Erlebnislandschaft - Erlebnis Landschaft?: Atmosphären im architektonischen Entwurf [1. Aufl.] 9783839421000

Lassen sich durch architektonische Entwürfe bestimmte Stimmungen oder Atmosphären erzielen? Ausgangspunkt dieser Frage i

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German Pages 364 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I Einleitung
„Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ Einführung in ein Forschungsprojekt
II Landschaft, Erlebnis, Erlebnislandschaft. Theoretische Annäherungen
Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären
Erlebniswelten und Technikphilosophie
III Der Vergnügungspark BELANTIS und der Freizeitpark „Kulturinsel Einsiedel“. Historische Einordnung und Beschreibung Geschichte des Vergnügungsparks
Landschaftskritik des Vergnügungsparks BELANTIS
Landschaftsanalyse des Erlebnisparks „Kulturinsel Einsiedel“
IV Gestalten und Erleben von Erlebnisräumen. Interviewinterpretationen
BELANTIS: Erlebnisgestaltung zwischen Funktion und Emotion. Interpretation des Interviews mit dem Architekten Herrn Rudolf
„Weil sie hier ’n Stück Oase vorfinden.“ Interpretation des Interviews mit dem Gestalter des Freizeitparks „Kulturinsel Einsiedel“
Zwischen „Klischee“ und „Möglichkeiten“. Die Gestalter im Vergleich
Freiräume für das Erleben? Zur Entwurfspraxis von Landschaftsarchitekten
Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein. Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften
V Resümee
Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Abschließende Betrachtungen zu einem Forschungsprojekt
Autorenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Erlebnislandschaft - Erlebnis Landschaft?: Atmosphären im architektonischen Entwurf [1. Aufl.]
 9783839421000

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Achim Hahn (Hg.) Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?

Architekturen | Band 13

Achim Hahn (Hg.)

Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Atmosphären im architektonischen Entwurf

Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Sigrid Anna Friedreich Satz: Vincent Rasser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2100-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort Achim Hahn | 7

I Einleitung „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ Einführung in ein Forschungsprojekt Achim Hahn | 11

II Landschaft, Erlebnis, Erlebnislandschaft. Theoretische Annäherungen Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären Achim Hahn | 41

Erlebniswelten und Technikphilosophie David Pinzer | 97

III Der Vergnügungspark BELANTIS und der Freizeitpark „Kulturinsel Einsiedel“. Historische Einordnung und Beschreibung Geschichte des Vergnügungsparks Ute Keßler | 123

Landschaftskritik des Vergnügungsparks BELANTIS Ute Keßler | 147

Landschaftsanalyse des Erlebnisparks „Kulturinsel Einsiedel“ Heiko Lieske | 171

IV Gestalten und Erleben von Erlebnisräumen. Interviewinterpretationen BELANTIS: Erlebnisgestaltung zwischen Funktion und Emotion. Interpretation des Interviews mit dem Architekten Herrn Rudolf Jörg Schröder | 201

„Weil sie hier ’n Stück Oase vorfinden. “ Interpretation des Interviews mit dem Gestalter des Freizeitparks „ Kulturinsel Einsiedel “ Stefan Nothnagel | 225

Zwischen „ Klischee “ und „ Möglichkeiten “. Die Gestalter im Vergleich Stefan Nothnagel | 251

Freiräume für das Erleben? Zur Entwurfspraxis von Landschaftsarchitekten Heiko Lieske | 275

Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein. Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften Sigrid Anna Friedreich | 305

V Resümee Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Abschließende Betrachtungen zu einem Forschungsprojekt Achim Hahn und Sigrid Anna Friedreich | 347

Autorenverzeichnis | 359 Abbildungsverzeichnis | 361

Vorwort Achim Hahn

Alle Beiträge dieses Buches einigt der Versuch, Architektur und Erleben in einen konstruktiven und sinnfälligen Zusammenhang zu stellen. Je mehr wir uns damit beschäftigt hatten, desto unverständlicher kam es mir vor, dass diese Thematik architekturtheoretisch nie bearbeitet wurde. Eine erste konkrete Forschungsidee entwickelte sich aus mehreren Gesprächen, die ich vor einigen Jahren mit Henrik Hilbig geführt hatte. Sie war eng verknüpft mit dem Anliegen der Zeitschrift AUSDRUCK UND GEBRAUCH, die „Welt der Architektur“ vermehrt auch aus der Perspektive der Erfahrung der Wohnenden und Nutzer von Architektur darzustellen und zu untersuchen. Dr. Hilbig, Architekt und Architekturtheoretiker in Dornach bei Basel, leitet seit einigen Jahren die Redaktion der Zeitschrift AUSDRUCK UND GEBRAUCH, und es war auch sein Vorschlag, das Forschungsprogramm zu den gebauten Konsumwelten in Sachsen und ihre Rezeption auf die griffige Formel „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ zu bringen. Wir sehen auch heute, nach Abschluss der Arbeiten, keine Veranlassung, von diesem treffenden Titel abzuweichen. Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen, gar nicht denkbar gewesen ohne die Besucher zweier Erlebnislandschaften, die sich bereit erklärt haben, uns bei sich zuhause zu einem Gespräch zu empfangen. Da wir ihnen Anonymität zugesichert haben, kann ich diese Menschen nicht namentlich nennen. Auch den Betreibern zweier Vergnügungsparks bei Leipzig und bei Görlitz sowie den beteiligten Experten, die uns von ihrer Arbeit ausführlich berichtet und uns Einblick in ihre Auffassung vom Erleben gewährt haben, sei ausdrücklich für ihre Zeit und ihr Interesse an unserer Arbeit gedankt. Ich möchte nicht versäumen, mich an dieser Stelle bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu bedanken, die mir diese zweijährige Forschung durch finanzielle Unterstützung bewilligte. Mein herzlicher Dank gilt den Projektmitarbeitern und Projektmitarbeiterinnen Ute Keßler, Sigrid Anna Friedreich, Jörg Schröder, Stefan Nothnagel, David Pinzer, Dr. Heiko Lieske, die sich auf dieses Unternehmen eingelassen und dabei die Grenze ihrer jeweiligen Disziplin mutig überschritten haben, sowie ausdrücklich Sigrid Anna Friedreich, die die

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Endredaktion des Buches verantwortungsvoll besorgt hat. Für die feinen Zeichnungen geht mein Dank an Andreas Fuchs, für Layout und Satz an Vincent Rasser. Dresden und Berlin, März 2012

I Einleitung

„Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ Einführung in ein Forschungsprojekt Achim Hahn „Die anderen standen nicht richtig auf der Erde, in der Gegend, in der Landschaft; nur wie Zinnsoldaten auf einem Fußbrettchen, herausgeschnitten aus dem Grünen oder dem Kies.“ „Es hat jede Affär’ ihren Hintergrund, ihr Milieu, wie man sagt, das Leben ist immer der beste Regisseur: die Kulissen stimmen unsagbar gut zu dem, was gespielt wird.“ H EIMITO VON D ODERER: D IE S TRUDLHOFSTIEGE

1. K UR ZBESCHREIBUNG DES P ROJEK TES Der rasante gesellschaftliche Wandel in den letzten Jahrzehnten brachte unter anderem wesentliche Veränderungen im Konsum- und Freizeitverhalten mit sich. „Schöne“, „spannende Erlebnisse“ werden immer mehr zum zentralen Lebensziel einer ganzen „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze). Als notwendiger Rahmen entwickelten sich neue bauliche Strukturen. Freizeitparks und Konsumwelten dehnen sich immer weiter aus und bilden oft ganze, als in sich abgeschlossen betrachtete „Erlebnislandschaften“. Sie sollen all jene Dienstleistungselemente, aber auch jene Images, „Atmosphären“ und Stimmungen zur Verfügung stellen, die der Besucher z. B. für einen „unvergesslichen Tag“ benötigt. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“, das im Zeitraum von zwei Jahren an der TU Dresden, Fakultät für Architektur, Lehrstuhl für Architekturtheorie und Architekturkritik durchgeführt wurde, hat am Beispiel zweier Erlebnislandschaften in Sachsen untersucht, wie solche „Erlebnislandschaften“ aus den im

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Verlauf der Biographie bzw. Berufsgeschichte entwickelten Denk- und Lebensformen von Architekten und Landschaftsarchitekten entstehen, von Besuchern angeeignet werden und sich in deren Lebensformen auch wieder einfügen und diese beeinflussen. Mit Hilfe ausführlicher offener Interviews suchten wir u.a. nach Konzeptionen, die die Gestalter und Nutzer solcher Anlagen von Erleben, Erlebnis und Landschaft, von erfüllter Freizeit und gelungener Gestaltung entwickeln. An diesem Vorhaben war eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen beteiligt, die sich der Fragestellung aus der Perspektive der Architektur, Landschaftsarchitektur, Soziologie und Philosophie widmeten. In dem vorliegenden Buch finden Sie die Ergebnisse dieser Arbeit. Die folgenden Ausführungen sollen mit den grundlegenden Fragen sowie den theoretischen, methodologischen und methodischen Voraussetzungen des Projektes vertraut machen.

2. A USGANGSSITUATION Gegenwärtig wird in der Architektenwelt viel über Phänomene wie „Atmosphäre“ und „Stimmung“ gesprochen.1 Zum Beispiel rühmen aktive Architekten plötzlich das diesige Wetter, in der ihr Bauwerk steht, wo der gesunde Menschenverstand eigentlich nur den unheilvollen Dunst einer Verkehrsmetropole feststellt. In einem Interview des Berliner TAGESSPIEGEL (v. 27.07.2008) mit dem Architekten Ole Scheeren über dessen spektakuläres Bauwerk in Chinas Metropole liest sich das so: „Herr Scheeren, wo ist Ihr 234 Meter hoher Turm geblieben? Wenn man aus dem Fenster im 29. Stock Ihres Pekinger Büros blickt, sieht man nur Smog. – Ich finde, es liegt eine gewisse Schönheit in dieser Luft, die alles so atmosphärisch weich werden lässt. Wenn man an solchen Tagen auf dem Platz des Himmlischen Friedens steht und die Gebäude um einen herum nur noch als Silhouette erahnt, dann ist das eine sehr spezielle Stimmung. Ich nenne es den „Beijing Blur“. Ob das gesundheitlich so zuträglich ist, ist natürlich eine andere Frage.“2

1 | Erwähnenswert ist der Umstand, dass es parallel zu dieser Häufung in der Architektur innerhalb der Philosophie eine breite Auseinandersetzung mit dem Phänomen der „Atmosphäre“ zu beobachten ist, von der die Architekturtheorie nur profitieren kann, vgl. z.B. Andermann u. Eberlein, Gefühle, 2011. 2 | ht tp://w w w.t ages spiegel.de/zeitungen/Sonnt ag-Architek tur-Ole-ScheerenScheeren-Peking;art2566,2579759 (Abruf am 01.09.2011)

„E RLEBNISL ANDSCHAFT – E RLEBNIS L ANDSCHAFT ?“ E INFÜHRUNG IN EIN F ORSCHUNGSPROJEK T

In einer Architekturkritik unter der Überschrift „das gefühlte Haus“ ist zu lesen: „Schönheit allein genügt nicht. Gebäude brauchen Atmosphäre“3 . Dem Autor nach ist das, was er „Atmosphäre“ nennt, etwas Zusätzliches und stets etwas Positives, sozusagen der ästhetische Mehrwert. Wenn selbiger Autor dann ein Bauwerk als „perfektes, Weltraumkälte ausstrahlendes Artefakt“ beschreibt und meint, diesem damit jede Atmosphäre abzusprechen, dann hat unser Architekturkritiker wohl etwas nicht verstanden: Denn was bringt er mit seinem Eindruck von Weltraumkälte anderes zum Ausdruck als einen reflexiven sprachlichen Bezug auf das Erleben einer Stimmung, für dessen Innewerden er allemal „offen“ sein musste. Mit diesem kleinen Beispiel sind wir schon mitten im Thema dieses Buchs angelangt. In jenen Einlassungen ist man schnell dabei, Erlebnisse, Gefühle und Stimmungen als im architektonischen Entwurf zu manipulierende Reaktionen auf Gebautes zu erklären, statt ernsthaft Fragen nach möglichen Interaktionen zwischen Mensch und Raum, zwischen Raum und Erleben, zwischen gestimmtem Raum und gestimmtem Menschen in Betracht zu ziehen. Wenn überhaupt über Erlebtes und Anschauliches in Bezug auf Architektur nachgedacht wird, dann soll dies der künstlerischen Absicht des Architekten geschuldet sein: Atmosphären als Resultate ästhetischer Inszenierungen. Aber ein Verständnis davon, dass Erleben oder Fühlen die primäre Zugangsweise zur Welt ist, und der Mensch wohl ohne Welt dastünde, fände er keinen Sinn im Sinnlichen, scheint in der Architektur und in der Architekturtheorie nicht weit verbreitet. Wird man mentaler Befindlichkeiten, die man als Leistungen architektonischen Entwerfens vermutet, gerecht, wenn sie als Funktionen eines Gebäudes, gewissermaßen als Funktionen des Baulichen, ausgelegt werden, die man im Entwurf auf gleiche Weise beherrschen können müsse wie ein nach allen Regeln der Kunst abgedichtetes Dach? Ist es denn möglicherweise nicht ein profunder Unterschied von Phänomenen bzw. von situativem oder sachbezogenem Verhalten selbst, ob ich die Funktionstüchtigkeit der Heizungsanlage überprüfe oder ob ein leibliches Wohlsein mich überfällt und in mir die Stimmung von Behaglichkeit aufsteigen lässt? Hier entspricht das Zimmervolumen, das messbar temperiert ist, nicht dem bewohnten Raum, in dem ich mich erlebe. Es wird heute also viel von Atmosphären oder Atmosphärischem gesprochen, jetzt auch von Erlebnislandschaften, die einen unvergesslichen Aufenthalt versprechen, als ob es sich dabei um bekannte Dinge oder Eigenschaften einer Architektur oder Landschaft handele, die nur eine neue Bezeichnung bekommen hätten. Ist das neuerliche Interesse für „räumliche und architektonische Atmosphären“ vielleicht eine Antwort auf den Befund einer Erleb-

3 | http://www.tagesspiegel.de/kultur/das-gefuehlte-haus/966720.html (Abruf am 01.09.2011)

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nisorientierung moderner Menschen?4 Aber erst die architekturtheoretische Einordnung der Phänomene, die gezielt Erkenntnisse anderer analytischer Disziplinen aufnimmt, kann den Herausforderungen, die Emotionen im Umgang mit Architektur bedeuten, wissenschaftlich gerecht werden. Mit dem Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ sollte hier eine erste Klärung gewonnen werden. Versucht man an dieser Stelle vorgreifend einen Überblick der Komplexität der Fragehaltung, die diese Forschung bestimmte, zu geben, so sind folgende Fragen zu stellen: Wie ist ein leibliches und leibhaftes Dasein in einer UmWelt (z.B. einer konkreten Landschaft) überhaupt möglich? Inwiefern setzt diese „Art“ Umgebung voraus, dass Jemand überhaupt von etwas bewegt werden kann, was ihm als Erlebnis widerfährt? Wie ist es zu verstehen, dass Jemand (der Erlebende) sich ausdrücklich auf etwas Erlebtes beziehen kann, z.B. indem er sein Erlebnis anderen mitteilt? Schließlich: In welchem Raum werden architektonische bzw. landschaftsarchitektonische Werke erlebt und verstanden? Diese Themen mögen erwartbar gewesen sein. Aber am Ende steht noch eine Frage vor einem, mit der man überhaupt nicht gerechnet hat: Ist aber nicht das Vorhandensein von Vergnügungsarchitektur auch ein spektakulärer Ausdruck für Bedürfnisse und Wünsche, in einer gebauten Welt zu leben, die (auch) „außer-alltäglich“ anmutet?

3. D ER M ENSCH IN DER A RCHITEK TURTHEORIE Auch bei dieser neu einsetzenden Auseinandersetzung mit dem Thema Mensch und Raum, Stimmung und (räumliche) Stimmigkeit, wird sofort deutlich, wie sich die Architekturtheorie dabei ausrichten muss. Nicht die Architektur, ob als Artefakt, Gebäude, Kunstwerk oder Gegenstand, steht im Mittelpunkt der Disziplin, sondern der Mensch in der Räumlichkeit seines Verhaltens und Verhältnisses zu sich und zu den Dingen seiner Welt.5 Architektur ist in der Welt und nicht etwa ist die Architektur eine Wirklichkeit und Welt für sich. Diese Weltoder besser: Lebensweltthese der Architektur bedeutet, dass die Wirksamkeit des architektonischen Raums in seiner unmittelbar vernehmbaren Wirklichkeit den Menschen betrifft.6 Die Wirksamkeit des Wirklichen lässt sich durchaus nicht als schlicht „vorkommend“ greifen und manipulieren. In der Wirklich4 | Vgl. Schulze, Erlebnisgesellschaft, 1993. 5 | Vgl. Hahn, Architekturtheorie, 2008. 6 | Natürlich ist unser In-der-Welt-Sein nicht allein „räumlich“, sondern stets ebenso von einer bestimmten Zeitlichkeit geprägt. Dies ist uns natürlich präsent, wird hier und da, z.B. bei der Thematisierung der individuellen Lebensgeschichte, deutlich herausgehoben, muss aber dennoch in dieser Arbeit etwas im Hintergrund bleiben.

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keit z.B. einer besonderen „Stimmung“ zeigt sich der Mensch abhängig und angreifbar von Weltlichem wie der „dicken Luft“, die unter den Versammelten vernehmbar ist, wie von „Natürlichem“ wie dem „strahlenden Blau“ des Himmels, das er auch nicht beherrscht.7 Müsste nicht, um solche Begebenheiten wie das Betroffen-Sein von Atmosphären zu begreifen, zunächst die Unterscheidung Körper – Leib produktiv in den Denkstil der Architektur eingeführt werden, wie es andere Disziplinen längst vollzogen haben? Der Körper ist das, was man von sich selbst sieht (z.B. im Spiegel) oder ertastet, während der Leib das ist, was man von sich selbst spürt, ohne irgendeinen einzelnen Sinn dabei zu bemühen ( z.B. wenn man sich dabei betrifft, wie man „vor Freude hüpfen könnte“).8 Der faktische Bezug des Menschen in der ganzen (emotionalen wie reflexiven) Vielfältigkeit seiner Welt zur Architektur (als Wohnen, Entwerfen, Bauen) beschreibt die Aufgaben der Architekturtheorie. Und das „Erleben“ ist eine bestimmte Weise, wie der Mensch zu sich, zur Mit-Welt und zu den Dingen seiner Welt ist. Erlebend begegnen wir den baulichen Gestaltungen, ob sie nun in der Stadt, auf dem Dorf oder auch in so genannten Erlebnislandschaften vorzufinden sind. Wie wir jeweils sind und uns fühlen, das macht die Situation aus, so wie sie uns widerfährt, auf dass wir mit ihr umgehen. In Landschaften finden wir uns dabei umgeben von Häusern, Bäumen, Straßen und anderen Menschen. Erlebend bei den Dingen sein heißt mitten unter ihnen sein, heißt in einer Umgebung anwesend sein. Die Weise des Menschen in der Welt und bei den Dingen zu sein ist räumlich. Hier und Dort, Nähe und Ferne, Oben und Unten sind Leitwörter des lebensräumlichen Da- und Dabei-Seins. Weil dies so ist, kann der Mensch auch die Räume, die ein Bauwerk nach innen und nach außen bildet und begrenzt, erleben. Gebäude und andere Dinge wie Plakatwände, Gärten und Parkplätze differenzieren unsere Alltagslandschaft9 in separate Räume mit unterschiedlichen Anmutungsqualitäten, die wir fühlen und die uns betreffen als eine Weise, wie es ist, hier da-bei, d.h. bei und mitten unter ihnen zu sein. Jede erlebte Räumlichkeit „korrespondiert“ mit unseren Sinnen, die auf Licht, Schall, Luft, aber auch auf Himmel, Erde und Horizont empfindlich reagieren. An diesen ersten Einordnungsversuchen zeigt sich uns sowohl die Notwendigkeit, mit Begriffen in der Architekturtheorie präzise umzugehen, indem wir nicht nur auf eine sorgfältige Beschreibung der Phänomene und Sachverhalte achten, sondern ebenso danach fragen, wie Erlebnisse, Gefühle und Stimmungen auf eine vernünftige Weise sprachlich zum Ausdruck zu bringen sind. Das mitweltliche Ausdrücklichmachen orientiert sich an Worten, die wir als sprachgemäß gestaltete Lebensäußerungen bezeichnen können. Dass Worte 7 | Vgl. Kamlah, Mensch, 1949, S. 116; dort auch weitere Beispiele. 8 | Vgl. Schmitz, Leib, 1998, S. 12 f. 9 | Vgl. Hahn, Alltagslandschaft, 2007.

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etwas „meinen“ oder „bezeichnen“, hängt mit den „Konzeptionen“ zusammen, nämlich unter welcher Hinsicht ein Wort vom Sprecher gebraucht wurde. Das Wort „Bank“ kann ein Finanzinstitut in Dresden oder eine Sitzgelegenheit in BELANTIS meinen (bedeuten). Gewöhnlich antizipieren wir im Sprechen Zusammenhänge und Erfahrungen des Umgangs und Gebrauchs, den wir mit dem im Wort Gemeinten in unserem Leben gemacht haben. „Vernünftig“ heißt nicht irgendeiner allgemeinen Vernunft gemäß, sondern angemessen der sozialen Situation des Erzählens im intersubjektiven Raum eines Gesprächs. Im Gespräch soll ja Einer den Anderen verstehen in seinen Motiven und Erfahrungen. Geschichten und Episoden z.B. haben dabei die Aufgabe, den anderen zur maßgebenden Hinsicht zu führen, zu dem ein „Wort“ – als (Verstandes-)Begriff verwendet – gar nicht hinreichen könnte. Ein Allgemeinbegriff ist niemals in der Lage, ein bedeutsames Erlebnis als ein Ganzes „zu repräsentieren“. Das vermag nur die Geschichte, in die jemand verstrickt ist.10 Denn „das Ganze“ schließt immer schon den Bezug auf ein konkretes Dasein und seine Geschichtlichkeit ein. Auch die Architekturtheorie muss also ihre Begriffe immer wieder justieren entlang lebensweltlicher Konzeptionen des gebrauchenden Meinens und Bedeutens. Erlebnisse, Gefühle und Stimmungen überkommen uns als Befindlichkeiten oder ein Betroffen-Werden von etwas, das wir uns und anderen in ihrer Bedeutsamkeit sprachlich vergegenwärtigen (nach-tragen) können. Dass Gefühle aber gerade in den Bereich stoßen, vor dem unser Sprechen kapituliert, bedeutet zum Sprachbezug der menschlichen Welt als ganze kein Widerspruch.11 Erlebnisse, Gefühle und Befindlichkeiten sind „privat“ oder subjektiv, weil nur ich weiß, wie sich dieses Gefühl für mich anfühlt. In ihrer mitweltlichen Auffassung als Trauer, Freude, Scham usw. sind sie „öffentlich“ bzw. intersubjektiv, insofern ich einmal gelernt habe, Wörter wie Trauer, Freude, Scham „richtig“ zu benutzen.12 In-der Welt-Sein heißt: ich kann nur Weltliches erleben. Dabei ist und bleibt der „erlebte“ Raum meine Umwelt, in der ich mich immer schon bewege und die ich nicht verlassen kann. Sich bewegen und erleben sind untrennbar miteinander verknüpft. Aber Architektur ist nicht identisch mit „dem“ Raum, den es als erleb- und erfahrbaren gar nicht gibt. Architektur ist ein Artefakt, das unterschiedliche Räumlichkeiten oder Verhaltensweisen, sich darauf zu beziehen, ermöglicht, im Inneren des Gebäudes, aber auch außerhalb zum Nachbargebäude, zur Straße, zum Garten beispielsweise. Raum oder Räumlichkeit, sozusagen als eine bedeutsame menschliche Verhaltenskonstante, erschließt sich uns primär und vorwissenschaftlich vom Erleben her. Atmosphären sind 10 | Schapp, Geschichte, 1985. 11 | Vgl. Plessner, Hermeneutik, 1967, S. 555 f. 12 | Vgl. Wittgenstein, Untersuchungen, 1969.

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Wirkungen des „gestimmten Raums“ und diese sind grundlegend für das Verständnis der gesamten menschlichen Räumlichkeit.13

4. E RLEBNISL ANDSCHAF T – E RLEBNIS L ANDSCHAF T ? Insofern sich Räumliches primär vom Menschen her konstituiert, dessen Raum „infrage“steht, aber beispielsweise im Entwerfen thematisch werden muss, benötigen Architekten-Berufe ein passendes Verständnis vom Menschen. Der Mensch agiert nicht nur in seiner Welt, ebenso widerfahren ihm seine Gefühle und wirken Eindrücke auf ihn. Die architekturtheoretische Problemfrage, wie denn Mensch und Raum zu denken seien und ob und wie beides zusammen gehöre14 , taucht nun auf eine überraschende Weise auf: In Zusammenhängen solcher Bauaufgaben, die explizit dem „architektonisch“ gestalteten Vergnügen in einer „gemachten“ Landschaft gelten. Insofern nämlich nun das gewollte „einmalige“ Erlebnis, nicht mehr „nur“ das schlichte und unvermeidbare Leben (im Sinne von LebendigSein), zu einer architektonischen Aufgabe wird. Statt allein von einem „erlebten oder gelebten Raum“ (wie z.B. Bollnow) zu sprechen, ließe sich nun auch das Verhältnis Mensch-Raum in Richtung „Erlebnis-Raum“ bzw. „Raumerlebnis“ auslegen, je ob wir es vom Machen oder vom Empfinden her auffassen wollen. Das Besondere an der „gemachten“ Erlebnislandschaft ist der Umstand, dass sie gerade im Vorgriff auf eine Erlebnistauglichkeit entworfen, hergestellt wurde und aufgesucht wird. In den Aufbau und vor allem den Besuch eines gestalteten Freiraums, dem gegenüber wir nicht nur Zuschauer sind, zu „investieren“, erscheint allein dann sinnvoll, wenn eine Erlebnisorientierung innerhalb moderner Lebensformen unterstellt werden kann.15 Insofern wohnen Erlebnissen, Stimmungen, landschaftlichen Umwelten ein Lebensbezug, eine Bedeutsamkeit inne, die individuell, nämlich im einzelnen Fall, zur Aussprache kommen können.16 Nicht eine Definition von Erlebnis und Landschaft war Ziel unserer Forschungsarbeit, sondern die Intention und Relevanz, das Belangvolle und Befriedigende des erlebten Landschaftlichen für heutige Lebens- und Denkstile wurden erforscht.

