats Ludwig Pauli gegründet worden war, »zahlreiche Kostüme, wie Mäntel der Ratsherren von Gmunden, Frauenkleider, weiße Filzhüte der Bauernweiber, Goldhauben, Blindborten- und schwarze Hauben aus Perlen, Pelzmützen, Schuhe, Morgenhäubchen mit Bändern und wertvollen Spitzen«36 zur Schau stellte und als Besonderheiten hervorhob. Die bürgerliche Vergesellschaftung erfolgte daher nicht in Form einer Okkupation der ländlichen Peripherie, sondern durch die partielle Anpassung an die regionalen Spezifika, etwa durch die Übernahme und Verformung lokaler bzw. regionaler Traditionen. Demnach ist beispielsweise die Unterscheidung von »echter« und »unechter« Tracht nur eine künstliche,37 weil selbst eine als »echte Tracht« identifizierte Kleidung nichts anderes ist als eine »erfundene Tradition«, die sich im »dritten Raum« entwickelt hat und sich ständig weiterentwickelt. Die im »dritten Raum« entstandene spezifische Kultur der »Ursprünglichkeit« wurde zum Bestandteil der Identität der Einheimischen. Diese glaubten allmählich selbst an das vermeintliche, von den bürgerlichen Sommerfrischlern umschwärmte Paradies. Selbstverständlich bedeutete der Tourismus zunächst einmal die Möglichkeit der Existenzsicherung, etwa wenn in Bad Ischl Ende des 19. Jahrhunderts ein »Ischler Bergsteigerbund« gegründet wurde, »der unter anderem auch die Unternehmung von Touren an Sonn- und Feiertagen unter Führung eines kundigen Mitglieds in sein Programm aufgenommen« hatte und »für bequemere Kurgäste« auch Tragsessel anbot.38 Zugleich waren aber die Einheimischen, sei es nun als Bergsteiger oder als Musikanten, für die bürgerlichen Sommerfrischler unentbehrlich; trugen sie doch dazu bei, während der temporären Zivilisationsflucht das Bedürfnis nach »Ursprünglichkeit« zu stillen. Damit verbunden war die soziale Aufwertung der Einheimischen, die letztlich den oftmals unterstellten Warencharakter39 der touristischen Erschlie-

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Leopold Schmidt, Trachtenforschung und Gegenwartsvolkskunde, in: Mitteilungen des Institutes für Gegenwartsvolkskunde, 3 (1974), 405. Ferdinand Krackowizer, Das Salzkammergut-Museum in Gmunden, Linz o. J. [1909], 6. Susanne Breuss/Karin Liebhart/Andreas Pribersky, Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich, Wien 1995, 214–216. Bad Ischl im Salzkammergut, 75 f. Siehe dazu u. a.: Hermann Glaser/Karl Heinz Stahl, Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Ästhetik einer neuen Soziokultur, Weinheim/München 1974. Kriemhild Kapeller, Tourismus und Volkskultur. Folklorismus – zur Warenästhetik der Volkskultur. Ein Beitrag zur alpenländischen Folklorismusforschung am Beispiel des Vorarlberger Fremdenverkehrs mit besonderer Berücksichtigung der Region Montafon und Bregenzerwald (Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz 81), Graz 1991, 9 f.

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ßung ländlicher Regionen infrage stellen lässt. Adalbert Stifter schreibt in seiner Novelle »Bergkristall« (1853), dass der »Berg […] den Bewohnern außer dem, daß er ihre Merkwürdigkeit ist, auch wirklich Nutzen« bringe. Unter »Nutzen« versteht er nicht nur einen materiellen Vorteil, d. h. Einkommen aus dem Tourismus, sondern auch die Möglichkeit der Identitätsfindung : »[…] denn wenn eine Gesellschaft von Gebirgsreisenden hereinkömmt, um von dem Tale aus den Berg zu besteigen, so dienen die Bewohner des Dorfes als Führer, und einmal Führer gewesen zu sein, dieses und jenes erlebt zu haben, diese und jene Stelle zu kennen, ist eine Auszeichnung, die jeder gerne von sich darlegt. Sie reden oft davon, wenn sie in der Wirtsstube beieinandersitzen, und erzählen ihre Wagnisse und ihre wunderbaren Erfahrungen […].«40 Die Kultur der »Ursprünglichkeit« eignete sich schließlich auch für die politischideologische Vereinnahmung durch das Bürgertum : Wilhelm Heinrich Riehl propagierte etwa das »Recht auf Wildnis«, um wieder zu organischen Gesellschaftszuständen zurückzukehren. Dem »vierten Stand, dem Proletariat« sollte mit der Kraft des Beharrens, die gleichsam in der »Scholle« zu finden und durch »lebendige Differenziertheit«41 geprägt sei, entgegengetreten werden. »Die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft ist die Lehre von der natürlichen Ungleichheit der Menschen«, schreibt Riehl. »Ja, in dieser Ungleichheit der Gaben und Berufe wurzelt die höchste Glorie der Gesellschaft, denn sie ist der Quell ihrer unerschöpflichen Lebensfülle.«42 Ganz im Gegensatz zu diesem Entwurf einer »konservativen Wildnis«43 wurde das Salzkammergut aber als Modell einer harmonisch-utopischen bzw. der bürgerlichliberalen Gesellschaft betrachtet, das sich durch das Fehlen von Standes- oder Klassenunterschieden auszeichnet. Im »dritten Raum« des Salzkammergutes, in der harmonischen Natur, war man zuallererst Mensch und erst in zweiter Linie adelig, bürgerlich, bäuerlich oder proletarisch.44 Der Geologe und Anthropologe Ferdinand von Andrian beschrieb Altaussee zu Beginn des 20. Jahrhunderts als frei von »Standesunterschiede[n] und Altersgrenzen […]. Der Verkehr vollzieht sich ohne Zwang, jedoch mit natürlichem Anstande«.45 Sinnbild dieser harmonischen Gesellschaft ist etwa die eheliche Verbindung von Erzherzog Johann und Anna Plochl, dem 40 Adalbert Stifter, Bergkristall, in: Ders., Gesammelte Werke 2/II, 204 f. 41 Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, 150. 42 Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, 11. Auflage, Stuttgart 1908, 52. 43 Termeer, Verkörperung des Waldes, 547. 44 Thomas Hellmuth, Die »Erfindung« des Salzkammerguts. Imaginationen alpiner Räume und ihre gesellschaftlichen Funktionen, in: Jon Mathieu/Simona Boscani Leoni, Die Alpen! Les Alpes! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance – Pour une histoire de la perception européenne depuis la Renaissance, Berlin u. a. 2005, 350 f. 45 Ferdinand von Andrian, Die Altausseer. Ein Beitrag zur Volkskunde des Salzkammergutes. Nachdruck der Originalausgabe, Altaussee 1975 (Erstauflage 1905).

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»einfachen« Mädchen aus dem Volk, das freilich als Postmeisterstochter eher zur lokalen Oberschicht zählte. Dennoch steht diese Liebesgeschichte letztlich für eine Gesellschaft, in der nur Liebe und Menschlichkeit existiert, damit auch ein gleichberechtigtes und harmonisches Miteinander von Bürgern.46 Der politische Erzherzog Johann, der unter anderem von der Nationalversammlung in der Paulskirche zum gesamtdeutschen Reichsverweser gewählt wurde,47 wird dagegen ausgeblendet und »zur volkstümlichen Gestalt eines noblen Jägers im sauberen Steirergwand«48 verklärt. Tatsächlich fanden sich aber im Salzkammergut die sozialen und politischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Zeit, auch wenn sie lokal- und regionalspezifisches Kolorit aufwiesen: Bereits in den 1840er-Jahren hatte sich etwa in Goisern und Hallstatt eine liberale, deutschnationale und antiklerikale Gruppe um den »Bauernphilosophen« Konrad Deubler gegründet, die zur Spaltung der regionalen Gesellschaft beitrug. Deubler leitete den Hallstätter »Leseverein«, der die freisinnigsten deutschen Blätter abonniert hatte, und stand mit namhaften Dichtern und Gelehrten in einem regen Briefkontakt. Wegen Hochverrats und Religionsstörung verbrachte Deubler in den 1850er-Jahren mehrere Jahre im Gefängnis.49 Nach der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 klagte der Gmundner Pfarrer über das Ausbleiben der Osterbeichte, zumal »bey der neuen Freyheit auch […] hier der Zwang« aufhöre und es »bey aller Anstrengung […] umöglich« sei, »den verderblichen Strom des Radikalismus einiger Köpfe, welche durch die schlechten Schriften verführt werden, wehren zu können«.50 Die Situation verschärfte sich durch das Nebeneinander von Katholiken und Protestanten, die für liberale Ideen besonders aufgeschlossen waren und »unter falscher Interpretation der Denk-, Rede-, Preß- und Glaubensfreiheit auf alle Weise aufzuregen suchen, indem sie in ihrem Verkehr mit dem hiesigen Katholiken diesen frey erklären: Der jetzige Pabst [sic!] halte mehr zu ihnen, als zu den Katholiken; jetzt werde es sich zeigen, dass bisher die Katholiken irrig daran gewesen seyen […] ; die Zeit sey jetzt da, wo Eine Herde und ein Hirt seyn werden; ihre Pastoren würden bald in den katholischen Kirchen predigen […]; es seyen auch die Herren überflüssig, da die Völker dermahlen [sic!] schon sich selbst zu regieren wüssten.«51 Auch in Gosau lebten laut dem dortigen Pfarrer die »Confessionen […] feindlich nebeneinander«.52 Nach 46 Hellmuth, Das Salzkammergut, 361f. 47 Zum politischen Erzherzog Johann siehe: Elke Hammer-Luza, Zwischen Brandhof und Paulskirche. Die politischen Visionen von Erzherzog Johann, in: Hellmuth et al. (Hg.), Visionäre bewegen die Welt, 70– 81. 48 Hans Magenschab, Erzherzog Johann. Habsburgs grüner Rebell, Graz/Wien/Köln 1981. 49 Gerhart Baron, Der Beginn. Die Anfänge der Arbeiterbewegung in Oberösterreich, Linz 1971, 78–80. 50 Diözesanarchiv Linz, Kommunikantenberichte 1844–1857, M I/II, Communikantenbericht 1848, darin: Kommunikanten-Bericht der Pfarre Gmunden im Dekanat Gmunden pro Anno 1848, 18. Juli 1848. 51 Ebd., darin: Communicanten-Bericht. Von der Pfarre Ischl im Decanate Gmunden vom Jahre 1847. 52 Ebd., darin: Kommunikantenbericht der Pfarre Gosau im Dekanate Gmunden pro 1848, 22. Mai 1848.

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1850, nachdem in Österreich der Neoabsolutismus das Aufflackern liberaler Ideen durch Repressionen zu ersticken drohte, wurde in kirchlichen Kreisen über Beamte geklagt, »die aus dem Schiffbruche ihres Glaubens noch nicht gerettet« seien und »die Larve der Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Gang der Dinge vor dem Gesicht haben, aber bey nächster Gelegenheit ihre innere Anhänglichkeit an Umwälzung, besonders die Verachtung der Religion wieder an Tag legen«.53

Die proletarische Erzählung Neben der bürgerlichen Erzählung existiert auch eine andere, weniger die Harmonie betonende als in der Klassengesellschaft verankerte Erzählung: Durch die lange Tradition der Salzarbeit dient das Salzkammergut aus der Innen- und Außenperspektive als Modell einer proletarischen bzw. widerständigen Gesellschaft. So habe sich bereits sehr früh ein selbstbewusstes Proletariat entwickelt, das die »Tradition der Revolution«54 in sich trage. Als Begründung für diese Annahme wurde die besondere Bedeutung der staatlichen Salzarbeiter angeführt, die – nicht zuletzt auch aufgrund der vielen Privilegien, die ihnen als Spezialisten gewährt wurden – zu einem besonders hohen Selbstbewusstsein und Organisationsgrad beigetragen haben soll. Daraus sei wiederum die Bereitschaft resultiert, sich immer wieder gegen soziale Veränderungen zur Wehr zu setzen.55 Es verwundere daher nicht, dass der Protestantismus als Mittel zur Abgrenzung gegen den absolutistischen Obrigkeitsstaat breiten Anklang im Salzkammergut fand. »Der Protestantismus wurde damals scharf bekämpft«, schreibt die sozialdemokratische »Wahrheit« im Jahr 1911, »viele Protestanten mussten das Salzkammergut, ihre herrliche Heimat, auf immer verlassen […]. Der Protestantismus brachte für die Arbeiter die Freiheit freilich nicht; er konnte sie nicht bringen. Aber gut ist es trotzdem, dass der Protestantismus kam und blieb, wenigstens gut in Oesterreich, als ein Gegenmittel gegen die herrschsüchtigen Römlinge.«56 Bei genauerer Betrachtung erweist es sich allerdings als problematisch, Widerstände und Aufstände unterschiedlichster Ausprägungen und Intentionen, begonnen mit einem Salzaufstand im ausgehenden 14. Jahrhundert bis hin zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen oder gar in einem »›eigenen‹ Menschentypus«57 zu verorten. 53 Diözesanarchiv Linz, Kommunikantenberichte 1844–1857, M I/II, Kommunikantenbericht 1849, darin: Dekanat Gmunden an Bischöfliches Konsistorium, Praes. 1908, 23. Juni 1852. 54 Michael Kurz, Die Tradition der Revolution. Der Bauer Franz Muß und der Widerstand im Salzkammergut, in: Hellmuth et al. (Hg.), Visionäre bewegen die Welt, 93–104. 55 Zu den Aufständen im Salzkammergut siehe: Kurz, ebd., 93–104. 56 Jg. Peer, Die Arbeiterbewegung im Salzkammergut, in: Wahrheit, 24. Dezember 1911. 57 Kurz, Die Tradition der Revolution, 93.

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So ist zum Beispiel die Vorstellung einer modernen revolutionären Arbeiterschaft zu relativieren: Ende der 1860er-Jahre wurden in Hallstatt und Goisern liberale Arbeiterbildungsvereine gegründet, in denen sich vor allem ärarische bzw. staatliche Berg- und Salinenarbeiter organisierten. Einige Jahre nach ihrer Gründung, als die Salzproduktion zunehmend modernisiert und rationalisiert wurde,58 wandelten sich diese liberalen Vereine zu sozialistischen Organisationen. Die meisten protestantischen und schließlich auch katholischen Gemeinden wurden um 1900 von den Sozialdemokraten dominiert. »Die Gemeinde ist rot, der rote Bürgermeister gehässig und lügenhaft«, entsetzte sich etwa das Ischler Dekanat im Jahr 1930 über die politischen Verhältnisse in Hallstatt.59 Und selbst nach der Errichtung des österreichischen Ständestaates schien keine Ruhe einzukehren : »[…] doch arbeiten […] die radikalen Elemente […] umso lebhafter, wenn auch verborgen.«60 Tatsächlich blieben die Vereine im »inneren Salzkammergut« aber gemäßigt, beschränkten sich in ihrer Arbeit vor allem auf die ihnen angeschlossenen Konsumvereine »und gaben nur die Adressaten für die Bemühungen der Funktionäre aus anderen Berufen ab«.61 Während in Oberösterreich die meisten um 1870 gegründeten Arbeitervereine bereits nach wenigen Jahren behördlich verboten worden waren, bestanden die Vereine in Hallstatt und Goisern noch bis 1938 ; in diesem Jahr wurden sie von den Nationalsozialisten aufgelöst.62 Das Zentrum der sozialistischen Arbeiterbewegung hatte sich in Gmunden befunden, gleichsam am Eingang des Salzkammerguts, wo bezeichnenderweise erst 1882 ein Arbeiterbildungsverein gegründet worden war, der sich von Anfang an als sozialdemokratisch verstanden hatte und in dem vor allem Handwerksgesellen organisiert waren. Das politisch recht gemäßigte Verhalten der Berg- und Salinenarbeiter resultierte nicht aus der natürlichen Harmonie, welche die bürgerliche und später auch die österreichische Erzählung beschwor, sondern aus einer arbeitsrechtlichen Sonderstellung. Die Saline beschäftigte »ständige« und »unständige« Arbeiter, wobei bei diesen beiden Arbeiterkategorien wiederum nach verschiedenen Verwaltungsämtern differenziert wurde. Die Löhne und auch die Privilegien, die den Salzarbeitern als nur schwer ersetzbare Fachleuten gewährt wurden, variierten daher sehr stark und trugen dazu bei, dass die Salzarbeiter mehrere berufsständische Identitäten aufwiesen : Zum einen grenzten sie sich in ihrer Gesamtheit als eigene berufsständische Gruppe nach 58 Thomas Hellmuth, »Stolz auf ihren Stand«. Salzarbeiter in der Habsburgermonarchie zwischen berufsständischer Identität und Industrialisierung (1750–1900), in: Der Anschnitt, 2–3 (1999), 76–79. 59 Diözesanarchiv Linz, Visitationsberichte 1930, M I/II, darin : Visitations-Befund, Dekanat Bad Ischl, Pfarre Hallstatt, 12. Juni 1930. 60 Diözesanarchiv Linz, Visitationsberichte 1932–1934, MI/II, Visitationsberichte 1934, darin: Visitationsbericht, Dekanat Bad Ischl, Pfarre Hallstatt, 11. Juni 1934. 61 Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien/München/Zürich 1981 (Veröffentlichung des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung), 268. 62 Baron, Der Beginn, 72, 100.

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außen hin ab, zum anderen wurden ihre Identitäten aber auch von der Zugehörigkeit zu einer der zahlreichen Berufsgruppen im Salzwesen geprägt, die sich durch eigene kulturelle Praktiken auch voneinander abgrenzten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts kam es im Zuge der Industrialisierung der Salzproduktion und der damit verbundenen Proletarisierung der Salzarbeiterschaft zur allmählichen Aufhebung der Unterschiede zwischen den Gruppen, indem das Lohn- und Privilegiensystem systematisiert und vereinheitlicht wurde.63 Allerdings konnte diese Entwicklung mit der Betonung der kulturellen Traditionen vorübergehend kompensiert werden. 64 Salzarbeiter verstanden sich folglich nicht primär als Proletarier, sondern als berufsständische Gruppe(n), die sich durch zahlreiche Privilegien auszeichnete(n) und gleichsam zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum stand(en). Der Protest dieser Arbeiterschaft ist daher nur schwer mit jenen »klassischer« Arbeiter gleichzusetzen. Vielfach wurde der Status quo oder die Rückkehr zu alten Rechten angestrebt und keineswegs im Sinne eines Klassenkampfes aufbegehrt. Als etwa 1928 das Jubiläumsfest anlässlich des 80-jährigen Bestehens der Salinenkapelle Ebensee gefeiert wurde, erinnerten die Reden mehr an die Glorifizierung der alten Ständegesellschaft. Von der Bedeutung »des uralten Bergmannsgeistes der Zusammengehörigkeit und Kameradschaft, des ehernen Zusammenhalts in Not und Gefahr, alles umfassend, vom ersten Leiter bis zum letzten Arbeiter«, wurde gesprochen, »vom Stolz und Standesbewußtsein, wie es kein anderer Zweig der Technik hat […]. Die alte Zeit mit ihrer poetischen Beschaulichkeit und gemütvollen Kultur ist verschwunden. Unerbittlich und unaufhaltsam dringt der neue amerikanische Geist der Rationalisierung und der damit verbundenen Mechanisierung und Hast in der Gütererzeugung auch in unser Wirtschaftsleben […]. Damit muss manches Althergebrachtes […] fallen und die nüchterne Maschine dringt auch in unseren Betrieb immer mehr und mehr ein. Gegen diesen kalten, nüchternen Geist der Mechanisierung können wir uns nur schützen, indem wir alles pflegen, was unser Gemüt erhebt, damit unsere Seele nicht verdorre.«65 Schließlich ist auch das Salzkammergut als Ort des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, der nicht zufällig in der widerständigen Region auf fruchtbaren Boden gefallen sei,66 zu problematisieren : Keineswegs waren alle protestantischen Arbeiter 63 Zum Lohn- und Privilegiensystem siehe ausführlich : Thomas Hellmuth, Traditionssuche und aufgeschobene Proletarisierung. Österreichische Salzstädte im 19. Jahrhundert, in: Werner Freitag (Hg.), Die Salzstadt. Alteuropäische Strukturen und frühmoderne Innovation, Bielefeld 2004 (Studien zur Regionalgeschichte, 19), 227–233. Ders., »Stolz auf ihren Stand«, 76–82. 64 Siehe dazu ausführlich: Thomas Hellmuth, »Die alte Zeit mit ihrer poetischen Beschaulichkeit …«. Kulturelle Traditionen und Identitäten in europäischen Salzregionen (1800–2000), in: Ders./Ewald Hiebl (Hg.), Kulturgeschichte des Salzes. 18. bis 20. Jahrhundert, Wien/München 2001, 250–254. 65 Werkszeitung der Oesterreichischen Salinen, 1/8 (1928), 117. 66 Susanne Rolinek, Für die Republik Ausseerland. Die NS-Widerstandskämpfer im Salzkammergut, in :

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Abb. 6: Stolz auf ihren Stand: Salzarbeiter präsentieren sich anlässlich eines historischen Festzugs in der traditionellen Tracht der Salzträger und mit typischem Werkzeug (nach 1945)

Widerstandskämpfer ; ganz im Gegenteil hatten viele bereits vor dem Anschluss Österreichs an Deutschland mit dem Nationalsozialismus sympathisiert,67 vor allem, als sich der österreichische Ständestaat als besserer, weil auf katholischer Grundlage beruhender deutscher Staat proklamierte. Zwar begrüßte das bischöfliche Ordinariat nach der Ausschaltung des Parlaments im Jahr 1933 und dem damit verbundenen Verbot des sozialdemokratischen Schutzbundes und der NSDAP das angebliche »Abschwenken der Bevölkerung im Salzkammergute (besonders in Hallstatt) von den sozialdemokratischen und nationalsozialistischen Grundsätzen«.68 Allerdings scheint die Freude eher Ausdruck eines Wunsches gewesen zu sein, zumal andere Quellen die illegale Tätigkeit politischer Gegner des Ständestaates bestätigen. So berichtet etwa der Visitationsbericht von 1934 über die Pfarre Goisern: »Das Vorherrschen der Protestanten und ihr geldkräftiger Einfluss macht vile [sic!] Schwierigkeiten. Zudem Hellmuth et al. (Hg.), Visionäre bewegen die Welt, 105 f. Gerhard Botz, Regionale Gesellschaft und lange Traditionen des Widerstandes im Salzkammergut, in: Christian Topf (Hg.), Auf den Spuren der Partisanen. Zeitgeschichtliche Wanderungen im Salzkammergut, Grünbach 1996, 12–39. 67 Wolfgang Quatember/Ulrike Felber/Susanne Rolinek, Das Salzkammergut. Seine politische Kultur in der Ersten und Zweiten Republik, Grünbach 1999. 68 Diözesanarchiv Linz, Visitationsberichte 1932–1934, M / I/II, Bischöfl. Ordinariat an das Dekanat in Bad Ischl, Linz, 13. April 1934, Zl. 633, in: Visitat. Erledigungen für 1933.

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sind die Protestanten zumeist rot oder braun. Es bedarf vieler Klugheit, um schwere Konflikte zu vermeiden.«69 Eine ähnliche Klage wurde über die Pfarre Gosau geführt: »Die Bevölkerung ist fast durchwegs protestantisch und socialistisch o. nationalsozialistisch, der evangelische Pfarrer und die Forstbeamt. zumeist voran.«70 Und auch St. Wolfgang war laut Visitationsbericht von 1934 »ganz nationalsocialistisch«.71

Die österreichische Erzählung Zugleich mit der österreichischen Nationsbildung nach 1945 erfolgte auch die Konstruktion einer österreichischen Identität,72 die unter anderem – gefördert durch den Staatsvertrag und die Neutralität – auf der Vorstellung von Österreich als Opfer des Nationalsozialismus aufbaute. In der Folge wurden Friedfertigkeit, Gutmütigkeit und Harmoniebedürfnis zu österreichischen Wesensmerkmalen hochstilisiert, zumal sie die Ablehnung des Nationalsozialismus durch die österreichische Bevölkerung beweisen sollten. Damit in Verbindung setzte sich auch der Topos vom »Herzen Europas« durch: Eingebettet zwischen Ost und West sollte Österreich eine Vermittlerfunktion einnehmen. Und eine solche war der Zweiten Republik von der Geschichte angeblich auf den Leib geschneidert, weil sich die Politik der Habsburger nicht primär auf Kriege, sondern auf die »Macht des Herzens«, die Heiratspolitik, gestützt habe. Der noch in der Ersten Republik verbreitete Deutschnationalismus verlor an Bedeutung, und Militarismus war nur noch in der Minimalversion des österreichischen Bundesheeres möglich. Als weitere Bausteine der österreichischen Identität nach 1945 gelten die angeblich strikte demokratische Grundeinstellung, die Verknüpfung von Modernität und dem Festhalten an kulturellen Traditionen, die von den Trachten über die Volksmusik bis zu kulinarischen Schmankerln reichen, sowie der habsburgische Mythos, d. h. der Mythos des guten alten Kaisers und der »Mythos des Walzers und der Lebensfreude«73. Dazu kommt die (Hoch-)Kultur in Form von Mozart, Wiener Sängerknaben und Lipizzanern sowie die spezifische österreichische Landschaft, deren Schönheit sich angeblich aus ihrer Vielfalt ergibt und die zugleich die Modernität

69 Ebd., Visitations-Befund, Dekanat Bad Ischl, Pfarre Goisern, 14. Juni 1934, in: Visitationsberichte 1934. 70 Ebd., Visitations-Befund, Dekanat Bad Ischl, Pfarre Gosau, 26. Juni 1934, in: Visitationsberichte 1934. 71 Ebd., Visitations-Befund, Dekanat Bad Ischl, Z. 2299, 13. März 1935, Bischöfliches Ordinariat an das Dekanatsamt Bad Ischl, Linz, 25. Mai 1935. 72 Siehe dazu u. a.: Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlichpolitische Prozesse, 2. Auflage, Wien/Köln/Graz 1996. Dieter A. Binder/Ernst Bruckmüller, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918–2000 (Österreich Archiv), Wien/München 2005, 103–110. 73 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, 2. Auflage, Salzburg 1988, 18.

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Österreichs widerspiegle.74 Damit unterscheidet sich Österreich im Übrigen von der Schweiz, die in erster Linie mit Bergen und Extremlandschaften konnotiert wird.75 Leopold Figl betonte etwa in seinem Vorwort zu dem Band »Schatzkammer Österreich« (1948) die Fähigkeit der Österreicher, ihre Siedlungen »harmonisch« in eine Landschaft einzufügen, wodurch sie eine »wohlgelungene Komposition geschaffen« hätten, »deren Anblick jeden Besucher entzückt«. Unterrichtsminister Felix Hurdes sprach von »der Lieblichkeit bis zum Erhabenen«, das »auf dem Gebiet vereint [sei], das wir Österreich, unsere Heimat, nennen«. Und Handelsminister Ernst Kolb pries die österreichische Landschaft als »vielgestaltig und immer reizvoll«.76 Derselbe Tonfall findet sich auch bei Wolfgang Madjera, der in seinem Buch »Die österreichische Landschaft« deren unerschöpflichen »Wechsel vielgestaltiger Bilder« lobt: »Was immer das Binnenland an Reisen zu bieten hat, hier ist’s in unübertrefflicher Harmonie ausgebreitet, verwoben und zusammengefasst.«77 Diese Vielfalt in der Einheit verbindet das »typisch Österreichische« mit bestimmten Städten, Regionen und Bundesländern. Und tatsächlich sieht sich die österreichische Bevölkerung im Selbstbild als sehr inhomogen und misst regionalen Differenzen große Bedeutung zu, ohne aber die nationale Klammer zu lösen.78 Folglich kann der Prozess der Nationsbildung nicht als Nivellierung der Regionen betrachtet werden. Diese bilden vielmehr konstituierende Teile der Nation, indem die an überschaubare Räume gebundenen Identitäten erhalten bleiben, gleichzeitig aber auch überregionale bzw. nationale Bedeutung besitzen. Zum einen wurde damit das Salzkammergut zu einem Bestandteil österreichischer Identität, zu einer österreichischen »Kernlandschaft«, zum anderen gilt es gleichsam als Miniaturausgabe der österreichischen Gesellschaft. So ist die Region angeblich von Menschlichkeit und Harmonie geprägt, die vielfältigen, angeblich »authentischen« Traditionen werden gepflegt, und die habsburgische Geschichte wird in ein »habsburgisches Disneyland« umgedeutet und touristisch vermarktet. Am 18. August jedes Jahres wird etwa in Bad Ischl der Geburtstag von Kaiser Franz Joseph gefeiert; zu seinen Ehren findet unter anderem eine »Kaisergala« statt, die musikalisch vom Franz-Lehár-Orchester umrahmt wird.79 Die Operette erlebt zur Sommerzeit eine alljährliche Wiedergeburt, und zahllose Touristen pilgern zur Kaiservilla, um in eine verklärte dynastische Welt einzutauchen. Nicht zufällig schrieb die Filmkritik über den Spielfilm »Rendezvous im Salzkammer74 Breuss/Liebhart/Pribersky, Inszenierungen, 179. Zur Vielfalt der Landschaft siehe : Kos, Landschaft, 211–215. 75 Kos, Landschaft, 225; Günter Schweiger, Österreichs Image in der Welt. Ein weltweiter Vergleich mit Deutschland und der Schweiz, Wien 1992. 76 Schatzkammer Österreich. Wahrzeichen der Heimat in Wort und Bild, Wien 1948. 77 Wolfgang Madjera, Die österreichische Landschaft, Wien 1945, 19. 78 Breuss/Liebhart/Pribersky, Inszenierungen, 84, 86. 79 www.badischl.com/de/1-0-0–1364448/detail/badischl.html, 18. Mai 2008.

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gut« (1948, Regie : Alfred Stöger), einen typischen Heimatfilm der 1940/50er-Jahre, der rund um den Wolfgangsee produziert wurde, von »wunderschönen Landschaftsaufnahmen«, die »ein echt österreichisches Kolorit« erzeugen würden.80 Gleichsam als »Urlaubsreise im Kinosessel«81 konzipiert, bettet der Film eine Liebesgeschichte in die Landschaft des Salzkammerguts, die als Ort erscheint, in dem der Mensch – fernab von den Sorgen des Alltags und den politischen Wirren – seine Erfüllung findet: eine Märchenwelt sozusagen, in der »Menschlichkeit« vorherrscht.82 Die österreichische Nachkriegsgesellschaft griff demnach auf die harmonische Landschaftserzählung der bürgerlichen Gesellschaft zurück, die bereits in der Zwischenkriegszeit – freilich unter anderen Voraussetzungen als nach 1945 – als Merkmal der österreichischen Nation und Identität verortet worden war. In einem Reiseführer aus den 1930er-Jahren ist etwa zu lesen: »In diesem einzigartigen Wechsel von Lieblichkeit und Ernst erscheint das Salzkammergut als die österreichische Landschaft, keiner seiner Berge, von deren Gipfel der Blick nicht auch in die Weite der Donauebene dränge, kein See und kein Ort, den nicht der nahe oder ferne Berg feierlich erhöhe. Jenseits des Salzkammerguts werden die Berge rauher, gnadenloser, schon weil das freundliche Gegenspiel der Seen fehlt; oder die Grenze ist nah und türmt die Berge zu Wällen. Hier aber, drei österreichische Kronländer umfassend, im Bannkreis des renaissancen, des barocken Salzburg, der derberen Volksstadt Linz, des steirischen Oberlandes, schlägt das Herz Österreichs, der österreichischen Berge und Landschaften vielleicht am stärksten und eigensten.«83 Freilich handelt es sich hier auch um einen Versuch, in den politischen Wirren der 1930er-Jahre den autoritären österreichischen Ständestaat, der sich als besserer, weil auf katholischer Grundlage beruhender deutscher Staat verstand, gegen das nationalsozialistische Deutschland abzugrenzen. Von einer österreichischen Identität im heutigen Sinn kann daher keine Rede sein ; dennoch finden sich bereits jene Topoi, die auch nach 1945 zur Beschreibung der österreichischen Besonderheiten bzw. der Besonderheiten des Salzkammerguts dienten. Anfang der 1950er-Jahre beschrieb etwa Franz Lipp das Salzkammergut als »die Vereinigung des Kraftvollen mit dem Freundlichen und Gewinnenden«.84 Peter Il80 ÖKZ, 27. März 1948, zit. bei : Gertraud Steiner, Die Heimat-Macher. Kino in Österreich 1946–1966 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, 26), Wien 1987, 76. 81 Steiner, Die Heimat-Macher, 75 82 Diese Märchenwelt zeigt sich auch in anderen Filmen, bei denen das Salzkammergut als Kulisse dient, etwa beim Spielfilm »Sissi« (1955, Regie: Ernst Marischka), der Natur und Menschlichkeit gleichsetzt. Siehe dazu: Thomas Hellmuth, Sissis Flucht. (De-)Konstruktion einer heilen Welt, in : XING. Ein Kulturmagazin, 2 (2005), 19–21. Ders., Das Salzkammergut, 360 f. Steiner, Die Heimat-Macher, 211f. 83 H. Stifter, Salzkammergut und Dachstein, München 1934, 13, zit. bei: Martin Hebertshuber und Günther Marchner, Projektbereich Leitbilder und Nutzungskonflikte. Raum und Ökonomie. Forschungsschwerpunkt Kulturlandschaft: Kulturlandschaft im Kopf, unveröffentlichtes Manuskript, Wien 1997, 92. 84 Franz Lipp, Das Salzkammergut. Wesen einer Landschaft, Gmunden/Bad Ischl 1951, 7.

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ler schwärmte in seinem Salzkammergut-Führer, der 1947 in der Reihe »Perlen aus Österreich« herausgegeben wurde : »Und die Landschaft […] Es gibt wenige Gebiete dieser Erde mit so harmonisch abgestimmten Landschaftsbildern, wo Berge, Täler, Wälder und Seen zu beglückendem Ganzen verschmelzen, Freude Frieden und Entzücken verschwenderisch schenken. Bewohner und Bauten sind mit diesem Landschaftsbild innig und malerisch verbunden, so kann es nicht wundernehmen, wenn das Salzkammergut immer wieder als Motiv oder Hintergrund in Literatur, Operette und Film erscheint.«85 Bis heute hat sich dieses Bild der Vielfalt in der Einheit und damit auch die Modellfunktion des Salzkammerguts für ganz Österreich erhalten, wie etwa eine Beschreibung im Internet belegt: »Es vereint Hügelland und schroffen Fels, sinnliche Wasserlandschaften, dunkle Wälder und geheimnisvolle Hoehlen, die auf die Phantasie einwirken. Das Salz, das der Region den Namen gab, war Quelle des Reichtums. Aus einer unglaublichen Vielfalt bäuerlicher Kultur entstand ein Lebensstil, wie er österreichischer nicht sein könnte.«86 Auch das Klischeebild des »Bauernlandes Österreich«, das eng mit dem Bild der harmonischen Natur in Verbindung steht, wird hier bedient, obwohl im Salzkammergut die Landwirtschaft nur eine periphere Rolle spielte. Lediglich im Nebenerwerb, als weiteres ökonomisches Standbein, waren die ärarischen bzw. staatlichen Salzund Holzarbeiter in der Landwirtschaft tätig gewesen. Erst mit der Auflösung der traditionellen Grenzen infolge der touristischen Erschließung der Region kamen auch Gegenden zum Salzkammergut hinzu, die landwirtschaftlich geprägt waren. Ursprünglich hatte sich das Salzkammergut – der Begriff wird urkundlich erstmals im 16. Jahrhundert erwähnt – auf das sogenannte »Ischler Land« bezogen, das sich vom Südufer des Traunsees bis zum Südende des Hallstätter Sees, im 18. Jahrhundert auch in das steirische Ausseerland erstreckte. 1762 wurde das Ausseerland wieder ausgegliedert, um schließlich 1825 neuerlich dieser »Einheit für sich«, dem »Salzstaat«, zugerechnet zu werden.87 Seit dem 19. Jahrhundert verschwammen die Grenzen aber zunehmend : Die Gebiete um den Mondsee, Attersee, Wolfgangsee und Fuschlsee, schließlich auch das Gebiet nördlich von Gmunden wurden allmählich dem Salzkammergut zugerechnet, das Ferdinand Krackowizer bereits 1898 nur noch als »touristischen Begriff gelten« ließ, »der den Bedürfnissen des steigenden Fremdenverkehrs zuliebe ohne genaue geographische Abgrenzungen geschaffen worden ist«.88 85 Iller, Salzkammergut, 13f. 86 http://members.chello.at/mchristian/defaulto.htm, 20.2.2003. 87 Victor Felix von Kraus, Die Wirtschafts- und Verwaltungspolitik des aufgeklärten Absolutismus im Gmundner Salzkammergut. Dargestellt aufgrund archivalischer Quellen, Freiburg i. Br./Wien 1899, 4–70. Angelika Maria Ingeborg Pauli, Das Salzkammergut. Ein Begriff im Wandel der Zeit. Raumbezogene Urteilsstereotype und Mental Maps, phil. Dipl. Salzburg 1992, 29–46. 88 Ferdinand Krackowizer, Geschichte der Stadt Gmunden in Oberösterreich, Gmunden 1898, 8.

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Die im 19. Jahrhundert in das Salzkammergut reisenden »Zivilisationsflüchtlinge« nahmen an, dass die angeblich harmonische Natur des Salzkammerguts die Einheimischen prägen würde. Die österreichische Erzählung übernahm diese Vorstellung und transformierte sie für ihre Zwecke. Der Einheimische des Salzkammerguts erscheint so als Prototyp des zufriedenen und glücklichen Menschen, als österreichischer Bürger schlechthin: »Gleichviel, weilt man im weltbekannten St. Wolfgang, Ischl, Aussee oder sonst einem der vielen herrlichen Orte, die aus dem Boden strömende Fröhlichkeit erfüllt jeden ; heißt es doch : Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein […] Die Lebensart seiner Bewohner ist aus ihrer Umgebung gewachsen, es sind frohe Menschen mit weitem Blick und offenen Herzen.«89 Die österreichische Erzählung heftete infolge der Niederlage des Nationalsozialismus die bürgerlich-liberale Demokratie und die im bürgerlich-liberalen Gesellschaftsmodell verankerte Gleichberechtigung der Bürger auf ihre Fahnen. In diesem Zusammenhang bedeutete Natur vor allem Menschlichkeit und – wenn auch nur vordergründig, denn eine soziale Hierarchie blieb freilich etwa in der Form von Titeln auch weiterhin erhalten – die Aufhebung sozialer Differenzierung. Damit korrelieren letztlich auch der habsburgische Mythos und die Kultur, die diesem Mythos implizit ist und die in einer Zeit der Harmoniesuche eine Möglichkeit der Identifikation bot. Am Beispiel der Operettenfestspiele in Bad Ischl, die noch heute an die Sommerfrischler Johann Strauß und Franz Lehár erinnern, zeigt sich etwa das Bedürfnis der Zweiten Republik, der Politik und den damit verbundenen, für eine demokratische Gesellschaft unabdingbaren politischen Auseinandersetzungen zu entfliehen. Auch wenn sich in manchen Operetten durchaus Politik- und Sozialkritik versteckt, lösen sich Konflikte und soziale Unterschiede letztlich in einer märchenhaften Harmonie auf.90 Mit einer solchen imaginären Welt konnte sich die österreichische Gesellschaft, die nach 1945 »Menschlichkeit« im Sinne von sozialer Harmonie und sozialem Frieden anstrebte, durchaus identifizieren. Die gesamte Habsburgermonarchie erschien im Salzkammergut als Operette, in der Uniformen ihre martialische Bedeutung verloren und nur noch als Staffage zu dienen hatten. Die sozialen Unterschiede schienen nebensächlich, in erster Linie war man Mensch und erst in zweiter einem Stand oder einer Klasse zugehörig. Diese Harmonie, die aber auf soziale Hierarchien letztlich nicht verzichten kann, findet sich etwa im Spielfilm »Der Obersteiger« (1952, Regie : Franz Antel) :91 In Hallstatt hält man Prinz Max von Bayern, dargestellt von Hans Holt, für einen Obersteiger, d. h. für eine Aufsichtsperson im Bergbau. Dagegen wird ein geldknapper 89 Iller, Salzkammergut, 14. 90 Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität, Wien/Köln/Weimar 1996. 91 Steiner, Die Heimatmacher, 138–140.

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Kavalier, den Wolf Albach-Retty verkörpert, mit einem Prinzen verwechselt. Auf dem Hallstätter Kirtag begegnen einander der vermeintliche Obersteiger und Prinzessin Luise (Josefin Kipper), die wie der Prinz inkognito reist. Obwohl beide meinen, der andere gehöre einem niederen Stand an, verlieben sie sich einander. Und auch der angebliche Prinz und eine Wirtstochter (Waltraut Haas) finden zueinander und sprengen – zumindest auf der Ebene der Illusion – die vom Standesunterschied eigentlich auferlegten Schranken. Am Schluss lösen sich freilich die Verwirrungen wieder auf, und die gesellschaftliche Ordnung wird wiederhergestellt : Der Kavalier und die Wirtstochter sind sozial ebenbürtig, Prinz Max von Bayern und Prinzessin Luise waren ohnehin schon von ihren Eltern füreinander bestimmt. »Kakanien«, wie es Robert Musil so trefflich beschrieben hat, scheint sich in dieser widersprüchlichen Harmonie zu spiegeln: »Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, dass man es gewöhnlich geschlossen hielt ; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedes Mal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, dass nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse.«92 Mit der Verbindung von Harmonie, habsburgischem Mythos und Kultur entspricht die Landschaft des Salzkammerguts der typisch österreichischen Kombinationsformel »Landschaft und Kultur«: »Nicht so sehr das urtümlich Alpine, sondern eher ein Mix aus historischen Bauten (vorzugsweise aus dem Barock), Habsburg und Musik, also ›Kultur‹ im weitesten Sinn, gilt als Synonym für Österreich. Die Attraktionen erscheinen allerdings eingebettet in Gottes schöne Natur […].«93 Selbst das Salz, das dem Salzkammergut einst seinen Namen gegeben hatte, wurde Teil dieser Kombinationsformel. Zum einen förderte der bereits 1819 in Ischl und 1867 in Aussee eröffnete Kurbetrieb mit Solebädern die Transformation der (proto)industriellen Salzregion, die der proletarischen Erzählung als Grundlage dient, in eine »ursprüngliche« Landschaft, die durch die Vielfalt in der Einheit geprägt und dennoch – im Sinne eines Organismus – harmonisch sei.94 Zum anderen ging die zunehmend folklorisierte Salzarbeiterkultur, etwa der Aufmarsch längst »ausgestorbener« Salzarbeiter anlässlich regionaler bzw. lokaler Festveranstaltungen, in der Vorstellung von Österreich als Land der Traditionen auf. Zwar dienen die mit der Salzproduktion verbundenen Traditionen zunächst für die Salzarbeiter als Erinnerungsorte, wenn es gilt, ihre be92 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Bd. 1. Erstes und Zweites Buch, hg. von Adolf Frisé, 16. Auflage, Reinbek b. Hamburg 2002, 33f. 93 Kos, Landschaft, 225. 94 Hellmuth, Die alte Zeit mit ihrer poetischen Beschaulichkeit, 255.

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rufsständische Exklusivität trotz der Industrialisierung zu betonen.95 Sie haben aber auch überregionale Bedeutung und sind Bestandteile einer österreichischen Identität. Die österreichische Erzählung wird auf diese Weise an lokale und regionale Identitäten rückgebunden und geht gleichsam im »dritten Raum« in einer neuen »Kultur« auf, die für das Salzkammergut spezifisch ist, zugleich aber auch – im Sinne des bereits erwähnten inhomogenen Selbstbildnisses der österreichischen Bevölkerung – sowohl von Einheimischen als auch von Fremden als typisch österreichisch empfunden wird.

Bildnachweis Abb.: 1: »Saarstein bei Altaussee« (Ferdinand Georg Waldmüller, 1835) – Adalbert-StifterMuseum Wien; Bild entnommen aus: Hellmuth, Thomas u. a. (Hg.): Visionäre bewegen die Welt. Ein Lesebuch durch das Salzkammergut, Salzburg: Pustet 2005. Abb. 2: »Traunseelandschaft mit Schloss Orth und dem Traunstein« (Ferdinand Georg Waldmüller, um 1830) – C. Bednarczyk, Wien; Bild entnommen aus: Schuböck, Christian (Hg.) : Österreichs Welterbe. Kulturdenkmäler und Landschaften unter dem Schutz der UNESCO, Wien: Brandstätter Verlag 2002. Abb. 3: »Das Innere einer Gletscherhöhle im Karlseisfeld« (Friedrich Simony, 1842) – Bibliothek Geologische Bundesanstalt Wien ; Bild entnommen aus : Hellmuth, Thomas u. a. (Hg.) : Visionäre bewegen die Welt. Ein Lesebuch durch das Salzkammergut, Salzburg: Pustet 2005. Abb. 4 : »Natur pur« : Naturprodukte konsumierende und daher gesunde Einheimische als Vorbild der bürgerlichen Gesellschaft – Aus : Bad Ischl im Salzkammergut. Ältestes Solebad in Österreich. Ein Führer für Kurgäste. Verfaßt von den Mitgliedern der Kurkommission, Ischl o.J. [1904]. Abb. 5 : Trachtenboom im Salzkammergut – Das Ischler »Spezialgeschäft« Gottwald unter anderem für »Herren- und Damenloden« – Aus : Bad Ischl im Salzkammergut. Ältestes Solebad in Österreich. Ein Führer für Kurgäste. Verfaßt von den Mitgliedern der Kurkommission, Ischl o. J. [1904]. Abbildung 6: Stolz auf ihren Stand – Bild im Besitz des Autors.

95 Ebd., 247–260.

Beatrix Müller-Kampel

Landschaft als magisch-tellurische Bestimmung und als soziales Feld Jakob Wassermann und Marta Karlweis im Ausseer Land

In der sechsten Auflage von »Ritter’s Geographisch-statistischem Lexikon« aus dem Jahr 1874, einem Standardwerk zur Ersterkundung aller damaligen »Erdtheile, Länder, Meere, Buchten, Häfen, Seen, Flüsse, Inseln, Gebirge, Staaten, Städte, Flecken, Dörfer, Weiler, […]«, erhielt Altaussee keinen eigenen Eintrag. Stattdessen duckt es sich zwischen »Ausschlag«, der »NW-Spitze des Billwärders, Freistaat Hamburg. 600 E.«, und »Aussem (Nieder- und Ober-), 2 Dfr. in Preussen« unter »Aussee, 1) fürstl. Liechtenst. Herrschaft und St. in Oesterreich, Mähren, Kr. Olmütz, Bez. Müglitz, an der March, mit einem schönen, in einem weiten Park angelegten Schlosse, 2136 E. 2) Marktflck. ebd., Steiermark, Bez. Liezen, eig. Gericht, an der Traun, 1234 E. Mit einer sehr bedeutenden Salzsiederei, welche die Soole aus dem aufgelösten Salzstein des ½ M. entfernten Sandling erhält. 3) (Alt-), Pf[ar]rd[or]f. ebd., 257, Gem. 1310 E.«1

Jakob Wassermann, der 1873 im fränkischen Fürth geborene und mit seinen Romanen »Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens« (1908), »Das Gänsemännchen« (1915), »Christian Wahnschaffe« (1919) und »Der Fall Maurizius« zum »Welt-Star des Romans« (Thomas Mann)2 aufgestiegene Romancier, war erstmals 1896 nach Altaussee gereist – mit dem Fahrrad. Von München aus kommend, besuchte er hier Hugo von Hofmannsthal, dessen Erzählung »Das Dorf im Gebirge« auf Empfehlung Wassermanns, damals Gehilfe, Bürofaktotum und Lektor im Verlag Albert Langen (München), im November-Heft des eben erst gegründeten »Simplicissimus« erschien. Die erste Begegnung Wassermanns mit Altaussee scheint also eine poetische gewesen zu sein, denn unschwer ist im »Dorf im Gebirge« hinter den geschilderten Landschaften und Menschen Obertressen bei Altaussee zu erkennen, wo Hofmannsthal Jahr für Jahr den Sommer verbrachte. Bereits um 1900, wird hier ersichtlich, war das Dorf Altaussee etwas, was man später touristisches Aushängeschild einer Region nennen wird, mit 1 Ritter’s Geographisch-statistisches Lexikon […]. 6., gänzlich umgearb., stark verm. u. verb. Aufl., unter Redaction v. Otto Henne-Am Rhyn, Leipzig 1874, Nachdruck 1983, 87. 2 Thomas Mann, Zum Geleit, in: Marta Karlweis, Jakob Wassermann. Bild, Kampf und Werk, Amsterdam 1935, 5–11, 7.

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allen problematischen Begleiterscheinungen wie etwa der Selbstausbeutung des Gewinns halber, denn die Bewohner räumten sommers die Zimmer mit Aussicht für die anreisenden »Fremden« (bis in die 1980er-Jahre der geläufige Ausdruck für Touristen, seitdem von PC und PR ins Abseits gedrängt) und zogen unters Dach. Mitunter zog man überhaupt aus, wie Jakob Wassermann es in der Erzählung »Die Romana«, einem satirischen Sozialporträt seiner Altausseer Hauswirtin, schildert: »Das größere Haus vermietet sie im Sommer an Stadtleute und bezieht während der Zeit mit dem Sohn und den Töchtern die dahinterliegende Hütte, wo sie zu viert in drei winzigen Kammern hausen. Aber so ist es allgemein üblich. Die Städter sind verwöhnt und wollen gut leben; sie wollen unter sich sein und haben eine närrische Vorliebe für das, was sie Ruhe nennen.«3

Wann genau der Strom aus Intellektuellen, Künstlern, Wissenschaftlern nach Aussee, Altaussee und Grundlsee eingesetzt hat, wird genau nicht mehr zu eruieren sein; jedenfalls wird es um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Wiener Gesellschaft, die sich die gute nennt, wie auch in Wiens künstlerisch-literarischen Feldern immer gebräuchlicher, die Sommerfrische im Salzkammergut zu verbringen, sich dort einzukaufen, Erholung und Inspiration zu suchen und dies untereinander wie auch nach außen stets mit landschaftlicher »Schönheit«, klimatischer »Frische« und geistiger Arbeit förderlicher »Ruhe« zu begründen. (Bad Ischl, im Herzen des Salzkammerguts und seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaiserliche Sommerresidenz, ist auch nah.) Für den einen oder die andere mögen die herabgestuften häuslichen Standards in den Altausseer Bauernhäusern mit dem Fluidum des »einfachen Lebens«, des »Zurück zur Natur« behaftet gewesen sein – freilich mit einem jederzeit widerrufbaren und unverbindlichen Fluidum, da schließlich Rückkehr jederzeit möglich war und der Aufenthalt von vornherein begrenzt. Weit stärker als die urlaubenden Politiker und Potentaten, die Ehefrauen und Kinder zogen die Dichter und Künstler daraus den sekundären Gewinn dessen, was der zeitgenössischen Distinktionslogik der ihrem Selbstanspruch nach künstlerischen Avantgarde »Inspiration« kraft »Einfachheit« und »Landschaft« war, und verzichteten deshalb mitunter ganz bewusst auf Komfort, obwohl man es sich leisten konnte (wie Hugo von Hofmannsthal). An »Künstlern im Ausseer Land« verzeichnet das lexikalische Kompendium der ebenso sorgfältig wie ansprechend gearbeiteten Tourismusbroschüre »v i a a r t is – Künstlerwege im Ausseer Land« rund 190, davon an Literaten rund 90, unter ihnen Leopold von Andrian (1875–1951), Raoul Auernheimer (1876–1948), Hermann Bahr (1863–1934), Richard Beer-Hofmann (1866–1945), Hugo von Hofmannsthal 3 Jakob Wassermann, Die Romana, in: J. W., Tagebuch aus dem Winkel (Ullstein Buch 22549), Frankfurt a. M. 1991, 19–40, 19 f.

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(1874–1929), Marta Karlweis, Thomas Mann (1875–1955), Rainer Maria Rilke (1875– 1926), Arthur Schnitzler (1862–1931) und Jakob Wassermann.4 Als Einzige unter ihnen wählten Wassermann und Karlweis Altaussee zum ständigen Wohnsitz, nämlich 1919, als Wassermann nach einer Phase der innerlichen Trennung von seiner Frau Julie Speyer (1876–1963), Mutter seiner vier Kinder, beschloss, aus der Sommerfrische nicht mehr in den gemeinsamen Wiener Haushalt zurückzukehren und fortan mit der um 16 Jahre jüngeren Marta Karlweis (verheiratete und geschiedene Stross, 1889–1965) eine Lebensgemeinschaft einzugehen. Es wurde überdies, wenn auch nur am Rande von Martas Obsorge für das gemeinsame Kind Carl Ulrich (1924–1978), für den Haushalt, die vielen Gäste und sommers oft auch für ihre zwei und Jakobs vier Kinder aus den ersten Ehen, eine Arbeitsgemeinschaft, denn auch Marta Karlweis dichtete, schrieb Journalistisches (das meiste davon verschollen beziehungsweise noch nicht recherchiert), vor allem jedoch Romane : »Die Insel der Diana« (1919), »Das Gastmahl auf Dubrowitza« (1921), »Amor und Psyche auf Reisen« (1928), »Ein österreichischer Don Juan« (1929) und »Schwindel. Geschichte einer Realität« (1931). Sowohl für die erste wie für die zweite Ehefrau hatte das Ausseer Land schon vor der Begegnung mit Wassermann Bedeutung. Julie Speyers Eltern verbrachten mit ihren sechs Töchtern und dem Sohn regelmäßig die Sommerfrische hier ; in Altaussee kamen Wassermann und Julie einander näher ; hier machte er ihr im Herbst 1900 einen Heiratsantrag. (Zwei Dezennien und viele Nervenkrisen, Anwaltstermine und Gerichtsverhaltungen danach wird es zwei Versionen von diesem Antrag geben: Jene Julies spricht von beiderseitig erwünschter Hochzeit,5 jene Wassermanns von einer durch die Frau erschlichene, ertrotzte, erpresste.6) Marta Karlweis’ Beziehungen zum Ausseer Land reichten in die früheste Kindheit, überspitzt formuliert noch vor ihre Geburt 1889 zurück und erstreckten sich überdies auf mehrere Familienzweige : Ihre Eltern Emilie und Carl Weiß – der Vater war Direktor der Südbahn, schrieb unter dem Pseudonym Karlweis zugkräftige Schwänke und Komödien und gehörte zum Griensteidl-Kreis – hatten die Hochzeitsreise nach Altaussee und Grundlsee unternommen7 und fuhren auch danach in die Sommerfrische ins Salzkammergut. Als verheiratete Stross war Marta Schwägerin der mit dem Komponisten Egon Wellesz 4 Vgl. Alfred Komarek [u. a.], via artis. Künstlerwege im Ausseer Land, 2. Aufl., Bad Aussee 1999, 112– 119. 5 Vgl. den Kommentar von Julie Wassermann-Speyer in: Jakob Wassermann, Briefe an seine Braut und Gattin Julie 1900–1929, eingel., hg. u. m. e. Anhang vers. v. J. W.-Sp. unter Mitarbeit ihres Sohnes Georg Maximilian, Basel 1940, 19. 6 Vgl. Jakob Wassermanns gnadenlose Abrechnung mit der ersten Frau in »Ganna oder Die Wahnwelt«, dem eingelegten Schlüsselroman im letzten, postum im Exil-Verlag Querido erschienenen Roman »Joseph Kerkhovens dritte Existenz«, Amsterdam 1934, 206–472, Kap. »Willst du oder willst du nicht?« 233–235. 7 Vgl. Alois Mayrhuber, Künstler im Ausseerland, hg. v. Friedrich Langer, 2. Aufl., Graz/Wien/Köln 1990, 79.

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verheirateten Byzantinistin Emmy Stross, die ihrerseits regelmäßig zur Erholung ins Ausseer Land fuhr. Was diese verwandtschaftliche Bindung löste und befestigte zugleich : Marta Karlweis und Jakob Wassermann hatten einander 1915 im Grinzinger Haushalt des Ehepaares Wellesz kennengelernt, als der Autor seinen Antrittsbesuch als neuer Nachbar machte.

Blicke auf Villa, Berg und See 19238 wurde Jakob Wassermann Besitzer des Hauses Fischerndorf 48 in Altaussee. Das Anwesen war 1871 vom Geologen, Anthropologen und Volkskundler Ferdinand Leopold von Andrian-Werburg erworben worden ; als Besitzer waren dessen Frau, Cäcilia Baronin Andrian-Werburg, Tochter des Komponisten Giacomo Meyerbeer, und seit 1913 deren beider Sohn Leopold eingetragen. Dieser verkaufte die luxuriöse Villa 1920 an den Kaufmann Salomon Deventer, mietete das in der Nähe gelegene »Helmhaus« Fischerndorf 71 und kaufte im Dezember 1922 das gegenüberliegende Anwesen Fischerndorf 52. Wassermann konnte sich wie schon beim Bau seiner Grinzinger Villa 1914 der finanzkräftigen Gunst eines Verehrers erfreuen. Deventer erklärte sich zum Verkauf an Wassermann bereit und verlangte als Kaufpreis, »was Jakob Wassermann bezahlen könne«9. Da Wassermann nach Karlweis »keinen Pfennig« bezahlen konnte,10 sprang der befreundete Wiener Bankier Paul Goldstein ein. Die Landschaft, die das Paar und dessen Kinder und Domestiken (es gibt derer nicht wenige, Wassermann leistet sich zur Missgunst des einen oder anderen Dichterfreundes einen Chauffeur) fortan umgab, nahmen beide, zumindest im narrativen Duktus des Sachlich-Biografischen und mitunter auch des Novellistischen, kaum anders wahr als der Spaziergeher und Tourist : Karlweis erinnerte sich der Freude darüber, dass Wassermann nun Hausbesitzer wurde, »Eigentümer des schönsten Besitztums weit und breit, Haus, Hausrat, Garten, Seeufer und Wald. Die Tochter Meyerbeers, Baronin Andrian, hatte das Haus gebaut und den Park angelegt, beides entzückend durch die Schönheit der Maße und der Raumverteilung ; wie die Landschaft, See, Berge, Gletscher in Haus und Garten hineingehen, wie sie sich jedem Raum und jedem Gartenwinkel einverleiben, ist ein Geheimnis für sich.«11

8 Nach der sehr genau aus den Quellen vor Ort gearbeiteten Lehramtshausarbeit von Rainer Hilbrand, Die Beziehungen Jakob Wassermanns zu den Schriftstellern des Wiener Kreises, Univ. Salzburg, Hausarbeit aus Deutsch 1979 [masch.], nach anderer Sekundärliteratur 1922. 9 Karlweis, Jakob Wassermann, 358. 10 Ebd. 11 Ebd., 357 f.

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Ein verhalten schwärmerischer Rundblick ist es, den Karlweis auf die Villa und die sie umgebende Landschaft wirft, und ein idealisch-sentimentalischer dazu, denn vor dem Leser ersteht ein herrschaftliches Domizil ohne Maurer und Mörtel aus den Händen einer Baronin mit dem Flair der Musik, ja selbst am »Geheimnisvollen« jedes Besitzerstolzes mit Romantik im Blut mangelt es nicht. Im Herbst und Winter bieten sich andere, doch gleich reizvolle Bilder. »Im Spätherbst […] bedeckte die Wege schon im November meterhoch der Schnee. Eine Zeit verschwanden Berge und Weite hinter grauen Wänden, der Himmel war wie eine niedrige graue Decke, die sich dann in endlosem, stummem Flockenrieseln tagelang zerpflückte. Jeden Laut und alle Unruhe bettete sie sanft in ihre weiße Stille. Als die Nebel wieder rissen, strömte das Licht in unbeschreiblichem Glanz auf die schimmernden Gipfel und Täler herab, der Himmel, weißlich blau im Anfang, wölbte sich Ende Januar wie eine ungeheure Kuppel von Saphir. Wir standen auf der Terrasse des hochgelegenen Hauses und wurden nicht satt die Herrlichkeiten anzustaunen. Aber nicht die Landschaft allein hob sich täglich schöpfungsneu aus blendendem Reif, auch das kleine Leben des Dorfes, von allem Städterwesen befreit, trug bei zu unserem Glück. […] Der Morgen kroch nicht bleich und verdrossen in unsere Stuben, die Sonne sprang hinter dem Berg hervor mitten auf die rauh gehobelten Bretter des Fußbodens. Man maß die Zeit daran, wie weit sie sprang. Der Abend wurde nicht verscheucht und in einen falschen Tag verwandelt, sondern die langen blauen Schatten wuchsen feierlich aus dem Tal herauf, und mit dem wäßrigen Glanz des ersten Sternes im grün leuchtenden Himmel entzündete sich auch das kleine Licht im Giebel des Hauses, Wassermanns Arbeitslampe.«12

Die knechtische Plackerei noch der selbstständigen Kleinbauern und Dörfler verniedlicht sich in den Augen der reich geschiedenen und reich liierten Poetin zum »kleinen Leben«, das als kontrastive Wahrnehmungsfolie beiträgt zum »Glück«. In seinem letzten Roman »Joseph Kerkhovens dritte Existenz« lässt Wassermann sein Alter Ego Alexander Herzog einen ähnlichen, doch sozial neutralen, stärker metaphorisierenden und zugleich konkretisierenden Blick auf See und Berge werfen: »Wir treten hinaus in die Sternennacht […]. Unten glitzert der See, der Himmel gleicht einem von Nadeln durchstochenen Vorhang, hinter dem blau [ !] und gelbes Feuer brennt. Die Milchstraße ein verblüffender Bogen aus gekörntem Silber. Auf den Höhen liegt hauchzarter Nebel. Die Stille ist so herzerschütternd, daß man sie wie eine selige Art von Tod spürt. […] Es gibt Morgen, da wir über den Neuschnee die Abhänge hinunterrodeln wie über einen weißen Geisterteppich, ringsum der schwarze Wald, die krystallklare Luft erfüllt vom 12 Ebd., 314 f.

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Lachen und Schwatzen der beiden Töchter Bettinas […]. Dann wandern wir über den gefrorenen See, der so beängstigend dröhnt in den Nächten ; es klingt wie das Seufzen eines verendenden Vorweltsauriers. Holzschlitten fahren lautlos über die glatte Fläche, mit Ochsen bespannt, klirrend, wie wenn Papier zerreißt, sausen die gestielten Scheiben der eisschießenden Bauern über die geglättete Fläche. In den ersten Frühlingstagen ist es, wie wenn sich die Natur zornig ein Kleid vom Leibe risse, das ihr zu eng geworden ist. Die Wässer stürzen in den von Jahrtausenden gehöhlten Felsrinnen zu Tal, oben donnern die Lawinen, Erika und Leberblümchen drängen schüchtern aus Moos und Gras, alles ist ein unzähmbares Werden und Wachsen.«13

Blicke auf die innere Landschaft Während für Karlweis bis auf eine Erzählung aus dem Nachlass (ich komme darauf zurück) die Landschaft des Ausseer Landes lediglich den »entzückenden« topografischen Rahmen des familiären und gesellschaftlichen Lebens absteckte, war sie Jakob Wassermann darüber hinaus eine den ganzen Menschen fassende und fordernde Kategorie. Landschaft als eine die Seele des Menschen formende, ihm von Urzeiten an »bestimmte« und »stammesgeschichtlich vorherbestimmte« Landschaft : Was die Zeichnung der Figuren (genauer : der männlichen Zentralfiguren) in »Caspar Hauser«, »Das Gänsemännchen«, »Christian Wahnschaffe«, in der »Andergast«-Trilogie, vor allem jedoch im frühen Roman »Die Juden von Zirndorf« (1897) ganz entscheidend prägt, formulierte Wassermann in seinem Aufsatz »Nationalgefühl«, 1915 in der renommierten »Neuen Rundschau« des S.-Fischer-Verlags erschienen, programmatisch aus. Das Konzept von Landschaft ist hier national, genauer : »deutsch« und »national« eingefärbt und erstaunt durch seine Nähe zu einer Geschichtsmythologie, wie man sie bei einem Gesellschaftskritiker und (auch dem Selbstanspruch nach) Statthalter des Humanen nicht vermutet hätte. »Von wie verschiedener Art sind nicht die Landschaften Deutschlands […]. Dennoch wird jeder Deutsche in jeder deutschen Landschaft spüren : das ist Wesen von meinem Wesen. Es liegt nicht am Namen und nicht an der besonderen Formung des Landes, das Gefühl ist da, und man weiß nicht seinen Grund. […] Dieser in zahllosen Gemütern ruhende Schatz von Liebe zum heimatlichen Boden, zur heimatlichen Lust gleicht einer gewaltigen magnetischen Kraft, welche die Volksteile aneinander schweißt und für eine höhere geistige und sittliche Existenz vorbereitet.«14 13 Wassermann, Joseph Kerkhovens dritte Existenz, 379 f. 14 Jakob Wassermann, Nationalgefühl, in: Die neue Rundschau 26 (1915) 1, 757–772, 762.

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Das »Nationalgefühl« sei diesem Landschaftsgefühl, das Ersteres nur grundiert und bedingt, durchaus übergeordnet, ja es sei »das stärkste und dauerhafteste, edelste« Gefühl überhaupt.15 Wie das von Marta Karlweis tradierte Wassermann-Tagebuch16 und auch Arthur Schnitzlers Tagebücher belegen, stimmte Wassermann 1914 zwar nicht ein in Kriegsgeschrei und patriotisches Geheul – und feierte dennoch im Aufsatz »Nationalgefühl« wie auch in »Das deutsche Wesen« (ebenfalls 1915)17 den Krieg als Natur- und Elementarereignis und den Staat als göttliche nationale Institution. Schnitzler findet Wassermanns Haltung gegenüber dem Krieg nichts weniger als degoutant: »W[assermann] – und der Krieg. Er ist wie immer drollig – in seinem Gemisch von Begeisterung und Schwindelhaftigkeit. Angeblich will er durchaus mit […] aber einerseits läßt es Julie nicht – anderseits ist er untauglich, aber er hält es nicht mehr lange aus.18 Jacob; er klagt wieder: ›Dass man jetzt nicht an die Front kann –!‹ Ich: ›Ich glaube nur denen, daß sie sich umbringen wollen, die es wirklich thun; – und nur denen, dass sie an die Front wollen, die wirklich zum Heer abgehn –‹ Er: Das ist logisch, aber falsch – Ich: ›Das ist geistreich aber dumm.‹«19

1933 hat sich Wassermanns Blick auf die äußeren Landschaften und ihre vorgeblichen Wechselwirkungen mit den inneren erweitert und zugleich abstrahiert. Er ging nun in die Stammesgeschichte, die Ur- und Vorzeit, ins Mythische und Mystische von Mensch und Stamm zurück. So wie der Autor jetzt »im Bereich der Kunst an eine präexistente Form« glaubte, glaubte er »auch an eine präexistente Landschaft«, die auf dem beruhte, was er »das Generationengedächtnis« nannte.20 Das »Generationengedächtnis«, wie Wassermann es sich dachte, ist teils biologisch determiniert, teils mythisch geprägt, steht jedem Historischen und Sozialen fern und weist keinerlei Berührungspunkte mit dem zeitgleich entstandenen Konzept des »kulturellen Gedächtnisses« von Maurice Halbwachs auf, zumal Halbwachs stets von der verhaltensprägenden Kraft der sozialen Klassen ausgegangen war. Wassermann unterschied »drei Arten von biologischen Charakterbildungen«: 15 Ebd., 759. 16 Marta Karlweis zitierte in ihrer Wassermann-Biografie von 1935 (siehe Anm. 2) lange Passagen des Tagebuchs im Original. Bis vor Kurzem galt das Tagebuch als verschollen, wurde nun wiederentdeckt und soll von Dierk Rodewald, dem wohl besten Wassermann-Kenner, ediert werden. 17 Vgl. Jakob Wassermann, Das deutsche Wesen, in: Die neue Rundschau 26 (1915), 1, 240–246. 18 Arthur Schnitzler, Tagebuch, hg. v. d. Kommission für literarische Gebrauchsformen der ÖAW, Wien 1987ff., TB 1914: VIII 24. 19 Ebd., Schnitzler, X 11. 20 Jakob Wassermann, Meine Landschaft, äußere und innere. Eine Rede, in: J. W., Tagebuch aus dem Winkel, 151–178, 157f.

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»Mensch der Ebene, Mensch des Meeres und Mensch des Gebirges. Es sind elementare Verschiedenheiten. Einflüsse des Luftdrucks, des Klimas, der Wolkenbildung, der Feuchtigkeit, der Vegetation, der Gesteinsarten kommen tiefer in Betracht, als wir bis jetzt erforscht haben, denn die Feststellungen der Wissenschaft haben sich mehr auf das Geographische und Ethnographische, auf das historisch und national Bedingte bezogen als auf das Magisch-Tellurische, das hier wirksam ist.«21

Sich selbst klassifizierte Wassermann »von Geburt her« als Menschen der Ebene,22 von seiner Sehnsucht nach und dem langjährigen Leben zwischen den Bergen als einen Menschen des Gebirges, denn : »Die Landschaft, in der ein Mensch lebt, ist nicht ein Rahmen um das Bild, sie geht in ihn hinein und wird ihm Wesen.« 23 Die »innere Landschaft«, Freud greift dafür bekanntlich zur technomorph-soziomorphen Metapher des Hauses, in welchem das Ich des Menschen weder Herr seines Lebens noch seiner Seele sei, fasst Wassermann fürs erste biomorph24 und damit einmal mehr deterministisch. Die »innere Landschaft« sei stets »das Vorgebildete«, wie auch »alle sittlichen Grundregeln, alle religiösen Regungen und alle geistigen Strömungen eines Menschen auf tief verwurzelten Stammeserinnerungen« beruhten. »Ich schaffe also nur scheinbar aus meinem persönlichen Willen heraus. Es ist eine Jahrtausendlandschaft, in der ich mich unbewußt bewege.«25 Die biomorphe Gedankenfigur, wonach die (Stammes-)Erfahrung sich in der Physis des Gehirns sedimentiere und biologisch weitergetragen werde, steht in der Tradition der Lokalisationstheorie, mit deren Vertreter Constantin von Monakow (1853–1930) Wassermann nicht nur das Gespräch suchte, sondern von dem er sich auch behandeln ließ und dessen Schriften er studierte. Der aus Russland gebürtige Neurologe arbeitete ab 1885 als Nervenarzt in Zürich und gründete 1887 ein privates gehirnanatomisches Laboratorium. Von Monakow, Repräsentant der Lokalisationslehre, die bestimmte psychische Funktionen bestimmten Feldern des Gehirns, insbesondere des Großhirns, zuzuordnen versuchte, gab das nahezu unverschlüsselte Vorbild zum Arzt Joseph Kerkhoven in Wassermanns letztem Roman ab. Wie von Monakow und wie Kerkhoven vertrat Wassermann die Auffassung eines »biologischen Gewissens« – eines Gewissens also, das dem Willen entzogen ist und, hier erfolgt der Umschlag in ekstatisch-kathartische Vorstellungen, »Bestimmung und Schicksal« bedeute. »Wenn man von einem erhöhten Standpunkt des Lebens und der Erfahrung aus zu21 22 23 24

Ebd., 158 f. Ebd., 158. Ebd., 169. Metapherntypologie »biomorph«/»technomorph«/»soziomorph«/»ekstatisch-kathartisch« nach Ernst Topitsch, Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung (Kritische Wissenschaft), Hamburg 1979. 25 Wassermann, Meine Landschaft, 172f.

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rückblickt, verlieren alle Ereignisse ihr Zufälliges und erscheinen im Lichte der Bestimmung und des Schicksals.«26 Ein Blick auf die Entstehungs- und Publikationsgeschichte von »Meine Landschaft, äußere und innere« verdeutlicht, dass ein solcher Landschaftsbegriff, erläutert und verfochten von einem in Österreich lebenden »Deutschen und Juden«,27 zu dieser Zeit ins Leere laufen musste. Im Jänner 1933 der Sekretärin diktiert, war Wassermanns Rede für eine Vortragsreise nach Köln, Berlin und Frankfurt am Main bestimmt, die der Autor jedoch aus gesundheitlichen und politischen Gründen absagen musste. Am 19. März 1933 hielt sie Wassermann im Volksheim eines Wiener Außenbezirks vor schütterem Arbeiterpublikum, später mit etwas mehr Erfolg am 30. Mai in Prag. Nachdem der Feuilletonredakteur der »Neuen Zürcher Zeitung« Eduard Korrodi den Vortrag abgewiesen hatte, bot Wassermann ihn Klaus Mann für die geplante Exilzeitschrift »Die Sammlung« an, wo er im September 1933 im ersten Heft erschien. Klaus Mann ärgerte sich erst »über die ungebührlichen Honorarforderungen des düsteren Jakob«, hatte aber letztlich doch ein Einsehen: »Der Jakob muß so viel Geld haben, weil er durch ›ein Zusammentreffen katastrophaler Umstände‹ einfach darauf angewiesen ist.«28 Gemeint sind damit die exorbitanten und gerade wieder einmal erfolgreichen Geldforderungen von Wassermanns erster Ehefrau Julie wie auch die plötzlich ausbleibenden Einnahmen aus Deutschland – das NS-Regime hatte den Juden Wassermann auf die erste schwarze Bücherliste gesetzt.

Blicke über die literarische Landschaft Wien – Berlin – Altaussee 29 Nach den soziologischen Kategorien Pierre Bourdieus stellt das Ausseer Land, in dem Jakob Wassermann und Marta Karlweis seit 1919 ständig leben, ein literarisches beziehungsweise ein künstlerisches Teilfeld und zugleich symbolisches Kapital der sie erwandernden, erkundenden, davon schwärmenden Touristen-Intellektuellen dar. 26 Ebd., 160. 27 Vgl. den viel zitierten programmatischen Titel von Wassermanns Autobiografie »Mein Weg als Deutscher und Jude« (von 1921) in: Jakob Wassermann. Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904–1933, hg. u. m. e. Komm. vers. v. Dierk Rodewald (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt 57), Heidelberg 1984, 35–131. 28 Klaus Mann an Katia Mann, Zandvoort, 19. Juli 1933, in: Klaus Mann, Briefe und Antworten, Bd. 1, hg. v. Martin Gregor-Dellin, München 1975, 113f. 29 Die literatursoziologischen Überlegungen zu Marta Karlweis und Jakob Wassermann knüpfen an das Kapitel »Interieurs und Gruppenbilder im literarischen Feld« meiner Monografie: Jakob Wassermann. Eine biographische Collage, Wien 2008 an und basieren i.d.F. auf meinem Beitrag: Jakob Wassermann und die Autoren Jung-Wiens, in: Dirk Niefanger/Gunnar Och/Daniela F. Eisenstein (Hg.), Jakob Wassermann. Deutscher – Jude – Literat, Göttingen 2007, 45–66.

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Wien war Wassermanns erste Hauptstation auf seinen Wanderungen durch die künstlerisch-literarischen Felder seiner Zeit; 1898 war er auf der Flucht vor einer quälenden Liebesaffäre in München als Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« nach Wien gekommen. Wie schon in seiner Münchner Zeit beim »Simplicissimus« suchte er hier den Kontakt zu Künstlern und Literaten, vor allem jedoch zu Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal – beide bereits vergleichsweise renommiert und etabliert, beide umgeben von Aura und Nimbus der Wiener Moderne, der Wienerischen Variante des Fin de Siècle, der feinsinnigen Dekadenz Wiener Provenienz. Was die Autoren neben der Literatur verband, waren Orte und die Zeit, sie mit gemeinsamen Hobbys zu füllen: das Café, wo man Schach, Billard oder Domino spielte ; bestimmte Restaurants – beispielsweise das Restaurant im Türkenschanzpark oder das Imperial in Wien –, wo man gemeinsam nachtmahlte ; der Semmering, wo man wanderte und Tennis spielte ; und eben das Ausseer Land, wo man die Sommerfrische verbrachte, mit gemeinsamen Dichterlesungen und regelmäßigem, mitunter täglichem Gedankenaustausch, oft auf dem Gang den See entlang. Die Sommermonate in Altaussee, Grundlsee, im Ausseer Land, im Salzkammergut zu verbringen, hieß über das (vergleichsweise geringe) Kapital für Miete und Verpflegung zu verfügen, über das soziale Kapital der frei verfügbaren Zeit und das symbolische des mit dem Namen verbundenen Nimbus. Altaussee war in den Sommermonaten ein einziger literarischer Salon. Um Hugo von Hofmannsthal bemühte sich Wassermann ganz besonders : Er verehrte ihn und warb ungestüm um seine Freundschaft. Bei den regelmäßigen, meist von Schnitzler veranstalteten privaten Dichterlesungen in Wien und Altaussee lernte Wassermann Felix Salten, Raoul Auernheimer und Richard Beer-Hofmann kennen, den wiederum mit Hugo von Hofmannsthal eine enge Freundschaft verband. Nach und nach schloss Wassermann in Wien, in Altaussee und Berlin, wohin ihn regelmäßig Besprechungen und Verlagsverhandlungen führten, gleichsam mit einem Who is Who der zeitgenössischen Hochkultur Bekanntschaft und zum Teil Freundschaft: neben den Wienern Schnitzler, Hofmannsthal, Salten, Auernheimer und Stefan Zweig mit Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Richard Dehmel, Hermann Hesse, Alfred Döblin, Max Dauthendey, Alfred Döblin, Eduard Stucken, Hermann Stehr, dem Regisseur Max Reinhardt, dem Kritiker und Theaterleiter Otto Brahm, dem schwedischen Erzähler, Dramatiker, Kritiker und Verlagsleiter Gustaf af Geijerstam und dem deutsch-italienischen Komponisten und Pianisten Ferruccio Busoni. Seit 1915 stieß Marta Karlweis hinzu, vorerst nur in Altaussee, denn hier führte Wassermann den Dichterfreunden und -konkurrenten die ihnen unbekannte Geliebte vor – Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann und, wie man sich vorstellen kann, vor allem deren Frauen sind konsterniert bis pikiert. Julie, Wassermanns Frau und die Mutter der vier gemeinsamen Kinder, kannten sie alle aus dem Hause Speyer in Wien, wo Dichter und Künstler verkehrten, darunter Hofmannsthal und Schnitzler, der die Töchter schon als Kinder kannte, diese jovial die »Sp[eyer] Mädeln« nannte und 1898 gegenüber Hofmannsthal sinnierte : »Es ist was hübsches um diese kleinen

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Unsterblichkeiten«.30 Mit den Jahren und vor allem mit den sich steigernden querulatorisch-paranoiden Machinationen Julies gelang es dem anfangs bespöttelten Paar, dass Marta in Altaussee und in Berlin vom Verleger-Ehepaar Samuel und Hedwig Fischer als Wassermanns Gefährtin akzeptiert wurde – als Dichterin freilich nahm man sie kaum wahr und ernst. »Las neulich Martha Karlweis ›Gastmahl der Branicka‹«, notierte Schnitzler in sein Tagebuch und zitierte vor lauter Grant falsch ;31 »ihre Afferei geht ins Geniale; ein Simili Wassermanns stellenweise von täuschendem Glanz.«32 Und bei S. Fischer erscheinen die Romane Karlweis’ immer erst nach mehrmaliger Intervention ihres Mannes, der mittlerweile zum literarischen Weltstar avanciert ist. Schnitzlers Urteil stimmt mit jenem der eifersüchtigen Julie überein: »Julie W[assermann] frägt mich und O[lga] um ›Rath‹. Ihre Nachsicht bisher. Aber Martha hasst sie. Sie will nach der Schweiz mit den Kindern. Rücksichtslosigkeit Jacobs; der Martha überall aufoctroyirt. Ihre Streberei, innere Kälte. Bemerkungen der Kinder, der Dienstboten. ›Was würde mir geschehen, wenn ich sie todtschösse?‹ Wir sollen mit Jacob reden. Sie erzählt von den Rechnungen, die an sie gelangen, – sogar von dem Sofa, das er für seine ›Ateliers‹ braucht. ›Nun ja, er braucht doch wenigstens ein Sofa.‹ – Dabei liebt sie ihn wie früher, aber was jetzt von ihr verlangt wird, kann sie nicht ertragen. Auch dass Marthas Mann so völlig einverstanden, sei nicht wahr – trotz seiner eignen Wege. – Unreinliche Geschichten.–«33

Wassermanns dritter literarischer Salon neben Wien und Altaussee ist Berlin – im Grunde genommen jedoch topografisch nicht festzulegen, da er von den häufig wechselnden Aufenthaltsorten jener zwei »Berliner« abhing, die diesen Salon führten: des Verlegers Samuel Fischer und seiner Frau Hedwig. Die beiden bildeten das Zentrum eines ebenso weit verzweigten wie engen soziokulturellen und sozioökonomischen Netzwerkes, den Mittelpunkt eines Clans oder, feudalistisch ausgedrückt, eines Hofes. Das Ehepaar Fischer hielt Hof, wo immer es sich aufhielt – in Berlin, wo man ein luxuriöses Haus führte und »seine« Dichter zu Gast lud, auf Urlaub in Tirol oder Südtirol, zur Kur in der Schweiz, in Karlsbad oder auf dem eigens dafür gemieteten »Berghof« bei Unterach am Attersee. Und die Autoren und Künstler reisten regelmäßig an und scheuten auch weite Strecken nicht: neben Wassermann Hauptmann, Thomas Mann, Schnitzler, Hofmannsthal, Stefan Zweig, die dänischen Schriftsteller Peter Nansen, Johannes Vilhelm Jensen und Aage Madelung, der Mediziner, Essayist und Erzähler Carl 30 Arthur Schnitzler an Hugo von Hofmannsthal, Bad Gastein, 23. Juli 1898, in: Hugo von Hofmannsthal – Arthur Schnitzler. Briefwechsel, hg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. M. 1964, 107. 31 Gemeint ist Karlweis’ Roman »Das Gastmahl auf Dubrowitza«. 32 Schnitzler, Tagebuch, 1921: IX 25. 33 Ebd., 1916: VIII 6.