13 | Vgl. Bollnow, Probleme, 1962. 14 | Vgl. Bartning, Gespräch, 1951, dann ausführlicher bei Bollnow, Mensch, 1963. 15 | Dazu hat die Studie von Gerhard Schulze „Die Erlebnisgesellschaft“ (1993) allemal Anlass gegeben. Vgl. auch Fellmann, Hermeneutik, 2003. 16 | Vgl. Misch, Logik, 1994, S. 577 f.

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Wie wollen wir uns bei der notwendigen Differenzierung von Raumbegriffen17 auf Landschaft beziehen? Es ist uns eine Tendenz aufgefallen, die von Simmel und Klages über Erwin Straus und Rothacker bis zu Martin Seel reicht. Das Erleben von Raum und seiner Stimmung wird innerhalb dieser Ausrichtung mehr oder weniger explizit mit dem Erleben oder Empfinden vom Raum einer Landschaft identifiziert. Simmel bezeichnet die Stimmung als Qualität der Landschaft, nämlich dass ihre vorwissenschaftliche Anschauung ein Gefühlsvorgang sei.18 Selbst leiblich in einer Landschaft verortet, stehen wir ihren Gegenständen (Bäumen, Gebäuden usw.) nicht gegenüber, sondern erleben uns mitten unter ihnen. Das Leib-Hier wird als Mitte dieses Raums erlebt. Das landschaftliche Raumerlebnis bedeutet dann, um mit Seel zu reden, die Erfahrung, „was es heißt, mitten unter diesen Gegenständen zu sein: in ihrer Nähe und Ferne, in ihrer beengenden oder befreienden, beredten oder stummen Gegenwärtigkeit“19 . Mit Landschaft ist so eigentlich die besondere Weise des gestimmten räumlichen In-der-Welt-Seins bezeichnet und nicht eine geographische oder landesgeschichtliche Benennung getroffen. So sind hier durchaus Weisen im Raum zu sein zu unterscheiden bzw. der „Raum selbst“ kann lebensweltlich verschieden erfahren werden: z.B. als alltäglicher Handlungs- und Orientierungsraum und als besonders „gestimmter“ Raum.20 So bekommt unser Titel „Erlebnislandschaft“ eine spannende Doppelbödigkeit, die uns herausgefordert hat. Ein Vergnügungspark ist dann eine Erlebnislandschaft nur unter der oben beschriebenen Hinsicht und Perspektive.

5. E IN WEITES UND EIN ENGES V ERSTÄNDNIS DES A RCHITEK TONISCHEN Im Verlauf unseres Forschungsprojektes haben wir mittels offener Interviews Beschreibungen, Argumentationen, Deutungen und Alltagstheorien der „Macher“ solcher Landschaften gewonnen, die sich in ihrem Tun auf ihr Verständnis von Erlebnissen verlassen und damit professionell umgehen müssen. Dafür wurden von uns die beiden Landschaften BELANTIS bei Leipzig und die „Kulturinsel Einsiedel“ bei Görlitz ausgewählt. Zum einen wollten wir in Sachsen forschen, zum anderen glaubten wir, mit den beiden Landschaftsparks verschiedene Beispiele zu haben, die auch architekturtheoretisch hinreichend interessant zu sein versprachen. Aber – so wird man fragen – gehört denn das 17 | Prägnante Unterschiede im Raumverständnis, auf die wir uns immer wieder beziehen, hat Lenelis Kruse herausgearbeitet. Kruse, Umwelt, 1974. 18 | Vgl. Simmel, Landschaft, 1913, S. 138. 19 | Seel, Ästhetik, 1996, S. 61 (Hervorhebungen im Original). 20 | Vgl. zu dieser Unterscheidung Kruse, Umwelt, 1974.

„E RLEBNISL ANDSCHAFT – E RLEBNIS L ANDSCHAFT ?“ E INFÜHRUNG IN EIN F ORSCHUNGSPROJEK T

„Entwerfen und Bauen“ von Erlebnislandschaften überhaupt ins Aufgabenfeld des Architekten und Landschaftsarchitekten?21 Geht es dabei nicht um Bühnenbilderei, um Kulissenarchitektur? Um dieser berechtigten Deutung Rechnung zu tragen, haben wir zwischen einer engen und einer weiten Auffassung des Architektonischen unterschieden. Wie der einzelne Gestalter sich in diesem Spektrum orientiert, lässt sich gut aus Gesprächen mit ihm erschließen, da er dort das eigene Selbstverständnis praktisch anwendet. Vor allem eine Entwurfsaufgabe wie die der „Erlebnislandschaft“ stellt Architekten vor das Problem, über die Erlebnistauglichkeit architektonischer, d.h. konzeptionell unterlegter Werke, unterrichtet zu sein. Wie können Erlebnisse (neben Nützlichkeit, Konstruktion, Gestaltung und Wirtschaftlichkeit) zu einer weiteren „Funktion“ des architektonischen Entwurfs werden? Und sollten sie dies überhaupt? Wie gehen „weiche“ Faktoren wie Gefühl und Stimmung in den von der Profession und ihren Kritikern praktizierten Denkstil ein? Allein schon Anspruch und Erwartung einer Bauaufgabe wie „Vergnügungspark“ erfordert ein grundsätzliches Eingehen auf die Erlebnisbedingungen architektonischer und landschaftsarchitektonischer Gestalten. Dabei spielt offensichtlich ebenso das Problem herein, was es überhaupt sei, das an einer Architektur in einem weiten Sinne erlebt werden kann. Hält der Denkstil der professionellen Architektur, zu dem wir ebenso Praktiker wie die einschlägige Kritik rechnen, dafür Antworten bereit?22 Um in dieser Richtung überhaupt architektur-theoretisch voranzukommen, müssen also Antizipationen im Begriffsverständnis des Architektonischen geklärt werden. Wir haben deshalb, wie angedeutet, unterschieden zwischen einem engen Begriff von Architektur und Architektonischem, wie er einen modernen Denkstil des Architekten sowie berufsständische Professionalisierungen und Institutionalisierungen prägt und entsprechend auf, in der Regel, staatlichen Architekturschulen so eingeübt wird, dass man ihn „blind“ beherrscht, und einem weiten Verständnis des Architektonischen, wie er von sozialen Gruppen und Individuen gebraucht wird, die ihre Werke möglicherweise auch (aber nicht notwendig) „Architektur“ nennen, sich selbst aber nicht Architekten im berufsständischen Sinne nennen dürfen bzw. auch gar nicht nennen wollen. Mit dieser Unterscheidung ließen sich, wie sich zeigen wird, die beiden Erlebnislandschaften BELANTIS und „Kulturinsel Einsiedel“ architekturtheoretisch auf eine interessante Weise vergleichen. Zum Umkreis eines weiten Verständnisses des Architektonischen können „Macher“ gezählt werden, die wie Handwerker, Bastler, Autodidakten, Quereinsteiger, Künstler, Hobby21 | Diese Frage wird intensiv von Landschaftsarchitekten im Text von Heiko Lieske „Freiräume für das Erleben? Zur Entwurfspraxis von Landschaftsarchitekten“ vorgebracht und diskutiert. 22 | Hier sei noch einmal auf die Beispiele zu Beginn dieser Einleitung verwiesen.

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bauleute usw. auf ein eigenes „Berufs“-ethos eingeschworen sind und die sich darin vom ersten, dem engen, Verständnis des Architektonischen unterscheiden, nämlich dass es ihnen nie in den Sinn kommen könnte, dass ihr „Haus“ nicht „echte“ Architektur sei. Sie denken gar nicht in den Kategorien von echter und unechter, richtiger und falscher, eigentlicher und uneigentlicher, authentischer und nicht authentischer usw. Architektur. Sie müssen sich auch nicht in ihrem Selbstverständnis als „wirkliche“ Architekten verstehen, da sie nie eine Architekturfakultät besucht haben, wo ihnen ein Verständnis von „richtiger“ Architektur hätte beigebracht werden können. Das Ziel derjenigen aber, die an „wahrer“ Architektur interessiert sind (ihrem Denkstil und Selbstverständnis entsprechend interessiert sein müssen), ist, innerhalb der Profession und ihres kollektiven Denkstils anerkannt zu werden und sich offiziell Architekten nennen zu dürfen.23 Diese Unterscheidung ist also wichtig, da wir in unserem Buch mit der These arbeiten, dass die Bauten und landschaftlichen Gestaltungen innerhalb der von uns untersuchten Erlebnislandschaften insgesamt als architektonisch aufzufassen sind, egal welches Selbstbild der Macher sich und welches Dingverständnis er seinen Gestaltungen zugrunde legt. Nicht nur das Thema der Bauten betrifft beide Untersuchungsgebiete, ebenso ist beider Landschaftsraum, der in BELANTIS und der in „Kulturinsel Einsiedel“, ein architektonischer Raum im oben genannten Sinne. Das Bedenken und Entwerfen des architektonischen Raums und seiner Gestaltungen sowie dann die Methoden, im Entwurf praktisch in Betracht zu ziehen und zu verwirklichen – dies sind einige zentrale Fragen, deren Klärung uns mit unserem Forschungsprojekt am Herzen lagen.

6. M E THODOLOGISCHE H INTERGRÜNDE Eine gewisse Herausforderung bedeutete es für uns, das Thema des „räumlichen Erlebens“ nicht allein begriffsanalytisch abzuarbeiten, sondern eigenes empirisches Material zu erheben, dessen Interpretation uns überhaupt erst in die Lage bringen würde, „Erleben“ in den Wirklichkeitserfahrungen, die Menschen mit Erlebnislandschaften gemacht haben und denen der „Umgang mit räumlichen Erlebnissen“ überhaupt ein Anliegen ist, zu identifizieren. Der Umgang mit dem eigenen oder dem Erleben anderer ist in unserer alltäglichen Sprachpraxis der Weltdeutungen aufgehoben – aber wie? Wie stellt man es am besten an, dass Menschen sich ihren Erlebniserfahrungen auch (explizit) sprachlich-reflexiv zuwenden können und wollen? Nachträglich (zum Erleben) muss das gesprochene Wort jene Grenze überschreiten, die zu passieren ihr im

23 | Vgl. dazu auch Will, Autorität, 2006.

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„gelebten Augenblick“ des leiblichen Betroffenseins nicht möglich war.24 Dieser Herausforderung waren wir uns sehr wohl bewusst. Zum Erlebnis wird das Erlebte möglicherweise erst dann, wenn es als ein solches Erlebnis hinsichtlich seiner Bedeutsamkeit erzählt wird.25 Die Beispielhermeneutik26, die uns schon in anderen Projekten methodologisch unterstützt hat, arbeitet notwendig mit Beispielen, wobei es ihr nicht auf die Menge ihrer Beispiele ankommt, sondern darauf, dass die Beispiele zu der Welt gehören und deren typische Situationen beschreiben, über welche die Wissenschaft etwas erfahren will. Es sind nur bestimmte Beispiele, die infrage kommen, insofern sie die prinzipiellen Umstände dieser Welt treffen. Diese „Welt“ besteht in unserem Fall aus dem Machen und Gestalten von Erlebnislandschaften in architektonisch-gestalterischer Absicht sowie der lebensweltlichen Rezeption solcher Räume in erlebnis-orientierter Perspektive. Die Protagonisten unserer Forschung müssen also diesen Welten und ihren sozial eingeübten Sprachspielen und „Sprachverwendungshandlungen“27 zugeordnet werden können, darin nicht nur sich auskennen, sondern in sie verstrickt sein, obzwar die Welten und deren bestimmte Umstände selbst erst im Forschungsprozess ihre spezifische Deutlichkeit gewinnen. An den Beispielen interessiert, dass sie die Forschung auf etwas Prinzipielles führen. Denn allein das besondere, konkrete Beispiel leitet uns zu dem, wofür es Beispiel ist. Das hermeneutisch entdeckte Prinzip ist der eigentliche Ertrag, der freilich nie zu gewinnen wäre ohne die konkreten Beispiele, die erst das relevante Forschungsfeld abstecken, öffnen und den Weg zu jenem Prinzip zeigen. So ist das Sich-Erschließen der Beispiele und der hermeneutische Umgang mit ihnen die Bedingung, lebensweltlich wirksame Prinzipien einer Welt zu verstehen. Wenn wir nach biographisch bedeutsamen „Erlebnissen“ und belangvollen „Landschaften“ fragen, dann interessiert uns gerade der Vorgang, wie unsere Gesprächspartner Erfahrungen mitteilen, die durch Ähnlichkeiten untereinander einen konkreten Bezug aufeinander zeigen. Verschieden erlebte Bedeutsamkeiten schließen sich ihnen als „verwandt“ zusammen nicht aufgrund von Synthese und begrifflicher Präzision, sondern durch sich anbietende Analogien und 24 | Georg Misch hat darauf aufmerksam gemacht, dass „es doch immer ein großer Unterschied (bleibt), ob ich erlebend bei etwas bin oder in etwas aufgehe oder ob ich aussage, was ich da erfahren habe, fühlend, strebend, u.s.f.“ Misch, Logik, 1994, S. 333. 25 | Dies jedenfalls ist die Überzeugung vom Josef König, dem wir hier im Großen und Ganzen folgen werden. Vgl. König, Natur, 1978. 26 | Wir haben uns dafür entschieden, unsere Fragestellungen beispielhermeneutisch zu bearbeiten. 27 | Nach Wittgenstein klären sich Bedeutungen im praktischen Gebrauch tatsächlicher Wortverwendungskontexte: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ In: Wittgenstein, Untersuchungen, 1969, § 43.

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naheliegende Parallelen, die Wittgenstein mit dem passenden Wort „Familienähnlichkeiten“ benannt hat.28 Insofern geeignete Beispiele nicht immer schon vorliegen, muss die Forschung sie generieren, sie einer sozialen Welt abgewinnen. Dies unternimmt sie durch das Erzeugen von sprachbasierten Dokumenten, in denen sich die konkrete Bedeutsamkeit von lebensweltlicher Orientierung und Erlebniserfahrung niederschlagen kann. Ein entsprechender reflexiver Bezug liegt nämlich in der (methodologisch gewünschten) sprachlichen Konkretisierung nicht unbedingt schon vor, sondern stellt sich erst im Rahmen eines Kommunikationsprozesses heraus, der deshalb von Forscherseite initiiert werden muss. So wurden bei Forschungsaufenthalten in den beiden Erlebnislandschaften Besucher angesprochen und um ein Gespräch gebeten, das wir dann in der Regel bei ihnen zu Hause geführt haben. Dabei thematisierten wir, ausgehend von Erfahrungen mit den gestalteten Landschaftsparks, auch weitere Landschaftserlebnisse, wobei uns vor allem deren lebensgeschichtliche Bedeutung interessierte. Ebenso organisierten wir so genannte Expertengespräche, bei denen wir uns mit dem Architekten bzw. Gestalter der Anlagen über ihr konkretes Verstricktsein unterhielten. Die leitfadengestützten Interviews fixierten biographische Ausgangssituationen und Verläufe, Berufsgeschichten und auch Gestaltungsentscheidungen für die Planung der Erlebnislandschaften, die wir dann auch untereinander kontrastieren konnten. Deshalb wurden alle Gespräche elektronisch aufgezeichnet und wortwörtlich in einen Text verwandelt, um das gesprochene Wort einer hermeneutischen Interpretation zur Verfügung zu stellen. Die Horizonte der Sprache bedeuten die Horizonte der Welt der Sprecher. Die nur in Gesprächssituationen erreichbaren Zugänge zu den Welten unserer Kommunikationspartner eröffneten der Forschergruppe einen Einblick, mit welchen „Erfahrungen mit Erlebnissen“ von „Machern“ und „Konsumenten“ eine explorative Wissenschaft überhaupt rechnen kann und umzugehen hat. Was der hermeneutischen Forschung zur Interpretation vorliegt, ist also etwas spontan Erzeugtes, ein ausdrückliches Denken, dessen Wirklichkeit erst zu entdecken ist. Schließlich haben wir es doch mit „aufgezeichneten“ Mitteilungen jener Welt zu tun, in denen Erlebnisse und Erlebnislandschaften relevant sind, mit Text-Protokollen einer sprachlich verfassten, sinnhaft aufgefassten Welt, für deren Prinzipien wir uns interessieren. Eine empirische Untersuchung über Erlebnisse, Empfindungen und Stimmungen unterscheidet sich von anderen Forschungen darin, dass das Vorkommen ihres Gegenstands, hier allgemein: Gemütszustände, nicht beweisbar ist. Wie es sich für jemanden anfühlt, wenn er ein gewisses Gefühl hat oder in einer bestimmten Stimmung ist, das lässt sich nicht beobachten oder mit ei-

28 | Wittgenstein, Untersuchungen, 1982. §§ 66 f.

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ner technischen Vorrichtung messen.29 Wir sind also darauf angewiesen, dass uns jemand davon wahrhaftig erzählt, wie es für ihn „emotional“ gewesen ist, als er z.B. bestimmte Orte im Erlebnispark BELANTIS besuchte. Wahrhaftigkeit ist ein Eindruck vom Anderen, der in intersubjektiven Situationen, auch Forschungssituationen, sich einstellt oder ausbleibt. Wir lenkten die Gespräche aber auch auf andere Landschaften und Räume, um daraus zu lernen, wie die von uns „interviewten“ Menschen Erlebnisse, die eine lebensgeschichtliche Bindung an Aufenthaltsgegenden aufweisen, beschreiben und (biographisch) einordnen und darin sich auch selbst auslegen. Es geht ja nicht nur darum festzustellen, dass jemand in einer bestimmten Stimmung war bzw. sich an ein bestimmtes Gefühl erinnert, sondern ebenso darum, wie es für ihn heute ist, was es ihm noch bedeutet, diese Stimmung oder dieses Gefühl verspürt zu haben. In dieser Perspektive tut sich das komplizierte Feld der Lebensform auf, also die Frage nach den leitenden Gewissheiten und Überzeugungen eines guten und gelingenden Lebens. Empfindungen, Gefühle und Stimmungen als besondere Weisen des In-der-Welt- und Bei-den-Dingen-Seins sind Phänomene, die texthermeneutisch erschlossen werden können. Die Welt, in der Stimmungen und Gefühle aufkommen und bemerkt werden, ist keine von berufenen Beobachtern, und keine, die auf kausale Schlussfolgerungen abzielt. Unsere Gesprächspartner waren auch nicht in unserem Auftrag als Detektive in Landschaften unterwegs und ihren Emotionen auf der Spur.30 Unsere Forschung hat sich von methodologischen Voraussetzungen leiten lassen, die darin übereinstimmten, dass im „öffentlichen Raum“ der Umgangssprache Erfahrungen mit eigenen Gefühlen und Stimmungen verbindlich ausgetauscht werden können. Jeder von uns hat einmal gelernt, was Erlebnisse, was Stimmungen sind, wie wir auch gelernt haben, die Wörter „denken“ oder „Landschaft“31 zu benutzen. Das Lernen dieser „Konzeptionen“ (Hans Lipps) ist eingebettet in einen fraglos gegebenen Lebenszusammenhang, den Wittgenstein „bestimmte Umstände“ genannt hat: „Man lernt das Wort ‚den29 | Vgl. dazu z.B. auch die kritischen Bemerkungen bei Demmerling u. Landweer, Philosophie, 2007. 30 | Vgl. Ryle, Begriff, 1969. Ryle hat das qualitative Interesse an Gemütszuständen gut beschrieben: „Das gesprächsweise Geständnis von Stimmungen verlangt nicht Scharfsinn, sondern Offenheit. Es kommt vom Herzen, nicht vom Kopf. Es ist nicht Entdeckung, sondern freiwilliges Nichtverbergen.“ (S. 134) Mit entsprechenden Erwartungen und kommunikativen Einstellungen wurden von Forscherseite die Gespräche begleitet. Wir waren bemüht, eine alltags-ähnliche Gesprächssituation einzurichten, die unseren Partnern versichern sollte, dass wir gerade an ihren Erlebniserfahrungen großes Interesse haben. Nichts liegt uns ferner, als dem eigenleiblichen Spüren mit Misstrauen zu begegnen. 31 | Vgl. dazu auch Friedreich u Hahn, Erleben, 2010, S. 9, Anm. 2.

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ken‘, d. i. seinen Gebrauch, unter gewissen Umständen, die man aber nicht zu beschreiben lernt. Aber ich kann einen Menschen den Gebrauch des Wortes lehren! Denn dazu ist ein Beschreiben jener Umstände nicht nötig. Ich lehre ihn eben das Wort unter bestimmten Umständen“ 32 . Zu diesen Umständen hat jedermann Zugang, der die Gepflogenheiten, sich in diesem Lebenszusammenhang sprachlich-pragmatisch zu bewegen, beherrscht, der damit Bescheid weiß, Wörter wie Erlebnis und Stimmung intersubjektiv zu gebrauchen. Z.B. ergeben sich in Erlebnislandschaften, die man aufsucht, um einen „unvergesslichen Tag“ zu verbringen, bestimmte Umstände der Situationserwartung und -bewältigung, deren sprachlicher Vollzug vielleicht „unter anderen Umständen“ gelernt wurde. Die bestimmten Umstände früher und jetzt müssen allein sich in ihren lebensweltlichen Belangen ähneln. „D.h. die Sprache funktioniert als Sprache nur durch die Regeln nach denen wir uns in ihrem Gebrauch richten.“33 Dabei gibt es eine gewisse eingespielte Regelmäßigkeit zwischen dem Verhalten und der Situation, die ebenfalls gelernt wurde. Diese Regeln und ihre konkreten Anwendungsfälle lassen sich nicht wie Rechen-Regeln stur verfolgen, sondern sind in ähnlichen Situationen als das je passende Verhalten gekonnt zu variieren.34 Um es noch einmal zu betonen: Was sich „in Erlebnissen“ ausdrückt und verstanden werden kann, sind nicht spezifische „seelische“ (innere oder binnen-räumliche) Vorgänge, die sich „draußen“ zeigen und beobachtet werden können, sondern ein Verhalten, das als solches stets umweltbezogen ist, d.h. im „öffentlichen“ Raum der Mitwelt auftritt. Was Langeweile ist, haben wir in verschiedenen Handlungssituationen mit ihren typischen Umgebungen erlebt. Wie uns dabei ist, identifizieren wir als „mir ist langweilig“ mit der Zeit immer besser. Die physiologische Quelle des Erlebens ist nicht unmittelbar einsichtig zu machen, da das Erleben beim Erleben nicht beobachtet werden kann. Methodologisch wesentlich ist hier aber die Einsicht, dass die Besucher darüber sprechen können, welche „Ablagerungen“ die Erlebniswirklichkeit der „Erlebnislandschaft“ bei ihnen hinterlassen hat. Solche Sedimente nennen wir Erlebnisse bzw. Erfahrungen. Darunter verstehen wir das Bleibende von Aufenthalten in „gestimmten Landschaften“. Bleibend heißt: Menschen erinnern entsprechende Stimmungen als den andauernden Erlebnisgehalt bestimmter Eigen- und Aufenthaltsgefühle. Die Möglichkeit, sich zu erinnern, setzt voraus, dass jene Geschehnisse irgendwelche Akzente von Bedeutsamkeit hervorriefen, die noch anhalten. Wir haben also nach den Landschafts- oder Raumerfahrun32 | Wittgenstein zitiert bei Giegel, Logik, 1969, S. 87. 33 | Wittgenstein zitiert bei Hintika u Hintikka, Untersuchungen, 1996, S. 310, Anm. 3. 34 | Hilge Landweer spricht von einer habituell ausgebildeten „Grammatik der Gefühle“. Kulturen können eine je unterschiedliche Empfänglichkeit von Emotionen für ihre Mitglieder hervorbringen. S. Landweer, Verständigung, 1995, S. 81.

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gen gefragt, um in einer entsprechenden Erzählung dem Stimmungsmäßigen ebenso wie den Befindlichkeiten begegnen zu können. Allein dieser vermeintliche Umweg, der uns zu der Erfahrung des Erlebten führt, verspricht einen kommunikativen Zugang zu den Modalitäten eines Erlebnislandschafts-Erlebnisses. Inwiefern solche Erlebniserfahrungen ganze Lebensformen betreffen können, wird an geeigneter Stelle zu zeigen sein.

7. D AS H ERSTELLEN VON E RLEBNISSEN ALS ARCHITEK TURTHEORE TISCHES THEMA Geben uns Meinungen über Empfindungsqualitäten Auskunft über Aufenthaltsqualitäten in gestalteten Räumen? Wenn ja: Wie lässt sich eine solche Einsicht in Gestaltung umsetzen? Unsere Untersuchungen werden dem Leser zeigen, dass sowohl bei den Besuchern als auch bei den Machern von Landschaften ein Zusammenhang von Erleben und Befindlichkeit gesehen wird. Besucher z.B. nehmen sich im nachträglichen Reden selbst wahr als Erlebende, die an sich die Bereitschaft festgestellt haben, z.B. mit „Haut und Haaren“ in einen Raum eingetaucht gewesen zu sein und die in der Lage sind, darüber sich Rechenschaft (als bleibendes und damit bedeutsames biographisches Vorkommnis) zu geben: Wie ist es gekommen, dass wir uns so ganz und gar „vergessen“ konnten? Dabei geht es ihnen auch um eine Wertschätzung der gemachten Erfahrung: Offensichtlich haben die Gestalter ihre Sache „gut“ gemacht. Die Besucher untersuchen dann die räumlich-technischen Installationen auf ihre trickreiche Machart hin und beurteilen ebenso die Bemühungen der Verantwortlichen, dass und wie diese für Spaß gesorgt haben. Auch die Macher kennen aus eigenem (kindlichen) Erleben dieses Wegtauchen, hier und jetzt aber stehen sie vor dem Problem, dafür eine „Bühne“ schaffen zu müssen. Sie meinen, um die „Privatheit“ des Erlebens zu wissen, zugleich verfolgen sie das veröffentlichte Sprachspiel der Experten, um mehr „über Erlebnisse“ zu erfahren. Der Besucher erinnert sich, wenn nach seinem Erleben gefragt wird, an eine bestimmte Stimmung oder vielleicht auch an Gefühle körperlicher Ausnahmezustände, in denen er auf ähnliche Weise schon einmal war. Die Macher sind davon ausgegangen, dass sie etwas bereitstellen müssen, was die Menschen in eine bestimmte Stimmung versetzt, damit sie etwas erleben. Der Denkstil des „Machens“ sieht in dieser Logik den „Zweck“ bzw. die zentrale „Aufgabe“ von Vergnügungsarchitektur. Und die Perspektive, aus der heraus der Architekt und Gestalter auf Erlebnisse schaut, ist hier durchaus eine „funktional-mechanische“. Man hat es nicht anders kennengelernt.35 Ein Bau-Ensemble soll ein bestimmtes Erleben (Erinnern) erzeugen bzw. bewirken. Dafür, so meint man, 35 | Vgl. kritisch dazu: Hahn, Architekturtheorie, 2008.