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Ludwig Schleich, der impressionistische Erzähler Bernhard Kellermann, der Novellist und Feuilletonist Franz Blei, der psychologische Erzähler und Übersetzer Hans Reisiger, die Pazifistin und Erzählerin Gabriele Reuter oder der impressionistische Maler und Grafiker Lovis Corinth. Wassermann rückte mit den Jahren in das Zentrum dieser höfischen Gesellschaft vor, mit dem Verleger verbunden durch ähnliche Herkunft aus armem jüdischen Hause, enges Vertrauen und stetes Bemühen um Freundschaft. Soweit der erhaltene Briefwechsel darüber Auskunft gibt, gab es nur drei Fischer-Autoren, mit denen sich der Verlagsherr duzte: Otto Erich Hartleben, Gerhart Hauptmann und Wassermann. Hedwig, die Frau des Verlegers, wurde Wassermann gleichsam eine Schwester, der er jederzeit sein Herz ausschütten konnte. Seit dem Erscheinen von Wassermanns »Die Geschichte der jungen Renate Fuchs« (1901) wurden die Romane und Novellen Wassermanns auch regelmäßig von Fischer-Autoren in der »Neuen Rundschau« oder in anderweitigen überregionalen Organen rezensiert. Zu den Rezensenten von Wassermann-Romanen zählen Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig ; Thomas Mann besprach den 1908 erschienenen Roman »Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens« in den »Münchner Neuesten Nachrichten«,34 Felix Salten in der »Neuen Rundschau« ;35 Lion Feuchtwanger nahm sich des Künstlerromans »Das Gänsemännchen« von 1915 in der »Schaubühne« an.36 Sogar der sonst so zurückhaltende Hofmannsthal, den Wassermann mit Thomas Mann bekannt gemacht hatte, rang sich zwei Rezensionen zu Wassermann-Büchern ab : die eine in Form einer Unterhaltung über den Novellenzyklus »Die Schwestern«,37 die andere in Briefform über den poetologischen Dialog »Die Kunst der Erzählung« (beide 1906).38 Gegenseitige Rezensionen, Porträts, literarische Glückswünsche zu runden Geburtstagen und Nachrufe verdichteten sich zu einem Räderwerk der Reklame, an dem Wassermann sich seinerseits rege beteiligte. Mit Verve stürzte der Autor sich bei den jährlich ein- bis dreimaligen Verlagsbesuchen in Berlin, rund um Uraufführungen oder Premieren von Kollegen (beispielsweise von Hauptmanns »Rose Bernd« und von Strauss’/Hofmannsthals »Elektra«, beide 1903 in Berlin, »Ariadne auf Naxos« 1912 in Stuttgart, »Ägyptische Helena« 1928 in Dresden), in den »Literaturtrubel«, wie er es selber nannte :39 besuchte Soireen, knüpfte 34 Vgl. Thomas Mann, Jakob Wassermanns »Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens«, in: Münchner Neueste Nachrichten v. 20. Juli 1908, Nr. 335, Beilage 17, 170 f. 35 Vgl. Felix Salten, Der Kaspar-Hauser-Roman, in: Die neue Rundschau 20 (1909), 1, 129–133. 36 Vgl. Lion Feuchtwanger, Das Gänsemännchen, in: Die Schaubühne 12 (1916), 1, 10–13. 37 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Unterhaltungen über ein neues Buch, in : Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung 6 (1906), dann in: von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II, hg. v. Herbert Steiner, 6.–9. Tsd., Frankfurt a. M. 1959, 208–221. 38 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Brief an den Buchhändler Hugo Heller, in: Neue Blätter für Literatur und Kunst (1906), dann in: von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, hg. v. Steiner, 199–207. 39 Jakob Wassermann, Briefe an seine Braut, 203.

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Kontakte unter den Schönen und Reichen, nicht nur der Kunst und Literatur. Kultivierte reiche Adelige rangen ihm Bewunderung ab ; er freute sich über eine Einladung in das Haus Rothschild, wo ihn ein eigener Diener umsorgte.40 Jährlich einmal unternahm Wassermann für mehrere Wochen eine Bildungs- und Kunstreise nach Italien, meist ohne die Ehefrau, die sich daheim um die Kinder kümmerte (die erste – mit der zweiten reiste er meist gemeinsam), traf dort mitunter auch Samuel Fischer und Frau, einmal auch Arthur Schnitzler oder das Ehepaar Thomas und Katia Mann. Da auch die sonstigen persönlichen Aufwendungen groß waren – durch das »Haus, das man führte«, die Gesellschaften, die man gab, die Dienstboten, die »Geschäftsreisen« –, war die Mitgift Julies innerhalb von zehn Jahren aufgebraucht. Wassermann, obwohl Erfolgsautor und im Vergleich mit den meisten anderen Autoren Großverdiener, suchte dementsprechend seine Honorar- und Vertragsforderungen stets mit Verweis auf seine »bedürftige« Situation hochzulizitieren. Von Altaussee aus, seit 1919 ständiger Wohnsitz, hatte Wassermann fortan die erste Frau, seine vier Kinder aus erster Ehe, seine neue Frau, den gemeinsamen Sohn aus zweiter Ehe, dessen Hauslehrerin und deren Sohn, in den Ferien oft auch die zwei Töchter von Frau Marta aus erster Ehe, weiters eine Sekretärin, Kinder-, Küchen- und Putzpersonal und, nachdem er sich ein Auto angeschafft hatte, auch einen Chauffeur zu erhalten – nicht mitgezählt die vielen Gäste, die aus- und eingingen. Der Salon, den nun das Ehepaar Karlweis-Wassermann in Altaussee führte, war von der Herkunft der Gäste ein großbürgerlich-kleinadeliger Wien-Berliner Salon mit Altausseer Bühnenbild und älplerischen Requisiten, kostenaufwändig und dennoch profitabel durch das Kapital von Beziehungen, das man hier tauschte und gewann. Um 1925 hatte Wassermann den Gipfel seines Ruhms erreicht. Keines der um diese Zeit erscheinenden neuen Werke blieb vom Verkauf her hinter den für die Erstauflage vertraglich fixierten 20.000 Exemplaren zurück ; die meisten erreichten viel höhere Auflagen. Neben Hermann Hesse und Thomas Mann war Wassermann der dritte große Geldverdiener und -bringer des S.-Fischer-Verlags. Die Verkaufszahlen des Gerichtsromans »Der Fall Maurizius« von 1928 belegen die ungebrochene Beliebtheit des Verfassers beim Publikum: Fischer druckte eine Erstauflage von 30.000 Exemplaren und musste sogleich nachdrucken. Bis Oktober war das 75. Tausend erreicht. Der Roman dürfte dem Autor in seiner deutschen Buchausgabe bei einer Tantieme von 20 % rund 180.000, bei 25 % rund 225.000 Mark eingebracht haben. Jakob Wassermann, seine Freunde, seine Frauen und das Geld : Was für gewöhnlich als »äußere«/äußerliche Biografie dem »Eigentlichen«, dem Individuell-Intentionalen und Ästhetisch-Ideellen entgegengesetzt gedacht wird, entlarvt eines der bevorzugten Axiome gängiger Kunstbetrachtung und Literaturgeschichtsschrei40 Vgl. Jakob Wassermann an St. [d. i. Stefanie Bachrach], Frankfurt a. M., 29. Oktober 1912, in: Geliebtes Herz … Briefe von Jakob Wassermann, hg. v. August Beranek, Wien 1948, 124 f.

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bung als Ideologem : jenes, wonach im Kulturbereich Kunst vor Herkunft, Kunst vor Beziehungen, Kunst vor Geld gehe und sich »Talent«, »Brillanz«, »Qualität«, »Originalität« gleichsam von selbst durchsetzten. Liebling der Leser aller Schichten und Respektsperson auch unter Künstlerkonkurrenten bewegte sich Wassermann spätestens seit 1898, dem Jahr seiner Übersiedlung nach Wien, in gleich mehreren, dichotom erscheinenden und sich dichotom gebenden literarischen Teilfeldern : jenem dem »autonomen Pol« zustrebenden, in dem »die anti-›ökonomische‹ Ökonomie der reinen Kunst« mit ihrer »Anerkennung der Werte der Uneigennützigkeit und Interesselosigkeit«41 zu herrschen scheint ; es war personell durch die Autoren Jung-Wiens, sozial durch deren Herkunft aus dem finanziell unabhängigen (Besitz-) Bürgertum und Adel und topografisch durch Wien und das Ausseer Land bestimmt. Den zweiten Teilbereich dieses literarischen Feldes, er strebt mit seiner auf literarisch-künstlerische Industrien und den gewinnbringenden Handel mit Kulturgütern abzielenden Logik dem heteronomen Pol zu, jenem der »puren« Ökonomie, repräsentierte das Verlagsimperium Samuel Fischers und dessen Entourage aus Literaten, Künstlern, Herausgebern, Lektoren, Politikern und Industriellen – nicht zu vergessen die bei Fischer erscheinende »Neue Rundschau«, die als Organ der »Gegenseitigkeitskorruption« (so nennt Schnitzler derlei Gepflogenheiten)42, eine Drehscheibe der Prestigeproduktion und des Absatzes fungierte. Nicht nur der Erfolgsschriftsteller Wassermann, sondern mit ihm auch die, so scheint es, bloß an Seele, Kunst und Geist interessierten Wiener, nicht zuletzt auch Marta Karlweis, mühten sich ab, in beiden (Teil-)Feldern zu reüssieren, den internen Hierarchisierungsprinzipien des künstlerischen Feldes ebenso zu genügen wie den äußeren von Buchauflagen, Zahl der Vorstellungen von Theaterstücken und Tantiemen, kurzum : künstlerische Weihen ebenso zu erlangen wie pekuniäre Prosperität. Worin sich freilich Wassermanns künstlerische qua soziale Positionierungen unterschieden von jenen Hofmannsthals, Schnitzlers, Thomas Manns, hatte mit seinem Habitus zu tun, jenem, wie Bourdieu es nennt, System von biografisch angelegten und bedingten Dispositionen, die sich in Beziehung auf eine bestimmte Struktur von sozialen Positionen verwirklichen, umgekehrt aber auch die den Positionen innewohnenden Möglichkeiten zu differenzieren und zu modifizieren vermögen. Eines steht im Falle Wassermanns außer Zweifel : Er hatte einen ausgeprägten Sinn für soziale Platzierungen, kraft derer er sich sowohl im Feld der Kunst als auch in jenem des Kunstgeschäfts etablierte. Planmäßig, umsichtig und mit großem Elan knüpfte er Beziehungen zu deren Repräsentanten, heiratete eine Frau, die in beiden Feldern verankert war, nahm sich eine zweite, die aus einem der beiden Felder stammte und dort auch wieder tätig wurde, bot den Peers des Kommer41 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, aus dem Franz. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1539), Frankfurt a. M. 2001, 228. 42 Schnitzler, Tagebuch, 1929: II 5.

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zes ebenso wie den Taste-Makers der Kunst das, was sie wünschten : Billard, Schach, Tennis, Wanderungen und vor allem kulturbeflissene und geistreiche Konversation, und noch wichtiger : Bewunderung und Werbung. Seit 1923 bot Wassermann ihnen noch den Nimbus eines Besuchs in einer Altausseer Villa bei einem Dichter mit Nimbus in einer Landschaft mit Nimbus. Zwar blieb er charakterlich mit seiner Schwere und dem düsteren Ernst, den er um sich verbreitete, und selbst sprachlich mit seinem fränkischen Akzent den Wienern fremd, doch akzeptierten sie ihn auch deshalb als Exoten unter sich. Schlecht schien Wassermann von seiner Herkunft und Jugend her mit Kapital ausgestattet gewesen zu sein, das er einbringen konnte in das Projekt der künstlerischen und sozialen Karriere. Gerade die bettelarmen Jugendjahre in der fränkischen Provinz und die anfängliche Missgunst und Verfolgung verkehrten sich freilich als Legende des Künstlers zum sozialen wie symbolischen Kapital: Darin war er ihnen voraus, den vom Schicksal mit reichen Eltern und Renten bedachten Dichterfreunden. Darin war er auch Marta Karlweis, der Tochter aus gutem und künstlerisch ambitioniertem Wiener Hause mit Dichter-Vater Carl und Künstler-Bruder Oskar43 (der einmal sogar ins Visier von Karl Kraus geraten sollte44), voraus. Als Frau ohnehin mit weitaus strengeren Zugangsbedingungen und Prüfungen für die Aufnahme in die literarischen Felder der männlich dominierten, arrivierten Avantgarde belegt, waren Karlweis’ biografische Voraussetzungen als soziales Kapital, das man in die künstlerische Karrieresteuerung investieren konnte, stark begrenzt. Von einer Villa in Altaussee mit einem Ehemann, der als Weltstar alle Aufmerksamkeit auf sich zog, ließ sich künstlerisches beziehungsweise literarisches Aufsehen allenfalls über ihn und nicht an ihm vorbei oder parallel erlangen. Nach Wassermanns Tod in der Neujahrsnacht 1934 löste Marta Karlweis den Haushalt auf, emigrierte mit ihren Töchtern in die Schweiz, nahm dort ihr 1907 abgebrochenes Studium der Psychologie wieder auf (bei C. G. Jung), veröffentlichte 1935 die für mehrere Jahrzehnte einzige umfassende Biografie über Jakob Wassermann und emigrierte 1939 weiter nach Kanada, wo sie an der McGill University in Montreal Lehrveranstaltungen hielt und in Ottawa eine psychotherapeutische Praxis führte. Die literarischen Felder Österreichs hatte sie damit ebenso hinter sich gelassen wie die Landschaft des Ausseer Landes.

Persönlicher Schluss. Eine Altausseer Landschaft, die es wiederzuentdecken gilt Marta Karlweis kümmerten, überspitzt formuliert, Landschaft und Landschaftliches offenbar nur dann, wenn es galt, sie den Gästen in Altaussee vorzuführen oder sie 43 Oskar Karlweis (1894–1956), Schauspieler, Sänger und Tänzer. 44 Vgl. Die Fackel 34 (1932), 876–884, 111.

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mit den Kindern und Bekannten zu erwandern. Ihre Romane sind in Städten wie Wien angesiedelt (»Ein österreichischer Don Juan« und »Schwindel«), auf einer exotischen, malariaverseuchten Insel (»Die Insel der Diana«) oder im Russland Katharinas II. (»Das Gastmahl auf Dubrowitza«). Einen ihrer Romane gilt es auf jeden Fall wiederzuentdecken: den »österreichischen Don Juan«, der noch vor Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« das »Kakanien ohne Eigenschaften« mit den ihm eigenen Typen und Charakteren ausbreitet, mit einer ähnlichen Schärfe der Analyse und Psychografie.45 Wiederzuentdecken gilt es auch Karlweis’ Roman »Schwindel«, der in beklemmenden satirischen Porträts mit dem ebenso verkommenen wie seelisch verkrüppelten Wiener Kleinbürgertum abrechnet und sich dabei charakterlicher »Sprechmasken« bedient – vor Canetti, als deren Erfinder die Literaturgeschichtsschreibung ihn preist. In zumindest einem Text hat auch Karlweis die Altausseer Landschaft zum Movens und alles bestimmenden Akteur erhöht, in der im Literaturmuseum Altaussee handschriftlich vorhandenen und in der Diplomarbeit von Claudia Pekari (nur als graue Literatur) zugänglich gemachten Erzählung »Die Wende«.46 So nachdrücklich und eindringlich wie Jakob Wassermann kaum einmal geht darin Karlweis dem offenbar auch von ihr angenommenen mythisch-tellurischen Ineinander von Landschaft, Natur und Frau nach, fasst es in eine Geschichte von zwei Schwangerschaften und illustriert es mittels entsprechender Symbolik, Metaphorik und Metonymik. Im sozialen Elend wandeln die lieblichen Sterne, Berge und Seen sich zu Höllen der besonderen Art: Böse sind sie hier alle, so böse wie die Leibesfrucht, die Aurelia, der Tochter eines Ackerbauern, ein viertägiges unsagbares Sterben bereitet und die die Schwangere auch noch hasst, denn sie steht ohne Kindesvater da. »In ihrem Bauch geht es kalt her. Zuweilen schreit sie selber hoch und gellend auf und die halbtoten Vögel, die unter dem eisigen Schwert der Kälte kauern flattern in Schwäche auf und flüchten. Die Finsternis kommt wieder und gebiert die Sterne. Mörderisch glimmen sie oben, gleißende Menschenfresser. Der Mond dreht fletschend eine Kinderleiche am Spieß. Brat nur, friss nur. Kinder solls keine geben. Hurenbälge, hinaus. Teufel. Der ohnmächtige Hass gegen das springende Ding in ihrem Leib bringt sie fast um.«47

Mag die Ineinssetzung von Natur und Frau, die die Erzählung konzeptionell wie auch rhetorisch grundiert, dubios und ideologisch nicht gerade vorwärtsgewandt 45 Vgl. eine der ersten feministisch-textanalytischen Würdigungen bei Brigitte Spreitzer, Texturen. Die österreichische Moderne der Frauen (Studien zur Moderne 8), Wien 1999, 171–179 u. 205–220. 46 Marta Karlweis, Die Wende, in: Claudia Pekari, Marta Karlweis. Eine Biographie. Mit Texten und Dokumenten […], Dipl, Graz 2003 [masch.], 108–137. 47 Ebd., 127; fehlende Interpunktion im Original.

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sein,48 über die Not einer unwillentlich schwangeren älplerischen Kleinstbauerntochter um 1930 erfährt man aus der Erzählung wohl viel. Dem touristisch-lieblichen Bild der Landschaft setzt Karlweis hier ein magisch-tellurisches entgegen – und ein geradezu biblisch böses. Leider nicht wiederzuentdecken gibt es eine Landschaftserzählung von Wassermann, die im Nachlass nur als Notiz vorzufinden ist. Bei Wassermanns berüchtigter Humorlosigkeit wäre die Ausführung, die womöglich im Ausseer Land angesiedelt worden wäre, mehr als spannend gewesen. »Der Berg: / Er hockt da schaut / sich um und verspeist / fette kleine Spaziergänger.«49

48 Vgl. dazu Bettina Fraisl, Das Tier in ihr – Körper, Natur und Geschlecht in Marta Karlweis’ Roman »Die Insel der Diana« (1919), in: newsletter Moderne. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900« 5 (2002), 1, 13–16. 49 Jakob Wassermann zit. n. Dierk Rodewald, Nachwort, in: Tagebuch aus dem Winkel, 179–205, 205.

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Die Erfindung von Pannonien oder Burgenland

Ja, wie denn etwas erfunden werden könne, wundert sich der Laci, was schon weiß Gott wie lang existiert, denn sei vielleicht Pannonien nicht schon eine römische Provinz gewesen, entstanden durch die Niederwerfung der dort ansässigen indigenen Stämme, wahrscheinlich Kelten, durch die Römer, ein paar Jahre vor unserer Zeitrechnung, jedenfalls unter dem Kaiser Augustus, zunächst als Teil Illyriens, dann eigenständig, eine ziemlich große Provinz, die sich innerhalb des heutigen Staatsgebietes von Ungarn, Kroatien, Österreich, Slowenien und auch auf ein Stück des heutigen Serbien erstreckt hat, vom jetzigen Ungarn gehörte das ganze Dunántúl dazu, also Transdanubien, das gesamte Westungarn, der pannonische Teil Österreichs umfasste das südöstliche Niederösterreich, einschließlich Wiens, die Oststeiermark und eben das Burgenland eben das Burgenland, von dem heute viele annehmen, es hätte den alleinigen Anspruch auf Pannonien, auf den Begriff Pannonien als Markenname sozusagen, »Pannonien«, denken manche, kann für »Burgenland« stehen wie »UHU« für Pickzeug, »Manner« für Neapolitanerschnitten und »Almdudler« für Kräuterlimonade, wenn sie nicht gar ausschließlich nur an den politischen Bezirk Neusiedl am See denken, mehr oder weniger, wenn sie »Pannonien« hören, das ist doch so, räsoniert Laci vor sich hin, als wir bei der Fahrt durch den Seewinkel auf einen Freizeitwohnpark stoßen, der wie denn anders als »Pannonia« heißt, und schon mindestens dreimal die »Pannonische Küche« avisiert gesehen haben, er, Laci, hätte schon einmal einen Kellner gefragt, was denn das heiße, »Pannonische Küche«, und der Kellner hätte ihm nach kurzem Überlegen gesagt, das käme vom Klima, denn das pannonische Klima sei ein gutes Klima und folgerichtig die pannonische Küche eine gute Küche, herrlich, so etwas kann den Laci auf Dauer amüsieren, und es sei ein einheimischer Kellner gewesen und kein ungarischer, ein Ungar hätte ja wahrscheinlich eine bessere Antwort gegeben, meint Laci meint Laci, der ja selbst Ungar ist, nach eigenem Selbstverständnis, obwohl er nur drei Jahre in Ungarn gelebt hat, 1953 bis 1956, denn geboren wurde Laci in Kolozsvár/Cluj/Klausenburg, Rumänien, und hat dort aber auch nur drei Jahre gelebt, denn dann sind seine Eltern nach Budapest übersiedelt, das ging damals, weil die Großeltern aus Gödöllő waren, im Komitat Pest, aber schon drei Jahre später ist die ganze

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Familie nach Österreich geflüchtet, und da war Laci klarerweise erst sechs Jahre alt und spricht daher akzentfrei Deutsch, Wienerisch, fühlt sich aber als Ungar, und dieses Gefühl kultiviert er auch, und obwohl er wie gesagt akzentfrei Wienerisch spricht, macht er das manchmal, aber nicht immer, mit einem leicht ungarischen Tonfall und sagt zum Beispiel absichtlich Jáhrhundert anstatt Jahrhúndert und betont auch in Fragesätzen immer das erste Wort und in Fragewörtern die erste Silbe (wárum glaubst du das?), aber sonst hört man ihm sein Ungartum keineswegs an, keineswegs, im Gegensatz zu seinem über achtzigjährigen Vater, dem alten András dem alten András, der ein Paradefall von Deutsch mit ungarischem Akzent ist, wie aus einer Operettenverfilmung unter der Regie von Géza von Cziffra, der überhaupt ein Ungar ist, Lacis Vater András oder Bondi, wie er von seinen Freunden genannt wird, wie er im Buche steht, also ein sogenannter Bilderbuchungar, der es auch war, welcher darauf gedrängt hat, dass sich die in Wien lebende exilungarische Familie bereits in den Neunzehnsechzigerjahren ein Haus in Podersdorf erworben hat ein Haus in Podersdorf, weil das ja alter Boden der Heiligen Ungarischen Stephanskrone sei, »wääl ist Boden von häälige ungorische Stephonskronä«, sagt Laci, seinen eigenen Vater parodierend, was er sehr gut kann und auch sehr gern macht, wie er ja überhaupt mit seinem nationalen Ungartum auf eine Weise kokettiert, sodass nicht einmal seine besten Freunde wissen, ob es Scherz, Ironie oder tiefere Bedeutung ist, so zum Beispiel auch jetzt, wenn wir auf der Straße von Apetlon, welches auf Ungarisch unnötigerweise Bánfalu heißt, unnötigerweise, weil der Name Apetlon sowieso eine ungarische Etymologie hat, also von Apetlon nach Frauenkirchen, das Boldogasszony heißt, fahren, da sagt der Laci, dass es kaum eine Landschaft gäbe, die »ungarischer« wäre als die hier – da musst du schon weit nach Ungarn hineinfahren, nach Somogy oder Tolna, nach Baranya oder Bács-Kiskun, um wieder eine Landschaft zu finden, die so »ungarisch« ist, wenn du mich verstehst, wie diese da – das ganze Gebiet um den Neusiedler See, den Fertö tó, wirke unheimlich ungarisch, weil ja, so Lacis Theorie, Landschaften häufig gerade an ihren Grenzen sich selbst am ähnlichsten seien, wie ja auch die Alpen sich um Rax und Schneeberg nochmals tüchtig austoben, bevor sie aufhören zu existieren, und somit hätten die halbgebildeten Österreicher gar nicht so unrecht, wenn sie »Pannonien« mit dem Bezirk Neusiedl am See assoziieren würden, denn schau dir das nur einmal an denn schau dir das nur einmal an, sagt Laci, als wir von Apetlon nach Frauenkirchen fahren, wie man hier die leichte Luft zwischen den Akazien und den Maulbeerbäumen sehen kann, wie man den warmen Wind über den sauren Sumpfwiesen hören kann, wie man den Schatten der Pappeln riechen und seinen Geruch von dem der Weiden unterscheiden kann, wie man das feuchte Licht über den Lacken fühlen kann, und wie dies alles gemeinsam eine Stimmung mutiger Melancholie und fröhlichen Verzweifelns hervorruft, das findest du sonst nirgends in dieser Intensität, und das ist es, was ich mit »ungarisch« gemeint habe, sagt Laci, diese Weite, die dich

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hier, im Heideboden und im Seewinkel, mit tapferen Ängsten und mit resignierender Hoffnung einfängt, falls du dich auf sie einlässt, falls du zu sehen, hören und riechen verstehst, sagt Laci, denn die Leute, die sich nicht darauf einließen und nicht darauf verstünden, fänden diese Landschaft oft fade und öde, während er nichts Geheimnisvolleres sich vorstellen könne als diese weite Ebene mit ihrer Unbegrenztheit, nämlich auch mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten, denn während man in gebirgigen Gegenden immer nur zwischen Berg oder Tal entscheiden könne, hinauf oder eben nicht hinauf, habe man hier immer alle Richtungen offen, und nie könne man ganz sicher sein, wo denn die eingeschlagene Straße ende, es gäbe ja auch keine Gipfel und Höhen zu erreichen, weshalb alle landschaftlichen Details stets gleichberechtigt nebeneinander stünden und gesehen würden, was sich ja auch in der ungarischen Literatur niedergeschlagen habe, besonders in den Romanen des 20. Jahrhunderts, ebene und weite Literatur sei das, die Handlung verlaufe in mehreren Richtungen zugleich, aber keiner der Handlungsstränge, nichts werde je auf die Spitze getrieben, oft würden die einzelnen Kapitel wie austauschbar wirken, der Anfang der Romane nehme oft den Schluss vorweg oder der Schluss führe zum Anfang zurück, man denke nur etwa an László Krasznahorkai, an seinen Roman »Satanstango«, oder, fast noch ärger, »Der Schwimmer« von Zsuzsa Bánk, fast noch ärger deswegen, weil es der ungarischste Roman ist, den man denken könne, und der aber auf Deutsch geschrieben wurde, in einem bereits im Kopf der fabelhaften Zsuzsa Bánk aus dem Ungarischen herbeigedachten Deutsch – ja, nicht übersetzt, sondern herbeigedacht – und das ist schon wieder ein den Laci faszinierendes Paradoxon, dass nämlich der ungarischste Roman, den er kennt, zwar von einer Ungarin, aber auf Deutsch geschrieben worden ist, aber schade, meint Laci, das Thema einigermaßen beschließend, dass im nördlichen Burgenland keine Romane entstanden seien, nämlich ob diese Romane dann auch so weite und traumwandlerische Romane geworden seien wie die von der Bánk und vom Krasznahorkai, fragt sich Laci, denn diese Art des ebenen Erzählens habe eben etwas Traumwandlerisches, wie das sich Fortbewegen in der Ebene, das, auch wenn es durchaus zielgerichtet sei, oft etwas Traumwandlerisches bekommen könne, etwas Traumhaftes habe diese Ebene, sagt Laci, schau sie dir doch nur an schau sie dir doch nur an, diese Ebene mit ihren Baumgruppen und Alleen und mit dem eigentümlichen Licht, und hie und da ein kleiner Hügel, der meistens ein künstlicher Grabhügel ist, denn nicht umsonst, wenn auch vergeblich, hätte man lange Zeit das Grab des Attila genau hier, in dieser göttlichen Gegend1 gesucht, die Grabstelle des großen Hunnenkönigs, des ungarischen Väterchens, von der es in der einzigen sie beschreibenden Chronik heißt, sie liege unweit eines großen Sees, von dessen Ufern 1 So bezeichnet der 1798 durchreisende Dichter Ernst Moritz Arndt die Landschaft zwischen Neusiedl am See und Eisenstadt; vgl. Ernst Moritz Arndt, Sehnsucht nach der Ferne – Die Reise nach Wien und Venedig 1798, Frankfurt a. M. 1979, 303ff.

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man an manchen Tagen den Blick auf schneebedeckte Berggipfel habe, und sie sei nur einen Tagesritt von den Gestaden der Donau entfernt, da kannst du jetzt aber schon sehr lang suchen, bis du eine Gegend findest, auf die das so exakt zutrifft wie auf diese hier, und im Jahre 1838, in Sankt Georgen bei Eisenstadt, habe man einen alten Grabstein aus der Versenkung gehoben, worauf auch noch ein paar einschlägige Buchstaben zu lesen waren, da konnten sich die anwesenden Amateurarchäologen vor Begeisterung kaum einkriegen, man hätte den Grabstein des großen Hunnenkönigs bereits gefunden, die beigezogenen Fachleute aber hoben alsbald nur bedauernd die Schultern, es handle sich leider nur um einen ganz ordinären römischen Grabstein, hieß es da, nämlich um den des Römers Marcus Atilius, aber der Brunnen, den dieser Grabstein heute noch schmückt, trägt jedenfalls nach wie vor den Namen des Hunnenkönigs und ist die Zierde des Dorfplatzes von St. Georgen bei Eisenstadt, der »Attilabrunnen«, und auch so bleibt nun dieses Väterchen Ungarns, wenn auch auf einem Irrtum begründet, im Gedächtnis dieser Gegend, damit kommen wir aber gleich noch auf zwei andere ungarische Könige kommen wir aber gleich noch auf zwei andere ungarische Könige zu sprechen, welche wir in Frauenkirchen finden werden, wo es viele hässliche Häuser, aber eine wunderschöne Wallfahrtskirche gibt, zwei Türme, weithin sichtbar in diesem flachen Land, eine Basilika ist es, da der Papst hier schon einmal eine Messe gelesen hat, wunder- und fast schon furchtbar barock, ja, das Barockjuwel des Burgenlandes schlechthin, errichtet im Auftrage des ersten Fürsten Esterházy von Meistern aus Italien, am Hochaltar aber zwei der drei heiligen Könige Ungarns, Ladislaus und Emmerich, wie Laci jedes Mal wieder mit höchster Befriedigung feststellt, denn Ersterer, László – Ladislaus – sei ja sogar sein Namenspatron, die beiden heiligen Ungarnkönige, die dieses pannonische Heiligtum hier schützen sollen, denn Paul Esterházy musste diese Kirche ja zweimal erbauen lassen, einmal wurde sie ihm zerstört von den Türken von den Türken, deren Kriegszüge über die Jahrhunderte – »Jáhrhunderte« – hinweg auch im Gedächtnis dieser Landschaft geblieben sind, weshalb ja sogar die populärste Sage des Burgenlandes eine Episode aus den Türkenkriegen behandelt, ein Episödchen, und dass die Bevölkerung des Burgenlandes zumindest grundsätzlich aus humorbegabten Leuten besteht, dafür spricht ja allein schon die Tatsache, dass die bekannteste Sage des Burgenlandes eine eigentlich ganz lustige Story ist, der es nicht einmal an gewissen Slapstick-Elementen fehlt. Überhaupt, wenn man die bekanntesten Sagen anderer Bundesländer zum Vergleich heranzieht – in Salzburg zum Beispiel schläft der Kaiser Barbarossa im Untersberg und kriegt einen immer längeren Bart, die Entstehung des Wörthersees ist eine mittlere Katastrophe, und der Wiener Basilisk ist ganz einfach ungustiös, also alles nicht sonderlich lustig – da ist die populärste Sage des Burgenlandes schon ganz anders, nämlich die vom »Purbacher Türken«, auch unter dem Titel »Der Türke im Rauchfang« bekannt, und diese Sage berichtet, dass, als im Jahre 1529 die Türken – vergeblich – Wien erobern wollten (da hätten

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sie sich übrigens ja was Schönes eingetreten !), es auch im nördlichen Burgenland zu Kriegshandlungen, Plünderungen, Brandschatzungen etc. gekommen sei, und der Ort Purbach war damals schon eine ansehnliche Gemeinde und hieß auf ungarisch »Feketeváros«, was eigentlich »schwarze Stadt« heißt, obwohl es damals weder eine Stadt noch schwarz war, gleichviel, Purbach war jedenfalls damals schon ein bedeutender Weinort und wurde jedenfalls von den türkischen Truppen geplündert, wobei Verluste an Menschenleben aber glücklicherweise keine zu verzeichnen gewesen seien, da sich die Bevölkerung rechtzeitig in die weiten Wälder des Leithagebirges verdrückt hatte, also fanden die Türken zwar einerseits ein leeres Dorf, aber andererseits viele Weinkeller mit vollen Fässern vor, welche für die osmanischen Soldaten von besonderer Attraktivität gewesen sein dürften, die wohlgefüllten Fässer in den Weinkellern der Purbacher Bauern, denn sie taten sich reichlich an deren Inhalt gütlich, und fragte man jetzt, ob sie das denn überhaupt durften, so lautete die Antwort laut Koran eindeutig nein, aber als die Purbacher aus ihren Waldverstecken ins Dorf zurückkehrten, fanden sie jedenfalls nicht nur ziemlich viel Luft in den ehemals vollen Weinfässern vor, sondern in einem der Keller auch einen Soldaten der türkischen Streitkräfte, der schlief dort seinen Rausch aus und war von seinen Kameraden beim Abzug augenscheinlich »vergessen« worden, und dieser, nun aufgewacht und sicherlich nicht gänzlich unverkatert, flüchtete nun, in seiner verständlichen Angst, von der aufgebrachten Bevölkerung zu Tode geprügelt zu werden, aus dem Weinkeller, gelangte in die Küche des Hauses und suchte sich, da er von dort keinen anderen Ausweg mehr sah, im Rauchfang zu verbergen – ausgerechnet ! –, aber ob er, der Türke, der gern als dem pyknischen Typus angehörend beschrieben wird, dort drinnen steckenblieb, ob er von den Purbachern durch Entfachen des Herdfeuers gezwungen wurde, sein Versteck zu verlassen, ob sie seiner übers Dach habhaft wurden oder er in die Rauchkuchl zurückplumpste – da gehen die Versionen dieser mündlichen Überlieferung auseinander ; jedenfalls könne man sich diese turbulente Szene ganz gut in der Slapstick-Manier à la Laurel & Hardy ausmalen, turbulent, aber harmlos, denn wie die Geschichte ausgeht, ist übrigens auch gar nicht schlimm, die Purbacher, als sie des Türken habhaft geworden waren, erwiesen sich als besonnene Leute und lautere Christen, weshalb der gefangene Osmane nicht der Lynchjustiz, sondern nur der katholischen Taufe unterzogen wurde, und wie es die Überlieferung will, blieb der Türke auch in Purbach und zwar als Knecht im Hause seiner Gefangennahme, heiratete eine Purbacher Dirn und hinterließ eine zahlreiche Nachkommenschaft, und wie man aus dieser angenehmen Sage entnehmen kann, sind die Burgenländer zwar nicht völlig unfremdenfeindlich, aber eher doch fröhlich,2 und hinter dieser Sage oder Legende, die im Burgenland jedes Kind kennt, versteckt sich wohl cum grano salis die historische Tatsache, dass während der langen Periode der Türkenkriege immer wieder Deserteure der türki2 Vgl. Stefan Waasner, Darüber lacht Burgenland, Wien 2006, 33.

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schen Streitkräfte mit der nachmalig burgenländischen Bevölkerung sich fraternisiert haben und schließlich in ihr aufgegangen sind, das sei wohl der Legende wirklicher Kern, der sicher wahrhaftiger sei der sicher wahrhaftiger sei als etwa die teilweise in die burgenländische Literaturgeschichte, wobei »burgenländische Literaturgeschichte« fast schon eine »contradictio in se« sei in dieser notorisch aliterarischen Region, die offensichtlich eine Region für Musiker und Maler, aber nicht für Dichter sei, also in die »burgenländische Literaturgeschichte« sei eben, wahrscheinlich genau aufgrund des Mangels an substanziellen autochthon-burgenländischen Literaten, genau aus diesem Grund sei eben Nikolaus Lenau als »burgenländischer Dichter« genannt und gefeiert worden, verbreitet sich Laci, als wir einmal die schöne lange Straße von Halbturn auf den Kleylehof fahren, wo ein gemeinsamer Freund von uns sein Bildhaueratelier etabliert hat, auf den Kleylehof, wo der junge Nikolaus Lenau im Sommer des Jahres 1827 tatsächlich für Vierzehntag-Dreiwochen bei seinem ehemaligen Schulfreunde Friedrich von Kleyle, mit dem er in Magyaróvár (Ungarisch Altenburg, heute Mosonmagyaróvár) so etwas wie eine Landwirtschaftliche Fachhochschule besucht hatte, zu Gast gewesen sei, dieser Fritz Kleyle hatte im Sommer des Jahres 1827 den jungen Nikolaus Lenau also für Vierzehntag-Dreiwochen auf den im Gemeindegebiet von Nickelsdorf liegenden Meierhof seines Onkels eingeladen, mehr aber auch nicht, und die Tatsache dieses nicht allzu sehr ausgedehnten Sommeraufenthaltes auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes habe, in Verbindung mit dem Lenauschen Gedichtzyklustitel »Schilflieder«, bereits ausgereicht, um den Nikolaus Lenau zum »Poeten der Neusiedlerseelandschaft« mutieren zu lassen, so konnte er »des Burgenlands größter und Deutschlands großer Dichter« werden, wie einer der halbwissenden Publizisten des Burgenlandes einmal tatsächlich ungestraft geschrieben hat,3 was bei Laci einige Häme hervorruft, denn man hätte ja nur Lenaus Tagebücher zurate ziehen müssen, damit klargestellt werden könnte, dass sich die »Schilflieder« auf die Landschaft im Komitat Csongrád bezögen, im südöstlichsten Ungarn, weit von hier, während es gar nicht sicher ist, ob Lenau des Neusiedler Sees jemals tatsächlich ansichtig wurde, denn der liegt ja nicht wirklich in nächster Nähe zum Kleylehof, und ob die Burschen den weiten Ritt dorthin im Sommer dieses Jahres 1827 in der Tat unternommen haben, vermöge ja niemand zu sagen, obwohl – und das räumt Laci jetzt ganz ohne Häme ein – schon klar sei, dass die Landschaft des nördlichen Burgenlandes mit der im weit entfernten Komitat Csongrád weidlich mehr atmosphärische Verwandtschaft habe als etwa mit dem nahen Rax-Schneeberg-Gebiet, diese Landschaftsverwandtschaft des nördlichen Burgenlands mit dem südöstlichen Ungarn räumt Laci nicht nur ein, er besteht sogar auf ihr, während wir auf der langen Straße von Halbturn nach dem Kleylehof fahren, die Parklandschaft hinter dem Halbturner Schloss, auch dieses übrigens ein 3 Alexander Hübner, Im Burgenland. Eisenstadt 1931, 198.

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fürchterliches Barockjuwel, diesmal aber nicht esterházyscher, sonder habsburgischer Provenienz, wirklich heftig barock, wiewohl mit englischem Park, der unmerklich in die typisch nordburgenländische, immer wieder mit naturlandschaftlichen Einsprengseln versehene Agrarlandschaft übergeht, Weingärten, Kornfelder, Kukuruz, Pappeln, Föhren, einzeln und in Gruppen, später ein veritabler Wald, »Karlwald« heißt der, das habe hier ganz einfach was, meint Laci, und da könne der junge Lenau durchaus was profitiert haben, fürs dichterische Gemüt, die poetische Potenz, von seinem Kleylehofaufenthalt im Sommer des Jahres 1827, aber ihn deswegen gleich zu einem »burgenländischen Dichter« hochzustilisieren, das passt doch dazu, zur Erfindung Pannoniens zur Erfindung Pannoniens, welche eigentlich in den 1970er-Jahren stattgefunden hat, aber doch nicht von heute auf morgen passiert ist, sondern auch schon Vorläufer und Wegbereiter hatte, wie etwa den Volkskundler Leopold Schmidt, der in einer im Jahre 1959 erschienenen Publikation das Burgenland »entdecken« ließ,4 und zwar von reisenden Biedermeierschriftstellern und frühen Volkskundlern, und der ja auch dem Nikolaus Lenau drei Seiten dieses Buches widmet, aber, genauso honorig wie schlau, die Burgenlandbezogenheit Lenauschen Dichtens, an die er ja wohl selbst nicht geglaubt haben konnte, geschickt relativiert, ohne dabei den braven Burgenländern ihre große literaturgeschichtliche Illusion zu zerstören, der er ein, zwei kleine Konzessiönchen macht, der Burgenlandverbundenheit des Nikolaus Lenau, verständlicherweise, meint Laci, als wir schon im Atelier von Franz Gyolcs (dessen ungarischer Familienname auf Deutsch »Leinwand« heißt) am Kleylehof beim Wein sitzen, denn diese sei ja doch nicht ganz und gar, meint Laci, nur etwa neunundneunzigprozentig, aber nicht hundertprozentig von der Hand zu weisen hundertprozentig von der Hand zu weisen sei hingegen die weit verbreitete und oft kolportierte Legende von der Auslandsburgenländerschaft des Fred Astaire, wenn wir jetzt schon einmal dabei sind, beim Erfinden, denn am 10. Mai 1899 wurde in Omaha, Nebraska, Fred Astaire, und damit also der größte Stepptänzer zwischen Scheibbs und Nebraska, unter dem Namen Frederick Austerlitz geboren, »Austerlitz« war aber einer der häufigsten Familiennamen der Eisenstädter Judenstadt, und im Burgenland wurde lange Jahre in Wort und Schrift kolportiert, Fred Astaire – Austerlitz – sei eigentlich ein Eisenstädter, ja, ganz genau, Abkömmling der weit verzweigten Familie Austerlitz aus der Eisenstädter Judenstadt, und man ging sogar ins Detail, hatte alte Leute gekannt, die als Kinder noch mit Fred Astaires Großeltern bekannt gewesen wären, nannte konkrete Namen und verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass Fred Astaire, wenn auch in Nebraska geboren, so doch noch in Eisenstadt gezeugt worden sei, denn die junge Austerlitz sei ja schon schwanger gewesen, als sie und ihr Ehemann 4 Leopold Schmidt, Die Entdeckung des Burgenlandes im Biedermeier (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland, Band 21), Eisenstadt 1959.

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im November 1898 aus Eisenstadt ausgewandert wären, also wurde mit gehörigem burgenländischen Stolz diese Geschichte oft und gern verbraten, nur ist sie überhaupt nicht wahr, denn die Eltern von Fred Astaire stammten aus Mähren, aber den Grundstein dieser Sage verdankt man dem letzten Bürgermeister der Autonomen Jüdischen Gemeinde Eisenstadt-Unterberg, Wilhelm Schneider, denn dieser war 1938 nach New York emigriert, und es war ihm dort zunächst ziemlich mies ergangen, so mies, dass er sich gezwungen sah, Bettelbriefe zu verfassen, in schlechtem Englisch, an Leute mit Geld, unter anderem auch an Fred Astaire, und er schloss sein Schreiben mit der Bemerkung, dass seine, Schneiders Mutter, eine geborene Austerlitz gewesen wäre, und vielleicht seien sie beide sogar ein bisserl verwandt, nur hätte der arme ehemalige Bürgermeister von Fred Astaire gar keine Antwort auf seinen Brief bekommen, aber als nun Wilhelm Schneider nach Ende des braunen Schreckens nach Eisenstadt zurückkehrte, erzählte er diese anekdotenhafte Geschichte in den Eisenstädter Kaffeehäusern, und wie das schon mit guten Kaffeehausgeschichten so ist, bald darauf war Fred Astaire selber ein Eisenstädter, das aber so hartnäckig, dass bei einer Landesausstellung auf Burg Güssing, bei der die oft verzweifelte burgenländische Amerikaauswanderung thematisiert und dokumentiert wurde, in der Abteilung »Berühmte Auslandsburgenländer« das Porträt des Fred Astaire das größte und schönste von allen war,5 und das, meint Laci, sei halt leider doch typisch burgenländisch typisch burgenländisch, nämlich bereits im frühen Herbst des Jahres 1938 stolz gewesen zu sein, dass Burgenland der erste judenfreie Gau der Ostmark sei, obwohl, judenfreier Gau hin oder her, das Burgenland von der Naziverwaltung sowieso auf die beiden damals noch keineswegs judenfreien Gaue Niederdonau und Steiermark aufgeteilt wurde, und nach 1945 aber sei man dann eben sehr schnell stolz auf einen mit dem Burgenland gar nichts zu schaffen habenden Sohn jüdischer Auswanderer aus Mähren, aber da müssen der Gyolcs Franz und ich ein wenig widersprechen, nämlich dass das nicht dieselben oder gleichen burgenländischen Leute gewesen wären, die stolz auf den tatsächlich judenfreien burgenländischen Kurzzeitgau und hernach auf den vermeintlichen berühmten Sohn gewesener jüdischer Burgenländer waren, das hieße Äpfel und Birnen über einen Kamm scheren, so könne man das keinesfalls sehen, aber diese Einsprüche wischt der Laci vom Tisch, denn auch wenn das zweifellos nicht die gleichen oder selben burgenländischen Leute gewesen wären, so sei allein die Tatsache sehr symptomatisch für die typisch burgenländische Mentalität einer Doppelgleisigkeit einer Doppelgleisigkeit, die sich schon bald nach der Entstehung des Burgenlandes manifestierte, als das Burgenland ja in der Tat erst erfunden werden musste, denn die westlichen, mehrheitlich von Deutschsprachigen bewohnten Landstriche der drei Komitate Moson, Sopron und Vas hätten ja nie zuvor eine Einheit gebildet, weder 5 Vgl. Waasner, Darüber lacht Burgenland, 77.

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geografisch noch ethnografisch, und plötzlich wäre da aber eine politische Einheit namens »Burgenland« gewesen, ein Bundesland der Republik Österreich, aber an »Landesbewusstsein«, späterhin »Landesidentität« genannt, daran hätte es natürlich gemangelt, aber nicht nur von innen, von den eigenen Leuten her, sondern auch, was die Wahrnehmung von außen betrifft, denn viele plötzlich zu Mitbürgern der »Burgenländer« mutierte Alpinösterreicher konnten mit diesem neuen Bundesland gar nicht sehr viel beginnen, auch soll sich die Freude über den Zuwachs einigermaßen in Grenzen gehalten haben, »groß ist der Gewinn nicht«, zitiert Laci einen Kommentator zur trianonischen Gebietserweiterung von Restösterreich, er hat ihn nur ungefähr im Kopf, wir wollen ihn hier nun wörtlich wiedergeben: »[…] hat Deutschösterreich nicht lauter Gebietsentziehungen gebracht – er hat ihm auch ein bisher ungarisches Gebiet zugesprochen, das Burgenland. Groß ist der Gewinn nicht ; nachdem es das Meer und die Industriebezirke, Zucker, Petroleum und Kohle verloren hatte, wurde als Ersatz ein Gemüsegarten vor den Toren Wiens angeboten«;6 die Bewohner dieses »Gemüsegartens« aber, die einerseits immer wieder als geübte Nudelsuppenschwimmer verunglimpft werden, andererseits jedoch, und das darf nicht übersehen werden, was es ja eh nicht wird, andererseits jedoch Joseph Haydn und Franz Liszt hervorgebracht und der Welt geschenkt haben, diese Gemüsegartenbewohner hätten sich, laut Laci, von vorneherein immer einer doppelgleisigen Strategie bemüht oder bequemt, nach der das Burgenland den Restösterreichern sowohl als »deutsches Grenzland im Osten« als auch als magyarisch geprägter Exotismus, ja sogar als »der letzte Rest des sterbenden Orients«7 präsentiert werden konnte, es sei nahezu ein Wunder, so Laci, dass nicht damals, in den Neunzehnzwanzigern schon, »Pannonien« als Markt- und Markenbegriff erfunden worden sei, aber ganz ohne Erfindung ist es ohnehin nicht abgegangen, und man erfand damals die Puszta und deren Romantik, während gleichzeitig auf »Deutsche Sitte und Brauch im Burgenland« viel Wert gelegt wurde, also erfand man eigentlich eine »deutsche« beziehungsweise »österreichische Puszta«, eine Erfindung, die bis in die Neunzehnsiebziger in Gebrauch stand und dann eben nach und nach von dem viel nebuloseren, vielschichtigeren, aber auch besser verwertbaren »Pannonien« abgelöst wurde, und Laci erinnert sich noch gerne des Heurigenlokals »Pusztablick«, von dem aus man in der Tat eine gute Aussicht ins weite Land hatte, allerdings ausschließlich Weinkulturen, also beileibe keine Puszta sehen konnte, und obwohl das schon lange her ist, freut sich der Laci heute noch darüber, denn es ist Wasser auf seine Mühlen, der Pusztablick ohne Puszta, aber immerhin musste in den Neunzehnsechzigern und -siebzigern der »deutsche« Charakter des Landes nicht 6 Karl Brockhausen, Der Friedensvertrag von Saint Germain in seinen kulturellen und wirtschaftlichen Auswirkungen (Wien 1923), hier zitiert nach Sándor Békési, Verklärt und Verachtet – Wahrnehmungsgeschichte einer Landschaft: Der Neusiedler See, Frankfurt a. M. 2007, 166. 7 Vgl. Békési, Verklärt und Verachtet, 176, Anm. 106.

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mehr betont werden, das hätte ja erstens ein bisschen einen Hautgout gehabt, nach dem Zweiten Weltkrieg, zweitens aber musste der Anschluss des Burgenlandes jetzt nicht mehr legitimiert werden, weder vor Gott noch vor dem Nächsten, denn mittlerweile, nachdem der Eiserne Vorhang und der Kalte Krieg eröffnet waren, jauchzten ja alle, zufrieden, Groß und Klein, über die Zugehörigkeit des Burgenlandes zur Westlichen Welt, über das kleine Stück von Ungarn zum großen Stück vom Glück, dem somit ein Dasein im Sumpfe des Kommunismus erspart geblieben war, und somit durfte man dann auch im Jahre 1956 den Abertausend Flüchtlingen des ungarischen Volksaufstandes herzlich und hilfsbereit gegenübertreten, und das sagt Laci jetzt ohne seine gewohnte Ironie, da man ja auch seiner eigenen Familie damals im Burgenland herzlich und hilfsbereit entgegengetreten war, geradezu in einer Art von brüderlicher Verbundenheit von brüderlicher Verbundenheit, von welcher der großdeutsche Klüngel der Burgenlanderfinder von 1921 sicher nichts hätten hören wollen, freilich war das nur ein kleiner großdeutscher Klüngel, klein, aber durchaus einflussreich, mit dem späteren Landeshauptmann Alfred Walheim als zentraler Figur, mit unverhohlen alldeutschem Gedankengut, was ja schon bei der Wahl der Landesfarben begonnen habe, meint Laci, Rot-Gold, womit ja bereits zwei Drittel der deutschen Fahne abgedeckt gewesen wären, damals, 1921 ff., sagt Laci, sei ja noch ganz was anderes erfunden worden, nämlich das sogenannte »Madjarische Joch«, unter dem die deutschsprachige Bevölkerung angeblich so gelitten habe, und das gleich jahrhundertelang, in Jahrhunderten von Knechtung habe das deutsche Volk von Burgenland ausharren und überdauern müssen, was es aber mühelos ausgehalten hätte, eben weil es so ein aufrechtes und gesundes deutschblütiges Völkchen gewesen sei, und die gesamte Kroatenschaft des Burgenlandes wurde meist tunlichst übergangen in diesen deutschnationalen Auslassungen der frühen Burgenlandzeit, anders als die Roma, denn die Zigeuner fanden doch ab und zu Erwähnung, und zwar in Zusammenhang mit Wörtern wie »Schande« o. Ä., und deswegen sei er, Laci, letztendlich sehr zufrieden gewesen, dass der Platz vor dem Landhaus in Eisenstadt, dem Sitz der Burgenländischen Landesregierung, nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union in »Europaplatz« umbenannt worden ist, denn zunächst habe er sich darüber geärgert, über die Umbenennung, weil der Platz ja vorher »Freiheitsplatz« hieß und Laci gedacht habe, der Name sei 1945 kreiert worden, anlässlich der Befreiung von den Nationalsozialisten oder seinetwegen auch seit 1955, da das Burgenland der russischen Besatzungstruppen entledigt wurde, er habe aber dann nachgelesen und erfahren, dass der »Freiheitsplatz« bereits in den Zwanzigerjahren so geheißen habe, und gemeint gewesen sei eben die Freiheit von dem soeben genannten »Madjarischen Joch«, und ausgestattet mit diesem Wissen sei ihm der »Europaplatz« gleich um Längen lieber gewesen um Längen lieber gewesen wäre jedoch den allermeisten Bewohnerinnen und Bewohnern des Burgenlandes der Anschluss an die Republik Deutsch-Österreich ja gar

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nicht, damals, der Mehrzahl sei es wahrscheinlich ziemlich egal gewesen, vermutet Laci, die Mehrheit sei wieder einmal eine schweigende gewesen, was ihr aber gar nicht zu verdenken wäre, denn in den vorangegangenen Zeiten der Doppelmonarchie sei ja die Grenze zwischen Ungarn und Österreich für die Bevölkerung nur wenig spürbar und kaum von Belang gewesen, unbestreitbar sei aber, dass es zweifellos auch deutschsprachige Stimmen gegeben hätte, welche einem Verbleib bei Ungarn das Wort redeten, wie könnten sonst im Jahre 1921 solche Leitartikel in der »Oberwarther Sonntags-Zeitung« abgedruckt worden sein, Leitartikel, welche unter Schlagzeilen wie »Deutscher Zunge, ungarischen Herzens« von dem »die Seelen des zu trennenden Volkes überwältigenden Schmerz über die drohende Lostrennung vom Mutterlande« zu berichten wussten und davon, »daß das Herz Westungarns nicht ihnen (den Österreichern, Anm.) gehört, weil das Volk wohl deutsch spricht, aber ungarisch fühlt und sein Vaterland nicht mit der Zunge, sondern mit dem Herzen wählt«,8 auch habe es gar nicht so wenige deutsch- und kroatischsprachige Gemeinden gegeben, in denen hundertfach unterzeichnete Memoranden aufgesetzt worden seien, in denen man den Wunsch nach dem Verbleib bei Ungarn postuliert habe, und ein paar deutschsprachige Bauernsöhne, verzweifelte Karlisten, welche Habsburgs Chancen in Ungarn eher gewahrt sahen als auf österreichischer Seite, und hitzköpfige Konservativisten, die jedweder Veränderung des Status quo mit verbitterter Skepsis entgegentraten, hätten sich ja tatsächlich den ungarischen Freischärlern angeschlossen, was man nach 1921 dann sehr rasch unter den Teppich gekehrt hätte unter den Teppich gekehrt hätte man ja in der ganzen Weltgeschichte dauernd etwas, das sei also nichts spezifisch Burgenländisches, das will der Laci an dieser Stelle schon eingeräumt wissen, das sei also ein tiefgehender humaner Faktor, das Unterdenteppichkehren, er, Laci, sei aber so einer, der häufig über Teppichecken stolpere, ein »Pocskay« also sei er, wie das die Burgenländer in Anlehnung an das österreichische Dialektwort »påtschert« (für ungeschickt), assoziativ verknüpft mit einer ungarischen Namensform, nennen würden, er stolpere also immer wieder über Teppichecken, vor allem über historische und literarische Teppichecken und schlage sie dabei um, mag sein, dass er dabei auch manchmal auf die Nase falle, faszinierend fände er immer, was da so alles unter den Teppichecken der Geschichte oder besser der Geschichtsschreibung oder noch besser der offiziellen Lesart der Geschichtsschreibung verborgen sei, manchmal seien das ja durchaus harmlose Sachen, kleine Dinge, aber es lohne sich fast immer, nicht auf dem Teppich zu bleiben, sondern darunter nachzusehen, und auf diese Weise habe er ja auch den am 21. November 1918 unter dem Titel »Die Entscheidungsstunde der Deutschen Westungarns« in der »Ostdeutschen Rundschau« veröffentlichten Aufruf aufgegabelt, der mit folgenden Worten endet : »Auf zur Vereinigung ! Auf zum deutschen Vaterlande ! Los von der alten Zwing8 Oberwarther Sonntags-Zeitung vom 3. Juli 1921, 1.

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herrschaft, hoch der alldeutsche Geist. Mit Heilgruß und Handschlag Euer Landsmann Josef Reichl«,9 ja, und das sei doch in der Tat jener Josef Reichl gewesen, der als großer Heimatdichter und literarisches Aushängeschild des Burgenlandes gehandelt wird, was wohl daran liegt, dass man nach der Installation des Burgenlandes als neues österreichisches Bundesland zu dessen Identitätsstiftung unter anderem auch eines »Burgenländischen Heimatdichters« bedurfte, und er, der 1860 in Güssing geborene Wiener Hutmachermeister, sei da offenbar allein auf weiter Flur gewesen und hatte zudem schon lange vorher Zugang zum treudeutschen Kreis der Wiener Großgermanen gefunden, unter denen sich ja auch die rührigsten »Deutschwestungarnzu-Österreich-Befürworter« tummelten, jedenfalls veröffentlichten deren (und fast ausschließlich nur deren) Blätter Reichls Gedichte, in erster Linie nämlich das Periodikum »Unverfälschte Deutsche Worte – Monatsschrift für alldeutsche Gesinnung und Lebensführung«, übrigens eine Gründung des berüchtigten Georg Ritter von Schönerer, und in zweiter Linie das »Alldeutsche Tagblatt«, woselbst er auch sein Hutgeschäft inseriert und »für Mitglieder nationaler Vereine ermäßigte Preise !« auslobt, dieser Josef Reichl wird also nach dem Anschluss des Burgenlandes zum großen Heimatdichter hochgelobt, obwohl die Fragwürdigkeit seines literarischen Talents der Fragwürdigkeit seiner weltanschaulichen Einstellung um nichts nachsteht : »Wal gor sao fleißi ollas schofft / Nit z’ brechn is die deutsche Kroft«, heißt es da in dem Gedicht »Deutscha Fleiß« aus seinem Hauptwerk, dem Gedichtband »Hinta Pfluag und Aarn«, in dessen Titel, wenn wir jetzt schon dabei sind, auf »richtig« burgenländisch »Pflui« statt »Pfluag« stehen müsste, aber wenn den Mundartdichter Reichl sein geliebtes »Heanzisch« im Stich lässt, so verwendet er zwischendurch auch Ausdrücke der gehobenen Standardsprache (wie »Zeitenlauf«), oder er vermundartlicht standardsprachliche Wörter (wie »Sonnenschein« zu »Sunnanschei«) und wenn der Versfuß es nicht anders zulässt, so schaut auch jemand beim Fenster »raus« (anstatt »aussi«), aber trotz dieser Fragwürdigkeiten lebt der Mythos Josef Reichls als »großer burgenländischer Dichter« ungebrochen fort, und in jeder größeren Gemeinde des Burgenlandes gibt es neben einer Joseph-Haydn- und einer Franz-Liszt- auch eine Josef-Reichl-Gasse, auch wenn die Werke des Letzteren heute kaum noch jemandem bekannt sind kaum noch jemandem bekannt sind ja ebenfalls die Balladen des Alfred Walheim, auf dessen Namen jedoch in ganz Burgenland keine einzige Gasse getauft ist, obwohl der doch sogar auch Landeshauptmann war, und das sogar zweimal, einmal ein halbes Jahr von 1923 auf 1924 und dann von November 1931 bis Februar 1934, der in Ödenburg geborene, großdeutsche Parteigänger, Mitglied des bereits erwähnten Wiener Klüngels pangermanischer Anschlussbefürworter, der sich als solches seine 9 Hier zitiert nach Albert Schuch, Drei Wege zu Josef Reichl, in: 25 Jahre Güssinger Begegnung, Güssing 2000, 24.

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ersten Sporen um das »Werden des Burgenlandes« verdient hatte und dann als burgenländischer Landespolitiker geschickt mit und zwischen Rot und Schwarz paktierte und taktierte, sodass er nicht nur zweimal Landeshauptmann, sondern auch viermal Landesrat wurde, und das bei ziemlichem Wählerstimmenmangel für seine Großdeutschen beziehungsweise für den »Landbund«, für den er zwischendurch auch kandidiert hat,10 also in der Tat ein hoch begnadetes politisches Talent, aber eben nicht nur das, sondern auch ein literarisches, ein veritabler Dichter ersteht hier vor uns aus der burgenländischen Geschichte, und diese, die burgenländische Geschichte, ist ja auch sein Lieblingssujet gewesen, das Lieblingssujet seiner Balladen, welche er, in etwa dem Stile Ferdinand Freiligraths folgend, zu dichten imstande war, »Balladen aus dem Burgenland« nennt sich das 1933 im »Österreichischen Bundesverlag« erschienene Buch von immerhin 228 Seiten Umfang, 1933 erschienen, da war Walheim ja gerade zum zweiten Male Landeshauptmann, und eigentlich könnte man sich ja gar nichts Besseres wünschen, als dass die österreichischen Landeshauptleute während ihrer Amtszeit literarische Werke verfassen und herausgeben, eigentlich sollte man sie per Verfassungsentscheid dazu zwingen, es müssten ja nicht unbedingt, wie im vorliegenden Falle, Balladen sein, die Landeshauptleute könnten sich meinetwegen auch in Kurzgeschichte und Novelle versuchen, in Hörspiel und konkreter Poesie – für Romane sollte es ihnen denn doch an Zeit mangeln, aber es wäre immerhin interessant, wer sich stilistisch für die Neue Sachlichkeit, wer für den Magischen Realismus etc. entschiede, aber dass Landeshauptleute grundsätzlich dichten können, das sollte man doch verlangen können, so wie Burgenlands zweimaliger Alfred Walheim es konnte, der, und jetzt wieder einmal ohne Ironie, das Balladenschmieden wohl verstand, da verknackst sich schon kein Versfuß, da versteht einer sein Handwerk, da beweist der Landeshauptmann Sprachgefühl, mögen Balladen im Stile des neunzehnten Jahrhunderts jedermanns Sache auch nicht sein, von ihrer Machart her ist den Walheimschen Sprachgeschmeiden nichts vorzuwerfen, was einige von ihnen aber zum Machwerk werden lässt, ist die mit ihrer Hilfe betriebene Geschichtsklitterung, die der literarische Landeshauptmann da betreibt, wenn er in seiner Dichtung von der »Güssinger Fehde« – ein richtiges kleines Versepos ist das, was er da um diese bewaffneten Wirrsale von 1289/90 gesponnen hat – deren Anzettler, den Grafen Iwan von Güssing, seinen abschließenden Sermon mit den folgenden Worten enden lässt: »Von der Raab bis zur Donau ein eigenes Land – nach seinen Burgen sei es genannt – doch nicht bei Ungern, sondern beim Reiche! Nicht unter Akazien! Unter der Eiche!«11 10 Zu Alfred Walheims Biografie vgl. Gerald Schlag, Burgenland in Biographien, Eisenstadt 1991, 335 f. 11 Alfred Walheim, Balladen aus dem Burgenland, Wien 1933, 120.

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da kriegt sich doch der Laci fast nicht ein, bei diesem Zitat, vor lauter Lachen, denn zum einen war des Güssinger Grafen kriegerische Intrige gegen Österreichisch-Habsburg, das vor Kurzem erst habsburgisch gewordene Herzogtum Österreich, gerichtet und nicht gegen den König von Ungarn, aber die hierzulande sogenannten Akazien, die eigentlich Rhobinien sind, die blühten damals ausschließlich im noch unentdeckten Amerika, während man aber heute noch, von Güssing aus nach Ungarn einfahrend, alsbald auf die sattesten Eichenwälder stoßen kann, in den Komitaten Vas und Zala, erklärt Laci und lacht noch immer, während ich aber das Kapitel vom dichtenden Landeshauptmann Alfred Walheim noch gar nicht abschließen will, viel lieber will ich eines seiner Gedichte zur Gänze hier zitieren, und zwar »Grenzland«, es ist das allererste in Walheims Buch, sozusagen das Leitgedicht, und es geht so: »Grenzland, auf der grünen Heide hat man sich um dich gerauft und du wardst am grünen Tische oft verschachert und verkauft. Ungezählter Heere harte Füße haben dich durchrannt, deine Dörfer, deine Städte haben – ach, wie oft! – gebrannt. Immer wieder ließ der Osten seine Horden auf dich los, immer wieder kam vom Westen stracks der deutsche Gegenstoß. Seit des großen Franken Tagen schloß ans Reich sich dein Geschick, bis du als ein Opfer fielest enger Hausmachtpolitik. Wer auch nicht an Wunder glaubte, hier nahm eines seinen Lauf: Andre Fahnen gingen nieder, hier zog man die neue auf. In der Kaisergruft zu Aachen funkt ein Knistern durch den Staub – An des Reiches alter Linde grünt ein abgestorbnes Laub. Fremder Herr bringt fremden Willen: erst im Schlosse der Magnat, dann im Paragraphenring der Völkerfresser Einheitsstaat. Vor dem Prall des Welttornados splittert Habsburgs Doppelthron, über Trümmer treibt zerrissen die Pragmatische Sanktion. Heimatland, nach so viel Unruh’ lenkst du nun zum Hafen ein. Aber wie – du senkst die Stirne? Tränen rollen in den Wein? Denkst du der verlornen Brüder? Quält dich das als letztes Weh? Sieh! Des deutschen Aares Schwingen schatten schon in deinem See.«12

und da hört nun Laci zu lachen auf und fragt sich laut, wie es denn sein konnte, dass so etwas veröffentlicht wurde, im Jahre 1933, im Österreichischen Bundesverlag, aus der 12 Walheim, Balladen, 7.

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Hand eines österreichischen Landeshauptmanns, unglaublich, sagt Laci, was da für böse Feen an der Wiege des Burgenlandes gestanden sind, mehr böse als gute jedenfalls, kein Wunder also, dass das Dornländchen Burgenröschen die ganz Zeit verdöst hat, obwohl es schon hin und wieder passende Prinzen gegeben habe passende Prinzen gegeben habe es zum Beispiel in Form eines Freundespaares, der beiden Herren Sebestyén und Sinowatz, beide in erster Linie Denker, in zweiter Linie Schriftsteller der eine, Politiker der andere, beide zu Ehren gekommen und beide doch gemeinhin unterschätzt, diese zwei hätten nämlich gemeinsam das pannonische Burgenland, Burgenland als Pannonien erfunden, und zwar in bester Absicht in bester Absicht habe man damals, zwischen 1965 und 1975, das burgenländische Pannonien proklamiert, in einer Zeit, da ein Ende des Kalten Krieges nicht absehbar, ein Verschwinden des Eisernen Vorhanges nicht zu erwarten und eine europäische Integration von Österreich und Ungarn höchst unwahrscheinlich war, damals konnte man Burgenländisch-Pannonien durchaus als kulturelle Chance begreifen, als genau jenen einzigartigen, östlich geprägten Landstrich Mitteleuropas, welcher sozusagen unter dem Eisernen Vorhang hindurch in die westliche Welt hineinragte, als jene antialpine oder zumindest analpine Provinz der provinziellen Alpenrepublik, deren kulturelle Prägung ein feines Gegengewicht hätte abgeben können zum Lederhosenjodelklischee zum Lederhosenjodelklischee tendieren ja mittlerweile leider weite Teile der burgenländischen Bevölkerung, weil sie offenbar den eigenen Traditionen misstrauen oder weil diese auch zu wenig tragfähig, zu wenig substanziell sind, denn schau dir nur allein einmal eure heimliche Volkshymne an, meint Laci, »Die schöne Burgenländerin«, die ist aus dem Odenwald entlehnt, und das merkt man auch, denn zeig mir einmal im tiefen Tal den rauschenden Wasserfall, im schönen, im herrlichen Burgenland, da hätte man ja wenigstens ein bisschen was umdichten können, aber noch ärger fast findet Laci das ebenfalls gern gesungene Neusiedlerseelied, in dem ein Waidmann früh am Morgen bergauf, bergab geht : »Hat er eine Gams geschossen, hat er sie zu Tod getroffen, jubelt er voller Freud’ ›Juchhee‹, weil er’s g’schossen hat am Neusiedler See!«, das ist noch ärger, und jedes Mal, wenn sie das Lied in Podersdorf im Schenkhaus, das ja auch schon längst »Heurigenschenke« sich nennt, singen, dann schreit der Laci »Gans ! Singt doch wenigstens Gans statt Gams !«, aber es hört keiner ihm zu bzw. auf ihn, und große Teile der burgenländischen Bevölkerung veralpinisieren kulturell zusehends und kleiden sich sonntags in Loden und Kniestrümpfe, die Kellner in rotweißes Karo, und die burgenländischen Eventmanager importieren für den Krampustag Tiroler Perchtengruppen nach Pinkafeld, und so verwässert man dieses Landes solitären und damit wertvollen Charakter dieses Landes solitären und damit wertvollen Charakter hatten Sinowatz und Sebestyén wohl erkannt, und sie versuchten ihn zu bannen, indem sie ihn benannten, Pannonien, wie sonst

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Pannonien, wie sonst hätte man es heißen mögen, Fahllichtland, Weithimmeln, Warmwindland, Weinwinkeln, Wolkenstorchenheim, Haydnliszt, As-Durien, BMollistan, das ist ja lauter Blödsinn, und einfach »Burgenland« zu sagen, entsprach nicht dem Sinn der Idee, welche ja über Burgenland, das geografische und politische Burgenland hinausreichen sollte, aber Pannonien hat es ja schon gegeben aber Pannonien hat es ja schon gegeben und gab es nun aufs Neue, nur vielleicht ein wenig zu niedlich, wie später, als es schon erfunden war, Kumpf es gemalt hat, aber das Konzept des burgenländischen Landesrates Fred Sinowatz war doch grundsätzlich eine Absage an das des burgenländischen Landeshauptmannes Walheim, welches die Schatten des deutschen Aares im See sehen wollte, und es genügte auch, um Leute von anderswo herbeizuholen, Künstler und Kulturschaffende, um ein bisschen unter den neupannonischen Burgenländern, welche die Weltoffenheit und die Großzügigkeit der Alpinvölker mit der Ordnungsliebe und dem Pflichtbewusstsein der Balkanbewohner in sich vereinen, zu leben, und es waren darunter Deutsche und Tschechen, Südtiroler und Italiener, Kärntner und Wiener – toll, was sich da alles an gegensätzlichen Paarungen bilden lässt – und manche blieben jahrelang und manche etwas länger und manche wurden heimisch, entweder als Burgenländer oder als Pannonier, und da kann keiner sagen, dass da nichts Positives davon geblieben wäre, nicht nur atmosphärisch oder als kunstgeschichtliche Fußnote, sondern auch ganz konkret auch ganz konkret, sagt Laci und macht eine ausholende Hand- und Armbewegung, da wir doch eben durch den Skulpturengarten des Wander Bertoni in Winden am See schreiten, das ist doch, sagt Laci, wunderschön und stimmig und in die Landschaft passend, ja, nicht nur das, die Landschaft hier scheint geradezu gewartet zu haben auf die Skulpturen des gebürtigen Italieners Bertoni, der, wenn schon nicht direkt auf die Einladung des Landesrates Sinowatz, so doch aufgrund des geistigen Klimas, das Fred Sinowatz, später Unterrichtsminister und Kanzler der Republik, glücklos und unbedankt, aber seine nachhaltigsten Ideen als Kulturlandesrat im Burgenland durchgesetzt habend, damals, Mitte der Neunzehnsechziger, hierzulande geschaffen hatte, ins Burgenland gekommen und ein unverwechselbarer, unaustauschbarer burgenländischer Pannonier geworden ist, jedenfalls beruhe das auf der Erfindung von Pannonien, und was weiter mit dieser Erfindung später sonst noch passiert ist, das konnten natürlich, wie bei ziemlich vielen Erfindungen, die Erfinder nicht ahnen und würden es auch nicht goutieren, so zum Beispiel, dass der Saunabereich eines Wellness-Hotels in Bad Tatzmannsdorf sich »Spannonien« nennt, was natürlich eine wortspielerische Verknüpfung aus »Spa« (für Kurbad) und »Pannonien« sein soll, aber doch jeder weiß, was »spannen« sonst noch in der deutschen Alltagssprache bedeuten kann, und dann noch ausgerechnet der Saunabereich usw., daher man sich auch nicht über Burgenländerwitze wundern müsse etc., aber das nur nebenbei, weil das auch irgendwo einmal niedergeschrieben werden muss, meint Laci, der jetzt, weil wir schon in Winden am See sind und es noch gute zwei Stunden

Die Erfindung von Pannonien

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hell sein wird, einen weiteren Spaziergang vorschlägt, denn zwischen Jois und Winden liegen zwei Hügel zwischen Jois und Winden liegen zwei Hügel, deren offizielle Bezeichnungen »Jungerberg« und »Hackelsberg« lauten, und sie sind nicht hoch, aber, aus Mangel an Konkurrenz, weithin sichtbar, es sind isoliert liegende Erhebungen, in der Tat »Inselberge«, wie der geografische Fachausdruck dafür lautet, jedoch eigentlich gar keine Berge, sondern eher Hügel, heißen aber Berge, und der Hackelsberg wird auch von der Bevölkerung so genannt, der »Jungerberg« heißt im Volksmund jedoch »Daunaberch«, was in die Standardsprache eigentlich mit »Tannenberg« zu übertragen wäre, aber »Daunaberch« – da ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich in einer bestimmten Ära des 20. Jahrhunderts ein aufrechter Volks- und Heimatkundler gefunden hat, der daraus einen »Berg des Donar« und daher den Beweis, dass es sich bei der Gegend um Jois um »urgermanisches« Siedlungsgebiet handeln müsse, ableiten wollte, während in Wahrheit Jois aber verballhorntes Ungarisch ist, denn der Ort wurde von magyarischen Grenzwächtern als »Nyulas« gegründet und »nyul« heißt »Hase« (wobei man aber davon ausgehen kann, dass sich die ungarischen Grenzwächter selber sicher nicht vielleicht als »Hasenfüße« definiert hätten), und der Daunaberch heißt so, nicht weil er von Tannen, aber weil er von Föhren bewachsen ist und die einheimische Bevölkerung es nicht so mit Nadelgehölzen hat, womit zumindest dieses geklärt wäre, denn was die Bezeichnung »Jungerberg« zu bedeuten hätte, weiß man eh nicht, jedenfalls ist sie paradox, denn der Berg ist nämlich beileibe nicht jung, sondern ganz im Gegenteil : nicht nur nicht alpine »Inselberge«, ließ ich mir von einer Geologin erklären, seien Hackels- und Jungerberg, sondern auch »Urberge«, jawohl, Urberge, und älter, viel älter als die ganzen Alpen – was man aber zuerst einmal versuchen muss, sich vor Augen zu führen: Weder gibt es Mönch noch Jungfrau, keinen Wilden Kaiser, keinen Großglockner, ganz zu schweigen von einer Zugspitze, nicht einmal den Montblanc, aber Hackelsberg und Jungerberg Hackelsberg und Jungerberg, zwei nicht sehr hohe Hügel zwischen Jois und Winden, gibt es schon. Das wissen und schon mit weit mehr Ehrfurcht darauf herumspazieren, was ich übrigens nicht nur rezent mit dem Laci, sondern bereits meine ganze Jugendzeit hindurch betrieben habe, nämlich das Herumspazieren auf den beiden kleinen Urbergen zwischen Jois und Winden, und auch mit etwas Ehrfurcht, obwohl ich damals von der Urberghaftigkeit dieser zwei Hügel noch gar nichts wusste, eine Zeit lang verging kaum ein Wochenende, an dem ich nicht wenigstens einen der beiden Hügel bestieg, denn es scheint ja auch in der Tat ein sonderbarer Geist dort oben zu wirken, manifestiert durch die eigenartige Vegetation, ein Gewirre aus Waldigem, Heidegemäßem und Weinwerk, Kuhschellen blühen da im Frühling, und wilde Lilien, die bereits erwähnten Föhren, stolz und hochfahrend auf dem »Gipfel« des Tannen- oder Jungerberges einen dunklen Hain bildend, kontrastieren mit dem dichten Eichengestrüpp – ein »Flaumeichenbuschwald« ist es – am südöstlichen Abhang des

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Hackelsberges, darin wilde Sauen hausen und Natterngezücht, man kann hier einiges sehen, von diesen niedrigen Hügeln aus, je nach Wetterlage und Luftfeuchtigkeit, wendet man sich meist zunächst nach Südosten, dem See zu, dem Neusiedler See, unserer großen pannonischen Sumpflacke (welche Bedeutung der ungarische Name, Fertö tó, ja zum Ausdruck bringt), und dieser See, der die kleinere, zurückhaltendere Schwester – jaja, ich weiß, der See ist männlich zu deklinieren, für mich war der Neusiedler See aber immer weiblich und meine Geliebte – also die zurückhaltendere und begehrenswertere Schwester des Balaton ist, dieser See also, der sich an manchen Tagen uferlos und daher ozeanisch präsentiert von dort oben, mein wunderschöner weiblicher See, mein mädchenhafter Zaubersee, eingebettet ins windwogende Schilfmeer, seine Wasserfläche zartblau reflektierend oft unter dem frischen Himmel des Aprils, bräunlich im heißen August, gelbgolden schimmernd seine Eisfläche unter der kurzstrahligen Wintersonne des Dezembers, grau im fahlen Licht des Februars, verständlicherweise weidet man seine Blicke von diesen beiden urhügeligen Inselbergen im See, jedoch : Nach Westen und Nordwesten gerichtet sieht man »die Alpen«, auf jeden Fall ihre hügeligen Ausläufer namens Leithagebirge, an manchen klaren Tagen auch Schneeberg, Rax und Hochwechsel, nordwärts Blick gefasst, kleinere blaue Erhebungen, die Hundsheimer Berge und damit Österreichs Anteil an den Karpaten, man überblickt jedenfalls ein großes Stück von Pannonien, hier, an seiner nordwestlichen Ecke, Laci staunt, obwohl auch er nicht zum ersten Male hier heroben sich aufhält, und dann macht er mich auf etwas aufmerksam, was man auch hier heroben nur selten, nur bei ganz klarer Luft, und dann nur als Schemen, blau in blau, wahrnehmen kann, wunderbar und überraschend, im Osten, dort, wo sich sonst die Ebene in die Unendlichkeit verliert, ahnt man einen Berg, den Martinsberg, Pannonhálma, den »heiligen Berg« Pannoniens, ein »Inselberg« auch er, halbwegs zwischen Donau und Bakonyerwald gelegen, etwa hundert Kilometer von unserem Standort entfernt, und Laci ist zum ersten Mal für heute ein wenig stumm, dann dreht er sich dann dreht er sich nochmals, langsam, um sich selbst, die Fülle des Horizontes auszuloten suchend und sagt: »Es ist es ja, es ist Pannonien es ist Pannonien!«

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Die Weinberge der Steiermark Es war nicht erst der »Spatial Turn« in den Kulturwissenschaften, der die Aufmerksamkeit auch der Historikerinnen und Historiker auf die Kategorie »Raum« gelenkt hat. Ein unbestimmter, methodisch daher schwer fassbarer Zusammenhang zwischen der geografischen Realität und kulturellen, politischen, ökonomischen und sozialen Erscheinungsformen ist wohl unbestritten. Manche Gegebenheiten machten Großgrundbesitz möglich, andere zwangen zu kleinteiligeren Strukturen. Flüsse, Küsten und Transportwege begünstigten Wanderbewegungen, kulturelle Vielfalt und wirtschaftliche Dynamik, Berge waren Hindernisse. Trockenheit und Wasserreichtum ließen jeweils andere soziale Systeme entstehen. Dass andere landwirtschaftliche Produkte zu anderen Ernährungsgewohnheiten und damit zu kulturellen Differenzen führten, ist ebenso unbestritten. All dies gilt aber auch in kleinräumigeren Einheiten. Die Landschaft der Kindheit prägt, lässt manche Gegenden vertraut, andere fremd erscheinen. Unlängst hatte ich die Gelegenheit, im Salzkammergut diese Prägungen mit einem vertrauten Kollegen, eigentlich einem Vorbild von mir, zu diskutieren. Dieser hat seine Jugend in der Kriegs- und Nachkriegszeit im Norden Deutschlands verlebt. Die flache Landschaft, die Feuchtigkeit, das Kartoffelnsammeln oder besser das Suchen nach den Resten auf den abgeernteten endlosen Feldern, all das hat tiefe Spuren hinterlassen. So ist das Salzkammergut für ihn zwar eine pittoreske, dennoch aber bedrohliche Landschaft, begrenzt durch die Berge, die nicht den Blick freigeben bis zu einem fernen Horizont, wo Himmel und Erde unscharf ineinander übergehen. Er ist gerne hier Gast, spürt aber nach wenigen Tagen das Bedürfnis, wieder wegzufahren und die Weite zu sehen. Auf seine Empfehlung haben meine Frau und ich einmal in seiner vertrauten Welt, auf der Nordseeinsel Amrum, Urlaub gemacht. Da gab es die genau gegenteilige Erfahrung. Wir waren bezaubert von der Weite, vom unendlichen Sand und von der Möglichkeit, überall bequem mit dem Rad fahren zu können, da die höchste Erhebung vielleicht zehn Meter beträgt. Aber nach wenigen Tagen war uns der Blick zu weit, zu wenig strukturiert. Er macht nicht an vertrauten Eckpunkten fest, sondern mäandert unentschlossen in alle Richtungen. Aufgewachsen bin ich im mittleren Lavanttal in Kärnten, in St. Gertraud, wo der Twimberger Graben noch eng ist und nur der Bahn, der Straße und einer Häuserzeile Platz bietet. Erst nach der Papierfabrik Frantschach weitet sich das Tal zu »Pomonas Tempel«, wie es im Kärntner Heimatlied besungen wird. Im engen Tal ist auch der Blick eng, die Sonne scheint auch im Sommer erst spät am Vormittag, um

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Abb. 1: Blick von Grabelsdorf zu den Steiner Alpen

sich sehr bald wieder zu verabschieden. Obwohl das mein erstes Lebensjahrzehnt geprägt hat, entsteht heute aus dieser Landschaft keine Vertrautheit, sondern eher Beklemmung. Der Schritt von dort hinaus war immer Befreiung. So ist mir bis heute als Bezugslandschaft Unterkärnten, wo wir die Sommer auf der Gracarca zwischen Klopeiner See und Turnersee verbrachten, viel näher. Da gab es die Hügel der Endmoränen, die einst die Gletscher in das breite Drautal geschoben haben, und dann, in angemessener Entfernung, also weit genug weg, um nicht bedrohlich zu sein, die »Berge Wand«, eine optisch stabile Begrenzung von »Heimat« (Foto 1). Dazwischen, wie achtlos hingestreut, die Seen : der Klopeiner See, immer schon ein Zielpunkt des Tourismus, der Turnersee, eigentlich Sablatnigsee, der, umgeben von wunderbaren Mooren, schon im Namen den sprachnationalen »Hot Spot« andeutet, oder der Gösselsdorfer See, schon etwas näher am Hochobir, dem prägenden Berg. Der Blick nach Süden, ausgehend vom alten Gräberfeld vor der Gracarca, mit dem Weiler Grabelsdorf zu Füßen, über die Moränenhügel hin zur Petzen und zu Hochobir und Kleinobir, aber dazwischen der Durchblick, den das Tal von Eisenkappel bis zu den Steiner Alpen gewährt, das ist meine Bezugslandschaft, die für mich die Schablone ist, die ich über andere Landschaften lege und von der aus ich Vertrautheit und Exotik messe.

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Abb. 2: Vom Weingut Helmut und Matthias Maitz nach Südosten

Was aber hat all das mit den Steirischen Weinbergen, mit dem Landstrich entlang der Südsteirischen Weinstraße zu tun? Einerseits ist dies die Landschaft, in der mein norddeutscher Kollege und ich uns finden können. Sie ist weit genug für ihn, begrenzt genug für mich. Die Linie am Horizont, die von unserem Standort aus im Süden mit dem Bachern bei Maribor im Osten und durch Sveti Duh im Westen begrenzt wird, die im Nordosten bis zur Goldhaube auf der Koralpe und im Norden bis zum Schöckel reicht, dem der Wildoner Berg in verkleinerter, aber sonst gleicher Formation vorgelagert zu sein scheint, ist weder die unendliche Weite von Schleswig-Holstein noch die Enge des Lavanttals. Uns beiden fremd genug, um Reiz auszuüben, aber dann auch wieder vertraut genug, um das notwendige Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Wenn ich hier sitze, an einem Punkt an der Weinstraße in Ratsch (Foto 2), zu dem es mich nun schon ein Vierteljahrhundert zieht, dann versuche ich oft zu definieren, warum dies hier eine Landschaft ist, zu der ich eine so hohe Affinität habe, und was wohl von der Landschaft sich in den Menschen hier abbildet. Dabei bin ich ja nur auf der anderen Seite der Koralpe aufgewachsen, und irgendwann soll ja der Koralmtunnel diesen Berg durchstoßen. Dennoch : Inzwischen ist mir meine Prägungsgegend des ersten Lebensjahrzehnts fremder als dieses Umfeld hier.