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müsse es nur mit einer gewissen (bekannten) Bedeutung aufgeladen sein, so werde es die gewünschten Reaktionen verursachen. Dem Bewirken-Können, nämlich kausale Wirkungen vorherzusehen, liegt ein „technisches“ Verständnis als Vor-Urteil über menschliches Verhalten zugrunde. Das Erlebnis wird in diesem Verständnis als ein Sachverhalt gedacht, der auf eine Ursache zurückgeführt werden kann. Das Bewirken des Sachverhalts „gute Stimmung“ erscheint hier als der wahre Zweck der architektonischen Erzeugung. Dieser Denkstil setzt den Besucher einer Erlebnislandschaft als ein dem architektonischen Handeln und seinen Erzeugnissen gegenüber stehendes „Objekt“ voraus, auf dessen jeweilige Stimmung so eingewirkt werden kann, dass darin eine „positive“ Veränderung eintritt. In dieser durch architektonisches Handeln („optisch-bildliches“ Entwerfen, Gestalten eines szenischen Landschaftsraums usw.) und seinen konkreten Hervorbringungen (begehbare Bauten, bemalte Kulissen, Wege, Plätze, Schluchten usw.) verursachten Veränderung eines bekannten Sachverhalts A („dumpfe“ Stimmung) in einen bekannten Sachverhalt B („gehobene“ Stimmung) besteht dann die Verwirklichung des Zwecks des gestalterischen Tuns. Die Stimmung ist dann ein manipulierbarer körperlicher Zustand, der einem Menschen wie eine (temporäre) Eigenschaft zukommt.36 Sind aber Erlebnisse und Stimmungen überhaupt als einfach vorkommende Sachverhalte 36 | In seinem Text „Qualitatives Denken“ (2003) hat John Dewey auf die seiner Meinung nach wenig bedachte Unterscheidung zwischen den Eigenschaften und den „Qualitäten“ eines Menschen hingewiesen. Dewey schildert dieses Problem als ein Phänomen einer Sprachlogik. Was vernimmt der gewöhnliche Alltagssinn, wenn er den Satz hört: „Der rothäutige Indianer ist stoisch“? Die klassische Logik, behauptet Dewey, interpretiere qualitative Bestimmungen als feste Eigenschaften von Objekten. Entsprechend dieser Aussagelogik hätte der Indianer zwei Eigenschaften aufzuweisen: Rothäutigkeit und Stoizismus, oder anders ausgedrückt: er gehörte zu einer bestimmten Klasse von rothäutigen bzw. stoischen Gegenständen. Dies kann aber nicht der gemeinte Sinn der Aussage sein. Vielmehr muss von folgendem Sinn ausgegangen werden: „(D)ie amerikanischen Eingeborenen (waren) durch und durch von einer gewissen Qualität durchdrungen, statt Gegenstände zu sein, die eine gewisse Qualität zusammen mit anderen besitzen. Er lebte, handelte, litt stoisch.“ (S. 96) Dewey ist der Auffassung, dass man Qualitäten von Gegenständen, Menschen usw. nicht wie Eigenschaften beobachten und feststellen kann, vielmehr müssen sie „erlebt“ werden. Erleben ist qualitatives Erfassen. Im Fall der Erlebnislandschaft ergeht sich das architektonische Können zunächst im Verfügungswissen über (vermeintlich) neutrale Sachverhalte und überträgt diese unter Rückgriff auf erlerntes Herstellungswissen in einen gestalterisch-räumlichen Entwurf, dem eine allgemeine Bedeutung attestiert werden kann: Innerhalb unseres Kulturkreises ist eine Pyramide oder ein Märchenschloss ein bekanntes Element, auch wenn wir vielleicht nicht verstehen, was sie gerade an diesem Ort bei Leipzig bzw. Görlitz sollen.

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zu deuten, die auf kausalen Gesetzmäßigkeiten beruhen und entsprechend manipuliert (erzeugt) werden können? Dies ist eine architekturtheoretische Frage, die ins Zentrum des Verhältnisses von Erleben und Raum zielt. Innerhalb jener Kausalität des Bewirkens gibt es jedenfalls, so meinen wir, keinen Platz für die Selbständigkeit und Eigenwilligkeit der „Objekte“ und für ihr lebensweltliches Aufgeschlossen-Sein für Belangvolles. Wirkungen und Anmutungen sind Widerhalle eines aktiven Vermögens, sich im Erleben über die „Dinge im Raum“ zu orientieren. Es kann also nicht eingleisig von einem Einwirken der Dinge auf mich oder allein von einem erlittenen, passiv Bewirkt-Werden die Rede sein.37 Es fehlt diesem von mir hier grob skizzierten „Denkstil des Machens“ aber auch ein Verständnis für jene leibliche Situation im landschaftlichen Raum, was es nämlich heißt, sich mitten in einer Umgebung von Dingen unter Aspekten des lebensgeschichtlich Bedeutsamen zu erleben.38 Deshalb müsste sich das sachliche Wissen dem Orientierungswissen lebensweltlicher Bezüge einzugliedern versuchen.

8. A USBLICK Übertragen wir nun dieses Ergebnis auf die Architekturkritik. Wenn von Atmosphären (Gefühlen, Stimmungen) im leib-phänomenalen Sinne und Verständnis die Rede ist, dann befinden wir uns im gestimmten (Binswanger)39 bzw. präsentischen (Straus)40 Raum. In der Architekturkritik ist das in der Regel anders. Man meint, Stimmungen und Atmosphären gingen allein auf das bilder-entwerferische Talent des Architekten zurück. Das zeigt, dass die Architekturkritik bei Phänomenen des (räumlichen) Erlebens weiter im Darstellungsraum der „künstlerischen“ Einbildungskraft unterwegs ist.41 In diesem Raum verfügt der Künstler nicht nur autonom über Dinge, sondern ebenso über ein Erlebnisverhalten. Wir meinen aber, dass das leibliche Erleben von räumlichen Qualitäten allein im Zuge der Bewegung im „gestimmten Raum“ statt hat. Sich im architektonischen oder landschaftlichen Raum zu bewegen ist notwendige 37 | Vgl. Kaulbach, Einführung, 1982, S. 22. 38 | Diesen Themen wird nachgegangen im Aufsatz des Autors „Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären“ in diesem Band. 39 | Binswanger, Raumproblem, 1933. 40 | Strauß, Formen, 1930. 41 | Der Begriff Darstellungsraum ist der „Ästhetik“ Georg Pichts entnommen: „Die Einbildungskraft bewegt sich nicht im Leeren. Sie bedarf eines Raumes, in den hinein sie ihre Bilder projiziert. Wir nannten diesen Raum den Darstellungsraum der Einbildungskraft.“ Picht, Kunst, 1996, S. 264. Dies müsste freilich noch eingehender untersucht werden, wozu hier leider der Platz fehlt.

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Voraussetzung des Erlebens, verursacht es jedoch nicht kausal. Architektur und Landschaft machen nicht eine Stimmung, sondern rufen sie hervor, wecken sie in uns. Mit den Erlebnisparks, so geben auch die Interviewauswertungen zu verstehen, scheint es so zu sein, dass der Aufenthalt dort die Besucher in Stimmungen fallen lässt, die sie zugleich öffnen für das Haben von Empfindungen, Gefühlen und schließlich von Erlebnissen. Das In-Blick-Nehmen von Landschaft und ihren Architekturen ist an eine Aufmerksamkeitsbereitschaft gekoppelt, insofern die Situationen, in die man sich umständehalber verstrickt, eine entsprechende Erregung tatsächlich entbinden. Es sind dann solche räumliche Anmutungen und Stimmungen, in denen man sich ansonsten, also außerhalb des Erlebnisparks, nicht befindet. Auffällig ist aber, dass entsprechende Erlebnisse mit erinnerten Gefühlen und Stimmungen der eigenen Biographie verbunden werden, als ob anders das aktuelle Gestimmt-Sein nicht eintreten und begreifbar werden kann. Insofern im Umgang mit architektonischen Räumen etwas Bedeutsames erlebt wird, kann dies den Einsatzpunkt bilden, das „Wie“ des Gebauten und Gemachten verstehen zu wollen. Es ist z.B. das VersetztSein in Kinderzeiten, also in leiblich-biographische Situationen mit typischem Stimmungswert, das Haben von Gefühlen, die der alltäglichen Gegenwart doch entrückt und von dieser unendlich entfernt und lebensgeschichtlich gänzlich überholt erscheinen. Gegenden einer Erlebnislandschaft werden (plötzlich) zu „gestimmten“ Räumen, insofern sie ein besonderes (überraschendes) „Umgebungsgefühl“ wie eine Atmosphäre aufkommen lassen und erlebbar machen, von der man überwältigt wird. Was bedeutet es aber, wenn ein „Umgebungsgefühl“ nicht eintritt? Das ist die spannende Frage. Die Qualität des „landschaftlichen“ Raums liegt, so legen es die Beschreibungen der Interviewpartner und -partnerinnen nahe, im Erleben seiner „Ganzheit“. Vor allem diese Ganz- und Einheit wird als besondere Stimmung empfunden. Nicht einzelne Teile werden additiv dinglich wahrgenommen, sondern das Phänomen des Zusammengehörens, des Stimmigen, des Passens aller Teile zu einer kompakten Umgebung machen den Eindruck zu einem besonderen Erlebnis. Wird die Alltagswelt außerhalb der Parks in ihrer räumlichen Segmentierung eher als langweilig und uninteressant erfahren, sticht im Landschaftlichen gerade die Qualität des in sich Stimmigen (Harmonischen) heraus. Alles passt nicht nur zusammen, sondern ich erlebe mich selbst als wesentliches Moment inmitten dieser Einheit. Aber entsprechende Emotionen ereignen sich nicht unfehlbar und ununterbrochen. Ein „positives“ „Umgebungsgefühl“ kann ganz ausbleiben. Erlebnisse sind in bedeutsame Situationen eingebettet, die subjektiv-persönlich betreffen. Man bewegt sich in einer bestimmten Haltung, Aufmerksamkeit, Neugier oder Scheu durch den Raum des Landschaftlichen, die entsprechende Möglichkeiten des bewussten Erlebens erst eröffnen. Uns sind auch durchaus kritisch-distan-

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zierte Haltungen begegnet, die das Erlebenkönnen ihrer Träger durchaus mitbestimmten. Niemand lässt aber „alles“ an sich heran oder wehrt „alles“ ab. Es müssen gerichtete Bereitschaft und sinnliches Vermögen vorliegen und angeregt sein, die wiederum nur individuell-lebensgeschichtlich vorbereitet sein können. Man muss schon für situative Konstellationen bereit und aufgeschlossen sein, ihnen sich neugierig, zumindest mit einer gewissen Wachheit zuwenden, dass sie einen in ihrer Eigenart und Bedeutsamkeit auch überraschen und ergreifen können. Man muss ebenso für die bestimmte Stimmung präpariert sein, in die man fallen will, insofern dafür auch eine „öffentliche“ (bekannte) Sprache bereit steht, die die Bedeutsamkeit eines Erlebnisses vermitteln kann. Die Möglichkeiten, sich Umgebungen eines Erlebnisparks als Landschaftsqualitäten zu öffnen, sind mit dem Aufforderungscharakter der gebauten und gestalteten Eingriffe verbunden, insofern diese einen Besucher überhaupt erreichen und bei ihm auf ein vorhandenes Interesse stoßen und schließlich bestimmte Eindrücke wachrufen. Das können sie, wenn der Besucher sich plötzlich mitten unter Dingen erlebt, die ihm das Gefühl geben, sich innerhalb eines räumlichen Milieus zu bewegen. Vom Erlebenden her gesprochen, ist der Übergang vom Handlungs- in den gestimmten Raum sicher fließend, wobei ein lebensweltliches Orientiert-Sein allenfalls sich verschatten, nicht jedoch völlig verschwinden kann wie im Schlaf.42 Man wird der Frage nicht ausweichen dürfen, ob denn Vergnügungsarchitektur nicht auch als ein spektakulärer Ausdruck für Bedürfnisse und Wünsche, in einer „außer-alltäglich“ gebauten Welt zu leben, zu lesen sei? Außeralltäglich heißt gewiss nicht, dass wir immer und überall von bunt-märchenhafter Kulissen-Architektur umstellt sein wollen. Außeralltäglich ist vielmehr das Erlebnis der „Ganzheit“ und Stimmigkeit meiner Umgebung, die in dieser ungewöhnlichen Stimmung ihre Qualität hat. Das dabei interessierende Thema ist gar nicht allein die Architektur oder präziser: es ist die Architektur gerade als Teil unserer landschaftlichen Umwelt. Damit ist gemeint das Sich-Erleben in einer „landschaftlichen“ Umgebung, die mit großer Schöpferkraft aufwartet und erst auf den zweiten Blick eine Liebe der Macher zum Detail entdecken lässt. Die einzelnen Teile treten hinter der erlebten Qualität oder Gestalt des Ganzen des Landschaftlichen zurück. Dieses spannende Sich-Befinden in einer aufregenden Umgebung betrifft unsere Gefühle, Empfindungen, Stimmungen. Wir lesen in jenem Wunsch nach dem Außeralltäglichen und Besonderen also eher das Bedürfnis, von einer Architektur versorgt zu sein, die den wohnenden Menschen als emotionales Wesen ernst nimmt und verstehen lernt. Was die Menschen wollen, ist eine gebaute und gestaltete Welt, die gut zu ihnen passt. 42 | Dies wird genau beschrieben im Aufsatz von Sigrid Anna Friedreich „Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein. Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften“ in diesem Band.

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Dafür reicht es nicht aus, Architektur „sinnlicher“ zu machen. Denn das greift allein auf, dass unsere Sinne die Tore zur Welt sind. Viel entscheidender ist, dass Architekturen im Raum einer Landschaft sinnhafte und belangvolle Qualitäten von Ganzheit aufweisen. Zum guten Entwerfen gehört, dass der Mensch als ganzer von Architektur und Städtebau wahrgenommen wird. Er hat nicht nur klassifizierbare Wohnbedürfnisse oder allgemein sinnliche Bedürfnisse, sondern Jedermann erfährt seine Umgebung in den leiblichen Befindlichkeiten und Stimmig- bzw. Unstimmigkeiten von gelebten Räumen, die in architektonischen Entwürfen berücksichtigt werden sollten. An dieser Stelle könnte die alte Vorstellung von „guter Gestalt“ wieder zum Tragen kommen. Was aber ist das Gute am Ganzen einer Gestalt? Es geht um Orientierung in der Welt und Übersichtlichkeit der Alltagslandschaften. Das Ganze ist das Ganzheitliche (nicht das Gesamte – weder als Summe noch als System) unserer Welt, in der wir uns als Menschen auch emotional immer befinden, unser Leben führen, gut uns in unseren Belangen zurechtfinden. Der „ganze“ Mensch fühlt sich dann aufgehoben in einer räumlichen Umwelt, die zu ihm passt. Das „Ganze“, von dem wir sprechen, hat eine eindeutige Physiognomie, eine Gestaltqualität. Eine Gestalt erhebt sich aber nur, wenn das Geschaute eine Ähnlichkeit mit bekannten und vertrauten Gestalten aufweist (bei unseren Erlebnislandschaften sind solche „vertraute“ Gestalten das Dorf, die Burg, die Schlucht, das Baumhaus, das Märchenschloss usw.). Ansonsten, darauf hat z.B. Ludwik Fleck überzeugend hingewiesen, erblicken wir lediglich irgendwelche Einzelheiten, ergreifen aber keine Bedeutsamkeitsbezüge, keine Sinngestalt, was uns Menschen aber wichtig ist. Wir erfassten nur eine diffuse Summe, nicht die bestimmte Ganzheit. Das durchaus Neue an der „guten“ Gestalt ist unbestimmt bestimmt, ansonsten handelte es sich um eine bloße Kopie des Alten (bestimmt-bestimmt) oder um etwas Nicht-fassbares, Un-eindeutiges (unbestimmt-unbestimmt). Gewiss besteht unsere Welt nicht allein aus Vergnügungen. Warum aber sollten wir den Wunsch nach anspruchsvollen und interessanten, vor allem eindeutigen Raumgliederungen nicht auch auf unsere Alltagslandschaften anwenden? Das Alltägliche zu bewältigen, fällt uns manchmal schon schwer genug. Den alltäglichen Raum mit seinen gebauten „urbanen“ Landschaften erlebend zu bewältigen, dies könnte uns aber „angenehmer“ gemacht werden. Der Räumlichkeit unseres Verhaltens zur Welt können wir nicht entkommen und somit entkommen wir auch nicht unserem Gestimmt-Sein und den Atmosphären im Angenehmen wie im Scheußlichen, die wir auch dann spüren, wenn der Architekt sie nicht eigens sich zum Thema gemacht hat. Atmosphären sind in der Welt, sie kommen nicht einfach vor wie neutrale Sachverhalte, von denen ich Kenntnis nehmen kann oder auch nicht. Sie betreffen mich ungefragt, aber nicht „von selbst“. Atmosphären stehen in der Dialektik von Anmuten und Angemutet-Werden und verweisen gerade darin auf konkrete Haltungen, ohne die

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der Mensch, in seine Welt gestellt, sein Leben gar nicht führen könnte. Architektur muss also nicht auf eine elitäre Bedeutung pochen: Seht her, so sieht das Bauen der Zukunft aus! Mit dieser Geste wird für die Architektur eine eigene Welt des genial-kreativen Entwerfens und genießenden Wahrnehmens und für ihre Werke ein exklusiver architektonischer Darstellungsraum beansprucht, der ihr als „Lebensmittel“, das wir in den guten Gebrauch nehmen, einfach nicht zukommt. Viel wichtiger ist deshalb, dass Architektur in ihrer Bedeutsamkeit und Eindeutigkeit für unsere Lebensführung im belangvollen Raum der Alltagslandschaft erfahren werden kann, dass der Mensch das Gefühl hat, hier geht es um ihn. Die Architektur ist aber nur schöpferisch im Rahmen des architektonischen Denkstils, in dem jeder Architekt grundsätzlich „befangen“ ist. Jeder Architekt sollte versuchen, Zugang zu einem architekturtheoretischen Diskurs zu finden, der auch den anregenden Ton trifft, die historisch gewachsenen Grundannahmen des eigenen Denkstils zu hinterfragen.43 Ein Diskurs könnte z.B. den Versuch unternehmen, Atmosphären, die man „erzeugen“ möchte, in ihrem bestimmten Wirken als konkreter Eindruck zu beschreiben: Welche Sprache benötigte man dafür? Es hilft zunächst schon weiter, sich Architektur als integraler Bestandteil einer Landschaft vorzustellen, eines Raumganzen, aus dessen Mitte heraus wir unser Leben leiblich-räumlich führen. Die Möglichkeiten und Grenzen, über Stimmungen, Gefühle und räumliche Atmosphären zu sprechen, sind Themen dieses Buches. Es beschreibt die Phänomene aus den Perspektiven des Machens (Erzeugens) und des Widerfahrens des Gemachten am Beispiel architektonischen Entwerfens. Darüber hinaus bezieht es eine architekturtheoretische Position, die es erlauben soll, das Thema angemessen und hoffentlich auf eine anregende Art in den Griff zu bekommen. Am Beispiel Vergnügungslandschaften, das können wir versichern, können Architekten und Landschaftsarchitekten viel über den Zusammenhang von Erleben und Raum erfahren und lernen. Ihre Macher und Gestalter sind nämlich dann erfolgreich, wenn deren Landschaften einen Bedeutsamkeits- und Relevanzbezug zu modernen (erlebnisorientierten) Lebensformen gängig machen.

9. A UFSÄT ZE IN DIESEM B AND Die in diesem Buch versammelten Aufsätze spiegeln unsere Beschäftigung mit dem Phänomen Erlebnislandschaft. Es war von Anfang an mein Anliegen, unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen an der Entwicklung und Bearbeitung der Forschungsfrage, wie Raum und Erleben zusammen gehören, zu beteiligen. Die einzelnen Wissenschaftler gelangten dann auch in ein fruchtbares Gespräch, lernten voneinander und entwickelten gemeinsam ihre For43 | Vgl. Fleck, Tatsache, 1980.

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schungsstrategie. Dabei kam es grundsätzlich darauf an, Theorie und Praxis immer wieder unter- und miteinander in einen Bezug zu setzen, der unsere Beschreibungs- und Begründungsmöglichkeiten von Anschaulichem ebenso kritisch in den Blick nehmen kann wie eine angestrebte Nachhaltigkeit und nachvollziehbare Angemessenheit des theoretischen Zugriffs auf Sicht- und Erlebbares. Unser Projekt umfasst auf einen schlichten, aber die Sache durchaus treffenden Nenner gebracht das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt. Dieser Mensch, so unsere These, ist derjenige Mensch, dem es in seinem Leben, damit es ein gutes sein kann, offensichtlich in gesteigertem Maß auf sein Erleben ankommt. Die Welt, zu der sich dieser Mensch – immer schon in seine Welt verstrickt – in ein bestimmtes Verhältnis bringt, ist eine gemachte und hergestellte, eine sich auch in Artefakten zeigende und ausdrückende Welt. Diese Doppelseitigkeit des In-der-Welt-seins: handeln und herstellen, hat die antike Philosophie in dem Begriffspaar praxis und poiesis zum Ausdruck gebracht. Damit sind auch zwei „Wissensformen“ verbunden: zu wissen, wie das Leben gut zu führen ist, und zu wissen, wie man die Welt verändern kann. Die ersten beiden Aufsätze reflektieren jenes Verhältnis von Mensch und Artefakt einmal aus architekturtheoretischer Perspektive, zum anderen aus der Sicht der Technikphilosophie. Achim Hahn versucht, die Architekturtheorie darauf vorzubereiten und sie zugleich entsprechend zu erweitern für ein Verständnis vom räumlichen Erleben. Landschaft und Architektur als eine „gemachte“ Ansammlung von Dingen und Zwischenräumen schafft eine menschlich-soziale Umgebung, die nach phänomenologisch-hermeneutischer Auffassung nicht allein wahrgenommen, sondern ursprünglich leibhaftig erfasst wird. David Pinzer unterbreitet begründete Vorschläge, wie eine zureichende Erfassung und Bedeutung solcher technischer Konstrukte, mit denen eine Erlebnislandschaft ausgestattet ist, anspruchsvoll umzusetzen sind. „Architektur“ hat ja in solchen Umgebungen auch die Funktion als ein Medium zu wirken, das die Menschen bespaßt und dazu beitragen soll, Erlebnisse zu generieren. Diesen Anforderungen können sie aber überhaupt nur deshalb genügen, insofern sie als „sinnvolle“ Artefakte den Charakter von Werk- bzw. Spielzeugen in sich aufnehmen und sichtbar halten. Auf der Seite der Kunden und Benutzer solcher „Medien“ muss wiederum eine leiblich-körperliche Kompetenz entwickelt sein, sich dieser Technik „freiwillig“ bedienen zu können und auch zu wollen. Bald schon galt es für das Forschungsteam, das anschauliche Forschungsfeld selbst auch sinnlich in den Griff zu nehmen. Mit welcher Art von Landschaft haben wir es bei den untersuchten Parks zu tun, wie nähert sich insbesondere die Landschaftsarchitektur mit kritischer Neugier diesem Untersuchungsgegenstand? Auch schien es uns nötig, den Park in seinem erlebbaren und wahrgenommenen Erlebnispotential aus Sicht der zuständigen Profession vorzustellen. Die Landschaftsarchitektin Ute Keßler hat beide Aufgaben dadurch gelöst, dass sie zum einen den Freizeitpark BELANTIS in die bemerkenswerte

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Geschichte von Vergnügungsparks einordnet, um seinen Typus als einen historisch überkommenen zu kennzeichnen. Aber er imitiert in seiner konkreten Ausgestaltung nicht allein das Bekannte und Überkommene, so erfahren wir, sondern ihre „Macher“ interpretieren die Planungs- und Entwurfsaufgabe „Vergnügungspark“ auch als eine durchaus aktuelle und spezifische. In einem weiteren Anlauf durchlebt und beschreibt Ute Keßler einzelne Orte dieses Parks in ihrer auffälligen Machart vor dem Hintergrund des eigenen Verständnisses von Landschaftsarchitektur. Mit vergleichbarer Absicht, aber aus einer etwas anders, eher theoretisch geschulten Perspektive untersucht Heiko Lieske den zweiten Freizeitpark, die „Kulturinsel Einsiedel“. Im Mittelpunkt steht die Analyse der Gesamtgestalt, wie sie sich dem professionellen Blick und Vokabular des Landschaftsarchitekten darstellt. Die Untersuchung stellt fest, wie eine Erlebnislandschaft, die als eine solche nie geplant war, sich dennoch der heutigen Gesamtschau als eine solche präsentiert. Es werden die einzelnen Bereiche, Funktionen und Leistungen dieses Areals rekonstruiert, die den vormaligen „Spielplatz mit Holzskulpturen“ heute unmissverständlich als ein Werk der Landschaftsarchitektur identifizierbar machen. Die Beschreibungen beider Parks werden durch Zeichnungen von Andreas Fuchs ergänzt, die mit Hilfe feiner perspektivischer Darstellungen es dem Leser erleichtern werden, unsere Besuche und Eindrücke der beiden Erlebnislandschaften nachzuvollziehen,. In einem dritten Schwerpunktbereich unserer Studie werden die Protagonisten der Erlebnislandschaften zusammengeführt. Sie werden als kreative Persönlichkeiten wahr- und ernstgenommen, die als verantwortliche Macher in diese Gestaltungsaufgabe biographisch verstrickt sind. Beiden Schöpfern stehen als ihre Kunden oder „Gäste“ ebenso Persönlichkeiten gegenüber, für deren Lebensbewältigung es zumindest einmal in ihrer Lebensgeschichte sich ereignete, eine Erlebnislandschaft zu besuchen, dort Eindrücke zu gewinnen, die in Gesprächen nicht nur erinnert werden, sondern denen im Rahmen einer „biographischen Erzählung“ auch ein Platz im „Erlebnishaushalt“ dieser Menschen zugewiesen wurde. Meinen „Entwerfer“ und „Besucher“ von Erlebnislandschaften dasselbe, wenn sie vom Erleben sprechen? Wie lässt sich überhaupt das Erleben in den Wortschatz von Architektur und Landschaftsarchitektur integrieren, falls es dort noch nicht auftaucht? Und kann das Wort (nun als Terminus einer Berufssprache genommen) sich in deren Praxis gleichsam „frei“ einfinden, ohne dass zu bedenken gegeben wird, um wessen Erleben und Erleben-Können es überhaupt geht? Die Untersuchungen von Jörg Schröder und Stefan Nothnagel, beide Kollegen sind Architekten, stellen die Ergebnisse ihrer Auswertung von berufsbiographischen Expertengesprächen vor. Es zeigt sich nun, dass in beiden Fällen sich das Entwerfen in eine Sprache eingefunden hat, die das Erleben von gestalteten Räumen nur erst ungenügend und provisorisch im beruflichen Selbst- und Weltverständnis verankert sieht. Der Zusammenhang von