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Abb. 3: Der Grenzweg, links ist Österreich, rechts Slowenien. In der Bildmitte im Hintergrund das Haus von Alfred »Pinky« Wall

Dies mag auch politische Ursachen haben. Fast alle Kärntner, zu denen ich heute ein freundschaftliches Verhältnis habe, haben sich mit Schmerzen vom Herkunftsland abgenabelt. Und oft frage ich mich, wie es Teile meiner Familie dort noch immer aushalten. Ob vielleicht doch im Laufe der Jahrzehnte auch bei ihnen gewisse Anpassungsmechanismen an das Umfeld eingesetzt haben? Östlich und westlich der Soboth, zwei österreichische Landstriche, die an Slowenien grenzen, deren Geschichte große Gemeinsamkeiten aufweist und die doch so voller Unterschiede sind, dass diese Differenzen mobile Menschen immer wieder zu Entscheidungen zwingen – welcher Weg, welche Kulinarik, welche Landschaftsform, welche Kultur, welche Politik steht einem näher ? Und sind diese Bereiche so stark ineinander verwoben, ist das Geflecht so dicht, dass sich die Muster wechselseitig eindrücken und dass es unmöglich ist, Einzelteile zu isolieren und auf die jeweils andere Seite der Soboth zu verpflanzen? Da ist vorerst das optische Bild der Grenze. In den Weinbergen ist manchmal die südsteirische Weinstraße selbst diese Grenze. Wenn ich den Ratscher Rundwanderweg gehe, führt dieser exakt an der Grenzlinie entlang (Foto 3). Die Grenzsteine von 1919 trugen bis vor wenigen Jahren die Einkerbung SHS. Die Republik Slowenien hat alle (zumindest alle, die ich gesehen habe) mit Mörtel übertüncht und RS dar-

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Abb. 4: Die verwischte Grenze mitten im Hang

auf geprägt. Aber bei allem neuen Patriotismus : Das ist heute genau so wenig fest markierte Grenze wie in der Vergangenheit. Man konnte immer mit einem Fuß in Slowenien, mit dem anderen in Österreich stehen. Völlig unbehelligt. Und ein Bürgermeister einer österreichischen Gemeinde renoviert sich ein Häuschen auf der slowenischen Seite der Straße, wohnt also im Ausland. Wenn Alfred »Pinky« Wall einen Kirschkern aus seinem Wohnzimmerfenster spuckt, wächst vielleicht später in Slowenien ein Kirschbaum. Selbst die seltsame Geschichte der Blockade der Weinstraße durch einen slowenischen Eigentümer war eigentlich beiden Seiten unangenehm, gemeinsam wurde nach Lösungen gesucht, die Mauer zu entfernen : »Berlin 1989, Ratsch 2006« steht auf T-Shirts, ironisch mit dem Begriff von Grenzmauern spielend. Man sieht keine Grenze. Schaut man über die Hügel, so kann man nicht erkennen, wo Österreich aufhört und wo Slowenien beginnt (Foto 4). Die Grenze ist nicht markant. Sie verläuft entlang von Grundstücksgrenzen, nicht von geografischen Einschnitten. Geht man durch die Heiligengeistklamm nach Sveti Duh, so ist die Grenze ein sanfter Rücken, die Kirche ist in Slowenien, die Klamm in Österreich. Der Weg hinunter ins Tal führt über Wiesen und Forstwege, die praktisch aber durchwegs die Grenze markieren. Wieder erkennt man dies nur an den Grenzsteinen, die unauffällig die Wegstrecke begleiten.

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Abb. 5: Die Steiner Alpen als Trennmauer und der Einschnitt bei Eisenkappel

Das Überschreiten dieser »grünen Grenze« war nie kompliziert. Selbst in den Jahren des Kalten Krieges, als dies der »Eiserne Vorhang« gewesen ist, war der kleine Grenzverkehr aufrecht. Zum Kirchtag in Sveti Duh kam man von beiden Seiten des Hügels, und zur Weinlese ging man weitgehend unbehindert den Weg nach Norden, gerne gesehen als billige Arbeitskraft. Und in diesem kleinen Grenzverkehr wurden auch Waren getauscht. Bis heute kaufen viele Südsteirer ihre Zigaretten aus Kostengründen jenseits der Grenze. In Kärnten ist die Grenze eine Mauer. Das Kärntnerlied schallt »lauttosend« von »der Berge Wand« zurück. Hier ist die Grenze markant (Foto 5). Wohl kann man der Drau entlang flach nach Slowenien fahren (und die Bahn ins Lavanttal fuhr auch Jahrzehnte über diese Strecke, ehe man das Versprechen aus der Zeit der Volksabstimmung, die Bahnlinie von Bleiburg nach St. Andrä, fertigstellte). Aber sonst muss man die steilen Kurven des Seebergsattels hinauf, um die Barriere zu überwinden. In meiner Jugend war im »Ruf der Heimat« der Tito-Partisan abgebildet, der, dargestellt wie in einer »Stürmer«-Karikatur, begehrlich über die Karawanken blickte und seine Hände nach Unterkärnten ausstreckte. Die Grenze ist in die Landschaft geprägt und in den Köpfen mit »Blut« geschrieben, wie es in der vierten Strophe des Kärntner Heimatliedes heißt. Kein kleiner Grenzverkehr, keine gemeinsamen Wallfahrten

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Abb. 6: Der Blick nach Norden gleicht dem Blick nach Süden

oder Kirchfeste, sondern harte Abgrenzung war (und ist) hier angesagt. Südlich der Karawanken saß (und sitzt) der bedrohliche Feind, der Abwehrkampf findet bis heute in den Köpfen statt. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass die Wirklichkeit schwarz-weiß ist. Nicht alles ist in Unterkärnten so entscheidend dramatischer als in der Südsteiermark. Wechselseitige Vorurteile sind auch an der steirischen Grenze bis heute verbreitet und waren vor zwei Jahrzehnten doch wohl die Regel. Aber allein die Landschaft macht hier einiges erträglicher, mildert ab und schreibt die Differenzen nicht geografischgeologisch fest. Der Weinbau auf beiden Seiten der Grenze schafft eine gemeinsame Kulturlandschaft, während die Karawanken auch die Märkte trennen. Das Jauntal muss sich nach Völkermarkt oder Klagenfurt hin orientieren. Dorthin wird verkauft, von dort kommen die Waren aus der Stadt. Krain und Kärnten sind unterschiedliche Kulturlandschaften, während die Pesnica südlich von Langegg durch eine fast idente Landschaft fließt wie der Gamlitzbach im Norden. Rund um die Weinberge der Südsteiermark ist die Grenze also verborgener, nicht so deutlich sichtbar. Die Festsetzung des Verlaufs nach dem Ersten Weltkrieg war dennoch eine traumatische Erfahrung. Die Teilung des alten Kronlandes musste durch gewachsene Strukturen schneiden, Familien trennen und den Nachbarn zum

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Ausländer machen. Und es mussten Minderheiten entstehen. Für die wenigen Slowenen, die sich nun nördlich der Grenze sahen, war das zwar keine neue Erfahrung (zumindest hatten Familienangehörige den Assimilierungsdruck schon zu spüren bekommen, wenn sie in die Hauptstadt Graz zogen, wo es Arbeitsplätze, aber auch nationalistische Zwänge gab), nun aber sah man sich vollständig marginalisiert, reduziert auf wenige Ansiedlungen und ohne eine Perspektive, innerhalb des Sprachverbandes eine Zukunft für die Kinder zu sehen. Assimilation war die logische Konsequenz, die sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg noch verstärkte. Und die deutschsprechenden Menschen in Slowenien mussten vorerst die Erfahrung machen, plötzlich nicht mehr dominant, sondern Minderheit zu sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die politische Stigmatisierung dazu, Enteignung und Vertreibung, also praktisch die Auslöschung der deutschen Sprache. Es kann also keine Rede von gewachsener Harmonie sein. Da sind Lagererfahrungen, Ermordungen und Verfolgungen in familiäre Gedächtnisse eingeschrieben. Dennoch macht die Kulturlandschaft das Miteinander eher möglich. Die gleichen Landschaftsformen, die gleichen Produkte, die gleichen Hügel mit den Zeilen der Rebstöcke (Foto 6), das macht es leichter als in Kärnten. Die Unterkärntner Erfahrung ist dazu die andere Seite der Geschichte. Hier gab es 1919 im Wesentlichen zwei mögliche natürliche Grenzlinien: die Drau oder die Karawanken. Dazwischen hatte sich die Bevölkerung über lange Zeit gemischt. Ursprünglich dominant slowenisch, hatten sich entlang von Schulen und Verwaltungseinrichtungen deutschsprachige Menschen vermehrt angesiedelt. Deutsch zu sprechen war modisch, deutete in die urbanen Räume und versprach ökonomischen und sozialen Aufstieg. Die deutsche Sprache zu verwenden bedeutete symbolisches Kapital. Grabelsdorf etwa, mein Bezugsweiler, liegt in der Gemeinde St. Kanzian, die innerhalb weniger Jahre den Wechsel von einer zu drei Viertel slowenischsprachigen in eine zu drei Viertel deutschsprachige Gemeinde vollzog. Der Wolfsberger Turnverein eroberte für sich in der Zwischenkriegszeit den Sablatnigsee, baute dort sein Lager auf und klebte das neue Namensetikett über die alte slowenische Bezeichnung. Diese blieb für das unwirtliche Moor, den dunklen Morast, während der deutschsprachige Name »Turnersee« dem klaren, warmen Wasser vorbehalten blieb. Der Abwehrkampf und die Volksabstimmung waren die prägenden Ereignisse für die Interpretation des Verhältnisses zwischen den Sprachgruppen. Obwohl die Volksabstimmung nur mit den Stimmen der Slowenen gewonnen werden konnte, legte sich ein nationaler Mythos über dieses Ereignis und seine Vorgeschichte, der Unterkärnten bis zur Gegenwart prägt. Um Kärnten zu verstehen, braucht man Kenntnis dieser Vorgeschichte. In Grabelsdorf leben etwa zwei Brüder, die inzwischen alte Herren sind, aber noch immer ganz unterschiedliche Geschichten der gemeinsamen Herkunftsfamilie erzählen, gefärbt im jeweiligen nationalen Kontext. Sogar die Schreibweise des Familiennamens

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Abb. 7: Die Danielskapelle und der kleine Friedhof auf der Gracarca bei Grabelsdorf

entwickelt sich auseinander. Nur am Friedhof, oben am Hügel bei der Danielskapelle (Foto 7), zeigt sich, wie dominant hier einst die slowenische Sprache war. Erst auf dem Grabstein fanden im letzten Jahrhundert viele in ihre alte sprachliche Umgebung zurück. Die Sprache geht in den beiden Landschaften ohnedies ihre eigenen Wege. Ist das Ohr mit der Klangfärbung vertraut, kann es in Unterkärnten sowohl regional noch feiner differenzieren als auch im Deutschen das Ausmaß der slowenischen Sprachsozialisation erkennen. Da diese stigmatisiert, wird hier meist heftig dagegen angearbeitet, sie klingt aber immer wieder durch. Und die Sprache der Region ist gewachsen durchmischt. Slowenen Unterkärntens verwenden für neue Produkte, die es erst im 20. Jahrhundert gibt, die deutschsprachigen Bezeichnungen. Da aber die Slowenen Bauern oder billige Arbeitskräfte in der Begegnung mit den deutschsprachigen Menschen waren, haben sie einen Wortschatz mit slowenischen Einsprenkelungen für Waren und Geräte aus diesem Milieu, wie »Kariola« für Scheibtruhe. Und welche der beiden Sprachen auch verwendet wird, sie haben beide die Unterkärntner Weichheit, die Dehnungen, die unklaren Vokale. In der Steiermark ist das anders. Slowenisch ist Fremdsprache. In Sprachinseln mühsam aufrechterhalten, inzwischen als eine wichtige Nachbarsprache auch im Re-

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gelschulunterricht angeboten, hat Slowenisch wenig ins Steirische eingebracht. Für mich (aber vielleicht fehlt es mir hier an der jahrelangen Übung, die ich in Kärnten habe) klingt ein südsteirischer Weinbauer wie andere Steirer, näher zu Graz als zu Pöllau, mit einem kleinen Anklang an das Weststeirische. Slowenische Anteile höre zumindest ich keine heraus, dazu fehlen die Jahrzehnte des Lebens in der gemischten Sprachlandschaft. Die offenere Grenze war als Sprachgrenze eine Barriere, während Unterkärnten zwei Kommunikationssprachen zur Alltagsbewältigung benötigte. Die besondere Stigmatisierung des Slowenischen war in dieser Region Teil des Ringens um Hegemonie. Mit der Sprache verwandt ist das Liedgut. Und hier wird besonders deutlich, dass das sogenannte »Kärntnerlied« tief im Slowenischen wurzelt, seine Besonderheit geradezu aus der sprachlichen Mischsituation bezieht. Wohl nirgendwo sonst in Österreich ist die regionale Musiktradition so ausgeprägt, vom Volkslied bis zu Thomas Koschat. Dessen »Valosn«, das den Vergleich mit dem Stein auf der Straße zieht (wie vor 40 Jahren Bob Dylan im »Rolling Stone«), ist nur aus dem Mischen der Sprachen und der musikalischen Dominanz des Slawischen verstehbar. Überall in Unterkärnten wird gesungen, jedes Dorf hat seinen Chor, kein Fest ohne Chorgesang. Da werden melodisch Traurigkeiten, aber durchaus auch bewegende Liebesgeschichten oder auch Frivolitäten zum Besten gegeben. »Drei Kärntner = ein Gesangsverein«, das ist ein bekannter Spruch, der mich oft in tiefe Verlegenheit stürzte, bringe und brachte ich doch nie wiedererkennbare Töne aus meiner Kehle. Vielleicht hat mich auch das Kärnten entfremdet. Daher ist mir die Südsteiermark musikalisch weniger angstbesetzt. Niemand fordert mich hier auf, mitzusingen. Das regionale Radio bringt den dominant deutschsprachigen Einheitsbrei, während in Kärnten der Chor, meist der Männerchor, seine ausgedehnten Sendeplätze hat. Und das Kärntner Lied ist ein weltliches Lied, hat wenig mit Kirchenfesten oder etwa mit Volksfrömmigkeit, viel mehr mit der Liebe und den damit verbundenen Freuden, aber auch den Enttäuschungen zu tun. Wohl wird dann und wann der Herrgott beschworen, aber eigentlich ohne Religiosität dahinter. Es ist nicht mehr als die Ansprache einer übergeordneten Macht, die auch Schicksal oder Zufall heißen könnte. Die Religiosität scheint mir insgesamt ein ganz wesentliches Merkmal der Unterscheidung zwischen den beiden Regionen zu sein. Unterkärnten hat malerische Bildstöcke, die sich in die Landschaft fügen (Foto 8) und die sich mit den Karawanken im Hintergrund und mit dem Blau der Seen zu Postkartenmotiven verdichten. So schauen Sehnsuchtslandschaften aus. Aber Religion, zumindest in der christlichkatholischen Form, ist in Unterkärnten durch die Nähe zum Slowenentum gekennzeichnet und damit im 20. Jahrhundert wohl stigmatisiert. Gebetet und gepredigt wird slowenisch, die Friedhöfe sprechen, wie schon erwähnt, eine deutliche Sprache der Zuordnung. Deutsch, das war liberal, antikatholisch. Der Pfarrer gegen den Leh-

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Abb. 8: Der östlichste der Grabelsdorfer Bildstöcke, im Hintergrund die Petzen

rer, das war meist die dörfliche Frontlinie, wobei der Lehrer nicht nur den deutschnationalen Schulverein, sondern auch die Bank mit ihrem Kredit, die Kaufhäuser, den Anwalt, den Notar, den Bahnhofsvorstand und den Arzt auf seiner Seite hatte. Hinter dem Pfarrer standen die Bauern, das kleine Handwerk, die Knechte und Mägde, vielleicht auch der Wirt. Religion war (und ist) in einem solchen Umfeld Politik. Je mehr das Slowenische zurückgedrängt wurde, desto weniger Bedeutung kam der Kirche in Unterkärnten zu. Der Fremdenverkehr leistete auch seinen Beitrag. Deutsch war die notwendige Verkehrssprache, und alter Deutschnationalismus ging ein Stück des Weges mit neuer Servilität gegenüber dem deutschen Wirtschaftswunder. Moralische Kategorien mussten so auf der Strecke bleiben. In der Südsteiermark ist Religion hingegen tief verwurzelt und verbindet die Sprachgruppen. Ich sitze im Urbanikeller, und vor meinem Fenster steht eine kleine Kapelle, dem heiligen Antonius geweiht. Sie wurde von meinen Gastgebern errichtet, die ihre Religiosität voll und in Identität leben. Für mich war erhellend, dass eine der Töchter im Frühjahr nahe daran war, sich meiner Gruppe und mir am Fußmarsch nach Mariazell anzuschließen, dann aber doch zu erkennen glaubte, dass für sie Wallfahrt etwas ganz anderes wäre als für mich. Für mich ist es körperliche Ertüchtigung, Entschleunigung und ein Leerwerden im Kopf. Für sie wäre es Singen, Beten, reli-

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giöse Einkehr gewesen, ein Akt des Glaubens und nicht des Sports. Religion ist Teil des südsteirischen Lebens, die kirchlichen Festtage geben den Rhythmus vor, und bei Hochzeiten, Taufen oder anderen familiären Festen dabei zu sein, ermöglicht Einblicke in eine Welt, die tief im Katholizismus wurzelt. Katholisch ist man, ganz unabhängig von der Sprache, und man ist zuallererst Katholik, dann erst slowenisch- oder deutschsprachig. Daher sind hier die Kirchen auch verbindend. Ob St. Urban, ob Sveti Duh, die kleinen Kirchen auf den Hügeln sind Orte der Begegnung und nicht der nationalen Manifestation. Religion kann also beides sein, nationales Distinktionsmerkmal oder Klammer über Sprachgrenzen hinweg. In Kärnten hat dieser Gegensatz eine seltsame Umformung erlebt, als der sogenannte »Tito-Kommunismus«, dem man ja kaum eine Nähe zum Katholizismus unterstellen konnte, die Bedrohungsfolie abgab. Da griffen dann andere Klischees : die Bedrohung aus dem Osten, die slawischen Horden, die Gefährdung des Abendlandes, die kulturelle Überlegenheit des Deutschtums. Und dies machte jede slowenisch-nationale Regung im Land zur bedrohlichen fünften Kolonne. Das verwunderte einen guten Teil der katholisch-slowenischen Bauern der Region, führte aber dazu, praktisch jede slowenisch-nationale Regung im Land in das Lager der Fortsetzung des (kommunistischen) Partisanenkampfes zu stellen, eines Kampfes, der seine Ziele angeblich noch immer mit Landkarten, die eine andere Grenze zeigen und damit die Landeseinheit gefährden, verfolgt. Natürlich gibt es auch in Unterkärnten die Mischung aus deutschsprachig und katholisch, und ebenso selbstverständlich gibt es kirchenferne Slowenen. Hier geht es mir nur um grundlegende Muster, um die Unterschiede der Regionen plastisch zu machen. Kulturkampf ist in Kärnten sowohl religiös als auch sprachnational zu lesen. In der Südsteiermark ist es »nur« ein Sprachenkampf, gemildert durch die gemeinsame Religion. All das sieht ein Besucher nicht wirklich. Von außen kommend taucht man in beiden Regionen in landschaftliche Schönheit ein, lässt sich bezaubern von einem Ambiente, das nördlich der Alpen oder in den größeren Städten unseres Landes als Sehnsuchtsort gilt, und versucht, die Landschaft zu genießen. Zu diesem Genuss gehört natürlich auch das leibliche Wohl, und die jeweilige Landschaft ist von größtem Einfluss auf die Kulinarik. In Unterkärnten hat die kleinbäuerliche Struktur notwendig auf landwirtschaftliche Vielfalt gesetzt. Äpfel gedeihen im nahen Lavanttal besser, aber Pflaumen und andere Obstsorten sind in Fülle vorhanden. Diese werden etwa hochwertig destilliert. Der Wasserreichtum führt zu außerordentlich guter Fischzucht, bei den Fleischangeboten in den Gasthäusern ist der Balkan voll präsent. Auf den Feldern steht Mais (Foto 9), daneben wachsen Sonnenblumen und ein Mix von Getreidesorten. Bier wird (noch) lokal gebraut. Der Gast erlebt also ein abwechslungsreiches Angebot zwischen Forellen und Cevapcici, das Meer ist noch weit hinter der Bergkette, aber der Süden meldet

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Abb. 9: Grabelsdorfer Getreidefelder, durch einen Golfplatz rechts hinten begrenzt

sich kulinarisch. Es gibt die einfache bäuerliche Landküche, vielfach wird diese in den kleinen bäuerlichen Mischbetrieben zum Teil selbst mit den Rohstoffen versorgt. Der Tourismus hat zwar die Massenabfütterung gebracht, aber nur für eine jeweils kurze Sommersaison. Schnaps wird oft noch selbst gebrannt. In Küche und Keller ist Unterkärnten tief slawisch geprägt. Sliwowitz und Grillfleisch, hier schaut die Alltagskultur tatsächlich vom Süden über die Karawanken ins Land. Vieles, was hier den Reiz ausmacht, ist aus dieser Prägung entstanden. Die wenigen Einflüsse aus den anderen Regionen Kärntens (Kärntner Nudeln, Glundner Käse) bilden nur Inseln im Meer der erfreulichen nationalen Kulturmischung im Angebot an Nahrungsmitteln. Dass heute die Globalisierung auch die Region erfasst hat, dass man italienisch oder, zumindest in Völkermarkt, auch chinesisch essen kann, ist nicht weiter verwunderlich, das gibt es inzwischen flächendeckend in allen Regionen. Aber der regionale Anteil an den Angeboten in den Wirtshäusern bleibt bemerkenswert. Die Südsteiermark ist dagegen geprägt vom Wein. Alles dreht sich hier um den Wein, wenn man auch, zumindest in der Umgebung, noch andere landwirtschaftliche Produkte findet. Im Leibnitzer Feld steht der Mais, Hühner- oder Schweinezucht ist ebenfalls ein Erwerbszweig. Aber von meinem Standort aus sehe ich nur Weinberge.

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Langsam lerne ich die Trauben auch am Stock zu unterscheiden und sehe im Jahresablauf eine unterschiedliche Färbung des Laubes je nach Sorte. Die steilen Hügel werden intensiv genutzt. Die Hügel tragen Namen, die sich dann als Bezeichnung der Rieden auf den Weinflaschen finden. Im Regelfall sind die Besitzungen nicht groß. Ein paar Winzer haben gewaltig andere aufgekauft und spielen nun auch mit den Mengen am internationalen Markt mit. Andere bewirtschaften sorgsam die wenigen Hektar Anbaufläche und verkaufen praktisch alles ab Hof (Foto 10). Jedenfalls geht mit dem Wein auch eine ganz bestimmte Kulinarik einher. Das ist vorerst und regional bestimmend die kalte Mahlzeit, die Brettljause. Speck, Grammelfett, Schinken und vieles mehr werden mit Schwarzbrot gereicht und verlangen einen Welschriesling als Begleitung. Dies ist, neben den Kastanien in der Zeit des »Sturms«, also des gerade vergorenen Traubensafts, die Hauptattraktion für den Massentourismus. Wein, selbst wenn er hier ganz dominant weiß ist und daher die Vielfalt der Rotweine nicht bespielt, ist aber ein ausdifferenziertes Konsumgut. Und so entsteht daneben schlüssig die gehobene Küche. Es ist kein Zufall, dass sich so viele Spitzenrestaurants in Weingegenden befinden. Aber selbst der kleine Betrieb mit seinen zwei Gästezimmern und den wenigen Tischen für die Buschenschank geht weit über die kalte Jause hinaus. Sogar diese wird etwa von Dörrpflaumen im Speckmantel begleitet, aber wenn man das Glück hat, warme Speisen serviert zu bekommen, dann weiß man, dass diese mit der Qualität des Weins harmonieren. Und schließlich eine Spätlese mit Süßspeisen kombiniert, dann sind Punkte erreicht, von denen man in anderen Regionen nur träumen kann. Der Wein, der auf den Hängen der südsteirischen Hügel wächst (übrigens viel konzentrierter, geballter, als dies in der Vielfalt der Toskana der Fall ist, weshalb die Bezeichnung »steirische Toskana« doppelt falsch ist : Sie trifft das Erscheinungsbild nicht und deutet auf der anderen Seite auch noch das eigene, unbegründete Unterlegenheitsgefühl an), prägt alles: die Kultur, die Mentalität, den Alltag, die Religiosität. Wer so abhängig ist von äußeren Einflüssen wie etwa dem Wetter, wer alle paar Jahre erleben muss, dass die Arbeit eines ganzen Jahres in wenigen Minuten durch Hagelschlag vernichtet wird, und wer erkennt, dass der eigene Umgang mit der Natur, der eigene Fleiß, die Ernsthaftigkeit im Arbeiten, die Sorgfalt im Keller nicht immer ausreichen, das erhoffte Resultat zu erzielen, der schickt schon mal Gebete zum Himmel. Die Weinberge bringen Gegensätze zum Verwischen, sie sind ein Weichzeichner bei den Trennlinien und Emotionen. Die Weinberge stellen aber auch ein hohes Maß an Übereinstimmung von Landschaft und Menschen her, die man sonst vielleicht noch in alpinen Bereichen findet. In Unterkärnten ist die Konfrontation eingeprägt, Grenzen und Feindbilder klar sichtbar, das Gegeneinander auch an der Landschaft ablesbar. Es sind also auf den beiden Seiten der Soboth unterschiedliche Landschaf-

Die Weinberge der Steiermark

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Abb. 10: Ratsch an der Weinstraße, links vorne das Weingut Zweytick, hinten am Hügel die beiden Weingüter Maitz

ten, die für unterschiedliche Geschichtsbilder, unterschiedliche Mentalitäten und unterschiedliche Kulturen stehen. Man kann beide Gegenden mögen. Man kann an beiden Gegenden gewisse Elemente schätzen und andere verwerfen. Aber man hat doch eine prinzipielle Entscheidung zu treffen, welche der beiden Landschaften dem eigenen Lebensentwurf näher ist. Und da neige ich selbst eher der Strategie der Konfliktvermeidung, des Abmilderns der Gegensätze und des Harmoniebedürfnisses zu, wie ich sie in den Weinbergen sehe.

Bildnachweis Abb. 1, 5, 7, 8, 9: Gudrun Konrad Abb. 2, 3, 4, 6, 10: Alida Mirella Konrad-Hueller

Unbekannter Fotograf, L153 Heimschuh − Arnfels, nächster Ort: Großklein, »Abgesunkene Straßenhälfte«, 12. 7. 1952

Unbekannter Fotograf, L153 Heimschuh − Arnfels, nächster Ort: Großklein, „Abgesunkene Strassenhälfte“, 12.7.1952

Heimo Hofgartner

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«1 Straßen trennen und zerteilen die Landschaft. Klassifiziert als Landverkehrswege, können sie von Fußgängern und verschiedenen Fahrzeugen benutzt werden.2 Angelegt von Menschen, schaffen Straßen Orientierung, strukturieren den Raum, verbinden Dörfer, Orte, Städte, bieten aber auch die Möglichkeit zur Landflucht. Als Elemente der Landschaftszerschneidung bedingen sie »die räumliche Trennung von Landschaftselementen und/oder gewachsenen ökologischen Zusammenhängen in der Fläche«3 und bestimmen so mögliche Erzählungen der Landschaft wesentlich mit. Straßenbenutzern werden neue Perspektiven eröffnet, ihr Horizont – eine Rundfahrt bildet – erweitert. Die Allmächtigkeit des Straßennetzes freilich darf niemals infrage gestellt werden. Der vermeintliche Weg in die Freiheit ist von öffentlicher Hand vorgezeichnet, sich auf Abwege begeben verboten. Ihre Benützung ist geregelt und nicht umsonst. Wer gegen diese Regeln verstößt, wird bestraft. Die Eigentümer von Straßen besitzen Macht. Diese Macht fußt auf Zerstörung und Vertreibung. Der Ursprung des Begriffes findet sich im spätlateinischen »strata« für »gepflasterter Weg, Heerstraße«.4 Ihr Zustand gilt als Gradmesser für Zivilisation und Entwicklung einer Stadt, Region, eines Landstriches. Für ihren Ausbau zeichnen Spezialisten verantwortlich. Straßenbauer, männlich, grobschlächtig, körperlich ausgezehrt, muskulös oder bierbauchbewampt, aber stets braungebrannt. Während Baustellen landläufig als Ärgernis gelten, ist den Straßenbauarbeitern der Respekt der Bevölkerung gewiss. Keine Baustelle ohne Schaulustige. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt wurde in die Instandsetzung, Erhaltung, »Staubfreimachung« und den Neubau von Straßen und Brücken in das damals mehr als 4 000 km lange steirische Bundes- und Landesstraßennetz mehr als eine Milliarde Schilling investiert.5 1947 galt die Behebung der »bedeutendsten Kriegsschäden« auf den steirischen Bundes- und Landesstraßen bereits als abgeschlossen.6 Der Zustand 1 2 3 4

Wladimir Majakowski, Her mit dem schönen Leben, Frankfurt a. M. 1982, 416. Vgl. http://www.calsky.com/lexikon/de/txt/s/st/straa_e.php (zuletzt: 15.7.2010) Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Landschaftszerschneidung (zuletzt: 15.7.2010) Vgl. Duden. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zürich 1989, 717. 5 Vgl. Steirische Bewährung 1945–1955, Graz 1955, 144. 6 Vgl. Die Steiermark. Land, Leute, Leistung, Graz 1956, 432.

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von drei wichtigen Landesstraßen wurde verbessert, 26 Prozent selbiger staubfrei gemacht. Ausgebaut wurden die Wechsel- und Ennstal-Bundesstraße und die Strecke St. Michael–Semmering, mit dem »kostspieligen« Bau der Umfahrung von Kapfenberg begonnen.7 42 exemplarisch ausgewählte dokumentarische Fotografien aus den Beständen der Multimedialen Sammlungen des Universalmuseums Joanneum zeigen Arbeiten an Landes- und Bundesstraßen in der Steiermark in den 1950er-Jahren. Ihre Aneinanderreihung folgt keiner Chronologie. Die Geschichten, die sie erzählen, und die Fragen, die sie bei genauerer Betrachtung aufwerfen, sind vielschichtig und fordern den Historiker auf, sich endlich der Fotografie als wertvoller Quelle anzunähern. Die kulturwissenschaftliche Befragung des Themenkomplexes Land- und Bundesstraßen(aus)bau in der Steiermark der ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte stellt leider immer noch ein kaum bearbeitetes Forschungsgebiet dar. Diese Lücke gälte es zu füllen: »Taten sind die Korrektur der Thesenwelt. Der Erfüller kommt, er kommt, der die Methode wahrmacht – nicht auf dem Papier: im offnen Feld!«8

7 Vgl. Steirische Bewährung 1945–1955, Graz 1955, 144. 8 Wladimir Majakowski, Her mit dem schönen Leben, Frankfurt/Main 1982, 354 f.

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Bauunternehmung Swietelsky, L240, km 3.340, nächster Ort: Sachendorf, »Belagherstellung«, 28. 7. 1952

Bauunternehmung Swietelsky, L240, km 3.340, nächster Ort: Sachendorf, „Belagherstellung“, 28.7.1952

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Foto Macher, L80 u. L92, Bauvorhaben: Ortsdurchfahrt Stefan i. R., »Vor Baubeginn«, 1953

oto

acher, L80 u. L92, Bau orha en: Ortsdurchfahrt Stefan i. ., „ or Bau eginn“, 1953

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

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oto acher, L80, Bau orha en: et elsdorf ngerdorf, nächster Ort: St. Stefan i. ., „ lt estand“, 2Foto .7.1954 Macher, L80, Bauvorhaben: Wetzelsdorf − Ungerdorf, nächster Ort: St. Stefan i. R., »Altbestand«, 26. 7. 1954 oto acher, L80, Bau orha en: 2 .7.1954

et elsdorf

ngerdorf, nächster Ort: St. Stefan i. ., „ lt estand“,

Foto Macher, L80, Bauvorhaben: Wetzelsdorf − Ungerdorf, nächster Ort: St. Stefan i. R., »Absteckung«, 2. 11. 1954

oto acher, L80, Bau orha en: 2.11.1954

et elsdorf

ngerdorf, nächster Ort: St. Stefan i. ., „

steckung“,

oto acher, L80, Bau orha en: 2.11.1954

et elsdorf

ngerdorf, nächster Ort: St. Stefan i. ., „

steckung“,

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Heimo Hofgartner

Unbekannter Fotograf, L245, Aichdorf − Fohnsdorf, »Belagsaufbringung«, 1950 n ekannter otograf, L245, ichdorf

ohnsdorf, „Belagsauf ringung“, 1950

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

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Foto Macher, B54 Wechselbundesstraße, Bauvorhaben: Thalberg − Limbach, »Arbeitsaufnahme«, 25. 6. 1954

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acher, B54

echsel undesstra e, Bau orha en: hal erg

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oto acher, L17 Bau orha en: Lasselsdorf nahme“, 14.5.1954

osenhof, nächster Ort: ro St. lorian, „ r eitsauf

Foto Macher, B54 Wechselbundesstraße, Bauvorhaben: Friedberg – Stögersbach, ohne Titel, undatiert

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acher, B54

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acher, B54

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»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Foto Macher, L80 Graz − Mureck, ohne Titel, undatiert

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acher, L80 ra

ureck, ohne itel, undatiert

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Foto Macher, L80, Bauvorhaben: Sonnenberg, nächster Ort: St. Stefan, »Pflasterung«, undatiert

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acher, L80, Bau orha en: Sonnen erg, nächster Ort: St. Stefan, „

asterung“, undatiert

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Foto Macher, Radlbundesstraße, Bauvorhaben: Lannacherhöhe – Teipl, »Arbeitsaufnahme«, 22. 7. 1953

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acher, adl undesstra e, Bau orha en: Lannacherh he

ei l, „ r eitsaufnahme“, 22.7.1953

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acher, L45 iegers urgerstra e, Bau orha en: orn erg

agner erg, „

asterung“, undatiert

Foto Macher, L45 Riegersburgerstraße, Bauvorhaben: Kornberg − Wagnerberg, »Pflasterung«, undatiert

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agner erg, „

asterung“, undatiert

Foto Macher, B54 Wechselbundesstraße, Bauvorhaben: Teufelsmühle − Kaindorf, »Arbeitsaufnahme«, 17. 8. 1955

oto acher, B54 17.8.1955

echsel undesstra e, Bau orha en: eufelsm hle

aindorf, „ r eitsaufnahme“,

oto acher, B54 17.8.1955

echsel undesstra e, Bau orha en: eufelsm hle

aindorf, „ r eitsaufnahme“,

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Foto Macher, L49, Bauvorhaben: Hatzendorf − Glasberg, »Einbau des Grundschotters«, 28. 9. 1953

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acher, L49, Bau orha en: at endorf

las erg, „ in au des rundschotters“, 28.9.1953

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Foto Macher, Untere-Murtal-Bundesstraße, Bauvorhaben: Pfarrsdorf − Altneudörfl, »Arbeitsaufnahme«, 23. 8. 1954

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acher, ntere

urtal Bundesstra e, Bau orha en: farrsdorf

ltneud r , „ r eitsaufnahme“, 23.8.1954

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

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Foto Macher, L49, Bauvorhaben: Hatzendorf − Glasberg, »Einbau des Grundschotters«, 28. 9. 1953

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acher, B78 O dacher Bundesstra e, Bau orha en:

ei kirchen

enstein, „ leich iehen der O erschicht“, 2.9.1954

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acher, B54

echsel undesstra e, Bau orha en: hal erg

Lim ach, „ orensand

uf ringung“, 25. .1954

Foto Macher, B54 Wechselbundesstraße, Bauvorhaben: Thalberg − Limbach, »Porensand-Aufbringung«, 25. 6. 1954

oto

acher, B54

echsel undesstra e, Bau orha en: hal erg

Lim ach, „ orensand

uf ringung“, 25. .1954

Foto Macher, L65 Graz – St. Marein, Bauvorhaben: Autal − Moggauberg, »Arbeitsaufnahme«, 19. 5. 1954

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acher, L 5 ra

St.

arein, Bau orha en: utal

oggau erg, „ r eitsaufnahme“, 19.5.1954

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acher, L 5 ra

St.

arein, Bau orha en: utal

oggau erg, „ r eitsaufnahme“, 19.5.1954

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Unbekannter Fotograf, L245 Aichdorf − Fohnsdorf, »Belagsaufbringung«, 1950

n ekannter otograf, L245 ichdorf

ohnsdorf, „Belagsauf ringung“, 1950

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oto Baumgartner, amsauer Landesstra e, „ lt estand“, undatiert Foto Baumgartner, Ramsauer Landesstraße, »Altbestand«, undatiert

oto Baumgartner, amsauer Landesstra e, „ lt estand“, undatiert

Foto Baumgartner, Ramsauer Landesstraße, »Nach Fertigstellung«, 1. 10. 1956

oto Baumgartner, amsauer Landesstra e, „ ach ertigstellung“, 1.10.195

oto Baumgartner, amsauer Landesstra e, „ ach ertigstellung“, 1.10.195

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»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Foto Macher, L285 Tragösserstraße, Bauvorhaben: St. Katharein − Oberdorf, »Abbruch der Mauer«, 23. 4. 1954

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acher, L285 rag sserstra e, Bau orha en: St. atharein

O erdorf, „

ruch der

auer“, 23.4.1954

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Heimo Hofgartner

oto acher, B54 18.8.1954

echsel undesstra e, Bau orha en: eufelsm hle

oto acher, B54 18.8.1954

echsel undesstra e, Bau orha en: eufelsm hle

aindorf, „ or Bau eginn“,

Foto Macher, B54 Wechselbundesstraße, Bauvorhaben: Teufelsmühle − Kaindorf, »Vor Baubeginn«, 18. 8. 1954

aindorf, „ or Bau eginn“,

Foto Macher, B54 Wechselbundesstraße, Bauvorhaben: Teufelsmühle − Kaindorf, »Nach Fertigstellung«, 15. 9. 1956

oto acher, B54 15.9.195

echsel undesstra e, Bau orha en: eufelsm hle

aindorf, „ ach ertigstellung“,

oto acher, B54 15.9.195

echsel undesstra e, Bau orha en: eufelsm hle

aindorf, „ ach ertigstellung“,

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Eugen Hauber, ohne Titel, 1950er-Jahre ugen au er, ohne itel, 1950er ahre

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Foto Macher, Triester Bundesstraße, Bauvorhaben: Betonstraße Oberaich, »Arbeitsaufnahme«, 25. 9. 1954

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acher, riester Bundesstra e, Bau orha en: Betonstra e O eraich, „ r eitsaufnahme“, 25.9.1954

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Foto Macher, Triester Bundesstraße, Bauvorhaben: »Mürzhofen«, 30. 6. 1958

oto

acher, riester Bundesstra e, Bau orha en: „

r hofen“, 30. .1958

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Heimo Hofgartner

acher, B54

echsel undesstra e, Bau orha en: irnsdorf, „ or Bau eginn“, 22.7.1954

Foto Macher, B54 Wechselbundesstraße, Bauvorhaben: Hirnsdorf, »Vor Baubeginn«, 22. 7. 1954

oto

acher, B54

echsel undesstra e, Bau orha en: irnsdorf, „ or Bau eginn“, 22.7.1954

Foto Macher, B54 Wechselbundesstraße, Bauvorhaben: Hirnsdorf, »Nach Fertigstellung«, 17. 9. 1956

oto

acher, B54

echsel undesstra e, Bau orha en: irnsdorf, „ ach ertigstellung“, 17.9.195

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acher, B54

echsel undesstra e, Bau orha en: irnsdorf, „ ach ertigstellung“, 17.9.195

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

n ekannter otograf,

aria eller Bundesstra e, „ erlegung des S it gra ens“, 8.7.1953

Unbekannter Fotograf, Mariazeller Bundesstraße, »Verlegung des Spitzgrabens«, 8. 7. 1953

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aria eller Bundesstra e, „ erlegung des S it gra ens“, 8.7.1953

Unbekannter Fotograf, Mariazeller Bundesstraße, »Jakelykurve, fertiger Ausbau«, 20. 10. 1953

n ekannter otograf,

aria eller Bundesstra e, „ akelykur e, fertiger us au“, 20.10.1953

n ekannter otograf,

aria eller Bundesstra e, „ akelykur e, fertiger us au“, 20.10.1953

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Foto Macher, Triester Bundesstraße, Bauvorhaben: Umfahrung Kapfenberg, »Fertigaufnahme«, 8. 10. 1957

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acher, riester Bundesstra e, Bau orha en: mfahrung a fen erg, „ ertigaufnahme“, 8.10.1957

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

oto

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acher, riester Bundesstra e, Bau orha en: mfahrung a fen erg, „ or Bau eginn“, 24.10.1954 Foto Macher, Triester Bundesstraße, Bauvorhaben: Umfahrung Kapfenberg, »Vor Baubeginn«, 24. 10. 1954

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acher, riester Bundesstra e, Bau orha en: mfahrung a fen erg, „ or Bau eginn“, 24.10.1954

Foto Macher, Triester Bundesstraße, Bauvorhaben: Umfahrung Kapfenberg, »Nach Fertigstellung«, 9. 10. 1957

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acher, riester Bundesstra e, Bau orha en: mfahrung a fen erg, „ ach ertigstellung“, 9.10.1957

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Foto Macher, L65, Bauvorhaben: Schemmerl, »Vor Baubeginn«, 25. 6. 1956

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acher, L 5, Bau orha en: Schemmerl, „ or Bau eginn“, 25. .195

»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Foto Macher, L65, Bauvorhaben: Schemmerl, »Fertigstellung«, 23. 10. 1957

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Foto Macher, Triester Bundesstraße, Bauvorhaben: Spital am Semmering, »Vor Baubeginn«, 26. 7. 1956

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Foto Macher, Triester Bundesstraße, Bauvorhaben: Spital am Semmering, »Nach Fertigstellung«, 28. 10. 1957

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acher, riester Bundesstra e, Bau orha en: S ital am Semmering, „ ach ertigstellung“, 28.10.1957

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Foto Macher, Radlbundesstraße, Bauvorhaben: Teipl, »Fertigstellung des Unterbaues«, 1954

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»Und hinterm Dorf war noch ein Loch«

Foto Macher, Radlbundesstraße, Bauvorhaben: Teipl, »Fertigstellung«, 1954

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Foto Baumgartner, ohne Titel, undatiert oto Baumgartner, ohne itel, undatiert

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Dieter A. Binder

Dorfgeschichten »Verfremdung tritt nicht bei der Ankunft in einer fremden Stadt ein, sondern erst bei der ersten Rückkehr nach Hause. Zwischen dem, der sich noch immer wie ein Einheimischer fühlt, und dem Raum, der inzwischen aufgehört hat, ihm Heimat zu sein – das heißt, der Ort, wo er in einer Symbiose mit alltäglichen Dingen und Antworten lebt –, hat sich eine kleine Linse geschoben.« Aleš Šteger, Preußenpark. Berliner Skizzen, Frankfurt a. M. 2009, 85.