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Erleben, Stimmung und Atmosphäre einschließlich deren gestalterische Umsetzung scheint hier wesentlich unterbestimmt, was niemandem zum Vorwurf gereichen sollte! Dennoch wurde in beiden Fällen die Herausforderung, wenn auch im Einzelnen unterschiedlich gedeutet, angenommen und für eine Konstruktion des eigenen Selbstbildes „als“ Architekt oder „als“ Gestalter energisch eingesetzt. Es kann hier aber auch überhaupt keine Trennung zwischen dem beruflichen und dem persönlich-lebensweltlichen Zurechtkommen mit den Zumutungen des „Entwerfens von Erlebnissen“ geben, und es gibt sie auch tatsächlich nicht bei unseren Gesprächspartnern. Der Vergleich dieser beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten zeigt, dass die Beschäftigung mit Erlebnislandschaften sie unweigerlich dazu geführt hat, Haltung und Zugang zu Emotionen, mentalen Prozessen, Gefühlen usw. beruflich erst aufzubauen. Und beide Gestalter erleben diese inzwischen wie selbstverständlich praktizierte Haltung als einen Gewinn an Lebenserfahrung und beruflicher Kompetenz, die ohne die Herausforderung dieser Bauaufgabe wohl sich nicht eingestellt hätte. Aus heutiger Sicht ist aber gerade die Konfrontation mit Erleben bzw. mit Atmosphären eine generelle Voraussetzung, so das Fazit von Stefan Nothnagel, den Beruf des Architekten oder Landschaftsarchitekten auszufüllen. Vergleichbares stellt dann auch Heiko Lieske fest, der speziell Landschaftsarchitekten aufsuchte und zu ihrer Entwurfspraxis befragte, um in Gesprächen mit ihnen zu erkunden, ob für sie das „Erleben von Landschaft“ überhaupt ein Entwurfskriterium sei. Die Interviewanalysen machen deutlich, dass es tatsächlich das Ziel ihres Tuns ist, Erlebnisse zu generieren, dass es aber überhaupt nicht auf der Hand liegt bzw. nie „gelernt“ wurde, wie dies anzustellen ist. Aus den Auswertungen der Gespräche erfahren wir viel darüber, wie Landschaftsarchitekten sich bemühen, sich selbst vor ein auch für das Entwerfen tragfähiges Verständnis vom Erleben von Nutzern und Besuchern der Landschaften, die sie gestalten, zu bringen. Sie stellen ihre „Methoden“ und „Werkzeuge“ vor, die dafür eingesetzt werden, Erlebnisse in Entwürfen vorzusehen. Von besonderem Interesse für den Leser aber dürfte es sein nachzuvollziehen, wie die Landschaftsarchitekten erst im Gespräch und angeregt durch die Themenführung von Heiko Lieske sich mehr und mehr in ein Gebiet ihrer Berufsarbeit vertiefen können, über welches man sich ansonsten, so der Eindruck des Lesers, auch unter Kollegen offensichtlich bislang kaum ausgetauscht hat. Es mag nahe liegen und unsere Interviews können dies bestätigen, dass Architekten und Landschaftsarchitekten das „Erleben“ als eine je subjektive Angelegenheit ansehen, über die es nichts Allgemeines zu sagen gibt, außer dass „Erlebnisse haben“ eben subjektiv ist. Die Untersuchungen von Sigrid Anna Friedreich kommen hier zu einem doch weit differenzierteren Ergebnis. Zwar muss jeder Mensch seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen am eigenen Leibe durchstehen, das heißt aber nicht, dass Erleben und Erlebnisse nicht auch Thema einer soziologisch geführten Architekturtheorie sein können. Schon die weite Verbreitung

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des Begriffs „Erlebnisgesellschaft“ zeigt, dass wir es dabei mit einem durchgehenden gesellschaftlichen Phänomen zu tun haben. Wohl aber ist beim Thema Erlebnislandschaft an eine plausible und sinnvolle „Verallgemeinerung“ zu denken. In diesem Abschnitt unserer Studien wird nun das Thema räumliches Erleben aus der Perspektive der Besucher solcher Landschaften aufgegriffen. Wie zeigt sich in deren Erfahrungsberichten ihr Erleben auf eine konkrete nachvollziehbare Weise? Dazu wurden erlebnis-biographische Interviews mit Besuchern solcher Landschaften durchgeführt und einzelfall-hermeneutisch ausgewertet. Es zeigt sich nun, dass wir mit hochgradig diffizilen Erlebnisweisen von (landschaftlichen) Räumen rechnen müssen, statt dass wir – alle Differenzen einebnend – weiterhin pauschal von Raum- bzw. Architektur- oder Landschaftswahrnehmung sprechen können. Wir können Erlebnisweisen, die immer räumlich sind, nicht verstehen, wenn wir nicht auch die Person als ganze mit in unsere Analysen einbeziehen, um deren Erleben es geht. Eine der Weisen wie sich Besucher “im Raum einer Erlebnislandschaft“ befinden können, ist das „Abtauchen“. Um dieses Phänomen zu verstehen, bedarf es nicht seiner Definition, sondern eines subtilen beispielhermeneutischen Nachvollzugs der jeweiligen Erlebnisbeschreibungen und Ausdeutungen leiblich widerfahrener Situationen, wie sie Besucher in lebensweltlich eingebetteten Gesprächen vorlegen. Die Arbeit an den Erlebnislandschaften wird mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse abgeschlossen. Schließlich soll darin die Relevanz der Untersuchung für die Architektur- und Landschaftstheorie herausgestellt werden.

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Misch, Georg (1994): Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Freiburg u. München. Hintika, Merrill B. und Hintikka, Jaakko (1996): Untersuchungen zu Wittgenstein. Frankfurt/M. Picht, Georg (1996): Kunst und Mythos. 5. Aufl., Stuttgart. Plessner, Helmuth (1967): Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks. In: Hans-Georg Gadamer (Hg.): Das Problem der Sprache. München,  S.  555566. Ryle, Gilbert (1969): Der Begriff des Geistes. Stuttgart. Schapp, Wilhelm (1985): In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. 3. Aufl., Frankfurt/M. Schmitz, Hermann (1998): Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern. Schulze, Gerhard (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M. u. New York. Seel, Martin (1996): Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung – mit einem Anhang über den Zeitraum der Landschaft. In: Ders.: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt/M., S. 36-69. Simmel, Georg (1913): Philosophie der Landschaft. In: Die Güldenkammer. Eine bremische Monatsschrift. 3. Jg., Heft II, S. 635-644. Strauß, Erwin (1930): Die Formen des Räumlichen. Ihre Bedeutung für die Motorik und die Wahrnehmung. In: Der Nervenarzt. 3. Jg, Heft 11, S. 633b-656. Will, Thomas (2006): Die Autorität der Sache. Zur Wahrheit und Echtheit von Denkmalen. In: Hans-Rudolf Meier und Ingrid Scheurmann (Hg.): Echt – alt – schön – wahr. Zeitschichten der Denkmalpflege. München. S. 82-93. Wittgenstein, Ludwig (1969): Philosophische Untersuchungen. Schriften 1. Frankfurt/M. Wittgenstein, Ludwig (1982): Philosophische Untersuchungen. 3. Aufl. Frankfurt/M. http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Sonntag-Architektur-Ole-ScheerenPeking;art2566,2579759 (Abruf am 01.09.2011). http://www.tagesspiegel.de/kultur/das-gefuehlte-haus/966720.html (Abruf am 01.09.2011).

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II Landschaft, Erlebnis, Erlebnislandschaft. Theoretische Annäherungen

Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären Achim Hahn

1. E INLEITENDE B EMERKUNGEN Der folgende Text versucht eine theoretische Einordnung der Forschungsarbeit im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“1 sowie eine architekturtheoretische Diskussion der These vom „Erzeugen von Atmosphären“, insofern diese ausgelegt wird als das infrage stehende architektonische Entwerfen von Erlebnissen des Landschaftlichen. Im Zuge der Ausgestaltung unserer Forschungsunternehmungen hat sich die Ausgangssituation „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ dynamisch entfaltet. Im Mittelpunkt der Ergebnisse stehen nun die Themen des Erlebens und Erlebnisses von Landschaft, der Gestimmtheit, des Emotionalen sowie deren architekturtheoretische Bedeutung für ein Verständnis von „Atmosphären“. Die inhaltlichen Schwerpunkte haben sich in erster Linie aus der beispielhermeneutischen Bearbeitung des empirischen Materials, die Interviews mit den Gestaltern sowie mit den Besuchern zweier Erlebnislandschaften, ergeben. Als eine besondere theoretische Herausforderung hat sich dabei herausgestellt nachzuweisen, ob und wie das Erlebnis als ein Wissen zu verstehen ist und was mit diesem Wissen sprachlich ausdrückbar ist. In einem ersten Kapitel wird gezeigt, dass in literarischen Texten durchaus erfolgreich, aber von der Wissenschaft eher unbeachtet, das Erlebnis des Landschaftlichen einen sprachlichen Ausdruck erfährt. Anschließend wird das „gesuchte“ Landschaftserlebnis als eine Stimmung oder Anmutung von Landschaftlichem präzisiert. Der nachfolgende Teil stellt die Gestimmtheit des Menschen in seinem In-der-Welt-sein fest und entwickelt daraus die Weltlichkeit, 1 | Zum Konzept des Forschungsprojektes, seinen Fragestellungen sowie theoretischen, methodologischen und methodischen Ausrichtungen siehe den Aufsatz des Autors: „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Einführung in ein Forschungsprojekt“ in diesem Band.

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Räumlichkeit und Leiblichkeit des Erlebens anhand weiterer hermeneutisch ausgelegter Begriffe wie Eindruck, Anschauung und Bedeutsamkeit. Das abschließende Kapitel stellt zunächst die Auffassungen zum Begriff Atmosphäre bei H. Schmitz und G. Böhme dar, um dann aber in kritischer Absicht der Hermeneutik von Eindruck und Wirken von Josef König zu folgen, die eine Antwort versucht, ob das „Entwerfen und Erzeugen von Atmosphären“ durch Architekten und Landschaftsarchitekten begründbar ist.

2. E RLEBNIS L ANDSCHAF T IN LITER ARISCHEN TE X TEN Das Suchbild Verlässliche vorwissenschaftliche Zeugnisse des Landschaftserlebnisses sind z.B. literarische Beschreibungen, die eine Erfahrung preisgeben, nämlich die, dass und was ein Wissen um ein Erleben des Landschaftlichen überhaupt sein kann. Sie sind stilisierte Vorgriffe, die von uns als ein Suchbild genommen werden, an dem sich fürs erste orientieren lässt, wonach man eigentlich suchen will, was man möglicherweise im Finden erwarten darf. Schaut man sich nämlich solche Zeugnisse an, so treffen wir in der Regel auf einen Helden oder Ich-Erzähler, der in reflexiver Haltung (s)ein Landschaftserleben aus einer bestimmten Perspektive darstellt. In einer ähnlichen Situation befinden sich doch auch die Besucher von Erlebnislandschaften wie BELANTIS und „Kulturinsel Einsiedel“, wenn sie von der Forschung aufgefordert werden, über ihre Landschaftserfahrungen zu sprechen. Selbstredend handelt es sich bei einem literarischen Zitat um eine künstlerische Stilisierung des Erlebens und Erlebnisses von landschaftlicher Umgebung. Diese methodisch nicht kontrollierte künstlerische Form nehmen wir aber bewusst in Kauf. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Autoren und Schriftsteller nicht den Anspruch haben, das Erleben als unterste Stufe der wissenschaftlichen Erkenntnis vorzuführen, sondern sie versuchen, ihren Lesern deutlich zu machen, wie eine landschaftliche Anmutung auf die literarische Person wirkt. Genau darum soll es auch uns gehen! Dem Leser sind wesentliche Stationen der Lebensgeschichte der Person, um deren Landschaftserleben es sich handelt, präsent, damit er die Bedeutung des Wirkens einschätzen kann. Die Einheit von Haltung in einer Welt und Betroffensein des Helden von einer räumlichen Umgebung, in deren Mitte er sich vorfindet, ist für den Leser evident. Der „Erlebende“ ist immer schon in seine Lebenswelt verstrickt, wenn er bereit ist, von den Anmutungen einer Umgebung landschaftlich sich wecken zu lassen. Der alltägliche Handlungsraum, in dem er eben noch seine Angelegenheiten, Besorgungen und Beschäftigungen erledigt hat, rückt mit einem Mal in den Hintergrund, weil er sich einem Erle-

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ben zuwendet, das nur ihn betrifft. Was nur ihn ergreift, macht das Bestimmte dieses Eindrucks des Landschaftlichen aus. „Er meinte leibhaft durch eine Einöde zu gehen, wo es weder Ziel noch Antwort gab. Ein Gefühl der Verlorenheit überkam sein Herz, eine Ahnung von dem Ausweglosen aus dieser Landschaft, die das eiserne Blau des Himmels zudeckte. Nirgends am Wege saftete ein Baum, die Blumen in den Gärten trugen steife Blüten wie aus Wachs, die Blätter raschelten wie Papier, die kurzgehaltenen Rasenstücke breiteten sich aus wie gefärbte staubige Wollteppiche. Mehr denn je ward sich Robert der Verwahrlosung inne, die aus aller Umgebung sprach.“ 2

In unserem Beispiel findet sich der Held Robert in einer räumlichen Umwelt wieder, die ihm diese plötzlich und auf eine überraschende Weise erlebbar macht. Er spürt sich inmitten eines „Milieus“, vielleicht traumähnlich oder ekstatisch.3 Er „sieht“, „hört“ usw. Dinge nicht mit seinen Augen, Ohren, sondern „leibhaft“. Sein Empfinden ist hochgradig gestimmt. Der Eindruck und sein Inhalt sind identisch. Das Wovon des Eindrucks zählt nicht irgendwelche Eigenschaften einer jedermann beschreibbaren Landschaft auf. Vielmehr liegt in der Wirkung eine bestimmte Modifizierung, wovon es überhaupt einen Eindruck geben kann. Robert hat die bestimmte Anmutung von Verlorenheit und von Verwahrlosung. Im „Gefühl“ und in der „Ahnung“ meldet sich ein „leibhaftemotionales“ Wissen um das in bestimmter Weise Anmutende. Ein „meinendes“ Gefühl sagt Robert, wie die Dinge jetzt und hier wirklich sind. Die Dinge sind auf eine gegenwärtige und sprechende Weise wirklich, so dass in diesem Gegenwartsraum des Erlebnisses beide: Wirken und Wirklichkeit, zu einer Einheit verschmelzen. Mit dem Phänomenologen Hermann Schmitz ließ sich dieses Ereignis der landschaftlichen Anmutung als „Atmosphäre“ deuten, insofern man mit Schmitz darin übereinstimmen möchte, dass „im affektiven Betroffensein sich leiblich zu fühlen“ genau dies bedeutet: von „Atmosphären“ ergriffen zu sein.4 Andere Autoren, von denen später noch die Rede sein wird, sprechen von Erlebnissen sowie von Stimmungscharakter (Bollnow) bzw. Ausdruckscharakter (Misch) und heben in ihrer Deutung hervor, dass jedes Erlebnis immer auch ein Wissen des Erlebnisses ist. „Sich leiblich fühlen“ meint, mitten in einem Erleben zu stehen. Insofern berühren solche Phänomene einen wichtigen Aspekt unserer Untersuchung. Dieser Aspekt erfährt noch dadurch eine Aufwertung, wenn behauptet wird, 2 | Aus: Kasack, Stadt, 1947. 3 | Zu Traum und Landschaft vgl. Foucault, Einleitung, 1992; zu Ekstase und Landschaft vgl. Klages, Ethos, 1930. 4 | Z.B. Schmitz, Leib, 1998, S. 51.

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solche Atmosphären und Ausdruckscharaktere lassen sich im architektonischen oder landschaftsarchitektonischen Entwurf und seiner baulichen Umsetzung erzeugen. Der zitierte literarische Text sagt nichts über ein mögliches Erzeugen aus, dass z.B. die konkrete Absicht eines Landschaftsarchitekten vorgelegen habe, genau diese Anmutung bei Robert mit seinem Landschaftsentwurf erzeugt haben zu wollen. Die Textpassage stellt aber in Aussicht, dass das, wovon ein Eindruck im Erfahren eines Wirkens gewonnen wird, sprachlich ausdrückbar ist. Zunächst aber wird der Erlebende in eine Umgebung, die als Landschaft aufgerufen wird, gestellt. „Wo“ aber ist man zuvor und „wo“ danach, dass einen zwischenzeitlich das Landschaftliche stimmungsmäßig anmuten kann? Offensichtlich haben wir bei unserem Anliegen, welches uns zunächst die Interpretation des Suchbilds des literarischen Beispiels aufzeigte, drei Ebenen zu gegenwärtigen. Zum einen das leibhafte und gestimmte Dasein in einer UmWelt (z.B. einer konkreten Landschaft). Zum zweiten haben wir das Phänomen des Erlebnisses selbst. Es setzt diese (oder irgendeine landschaftliche) Umgebung voraus, damit jemand überhaupt von etwas bewegt werden kann, was ihm als Erlebnis widerfährt. Drittens nun haben wir das Faktum, dass jemand (der Erlebende) sich ausdrücklich oder „in evozierender Rede“, wie wir später auch sagen werden, auf das Erlebte beziehen kann, z.B. dass er sein Erlebnis anderen mitteilt. Im Folgenden sollen alle drei Punkte entfaltet werden.

Weisen im Raum zu sein „Jedermann ist die Vorstellung geläufig, alles in der Welt Vorhandene sei so im Raum anwesend, daß man es stets an einem bestimmten Ort oder Platz innerhalb eines vorgegebenen, hohlraumartigen Weltbehälters antreffe. An seiner jeweiligen Stelle würde außerdem alles Vorhandene den seiner meßbaren Ausdehnung und seinem berechenbaren Volumen entsprechenden Raumausschnitt einnehmen und ihn ausfüllen. […] Zu allem, was in der Welt anwesend ist, gehört auch der Mensch. Darum wird sein ‚Im Raume-sein‘ üblicherweise ebenfalls auf solche Weise vorgestellt.“5 Medard Boss hat diesem von ihm skizzierten naiven Verständnis widersprochen. Auch wir werden einen anderen Blick auf die Räumlichkeit des Menschen werfen. Der Mensch in seiner UmWelt bewegt sich stets in einem Raum, der sein ureigenes Milieu ist. Der Mensch „hat“ seine Welt, in der er räumlich anwesend ist. Er befindet sich „in“ dieser Lebenswelt nicht wie Dinge, die in einer Schachtel beieinander liegen. Vielmehr verhält sich der Mensch zur Räumlichkeit seines Daseins. Der „Raum“, in dem wir unser Leben in der Welt führen und agieren, ist unsere Alltagslandschaft. Der Mensch selbst ist die Mitte dieses alltäglich gelebten oder lebensweltlichen Raums. Oben und unten, vorne und hinten, links und rechts sind Koordinaten, 5 | Boss, Grundriss, 1999, S. 239.

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die auf ein „Hier“ und eine Mitte, die wir selbst sind, ausgerichtet sind. Wir wissen gewöhnlich, wie wir in unserer Alltagslandschaft am besten von Hier nach Dort kommen und ob das Haus der Freunde nah oder fern ist. Schwieriger wird es schon, wenn wir uns von einer Karte, einem Stadtplan z.B., bei einer Orientierung helfen lassen. Wir müssen dann versuchen, unseren konkreten Handlungsraum als eine Fläche zu denken, auf der wir einen bestimmten Ort als Kartenpunkt, als exakte Stelle auf dem Plan, „einnehmen“. Z.B. stehen wir gerade an einer Straßenkreuzung vor einer roten Ampel. Es geht ein eisiger Wind und es ist hier ungemütlich. Genervt warten wir auf das Umspringen des Ampellichts. Um von diesem erlebten Umwelt-Raum in jenen abstrakten Orts- und Flächenraum des Stadtplans zu kommen, abstrahieren wir notwendigerweise von unserem erlebten Standpunkt vis-à-vis der Ampelanlage, ohne ihn aber leibhaft und stimmungsmäßig „verlassen“ zu können. Schließlich müssen wir, muss unser Leibkörper, ja doch wieder eine Richtung aufnehmen und uns auf unser Ziel jenseits des noch gesperrten Übergangs zubewegen. Neben diesem Hier-sein in der Umwelt unseres bewusst geführten Lebens ist uns noch eine ganz andere Weise des Im-Raum-Seins geläufig. Eben noch in ein spannendes Buch und seine Geschichte vertieft, stürmt eine Kinderschar jubelnd an uns vorbei und reißt uns „mit Gewalt“ aus der Phantasiewelt. Angespannt betreten wir, die laute Straße eben hektisch hinter uns lassend, den Kirchenraum, wo uns sogleich eine andächtige Stille überfällt. Diese und beliebig weitere Beispiele besagen, dass unser Tun und Lassen ständig begleitet ist von einer Stimmung, in der wir uns befinden. In der Regel fällt uns die Stimmung (genervt, hektisch oder beruhigt), in der wir sind, nicht sonderlich auf. Oft leben wir eher teilnahmslos oder gelangweilt in den Tag hinein. Es gibt aber Situationen, bei denen der Raum, in dem wir uns aufhalten, für unsere Stimmung eine erleb- und erfahrbare Mitverantwortung trägt. Denken wir an Kirchenräume oder Ausstellungsräume, aber auch an Landschaftsräume oder den Kessel eines gefüllten Fußballstadions, die stimmungsmäßig stark auf uns wirken können. Jede Umgebung, insofern sie uns im Erlebnis präsent ist, scheint eine gewisse, ihr eigentümliche Stimmung auszustrahlen, die wir als angenehm oder unangenehm empfinden und bewerten. Mit Binswanger kann dieser „Raum“ als der erlebte umweltliche Gegenwartsraum gefasst werden.6

6 | Das Thema Erlebnis und Umgebung greift auch Johannes Linschoten auf: „Wenn ich erlebe, daß ich geschaukelt werde, oder daß ich sehe, höre, usw., so ist in diesem Erlebnis meine Bezogenheit auf das Umgebende ein konstitutives Moment eben dieses Erlebnisses selbst. Diese Bezogenheit ist immer eines ‚im Leibe wohnenden‘ Ich, oder kurz: eines Ichleibes. Keine Wahrnehmung ist Wahrnehmung ohne diese Bezogenheit des Ichleibes als konstitutives Moment des Wahrnehmungserlebnisses.“ Linschoten, Fragen, 1958, S. 89.

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Zu fragen ist nun, welcher Wahrnehmungssinn und welche leibliche Konstitution überhaupt einer Atmosphäre adäquat ist. Bedeutet beispielsweise eine Interpretation des „Gefühlsraums“ (Hermann Schmitz) als Wahrnehmungsraum nicht schon eine Entfremdung vom leibhaften Empfinden? Das Folgende soll einige zentrale geisteswissenschaftliche und philosophische Positionen vorführen, die dabei helfen, den Zusammenhang von Erlebnis, Landschaft und Atmosphäre immer besser zu verstehen.

3. E RLEBNIS L ANDSCHAF T HEISST, IN EINE S TIMMUNG DES L ANDSCHAF TLICHEN FALLEN Erlebnislandschaften – was macht sie für die Architekturtheorie interessant? Vorwissenschaftlich sind Architektur und Landschaft bekannte Erscheinungen alltäglichen Umgangs. Unsere Forschungen lassen es deshalb als klug erscheinen, von einem Landschaftsverständnis auszugehen, für das „Landschaft“ zum erfahrbaren Bereich der Lebenswelt, zur vertrauten oder fremden Umgebung menschlichen Verhaltens gehört. Primär stehen wir zur „Landschaft“ in einem lebensweltlich-praktischen Verhältnis. Dieses Verhältnis ist angeeignet in dem Maße, wie wir das Wort Landschaft zu gebrauchen gelernt haben und in unseren Sprachspielen tatsächlich verwenden. Mit dem Ausdruck „Erlebnislandschaft“ meinen wir die architektonisch-planerisch zugerichtete Landschaft. Das Landschaftliche an solchen bebauten Freiräumen ist der bestimmte Eindruck, den eine entsprechende Anlage „als“ Landschaft macht, insofern sie als Landschaft oder Landschaftliches angesprochen wird, was nicht selbstverständlich ist. Wiederum das Zeitgemäße an der „gemachten“ Erlebnislandschaft ist der Umstand, dass sie gerade im Vorgriff auf eine Erlebnistauglichkeit entdeckt, entworfen und hergestellt wurde und schließlich aufgesucht wird. In den Aufbau einer solchen Landschaft zu investieren, erscheint allein dann sinnvoll, wenn eine Erlebnisorientierung innerhalb moderner Lebensformen unterstellt werden kann.7 Bei solchen Erlebnis- oder Vergnügungsparks und deren Besucherschaft darf mit besonderen Motivationen, Interessen, Erwartungen wie konkreten Haltungen oder Lebensstilen gerechnet werden, ist man doch gerade wegen 7 | Dazu hat die Studie von Gerhard Schulze „Die Erlebnisgesellschaft“ (1993) allemal Anlass gegeben. Vgl. auch Fellmann, Pragmatismus, 2003. Natürlich ist uns klar, dass schon früher „Landschaften“ angelegt wurden, die ihre Besucher „anmuten“ sollten. Vgl. dazu den Aufsatz von Ute Keßler „Geschichte des Vergnügungsparks“ in diesem Band.