Im Rokoko entdeckte die verblühende Aristokratie das Schäferspiel und Johann Gottlieb Herder seine Seele des Volkes. Die Maler von Barbizon richteten ihren Blick auf die »paysage intime«, also auf einfache Motive wie Waldwinkel oder Dörfer und nicht auf die »große Natur«. Die im Biedermeier entworfenen Bilder des Dorfes und der dörflichen Landschaft suggerierten in Massendrucken am Ende des 19. Jahrhunderts den in die Städte Gezogenen die »verlorene Heimat«. Von dort stammen die Symbole – der Bauernhof, die Dorfkirche, Vieh und Landschaft. Das Kaufhaus kam erst später dazu, als es die Fotografie gab und den Sommerfrischlern die ersten Ansichtskarten angeboten wurden. Da geht es der »eingefrorenen« Dorfwelt der Bilder wie dem Tanz : Der Landler macht den Weg in die Stadt mit und zitiert das Dorf im urbanen Umfeld.1 Den Gebirgs- und Trachtenvereinen in den Städten, die bürgerliche Vereinskultur mit dörflichen und bäuerlichen Zitaten schmückten, kam dies bei der Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Ereignisse bis heute zugute. Die Dorfgeschichten werden in der Mitte des 19. Jahrhunderts langsam Bestandteil der zentraleuropäischen Literatur. Vielfach spiegeln sie zunächst die Sicht der Oberschicht, später erst finden sich Autoren, die aus den Dörfern kommen.2 1883 erscheinen Marie von Ebner-Eschenbachs »Dorf- und Schlossgeschichten«, die den Typus der Dorfgeschichte formten. In diesem Zeitraum findet auch Karl Emil Franzos mit seinen Geschichten aus dem jüdischen Dorf, mit seinen »Ghetto-Erzählungen«, sein Publikum. Kálmán Miskszáths griff diese rurale Bilderwelt im ungarischen Realismus auf, der in Böhmen eine Frau, Karolina Sveˇtlá, folgte. Die tschechische Literatur be1 Theophil Antonicek, Biedermeierzeit und Vormärz, in: Rudolf Flotzinger, Gernot Gruber (Hg.), Musikgeschichte Österreichs, Graz/Wien/Köln 1979, Bd. 2, 267. 2 Vgl. Zoran Konstantinović/Fridrun Rinner, Eine Literaturgeschichte Mitteleuropas, Innsbruck 2003.

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Dieter A. Binder

einflusste die Sichtweise des Slowaken Kukucˇín. Dieser Welt begegnet man ebenso im Werk des Slowenen Ivan Cankar. Was allerdings im Realismus begann und sozialkritische Züge trug, wurde – wie die Bildmotive und das musikalische Erbe – aber auch Bestandteil eines Prozesses, der dem Hypernationalismus ebenso zuarbeitete wie dem Tourismus, dem Kitsch und der Weltflucht. (M)ein Dorf ist das Gegenteil von der Stadt ; (m)ein Dorf wird über das Anderssein definiert.3 In der Stadt gab es keine Bauern, im Dorf gab es Bauern. (M)ein Dorf liegt weitab zwischen zwei Bezirkshauptmannschaften, es grenzt an die Bistumsjagd, die die Heilige Hemma von Gurk gestiftet hat, und an die Schwarzenbergjagd. Ein fürstlich Schwarzenbergscher Jäger war sozial ungleich höher einzustufen als ein Bistumsjäger. Wollte man etwas Schönes kaufen, fuhr man nach Salzburg (Stadt). Kulturbeflissene fuhren zu den Sommerfestspielen auf Schloss Porcia. Kärnten als Kulturträger war nur in (m)einem Dorf möglich. Wer etwas von der Landesregierung wollte, fuhr nach Graz, aber das waren der Bürgermeister und der Gutsbesitzer. Heimat, das ist das Dorf, auch in der Stadt. Der »Steireranzug« macht alle gleich. Volksgemeinschaft. Das »Dirndlkleid« bekommt in den 1950er-Jahren ein tiefes Dekolleté, was zwar nicht unbedingt dem Gerambschen Reinheitsgebot entspricht, 4 aber eine Einstiegslücke schafft, auf der der männliche Blick wohlgefällig ruht. Heimat, dies ist das Dorf, gerade noch die »BH«, die Bezirkshauptmannschaft. Mangels Fremde wird die nächste Talschaft zur Fremde erklärt, von wo vielfältige schlechte Manieren kommen. »Seid’s wie die Ennstaler und geht’s mit den Schuhen ins Schlafzimmer«, heißt es in Aussee. Und aus der Sicht der antiklerikalen Obersteirer (in Summe) sind die Oststeirer schmutzig und katholisch, in den Augen der Murauer aber gehören die Brucker, in den Augen der Ausseer die oberen Murtaler schon fast zur Oststeiermark. Heimatkunde war Pflichtfach in der Volksschule – von der Drachenhöhle bei Mixnitz über die Traungauer und Eppensteiner, die Türken, das Gottesplagenbild und die 3 Die in dieser »Dorfgeschichte« angesprochenen Phänomene sind in einem westeuropäischen Kontext zu sehen. Vgl. Geert Mak, Wie Gott verschwand aus Jorwea. Der Untergang des Dorfes in Europa, Berlin 1999. Für die ersten Nachkriegsjahre vgl. Ernst Langthaler, Umbruch im Dorf? Ländliche Lebenswelten von 1945 bis 1950, in: Reinhard Sieder/Heinz Steinert/Emmerich Tálos, Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien 1995, 35–53. Bestätigt sah ich den Versuch, ein imaginäres Dorf zu beschreiben, in der lapidaren Feststellung Langthalers und Sieders: »Kurz, um das Dorf zu untersuchen, musste man es erfinden« (Ernst Langthaler/Reinhard Sieder, Die Dorfgrenzen sind nicht die Grenzen des Dorfes. Positionen, Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Ernst Langthaler, Reinhard Sieder [Hg.], Über die Dörfer. Ländliche Lebenswelten in der Moderne, Wien 2000, 21). Einen guten strukturellen Überblick bietet der Band von Gerhard Stenzel, Das Dorf in Österreich, Wien 1985. Weiters: Werner Troßbach/Clemens Zimmermann, Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart 2006. Von nahezu singulärer Signifikanz ist die Studie von Reinhard Müller, Marienthal. Das Dorf. Die Arbeitslosen. Die Studie, Innsbruck 2008. 4 Viktor von Germab/Konrad Mautner, Steirisches Trachtenbuch, Graz 1932 (Reprint 1988).

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Franzosenkriege zu Erzherzog Johann in der lichten Gegenwart.5 Vom Krieg hörte man wenig: Wenn Großvater hustete, war’s nicht das Rauchen, sondern der Lungendurchschuss aus »dem Krieg« (I.), die Männer im Rollwagen mit mächtigen Hebeln und Fahrradpedalen, die sie aber mit den Händen bewegten, waren aus »dem Krieg« (II.). Dass »wir« beide »Kriege« verloren hatten, verletzte unser Gerechtigkeitsgefühl, wenigstens 1: 1 hätte es stehen müssen. Am Gymnasium wurde es österreichisch. Venus von Willendorf, Hallstattkultur, Noricum, Pannonia, Rhaetia, das Lechfeld, die Babenberger, die Habsburger, Ottokar der Böhme und Friedrich der Streitbare, Privilegien (Minus, Maius, Georgenberger Handfeste), Goldene Bulle, Max I., tu felix Austria nube und Maria Theresia, Wiener Kongress und 1848, Königgrätz, der »Bruderkrieg« blieb nur Schülern intelligenterer Lehrer erspart, Ausgleich, Sarajewo, Wilson, St. Germain. Bei der Zeitgeschichte hörte ich erstmals den Satz »Die Geschichte schreiben die Sieger !«, das kam von einem Mitschüler, der sich sonst nur für Eishockey interessierte. Aber das familiäre Gedächtnis prägt eben mehr als die schulische Erziehung. Er sagt es noch heute. (M)ein Dorf wird durch den Fluss geteilt. Am östlichen Ufer protzt auf einem dem Berg vorgelagerten Hügel die gotische Kirche mit dem wuchtigen Pfarrhof und der ehemaligen Schule. In der Kirchengeschichte lernte ich einmal, dass Kirchen auf einem Hügel in dieser Region ein Hinweis auf eine slawische Gründung sein könnten. Darunter reihen sich um einen rechteckigen Platz, dessen Mitte eine Wiese bildet, drei Wirtshäuser, ein Kaufhaus, ein Kriegerdenkmal und zum überdachten Aufgang zur Kirche hin ein alter Stadel. Jenseits der Wirtshäuser, deutlich abgesetzt, liegt ein altes Schloss, das nicht am Leben des Dorfes teilhat. Die Hauptstraße schneidet vor dem Ortskern über den Fluss, folgt diesem und bietet so dem Oberdorf links und rechts Raum. Vom alten Herrenhaus und dem Kino etwas abgesetzt finden sich hier das Rüsthaus, der Fleischhauer, die Gerberei, zwei Kaufhäuser, zwei Wirtshäuser, die Gendarmerie und die Schmiede. Nach Westen hin wird das Dorf von der Eisenbahn begrenzt. Dahinter die Anwesen der Kleinbauern, der Häusler, das Sägewerk und der Friedhof. Oben an der Waldgrenze eine einsame Hütte, die heute noch den Namen eines Wehrmachtsgenerals trägt. Die größeren Bauern liegen durchwegs auf dem Sonnberg, während die wenigen ebenen Gründe um das Dorf zum Gutsbetrieb gehören oder gehört haben. Tag der Fahne heißt der 26. Oktober, als ob die Staatsvertragsgeneration nicht genug Fahnen gesehen hätte. Ich habe sie alle gebastelt : Rot-Weiß-Rot und GrünWeiß, grün für den Wald, weiß für die schneebedeckten Berge. Bevor ich die Bundeshymne und die Landeshymne lernte, lernte ich 1959 zur Feier des »Tages der Fahne« in der ersten Klasse Volksschule das »Lied vom guten Kameraden«. Dazu marschierten wir mit der Frau Schulrat durch den Turnsaal und sangen von jener Kugel, die 5 Franz Brauner, Heimatkunde Steiermark, Graz 1954.

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einem von uns gelten sollte. Aber nur keine voreiligen Schlüsse : Diese mütterliche Lehrerin, die kinderlos alle ihre Schüler adoptierte, war 1938 bis 1945 von den Nazis gemaßregelt worden und nur sporadisch in ihrem Beruf tätig gewesen. Ihr Bruder war überhaupt aus dem Amt gejagt worden und war nach 1945 als Bezirkshauptmann auch für das Dorf zuständig. Was konnte ich sonst noch für Lieder : »Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt«. Und in der vierten Volksschulklasse, bei einer anderen Lehrkraft, lernten wir, wohl als Vorbereitung aufs Gymnasium, Dialektgedichte aus Kloepfers Werkstatt, die wir mit falschem Schmalz und falscher Betonung aufsagen mussten. Unser Herr Lehrer, ein katholischer Zeugungsstratege und -praktiker, erklärte uns, dass im Dorf Dialekt gesprochen wird und das ist schön, während in der Stadt Jargon gesprochen wird und das ist schlecht. Besonders verwerflich war natürlich das Wienerische. Vor den »Schurln und Plattenbrüdern« hatte ja schon die Volkskunde in den 1920er-Jahren gewarnt.6 (M)ein Dorf hat eine widerständische Tradition, würde Ernst Hanisch vermuten. Denn unter Maria Theresia missionierten Lutherische unter den Dörflern, und die nachgeborenen Söhne und Töchter, die als Gesinde auf den Höfen arbeiteten, gingen fort ins ferne Königreich Ungarn, als ein letztes Mal der Augsburger Religionsfriede strapaziert wurde und sie ihrem neuen Glauben abschwören sollten.7 Die, die auf den kleinen Höfen saßen, wurden wieder katholisch, um fortan mit der Kirche, die im Dorf geblieben war, nichts mehr am Hut zu haben. Unter Josef II. wurde der Christophorus, der von der Bergkirche ins Tal und auf die Straße schaute, übertüncht und in den 1970er-Jahren mit Zustimmung des Bundesdenkmalamtes und der diözesanen Denkmalkommission freigelegt. Beide Ereignisse ließen das Dorf kalt. Dem Kaiser trauerte 1918 niemand nach. Dazu hätte es gar nicht der Kriegswirtschaft während des Ersten Weltkrieges bedurft. Der Mann, der als Unteroffizier in der k. u. k. Armee gedient hatte und sich damals einen Doppeladler auf den linken Unterarm tätowieren hatte lassen, wurde Gendarm und ließ sich auf den rechten Unterarm den neuen, einköpfigen Adler tätowieren. Beides zeigte er mir, als er ein alter Mann war. Seine Frau war froh darüber, denn so blieb ihm keine Stelle für den gestreckten Adler der Nazis, denen er auch gedient hatte. Bösartige Zungen im Dorf behaupteten, dass er diesen ins Herz tätowiert hätte. In der Stadt sah ich einen Mann, der drei Punkte am Finger tätowiert hatte. Später kam ich dahinter, dass Kriminelle damit signalisierten, dass sie nichts sahen, nichts hörten und nichts sagten.

6 Viktor von Geramb, Über die Möglichkeiten der Volkshochschule in Österreich. Vortrag, gehalten am 26. September 1920 auf der Volksbildungstagung zu Braunau am Inn, in: Viktor von Geramb, Von ländlicher Volksbildungsarbeit, Wien 1922, 38 f. 7 Dieter Knall, Aus der Heimat gedrängt. Letzte Zwangsumsiedlungen steirischer Protestanten nach Siebenbürgen unter Maria Theresia, Graz 2002.

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In der Ersten Republik wählte das Dorf den Landbund. Außer der Freiwilligen Feuerwehr und dem Veteranenverein gab es keine identitätsstiftenden Vereine. 8 Erst die illegalen Nazis füllten dieses Defizit auf : Die HJ und der BDM waren vor und nach dem März 1938 die ersten Jugendorganisationen, die greifbar waren und blieben. Erst in den 1950er-Jahren suchten die katholische Kirche (mit wenig Erfolg) und die Sportvereine diese Lücke zu schließen. Unter den »Schwarzen« im »Ständestaat« ging den Bauern förmlich die Luft zum Leben aus; auch meinem Großvater, da er als Schmied für sie arbeitete und den sie nicht zahlen konnten. Anpassungsstrategien gab es keine. Die wenigen Schwarzen blieben schwarz, die wenigen liberalen Landbündler blieben liberal, und der Rest sammelte sich, um für den »Anschluss« gerüstet zu sein. Nur ein Bauer taufte 1934 seinen ersten Sohn auf den Namen Engelbert, dem 1937 ein Kurt folgte ; der dritte hieß Horst, er wurde 1939 geboren. Gab es im Dorf Hakenkreuzschmierereien oder krachten die Böller am 20. April, ging ein Keuschler dafür sitzen, nach dem Juli-Putsch 1934 sogar fast für ein ganzes Jahr. Die Hakenkreuzschmierer und Böllerwerfer, vor allem aber ihre Anführer blieben ungeschoren, denn sie hatten ja den Keuschler als Sitznazi, so wie man früher in den Redaktionsstuben in Zeiten der kaiserlichen Zensur den Sitzredakteur hatte. Indem er saß, verdiente er für seine Familie das wenige Brot, das sie zum Überleben brauchte. Kameradenhilfe. Er lernte im Gefängnis Schachspielen und las Geschichtsbücher. Als alter Mann setzte er mich in wenigen Zügen matt und fragte mich Herrscher-Tabellen zur deutschen Geschichte ab. Nie hörte ich von ihm ein politisches Wort. (M)ein Dorf hatte keine Wegkreuze, es hatte aber auch keine Hitler-Marterln, wie es sie nur wenige Kilometer entfernt im Lungau gegeben haben soll und wo man, statt den Herrgott zu ehren, Hitler sakralisierte. (M)ein Dorf wurde am 10. April 1938 Führergemeinde; die paar Schwarzen und die wenigen Liberalen stimmten offen mit Ja oder legten sich schon Tage davor öffentlichkeitswirksam ins Bett, um nicht für eine Nein-Stimme infrage zu kommen. 1938 traten die Nazis aus der Kirche aus, und 1945 traten sie wieder in die Kirche ein ; beide Ereignisse hatten keinen Einfluss auf den Besuch der Sonntagsmesse. 1938 begann das große Einrücken, in der Regel kamen die jungen Burschen zu den Gebirgsjägern, zu den 138ern und zu den 139ern. Die wenigen, die zur Waffen-SS kamen, umgab noch in den langen 1950er-Jahren ein gewisser Nimbus. Sie sprachen völlig ungeniert von der »S(üßen) S(ache)«, und einer davon hatte auch ein (sein ?) Ritterkreuz als Anhänger für den Autoschlüssel in Verwendung. Einer der Ihren, ihm schnitt 1945 auf der Alm seine damalige Freundin und spätere Frau die Blutgruppentätowierung aus dem Oberarm, wurde Sozialist und in den 1970er-Jahren Bürgermeister des Dorfes. 8 Hans Haas/Ewald Hiebl (Hg.), Politik vor Ort. Sinngebung in ländlichen und kleinstädtischen Lebenswelten, Innsbruck 2007.

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Großvater hatte nichts mit den »Schwarzen«, den »Austrofaschisten«, und nichts mit den Nazis am Hut. Seit seiner Zeit bei der k. u. k. Artillerie in Baden vor dem Ersten Weltkrieg hegte er die tiefe Überzeugung, dass alles, was Uniform trägt, arbeitsscheu wäre. Als man ihn nötigte, an einer Kreisversammlung der Handwerksmeister teilzunehmen, erschien er akkurat gekleidet mit aufgezwirbeltem Schnurrbart, nahm in der ersten Reihe Platz, immerhin war er einer der Dienstältesten, bestellte sich in rascher Reihenfolge abwechselnd ein Bier und ein Stamperl Schnaps, um dann, als das Reden begann, selig zu schlafen. Als man seine Gesellen und seine Söhne zum Militär holte, verging ihm der Schlaf, er wurde bitter. Als sein ältester Sohn, der ihm in der Schmiede nachfolgen sollte, wenige Stunden nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 fiel, versteinerte er. Wenige Wochen später kam sein jüngster Sohn auf die Welt, und Großmutter sollte das Mutterkreuz bekommen. Der Ortsfrauenführerin, die damit ans Wochenbett treten wollte, verwehrte er den Zugang zum Haus. Eine kleine Widerstandsgruppe, die die Ablöse der Naziverwaltung erfolgreich regelte, verhinderte im Mai 1945 unter dem späteren Landesrat Karl Brunner, dass die Sowjets den letzten Teil des Murtals besetzten. Brunner organisierte mit einigen britischen Kriegsgefangenen eine Straßensperre und hisste den Union Jack. Die voranstürmende sowjetische Vorhut meldete, dass hier bereits die Briten von Kärnten aus vorgerückt wären, während hinter dieser Straßensperre Wehrmachts- und SS-Einheiten in den Lungau flüchteten, um sich den amerikanischen Truppen zu ergeben, und ein Mann aus (m)einem Dorf einige französische Kriegsgefangene erschoss, weil er dazu den Befehl bekam. Dafür wurde er letztlich zu lebenslangem Kerker verurteilt, und da er ein kleines Licht war, saß er seine Strafe ab. Erst zum Sterben wurde er entlassen. Derweilen sorgte das Dorf dafür, dass seine Frau durch kleine Aufträge sich und ihre Kinder ernähren konnte. Rosenkranz, der 1938 ins Dorf gekommen war und einen Barackenbau aus dem Boden stampfte, verschwand aus dem Dorf. Sein Name blieb mit der Werkshalle verbunden, die langsam vor sich hin moderte und immer nur kurzfristig mit neuem Leben erfüllt wurde. Er kehrte nie mehr zurück, während einer seiner Söhne als nationaler Zeugungsstratege und Gestalter von Sonnwendfeuern Jahre später öffentliches Aufsehen erregte. Im Dorf heiratete eine Russin, die als Zwangsarbeiterin verschleppt worden war, einen der Dörfler. Ein Leben lang erdrückten sie die Berge, denen man im Dorf nicht entkommen konnte. Überlebt zu haben, war die Legitimation für eine demokratische Gesinnung. Vorindustrielles Schuften das Eintrittsbillett in eine strahlende Zukunft. Die, die als Soldaten Nazideutschlands sinnlos ihr Leben ließen, um ihre Jugend betrogen wurden, als Krüppel heimkehrten, mutierten zu Verteidigern der Heimat. Statt Hakenkreuzen setzte man den Toten christliche Kreuze und theologisierte ihr Leid. Heimkehrer war der, der den grauen Rock trug, das Ehrenkleid des Soldaten. Das Braun der Partei war absolut aus der Mode und wurde mit den Hitlerbildern verbrannt. Derjenige, der heimkehrte, weil er vertrieben wurde, der um sein Leben laufen musste, war kein

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Heimkehrer, der blieb Emigrant. Die, die vertrieben wurden, weil sie als Deutsche in ihrer Heimat nicht mehr geduldet wurden, wurden rasch integriert. Diejenigen, die die Nazis aus ihrer Heimat gerissen hatten, um sie zu versklaven, und die den Lagern entkommen waren, blieben fast immer »displaced persons«. »Die ländliche Gemeinschaftsideologie erscheint dem modernen urbanen Kosmopoliten freilich instinktiv als fremd und rückständig. Aber gilt das Prinzip der ›Gemeinschaft als Lebensstil‹, das die Vision einer ›organischen Moderne‹ zu realisieren versucht, nicht in Wahrheit auch in weiten Lebensbereichen der modernen städtischen Zivilisation? In allen Bereichen des Arbeitslebens spielt das ›vormoderne‹ Kriterium personaler Bindung und gemeinschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühls eine mindestens ebenso große Rolle wie die fachliche Qualifikation.«9 Im Winter 1945/46 fanden die ersten Tanzveranstaltungen nach dem Kriegsende statt. Veranstalter waren die Heimkehrer, die im Dezember nach den Wahlen 1945 das Kathreinkränzchen und am Faschingsmontag den Heimkehrerball im ältesten der fünf Gasthäuser der tausend Seelen zählenden Gemeinde ausrichteten.10 Zu dieser Zeit war die Zahl der Vermissten noch ebenso lang wie die Zahl der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft festgehaltenen Männer des Dorfes. Noch in den 1950er-Jahren wurden im regionalen Rundfunk endlose Listen von Vermissten verlesen, um deren Schicksal durch Augenzeugenberichte zu klären. Unmittelbar vor den Weihnachtsfeiertagen war jene Frau, die nach Hitlers Selbstmord in Trauerkleidung durchs Dorf gestürmt war, wieder in die Kirche eingetreten. Bei der Fronleichnamsprozession 1946, die Sammelbüchse des Winterhilfswerks war bereits grün-weiß gestrichen, und nur die am unteren Rand befindliche Prägung »Gau Steiermark« erinnerte noch an die tausendjährige Vergangenheit, repräsentierte diese Frau, die nur noch einige böse Schandmäuler des Dorfes »Hitlers Witwe« nannten, das aktive Segment der Katholischen Aktion dieser Pfarre. Eine echte Bekehrung. In den Dörfern begann das große Einsperren 1945. Diesmal begnügte man sich nicht mehr mit dem Sitznazi. Diesmal wurden auch die Drahtzieher und die Lemuren eingesperrt. Auch jener Nachbar, der den Großvater immer wieder beim »Feindsenderhören« ertappen wollte und der den Großvater zusammen mit dessen Vetter auf jene Liste brachte, auf der die Menschen des Dorfes versammelt waren, die die Nazis im Abtreten noch aufhängen wollten, wurde in Wolfsberg interniert, weil er ein Illegaler gewesen war. Die 1945 in manchen Dörfern aufgetauchten Namenslisten verschwanden. Wohl wusste man um jene, die diese Listen geschrieben hatten, doch sie waren ja nicht mehr zur Ausführung gelangt. Normalität war angesagt. Nazis sind Mörder. Das muss zurückgewiesen werden, denn die Denunzianten handelten zum 9 Richard Herzinger, Die Tyrannei des Gemeinsinns. Ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft, Berlin 1997, 72. 10 Gerhard Fritsch, Fasching. Roman, Reinbek 1967.

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Wohl der Volksgemeinschaft, und ein Volk, das im Krieg steht, hat eben eigene Gesetze. Die, die damals denunzierten, verhörten, folterten, einsperrten, hinrichteten und zu Tode quälten, handelten alle unter Befehlsnotstand. Etliche, die es zu arg getrieben hatten und gleich nach Ende der Naziherrschaft erwischt wurden, hatte man ohnehin vor Gericht gestellt und sogar teilweise hingerichtet. Schlussstrich. Den ersten Trompetenton, an den ich mich erinnern kann, spielte Severin auf einer Fähnleinstrompete der HJ. Wie die 1957 zu uns in die Sandkiste kam, weiß ich nicht. Aber im Dorf wurde nichts weggeschmissen, bevor die große Aufräumwut begann. Ein Mann, er verlor im Zuge der Entnazifizierung seine Stelle als Gendarm, wurde später der Kirchenbeitragsbeamte des Dekanats. Einer, der ins Dorf eingeheiratet, in der »Untersteiermark« nach 1941 Karriere gemacht und sich nun auf einer Alm versteckt hatte, wurde von den Engländern, als sie tatsächlich in das Dorf kamen, verhaftet und an Jugoslawien ausgeliefert, wo er gehängt wurde. Sein Vetter von der Gestapo arbeitete als Schilehrer in der Nähe des Dorfes. Diejenigen, die nicht in Wolfsberg saßen, wurden von der österreichischen Polizei eingesperrt. Ab 1948 kehrten sie heim ins Dorf, und im schweren Herrenhaus des Gutsbetriebs wurden Gelder für die Gründung des VdU aufgestellt.11 Mit den Kriegsgefangenen kamen langsam auch jene Männer ins Dorf zurück, die von den Briten in Wolfsberg interniert worden waren. Einige rühmten sich, als echte Steirer Träger der zwei »Ws« zu sein, in Wöllersdorf (Trutzdorf) unter den »Austrofaschisten« und eben in Wolfsberg interniert gewesen zu sein, weil sie allemal idealistische Nazis gewesen wären. 12 Die meisten waren Idealisten, die missbraucht worden waren und schrecklich dafür gebüßt hatten. Manchmal fiel das Wort Sühneleistung im Zusammenhang mit schlagbarem Holz, gelegentlich entstand bei mir der Eindruck, dass der davon betroffene Mensch seinen edlen Forst in ein Karstgebiet hatte verwandeln müssen. Wir Nachgeborenen lebten nun unter Idealisten und hatten so unsere Vorstellungen vom »Idealismus«, noch bevor wir in der Schule diesen durchnahmen. Wir lachten über den »Herrn Karl«, bis uns das Lachen verging, als wir zwischen den Zeilen zu lesen begannen. Und jeder hatte eine Erklärung: die Weltwirtschaftskrise, weil Arbeitslosigkeit zum Nationalsozialismus führt, den »Austrofaschismus«, weil eine »halbstarke Diktatur« nur durch etwas ganz Starkes beseitigt werden kann, den November 1918, weil zu jedem Untergang gehört eine anständige Götterdämmerung, das Anschlussverbot 1919, weil gleiches Blut zu gleichem Blut gehört, auch wenn man die »Piefkes« nicht mag ; weil die Zeit eben aufs Totale gerichtet war, weil die Kommunisten die 11 Lothar Höbelt, Von der vierten Partei zur dritten Kraft. Die Geschichte des VdU, Graz/Stuttgart 1999. 12 In Wetzelsdorf und in Wöllersdorf befanden sich Anhaltelager des »Ständestaates«, in denen Nationalsozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten interniert worden waren. Vgl. Gerhard Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, in: Ludwig Jedlicka/Rudolf Neck (Hg.), Vom Justizpalast zum Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927–1938, Wien 1975, 128–151.

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Revolution wollten, weil die Demokratie die Sitten verdarb … Nur aus Bequemlichkeit, Opportunismus, Gewinnsucht, aus Feigheit oder um der Karriere wegen hatte es niemand getan. Einer dieser Rückkehrer, dem zwar die Lager des »autoritären Ständestaates« erspart geblieben waren, der aber dafür in Wolfsberg sein Elitegefühl bestätigt bekommen hatte, wurde bei den Wahlen 1949 Bürgermeister, da die ÖVP mandatsstärkste Partei im Ort geworden war.13 Aber schon in den 1950er-Jahren wurde das Dorf rot : Mit einer Ausnahme waren jedoch alle Bürgermeister dieser Jahrgänge in ihrer Jugend Nationalsozialisten. In der Landwirtschaft fanden immer weniger Männer als Bauern ihr Auskommen, sie wurden Pendler.14 Über das Verschwinden einer einst staatstragenden Schicht täuschte der Ausbau der Standesvertretungen und der Genossenschaften lange hinweg.15 Unter der Woche wurde das Dorf leer, die Älteren, die Frauen und die kleinen Kinder blieben im Dorf. Sobald sie älter wurden, gingen sie weg. Von den fünf Kindern der Großeltern, die den Krieg überlebten, blieb eines im Dorf. Von den elf Enkelkindern kehrte eines ins Dorf zurück. Von meinen Spielgefährten lebt keiner mehr im Dorf. Vielleicht kehren sie als Pensionisten zurück, einige Anzeichen gibt es dafür. In der Dorfchronik lese ich, dass seit 1951 die Einwohnerzahl rückläufig ist. Bälle veranstalteten nun nicht mehr die Heimkehrer, die Veteranen des Zweiten Weltkrieges, die zum »Österreichischen Kameradschaftsbund« mutierten, sondern die Pfarre, die Eisschützen und die Feuerwehr. Letztere lud zunehmend im Sommer zum Tanz, um die allmählich eintreffenden Touristen zu beglücken. Zusammen mit der Blaskapelle, einem mit Federweiß geglätteten Tanzboden im Gastgarten des ersten modernisierten Gasthofes und dem Vortrag von Heimatliedern des Dreigesangs der Schönen aus dem Kirchenchor wurde man zur sicheren Stütze des Fremdenverkehrsvereins. Auf den Prospekten der späten Fünfzigerjahre blühten sie, ohne zu altern, und wurden bis in die frühen Siebzigerjahre immer wieder neu figuriert. Die Tracht kam mit dem Fremdenverkehr. Nie sah ich die Großmutter im Dirndlkleid, den Großvater im Steireranzug. Erst als er sich nicht mehr wehren konnte, steckten ihn seine Töchter in einen solchen. Der Reingewinn der ersten Heimkehrerbälle floss in die Kameradenhilfe, 16 Mitte der Fünfzigerjahre in den Bau des Kriegerdenkmals am Dorfplatz und nicht die 13 Zu den Wahlen s. Herbert Dachs (Hg.), Parteien und Wahlen in Österreichs Bundesländern 1945–1991, Wien/München 1992; zur spezifischen Situation der ÖVP s. Dieter A. Binder, Steirische oder Österreichische Volkspartei, in : Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger (Hg.), Volkspartei – Anspruch und Realität. Zur Geschichte der ÖVP seit 1945, Wien/Köln/ Weimar 1995, 559–599. 14 Werner Baumann/Peter Moser, Bauern im Industriestaat, Zürich 1999. 15 Urs Hafner, Der Bauer, das unbekannte Wesen, in: NZZ vom 22. Mai 2008, 29. Dagegen schreibt Ernst Langthaler an: Totgesagte leben länger, in: NZZ vom 22. Mai 2008, 31. 16 Othmar Pickl/Johann Windhaber, Friede in Freiheit. Der österreichische Kameradschaftsbund – Entwicklung, Ziele und Zukunft. Dokumentation der Ortsverbände, Graz 1989.

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Kirche.17 Unter »Unseren Toten« standen auch der Name meines Onkels und sein Dienstgrad. Großvater ging immer auf der anderen Seite des Platzes ins Wirtshaus zum Stammtisch. Er brauchte kein öffentliches Gedenken für seinen Sohn. Dem heroisierenden Kriegerdenkmal standen im privaten Erinnern die Fotos der gefallenen Söhne, Männer, Brüder, Väter und die Kerzen in den Fenstern zur Weihnachtszeit gegenüber. Das Wirtshaus, damals eines von fünf, mit seiner niedrigen Decke aus dem 18. Jahrhundert hatte einen olfaktorischen Sonderstatus für ein Stadtkind, wie ich eines war: Der kalt gewordene Mief des Vortages wurde langsam durch frischen Pfeifenqualm, Landderby in Rohrpfeifen auf Brusthöhe, und den süßlichen Duft der Zigaretten aufgewärmt und mischte sich mit dem beizenden Geruch von vergossenem Schnaps, dem trübseligen Mief des Bierhansels auf dem Schankblech, auf dem auch die mit Bierschaum verklebten Messinghülsen fürs Stacheln des kalten Bries lagen. Schnaps wurde in der Steiermark in Stamperln, in Buderln und in Kärnten als Frakele getrunken. Ein Wirtshaus in der Obersteiermark: Der Stammtisch wurde durch die gelegentliche Anwesenheit eines Putschisten der 1930er-Jahre »geadelt«. Der Ton vollmundig und auf Formen bedacht : »Du, Herr Medizinalrat !«, »Du, Herr Bürgermeister !«, »Du, Herr Ökonomierat!« Der Kaffee nach dem Essen oder der Schnaps wurde mit den Karten, doppeldeutsches Blatt, ausgespielt. Nach zehn Uhr abends siegte die Sangesfreude ; und die, die ihr Leben an der Mur verbrachten, hielten im Chor die »Wacht am Rhein«. Vom Krieg blieb die Kameradschaft, das Gesellige. Voll Rührung gedachte man der sinnlos Gefallenen und verteidigte die Heimat erneut auf vertraut gewordenen Landstrichen in Narvik, bei Kiew, vor Leningrad, in Afrika und in Griechenland auch dann, wenn man als Sanitäter in einem Wehrmachtspuff gewesen war. Gesprächstherapie für Männer, die so ihre seelischen Wunden aus dem Krieg zu heilen suchten. Der Oberleutnant war ein Oberleutnant und blieb ein Oberleutnant. Nur die Fahnenoffiziere beim Kameradschaftsbund waren zumeist Obergefreite und Feldwebel gewesen. Überwachend regierte die legendäre Wirtin über den Stammtisch : Als der Name von Alfons Gorbach, dem Bundeskanzler, fiel, wurde wenig wohlwollend eine knappe Charakteristik mitgeliefert: »Ein typischer CVler!« Das ist nicht allgemein verständlich. Auf eine Nachfrage hin erklärte die weltoffene Wirtin: »Der ist so schwarz, dass eine kilometerlange Russwolke im Tal steht, wenn der einen fahren lässt !«18 Gelegentlich wurden Kinder ausgesandt, die Väter aus dem Wirtshaus zu holen. Seltener 17 Vgl. Stefan Riesenfellner/Heidemarie Uhl, Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur in Graz und in der Steiermark vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 1994, 111 ff., 235. 18 Zum Selbstverständnis des CV in Österreich s. Gerhart Hartmann, Für Gott und Vaterland. Geschichte und Wirken des CV in Österreich, Kevelaer 2006.

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rückten die Ehefrauen aus, um den nicht mehr gehfähigen Haushaltsvorstand im Leiterwagen nach Hause zu ziehen. (M)ein Dorf ist die Landschaft meiner Kindersommer. Wenn der Zug um den letzten Berg herum war, schaute ich zuerst nach Westen, wo ein großer Holzschlag hoch über dem Friedhof eine tiefe Furche in den Berg gezogen hatte. Kehre ich ins Dorf für wenige Stunden zurück, suche ich seit vielen Jahren den Schlag vergebens. Längst ist er zugewachsen, neue Kahlschläge sind entstanden, und ich erkenne (m)ein Dorf nicht mehr. Wo früher Getreide angebaut wurde, ist heute Heuwirtschaft. Von den fünf Wirtshäusern meiner Kindheit sind drei nicht mehr; dafür gibt es jetzt ein Café. Von den drei Kaufhäusern gibt es nur noch eins, die Drogerie ist längst zur Ruine geworden. Eines der Kaufhäuser hatte auch die Konzession für die Trafik, weil der Mann im Haus im Krieg ein Bein verloren hatte. Da gab es die Zigaretten, im Stück und in Schachteln, die »2er«, die »C«, die »Flirt«, eingedeutscht und gesprochen, wie man sie schrieb, die »Smart«. Frauen hatten eine Tendenz zu »Falk« und »Nil«, Exzentriker und Angeber griffen zu »Khedive«, »Ägyptische III. Sorte« oder gar zu »Simon Arzt«. Die schokoladebraune Schachtel mit den »Belvedere« ging schlecht. Als die filterlosen Zigaretten allmählich aus dem Verkehr gezogen wurden, wurde »Hobby« gekauft. In der Trafik gab’s auch die Hefte, vor denen die Lehrer warnten und deren Benutzung streng geregelt war ; den Burschen billigte man die sehr deutschen Rittercomics »Falk« und »Sigurd«, das sehr deutsche Bastelmagazin »Hobby« und die ewig siegreichen und auf »Kameradschaft« abgestimmten »Landser«-Hefte zu. Der »Western« galt als halbstark, während die endlosen Karl-May-Bände nahezu als »Knigge« anempfohlen wurden. Heimat-, Arzt- und Kriminalroman waren den Erwachsenen vorbehalten. Menschen, die auf Bildung Wert legten, bezogen aus der Buchgemeinschaft die Bände fürs Schauregal: »Kampf um Rom«, »Vom Winde verweht«, Perkonig, Waggerl, »Der Arzt von Stalingrad«. Als der ehemalige ReichsgauStudentenführer eine Gesamtausgabe des Werks von Hans Kloepfer verlegte, kamen auch diese Bände zu besonders Engagierten und ins Regal. Ich habe das Lesen, das schrankenlose Lesen in der Stadtbücherei später als Befreiung empfunden. Das Kino verrottet endgültig. In der Frächterei werden schon lange keine Reifenprofile mit Stanleymesser nachgeschnitten, damit bei Verkehrskontrollen formal alles in Ordnung ist. Von der Schmiede des Großvaters steht nur noch der gemauerte Kamin, an dem die Esse hing. Das Holzgestänge, in dem die Ochsen zum Beschlagen eingespannt wurden, verschwand als Erstes. Das schöne Renaissanceschloss am Dorfrand, das einst einem alten Baron gehörte, als der Großvater im Dorf seine Schmiede in den 1920er-Jahren aufmachte, wechselte mehrmals den Besitzer. Als ich in einer kleinen Bibliothek in der Bezirksstadt die Erinnerungen Conrad von Hötzendorfs in die Hand nahm, holte mich der Baron ein.19 Das Buch stammte aus seinem Nachlass, 19 Conrad von Hötzendorf, Franz, Aus meiner Dienstzeit, 1906–1918, 5 Bde., Wien 1922–1925.