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einer erhofften „Bespaßung“ in den Gegenden dieser Landschaften anwesend und unterwegs. Mit den Erlebnisparks scheint es so zu sein, dass der Aufenthalt dort die Besucher in Stimmungen fallen lassen soll, die sie zugleich öffnen für das Haben von außeralltäglichen Empfindungen, Gefühlen und schließlich von Erlebnissen. Es sind dann solche Stimmungen, in denen man sich ansonsten, also außerhalb des Parks und jenseits der Freizeit, nicht befindet. Hier sind Gefühle an konkrete Umgebungen und an konkrete Bewegungen in Räumen gebunden. Gegenden einer Erlebnislandschaft werden so idealer Weise zu einmalig „gestimmten“ Räumen, insofern sie bei den Besuchern eine besondere „Atmosphäre“ entstehen lassen. Mit Stimmungen des Enttäuscht- und Unzufrieden-Seins muss beim Ausbleiben derselben gerechnet werden. Solche Eindrücke von Räumen, in denen man sich bewegt, liegen als etwas Überraschendes, den Besuchern Widerfahrendes vor. Erst nachträglich können wir versuchen, Stimmungen und Emotionen in Worte zu fassen und mitzuteilen. Schauen wir etwas genauer auf diesen Prozess des Benennens, so werden wir wohl zugeben müssen, dass uns unser Gefühl als dieses bestimmte genau in dem Moment bewusst wird, wenn wir es auch zu heißen wissen. Wenn dieses grammatische Argument Geltung hat, dann muss die Fähigkeit oder das Vermögen des „denkenden Fühlens“ (Josef König) zwischen weltlichem Sprachbezug und Grenze des sprachlichen Ausdrucksvermögens aufgeklärt werden. Insofern sich die empirisch-hermeneutische Sozialforschung auf einmal „gehabte“ Gefühle bezieht, muss sie sich bei ihrem Versuch, sich der Gefühle, die eine Landschaft auslöste, zu vergewissern, auf den Zusammenhang des Erzählens konzentrieren, in dem Erlebnisse und Erfahrungen „nachträglich“ zum Ausdruck gebracht werden.8 Allein die lebendige Erzählung, nicht der nüchterne Bericht, wird dem Erlebten gerecht. Denn nicht alles sprachliche Verhalten, das wir praktizieren, ist auch geeignet, Erfahrungen mit Gefühlen zu gestalten. Eine auf begründete Beurteilung fixierte Beweisführung wäre hier fehl am Platze. In der Regel ist auch eine Fach- bzw. Expertensprache, die z.B. Architekten und Landschaftsarchitekten während der beruflichen Ausbildung sich antrainieren und die auf einer begrifflichen Metaebene operiert, nicht geeignet, jener Erlebnisebene gerecht zu werden. Eine begrifflich eingeübte Beobachtersprache, rücksichtlich ihres praktizierten Denkstils, stellt schon im Vorfeld einer Beobachtung ein festes Repertoire an Wortausdrücken und eingespielten Auslegungen zur Verfügung, das für entsprechende professionelle Sprachspiele zugerichtet ist. Dies hat dann zur Konsequenz, dass der „Experte“ der Wirklichkeit konkreter Landschaftserlebnisse gar nicht mehr verstehend nachkommen kann, weil er dem nicht-professionalisierten Sprachspiel, in dem Erlebnisse 8 | Vgl. die Ausführungen von Sigrid Anna Friedreich im Aufsatz „Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein. Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften“ in diesem Band.

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ausgedrückt oder gezeigt werden, ablehnend gegenüber steht oder ihm mit Unverständnis begegnet.9 Bei Entwerfern und Planern („Machern“) von Erlebnislandschaften lässt sich ein Verständnis feststellen, dass Erlebnisse, damit sie eintreten und für die die Architektur eines Parks zu sorgen hat, an bau-künstlerisch gestaltete „Bilder“ gebunden sind, die die Besucher auf Bekanntes stoßen lassen, worauf mit einer „Stimmung“ reagiert werden soll. Offensichtlich weisen die Themen Erleben, Atmosphäre und Stimmung in den Sprachspielen der Entwerfer und Planer, die deren Bewirkung als das „Eigentliche“ dieser Bauaufgabe auffassen10, eine andere Bedeutung auf als in den Sprachspielen der Besucher, für die die Orientierung an Erlebnissen doch eine notwendige lebensgeschichtliche Sinnfälligkeit besitzt. Erlebnislandschaften sind unseren Alltagslandschaften darin überlegen, dass sie Anschauliches bieten, dass sie „Bilder“ liefern. Die allfälligen Prospekte locken mit farbig-sinnlichen Reizen, mit bunten Abbildungen, die sich betrachten lassen. Aber das der konkreten Aufmerksamkeit des Besuchers vor Ort Gebotene kann dennoch langweilen, Vorgefundenes kann auf Desinteresse stoßen, kann öde anmuten. Anderes wiederum trifft den Besucher in seinem Erlebnisvermögen, er taucht in eine Umgebung ganz ein. Wie das? Offensichtlich deshalb, weil allein sinnlich Wahrnehmbares, ob zu sehen oder zu hören, nicht gemeint sein kann, wenn von der Erlebnisorientierung des modernen Menschen gesprochen wird. Sinnliches ohne Sinn kann nur wie zufällig und absurd wirken. Bilder, die anmuten, sind erlebbare und anschauliche Gestalten, die sich tatsächlich erheben, insofern es passiert, dass ich sie als solche anspreche, da sie mich ansprechen. Ansprechend-Sein heißt Anschaulich-BedeutsamSein. Macher und Gestalter solcher Landschaften haben die Aufgabe, für einen Bedeutsamkeits- und Relevanzbezug ihrer Gestaltungen zu modernen (erlebnisorientierten) Lebensformen zu sorgen. Damit ist ein gewisses Spektrum von Fragestellungen aufgezählt, dem wir uns weiterhin stellen wollen. Die folgenden Abschnitte werden sich mit einigen architekturtheoretischen Grundlagen auseinandersetzen und versuchen, das Feld zu bereiten, auf dem die folgenden empirischen Ergebnisse sich präsentieren können. 9 | Wie solche professionellen Sprachspiele eingeübt werden und welche Folgen sie für das Entwerfen von Landschaften haben können, zeigt Heiko Lieske in seinem Aufsatz „Freiräume für das Erleben. Zur Entwurfspraxis von Landschaftsarchitekten“ in diesem Band. 10 | Vgl. hierzu die Ausätze von Jörg Schröder Belantis: Erlebnisgestaltung zwischen Funktion und Emotion. Interpretation des Interviews mit dem Architekten Herrn Rudolf“ sowie von Stefan Nothnagel „‚Weil sie hier ’n Stück Oase finden.‘ Interpretation des Interviews mit dem Gestalter Herrn Schrader des Freizeitparks ‚Kulturinsel Einsiedel‘“ und „Zwischen Klischee und ‚Möglichkeiten‘. Die Gestalter im Vergleich“ in diesem Band.

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Der Eindruck von Landschaftlichem Ausschlaggebend für die wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens „Erlebnislandschaft“ ist, mit welchem Begriff von Landschaft man hierbei arbeiten möchte. Was soll dieser Begriff leisten? Dem Titel „Erlebnislandschaft“ haben wir ja von Anfang an das „Erlebnis von Landschaft“ gegenübergestellt. Erlebnislandschaft mag man zum einen als Stil-Begriff nehmen, da man neben dem englischen und dem barocken Garten noch eine weitere Gattung einführen möchte. Dann muss eine Erlebnislandschaft bestimmte formale Eigenschaften erfüllen, um unter diese Kategorie zu fallen. Der Umstand, dass jede Barockanlage auch zu einer Erlebnislandschaft werden kann, insofern in ihr etwas erlebt wird, ist hier nicht gemeint. Einer zweiten Variante, mit dem Wort Erlebnislandschaft umzugehen, geht es um das Erleben im landschaftlichen Raum. Unterscheiden wir daraufhin zwischen offenen und geschlossenen Räumen, dann fällt sofort das Phänomen der Grenze bzw. des Offenen auf. Wir betreten ein Zimmer, in dem eine heitere Atmosphäre herrscht. Damit ist der Ort im Orientierungsraum eindeutig begrenzt. Anders ist es, wenn wir von einer Atmosphäre sprechen würden, die auf einem Markt- oder Spielplatz gespürt werden kann. Unweigerlich spielt hier die räumliche Offenheit, insbesondere das Spüren von Wind und Wetter, hinein. Die Offenheit wird gespürt als Anwesenheit von Erde, Himmel und Horizont. Im geschlossenen Raum eines Gebäudes oder Zimmers können diese Phänomene, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielen. Man ist in einem offenen Raum anders als in einem geschlossenen. Wir möchten deshalb vorschlagen, insofern unsere Stimmung und unsere Gefühle auf eine nicht-geschlossene Umgebung zwischen Himmel, Erde und Horizont gerichtet sind, von einem landschaftlichen Erleben oder von einem Erlebnis von Landschaftlichkeit bzw. des Landschaftlichen zu sprechen. Landschaftlich erleben heißt sich anwesend spüren im Bann einer himmel-offenen Umgebung. Man kann z.B. eine Landschaft auf einer Zeichnung erkennen oder auf einem Gemälde wahrnehmen. In beiden Fällen ließen sich Eigenschaften dieser Landschaft aufzählen, insofern sie sehend identifiziert werden können. Man kann aber nicht sagen, wie es sich für einen anfühlt, in dieser Landschaft sich aufzuhalten oder die Anwesenheit dieser Landschaft zu spüren, wenn man Entwurfzeichnungen oder Abbildungen von dieser Landschaft im Handlungsraum gegenüber hat. Ein unmittelbares Gefühl und Erlebnis von Landschaftlichem lässt sich an Plänen und Bildern nicht haben. Dieses Anfühlen und leibliche Spüren, dieses Empfinden eines räumlichen In-Seins nennen wir also “landschaftlich“. Deshalb werden wir uns im Folgenden auf das Erlebnis des Landschaftlichen beziehen. Damit schlagen wir vor, dass das Attribut „landschaftlich“ die im Eindruck wirkende Füllequalität des räumlichen Erlebens benennt. Nur in einem Außen- und Freiraum lässt sich Landschaftliches erleben. Natürlich kann man auch eine konkrete Landschaft „landschaftlich“ erleben. Man kann eine Land-

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schaft aber auch auf einem Gemälde wahrnehmen, wie man auch, in einem Zug oder PKW fahrend, ein landschaftliches Panorama betrachten kann, ohne dass das Attribut des Wirkens selbst „landschaftlich“ ist.11 Denn unser Verständnis von landschaftlich-gestimmt setzt voraus, selbst leiblich in der himmel-offenen Landschaft bei dieser Anmutung von Landschaftlichkeit dabei zu sein. Leibhaft ist man nämlich auch im geschlossenen Museumsraum bzw. Zugabteil. Wir benutzten also das Wort „landschaftlich“ auch als modifizierendes Prädikat, um so die bestimmte (Raum-)Wirkung eines Eindrucks auszudrücken.12

„Landschaft“ als Raum der Stimmung und der Empfindung Wir meinen, dass es durchaus Vorbilder in der einschlägigen Literatur gibt, die unser Verständnis des Erlebens „im offenen Raum“ vorbereiten. Es war zuerst der deutsche Philosoph Georg Simmel, der in seinem Essay „Philosophie der Landschaft“ von 1913 darauf hingewiesen hat, dass es die Stimmung ist, die die Qualität der Landschaft ausmache.13 Stimmung nennt Simmel etwas Objektives, echt Erlebtes. Um zu verstehen, was Simmel mit dem Ausdruck Stimmung meint, ist auf seinen zehn Jahre älteren Text „Die Großstädte und das Geistesleben“ und damit auf einen ganz anders „gestimmten Raum“ zu achten, wenn dem Großstädter die Dinge, mit denen er dort zu tun hat, in einer bestimmten „Tönung“ erscheinen. Für Simmel ist die Gesellschaft, deren Ort die Großstadt ist, „völlig durchdrungen“ von der Geldwirtschaft. Das Geld „höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus“14 . Auf Seiten des Subjekts, hier des Großstädters, nimmt Simmel die „seelische Erscheinung“ der Blasiertheit wahr. Sie ist die entsprechende Gestimmtheit oder Befindlichkeit, im landschaftlichen Raum der Großstadt die Last des Daseins zu bewältigen. „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit die Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen

11 | Diese Phänomene gehören eher in den so genannten „Anschauungsraum“ (Ströker), der in der Analyse des Erlebens von Besuchern und Besucherinnen von Erlebnislandschaften im Aufsatz von Sigrid Anna Friedreich „Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein. Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften“ in diesem Band eine Rolle spielt. 12 | Dieser Zusammenhang wird ausführlich im letzten Teil dieses Textes untersucht. 13 | Vgl. Simmel, Landschaft, 1984b. 14 | Zitiert nach Simmel, Großstädte, 1984a, alle Zitate S. 196.

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vorgezogen zu werden.“15 Damit ist eindrucksvoll die Blasiertheit als leiblichseelische Befindlichkeit benannt, die ihren Gefühlsraum im gesellschaftlichen Bereich der Großstadt findet: „Diese Seelenstimmung ist der getreue subjektive Reflex der völlig durchgedrungenen Geldwirtschaft“.16 Gegenüber der Landschaft hebt Simmel keinen besonderen Stimmungswert hervor. Aber er gibt den entscheidenden Hinweis, dass Landschaft durch die Teilung, genauer durch die Verselbständigung von Teilen eines Ganzen („Natur“) zu einem eigenständigen Ganzen sich vollzieht. Landschaft ist nicht Natur, denn Natur ist für Simmel der „endlose Zusammenhang der Dinge“17, das ewige Kommen und Gehen von Formen. Landschaft hat indes eine bestimmte, relativ feste Form. Mit dem Hinweis auf ein eigenständiges Ganzes erkennt Simmel ein Wahrnehmungsphänomen an, das zuvor (1889) von Ehrenfels mit dem Begriff „Raumgestalt“ fasste. Nach von Ehrenfels ist die „Raumgestalt“ etwas anderes als die Summe der einzelnen räumlichen Teile. Es sei, so stellt er an mehreren Beispielen fest, genau diese Gestaltqualität, ein „anschauliches Ganzes“, die sich in den Vordergrund der Aufmerksamkeit dränge.18 Unter dem Aspekt der Blasiertheit als die entscheidende Seelenstimmung der Großstadt wird deren Raum wie eine Landschaft „qualitativ“ erfasst. Simmel bezeichnet die Stimmung selbst als Qualität jeder Landschaft, nämlich dass ihre Anschauung ein Gefühlsvorgang sei.19 Er spricht nicht von Landschaftswahrnehmung, sondern von Anschauung, wie es später auch Ludwig Klages tun wird, der allerdings von „Schauung“ spricht. Anschauung, so Simmel, sei ein „geistiges Gebilde“, nämlich ein Anschauungsbild, damit ein Geschöpf unserer Einbildungskraft oder der Intuition – nicht der Vernunft.20 Wenn Simmel von einem „geistigen Gebilde“ spricht, so meint er damit zum Ausdruck bringen zu können, dass der gestimmte Mensch selbst aktiv am Sehvorgang beteiligt, dass das Sehen selbst gestimmt sei. Anschauung meint keine passive Rezeption 15 | Simmel, Großstädte, 1984a, S. 196 16 | Simmel, Großstädte, 1984a, S. 196 17 | Simmel, Landschaft, 1984b, S. 130. 18 | Von Ehrenfels spricht selbst nicht von Stimmung, jedoch die „innere Wahrnehmung“, die dem Erfassen von Gestaltqualitäten korrespondiert, beschreibt er als ein „Zunehmen oder Verschwinden einer Lust, eines Schmerzes, einer Erwartung, wenn sie Objekte eines innerlichen Vorstellens werden. […] Gestaltqualitäten solcher Art sind es offenbar, welche großenteils den ästhetischen Wirkungen der dichterischen Erzeugnisse zur Grundlage dienen.“ Von Ehrenfels, Gestaltqualitäten, 1960, S. 28 f. 19 | Vgl. Simmel, Landschaft, 1984b, S. 138. 20 | Vgl. den Begriff auch bei König und Plessner. Den Begriff der Intuition (Bergson) hat John Dewey eindrucksvoll auf das qualitative Denken bezogen. Dieses Denken arbeitet (noch) nicht mit Terminologien, sondern mit – Bildern, Metaphern. König, Begriff, 1981; Plessner, Einheit, 1980; Dewey, Denken, 2003.

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einer fix und fertigen Realität. Hier überall steht das Bildhafte dem Begrifflichen gegenüber und beansprucht die Vorreiter-Rolle. Die Einbildungskraft oder Imagination21 ist ein produktives Vermögen des Menschen, etwas unmittelbar (spontan), nämlich als Bild (aber nicht als Gemälde, bemalte Leinwand usw.) zu sehen. An dieser Stelle wollen wir nur festhalten, dass etwas als Bild sehen selbst eine Bildung ist, nämlich ein gezieltes Blicken. Vergleichbar spricht auch Ludwik Fleck von der gerichteten Wahrnehmung bzw. von einer erworbenen Aufmerksamkeitsbereitschaft.22 Dieses Anschauen und Bilden unter Rückgriff auf Phantasie und Intuition versagt sich jeder empirischen Feststellung von dem, was in der Welt der Fall ist. Es geht hier nicht um ein feststellendes Wahrnehmen von Dingeigenschaften. Mit der Anschauung der Landschaft ist keine empirische Tatsachenfeststellung verbunden, sondern ein spontanes Erfassen, ein unmittelbares Vernehmen: Im Blicken liegt ein Können.23 Nach Simmel hat Ludwig Klages das Schauen von Bildern, wie dieser sagt, untersucht.24 Klages hat auch vom „inneren Bild“ gesprochen. 1922 erscheint sein Buch Vom kosmogonischen Eros. Darin unternimmt Klages den Versuch, den Leib- und Seelenzustand der Ekstase als eine vorbewusste und geistunabhängige Haltung zur Welt zu fassen. Die Situation des Rausches, wie er auch sagt, ermöglicht das Schauen von Bildern, das gattungsgeschichtlich vor dem bewussten Wahrnehmen von Dingen anzusiedeln sei. Darauf gehen all jene 21 | In der lateinischen Übersetzung „imagitation“ des griechischen Ausdrucks phantasia kommt das Bildhafte und Anschauliche (image) gut zum Ausdruck . 22 | Vgl. Fleck, Sehen, 1983, S. 147-174. 23 | Wie lässt sich das Phänomen „Erlebnislandschaft“ ferner mit Aussagen zusammenbringen, die Sieferle in seinen historisch angelegten Untersuchungen festgestellt hat? Er unterscheidet zwischen Natur- und Kulturlandschaften, um dann aber darauf zu verweisen, dass es heute keine Naturlandschaften mehr gibt, da alle uns Menschen bekannten Landschaften nur durch unseren Blick wahrgenommen werden können. Und dieser Blick ist kulturell überformt. „‚Landschaft‘ als das erscheinende Ganze räumlich ausgedehnter Wirklichkeit bietet sich nicht von selbst dem Betrachter an, sondern ist auf ein Vorab-Verständnis angewiesen, das auf historischen Voraussetzungen beruht. Der synthetisierende Blick des Betrachters ist eine konstruktive Leistung, die sich ästhetischer Schulung und lebensweltlicher Distanzierung verdankt.“ Sieferle, Landschaft, 1998, S. 156 f. Insofern besteht hier ein Konsens auch zu Simmel und Fleck. Zusätzlich verweisen wir mit unserer Forschung auf eine soziale Lebensform, in der dieser „synthetisierende Blick“ auch stimmungsmäßig in weitere Fragen des „gelingenden Lebens“ eingebunden ist. 24 | Von Klages stammt auch der Ausdruck von der „Wirklichkeit der Bilder“, der aktuell wieder in den Publikationen von Gernot Böhme, z.B. in Böhme, Grundbegriff, 1995, S.28.

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Ereignisse zurück, die wir als „Aufleuchten innerer Bilder“ bezeichnen. Für Klages unterscheidet sich die Schauung unsagbarer Bilder grundlegend vom willkürlichen Wahrnehmungsakt.25 Er macht dies am Beispiel Landschaft fest: „Ich kann eine schöne Landschaft nicht mit mir nehmen; aber ich kann mir von ihr eine ‚Vorstellung‘ machen, soweit mir von ihr ein inneres Bild geblieben. Während die gegenständliche Landschaft als selbige Sache bleibt, wo sie ist, wandert ihr Bild mit den tausenden von erlebenden Eigenwesen, die ihres Anblicks teilhaftig wurden, und zwar sowohl in jedem schon an und für sich ein andres als auch hinwieder ein andres nach den Beleuchtungsfarben, Geräuschen, Bewegungen des jeweils zugrunde liegenden Vorbildes.“26 Das Bild geht auf ein Erleben zurück und bleibt an den Erlebenden gebunden, kann von ihm erinnert werden. Freilich verwandelt es sich im Laufe der Zeit, wie sich auch der Träger des Bildes wandelt. Klages will die Wahrheit und Wirklichkeit der Bilder einer Landschaft gegen die Wahrnehmung der Landschaft als Ding verteidigen. Oder anders ausgedrückt: er will das Erleben und Empfinden, das Eindrucksbild einer Landschaft, als ein qualitatives Erspüren von Welt gegenüber dem neuzeitlich sachlichen Erkennen und Analysieren in sein eigenes Recht setzen. Das „innere Bild“ hält aber trotz seiner Wandlungsenergie etwas fest vom ursprünglichen Ereignis der Schauung.27 Diese Haltung, zwischen dem Schauen und Wahrnehmen einen Bruch zu fixieren, nimmt auch Erwin Straus auf, jedoch mit umgekehrtem Ziel. Er unterscheidet zwischen Empfindung und Wahrnehmung. Diesen beiden Begriffen ordnet er entsprechende räumliche Gegenstände zu: dem Empfinden – die Landschaft, der Wahrnehmung – den geographischen Raum. Untersuchen wir genauer, wie Straus das Empfinden beschreibt, so kommen wir durchaus zu der Meinung, dass er unter Empfindung die Phänomene aufreiht, die Simmel bzw. Klages unter Anschauung bzw. Schauung gefasst hatten.28 „Das Empfinden

25 | Klages, Ethos, 1930, S. 106 f. 26 | Klages, Ethos, 1930, S. 107. 27 | Plessner kritisiert an Klages Vorgehen, dass er fehlerhaft „in der Einheitsschicht des leiblichen Verhaltens anstatt einer Sphäre bildhaft-sinnhafter Indifferenz einen Inbegriff von mehr oder weniger festen Sinnbildern oder Bildbedeutungen“ sehe. „Für Klages ist das Ausdrucksleben eine Bilderwelt von ausgesprochener Determiniertheit. Der Leib ist für ihn eine Koinzidenzfläche von Bild und Sinn.“ Plessner, Deutung, 1953, S. 159. 28 | Ähnliches lässt sich schon bei Cassirer feststellen, der den mythischen dem mathematischen Raum gegenüberstellt. Der mythische Raum oder Raum des Primitiven weist bei Cassirer all die Phänomene auf, die ansonsten dem erlebten Raum zugeordnet werden. Der zentrale Unterschied bzw. die zugrundeliegende Haltung scheint darin zu bestehen, dass Cassirer eine aufsteigende Entwicklung vom primitiven zum wissen-

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verhält sich zum Erkennen, wie ein Schrei zu dem Wort.“29 Dieses Zitat lässt schon durchblicken, dass Straus das Thema des Empfindens und Erlebens aus dem größeren Zusammenhang der menschlichen Erkenntnisvermögen entwickeln möchte. Dahinter steht die Haltung, schon die primitivsten Formen der menschlichen Welthabe30 als einen möglichen Beitrag für das wissenschaftliche Fortschreiten zu interpretieren. Das Empfinden wird als ein frühes, „naives Dahinleben“ geortet, das von sich aus keinen Anlass verspürt, sich einer Reflexion und Objektivierung zu öffnen. Wichtig für die wissenschaftliche Lebenswelt wird erst der vollzogene Übergang vom Empfinden zum Wahrnehmen. Mit der Überwindung des Empfindens ist die „erste Stufe der Erkenntnis“ erreicht: „das Innewerden des Nicht-Wissens“ (S. 332). Das Wissen setzt ein mit Verallgemeinerungen und weiteren Erkenntnissen, die Antworten bereitstellen können auf die Frage, wie ein Ding „an sich beschaffen ist“31 (S. 333). Die Welt, in die Straus seine Protagonisten stellt, ist die des wissenden Verstandes. Der Betrachter stellt die Dinge der Welt sich gegenüber. Erst durch die Einnahme eines entsprechenden exzentrischen Standorts kann objektive Wahrheit angepeilt werden.32 Straus traut dem unmittelbaren Empfinden keine eigene Wahrheit zu und verhält sich stets in Distanz zu dem, was ihn sinnlich betreffen mag.33

schaftlichen Raum als menschheitsgeschichtliche Tendenz unterstellt. Vgl. Cassierer, Raum, 1975. 29 | Straus, Sinn, 1956, S. 329. 30 | Vgl. ähnliche Ambitionen bei Ernst Cassirer, Raum, 1975 sowie Mensch, 1960. 31 | Straus, Sinn, 1956, S. 333. 32 | Erich Rothacker hat bei Straus eine „Querstellung zum Erleben“ ausgemacht, die dadurch möglich wird, dass eine „(egozentrische) Perspektive durch einen Punkt außerhalb des Zentrum des Erlebens“ überwunden wird. Rothacker, Anthropologie, 1982, S. 159. 33 | Hans Lipps sieht hier, anders als Straus, eher ein Verhältnis notwendiger Übergänge und Grundlagen. Der Mensch ist zur Welt nur derart, als er in ein Verhältnis zu ihr tritt oder sich aufhält bei den Dingen. Es sind Situationen, Um- und Widerstände, in die er gerät. Empfindungen setzen ein „Ich bin“ voraus, im Sinne meines Mit-(Da)-Seins. Im Empfinden findet man sich inmitten des Seienden. Was immer mich bewegt – in meinem Befinden ist etwas davon aufgenommen. So ist die Wahrnehmung auch etwas anderes als das Haben einer Empfindung. Vielmehr nimmt es die Wahrnehmung im Sehen, Hören, Tasten usw. mit den Dingen auf und versichert sich ihrer Wirklichkeit. Im Empfinden bestätigt der Mensch sein Vermögen, aufgeschlossen zur Welt zu sein. Ein Vermögen, das sich z.B. in Auge und Ohr organisiert. Man „hört“ ja nicht nur ein Geräusch im Haus oder auf der Straße, sondern auch den Rat, den mir der Freund gibt. Den Freund selbst höre ich in seinem Rat. Empfindungen geschehen im Horizont der Welt, so die Position von Hans Lipps. Vgl. Lipps, Natur, 1977b.

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Vor dem Hintergrund, den Straus einführt, werden auch Räume oder räumliches Verhalten unter der Hinsicht betrachtet, inwiefern sie entweder rein subjektiv bzw. egozentrisch oder objektiv und verallgemeinerungsfähig sind. Im Zentrum der Behandlung des Raumthemas bei Erwin Straus steht die Unterscheidung von Empfindung und Wahrnehmung (Erkenntnis). Während das Empfinden eine räumliche Mitte besitzt, nämlich den Ort des Empfindenden, geht die Wahrnehmung zwangsläufig über die perspektivische Bindung an einen konkreten (räumlichen) Standpunkt hinaus. Die Wahrnehmung, da sie eine objektive Perspektive bedeutet, steht für Straus ganz im Dienst der wissenschaftlichen Aufklärung: „Die Wahrnehmung bedarf wie alle Erkenntnis eines allgemeinen objektiven Mediums. Die Wahrnehmungswelt ist eine Welt von Dingen mit festen und veränderlichen Eigenschaften in einem allgemeinen, objektiven Raum und einer allgemeinen, objektiven Zeit.“34 (S. 334) Auch das Empfinden soll in seiner Bedeutung „als eine Art des Erkennens“ aufgefasst werden. Objektivierbar, so Straus, werden Empfindungen als Ausdruck bzw. als Kennzeichnung von Eigenschaften, die an Menschen, Tieren, Gegenden und Gegenständen festgestellt werden können. In der Objektivierung nimmt man den Empfindungen das Spontane. In der bewussten künstlerischen Darstellung können wir allenfalls wiederholen, was wir an uns selbst erlebt haben. Dann „leben wir in der Wiederholung“, die „unecht“ ist: „Alles Unechte gehört der geistigen Sphäre an, ist an die Möglichkeit der Objektivierung, des Allgemeinen, des Wiederholbaren geknüpft“35 (S. 335). Damit will Straus begründen, warum der Mensch, insofern er sich als geistiges Wesen erkannt hat, eigentlich nicht (mehr) empfindungsfähig ist. Allein das Tier hat Empfindungen, und der den Empfindungen zuzurechnender Raum ist die Landschaft. Damit tut sich eine spannende Relation auf: „Der Raum des Empfindens verhält sich zum Raum der Wahrnehmung wie die Landschaft zur Geographie.“36 (S. 335) Der Raum der („reinen“) Landschaft ist der Empfindungsraum. Auf der anderen Seite macht Straus aber deutlich, dass er das Tier vom Menschen gerade dadurch abhebt, indem er das Tier dem Empfinden zuordnet, den Menschen dem Wahrnehmen. Die Welt des Tieres wird empfunden, die des Menschen wahrgenommen, so seine These. Der Mensch habe sich selbst einmal auf dieser Stufe des Empfindens (und damit innerhalb der Landschaft) befunden, sie aber auf seiner kulturgeschichtlichen Entwicklung hinter sich gelassen und überwunden.37 Seine Welt nur mehr wahrzunehmen, dies scheint aber allein ein Idealzustand zu sein, den nur der aufgeklärte Wissenschaftler permanent ein34 | Straus, 1956, Sinn, S. 334. 35 | Straus, 1956, Sinn, S. 335. 36 | Straus, 1956, Sinn, S. 335. 37 | Vgl. auch Cassirer, Mensch, 1960, insbes. S. 140-175, vgl. auch die Kritik an Cassirer bei Bollnow, Philosophie, 1970, S. 59 f.

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nimmt.38 Auch wenn es so scheinen mag, als ob Straus eine „menschliche Welt der Wahrnehmung“ radikal der „tierischen Welt der Empfindung“ gegenüberstellt, so kommt er dennoch nicht an der praktisch-pragmatischen Wirklichkeit vorbei. Er weiß genau, dass jene Gegenüberstellung nur eine idealtypische Differenzierung von Welten und Räumen ist, die „empirisch“ nicht halten kann, was sie dem absoluten Denken verspricht. Selbst leiblich in einer Landschaft verortet, stehen wir ihren Gegenständen (Bäumen, Gebäuden usw.) nicht gegenüber, sondern erleben uns unter ihnen. Das Leib-Hier wird als Mitte dieses Raumes erlebt. Das landschaftliche Raumerlebnis bedeutet dann, um mit Martin Seel zu reden, die Erfahrung, „was es heißt, mitten unter diesen Gegenständen zu sein: in ihrer Nähe und Ferne, in ihrer beengenden oder befreienden, beredten oder stummen Gegenwärtigkeit“.39 Jedes Bauwerk, davon ist Seel überzeugt, lässt einen „Raum von Räumen“ entstehen, ein Ensemble, das „zugleich einen Raum für Räume“ bildet, „indem es Übergänge und Durchgänge, Brüstungen und Schwellen, Aussichten und Hereinsichten hervorbringt“40. Diese Pluralität von Räumen wird letztlich zu einem Raum integriert, den Seel „den Raum einer Landschaft“ nennt. Zu diesem Raum der Landschaft finden sich nun u.a. Bauten und Bäume, Licht und Himmel, Ruhe und Lärm usw. zusammen. „Mit nur wenig Übertreibung kann man daher sagen, dass Landschaft das spatiale und temporale Grundverhältnis ist, in dem Bauwerke stehen und auf das sie sich einstellen müssen. Landschaften – seien es solche (eher) der Natur oder der Stadt – sind ein vielgestaltiger und unüberschaubarer Geschehenszusammenhang, der allein aus seinen wechselnden Mitten heraus wahrgenommenen werden kann.“41

38 | Überall, wo rein empfunden wird, ist ihm landschaftlicher Raum. Hier etwas drastisch ausgesagt: „Die Kneipe ist stimmungsvoller Raum und die Mitte des Lebens des Trinkers.“ S. 343. Landschaftliche Räume gehören für Straus nicht zur menschlichen Welt, denn in dieser lebt man von der Distanz und dem Gegenüber-Haben von Raum und Zeit. Dem Trinker gelingt es nicht, „die Grenzen zur Landschaft endgültig zu überschreiten“. Diesen Schritt hätten auch Kinder noch vor sich: „Noch leben sie in einer kindlichen Welt, nahe der Landschaft, aber weil sie Menschen, weil sie Männer werden sollen, weil sie ‚des Geistes Kinder‘ sind, beginnen sie noch mitten im Spiel die Abkehr vom landschaftlichen Dasein“. Straus, Sinn, 1956, S. 345. 39 | Seel, Studien, 1996, S. 61. 40 | Seel, Räume, 2003, S. 144. 41 | Seel, Räume, 2003, S. 144.

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4. V ON DER G ESTIMMTHEIT DES L EBENS ZUR A NSCHAUUNG DES B EDEUTSAMEN Was soll nun aber unter Erleben, einem Erlebnis, unter Situation usw. verstanden werden? Wie sieht es in der Wissenschaftsgeschichte von Erleben, Erlebnis aus? In der Philosophie und Wissenschaft (Psychologie) vom Erleben usw. gibt es eine zentrale Tendenz, die zu beachten ist. Seit Descartes nämlich wird das Erleben als eine Vorstufe des Erkennens, also des auf Wissenschaft gerichteten Denkens gesehen. Man betrachtet, wie wir es auch bei Erwin Straus gesehen haben, das Erleben in seiner Erkenntnisfunktion. Insofern sind die Ausdrücke Wahrnehmen, Vorstellen, Denken usw. durch diese Tradition belastet. Darüber hinaus interessiert man sich in dieser Richtung insbesondere für die „Inhalte“ des Bewusstseins, vernachlässigt aber, das Erleben als ein Vermögen und als eine Tätigkeit zu verstehen. Zu dieser Tradition gehören dann vor allem die englischen Sensualisten bzw. Empiristen Locke und Hume.42 Ein radikal davon abweichendes Nachdenken über das „ganze“ menschliche Leben hat ihren wesentlichen Impuls durch den deutschen Philosophen Wilhelm Dilthey (1833-1911) empfangen.43 Er hat jener Elementarpsychologie eine „geisteswissenschaftliche“ bzw. „sinnverstehende“ Psychologie gegenübergestellt.44 Dieser Denkrichtung geht es nicht länger darum, philosophisch „über“ das Leben zu sprechen. Vielmehr soll „das Leben aus ihm selber“ verstanden werden. Dilthey setzte sich für eine „Hermeneutik des Lebens“ ein, die auf alle von außerhalb des Lebens an es herangeführten und ihm fremden Ziele und Zwecke verzichten sollte. Von ihm stammt auch der grundlegende Gedanke, dass eine solche Hermeneutik sich auf die Auslegung von Texten zu beziehen, dass sie eine Auslegungskunst von sprachlichen Äußerungen zu sein habe: In der Auslegung solcher Texte trifft Leben auf Leben.45 Hinter dieses Leben zurückzugehen, um zu Erkenntnissen zu gelangen, wird nun undenkbar, es sei denn, man wolle „dahinter“ weiteres Leben suchen. Das Verstehen des Lebens wird entlang so genannter Kategorien des Lebens vollzogen, die dem menschlichen Verhalten selbst entnommen

42 | Vgl. Katz, Gestaltpsychologie, 1951, S. 34 ff. In dieser Tradition wird zwischen „sensation“ und „idea“ unterschieden, was später in der deutschen Wahrnehmungspsychologie mit Empfindung und Vorstellung übersetzt wurde. Darin identifizierte man einmal die einfachen Erscheinungen oder Gegebenheiten des Bewusstseins als Empfindung und den Gegenstand bzw. die „Inhalte“ des Bewusstseins als Vorstellung. 43 | Vgl. zum folgenden Dilthey, Aufbau, 1981; sowie Bollnow, Dilthey, 1980; Fellmann, Pragmatismus, 1991; Jung, Handlung, 2009. 44 | Vgl. Landgrebe, Prinzipien, 1971, S. 111 f. 45 | Fellmann sieht in Diltheys „Lebensphilosophie“ die Vorbereitung einer vom „Leben“ ausgehenden Philosophie des Geistes. Vgl. Fellmann, Pragmatismus, 1991, S. 21.

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sind. Sie sollen dafür sorgen, dass dem Verstehen des Lebens nichts diesem Äußerliches unterstellt wird. Wir werden darauf nicht näher eingehen.46 Martin Heidegger hat unter dem Eindruck Diltheys und Husserls das Erleben, Empfinden, Gefühl unter einer einheitlichen Perspektive betrachtet, insofern er ihnen einen vorreflexiven und vorsprachlichen Zugang zur Welt und zum Ich zusprechen konnte. Er hat darin eine besondere Struktur des Daseins erkannt, die er Erschlossenheit nannte. Er spricht in Sein und Zeit vom „In-der-Welt-Sein“. Damit ist ein „ursprüngliches“ oder besser: primäres Verhalten des Menschen zur Welt gemeint: nämlich, wie Heidegger sagt, der Aufenthalt bei den vertrauten Dingen. Heidegger geht es darum, eine leibliche, bewusstseinsunabhängige Grundvoraussetzung beim Menschen zu beschreiben, die normalerweise nicht oder nur wenig beachtet wird, wenn wir uns ein Verständnis vom Menschen machen. Er nennt diesen Zustand die Stimmung, das Gestimmt-Sein. Stimmung ist als Phänomen ein Existenzial, d.h. es beschreibt unser faktisches Menschsein und ist theoretisch nicht zu hintergehen. „Der ungestörte Gleichmut ebenso wie der gehemmte Missmut des alltäglichen Besorgens, das Übergleiten von jenem in diesen und umgekehrt, das Ausgleiten in Verstimmungen“47 sind echte Phänomene, auch wenn wir sie niemals in unserem Alltag zur Kenntnis nehmen. Diese Gestimmtheiten des Menschen bedürfen aber der sorgfältigen Betrachtung, weil sie zeigen, dass das Dasein immer schon stimmungsmäßig erschlossen ist. Den Menschen eignet im Leben eine Grundgestimmtheit, die jedes bewusstere Verstehen und Begreifen von Welt stimmungsmäßig unterlegt. Diese Grundsituation nennt Heidegger auch Befindlichkeit. Das menschliche In-der-Welt-Sein bei den uns vertrauten Dingen, ebenso unser praktisch-pragmatisches Verstehen dieser Welt sind geprägt durch Befindlichkeit, unabhängig irgendeines Bewusstseins oder Wollens. Stimmung und Gestimmtheit lassen sich nicht manipulieren. „Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von ‚Außen‘ noch von ‚Innen‘, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-Seins aus diesem selbst auf.“48 Dieser Hinweis, dass Stimmung weder im Subjet noch im Objekt zu verorten ist, wollen wir weiter verfolgen. Heideggers Beispiele berühren vor allem 46 | Es sind aber – neben der Hermeneutik – ebenso die Verdienste der Gestalttheorie mit ihren empirisch-psychologischen Forschungen anzuführen. Wir denken hier vor allem an von Ehrenfelds Entdeckung der so genannten Gestaltqualitäten. Die Kritik der Gestalttheoretiker am sensualistischen Empfindungsbegriff hat vor allem ein Verständnis dessen, was Gestalt überhaupt ist und dabei das Verhältnis des „Ganzen“ zu seinen „Teilen“ und umgekehrt, sehr befördert. Vgl. Katz, Gestaltpsychologie, 1951; Metzger, Psychologie, 1954. 47 | Heidegger, Sein, 1984, S. 134. Zu Heidegger s. Tugendhat, Selbstbewußtsein, 1994; Fink-Eitel, Philosophie, 1992 u.a.m. 48 | Heidegger, Sein, 1984, S. 136.

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das selbstverständliche und beiläufige Erfassen unserer alltäglichen Welt, die er von der wissenschaftlichen Sicht auf die Dinge scharf trennt. Wie hängen Stimmung und Alltagswahrnehmung zusammen? Während das analytische Betrachten der alltäglichen Welt diese in ihrer bloßen Vorhandenheit, nämlich losgelöst von ihrer lebensweltlich-primären Bedeutung, einförmig zu erklären unternimmt, zeichnet das alltägliche Auffassen der Dinge folgende Weise: „Gerade im unsteten, stimmungsmäßig flackernden Sehen der ‚Welt‘ zeigt sich das Zuhandene in seiner spezifischen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist.“49 Stimmung als leiblich eingesenktes Selbstgefühl steht der Welt draußen nicht gegenüber, vielmehr wird die Welt, zu der mein Wissen von mir selbst auch gehört, immer schon stimmungsmäßig erschlossen. So gilt auch für das Gestimmtsein, das es sich nicht zunächst auf Innerseelisches bezieht, selbst kein Bewusstseinszustand ist, der dann auf mysteriöse Weise nach außen gelangt und auf Menschen und Dinge abfärbt. So ist auch das, was man „Seelisches“ nennen könnte, immer schon gestimmt.50

Das Wissen um meine Erlebnisse Wie kann das erlebende Subjekt von seinem Erleben wissen? Denn zweifellos ist das Erlebnis ein „Wissen“ des Erlebnisses.51 Was nun aber das Ganze unsere Erfahrung des In-der-Welt-Seins ausmacht, so ist gerade auf die Vielfältigkeit der Zustände einer Bewusstseinslage hinzuweisen. Und gerade auf die Unterscheidung von nicht-gegenständlicher, intimer Unmittelbarkeit des Erlebnisses und wahrgenommenem, vorgestelltem oder denkerisch-begrifflich-kategorial gefasstem Gegenstand innerhalb unserer Gesamterfahrung konzentriert sich eine „Philosophie des Erlebens“. Diese konstituiert das Erlebnis als „Organ“ der Welterfahrung und des Welterkennens. Dem Erleben eignet dann eine eigene Form des nicht-diskursiven Wissens um die Wirklichkeit der Welt. Alles, was unmittelbar im Erleben gegeben und vollziehbar ist, kann nur in seiner Bedeutung verstanden, nicht aber kausal erklärt werden.

49 | Heidegger, Sein, 1984, S. 138. 50 | Auch der theoretisch interessierte Wissenschaftler, der im Laboratorium scheinbar emotional ungerührt seine Versuche durchführt, so befand Heidegger noch während der 1965er Jahre, ist in einer bestimmten Stimmung, die nicht Gleichgültigkeit sei, sondern Gleichmütigkeit, die eben verhindere, von etwas anderem erfasst zu werden als von der vorliegenden Sache. Vgl. Heidegger, Seminare, 1987, S. 252. 51 | Ob Gefühle einen „propositionalen Charakter“ und damit eine „Erkenntnisfunktion“ besitzen, diskutiert Hilge Landweer in ihrem Aufsatz “Verständigung über Gefühle“. Landweer, Verständigung, 1995.

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Georg Misch wehrt sich in seinen Vorlesungen52 gegen die Vorstellung vom isolierten Menschen, der in sein Bewusstsein wie in einen Binnenraum eingeschlossen ist. Man müsste in diesen „Raum“ erst gewaltsam Fenster und Türen einsetzen, damit das Innere überhaupt nach außen treten könnte. Auch die Rede, wir hätten es beim Erleben mit unmittelbaren Lebensäußerungen zu tun, geht von einem Inneren aus, das – sich äußernd – nach außen tritt.53 Man bestimmt dann Vorstellungen, Gefühle, Affekte, Freude und Begeisterung, den Schreck als etwas Inneres, das Emporspringen, Hin- und Herlaufen oder verzerrte Mienen als etwas Äußeres. Hinter dieser Idee, unsere Sprache gebe innere Zustände nach außen kund, verbirgt sich die Trennung von Leib (Körper) und Seele (Bewusstsein). Misch macht darauf aufmerksam, dass traditionell der menschliche Leib eine besondere Art unter den Körpern darstelle, „die wir wie Steine und Erdschollen und dergleichen in unserer Umwelt finden“54 . Dieser eher materiellen Vorstellung setzt er die Erfahrung des Menschen gegenüber, die dieser vom eigenen „Leib“ hat und stellt fest: „Von dem Lebensgefühl aus gesehen, ist der Leib die primäre Erfahrung.“55 Dann kommt er zu einer wichtigen Unterscheidung zwischen Gefühl und Wahrnehmung. Die mit einem Leibgefühl verbundenen Empfindungen sind einzigartig gegenüber allen „Empfindungen, die uns die Außenwelt vermitteln, wie Auge, Ohr etc.“ Auf der einen Seite finden wir die notwendige Abgrenzung von Leib und Körper vor. Der Leib bedeutet eine ganz andere Umgrenzung unser Selbst als der Körper, der auch begrenzt ist. Auf der anderen Seite schließt der Leib uns nicht bloß nach außen ab, sondern uns zugleich für die Umwelt auf. Das deshalb, so Misch, „weil […] die leibhaftigen Bewegungen nur in der Orientierung zur Umwelt oder eingreifend in die Umwelt eben leibhaftige Bewegungen sind.“56 Bewegung setzt sowohl Leib und Körper als auch die (räumliche) Umwelt voraus, in der ich mich lebend und erlebend orientiere. Wir sehen die vor Freude leuchtenden Augen und schließen dabei nicht vom äußeren Anblick (der leuchtenden Augen) auf ein „inneres Gefühl“ (die Freude). Sich auf Plessner beziehend, führt Misch weiter aus, dass der Andere mir „in einer bestimmten Haltung (begegnet), in der er sich leibhaftig – im eigentlichen Verstande des Wortes leibhaftig – befindet und 52 | Wir beziehen uns auf Georg Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Freiburg/München 1994. Die Vorlesungen wurden in den Jahren 1921 bis 1924 gehalten. 53 | Vgl. Misch, Aufbau, 1994, S. 145 f. 54 | Misch, Aufbau, 1994, S. 147. 55 | Misch, Aufbau, 1994, S. 147. 56 | So hat ja auch Hans Lipps, wie wir unten noch sehen werden, den Raum, in den „ausgreifend lebendige Bewegung geschieht“, von anderen „Räumen“ unterschieden. Lipps, Raum, 1977c.

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die mich ebenso leibhaftig (in meiner Haltung, A.H.) berührt“57. Wir begegnen den Anderen stets unter bestimmten Lebensumständen. Diese Situation kann ich jedoch nur erleben, da mein Leib nicht nur mich nach außen abschließt, „sondern [dieser Leib, A.H.] schließt zugleich auf gegenüber der Umgebung“. Weil das so ist, haben Leibes-Haltungen einen Ausdruckscharakter, der, wie das Beispiel der Freude zeigte, verstanden werden kann: ich „sehe“ ihm seine Freude, Trauer, Wut usw. unmittelbar an.58 Lebensäußerungen, ob affektiv oder aktiv, haben als leibhafte Bewegungen einen anschaulichen Charakter. Damit ist aber nicht gemeint, man erlebe leuchtende Augen, sondern man erlebt, wie der andere von Freude ganz durchstimmt ist. Im „mitgehenden“ Erleben werden wir zugleich von etwas „fortgezogen“, d.h. wir haben es mit einer aktiven und passiven Seite zu tun: fortgezogen werden können wir nur, wenn uns beim Erleben etwas aufgegangen ist. Misch spricht davon, dass es sich bei diesem Phänomen um eine „realisierende Vergegenwärtigung“ handelt, eine „letzte Einheit“, bei der das „passivische Fortgezogenwerden ein Bewusstgewordensein voraus(setzt), das aktivische Mitgehen ein Bedeuten“59. Um dies zu verdeutlichen, verwendet Misch das Wort Eindruck: „Im Eindruck geht mir die Bedeutsamkeit dessen auf, was im Eindruck nicht bloß gesichtet wird, sondern auch bewusst als Kraft auf mich wirkt, seine Kraft mir mitteilt.“60 . Diese Gleichzeitigkeit oder auch Einheit von Eindruck und Wirken ist herauszuheben. Zugleich finden wir ein primäres Wissen um Bedeutsamkeit vor. Davon wird noch ausführlich zu sprechen sein. Josef König spricht vom bestimmten Eindruck, insofern er Eindruck von diesem Bestimmten ist.61 Es geht ihm darum, die komplizierte Genesis des Eindrucksvon aufzuklären, also um „den Eindruck, der dadurch charakterisiert ist, daß das Wovon ihm einwohnt“62 . König unterscheidet den bestimmten Eindruck, der aussieht wie eine Hasenspur, von dem bestimmten Eindruck von Güte oder Lebendigkeit, wonach ein Mensch aussieht. Das Wovon eines körperhaften Ein57 | Misch, Aufbau, 1994, S. 150. 58 | Ähnlich wiederum bei Landgrebe, der Ausdruckscharaktere des Anziehenden, Abstoßenden und Erschreckenden nennt. Diese seien das Erste, „wonach die Umwelt gegliedert erscheint, lange bevor es so etwas wie ein Bewußtsein von unterscheidbaren Gegenständen mit ihren sinnlichen Qualitäten gibt“(Landgrebe, Prinzipien, 1971, S. 118 f.) Die Aktivität des Bewegens zeigt sich im Sich-Hinrichten zu den Ausdrucksqualitäten, denn ohne diese Hinbewegung könnten die „Sinne in derjenigen optimalen Weise [nicht] affiziert werden“, dass überhaupt eine Wahrnehmung zustande kommt. S. 119. 59 | Misch, Aufbau, 1994, S. 196. 60 | Misch, Aufbau, 1994, S. 197. 61 | König, Sein, 1969, S. 10. 62 | König, Sein, 1969, S. 17, Anm. 1.

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drucks, der einer Hasenspur, ist anders zu bewerten wie das Wovon oder Wonach des Eindrucks von Lebendigkeit, Güte oder auch des von Raumtiefe. Die Hasenspur ist ihrem an etwas Äußerem bestimmten Aussehen nach objektiv beschreibbar und der Eindruck eines gewissen Tiers. Davon hebt König einen anderen bestimmten Eindruck ab: z.B. sieht ein Mensch nach Güte aus. Das Wissen von Dingen und Menschen, die der Außenwelt angehören, muss als „unter einer Wirkung von außen stehend“ verstanden werden. Nun ist aber zu unterscheiden, wie wir in pragmatischer Einstellung einen beiläufigen Eindruck von einem Ding oder Menschen erhalten und dem Erlebnis dieses bestimmten Eindrucks, der von einem bestimmten Wirken nicht abgesetzt werden kann. Nur insofern etwas so wirkt, erzielt es einen bestimmten Eindruck. König hebt hervor, dass der Eindruck von einem Wirken nichts Hinzukommendes ist, wie etwa zur Wahrnehmung von einer Rose, die ich gerade erwerben will, noch hinzutritt, dass diese rot und nicht gelb ist, aber nicht rot wirkt oder so anmutet. Wir haben es hier mit dem Queren von zwei Aktivitäten zu tun: Die Wirkung bewegt sich auf mich zu, sowie ich diese Wirkung als meinen Eindruck empfange: „der Eindruck offenbart, macht ansichtig; er, der in mich irgendwie hineinkommt, offenbart mir in einer Bewegung, die von ihm her auf das ansichtig Gemachte zugeht“63 . Diese von den beiden Polen kommenden Bewegungen, die von außen wie von innen im Eindruck-von zusammenlaufen, meinen deshalb auch einen doppelbödigen Eindruck „von“. Es ist sowohl der Eindruck von einer bestimmten Sache, einem bestimmten Ding (z.B. von einem verlegen wirkenden Lächeln), als auch der Eindruck, mit dem dieses „Wovon“ ursprünglich verknüpft ist (z.B. von Verlegenheit). Dass es dieser bestimmte Eindruck von Geborgenheit ist, geht nicht auf einen zum Wirken erst noch dazukommenden kognitiven Akt zurück. Wenn beispielsweise in Martin Mosebachs Roman „Was davor geschah“ zu lesen ist: „Das Haus war groß, enthielt aber Zweitwohnungen, die meisten Mieter habe ich nie gesehen, es gab Tage, an denen die Verlassenheit dieses Hauses spürbar wurde, wenn ich meine Räume gar nicht verließ und mich inmitten der leeren Gehäuse um mich herum fühlte wie der Portier eines Bürohauses am Wochenende“64 , dann wird hier nicht ein empirisches Aussagewissen vorgeführt. Vielmehr erschließt sich dem Helden seine Welt mittels des Fühlens und Spürens auf eine bestimmte Weise. Ihn überkommt eine Anmutung von Verlassenheit und Leere. Selbstverständlich bedeutet dieses Sich-Erschließen ein Wissen von Welt. Für unsere gesamte Fragestellung ist das angemessene Zusammenfügen von Erlebnis, Eindruck und Wirken zentral. Auf die Frage, wie sich der Mensch in der Gewohnheit und Alltäglichkeit des Daseins findet, ist (mit Heidegger) zu 63 | König, Sein, 1969, S. 24. 64 | Mosebach, Was, 2010, S. 13.