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war von ihm vielfach mit Tintenstift unterstrichen und gelegentlich auch glossiert. Gleichsam resümierend fand sich auf der letzten Seite der knappe Vermerk : »Conrad war ein Arschloch !« und daneben die Paraphe des Barons und sein militärischer Dienstgrad: Feldmarschallleutnant. Das Ortsbild änderte sich, die Volksschule wurde neugebaut und schließlich um den Trakt für die Hauptschule ergänzt. Im Erzherzog-Johann-Jahr 1959 fand der Spatenstich für die Erzherzog-Johann-Siedlung statt, den ersten kommunalen Wohnbau der Gemeinde, die nunmehr einen sozialistischen Bürgermeister hatte. Männer machen Geschichte. Er sorgte auch für den Bau eines Gemeindekühlhauses, wo die Dorfbewohner Kühlfächer mieten konnten. Als alle schon einen Kühlschrank und eine Tiefkühltruhe im Haus hatten, sperrte man es wieder zu. Der Bach, der auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses vom Berg herunterrann, wurde verbaut, das heißt, sein Lauf wurde eingegrenzt, mit Stainzerplatten bewährte Geländestufen beschleunigten seinen Lauf hin zum Fluss, um dann bei starkem Regen derartig in den Flusslauf zu schießen, dass dieser das viele Wasser nicht mehr bewältigen konnte. Der Schwemmkegel, auf dem das alte Haus stand, wurde Überschwemmungsgebiet. Die Großeltern zogen aus dem alten Haus weg in die neue Siedlung. Mir fehlte der Geruch des alten Holzhauses mit den Burschenzimmern aus der Zeit, als Großvaters Schmiede noch Gesellen und Lehrlinge hatte. Die forsch vorangetriebene Wildbachverbauung ließ mehrmals die Mur völlig überraschend aus den Ufern treten, die alte Brücke wurde zerstört und durch die von eiligst herbeigeholten Pionieren des Bundesheeres errichtete Behelfsbrücke ersetzt.20 Neun Monate danach gab es eine charakteristische Zacke in der Ortsstatistik der ledigen Geburten. Max, der einige Heuschober und Stadeln anzündete, bevor sie ihn erwischten, weil er am Heimweg keinen Misthaufen fand und so der Fährtenhund der Gendarmerie nicht die Spur verlieren konnte, war ein lustiger Kerl. Sie brachten ihn zum Psychiater. Sigmund Freud hielt Einzug auf den Stammtischen des Dorfes. Moritz, der gelegentlich ein »Kracherl« stahl, galt als Asozialer, nicht weil man ihn dabei erwischte, sondern weil seine Eltern Außenseiter waren. Mit beiden habe ich die schönsten Sommer zwischen den Geleisen der Nebenbahn verbracht, deren seltene Züge für uns Indianer Angriffsziel und Traum vom Wilden Westen waren. Als Kind musste man im Dorf jeden grüßen. Auch die widerliche Frau, die ständig denunzierte. Es bestand Grußpflicht. Grußverweigerung war ein Vergehen. Und immer schön brav hierarchisch geordnet grüßen. Frau Lehrerin, Herr Inspektor, Herr Doktor. Frauen gebührte der Titel des Mannes. Frau Doktor, Frau Postenkommandant. Die Respektspersonen türmten sich kilometerweit über das vierte Gebot 20 Der Katastropheneinsatz des Bundesheeres etwa bei Hochwasser diente auch in heeresnahen Publikationen stets zur Popularisierung der Truppe insgesamt. Vgl. Herbert V. Patera, Unter Österreichs Fahnen. EIN Buch vom österreichischen Soldaten, Graz/Wien/Köln 1960, hier 356 f.

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des Dekalogs auf : Vater und Mutter, Großvater und Großmutter, Onkel und Tante, Gendarm, Lehrer und Lehrerin. Jeder Erwachsene, vor dessen Namen ein Herr oder eine Frau gesetzt wurde, war zu grüßen. In Parenthese: Der Herr Tripold hatte eine Firma, die Huberin war seine Angestellte. Nur bei einem im Dorf war dies nicht klar : Trug er die rote Kappe und fertigte die Schmalspurbahn ab, war er der Herr Bahnhofsvorstand, stellte er eigenhändig die Weichen zum Verschub der Güterwaggons, die das Holz abtransportierten, war er der Pichler. Da gab es noch die, die in göttlicher Sphäre schwebten : Der Landeshauptmann ! Der Bundespräsident ! Der Bezirkshauptmann ! Die hatten dafür keinen Namen mehr. Um sich selbst Gewicht zu verleihen, protzten die Kinder mit den Dienstgraden der Väter im Kriege : Meiner war Leutnant, meiner viel mehr, Obergefreiter, etc. Das kondensierte im Witz, denn als der kleine Fritz von seinem Vater bestätigt haben wollte, dass dieser der »Dritte König von Nazareth« gewesen wäre, bekam er mangels gehörigen Zuhörens eine Ohrfeige und erfuhr nun nahezu amtlich, dass sein Erzeuger der »Tripperkönig vom Lazarett« gewesen wäre. Das Bildungswerk der Kirche, das nach dem Krieg weltanschauliche Vorträge angeboten hatte, entdeckte zunehmend die Brauchtumspflege. Da konnte man auch mit der Landjugend kooperieren. Die Leitung des Bildungswerkes übernahm erstmals eine Frau, eine Lehrerin. Sie war 1945 ins Dorf gekommen, weil einer der Lehrer als »Ehemaliger« nicht unterrichten durfte. Sie selbst hatte als echtes Dorfkind als Vierzehnjährige auf einem Auswahllager des BDM so hervorragend abgeschnitten, dass sie ein Stipendium bekam und die Lehrerbildungsanstalt besuchen durfte. Bei Kriegsende war sie mit der Ausbildung fertig und kein Parteimitglied, sodass sie im Herbst 1945 unterrichten durfte. Die Modernisierung erfasste nicht nur die Landwirtschaft, dem unabhängigen Kaufmann machte die erste Handelskette Konkurrenz. Beim »Konsum« kauften weiter nur die Arbeiterfamilien ein. Als Elvis Presleys »Green, Green Grass of Home« bei der Jugend populär wurde, trugen die jungen Frauen den Petticoat und zeigten Bein. Die präpubertierende männliche Jugend begann systematisch zwischen O-, XBeinen und Stampfern zu unterscheiden. Mich bewegten eher die X-Beine, während Max auf O-Beine »stand«, da er ihnen eine höhere Paarungsbereitschaft unterstellte. Die kleinen Mädchen trainierten mit dem Hula-Hoop-Reifen, der scheppernd auf den Boden fiel, wenn sie das Kreisen der Hüften abrupt einstellten. Das Kino, in dem die Schönen aus dem Dreigesang am Wochenende die Karten abrissen, spielte neben dem »Förster aus dem Silberwald«21 immer noch Produkte des alten deutschen Films 21 Der Film hieß im Original »Echo der Berge«, für den deutschen Verleih bekam er den Titel »Der Förster vom Silberwald«. Der Film, in und um Frohnleiten auf den Besitzungen des Landes- und Bundesjägermeisters Franz Freiherr Mayr von Melnhof gedreht, wurde zum Neustart des Genres »Heimatfilm«. »Hinter dem explizit propagierten Naturschutz-Gedanken« stand Mayr-Melnhof – »und in ihm perso-

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wie »Reitet für Deutschland«.22 Als die Aufklärungswelle mit Oswald Kolle23 auch hier angekommen war, schloss das Kino endgültig. Das Fernsehen hatte seinen Einzug gehalten, und die immer geringer werdende Schar der Dorfjugend motorisierte sich : Moped und schließlich Auto. Mit dem Motorrad, Puch 125, fuhren eher die Alten, die ins Holz mussten. Die Musikkapelle wurde neu eingekleidet, zu den Lederhosen kamen einheitliche Stutzen und Röcke.24 Marketenderinnen trugen weiterhin Dirndlkleid und Schnapsfässchen, die Mädchen, die nun auch ein Instrument spielen durften, waren wie die Männer gekleidet. In der Zeit änderten sich auch die Kleidungsgewohnheiten. Die Konfektionskleidung ließ den Unterschied zwischen Stadt und Land verschwinden. Ob Blue Jeans in der Schule akzeptiert werden konnten, war zunächst eine offene Frage. Beim Minirock war man sich sicher. Um im Zweifelsfall die Rocklänge im züchtigen Bereich zu definieren, mussten gelegentlich Schülerinnen noch knien. Berührte der Saum den Boden, war alles in Ordnung. An Mädchen in Hosen gewöhnte man sich schneller, da deren Vorteil im Winter evident war. Vereinzelt äußerte man Bedenken gegen moderne Strumpfhosen, da sie den Mädchen zu große Bewegungsfreiheit ließen. Bildungsbeflissen und neugierig nahm man das Angebot des örtlichen Kulturvereins wahr und fuhr auf ein Wochenende nach Venedig. Noch Monate später wurde die Länge der Spaghetti diskutiert und über den übermächtigen Durst einiger Dorfgrößen. Der VW-Käfer beherrschte die Straße, Mercedes fuhren nur der Gutsbesitzer, wenn er nach Graz zu einer Sitzung musste, und die Frau des Arztes, wenn sie den Friseur in der Bezirksstadt aufsuchte. Beim Autofahren trugen Männer einen Hut. nifiziert die Idee der Heimatpflege auf den Grundlagen von Kapitalkraft und titularischer Repräsentation einer unter Goldstaub begrabenen politischen Ordnung ; als Unterstützer dieser Idee wiederum trat ein Ministerium auf, dem als Subventionsgeber der Verkauf des Films als umwegrentables Österreich-Bild vorschwebte« (Robert Buchschwenter, Ruf der Berge – Echo des Fremdenverkehr. Der Heimatfilm: Ein österreichischer Konjunkturritt, in: Ruth Beckermann/Christa Blümlinger (Hg.), Ohne Untertitel. Fragmente einer Geschichte des österreichischen Kinos, Wien 1996, 253). Echo der Berge (auch: Der Förster vom Silberwald): Regie: Alfons Stummer, Buch: Friedrich Schreyvogel, Alfons Stummer, Alfred Solm, Kamera: Walter Tuch, Sepp Ketterer, Walter Heinzl, Hans Gessl, Darsteller: Rudolf Lenz, Anita Gutwell, Albert Rueprecht, Produktion: Rondo-Film Wien. Elisabeth Büttner/Christian Dewald, Anschluß an Morgen. Eine Geschichte des österreichischen Films von 1945 bis zur Gegenwart, Salzburg 1997, 447. 22 Der 1941 als eine scheinbar individuelle Fassung des Schlagwortes »Triumph des Willens« gedrehte NSPropagandafilm, in dem Willy Birgel einen deutschen Herrenreiter mimt, der den im Weltkrieg I verursachten Rollstuhl überwindet, um in Genf bei einem Turnier die deutsche Reiterehre zu retten, wurde 1952 in der BRD neu gestartet. In dieser Fassung waren besonders tendenziöse Dialogstellen und antisemitische Szenen geschnitten. Büttner, Dewald 284 f. 23 Oswald Kolles Aufklärungsfilme »Deine Frau – das unbekannte Wesen« (1967), »Dein Mann – das unbekannte Wesen« (1967), »Das Wunder der Liebe« (1968) ebneten den Weg für eine direktere Darstellung der Sexualität in Filmen, die öffentlich zugänglich waren. 24 Varianten der Trachtenmode wurden dabei zur bodenständigen Tracht erklärt.

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Regelmäßig im Herbst hielt der Schuldirektor einen Lichtbildervortrag über seine sommerlichen Reisen. Landtagswahlkämpfe brachten Besuche des Landeshauptmannes: Zunächst fuhren Lautsprecher durch den Ort, dann spielte eine Blaskapelle, Josef I. Krainer fuhr vor, schmiss im Wirtshaus eine Runde, redete auch den sozialistischen Bürgermeister mit Du und Vornamen an und eilte weiter. Für Ansprachen war der Ort zu klein und wählte außerdem bei Landtagswahlen konstant eine schwarze Mehrheit. In der Bezirksstadt wurde eine Mittelschule etabliert, und als 1970 der erste Maturajahrgang verabschiedet wurde, gab es auch hier die erste Diskothek. Ein abgewirtschaftetes Gasthaus bekam bunte Lampen und eine Stereoanlage. Das Kalenderblatt der Grazer Wechselseitigen Versicherung, auf dem immer ein Bild Erzherzog Johanns zu sehen war, verschwand langsam aus den Bauernhäusern, während es bei den Häuselbauern nicht mehr populär wurde. Die Ära Kreisky brachte nicht nur den letzten abseitig gelegenen Höfen den Strom oder das seit Jahren beantragte Telefon, sie brachte auch den Aufklärungsunterricht in der Volksschule. Um die Eltern nicht zu überfordern, musste die jüngste Lehrerin bei einem Elternabend den geplanten Inhalt erörtern. Man empörte sich über diesen Eingriff in die Familienangelegenheiten, immerhin hatte die Promiskuität im Dorfe auch ohne Aufklärung bisher funktioniert. Das Dorf hatte, solange es eine konstante Einwohnerschaft hatte, ein langes sexuelles Gedächtnis. Voller Inbrunst wurde in den 1960er-Jahren noch der Ausruf des alten Barons, eines Junggesellen, kolportiert, der statt eines Mannes eine Frau den Betrieb verwalten ließ: »Frau Verwalterin, so komm sie doch schnell, mir steht er.« In lustvollem Gedenken wurde der unbeliebte, längst pensionierte Postenkommandant der Gendarmerie immer wieder aufs Neue gehörnt, indem man die Geschichte vom ausgehängten Bettlaken erzählte, das dem Liebhaber seiner Frau signalisiert hatte, wann der Ehemann zu einer längeren Patrouille aufgebrochen war. Voller Inbrunst hörten wir die Erzählungen über das schneidige Auftreten des gefallenen Onkels aus dem Mund längst emeritierter BDM-Mädchen. Exakt wurden die Seitensprünge des Gemeindesekretärs nachgezeichnet, dem man ähnlich wie Erzherzog Johann als politisch omnipotentem Mann besonders virile Kraft nachsagte. Die Modernisierung des Sozialgefüges hinterließ in diesen Erzählkreisen ihre Spuren : Den Postfräuleins, den Junglehrerinnen, den Studentinnen auf Semesterferien, den Kellnerinnen, also allen jungen, alleinstehenden Frauen sagte man nymphomanische Züge nach, während junge Ehefrauen älterer Männer als koitiv-karitative Fälle definiert wurden. Die Pille war verpönt, die Frauen ließen sie sich in der Bezirksstadt verschreiben. Die ledigen Geburten gingen wie die ehelichen weiter zurück. Erst als das Mutterschaftsgeld für alleinerziehende Mütter erhöht wurde, stieg die Zahl der ledigen Geburten wieder an, während die der ehelichen weiter sank. Taufen von ehelichen Kindern waren festlicher als von ledigen: Die dekorative Schürzenschleife (Dirndlkleid!) auf dem mächtigen Hintern der Kindsmutter bei der Taufe erinnert mich noch heute an die Prämierungsschleifen englischer Viehzüchter. Schutz

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vor diesen Erzählungen gab es keinen, außer beide Partner waren so gerissen, dass niemand etwas merkte. Aber dies war nicht jedermanns Sache, schon gar nicht jene des umtriebigen Funktionärs der Musikkapelle, der jedes Mal, ehe er auf die Jagdhütte zu einem Schäferstündchen fuhr, noch rasch im Gasthaus eine Flasche Sekt und zwei Gläser kaufte. Homosexualität wurde ge- und verleugnet und kam nur dann ans Licht, wenn einer, der zu Hause Frau und Kind hatte, unter der Brücke in den Armen eines Betrunkenen starb. Weibliche Homosexualität war, so die landläufige Meinung, durch einen rasanten Geschlechtsverkehr mit den anerkannten Größen des Ortes zu heilen. Als ein junger Bursch eine ältere Frau vergewaltigte und sie dies öffentlichmachte, erhängte er sich, da in diesem Falle das Sozialgefälle gegen ihn sprach. Doktorspiele hießen bei den Kleinen »ins Heu gehen«. Schweinische Witze waren das Eintrittsbillett der pubertierenden Knaben ins Erwachsenenmilieu. Kleine Mädchen mussten draußen bleiben. Der Sittenverfall wurde eifrig in den Illustrierten angeschaut und bestaunt. Die ersten Scheidungen machten die Runde, sie wurden als Anschlag auf die traditionelle Ordnung verstanden. Über blau verfärbte Augenpartien von Frauen schaute man hinweg und brachte seine Ablehnung ehelicher Gewalt nur hinter vorgehaltener Hand zum Ausdruck. In solchen Fällen mied man in der Regel Opfer und Täter. Man war ja sehr sensibel. Die Freizeitgesellschaft brachte im Weichbild des Dorfes die Jausenstation. Als sie sichtlich angenommen wurde, investierte der Betreiber in einen entsprechenden Neubau, der fast so schön war wie die neue Fassade der Raiffeisenbank. Während das Gemeindekühlhaus ein Opfer der privaten Kühltruhen wurde und zur Sauna umgebaut werden musste, bekamen die Häuslbauer den Hang zu großen Fenstern, die es bis dahin nur im Bungalow des Tierarztes gegeben hatte. Eine Aufräumwut erfasste die Bevölkerung; alles, was nicht »modern« war, kam auf die Müllhalde. Damit brach man mit der Tradition, auch im verbrauchtesten Gegenstand noch einen möglichen Nutzen zu sehen und ihn deshalb aufzuheben.25 Altes blieb, um zu behübschen. Das Spinnrad, mit »bäuerlichem« Blumenmuster bemalt, überlebte im Vorraum. Altes Arbeitsgerät wurde zum Zierrat auf den Hauswänden. Holzfaserplatten erleichterten den Innenausund Umbau, an die Stelle der alten Trambäume traten Balkenattrappen aus Eichenfurnieren.26 Das Dorf nahm erstmals am Blumenschmuckwettbewerb teil, vor dem Rüsthaus wurden Linden gesetzt, und der Pfarrer verlangte plötzlich, am Friedhof nur mehr schmiedeeiserne Kreuze aufzustellen, um den alpinen Charakter der Gegend zu wahren. Das Sägewerk wurde zugesperrt, das Holz kam zu einem Großgatter siebzig Kilometer entfernt. Dafür eröffnete in einer schmucklosen Halle, in der während der Kriegs- und Nachkriegszeit Baracken gebaut worden waren, ein Wiener eine kleine 25 So entsorgte man auch Relikte des Krieges : Aus Stahlhelmen, denen man einen langen Stiel verpasste, wurden Schöpfkellen für die Jauchen- oder Kalkgrube. 26 Peter O. Chotjewitz, Neuland – Leben in der Provinz, in: Provinz. Kursbuch 39 (1975), Mak, 157.

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Textilfabrik. Etliche Frauen fanden hier Arbeit als Näherinnen von Trachtenblusen à la 1970. Als das Werk 1979 in den Konkurs schlitterte, waren erstmals Frauen im Dorf arbeitslos. Von beiden Ereignissen berichtete die Regionalzeitung. Eine Großbaustelle wenige Kilometer entfernt brachte neues Leben ins Dorf: Ein Bordell am Dorfrand, Nachnutzung eines Einfamilienhauses aus den 1960er-Jahren, wurde eröffnet. Man intervenierte beim Bezirkshauptmann und, als der nicht helfen konnte, bei der Landesregierung gegen die erteilte Konzession. Die Neugierigen des Ortes wagten aber nicht, dort vorzufahren. Man begab sich auf eine »fact/fuck finding mission« über die Baustelle hinaus zum korrespondierenden Unternehmen im übernächsten Dorf. An die Stelle der Bastelkurse, die im Bildungswerk die weltanschaulichen Vorträge abgelöst hatten, traten Ikebana und Vollwertkost. Als eines der Gasthäuser versteigert wurde, erwarb der langhaarige Sohn des Gutsbesitzers die alte Jukebox, was ihn endgültig als Aussteiger kenntlich machte. Während der erste Bürgermeister ohne braune Vergangenheit gewählt wurde, rüsteten die Stammtische zur Waldheim-Debatte,27 der letzte Kaufmann erlag dem Hofer-Supermarkt in der Bezirksstadt, und achtzig Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung arbeiteten auswärts. Vor wenigen Jahren wurde das Postamt zugesperrt. Nur bei Begräbnissen zeigt sich das Dorf noch in seiner vollen Größe, denn das Sterben im Dorf ist ein öffentlicher Akt. Sobald der Pfarrer zum Versehgang aufbricht, läutet die Glocke, die wie die Sirene bei einem Brand das Dorf verständigt. Wenn das Beten im Sterbehaus beginnt, werden auch die Parten ausgetragen, um zum Begräbnis zu laden. Da spielt die Musikkapelle das »Lied vom guten Kameraden«, wenn ein Weltkriegsteilnehmer oder ein Bundesheerreservist verstorben ist. Beim Tod des Landtagsabgeordneten a. D. und Ökonomierates erklang wie beim Altbürgermeister die Landeshymne. Der Chor sang das »Gebet in der Schlacht«, den Choral »Näher mein Gott zu Dir«, und der Pfarrer kam aus einem anderen Ort. Männerbegräbnisse waren und sind prächtiger als Frauenbegräbnisse. Nach dem Friedhof gehen die Musik und der Kameradschaftsbund ins älteste Gasthaus des Ortes. Der Gesangsverein in jenes, wo auch der Probenraum ist, und die Angehörigen ins »schönste«, wo man immer noch Schnitzel Hawaii und Coup Denmark bekommt. Während der Trauermesse saßen und sitzen die Männer im Wirtshaus oder im Café und warteten auf den Trauerzug.

27 Zu den wesentlichen Merkmalen der meisten Ortschroniken zählt eine weitestgehende Ignoranz gegenüber den Ereignissen vor und nach 1938. Vgl. Walter Stipperger, Schladming nach dem Bauernkrieg. Handwerk – Gewerbe – Wirtschaft, in: Günter Cerwinka/Walter Stipperger (Hg.), Schladming. Geschichte und Gegenwart, Schladming 1996, 71; in dieser Ortschronik ist etwa die Aufteilung des Bereiches »Katholische Kirche« so gestaltet, dass die Zeit 1938–1945 unter den Tisch fällt, während einzig in der Darstellung der »Evangelischen Kirche« diese Zeit deutlicher angesprochen wird.

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Im Pfarrhof und in den Substandardfremdenzimmern eines der Gasthäuser wurden Flüchtlingsfamilien aus Osteuropa untergebracht. Viele der Dörfler nutzten deren Anwesenheit, um kostengünstig Renovierungsarbeiten durchführen zu lassen. Gleichzeitig schimpfte man mit Haider über die Ausländer. Der VW hatte mit dem Mazda eine scharfe Konkurrenz bekommen. Die Fahrten zu den Landesausstellungen organisierten die Pensionistenverbände und für die Schüler der Bezirksschulrat über Anregung des Landesschulrates. Als die Tankstelle schloss, weil der Verkehr durch die Autobahn am Dorf vorbeigeschleust wurde, erklärte man, nur dann der EU beitreten zu wollen, wenn man sicher ein Ziel-1-Fördergebiet würde. Man stimmte trotzdem mit knapp sechzig Prozent für den Beitritt und reagierte seinen Frust bei den anderen Wahlen ab. Mangels anderer Einnahmequellen und Investitionen erklärte man den Ort zum »Erholungsdorf«, erhielt ein von Heinrich Purkarthofer28 entworfenes wunderschönes Gemeindewappen und löste für die Achthundert-Jahr-Feier das vorsorglich angelegte Sparbuch auf, um eine Ortschronik aus der Feder des beamteten Lohnschreibers zu erhalten. Dieser kompilierte in gewohnter Manier im Computer gespeicherte Stehblöcke zur allgemeinen Geschichte mit ewig sich wiederholenden Flüchtigkeitsfehlern und fügte dazwischen die Ereignisse aus dem Dorf in chronologischer Reihenfolge beginnend mit den Römern, dem Salz- oder/und Erzabbau ein. Die »schwierigen Jahre« zwischen 1930 und 1950 werden neutral erzählt ; dankbar wird ein Großfeuer aufgegriffen und die Länge der verlegten Wasserschläuche beim Einsatz der Feuerwehr glutvoll geschildert. Der dynamische Bürgermeister verkündet, um der stärker werdenden Opposition etwas entgegensetzen zu können, das nächste Ziel – die Erhebung des Dorfes zum Markt, schon um sicherzustellen, dass der Gendarmerieposten, der im neuen Gemeindehaus seinen Platz gefunden hat, nicht zugesperrt werde. Der Bürgermeister erhält bereits mit fünfzig das goldene Ehrenzeichen des Landes Steiermark durch Josef II. Krainer überreicht, als dieser zum Abschluss des Achthundert-Jahr-Jubiläums den Ort besucht. Im selben Jahr heiratet das junge Postfräulein einen Polen, der vor wenigen Jahren noch als Flüchtling im Ort gelebt hat. Die Geschichte dieses hypothetischen Dorfes bekäme noch andere Akzente, siedelte man es in der Nähe der Industrieregion der Mur- und Mürzfurche an. Das Dorf wäre um eine Betriebssiedlung zu erweitern. Am Sonntagnachmittag wäre die Klangwolke des Steirischen Wunschkonzertes in den langen Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren etwas dichter, mit Kofferradios erreichte sie auch die Schrebergärten. Die Trachtenkapelle bekäme Konkurrenz durch die Werkskapelle, bei feierlichen Anlässen

28 Oberarchivrat Professor Dr. Heinrich J. Purkarthofer, Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, war zuständig für die Entwürfe der von der steirischen Landesregierung verliehenen Gemeindewappen.

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wäre neben dem Steireranzug auch eine Minderheit in Knappenuniform zu sehen.29 Ein Arbeiterfischerverein hätte eine Anschlagtafel. Im Dunstkreis der Landeshauptstadt bekäme dieses Dorf Wochenendhäuser, in den Siebzigerjahren verstärkt schmucke Einfamilienhäuser, die von Stadtflüchtlingen bewohnt würden. Diese neuen Dörfler, die untertags in der Stadt waren, hätten dann auch entschieden das abgekommene religiöse Brauchtum im Jahrlauf erneuert, auch wenn viele von ihnen nicht mehr in die Kirche gingen. Sogar eine kleine Siedlung mit Eigentumswohnungen wäre denkbar geworden. Ab einer gewissen Höhe des Dorfes und bei leidlich sicherer Schneelage in den Sechzigerjahren wäre ein Schlepplift gebaut worden, den jener Politiker feierlich eröffnet hätte, der sonst bei den Angelobungen der Jungmänner des Bundesheeres gerne daran erinnerte, dass auch er den grauen Rock durch sieben Jahre getragen hatte. Im Süden des Landes, dort, wo Wein angebaut wird, der lange Zeit wegen seiner Säurespitze gefürchtet war, wäre »deutsche« Grenzlandarbeit von der »Südmark« betrieben worden, der Altersdurchschnitt der männlichen Bevölkerung markant niedriger gewesen. Die auffallende Armut des Dorfes wäre in den späten Sechziger- und den Siebzigerjahren verschwunden, jährlich eine Winzerkönigin gewählt und Vergleiche mit der Toskana wären angestellt worden. Schlösser oder Klosteranlagen im Dorf hätten Landesausstellungen 30 anziehen können. Damit wären öffentliche Gelder in die Infrastruktur geflossen, Dachlandschaften oder Fassaden saniert und mehrere Monate überall im Lande auf Plakaten der Name des Dorfes genannt worden. Die Ausstellung hätte sich garantiert mit etwas Steirischem beschäftigt: dem Wald, dem Eisen- und Bergbau, den Produkten der Landwirtschaft oder gar mit dem Erzherzog Johann. Gleichgültig, wo das Dorf liegt, zu welchem Typ es gehört, spätestens seit den späten 1950er-Jahren steht dort ein genossenschaftliches »Lagerhaus« mit Zapfsäule.

29 Zur regionalen Differenzierung s. Alfred Ableitinger, Agrarisches Grenzland ? Industrieller Friedhof ? Kulturelle Avantgarde? Die Steiermark seit 1945: Eine Nach- und Vorfrage, in: Rudolf G. Ardelt/Christian Gerbel (Hg.), Österreichischer Zeitgeschichtetag 1995. Österreich – 50 Jahre Zweite Republik, Innsbruck/Wien 1996, 60–66. 30 Eva Isolde Löschnigg, Steirische Landesausstellungen zwischen 1978 und 1995. Geisteswissenschaftliche Dissertation, Graz 1999.

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Urbane Spielwiese und multifunktionale Stadtlandschaft Eine praxisorientierte Lektüre des Denkmals für die ermordeten Juden Europas

1. Einleitende Bemerkungen Im Zentrum der nun folgenden Ausführungen steht das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Zum Zweck einer Positionierung beginne ich mit der Bestimmung zweier möglicher Fragestellungen, die ich nicht bzw. nur implizit behandeln werde : Mir wird es erstens nicht um Fragen des kulturellen Gedächtnisses1 gehen, darum, inwieweit materielle Statements wie Denkmäler innerhalb einer Denkmallandschaft miteinander in Kommunikation treten. Es wird nicht explizit von lieux de memoire 2 (P. Nora) oder Mnemotopen, von sog. »topographischen Texten« (J. Assmann) des kulturellen Gedächtnisses die Rede sein. Das soll nun nicht bedeuten, dass ich der Erinnerungsfunktion nicht gewahr bin, sondern nur, dass ich mich auf Aspekte konzentrieren werde, die mithilfe der Kategorie »Gedächtnis« weniger greifbar sind als mit einer verstärkten Ausrichtung auf aktuelle raumtheoretische Fragestellungen. Zweitens werde ich nicht versuchen, eine Ordnung in die Diskurse rund um das Denkmal zu bringen – dies wurde bereits an anderer Stelle zur Genüge geleistet.3 Vielmehr wird es mir um die Analyse eines »ganz normalen Ortes«4 gehen, der zweifellos alles andere als ganz normal ist. Es ist sogar noch komplizierter, denn klar 1 Vgl. zum Begriff des »Mnemotops« und zu den »topographischen Texten« des kulturellen Gedächtnisses stv. den Klassiker: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 20024, v. a. 59. 2 Vgl. das monumentale Werk in dt. Übersetzung: Pierre Nora (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005. Über Gedächtnistheorien und zur Frage, wie Denkmäler miteinander kommunizieren, vgl. außerdem Moritz Csáky/Klaus Zeyringer (Hg.), Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder, Innsbruck 2002. 3 Zur Vertiefung siehe Claus Leggewie/Erik Meyer, Ein Ort, an den man gerne geht. Das HolocaustMahnmal und die Deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München 2005 ; die Streitschrift von Hans Ernst Mittig, Gegen das Holocaustdenkmal der Berliner Republik, Berlin 2005 sowie die Dissertation von Holger Thünemann, Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur. Zentrale Holocaust-Denkmäler in der Kontroverse. Ein deutsch-österreichischer Vergleich, Idstein 2005. 4 Ich beziehe mich hier auf zahlreiche Online-Artikel, die in kritischer Auseinandersetzung mit den alltäglichen Praktiken, in die das Denkmal involviert ist, unter Anführungszeichen von einem »ganz normalen Ort«, von einem »Ort wie keinem andereren« sprechen. Mechthild Küpper, Ein Ort wie kein anderer, in : Frankfurter Allgemeine, FAZ.net, http ://fazarchiv.faz.net/webcgi ?WID=22353-3730098-90709_1

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ist nicht einmal, ob es sich um einen Ort, um eine Skulptur an einem Ort oder um ein wie auch immer geartetes, unbestimmbares Objekt handelt. Substituiert man das Adjektiv »normal« durch »alltäglich«, lässt sich meine Intention bereits erahnen: Ziel dieses Aufsatzes ist es, eine an dem Begriff der Praxis orientierte Lektüre des Mahnmals als Ort der alltäglichen Benutzungen zu versuchen. Mein Motiv, diesen Aufsatz in dem Band Die Erzählung der Landschaft zu schreiben, ist in erster Linie ein persönliches : Seit ich vor ungefähr drei Jahren5 auf einer Exkursion in Berlin war, hat mich das Holocaust-Denkmal nicht wieder losgelassen. Vor allem waren es die körperliche Erfahrung, das Spiel mit der Wahrnehmung beim Parcours durch das Stelenfeld sowie die lachenden Kinder und die scharfe Kontrastierung durch den unterirdischen Ort der Information6 – die Ausstellung, die Einzelschicksale von Opfern des NS-Regimes beleuchtet –, die mich immer wieder an den Ort zurückgeführt haben.7 Ein paar der zahlreichen Fragen, die diese Besuche aufgeworfen haben, sollen auf den nun folgenden Seiten dieses Essays diskutiert werden. Anzumerken ist außerdem, dass die Beschäftigung zu gleichen Stücken auf die intensive Lektüre eines bestimmten Buches zurückzuführen ist, das ich geradezu reflexartig immer wieder mit dem Mahnmal in Verbindung gebracht habe. Deswegen werde ich nun die methodische und theoretische Basis erläutern und zuerst einmal jenes ominöse Buch vorstellen, das mir so am Herzen liegt.

2. Raum und Performanz als wissenschaftliche Kategorien Die Kategorie des Raumes in den Kulturwissenschaften ist keine abstrakte, mathematische Größe oder ein Behälter, wie dies unser Alltagsverständnis suggeriert, sondern muss als »gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung, eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation (Codes, Zeichen, Karten)«8 beschrieben werden. Seit dem Spatial Turn (falls es tatsächlich einen solchen gibt)9 wird Raum nun nicht mehr in erster Linie als Diskurs-

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(13.4. 2008). Vgl. Torsten Harmsen, Mahnmal als Tummelplatz, in: Berliner Zeitung. Feuilleton, 14.8. 2003, 11. Der vorliegende Essay wurde bereits 2008 verfasst und seither nur geringfügig modifiziert. Siehe die Homepage der »Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, http://www.stiftungdenkmal.de/dasdenkmal/ortinformation (14.4.2008). Ganz konkret, aber auch in Gedanken. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Spatial Turn, in: Dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006, 292. Siehe zur Unterscheidung zwischen Agenda und Label »Spatial Turn« Jörg Döring/Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: Dies. (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, 8–15.

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Bildquelle: http://www.hagalil.com/archiv/2005/05/mahnmal.jpg

problem10 behandelt, wie dies etwa in den Literaturwissenschaften schon seit jeher der Fall war, sondern die kulturellen, sozialen, medialen Praktiken, die diesen überhaupt erst konstituieren, rücken verstärkt in den Fokus. Um dies zu erläutern, ist es zur Orientierung prinzipiell einmal ratsam, einen konkreten (zumindest geografisch fixierbaren) Ort als Ausgangspunkt zu wählen. Von dort aus lassen sich Fragestellungen entfalten, die diesen einerseits als Mittelpunkt komplexer, dynamischer Prozesse der Aneignung und andererseits – gewissermaßen komplementär – als eingebunden in konkretes wie sprachliches Handeln erkennen

10 Vgl. Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Ders., A Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture (The Second World), London/New York 1990. Andreas Mahler, Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution, in: Ders. (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg 1999. Vgl. die nahezu tausend Seiten starke Monografie von Karl-Heinz Stierle, Mythos Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1993. Roland Barthes, Semiologie Stadtplanung, Frankfurt a. M. 1988, 199–209. Kevin Lynch, Das Bild der Stadt, Braunschweig 1975.

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lassen. Eine solche performative11 Ausrichtung lenkt die Aufmerksamkeit auf Fragen, die sich bis zu einem gewissen Grad dem »Kultur als Text«-Paradigma entziehen, indem sie die Kategorien von »Sinn« und »Bedeutung« verstärkt an Gebrauchsweisen und Vollzüge binden. Raum ist nicht einfach da, sondern wird performativ konstituiert. Die vielfältigen und komplexen Praktiken bringen viele überlappende, sich überlagernde Räume hervor. Durch die Analyse der Praktiken ist es demnach möglich, einen multiperspektivischen Blick auf einen Ort zu werfen. Der Theoretiker, dessen Überlegungen zu »Performanz« und »Raum« hier thematisiert werden sollen, ist der französische Mystiker, Philosoph und Historiker Michel de Certeau. Seine grammatologisch-linguistische Studie zum Alltag in L’invention du quotidien. Vol. 1. Arts de faire. (dt. Kunst des Handelns), die 1980 im Original und 1988 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde,12 erfreute sich in den angloamerikanischen Cultural Studies13 einer regen Rezeption, während selbige in den Human- und Kulturwissenschaften im deutschen Sprachraum bisher eher zurückhaltend ausgefallen ist. Gerade im Zuge der Neufokussierung hin zur Kategorie »Raum«14 gewinnen die theoretischen Schriften Certeaus wieder an Gewicht.15 Dieser schleichenden Renaissance, oder besser, dieser späten Wertschätzung der Arbeiten Certeaus will auch ich mich anschließen. Um nicht die Fehler der Cultural Studies zu wiederholen, theoretische Instrumentarien zu pasteurisieren, indem man sie aus dem historischen Kontext reißt,16 erscheint es mir wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass die Überlegungen des Architekten Peter Eisenman an zahlreichen Stellen d’accord gehen mit jenen Michel de Certeaus. Das hängt damit zusammen, dass beide »Autoren« vom poststrukturalistischen Denken inspiriert wurden, besonders vom Dekonstruktivisten17 und Medienstar Jacques Derrida. Ein weiterer Aspekt ist jener, dass beide das Ende der »grand récit«18 11 Vgl. Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002. Lutz Musner/Heidemarie Uhl (Hg.), Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften, Wien 2006. 12 Vgl. Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988. Im Original: Ders., L’invention du quotidien. Vol. 1. Arts de faire, Paris 1980. 13 Vgl. den Sammelband von Marian Füssel (Hg.), Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion, Konstanz 2007. 14 Vgl. die erst vor einigen Wochen erschienene Anthologie zur »Raumwende« von Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. 15 Ein Ausschnitt aus dem Text zur Raumtheorie Certeaus findet sich im Sammelband von Stephan Günzel/Jörg Dünne (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006. 16 Vgl. Jörg Döring/Tristan Thielmann, Einleitung, hier 16. 17 Zur Einführung in das poststrukturalistische Denken siehe Stephan Münker/Alexander Roesler, Poststrukturalismus, Stuttgart 2000. 18 Vgl. Ian Buchanan, Michel de Certeau. Cultural Theorist, Nottingham 2000. Daraus folgendes Zitat (S. 94): »Here, then, several years before Lyotard […] made his cataclysms pronouncement that postmo-

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reflektieren und dementsprechend auf die neuen Herausforderungen zu reagieren versuchen, die sich in den letzten dreißig Jahren aus den medialen, ökonomischen und politischen Umstrukturierungen ergaben. Der Ort, um den die folgenden Überlegungen kreisen, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, kann durch eine praxisorientierte Leseart auf seine Multifunktionalität für die Benutzer befragt werden. Ich will versuchen zu zeigen, wie sich Eisenman von der traditionell-abendländischen Idee, wie ein Denkmal rituell »bespielt« werden muss, emanzipiert, indem er zur vielseitigen performativen Aktualisierung einlädt und somit der Heterogenität des Alltags freien Lauf lässt, indem er diese konstitutiv in sein Konzept integriert. Der Architekt hat sich in zahlreichen Interviews und Essays gegen eine »Grabstätte«, ein Mahnmal im klassischen Sinne, gegen einen »toten« oder »heiligen Ort« ausgesprochen.19 Hinauslaufen werden meine Überlegungen – so viel soll bereits verraten werden – auf die Erstellung einer Collage, die einige Zitate Eisenmans, des Kunstkritikers Hanno Rauterberg (Essays der beiden Letztgenannten befinden sich in einem offiziellen Foto-Band zum Holocaust-Denkmal), Michel de Certeaus Buch sowie Eindrücke aus der Presse aufeinander bezieht. Die Fragmente sollen kommentiert und kontextualisiert werden. Was diese einzelnen »Schnipsel«, die teils unfertige Gedanken sind, nicht wollen, ist einen Anspruch auf Ganzheitlichkeit erheben. Abschließend werde ich noch kurz auf die Frage nach den Kategorien von »Körper«, »Raum« und »medialen Bildern« eingehen und auf die Grenzen eines kulturwissenschaftlichen Textbegriffes aufmerksam machen. Zunächst ist es jedoch erst einmal unerlässlich, die Kategorien Certeaus zu erläutern und diese anschließend im Hinblick auf die konkrete Fragestellung zu modifizieren. Doch vorher sollen einige Sätze zur Entstehung des Holocaust-Mahnmals und zum Entwurf gesagt werden.

3. Die Entstehung des Denkmals Im Jahre 1988 regte die Publizistin Lea Rosh – nach eigenen Angaben kam der Vorschlag von Historiker Eberhardt Jäckel – den Bau eines Denkmals für die ermordedernism has arrived and that it is characterised by a growing incredulity towards apparatus of cultural legitimation, the narratives of religion, progress of history, and the like, de Certeau had already diagnosed the source of the rot his colleague and countless others after him would so piously lament: the evaporation of belief.« Siehe Jean-Francois Lyotard, Das Postmoderne Wissen, Wien 20055. Marian Füssel beginnt seine Einleitung mit dem Satz: »Der Ausgangspunkt von Certeaus Denken ist von einem Gefühl des Verlustes geprägt« (Marian Füssel, Einleitung. Ein Denker des Anderen, in: Ders. (Hg.), Michel de Certeau, 7). 19 Vgl. das Interview mit Spiegel Online, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft,1518,355383,00.html (14.4.2008).