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antworten, dass das Dasein immer schon gestimmtes Dasein und zwar von Welt durchstimmtes Dasein ist. Von dieser Gestimmtheit, darüber haben wir oben schon gesprochen, ist das bloße Vorhandensein von Dingen und Gegenständen zu unterscheiden. Eine Stimmung kann man nicht wahrnehmen wie ein Haus oder einen Baum. Das Gestimmt-Sein sowie besondere Stimmungen (Freude, Trauer usw.) bezeichnen die Weise, wie der Mensch sich in der Welt befindet. Es bleibt aber die Frage, inwiefern überhaupt etwas im Erleben unsere gestimmte Aufgeschlossenheit erregen und unsere Aufmerksamkeit treffen kann. Misch spricht daraufhin das „primäre Wissen von Bedeutsamen“ an.65 Bedeutsamkeit setzt voraus, dass wir vom Wort nicht vom Begriff ausgehen. Der Begriff (als wissenschaftlicher Terminus) abstrahiert vom Wortlaut auf eine allgemeine Bedeutung. Das gesprochene Wort muss verstanden werden aus der Gebundenheit sowohl an eine Situation, in der es fällt, wie an den „geschichtlichen“ Hintergrund einer Lebenslage und Lebensform. Das Wort ist gebunden an eine lebendige Sprache und ihre prägenden Horizonte66, der Begriff an eine wissenschaftliche Disziplin, zusammengehalten von denkstil-typischen Voraussetzungen. Was hat es mit diesem Wissen des Bedeutsamen auf sich? Sein Ursprung ist darin zu suchen, „daß wir in einer Welt, in der wir immer schon gelegen sind, uns befinden, in irgendeiner Weise uns verhaltend“67. Bezüglich dieser vorgängigen Haltung zur Welt bekommen die Stimmungen und Affekte ihre Bedeutung für unser Wissen zugewiesen, denn in den Stimmungen erschließt sich uns ursprünglich, vor allem Erkennen und Wollen, was wir in unserer Welt zu tun haben und wovon wir darin betroffen werden. Wie aber kommen wir vom Erleben bzw. Erlebnis zum Wissen des Bedeutsamen? Erleben als das gestimmte, affektive Verhalten ist ein Betroffen-Werden und ein Mitgehen zugleich. Es schließt mir die (räumliche) Umwelt auf bezüglich der Lage in der Welt, in der ich mich befinde. Lipps zentrale Aussage zu Erleben oder Erlebnis lässt sich auf eine Kurzform bringen: Etwas erleben und von etwas in bestimmter Weise bewegt werden ist dasselbe.68 Das Verständnis von Erlebnis, das ähnlich auch für Misch leitend ist, findet sich dann ausgeformt in Lipps’ Aufsatz: „Die Erlebnisweise der ‚Primitiven‘“69 . Es lässt sich als eine Zusammenfassung dessen lesen, was wir schon formuliert haben: „‚Erlebnis‘ 65 | Misch, Aufbau, 1994, S. 202. Inwiefern Misch hier Heidegger missversteht, können wir nicht weiterverfolgen. 66 | Hans Lipps spricht hier stets von einer „Konzeption“. 67 | Misch, Aufbau, 1994, S. 203. 68 | Vgl. Lipps, Raum, 1977c, S. 176. 69 | Vgl. Lipps, Erlebnisweise, 1977a, S. 26-37. Auf einen ersten Blick mag das Thema den Untersuchungen ähneln, die Ernst Cassirer unter dem „mythischen Denken“ veröffentlicht hat. Wir können an dieser Stelle nicht eingehen auf die philosophischen Hintergründe, die die Zugänge von Lipps und Misch bzw. von Cassirer unterscheiden.

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meint das, wo man dabei ist. Nur in der Welt kann etwas erlebt werden. Gefühle, Affekte usw. können nur daraufhin als Erlebnisse benannt werden, als man sich ‚unangenehm berührt‘, ‚bedrückt‘, ‚erheitert‘ usw. fühlt durch dasjenige, was man insofern ‚erfährt‘. Nur sofern man sich ‚irgendwie‘ ‚be-findet‘, gibt es so etwas wie das Sich-erschließen oder Sich-verschließenlassen der Welt.“70 Erlebnisse setzen also das Sich-Befinden-in der Welt voraus. Gefühle und Affekte sind „verständlich“ auf dem Grunde dieser spezifischen Befindlichkeit. Nur deshalb kann man weinen über etwas, was einen traurig macht, und über das lachen, was einem komisch vorkommt. Misch weiß sich mit diesem Verständnis in Übereinstimmung. Das vorgeblich Ursprüngliche ist nicht die subjektive Innerlichkeit eines psychischen Geschehens. Infrage steht vielmehr die „Umsetzbarkeit dessen, was mich im Erlebnis erfüllt, in ein gegliedertes, gegenständliches, klares Bewußtsein von dem, was ich erlebe oder erlebt habe.“71 Das Erlebnis liegt dem Bewusstsein von etwas Gegenständlichem zugrunde. Es lässt sich in Worte fassen und in Geschichten darstellen. Nur deshalb ist es sinnvoll und möglich, sich von Besuchern einer Erlebnislandschaften von ihren Erlebnissen, genauer: wie sie das Erlebnis erfasst haben, erzählen zu lassen. Wie aber lässt sich die „Objektivierung der Erlebnisse“ im Denken und Sprechen verstehen? Zumindest wissen wir schon, dass diese „Vergegenständlichung“ der Erlebnisse „nicht derart ist, daß ein ursprünglich nur seelisch-innerliches Geschehen zum Gegenstand der Wahrnehmung oder Vorstellung gemacht wird.“72 Aber haben wir es hierbei im Sinne der Phänomenologie mit einer Intention, also mit einem meinenden Gerichtetsein des Bewusstseins auf etwas Gegenständliches zu tun?

Bedeutung und Bedeutsamkeit 73 Bei Georg Misch findet sich die Unterscheidung von wahrnehmen und erleben. Eine Gegenüberstellung mit expliziter Lösung fand sich auch bei Erwin Straus. Dieser hatte das Empfinden von dem Wahrnehmen strikt getrennt, weil es ihm auf die Bedeutung der menschlichen Welthaltung als Erkenntnisform ankam. Anders geht Misch damit um, der das Erleben (Empfinden) aus seiner 70 | Lipps, Erlebnisweise, 1977a, S. 32. 71 | Misch, Aufbau, 1994, S. 305. 72 | Misch, Aufbau, 1994, S. 306. 73 | Binswanger weist in seiner Auseinandersetzung mit Erwin Straus darauf hin, dass dieser „zeigt, was wir u.a. auch von Schelers Wahrnehmungslehre her wissen, daß, ob etwas wahrgenommen wird oder nicht, keineswegs von der Intensität der Empfindungsreize abhängt, sondern von dem Bedeutungsgehalt des Wahrgenommen für die wahrnehmende Person. Auch die Wahrnehmung ist also […] schon ihrerseits ‚motiviert‘, d.h. lebensgeschichtlich bedingt.“ Binswanger, Geschehnis, 1955a, S. 153.

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lebensweltlichen Einbettung heraus begreift: „Denn diese natürliche Stellung unseres Wissens zu den Dingen ist eben nicht die pure Wahrnehmung von Dingen, an die dann hinterher Wertcharakter und Zweckbestimmungen sich knüpfen, wie z.B., wenn wir ein Ding nicht bloß ansehen (sondern es als Gebrauchsgegenstand nehmen), sondern jenes totale Erfassen im Verstehen der Bedeutsamkeit.“74 Diese Bedeutsamkeit-für gibt es neben der sachlichen oder erkenntnismäßigen Bedeutung-von. In der Architektur arbeitete z.B. die Postmoderne gerne mit „Zitaten“, indem eine Säule imitiert wurde im ironisch gemeinten Aufruf ihrer Bedeutung, die sie unzweifelhaft im Ausdruckssystem der Geschichte der Architektur einmal besaß und möglicherweise noch besitzt. Nahm man sie wahr, dann wurde man auf die Bedeutung von einer Säule innerhalb der Architekturgeschichte wie auf einen Sachverhalt hingewiesen. Oder man sollte durch die postmoderne Verwendung von klassischem Repertoire an die baukünstlerische Bedeutung von Schinkel gemahnt werden. Wie auch immer, beide Male wurden diese Dinge nicht wegen ihres Anmutungscharakters bedeutsam, sondern allenfalls wurde ihr sachlicher („semantischer“) „Wert“ wahrgenommen. Heinrich Klotz nannte diese Bemühungen passend „Meaning in Architecture!“75 . Für Misch hingegen stehen Anmutung und Bedeutsamkeit in einem engen Zusammenhang. Anmutung ist doppelseitig: ich mute etwas an, d.h. ich finde es ansprechend, zugleich werde ich von etwas erfasst, etwas mutet mich an. Den Begriff Anmutungscharakter, so Misch, habe schon Dilthey gebraucht, um „das Erlebnis des Moments, z.B. im Bezug auf eine Landschaft, zu kennzeichnen, und zwar dahin, daß er keinen bloß bildhaften, optischbildhaften Charakter hat und daher das in Subjekt und Objekt zu Sondernde auch beides umschließt: es mutet mich an und ich mute es an.“76 Bei dem uns Anmutenden, so Misch weiter, stehe seine Bedeutsamkeit im Zentrum. Einen Anmutungscharakter kann etwas für uns haben, insofern es uns begegnet. Das Begegnende macht auf mich den Eindruck von etwas Bestimmtem. Misch unterscheidet dann: „Während bei dem Begriff des Eindrucks das auf uns Einwirkende, die Kraft also, im Vordergrund steht, so hier, bei dem uns Anmutenden, seine Bedeutsamkeit.“77 Wie eine Landschaft neben einer sachlichen Bedeutung, die etwa die naturwissenschaftlich verfasste Ökologie oder die kategorial-systematisch bzw. ideengeschichtlich eingestellte Geschichte der Landschaftsarchitektur behandeln, auch die volle Bedeutsamkeit auszeichnet, so, das Beispiel von Misch, auch das Phänomen Wasser: „Primär handelt es sich um das Wasser in seinem typischen Habitus, als ein lebendiges Ganzes, ein Wesen, das nicht bloß eine Sache mit Sachbeschaffenheiten ist, sondern eine 74 | Misch, Aufbau, 1994, S. 515 f. 75 | Klotz, Architektur, 1998, S. 782. 76 | Misch, Aufbau, 1994, S. 514. 77 | Misch, Aufbau, 1994, S. 514 f.

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lebendige Gestalt mit Anmutungscharakter, das eine Bedeutsamkeit im Leben hat. Das Wasser, […] zu dem wir ein Lebensverhältnis haben.“78 Bedeutung meint tatsächlich, was das Wort, von dem eine Bedeutung ausgesagt wird, z.B. lexikalisch oder innerhalb einer Profession bzw. wissenschaftlichen Disziplin, bedeutet, insofern die bedeutete Sache dort „vorkommt“ und einem Sachverhalt entspricht. Für uns von Interesse ist aber gerade die Möglichkeit, Erlebnisse, Gefühle, Stimmungen ausdrücklich zu machen und zwar auf eine Weise, die nicht an sachlicher Richtigkeit oder Dingbeschaffenheit sich orientiert und interessiert ist. Denn so werden wir weder der Qualität der gehabten Emotion noch dem Bedeutsamkeitsaspekt des Erlebten gerecht. Das Wort Bedeutsamkeit will unser lebensweltliches Zu-Tun- und dabei Erfahren-Haben bzw. unser Bekannt-Sein mit dem im Wort Gemeinten ausdrücken, und dieses Zutunhaben und Bekanntsein kann ganz unterschiedlich sein, je bezogen auf die lebensweltlichen Situationen, in der uns das (mit dem Wort gemeinten) Phänomen (bedeutsam) begegnet. Dabei gehe es nicht um ausgesuchte künstlerische oder ästhetische Situationen, sondern „dieses Vermögen, die Bedeutung dessen, was uns im Leben begegnet, in der Phantasie auszubilden, zeigt uns in gesteigerter Weise die natürliche vorwissenschaftliche Stellung des Menschen zu den Dingen“79 . Das Verstehen der Bedeutsamkeit nennt Misch die „natürliche vorwissenschaftliche Stellung unseres Wissens zu den Dingen“80 und grenzt diese ab von deren (purer) Wahrnehmung. Das „Zeigen“ ihrer Bedeutsamkeit lässt sich nur von dieser natürlichen (erlebnismäßigen) Stellung des Lebens zu den Dingen her begreifen. Eine wissenschaftliche Logik mit der Gebundenheit an sachliche Richtigkeit und der ihr eigenen auffassenden Stimmung könnte hier nichts ausrichten. Die Auslegung dessen, wie uns etwas anmutet und was es bedeutet, ist nicht bloß eine Vorstellung von einem Ding, sondern gestaltet dieses erst in der auslegenden Darstellung. Der Bezug zu unserer Welt ist pragmatisch-sachbezogen, bedeutsam-erlebend oder logisch-widerspruchsfrei. Diesen Bezügen entsprechen die charakteristischen Weisen im Raum zu sein: pragmatisch orientiert führen wir unser Leben, erlebend gestimmt mutet uns Landschaftliches an, im Planen und Konstruieren stellen wir uns in den logisch-widerspruchslosen Raum des technischingenieurwissenschaftlichen Denkstils. Unsere moderne Welt umfasst all drei Raumbestimmungen. Dem Bedeutsam-Erleben des Landschaftlichen im Raum der Landschaft gilt das Interesse unserer Forschung. Auf der einen Seite ist die Erlebnis-Landschaft ein gestalteter Freiraum, mit identifizierbaren Elementen: Wege, Baumgruppen, Spielgeräte, Bauten wie Märchenschloss, Pyramide, Baumhaus usw. In welchem Raum ist man je, wenn man diese Artefakte ent78 | Misch, Aufbau, 1994, S. 515. 79 | Misch, Aufbau, 1994, S. 515. 80 | Misch, Aufbau, 1994, S. 515.

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wirft und plant, in welchem, wenn man sie erlebt, in welchem, wenn man davon erzählt? Unsere vorstehende Analyse kommt zum Schluss, dass wir uns im erlebten, d.h. uns anmutenden Umweltraum befinden, wenn wir erleben. „Wie“ aber sind wir, wenn wir unseren Umweltraum erleben? Nur wenn wir darüber Bescheid wissen, können wir uns davon ein Bild machen, was Menschen über ihre Erlebnisse „erzählen“ können. In den Gesprächen, die wir mit den Besuchern von Erlebnislandschaften führten, ließen wir uns von dem überraschen, was ihnen als das Bleibende ihrer Erlebnisse und Erfahrungen in Erinnerung ist.81 Welche Qualität haben diese Beschreibungen des unmittelbar Belangvollen, insofern es nicht vergessen wurde, sondern nun, vielleicht erstmals, explizit gemacht wird? Wir wissen von den nahen Dingen unserer Umwelt aufgrund ihres lebensweltlichen Bedeutsamkeitsbezugs. Erich Rothacker hat die Sonderstellung dieses Bezugs herausgestellt.82 Ohne Bedeutsamkeitsbezug keine sinnlichen Anlässe, die „unsere Saiten anrühren“83 . Rothacker räumt mit dem Vorurteil auf, Erlebnisse bzw. Anschauungen seien „blind“ und fielen uns „von selbst“ zu. Dies sei eine szientistische Einengung menschlicher Bedürfnisse auf die Rolle und Aufgabe des denkenden Erkennens, für das Anschauungen erst durch den wissenschaftlichen Begriff „erhellend“ werden. Anschauungen sind evozierende oder intuitive Ausdrücke davon, was uns im Erleben widerfahren ist. Reine Stimmungen und Gefühle seien den Zielen der theoretischen Erkenntnis nicht dienlich. Dem gegenüber konstatiert Rothacker gerade höheren Kulturen „Bedürfnisse nach anschaulicher Vergegenwärtigung“ (Anschauungen ohne Begriffe)84 , denn echte Anschauung habe ihr eigenes Ziel. Er gibt das Beispiel eines Gefangenen, der aufgrund seiner umweltlichen Isolation wenig bedeutsame Erlebnisse hat. Dann setzt sich jedoch ein Vogel ans Fenster seines Kerkers. Für den Gefangenen ist das Erlebnis des Vogels eine willkommene Abwechselung vom dumpfen Einerlei der sonstigen optischen Eindrücke der Wand, des 81 | Christoph Demmerling bringt auf fruchtbare Weise Deweys Verständnis von qualitativer Situationserfahrung mit dem Begriff des Bedeutsamen zusammen und gibt zur Bestimmung des Sprachbezugs Folgendes zu bedenken: „Die qualitativen Erfahrungen, im Rahmen derer das leibliche Spüren als Horizont von Bedeutsamkeit in Erscheinung tritt, sind zwar ihrerseits nichts Sprachliches, sie sind im Fall von Wesen, die über eine Sprache verfügen, allerdings immer schon in sprachliche Zusammenhänge eingebettet:“ Demmerling, Leib, 2011, S. 15. Ähnliche Aspekte der unhintergehbaren Sprachverfasstheit des menschlichen In-der-Welt-Seins hat Helmuth Plessner untersucht. vgl. Plessner, Hermeneutik, 1967. 82 | Dies hat er vor allem entwickelt im so genannten „Satz der Bedeutsamkeit“, vgl. Rothacker, Genealogie, 1966, S. 44 ff. 83 | Rothacker, Genealogie, 1966, S. 44 ff. 84 | Rothacker, Anschauungen, 1956/57, S. 164.

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Stuhls, des Bettgestells usw. „Der Vogel im Fenster ist mehr als ein Konglomerat von Sinnesempfindungen. Er besitzt einen ‚Lebensbezug‘. […] Es gehört zum immanenten Logos der Anschaulichkeit, daß sie auf lebensbezügliche und innerlich bedeutsame Erlebnisse abzielt.“85. Rothacker versteht den Menschen zwischen Erlebnis und Distanz zum Erleben angeordnet. Sein primärer Raum ist die Umwelt, in die er wie in eine Landschaft als in sein Milieu verstrickt ist86 mit Möglichkeiten, sich davon zu distanzieren. Der Mensch muss aber sein Leben führen und Situationen, in die er gerät, bewältigen. Der Mensch kann nur handeln, wenn er von der Unmittelbarkeit des Erlebens auch Abstand nimmt. Die Umwelt wird zur Welt distanziert. Rothacker ist aber weit davon entfernt, diese Distanznahme schon als professionelles oder wissenschaftliches Handeln zu deuten, wie es Cassirer und Straus tun. Ebenso teilt er nicht die Befürchtungen Klages, dass in dieser Gegenüberstellung schon ein Abfall des Geistes vom Leben stecke. Vielmehr nennt er diese Weise des Verstehens Anschauung, ihre „Methode“ Ideation.87 Dabei mag zunächst bedenklich klingen, dass er mit Anschauung und anschauen Ausdrücke der visuellen, optischen Richtung nimmt. Ihm ist es aber wichtig, einen Begriff zu haben, der in der Philosophie schon eine Karriere besitzt. Das „anschauliche“ landschaftliche Erlebnis, darauf zielt ja unsere Untersuchung, bietet zwar keine Erkenntnis im wissenschaftlichen Sinne, sie ist dennoch mehr und etwas anderes als der automatisierte körperliche Reflex auf einen den Sinnen dargebotenen Reiz, der sich in einem „inneren“ Fühlen erschöpft. Erzählungen von Erlebnissen, so unsere These, vermitteln durchaus ein Wissen, das seinen „Ursprung“ im Erleben selbst hat. Wir haben dies von verschiedenen Seiten her schon berührt und in den Ausführungen von Misch, Lipps und König bestätigt gefunden. Dem Erlebnis als solchem korrespondiert die Haltung des Erlebenden zur Welt, um dessen Erleben es geht. Dies ist am Ende noch näher zu begründen. Die Gespräche mit den Besuchern werden zeigen, dass landschaftliche Anschauungen deren räumliches In- und Dabei-Sein ändern, es umstimmen oder überhaupt ihnen Stimmungen vermitteln können. Vor dem Hintergrund einer entspannten Stimmung können plötzlich gewahrte habituelle Gestalten jene Gesamtsituation schlagartig modifizieren. Dies können sie aber doch nur, wenn solche Situationen des Umgestimmt-Werdens so erlebt werden, dass sie uns etwas angehen. Es ist nicht nur eine leiblich-körperliche Betroffenheit, sondern die „innere Lebensgeschichte“, um einen Begriff von Binswanger zu nehmen, wird angerührt und aufgerufen. Von besonderem Interesse ist deshalb das Phänomen, dass gelebte Anschauungen auch gestimmte Situationen wachrufen, in denen man seit der Kindheit nicht mehr 85 | Rothacker, Anschauungen, 1956/57, S. 165. 86 | Ganz im Sinne von Erwin Straus. 87 | Dieser Begriff wird erläutert in Rothacker, Genealogie, 1966, S. 111 f.

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meint gewesen zu sein. Das daraufhin Herbeirufen einer lebensgeschichtlichen Lage, die nur geweckt werden kann, insofern sie schlafend war88, ist eine aktive, interpretierende Leistung der Anschauung. Dabei wird einer Gestaltqualität im erlebten Raum ihr konkreter Ort und aktueller Zeitpunkt entzogen, dafür ihr Anschauungsgehalt „hingezogen“ zu etwas biographisch Charakteristischem oder Typischem. Immer wenn eine gestimmte Gestalt identifiziert wird, können wir davon ausgehen, dass es sich um Familienähnlichkeiten, Analogien oder Parallelen anschaulicher Erlebnisse handelt. Ein roter Faden, der diese gelebten Stimmungen für eine Person biographisch sinnvoll verknüpft, ist das Phänomen der Bedeutsamkeit. Georg Misch hat in seinen Vorlesungen das Wissen, das die Erlebnisbedeutsamkeiten für den „vorbegrifflichen Lebensverkehr“ sichert, den evozierenden Ausdruck genannt.89 Mit König und Rothacker traut auch Misch vor allem den Dichtern zu, „das lebendige Wissen der Dinge in ihrer Selbstmacht und Bedeutsamkeit“90 (S. 512) zu benennen. Aber wir haben doch den Eindruck, dass auch manchem unserer Gesprächspartner es gelungen ist, für Ansprechendes und Anmutendes einen „evozierenden Ausdruck“ zu finden.91

5. A TMOSPHÄREN ER ZEUGEN ? E RLEBNIS ALS E INHEIT VON E INDRUCK UND W IRKEN Bevor wir weitermachen können, fasse ich ein paar Punkte zusammen: Wir haben gelernt, zwischen Befindlichkeit und Gestimmtheit auf der einen und Gefühl, Stimmung bzw. Atmosphäre auf der anderen Seite zu unterscheiden. Befindlichkeit bzw. Gestimmtheit ist ein Grundmodus des menschlichen Inder-Welt-Seins. Diese Gestimmtheit unserer Existenz bezieht sich auf die Welt bzw. auf unser Leben in der Welt als Ganzes. Aber diese Grundbefindlichkeit ist kein passives Betroffensein, vielmehr erschließt sie uns aktiv die Welt dauerhaft in einem eigenen Verständnis. Diese Befindlichkeit oder Gestimmtheit, obwohl empirisch grundlos, ist ein Vermögen, die Welt in Griff zu nehmen, ihr bestimmte Seiten einer Anmutung abzugewinnen. Wenn jemand sein Leben z.B. unter die Beschwernis stellt, so viele und so unterschiedliche Erlebnisse wie möglich zu haben, dann mag dies ebenfalls eine Gestimmtheit dauerhaft 88 | Vgl. König, Sein, 1969, S. 24 f. 89 | Vgl. Misch, Aufbau, 1994, S. 511. 90 | Misch, Aufbau, 1994, S. 512. 91 | Ich verweise auf die evozierenden Ausdrücke „Tunnelsystem“ und „Indianerforthaftes“, von denen im Aufsatz von Sigrid Anna Friedreich „Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein“ in diesem Band ausführlich berichtet wird. Wir werden diesen Gedankengang am Ende unserer Untersuchung wieder aufnehmen.

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auslösen, auf der dann Lebensformen und Biographieabschnitte gründen. Unter einer „momentanen“Stimmung verstehen wir eine konkrete Gefühlslage hier und jetzt. In einer Stimmung sein oder ein Gefühl haben sind temporäre Gemütszustände. Sie sind von einer gewissen Dauer, bis sie von einer anderen Stimmung abgelöst werden. Das Gefühl, das einen während einer Fahrt mit der Achterbahn befällt, ist begrenzt und vergeht bald, nachdem die Fahrt beendet ist. Immer wieder gibt es Momente, in denen wir den Raum der alltäglichen Lebenswelt zurückstellen und ein anderes Raumgefühl uns plötzlich beherrscht. Während der lebensweltliche Raum, wie oben beschrieben, eng mit unserer eigenen umweltlichen Lebenserfahrung verknüpft ist, ist der „gestimmte Raum“ ein „Gegenwartsraum“.92 Binswanger entwickelt diese Raumform in Abhebung vom orientierten Raum. Das Grundverhalten der Orientierung im Raum bedeutet das Leben im orientierten Raum93 . Eine davon abweichende und deshalb selbständige Form des räumlichen In-Seins führt Binswanger unter dem Begriff „gestimmter Raum“94 ein. Im Vergleich mit den pragmatischen bzw. logischen Bestimmungen des orientierten Raums mit seiner vitalen und zweckhaften Bedeutung sowie des homogenen Erkenntnisraums haben wir es nun im engeren Sinne mit existenziellen Bedeutsamkeiten zu tun: „Der Daseinsfülle oder -leere des Ich steht hier die Fülle oder Leere seiner Welt gegenüber und umgekehrt“95 . Es geht hier um die „Welt“ der Stimmung und Gestimmtheit mit ihren eigenen Raum- und Bewegungscharakteren und räumlichen Ausdrucksgestalten. In dieser Welt werden ganz eigene Bedingungen des Raumerlebens gestellt. Auf diese dialektische Einheit von Ich und Welt kommt es an: Nicht nur 92 | Der Begriff „gestimmter Raum“ stammt unseres Wissens von Ludwig Binswanger, wie wohl er damit Phänomene anspricht, die bei Max Scheler und Erwin Straus schon beschrieben wurden. Vgl. Binswanger, Raumproblem, 1955b. 93 | Denn „orientierter Raum heißt ja nichts anderes, als daß ‚das Ich‘ vermittels seines Leibes ein absolutes Orientierungszentrum, das absolute Hier, bildet, um das sich ‚die Welt‘ als Umwelt konstituiert. Wie der orientierte Raum nur einen der vielen Modi des In-der-Welt-Seins bezeichnet, so bezeichnen die vielen klinischen Abweichungen vom Normalen nur verschiedene Modi des räumlich orientierten In-der-Welt-Seins. Ein ‚weltloses Subjekt‘ ist, das sehen wir auch hier, eine künstliche Abstraktion, welcher Wirklichkeit nicht zukommt. Auch dem Akt der räumlichen Orientierung entspricht ein Ausschnitt verräumlichter oder eingeräumter Welt.“ (Binswanger, Raumproblem, 1955b, S. 183 f.) 94 | Auf Max Schelers Entdeckung, dass die Rede vom „leeren Raum“ zurückgehe auf das „Urdatum“ für Leere, nämlich die „Leere“ des Herzens, weist Binswanger des öfteren hin. Vgl. Scheler, Idealismus, 1995. Hier werden Vorläufer u.a. in Herder, Goethe, Klages gesehen sowie unter den Phänomenologen Scheler, Schapp und Lipps aufgeführt. 95 | Binswanger, Raumproblem, 1955b, S. 199.