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ten Juden zur Zeit des Nationalsozialismus in Berlin an. Ein Förderkreis wurde gegründet, und der Vorschlag fand rege Unterstützung, was sich vor allem an der Höhe der Spendengelder ablesen lässt. Nachdem 1994 der ausgewählte Entwurf des ersten Wettbewerbs durch ein Veto von Bundeskanzler Kohl abgelehnt wurde, schrieb man 1997 einen neuen Wettbewerb aus. Die Wahl fiel auf den Vorschlag des New Yorker Architekten Peter Eisenman und des Bildhauers Richard Serra (dieser zog sich später zurück). Am 25. Juni 1999 wurde vom Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit der Bau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas beschlossen, das den sechs Millionen Opfern des Holocaust gewidmet werden sollte. Die Kosten beliefen sich auf ca. 28 Millionen Euro (54 Millionen Mark). Alles in allem dauerte es 17 Jahre, bis die Kontroverse zumindest einen vorläufigen Abschluss in der Errichtung des Mahnmals fand. Der Entwurf von Peter Eisenman gilt als radikal und wurde mehrfach überarbeitet und modifiziert, bis er endgültig seine Realisierung fand. Topografisch gesehen, liegt das Mahnmal zwischen dem Brandenburger Tor und dem Potsdamer Platz inmitten des touristischen Zentrums der deutschen Hauptstadt Berlin. Es besteht aus 2.711 dunkel eingefärbten Sichtbetonkuben, die in einem orthogonalen Raster angeordnet sind und sich über ein Areal in der Größe von über 19.000 Quadratmetern erstrecken (das sind etwa vier Fußballfelder). Die Betonkuben haben eine Länge von 2,38 und eine Breite von 0,95 Metern, die Räume zwischen den Kuben sind 0,95 Meter lang ; einige Kuben überragen die anderen um wenige Zentimeter (das hat den Effekt, als würden einige Kuben aus der Achse kippen). Alle Kuben sind schief, jedoch nur in einem Neigungswinkel von subtilen 0,5–2 Grad. Die rund 40 Bäume, die großteils am Rand gepflanzt wurden, verstärken den Kontrast des kühlen Betonfeldes mit der Umgebung. Das Feld ist von allen Seiten her begehbar.20

4. Michel de Certeau und die Kunst des Handelns Aufbauend auf der Psychoanalyse von Freud und Lacan21 sowie auf den frühen phänomenologischen Studien Merleau-Pontys22, dem Dekonstruktivismus Derridas23 und Michel Foucaults Machtstudien24 untersucht Michel de Certeau »Tricks, Finten und Listen von Verbrauchern« (wie z. B. Gehen, Einkaufen, Kochen, Lesen, Denken etc). In Die Kunst des Handelns entwirft er ein komplexes Denkschema, das nur über die

20 Vgl. hierzu die Homepage, http://www.stiftung-denkmal.de (14.4.2008). 21 Vgl. die überaus einflussreiche Studie von Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: Ders., Schriften I, Weinheim/Berlin 1986. 22 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974. 23 Vgl. vor allem Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972. 24 Stellvertretend vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 19949.

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Abklärung zweier grundlegender Begriffe, nämlich Strategie und Taktik, zu erschließen ist. Deswegen werde ich dort ansetzen und das Schema anschließend auf die Problematik des Holocaust-Mahnmals zuschneiden. Als Strategie bezeichnet Certeau »die Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Moment möglich wird, wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt (ein Unternehmen, eine Armee, eine Stadt oder eine wissenschaftliche Institution) ausmachbar ist. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes beschrieben werden kann und somit als Basis für die Organisierung von Beziehungen zu einer Exteriorität dienen kann, seien dies Stoßrichtungen oder Bedrohungen (Kunden oder Konkurrenten, Feinde, das Umland der Stadt, Forschungsziele und Gegenstände).«25

Auf die Benutzung des urbanen Raumes angewendet, bedeutet dies: Der wahrnehmbare Raum, also alltägliche Elemente wie Ampeln, Gehsteige, Begrenzungspfeiler, aber auch soziale Güter und stark aufgeladene Plätze und Objekte wie Denkmäler (repräsentative Kultur) können als (institutionalisierte) Ordnungen bezeichnet werden. Die zweite, gewissermaßen gegenläufige Bewegung nennt Certeau Taktik: »ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist und nur den Ort des Anderen [hat]. Sie muß mit dem Terrain fertig werden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert.«26

In der Analyse lässt sich so ein Machtverhältnis ausdrücken, das den Benutzer einem zu Benutzenden gegenüberstellt, dessen Ordnungen er entweder funktionsgerecht benutzen kann (gemäß einer »Bedienungsanleitung«, die konventionalisierte Reglements sind oder bewusst von einem Subjekt fixiert wurden) oder dessen Elemente er zur alternativen Benutzung umgestalten kann. Was eine solche Differenzierung in den Blick bringen kann, sind einerseits die räumlichen Objekte, die es – wie bereits erwähnt – isoliert zu analysieren gilt (z.B. im Hinblick auf das Konzept des Architekten, auf imperiale Einschreibungen, Besitzrecht etc.) und andererseits die damit einhergehenden diskursiven und materiellen »Verschiebungen« durch den »falschen« Gebrauch, der von ihnen gemacht wird. Beispiele für das Ergebnis von taktischer Intervention in die strategische Ordnung sind Trampelpfade in Parks abseits der vorgezeichneten Wege oder durchgetretene Zäune, die als Spuren auf eine Abkürzung hinweisen. Ian Buchanan, der eine Monografie zu Michel de Certeau veröffentlicht hat, sieht in Strategie and Taktik die zentralen Be25 Vgl. Certeau, Die Kunst des Handelns, 87. 26 Ebd., 89.

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griffe im Denken des französischen Philosophen (auch wenn er dieses Statement in dem Band hg. von Füssel zugunsten des Paares »Ort« und »Raum« [»lieu« und »espace«] relativiert27). Nach Buchanan besteht der Clou darin, dass es sich hier weniger um Modalitäten der Macht (»modalities of power«) als um Glaubensindizes (»indexes of belief«)28 handelt, das heißt, dass die Interrelation zwischen beiden Kategorien in all ihrer Komplexität wahrgenommen werden muss. Der Begriff der Taktik ist diesem zufolge vielmehr als ein Symptom der Postmoderne zu verstehen, als mikroskopische, aber tausendfache Antworten auf Entfremdungs- und Individualisierungsprozesse. Ein Problem, das eng verbunden ist mit dem Verlust eines sinnstiftenden Telos. Wenn Certeau schreibt, Taktik müsse mit einem Terrain fertig werden, dann ließen sich damit nicht nur räumliche Systeme beschreiben, sondern – etwas metaphorischer – auch abstraktere Ordnungen wie Zeitpläne, bürgerliche Normvorstellungen, soziale Erwartungshaltungen innerhalb kultureller Schemata. Das taktische »Sich-daraufEinlassen« kann ebenso gut ein Wegdriften sein, die individuelle Freiheit, die sich der Angestellte nimmt und so dem »technokratischen Gleichschritt« entflieht, auch ohne den Ort zu wechseln. Gehen ist nicht gleich gehen : »Den Flanierenden leitet die Straße in vergangene Zeiten«, schreibt Walter Benjamin.29 Sich einlassen auf den Augenblick, auf Fantasien, Erinnerungen, Gefühle bedeutet »abwesend« zu sein. Wie bei Marcel Proust in La recherche du temps perdu ist es ein Spiel mit dem »übersubjektiven Zeitschema«; eine Bewegung, die jener Macht, die alle »Tätigkeiten und Wechselbeziehungen aufs pünktlichste«30 einordnet, zu entrinnen versucht : »Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften und Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß. Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen.«31 Ein Stück weit sind auch diese im Rahmen eines strategischen Feldes unerwünschte Veränderungen des Status, die per se etwas Subversives an sich haben, weil sie der »positiv« gegebenen Wirklichkeit und den impliziten Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie trotzen. Literaturen, die Orte auswählen, sind an Erinnerungsorten auffällig oft »zeitdehnend«, vollziehen anderenorts die Ellipse. Konkrete Beispiele für die gewissermaßen aktive, »taktisch-subversive« Benutzung des Raumes gibt es unzählig viele : Die Tanz-Avantgarde von 1970 etwa 27 Vgl. Ian Buchanan, Ort und Raum. Eine Verhältnisbestimmung mit Michel de Certeau, in: Füssel 2007, 179 f. 28 Vgl. Buchanan, Michel de Certeau, 85–88. 29 Vgl. Walter Benjamin, M [Der Flaneur], in: Ders., Das Passagenwerk. Erster Band (hg. von Rolf Tiedemann), Frankfurt a. M. 1982, 524. 30 Georg Simmel, Die Großstädte und ihr Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung [= Theodor Petermann (Hg.), Jahrbuch der Städteausstellung zu Dresden, Band 9], Dresden 1903, 192. 31 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die wiedergefundene Zeit. Band XIII, Frankfurt a. M. 1964, 38.

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initiierte choreografische Stadterkundungen, die zum Ziel hatten, indexikalisch auf vernachlässigte Aspekte urbaner Lebenswelten hinzuweisen, um eine veränderte Perspektive auf die Stadt zu provozieren. »Die Stadt wurde selbst zu einer Landschaft, man intendierte, die Grenze zwischen Alltag und Performance, zwischen öffentlichen und privaten Räumen zu verwischen.«32 Schon die Situationisten um Guy Debord plädieren für ein »Umherschweifen«, das »untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeografischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens« ist.33 Formate wie Trisha Browns Equipment Pieces oder aktueller steirisc(:her:)bst34 in Graz, der den Stadtraum choreografisch beleuchtet (z.B. »der Ort … wird abgesteckt« am Karmeliterplatz) oder Berliner Ermittlungen – Connecting sites and communities35 bringen Raum performativ neu hervor, indem sie die Stadt an einigen Stellen »verdecken« und an anderen hervorheben. Vor einigen Jahren ist im Internet das »video footage« einer Subkultur aufgetaucht, die als russian climbing36 bezeichnet wird. Ganz ohne Hilfsmittel erklimmen die Akteure Fassaden trister Hochhäuser, durch ihre Körper synthetisieren sie die desperaten Ruinen stillgelegter Fabrikareale. Ihr Umgang mit der Ordnung ist subversiv und beeindruckend, sie erleben den Raum durch die »alternative« Benutzung neu und vervielfältigen diesen in seiner Bedeutung. Kreativ, vielseitig, spielerisch »alternativ« kann der Umgang mit dem Raum sein. Indem man so die Grenzen überschreitet, »die von der Bestimmung des Gegenstandes für seinen Gebrauch festgelegt waren«37, besitzen Akteure realiter die Kraft, eine Stadt »durchzukneten«. Michel de Certeau gesteht den Akteuren in den Großstädten die Möglichkeit zu, durch taktische Intervention scheinbar stabile Ordnungen für den eigenen Gebrauch umzukodieren. Als willkommener Anknüpfungspunkt lässt sich die Beobachtung des Kunstkritikers Hanno Rauterberg heranziehen. Dieser assoziiert das Mahnmal mit der »Performance-Kunstlandschaft«, mit den »Land-, Art- und Wahrnehmungsexperimenten der 60er- und 70er-Jahre«.38 Wenn Skateboarder Kanten zum »Sliden«

32 Vgl. dazu den Sammelband Yvonne Hardt/Kristen Maar, Bewegte Räume. Zur Verortung des Tanzes im Spannungsfeld von Metropole und Provinz – eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Tanz Metropole Provinz, Berlin/Hamburg/Münster 2006, 7. 33 Guy Debord, Theorie des Umherschweifens, in: Pierre Gallissaires/Hanna Mittelstädt/Roberto Ohrt (Hg.), Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995. 34 Vgl. die Webseite »Steirischer Herbst«, http://www.steirischerherbst.at/2008/deutsch/micro/index.php (14.4.2008). 35 Vgl. das Programm 2006, http://www.kunstamtkreuzberg.de/k_ballhaus/pdf/Berliner_Ermittlungen%20. pdf (14.4.2008). 36 Vgl. hierzu das Video auf Youtube, http://www.youtube.com/watch?v=Rxv8SS1XU_8 (14.4.2008). 37 Certeau spricht an einigen Stellen in einer metaphorischen Sprache. 38 Siehe Hélène Binet/Lukas Wassmann/Hanno Rauterberg/Eisenman Architects, Holocaust Mahnmal Berlin, hier ca. 12 (keine Seitenangaben); in Folge zitiert als »Binet et al., Foto-Band«.

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oder »Grinden« nutzen, kleine Kinder von Stele zu Stele hüpfen, Graffiti-Sprayer sich in den Raum einschreiben, dann pflegen sie einen kreativen Umgang mit dem Areal des Denkmals.39 Die im Namen der Strategie stehende Intervention40 beurteilt einen solchen Umgang selbstverständlich als respektlos und falsch. Die professionelle Aufgabe der Sicherheitskräfte ist es, die adäquate Benutzung des Denkmals zu gewährleisten. Auf einer Tafel, die an einer Stele angebracht ist, wird dieser Anspruch durch die Besucherordnung explizit gemacht. Hier eine Formulierung daraus: »Nicht gestattet ist: Lärmen, lautes Rufen, das Benutzen von Musikinstrumenten sowie der Betrieb von Rundfunk- und Tonträgergeräten, soweit über den persönlichen Hörbereich hinausgehend, – das Lagern im Stelenfeld, auf Stelen zu klettern, von Stele zu Stele zu springen und sich in Badekleidung auf einer Seite zu sonnen, – das Mitführen von Hunden, – das Mitführen von Fahrrädern, Skateboards, Roller-Blades, Rollschuhen, – Fahr- und Motorräder an den äußeren Stelen abzustellen, – das Rauchen, der Genuss alkoholischer Getränke und Grillen, – das Stelenfeld zu verunreinigen.«41

Die traditionelle Idee eines »sakralen Ortes«, der mit Andacht und Respekt für die Opfer behandelt werden muss,42 macht das Mahnmal – im Verständnis der Verantwortlichen – zu einer Trauerstätte, dessen angemessene Benutzung sie einfordern. Die Zurechtweisungen und moralischen Appelle zur »korrekten« Benutzung sprechen die 39 Es ist mir wichtig, dass die von mir vorgenommene Auflistung von »kreativen« Benutzungen als ein subtiler Versuch verstanden wird, die Praktiken urbaner Subkulturen aufzuwerten und nicht wie üblich im Vorhinein zu diskreditieren (!). 40 Es wäre jedoch nicht ganz richtig, den Begriff der »Strategie« an Sicherheitskräfte und jenen der »Taktik« an die Praktiken der »falschen« Benutzung zu binden. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch die Sicherheitskräfte »taktisch« wider die Regeln agieren können. 41 Die der Vollständigkeit halber ganze Besucherordnung: (1) Das Stelenfeld darf grundsätzlich nur zu Fuß und im Schritt-Tempo durchquert werden. (2) Für Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer sind 13 gekennzeichnete Gänge geeignet. Diese Gänge haben ein max. Gefälle von 8 %. (3) Der Besuch des Stelenfeldes erfolgt auf eigene Gefahr – Warnhinweise: – Sämtliche Längs- und Querachsen sind lediglich 0,95 m breit. – Die kreuzenden Wegachsen sind nur in wenigen Teilbereichen einsehbar. Vorsicht ist geboten. (4) Siehe oben im Text. (5) Anordnungen und Anweisungen des ausgewiesenen Sicherheitspersonals sind zu befolgen. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Stresemannstr. 90, 10963 Berlin. 42 Vgl. zur Geste des Schweigens Walter Kasper et al. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9, Freiburg im Breisgau/Basel/Rom/Wien 20033, 332 ff. Die kulturhistorische Bedeutung des Schweigeaktes, von Stille und Andacht, wird im zitierten Lexikonartikel deutlich. Im Bezug auf Auschwitz spricht der Autor Jürgen Manemann vom »Schweigen Gottes«: »In ihm artikuliert sich die Unfähigkeit, das Erlebte in seiner metahistorischen Dimension zu fassen.«

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Sprache eines Diskurses, der »Wahrheit« und »Objektivität« beansprucht. Sein Verhältnis zur Macht äußert sich darin, dass dieser Diskurs eine ganz und gar utopische Homogenisierung der Alltagspraktiken anstrebt. Er will einen Ort etablieren, der diszipliniert und überwacht, dessen »Entweihung« gegebenenfalls sanktioniert wird. Die Ordnung wird nicht ausschließlich von politischen, sondern gewissermaßen komplementär von medialen Dispositiven gestützt. Nicht selten ist in den Medien die Empörung über die »falsche« Benutzung der Gedenkstätte groß und entlädt sich in Form von Diffamierungen : Abfällig ist von »Wurst essenden Touristen«, »respektlosen Skateboardern« und »dicken Berlinern« zu lesen. Auch die panoptischen Blicke der »Konformisten«, die mahnenden Worte der Eltern und Lehrer sowie die Medien etc. sind es, die für die Beständigkeit von Konventionen sorgen.43 Dieses Schweigen, dem sich die Texte in der Presse und die »Konformisten« verpflichten, erweist sich demzufolge als »rhetorische Kippfigur«, die das originäre deutsche Bemühen »beschreibt, eine irgendwie angemessene Haltung einzunehmen«. 44 Durch die moralische Aufwertung der Taktiken will ich, anstatt echauffiert in dasselbe Horn zu blasen, eine Position einnehmen, die das Holocaust-Mahnmal als Kommunikationslandschaft versteht, die nicht bloß einen mächtigen Diskurs der Fachleute, sondern ebenso eine Subkultur zum Sprechen bringt, die weitgehend aus den Analysen ausgeschlossen bleibt. Dieser Blick auf die Mikrowelten bringt auf empirischer Ebene vor allem das Internet ins Spiel, die zahlreichen Foren, in welchen Kollektive ihre Wert- und Normvorstellungen artikulieren, Geschichtsbilder ausverhandelt werden und das nicht Druckbzw. öffentlich Sagbare seinen Ausdruck findet. Dies bietet uns einen in den »Cultural Studies« schon seit jeher forcierten Einblick in alltägliche Diskurse. Wir können nun also – um das Ganze zumindest einigermaßen umreißen zu können – drei Punkte hervorheben, die für die Konstitution des Raumes in diesem Essay relevant sind: • Die heterogenen Praktiken : Der Umgang mit dem Denkmal kann sich innerhalb eines Spektrums abspielen, dessen äußerste Ränder als affirmativ einerseits und alternativ andererseits bezeichnet werden können. • Die politischen und medialen Dispositive, die eine konforme Benutzung des Denkmals sicherstellen wollen. • Der Architekt Peter Eisenman, der mit seinem Entwurf eine Kommunikation zwischen Strategie und Taktik intendiert. 43 Die Komplexität des Verhältnisses ist nicht zu unterschätzen. Es führt uns weit über den Alltag hinaus, handelt es sich hier doch vor allem um ein Bekenntnis zur Vergangenheit, ein Zeichen für Reue und Bewältigung, dem, abgesehen von dem Mut, es zu errichten, ein gewisses Maß an Kalkül zu unterstellen ist. 44 Vgl. Klaus Naumann, Auschwitz im Gedächtnisraum der Presse 1995, in: Detlef Hoffmann (Hg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler, 1945–1995, Frankfurt a. M./New York 1997, 326.

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Auf Basis dieser Punkte soll nun eine Collage erstellt werden, die ein Spannungsfeld absteckt, das weitere Fragen eröffnet und Impulse für weitere Diskussionen gibt. Mehr kann hier nicht geleistet werden.

5. Für eine praxisorientierte Lektüre des Holocaust-Mahnmals Wie der New Yorker Architekt Peter Eisenman in dem offiziellen Foto-Band zum Holocaust-Denkmal Berlin45 bestätigt, ging es ihm bei seinem Entwurf dezidiert um die Setzung eines »Nicht-Zeichens«.46 »Es wäre falsch, wenn die Schrecken des Holocausts zu einem erkennbaren Symbol erstarren würden, zu etwas, das wir verstehen und in unsere Psyche einordnen können. Es gibt da keine Wahrheit zu verkünden, keinen Sinn [kursiv J. K.] zu verschreiben. Wir können das, was geschehen ist, nicht begreifen. Es macht uns hilflos. Und von dieser Hilflosigkeit lässt sich im Mahnmal etwas erfahren.«47

Die Undarstellbarkeit des Holocaust, das Nichtfassbare, könne nur durch ein Objekt dargestellt werden, dem jede offensichtliche Symbolik fehlt. Die Möglichkeit zur nahtlosen Anwendung der Praxistheorie Michel de Certeaus ergibt sich vor allem aus der intendierten semantischen Unbestimmtheit, welche den Benutzer dazu inspiriert »über die Geographie der verbotenen oder erlaubten buchstäblichen Bedeutung eine zweite, poetische Geographie zu formulieren«.48 Um diesen Freiraum geht es hier, denke ich. Das Mahnmal lädt zur Interaktion ein, die Stelen wirken wie Bauklötze, konnotieren Spielzimmer und dann doch irgendwie nicht. Eisenmans Konstruktion soll exakt jene Eigenschaft der »Unbestimmtheit« erfüllen, wie der Architekt in einem Interview verdeutlicht : »Niemand weiß genau, wie dieses Feld zu begreifen ist.«49 Der Ort, dessen architektonische Elemente, die Stelen, oft als Sarkophage gedeutet50 wurden, soll mit Leben erfüllt werden, mit spielenden und lachenden Kindern, Jugendlichen, die ihren Freundinnen imponieren wollen, mit Zerstörungswut 45 Vgl. Binet et al., Foto-Band. 46 Ebd. Peter Eisenmans Statement, die Architektur müsse nach Hiroshima und nach dem Holocaust die Frage nach der Darstellung und dem bildlichen Ausdruck überdenken, impliziert bereits die Abneigung gegen mächtige Symbole wie Grabsteine oder Kreuze, die Orten ihre sakrale Aura verleihen. 47 Vgl. den Artikel »Es ist kein heiliger Ort« auf : Spiegel.de, http ://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ 0,1518,355383,00.html (14.4.2008). 48 Certeau, Die Kunst des Handelns, 200. 49 Vgl. »Verena Lueken im Gespräch mit Peter Eisenman«, in: Michael Jeismann (Hg.), Mahnmal Mitte. Eine Kontroverse. Köln 1999, 270–276. 50 Eisenman weist jede Symbolik und Darstellungsfunktion an zahlreichen Stellen nachdrücklich zurück.

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und auch mit Unverständnis. Aus den Schilderungen Hanno Rauterbergs im selben Foto-Band lässt sich sehr gut herauslesen, wie das Denkmal zum Handeln einlädt und somit durch die performative Aktualisierung seine vielfachen Bedeutungen erlangt. Die Akteure rücken ins Zentrum, in deren Macht es liegt, was sie mit dem vorgegebenen Terrain tun wollen, inwieweit sie sich darauf einlassen, was sie hineinlesen oder hineinschreiben wollen. Durch die implizite Anregung zur taktischen Benutzung des Areals werden diese dazu aufgefordert, die strategische Ordnung zu unterwandern und die Leere und Stille der »Geisterstadt« mit Leben aufzufüllen. »Alle […] sind gezwungen, eine eigene Form der Annäherung zu suchen, im realen wie übertragenen Sinn. Ein jeder muss selbst entscheiden, wie weit er sich in diese Stelenund Seelenlandschaft vorwagen will und für welche Leseart er sich entscheidet. […] Vor allem die Stelenlandschaft steht offen für das Unberechenbare, sie will eingenommen, belebt und erfüllt werden. Und so wird dieses vermeintliche Sinnbild immer auch ein Selbstbild der Gegenwart bieten. […]«51

Rauterberg schließt seinen Aufsatz in dem Foto-Band mit den schönen Worten: »Vieles ist möglich an diesem Ort, der lange ein Ort der Unmöglichkeit war. Er steht offen für das Spiel der Kinder, für die Ratlosigkeit der Erwachsenen, für das Unbefangene und das Unbeholfene, für das Richtige und das Falsche, für Wut, Hass, für Trauer und Scham. Und mit Glück wird das auch weiter so sein, mit Glück wird er offen bleiben. Für immer unfertig und eine Baustelle deutschen Erinnerns.«52

Die Tatsache, dass sich Certeaus zweites Begriffspaar hier nahezu nahtlos ins Spiel bringen lässt, unterstreicht die Nähe seines Konzepts zu jenem von Peter Eisenman: Certeau unterscheidet zwischen Lieu und Espace,53 wobei die jeweils performative Aktualisierung eines Lieu durch die Akteure die entscheidende Rolle spielt. So wird Lieu im Sinne einer statischen Ordnung gedacht, die erst dadurch zu Espace wird, indem man etwas damit tut, indem man ihn z.B. durchläuft oder irgendwie damit handelt. Interessant im Hinblick auf die Problematik einer »sakralen« Gedenkstätte ist folgendes Zitat aus dem Kapitel »›Räume‹ und ›Orte‹«, das unverkennbar eine Brücke zwischen beiden Konzepten, jenem von Eisenman und jenem von Certeau, schlägt:

51 Vgl. Binet et al., Foto-Band. 52 Ebd. 53 Die Begriffe bleiben hier unübersetzt, da sie nicht mit den deutschen Begriffen »Ort« und »Raum« übereinstimmen.

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»Untersucht man Alltagspraktiken […] wird der Gegensatz zwischen »Ort« und »Raum« [lieu und espace] – etwa in Erzählungen – vor allem auf zweierlei Bestimmungen zurückführen: einmal durch die Objekte, die letztlich auf das Dasein von etwas Totem [kursiv J. K.] […] reduziert werden können (vom Kieselstein bis zum Leichnam scheint im Abendland ein Ort immer durch einen reglosen Körper definiert zu werden und die Gestalt eines Grabes anzunehmen.); und zum anderen durch die Handlungen, die an einem Stein, einem Baum oder einem menschlichen Wesen vorgenommen – die »Räume« durch die Aktion von historischen Subjekten abstecken (die Erzeugung eines Raumes scheint immer durch eine Bewegung bedingt zu sein, die ihn mit einer Geschichte verbindet).«54

Erst durch die performative Aktualisierung, durch die Handlungen und Vollzüge wird das konzipierte und errichtete Denkmal vom Lieu zum Espace: In einem Interview mit »Spiegel Online«55 sieht sich Eisenman mit der Frage konfrontiert, wie lange es dauern werde, bis die ersten Hakenkreuze auf den Stelen zu finden sind. Der Architekt stellt die Gegenfrage, ob dies denn so schlecht sei, und erläutert seine Position, die seiner überaus konsequenten Argumentationslinie entspricht: »Ich war von Anfang an gegen den Graffitischutz. Wenn ein Hakenkreuz darauf gesprüht wird, dann ist es ein Abbild dessen, was die Menschen fühlen. Wenn es dort bleibt, ist es ein Abbild dessen, was die Regierung davon hält, dass Menschen Hakenkreuze auf das Mahnmal schmieren. […] Wenn man morgen die Steine umwerfen möchte, mal ehrlich, dann ist es in Ordnung. Menschen werden in dem Feld picknicken. Kinder werden in dem Feld Fangen spielen. Es wird Mannequins geben, die hier posieren, und es werden hier Filme gedreht werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie eine Schießerei zwischen Spionen in dem Feld endet. Es ist kein heiliger Ort [kursiv J. K.].«56

In einem Tagungsband zum »kulturellen Gedächtnis im 21. Jahrhundert« stellt Hermann Glaser, Honorarprofessor für Kulturvermittlung an der TU Berlin, die Frage, ob das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein »Aufwachen zur Trauerarbeit individuell wie kollektiv hervorzurufen vermag«, und verleiht anschließend seiner Skepsis Ausdruck, indem er karge Betonstelen, die fehlende Symbolik und auch die Platzierung inmitten des Berliner »Las Vegas« kritisiert. Im selben Atemzug erkennt Glaser jedoch die Schaffung einer »Kommunikationslandschaft« über Denkmäler hinaus (»dialogischer Austausch von gespeicherten Erinnerungen in Form von ›Materia54 Vgl. Certeau, Die Kunst des Handelns, 219. Liest man diesen Satz biografisch, artikuliert sich hier vor allem Certeaus Verlusterfahrung. 55 Vgl. »Es ist kein heiliger Ort« auf Spiegel.de, http ://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518, 355383,00.html (10.4.2008). 56 Ebd.

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lien‹«) als wichtigstes kulturpolitisches Ziel und bezieht Position gegen eine statische Erinnerungskultur, die zum politischen Selbstzweck der Entschuldung wird.57 Den kommunikativen Aspekt des Holocaust-Mahnmals übersieht Glaser hier trotz seines Plädoyers vollkommen. Seine Kritik steht paradigmatisch für einen Diskurs, der sich an traditionelle Ordnungen klammert, jedoch gleichzeitig die Wichtigkeit eines lebendigen Denkmals erkennt. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist nicht nur ein Friedhof, wie das etwa auf der Wissensplattform »Wikipedia«58 angedeutet wird, sondern auch eine »Spielwiese« und eine »Kommunikationslandschaft«, die dazu einlädt, durch die »Ambiguität einer Realisierung«59 ergriffen zu werden. Konsequenterweise müssen im Zuge einer solchen Leseart auch Hakenkreuz-Schmierereien allen Übeln zum Trotze als »Aktionen« gewertet werden, die wiederum eine »Reaktion« erfordern, als »Sendungen« in einem Kommunikationsakt. Die oft unterschätzte positive Wirkung ist, dass »Unbestimmtheit« und »Elastizität« das Gespräch am Leben erhalten und so Geschichten vor dem drohenden »Aussterben« bewahrt werden. Die Dynamik, die entsteht, macht das »Holocaust-Denkmal« zu einem viel strapazierten Zeichen in einem Diskurs, der über das Heute stattfindet und nicht über eine »längst vergangene Zeit«.60 Dadurch, dass das Denkmal lebt, lebt auch der Diskurs, dessen Brisanz eine breite Masse erfasst. Die Setzung eines Symbols im öffentlichen Raum als Festschreibung eines »Fixpunktes« des kulturellen Gedächtnisses wird so in seiner Wirkung potenziert, das Denkmal bleibt sichtbar. Dadurch, dass konkurrierende Erzählungen und Einstellungen aneinanderprallen, öffnen sich neue Diskussionsräume. Vergangenes wird so gewissermaßen immer wieder zu Gegenwart. Diese zweifache Zeit unterscheidet es, ließe sich mit Eisenman sagen, »von anderen ortspezifischen Werken ohne eine Gedenkfunktion oder ein politisches Programm, und darin liegt sein öffentlicher Anspruch, den Eindruck einer zweifachen Zeit entstehen zu lassen : Einer in der Gegenwart erfahrenen Zeit und einer anderen, die die Erinnerung an eine andere Erfahrung der Vergangenheit in der Gegenwart möglich werden lässt.«61

57 Vgl. Hermann Glaser, Gesellschaftliches Gedächtnis als kulturpolitische Aufgabe, in : Thomas Dreier/ Ellen Euler (Hg.), Kulturelles Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Tagungsband des internationalen Symposiums 23. April Karlsruhe 2005 (= Schriften des Zentrums für angewandte Rechtswissenschaften Universität Karlsruhe (TH)1), Karlsruhe 2005, 149–161, hier 160 und 161. 58 Vgl. http://www.wikipedia.com. 59 Vgl. Certeau, Die Kunst des Handelns, 218. 60 Ich gebe hier stv. nur die Stimmung der Foren und Blogs wieder, wenn ich von »nicht mehr aktueller Zeit« spreche. Ich bin einfach so vorgegangen, dass ich die Suchbegriffe »Holocaust Mahnmal« oder »Holocaust Denkmal« auf www.google.at eingegeben habe. 61 Vgl. Binet et al., Foto-Band.

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6. Raum und körperliche Erfahrung Die Grenzen eines kulturwissenschaftlichen Paradigmas Wenn von performativer Aktualisierung und Benutzung des Denkmals gesprochen wurde, dann sollten abschließend auch die Kategorien »Emotion« und »Raum«, die mir als äußerst relevant erscheinen – einmal abseits von mühsamen Theoretisierungen –, kurz gestreift werden. Dementsprechend handelt es sich nicht um viel mehr als Vermutungen. Die dominierenden Informations- und Kommunikationsmedien prägen unser aller Weltbild. Aufgrund der Visualisierung durch elektronische Massenmedien wird eine Wahrnehmung des Holocaust als ein fiktiver und zutiefst anachronistischer Ort generiert.62 Ein Effekt ist die Virtualisierung historischer Ereignisse, die sich mit postmoderner Geschichtsamnesie und medialen Hybridisierungsprozessen63 vermengt und so den Schrecken des Holocaust gewissermaßen in einiger Distanz auf einer »Zwischenstufe« hält. Peter Eisenman hat in einem Interview die Intention betont, die »Macht der Medienbilder« brechen zu wollen. Das Mahnmal versuche, diese »Hegemonie des Visuellen zu überwinden, es setzt auf primäre körperliche Erfahrung, auf Affekte.«64 Nicht nur soll das Denkmal also zur »kreativen« Aktualisierung anregen, es spielt auch mit den Sinnen, spricht also eine affektive, körperliche Seite an, die »Raum« optisch und haptisch, einmal abseits von »Sinn« und »Bedeutung«, thematisiert und so eine Körperlichkeit ins Spiel bringt, die in der Analyse über einen »Text«-Ansatz nicht restlos greifbar ist. Wie Karl Schlögel kritisch vermerkt, ist die Kategorie des »Raumes« großteils von »Textverwaltern und -interpreten« okkupiert. Sein Plädoyer zielt in die Richtung einer Phänomenologie des »In-der-Welt-Seins«; in Städte und Landschaften müsse

62 Vgl. Barbie Zelizer (Hg.), Visual Culture and Holocaust, New Brunswick/New Jersey 2001. Rosemarie Beier (Hg.), Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt a. M./New York 2000. Habbo Knoch, Im Bann der Bilder. Goldhagens virtuelle Täter und die deutsche Öffentlichkeit, in : Johannes Heil/Rainer Erb (Hg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Frankfurt a. M. 1998. Andreas Dörner, Politische Kultur und Medienunterhaltung. Zur Inszenierung politischer Identitäten in der amerikanischen Film- und Fernsehwelt, Konstanz 2000. Judith Keilbach, FernsehGeschichte. Holocaust und Nationalsozialismus im amerikanischen und bundesdeutschen Fernsehen, in: Elisabeth Domansky/Harald Welzer (Hg.), Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit, Tübingen 1999. 63 Mit dem schrecklichen Begriff der »Hybridität« oder »Hybridisierung« meine ich nichts anderes als die Problematik postmoderner »Bastel-Identitäten« oder »self assembling«, eine verwirrende Fülle von »Deutungs-, Stilisierungs-, Identitätsangeboten«; vgl. Rolf Eickelpasch/Claudia Rademacher, Identität, Bielefeld 2004, 22. 64 Vgl. Ich war ein Nichts, in: Die Zeit, http://www.zeit.de/2004/51/InterviewEisenman (14.4.2008).

Urbane Spielwiese und multifunktionale Stadtlandschaft

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man diesem zufolge »hineingehen« – sie sind keine »Texte«65. Für die konstruktivistischen, stark an einem Zeichenbegriff orientierten Kulturwissenschaften eine Herausforderung oder eine (selbst performativ) unverrückbare Grenze? Wo bleiben Gefühle wie Angst, Hass, Unbehagen und Schwindel, der »Ort und die Ortlosigkeit«, die bis zu einem gewissen Grad den sprachlichen Beschreibungskategorien trotzen oder zumindest in diesen niemals völlig aufgehen?66 Wo bleibt das »Den Ort auf sich wirken lassen«? Wenn man sich diese Frage in Bezug auf das Holocaust-Mahnmal stellt, gelangt man unweigerlich ins Metaphorische, und das soll auch so sein. Vielleicht erlaubt gerade jene »Unbestimmtheit« einen Zusammenhang zwischen meiner überaus losen Bestimmung von Taktik als einem »Wegdriften« aus dem Alltag, das alle festen Ordnungen für einen Augenblick verliert ? Eine ähnliche Idee scheint auch Daniel Libeskind mit seinem Garten des Exils im Jüdischen Museum Berlin im Sinn gehabt zu haben. Es war seine Absicht, bei dem Besucher ein Gefühl der Entwurzelung zu evozieren, das den gesamten Körper erfasst. Das »Sich darauf einlassen« bezieht sich demnach nicht nur auf eine Lektüre des Denkmals, sondern dezidiert auch auf die Frage, wie weit man sich in das Stelenfeld hineinwagen bzw. hineinfühlen67 will. Durch das Spiel, das die Unregelmäßigkeit des Bodens (durch die der Architekt einen Bruch mit geodeterministischen Blut- und Bodenideologien bezweckte68) sowie der intendiert sperrige Entwurf mit den Sinnesorganen treiben, wird die vollständige Kontemplation unmöglich. Die Freude soll Eisenman zufolge gezielt gebrochen werden, um ein Gefühl der »Ortlosigkeit« zu evozieren: »Selbst wenn man mitten in dem Feld steht, umgeben von Säulen, kann man nicht harmonisch damit verschmelzen. Es gibt also beides, den Ort und die Ortlosigkeit, und in dieser Spannung gewinnt der gegenwärtige Ort seine Spannung.«69 Zu fragen bleibt dennoch, inwieweit der Holocaust, der in Foren oftmals als »düstere Geschichte«70 bezeichnet wird, in die man durch den Besuch von Gedenkstät65 Vgl. Karl Schlögel, Alexander von Humboldts Schiff, Navigation, in: Ders., Im Raume lesen wir die Zeit, München/Wien/Frankfurt a. M. 2007². 66 Vgl. den sehr interessanten Aufsatz über die »Gefühllosigkeit« der Kulturwissenschaften von Helmut Lethen, Authentizität als Wunsch nach Erfahrung und Form, in: Alfred Opitz (Hg.), Erfahrung und Form. Zur Kulturwissenschaftlichen Perspektivierung eines transdisziplinären Problemkomplexes, Trier 2008, 191. 67 Man könnte auch die konkurrierenden hermeneutischen Ausrichtungen in epistemologischen Fragestellungen, die Auseinandersetzung zwischen »Einfühlung« und »Text«-Begriff integrieren. 68 Vgl. Binet et al., Foto-Band. 69 Vgl. »Verena Lueken im Gespräch mit Peter Eisenman«, in: Jeismann (Hg.), Mahnmal Mitte, 270–276. 70 Vgl. die Plattform »telefon-forum.de«, http://www.telefon-treff.de/showthread/t–71224.html (1.4.2008). Stv. will ich vor allem das Statement aus dem Forum anführen. Ein Benutzer schreibt in Bezug auf das Mahnmal: »Wer sich gruseln oder sonst irgendwie in die Geschichte eintauchen will, kann nach Auschwitz fahren oder sonst zig Gedenkstätten besuchen.«

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ten wie Auschwitz (wie in »hyperreale« Vergnügungsparks) »eintauchen« kann, ihrer »Aura« insofern entladen werden können, als Exklusions- und Diffamierungsprozesse, technokratische Strukturen als Probleme der Gegenwart thematisiert werden und nicht als längst überwundene.

Autorenverzeichnis

Dieter Anton Binder, geboren 1953, lehrt als Historiker seit 1983 an der KarlFranzens-Universität in Graz und seit 2003 auch an der Andrássy Universität in Budapest. Rainer Guldin, geboren 1954, lehrt und forscht an der Kommunikationswissenschaftlichen Fakultät der Università della Svizzera Italiana in Lugano (Schweiz). 2006 veröffentlichte er im Berliner Verlag Kadmos »Die Sprache des Himmels. Eine Geschichte der Wolken«. Thomas Hellmuth, geboren 1965, Senior Scientist an der Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, wissenschaftlicher Koordinator des Masterstudiums Politische Bildung an der Johannes Kepler Universität Linz, Lektor an der Universität Salzburg, der Universität Wien und der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich. Derzeitige Forschungsbereiche : Mikrohistorie, Kulturgeschichte Frankreichs, Didaktik der Geschichte und politischen Bildung. Heimo Hofgartner, geboren 1967, arbeitet nach dem Studium der Geschichte am Universalmuseum Joanneum in den Multimedialen Sammlungen. Mitarbeit an den Ausstellungen »Berg der Erinnerungen«, »Die Gesetze des Vaters«, »Die Steiermark auf Bewährung« und »Graz 1938«. Johannes Kassar, geboren 1980, studierte Geschichte in Graz und Philosophie in Wien. Als r Stipendiat am Graduiertenkolleg »Das Reale in der Kultur der Moderne« an der Universität Konstanz arbeitet er im Augenblick an einer Dissertation zum Thema »Scenes of Disruption. Eine wissenshistorische Analyse epileptischer An-, Aus- und Zufälle«. Helmut Konrad, geboren 1948 im Kärntner Lavanttal, 1984 nach wechselnden Lebensmittelpunkten in Graz gelandet. Dort Professor für Allgemeine Zeitgeschichte. 1987 zum Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät gewählt (1991 wiedergewählt). Von 1993 bis 1997 Rektor der Karl Franzens Universität Graz. Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Beatrix Müller-Kampel, geboren 1958, lehrt und forscht am Institut für Germanistik der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Lachens und der Komik, Österreichisches Theater des 18. und 19. Jahrhunderts, Literatur- und

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Autorenverzeichnis

Theatersoziologie: Gründerin und Leiterin des Forschungs-, Dokumentations- und Lehrschwerpunkts LiTheS. Literatur- und Thatersoziologie am Institut für Germanistik der Universität Graz, http://lithes.uni-graz.at/; gemeinsam mit Helmut Kuzmics Herausgeberin der gleichnamigen Online-Zeitschrift, http://lithes.uni-graz.at/lithes. html. Georg Madeja lebt seit 1943 in Wien. Studium der Germanistik und Theaterwissenschaften abgebrochen um im Theater und Fernsehen zu arbeiten. Tat dies als Regisseur und Drehbuchautor. Das ORF Archiv ist eine Fundgrube für diese Tätigkeiten in nahezu allen Bereichen. Versuche zu Jugendliebe Lyrik zurückzukehren ergaben einen Gedichtband »getrunkene gläser« Weinpoesie. Unter diesem Aspekt ist auch der Beitrag zu verstehen. Jakob Michael Perschy, geb. 1960, aufgewachsen in Neusiedl am See, Matura, Buchhandelsgehilfe, Studium der Europäischen Ethnologie und der Deutschen Philologie, Bibliothekar, Leiter der Burgenländischen Landesbibliothek, veröffentlichte bisher sowohl wissenschaftlich (zur Landeskunde des Burgenlandes) als auch literarisch (Kurzgeschichten und Kinderbücher), lebt in Neusiedl am See und arbeitet in Eisenstadt. Eduard G. Staudinger, geboren 1952, lebt in Leibnitz grenznah zu Slowenien und lehrt an der Abteilung für Zeitgeschichte der Karl-Franzens-Universität und an der Pädagogischen Hochschule in Graz.

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