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am Raum wird eine Ausdrucksgestalt erlebt, „auch umgekehrt (gehen) vom Ich aus Forderungen räumlicher Art an die Physiognomie der Welt“96. Binswanger charakterisiert das Verhältnis von Welt, Stimmung und Ich als anthropologisch-phänomenologisches Wesensverhältnis, wobei Ich und Welt im „gestimmten“ Raum eine besondere Einheit bilden. Das Erleben ist gebunden an diese Räumlichkeit in einer spezifischen Gegenwärtigkeit, auf die Binswanger und Straus hingewiesen haben. Was Straus unter pathischem Raum oder Erlebnisraum bzw. unter präsentischem aufführt, möchte Binswanger als gestimmter Raum fassen. Damit sei der Raum gemeint, „in dem sich das menschliche Dasein als ein gestimmtes aufhält, einfacher ausgedrückt, insofern er der Raum unserer jeweiligen Stimmung oder Gestimmtheit ist.“97 Diesem Raum, in dem „ausgreifend lebendige Bewegung geschieht“ (Hans Lipps), fehlt all das, was den Raum, in dem wir leben, auszeichnet: jede Starre von metrische Orientierung, das Systematische von Eigenschaften, ein aktives Erschließen, auch das Zukünftige eines Vorhabens. Stattdessen spielen Qualitäten wie Enge, Weite, Höhe, Tiefe hinein98. Ohne Welt, ohne Existenz, könnte man hier nicht von Haltungen als einem bestimmten Zumutesein sprechen. Leibliches Spüren ist nicht gleich leibliches Spüren, sondern das leibliche Empfinden sind wir selbst. Es gibt kein Empfinden, zu dem wir uns nicht irgendwie auch verhalten. Jede Bewegung im „gestimmten“ Umwelt-Raum hat ihr Gepräge. Daraus schließen wir, wovon einer bewegt wird, wie es einem zumute ist. Raum ist die Möglichkeit der lebendigen Bewegung. In den Möglichkeiten, sich räumlich zu bewegen, konstituiert sich dieser Raum. Leibliches Spüren und Bewegungsraum benötigen sich gegenseitig.99 Gefühle und Stimmungen beziehen sich auf etwas in der Welt, das heißt, sie sind auf etwas gerichtet. Dies können andere Menschen, aber auch Gegenstände oder Umgebungen sein. So mag man sich auch während des mehrstündigen Aufenthalts in einer Erlebnislandschaft „besonders“ oder „anders“ fühlen. Den ganzen Tag dort war man „bester“ Laune, die nicht verging, da man sich vielleicht immer wieder an angenehme Kindheitstage erinnert fühlte. Dennoch ist 96 | Binswanger, Raumproblem, 1955b, S. 199. 97 | Binswanger, Raumproblem, 1955b, S. 206. 98 | Lipps, Raum, 1977c, S. 173. 99 | Das Erleben dieser Räumlichkeit verweist auf die Rumpfmotorik des Leibes. „Wie er zur Welt steht, wie er also ‚ist ‘, wird in seinem Verhältnis zum Raum, d.i. in der Motorik seiner Bewegungen Erfahrung.“ Ängstlichkeit, Verlegenheit wie Traurigkeit finden ihren Ausdruck darin, was wir z.B. mit unseren Händen und Armen „tun“. Solche echten, nicht symbolischen, Ausdrucksbewegungen können nicht einfach nachgemacht und getroffen werden. „Nur vom Erlebnis aus kann es gelingen. Sofern das: etwas zu erleben und irgendwovon in bestimmter Weise bewegt zu werden, dasselbe sind.“ Lipps, Raum, 1977c, S. 176.

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der zeitlich-räumliche Aufenthalt vor Ort mit weiteren und ganz unterschiedlichen leiblichen und Körpergefühlen erfüllt, die bei einzelnen Umgebungen und Installationen aufkommen. Wie auch die Bedeutungsanalyse der Worte unserer gesprochenen Sprache zeigt100, werden Wörter wie „Erleben“, „das Erlebte“ usw. in dem Sinne gebraucht, dass sie den Ertrag oder das Ergebnis, den bleibenden Inhalt also, nennen. Während „erleben“ heißt: „noch am Leben zu sein, wenn etwas geschieht“, behält das Erlebte am Vorübergegangenen dessen Dauer, Gewicht und Bedeutsamkeit ein. Um diesen wirksamen Nachdruck, um diesen einbehaltenen Bedeutungssinn ist es uns gegangen. Und es ist eine lohnende Aufgabe diese primären Gegebenheiten, die keine Ergebnisse des Experiments oder der Messung sind, in adäquater Form zu erfassen. Bei Gadamer heißt es einmal: „Was Erlebnis genannt werden kann, konstituiert sich in der Erinnerung. Wir meinen damit den Bedeutungsgehalt, den eine Erfahrung für den, der das Erlebnis hatte, als einen bleibenden besitzt.“101

Gefühle als Atmosphären (Hermann Schmitz) Vor diesem Hintergrund stoßen wir auf eine Theorie der „Atmosphären“. Wie kein anderer Phänomenologe hat Hermann Schmitz auf der Unterscheidung von Leib und Körper bestanden. Sie ist zentral für den Zugang zu seiner Gefühls- und Raumtheorie. „Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne [...] und des perzeptiven Körperschemas [...] zu stützen.“102 Dem gegenüber ist nach Schmitz der Körper als ein „Ding“ zu verstehen, welches wir beispielsweise im Spiegel betrachten können. Er geht auch auf den Körper als ein räumliches Ding ein: „Wenn wir von unserem Körper 100 | Vgl. Cramer, Erleben, 1972. 101 | Gadamer, Wahrheit, 1986, S. 72. 102 | „Der Leib ist besetzt mit leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Atmung, Behagen, affektives Betroffensein von Gefühlen. Er ist unteilbar flächenlos ausgedehnt als prädimensioniertes [...] Volumen, das in Engung und Weitung Dynamik besitzt. Man macht sich das leicht am leiblich spürbaren Einatmen klar. Es wird in Gestalt einer Insel in der Brust- oder auch Bauchgegend gespürt [...]; diese Insel ist voluminös, aber weder von Flächen umschlossen, noch durch Flächen zerlegbar, daher auch nicht dreidimensional [...]. Der Leib ist fast immer – außer z. B. im heftigen Schreck – von solchen Leibesinseln besetzt, ein Gewoge verschwommener Inseln, die sich ohne stetigen Zusammenhang meist flüchtig bilden, umbilden und auflösen, in einigen Fällen aber auch mit mehr oder weniger konstanter Ausrüstung beharren, dies besonders im oralen und analen Bereich und an den Sohlen. Solche Leibesinseln kommen auch außerhalb des eigenen Körpers vor, z.B. als Phantomglieder der Amputierten.“ Schmitz, Leib, 1998, S. 12 f.

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sprechen, deuten wir unsere Anwesenheit im Raum als Ansiedlung in einem festen, dreidimensionalen, lückenlos ausgedehnten, flächig umrandeten Ding, das durch jenen Titel nicht von den ebenso benannten Fremdkörpern derselben Art unterschieden wird.“103 Schmitz hat seine Theorie von der „Räumlichkeit der Gefühle“ ausführlich im Teil „Der Gefühlsraum“ innerhalb eines „System der Philosophie“ erläutert. Zu Beginn von § 153 heißt es definitiv: „Gefühle sind (…) unbestimmt weit ergossene Atmosphären, in die der von ihnen affektiv betroffene Mensch leiblich spürbar eingebettet ist“.104 Er erläutert, dass das Wetterphänomen und sein typischer Weiteraum bei ihm Pate gestanden hat, von der Räumlichkeit des Gefühls zu sprechen.105 Wie wir in eine Nebelbank eingeschlossen sein können, so erleben wir Freude und Trauer als uns umhüllende Atmosphäre. Schmitz unterscheidet nicht zwischen Gefühlen und Stimmungen. Ein beachtenswertes Zitat des Psychologen Rudolf Hippius stellt den Zusammenhang von Erleben und Raum dar: Gefühle haben Raumcharakter „in dem Sinne, daß die gemeinten Zustände Züge aufweisen, die ganz entsprechend dem Erleben konkreter Räume zukommen: ein seelisches Offensein oder Weitsein, ein Erfülltsein oder Leersein ist eben dadurch gekennzeichnet, daß hier ganz entsprechende Erlebnismomente wirksam sind wie beim Erleben von weiten, offenen, leeren oder erfüllten Räumen, Landschaften oder architektonischen Innenräumen…“106 Erfüllung („erfülltes Gefühl“) deutet stets auf Weite, die wiederum entweder erfüllt werden kann oder leer bleibt. Für Schmitz erhellt sich an solchen Beispielen das bis zur Paradoxie reichende Phänomen, dass Gefühle „in einem“ und zugleich „um einen herum“ empfunden werden können. Gerade auf die Unterscheidung von Raumbegriffen (Gefühls- und Ortsraum) besteht aber Schmitz mit dem Hinweis, dass Gefühle sich im (Weite-)Raum ausbreiten, man sie aber nicht ortsräumlich hinsichtlich Lage und Abstände bestimmen kann. Er geht von der Räumlichkeit 103 | Schmitz, Körper, 1994, S. 75. 104 | Schmitz, Gefühlsraum, 1981, S. 185. Slaby spricht hier von einer „auf den ersten Blick durchaus abenteuerliche(n) These“. Slaby, Gefühl, 2008, S. 336 105 | Das Phänomens des Raums hat Schmitz auch gesondert dargestellt im Kapitel „Raum“ seines Buchs „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ (Ostfildern 1998). Darin unterscheidet er vier Räume: den leiblichen Raum, den Gefühlsraum, den Ortsraum und die Fläche sowie die Wohnung, wobei die Wohnung ihm als Anschauungsfall dient, um die drei vorgängigen Raumbegriffe aufzuzeigen. Einleuchtend beschreibt Schmitz, wie der Wohnbau konstruktiv dem Ortsraum abgewonnen ist und bewohnt wird von Menschen, „die unvermeidlich dem Weiteraum [= Gefühlsraum, A.H.] und dem leiblichen Richtungsraum angehören“. S. 84 106 | Rudolf Hippius zitiert bei Schmitz, Gefühlsraum, 1981, S. 188; vgl. ähnliche Beschreibungen in Binswangers Studie „Über Ideenflucht“, 1933.

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von Gefühlen (Stimmungen) aus. D.h., bei Stimmungen und Gefühlen wird der Mensch unmittelbar und aufdringlich angegangen von etwas als Atmosphäre, „in die das ganze Erleben nebst der Umgebung getaucht ist“107. Zu fragen wäre nun, welchen Status Atmosphären wie Leere, Zufriedenheit bzw. das „leere Gefühl“ und das „erfüllte Gefühl“ eigentlich haben. Sind Leere, Zufriedenheit usw. „Gegenstände“, handelt es sich beim Angang von Atmosphäre um ein Gegenstands- oder Dingerleben (Wahrnehmen)? Schmitz arbeitet allerdings nicht mit einem Begriff der Befindlichkeit (Gestimmtheit), da ein solcher sich nicht als räumlich umschlossene, kontingente Atmosphären denken lässt.108 Befindlichkeit, so hat es Heidegger aufgefasst, ist ein Existenzial, das schon immer die Welt erschließt. Für Heidegger ist Gestimmtheit nichts, was man als solche leiblich-räumlich spüren bzw. einen von außen als Atmosphäre angehen könnte. Darüber hinaus eignet der Gestimmtheit auch keine Temporarität wie einer bestimmten Stimmung, in der ich momentan oder für eine Weile bin bzw. in eine Atmosphäre hineingerate. In einem mehr als 20 Jahre später erschienenen Aufsatz, der ähnliche Themen wie in „System der Philosophie“ aufgreift, schreibt Schmitz, dass es Atmosphären gibt, die Gefühle sind. Er nennt diese „räumlich ausgedehnte Atmosphären“.109 Das Fühlen selbst bestimmt er als ein „Hineingeraten in den Bann solcher Atmosphären“. Schmitz erklärt sein Verständnis, indem er zunächst auf Situationen zu sprechen kommt. Diese sind in die wahrgenommenen Dinge als Charaktere eingeschmolzen. Sachverhalte und Kommunikationen sind von Situationen durchzogen. In eine Situation geraten ist wie ein neu gewonnener Eindruck, insofern wir von etwas Eigentümlichem berührt und auch gefesselt werden. Eindrücke sind vielfältig und vielsagend und bestimmen zum Beispiel „unser intuitives Verständnis für Menschen, ihre Werke und Verhältnisse“110. Der zum Verständnis gewordene Eindruck ist dann eingegangen in unser intersubjektives Umgangswissen und -können. Situationen scheinen auch auf in Erinnerungen als Ziele, die man hatte, als Wünsche, die 107 | Schmitz, Gefühlsraum, 1981, S. 239. 108 | Allerdings bedient sich Schmitz an einer Stelle des Goetheschen Begriffs „Urphänomen“, wenn es beispielsweise von der „Leere“ heißt: „Leere als atmosphärisches Gefühl ist ein nicht reduzierbares Urphänomen …“ Schmitz, Gefühlsraum, 1981, S. 241. Auch als Urphänomen bleibt dieses Gefühl räumlich-atmosphärisch gebunden. 109 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 33. Anna Blume und Christoph Demmerling weisen darauf hin, dass es u.a. diese Eigenschaft von Gefühlen, über uns hinauszureichen, ist, die Schmitz dazu führt, „Gefühle nicht als Zustände einer ‚Seele‘, des ‚Bewusstseins‘ oder ‚Gehirns‘ zu begreifen, sondern als ‚räumlich ergossene Atmosphären‘ anzusehen“ Blume u. Demmerling, Gefühle, 2007, S. 118. Kritisch zu Schmitz’ Definition der Gefühle als räumlich ergossene Atmosphären siehe auch Slaby, Gefühl, 2008, S. 324. 110 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 37.

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man verfolgte. Auch die individuelle Persönlichkeit in ihrer Einmaligkeit und ihrem Alter begreift Schmitz als Situation. Ein entsprechend weites Verständnis von Situation soll nun hilfreich sein zu sehen, warum Gefühle als Atmosphären genommen werden können. So identifiziert Schmitz an einer erzählten Anekdote eine „von Bitterkeit, Haß, Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit düster (im Sinne eines düsteren Gefühls) getönte Atmosphäre“111 . Im Rückblick erinnert sich jemand, nachdem er an seinem Taschentuch gerochen hat, an eine offensichtlich anhaltend bedrückende Stimmung, die, auch am Geruch festgemacht, in dem Haus einer verhassten Verwandten herrschte. Der von Schmitz zitierte Text, der diese Episode enthält, spricht selbst von „gleichen Erlebnissen“, sowohl was der aktuelle Geruch des Taschentuchs als auch die damalige Stimmung anging. Es ist nachvollziehbar, wenn Schmitz hier von Situationen spricht, die sich vom Eindruck her ähneln bzw. hinsichtlich des Stimmungsmäßigen gleich sind – das gleiche düstere Gefühl. Er stellt dann die These auf, dass es den atmosphärischen Charakter typischer Situationen gäbe. So nennt er Situationen, „die Verzweiflung als leeres Gefühl typisch auf sich ziehen, z. B. die Verschlafenheit am Morgen, wenn man sich im häßlichen Häusermeer einer Großstadt oder auf dem Bahnhof unterwegs befindet“112 . Es sind vor allem Tages- und Jahreszeiten, die typischen Eindrücken mit zugehörigen Atmosphären entsprechen. Fast definitorisch wird Schmitz im folgenden: „[O]b und welche Atmosphäre jemanden ergreift, hängt dann von seinem jeweiligen leiblichen Befinden als dem Boden seiner spezifischen Resonanz für Atmosphären ab, und dieses Befinden wiederum von seiner persönlichen Situation, deren augenblicklicher Zustand ebenso vom Leiblichen her mitbestimmt wird wie auf dieses zurückwirkt.“113 Neben persönlichen Situationen unterscheidet Schmitz „mehr äußere gemeinsame Situationen“, die mehrere Menschen etwas angehen, die z. B. die gleiche Muttersprache sprechen oder relativ dauerhafte Situationen eines Kollektivs, in die man hineinwachsen kann, wie in den „Geist der Familie oder der Tradition, der Stadt, der Landschaft, der Kultur und Gesittung eines Volkes oder einer sozialen Schicht“114 . Es zeigt sich dann, dass Schmitz einen anderen Weltbegriff hat als Heidegger. Das In-der-Welt-Sein bedeutet je meine Welt, in die ich verstrickt bin und in der mir die Dinge zuhanden sind. Während Schmitz von Welten spricht, die Jemand sich aufbauen und denen er angehören kann: als ein in altjapanischer Tradition aufgewachsener Mensch, kann man sehr wohl ein modernes Leben führen. Schmitz’ Weltbegriff ähnelt dann eher dem soziologischen Rollenbegriff, während Heidegger auf die Struktur des Daseins zielt, wo sich die Frage des Angehörens oder Nichtangehörens zu z.B. Traditionen 111 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 38. 112 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 41. 113 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 41. 114 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 42.

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gar nicht stellen kann. Schmitz meint, dass gerade das Hineinwachsen einer persönlichen Situation in eine gemeinsame Situation Gefühle als Atmosphären aufkommen lässt. So zum Beispiel ist ein Gespräch eine aktuelle gemeinsame Situation, aus der dann eine „zuständliche, überdauernde gemeinsame Situation“ folgen kann. Sobald man sich wieder trifft, kommt eine entsprechende Situation und Gesprächsatmosphäre unwillkürlich wieder zustande, ohne dass die Gesprächspartner dies eigentlich und gezielt beabsichtigen.115 Schmitz schlägt vor, zwischen „Gefühlen“ und „fühlen“ zu unterscheiden: „Fühlen als Wahrnehmen des Gefühls als einer Atmosphäre und Fühlen als affektives Betroffensein davon“116. So nennt Schmitz als Fall die Mitfreude, wenn Gefühle eher mittelbar gefühlt werden. Zum Beispiel freuen sich Eltern über die Freude ihres Kindes bei der Weihnachtsbescherung. Ihnen selbst fehlt die naive Empfänglichkeit des Kindes, aber diese kann ihre eigene feierliche Stimmung atmosphärisch steigern bzw. umleiten. Beim echten Mitfreuen „facht eine Atmosphäre die andere an“ und bietet dem Mitfreuenden „eine klare Wahrnehmung des durch sie durchscheinenden ‚Hintergefühls‘ […] an“117. Die Eltern verstehen dann ihre Freude an der Freude des Kindes als diese besondere Weihnachtsstimmung. Was muss zu der Weise des Fühlens von Gefühlen als einer Atmosphäre hinzukommen, damit diese den Menschen ergreift? Das Gefühl macht leiblich betroffen. Denn der Leib, dem sich Betroffenheit auferlegt, wird als meiner gespürt. Es gibt eine leibliche Spürbarkeit, die keinen Zweifel zulässt, um wessen Gefühl es geht. Das Spannungsfeld der leiblichen Erregbarkeit bewegt sich zwischen Weite und Enge. „Wehmut und Heiterkeit einer Landschaft werden meine Gefühle, wenn etwas in mir […] leiblich spürbar aufgeht oder sich verschließt, eng oder weit wird, während ich sonst jene objektiven Gefühle der Landschaft in distanzierter, eventuell ästhetisch genießender Betrachtung wahrnehme.“118 Das Ergriffensein durch Gefühle zeigt sich in typischen Gebärden und anderen leiblichen Bewegungsimpulsen (als leibliches Ausdrucksverhalten) wie Aufrichten oder Ducken, Ausweichen oder Stöhnen und die Schultern einziehen. Schmitz betont, dass Gefühle nicht als vom Leib kommend bzw. als selbst leiblich seiend gespürt werden, sondern das leibliche Betroffen- und Ergriffensein von ihnen wird erlebt. Der Leib wird von Gefühlen angegangen (und in Besitz

115 | Schmitz bringt dann den Hinweis auf Rudolf Otto, den Religionsphilosophen, der als erster Autor „ein Gefühl als überpersönliche, ergreifende Atmosphäre“ entdeckt und wissenschaftlich weiter verfolgt habe. Vgl. Schmitz, Gefühle, 1993, S. 44. 116 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 46. 117 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 49. 118 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 49.

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genommen) im Sinne des Spürens. Dieses leibliche Betroffensein bestimmt Schmitz als „das Urphänomen der Subjektivität im affektiven Betroffensein“119 . Auch bei Schmitz hat das leibliche Spüren von Atmosphären nichts mit einer Wahrnehmung von Dingen im Ortsraum zu tun. Er führt den Begriff der Situation ein, die als solche eine Atmosphäre hat, die man auch nach Jahren wieder präsent haben kann, wie das Beispiel „Taschenbuch“ zeigen soll. Aber bei Schmitz bleibt das Thema der Welt, in die jeder als in seine verstrickt ist, wenig beachtet. Dass es sich bei den Erlebnissen um ein Wissen handelt, das aktiv angeeignet wurde, bleibt ungesehen. Denn es besteht stets schon eine Haltung zum eigenen Erleben und damit zum Leib, dessen Spüren ich mir bewusst mache, die das Verständnis von Atmosphären untersetzt. Bei Schmitz findet sich kein Hinweis auf das vor allem von Josef König herausgearbeitete Phänomen, dass der Eindruck-von und das so-Wirken als die Einheit von gegenläufig aufzufassenden Bewegungen ist. Denn das, was Schmitz Atmosphäre nennt, ist ein Beispiel, dessen Prinzip König untersucht hat. Dies werden wir im abschließenden Teil erörtern. Wir können davon ausgehen, dass auch der in der Geschichte der Raumtheorie behandelte „gestimmte Raum“ Schmitz dazu inspiriert hat, seine Theorie des Gefühls- oder Weiteraums auszuarbeiten. Vor allem das Herausstellen einer prädimensionalen Räumlichkeit und ihre Abgrenzung gegen den Flächenraum ist dabei zu nennen. Neu ist allerdings das explizite Benennen und Definieren eines Begriffs der Atmosphäre. Obwohl Schmitz damit einer alltagsweltlichen Auffassung nahekommen mag, die in einer räumlichen Situation, in der Freude herrscht, vor lauter Hingabe das eigene Vermögen, an dieser Freude überhaupt teilnehmen zu können und wollen, vergisst, so bildet diese Metapher der Atmosphäre doch vor allem die Nichtbeherrschbarkeit und Unausweichlichkeit von Wetterphänomenen ab. Damit steht verbunden die Möglichkeit, dass sich Atmosphären (Gefühle) vom Menschen im Raum abheben lassen und eine gewisse Selbständigkeit gegenüber diesen behaupten können. Es ist für uns auch das Verständnis eingestellt, solche Atmosphären als messbar und berechenbar anzusehen. Von daher ist der Begriff „Stimmungscharakter“, den Bollnow verwendet, im Grunde dem Begriff der Atmosphäre vorzuziehen. Die aktuelle Debatte um eine „Philosophie der Gefühle“ hat deshalb den Einwand erhoben, dass die Auslegung von Gefühlen als Atmosphären Schmitz zu der Auffassung geführt hätte, „dass Gefühle im Grunde genommen als überpersönliche Phänomene von ihren Trägern ablösbar sind“.120 Wenn Schmitz „Gefühle als Mächte“ 119 | Schmitz, Gefühle, 1993, S. 51. 120 | Blume, Demmerling, Gefühle, 2007, S. 122. Beide Autoren geben auch zu bedenken, ob Schmitz nicht einer Unabhängigkeit von Gefühlsakt (Fühlen) und Gefühlsinhalt (Gefühl) untereinander und damit einer „Verdinglichung der Gefühle“ das Wort redet. S. 123

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charakterisiert, dann geht es nicht mehr nur um dieses Erleben eines Gefühl als mein leibliches Sich-so-und-so-Fühlen, sondern zusätzlich um das Erleben als eine Macht jenseits des leiblich Gefühlten. Man wird Schmitz’ Differenz zu den Autoren, die wir zuvor untersucht haben, auch darin sehen können, dass er, wie Blume und Demmerling es sagen, „zu Hypostasierungen (neigt) […], die es dann so aussehen lassen, als würden beispielsweise Leib und Gefühl ganz unabhängig von ihren Trägern bestehen“121 . Sein Begriff der Atmosphäre als Gefühl als solches beschwört etwas Objektives, das gefühlt werden kann und soll. Wenn nun aber räumliche Atmosphären und räumliche Gefühle etwas Identisches bezeichnen, dann fühlt derjenige, der von „Überpersönlichem“ wie z.B. architektonischen oder landschaftsarchitektonischen Artefakten ergriffen oder affektiv betroffen wird, nichts anderes als Gefühle. Jan Slaby erläutert diesen zweiten Begriff von Gefühlen bei Schmitz so: „Gefühle sollen also räumlich, oft zudem ‚überpersönlich‘, also etwas, das von außen kommt bzw. in der wahrnehmbaren Welt verortet ist und folglich nicht ‚innere Zustände‘ von Personen, ja nicht einmal in erster Linie einzelnen Personen exklusiv zukommende Gebilde sein.“122 Aber gerade unsere Analysen der beispielhermeneutischen Forschung werden aufzeigen, dass es den Menschen bewusst ist, dass es ihre bestimmten Erlebnisse des Landschaftlichen und nicht sie überwältigende Mächte und Autoritäten sind, von denen sie sprechen. Der Zusammenhang von Eindruck-von und so-Wirken ist nicht der des Fühlens einer überpersönlichen Autorität, sondern, wie wir im abschließenden Kapitel zeigen werden, das (denkende) Fühlen einer charakteristischen Anmutung.

Gernot Böhme über die Macht der Dinge und das Erzeugen von Atmosphären Unser Thema bringt es mit sich, dass wir zunächst zwei Perspektiven zu unterscheiden haben. Zum einem ist das Phänomen des Erlebens selbst zu klären gewesen. Das ist zum größten Teil geleistet. Zum anderen stellt sich das Problem, wie denn Architekten in ihren Entwürfen jenes Phänomen antizipieren und zur Grundlage ihres Tuns machen. Damit werden sich konkret die Beiträge von Jörg Schröder und Stefan Nothnagel auseinandersetzen.123 Die Bauaufgabe „Erlebnislandschaft“, wie schon anfangs angeführt, intendiert in der Behauptung vom 121 | Blume u. Demmerling, Gefühle, 2007, S. 128. 122 | Slaby, Gefühl, 2008, S. 337. 123 | S. Jörg Schröder Belantis: Erlebnisgestaltung zwischen Funktion und Emotion. Interpretation des Interviews mit dem Architekten Herrn Rudolf“ sowie Stefan Nothnagel „‚Weil sie hier ’n Stück Oase finden.‘ Interpretation des Interviews mit dem Gestalter Herrn Schrader des Freizeitparks ‚Kulturinsel Einsiedel‘“ und „Zwischen Klischee und ‚Möglichkeiten‘. Die Gestalter im Vergleich“ in diesem Band.

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Erzeugen von Atmosphären (von Gefühlen) einen Bezug auf die Erlebnismöglichkeit des Menschen. Wie ist das Erlebnis des Landschaftlichen mit der These, Atmosphären können erzeugt werden, zu vereinbaren? D.h.: das Erleben wird an Gegenstände (wie Architektur/Landschaft als Artefakt) gebunden bzw. auf diese bezogen, an denen sich ein Erleben vollziehen soll.124 Wird nun aber ein Gegenstand als dieser besondere erlebt, oder erlebt der Mensch an sich selbst etwas wie ein besonderes Gefühl oder eine besondere Stimmung? Jedenfalls ist für entsprechende „Gegenstände“, die beispielsweise eine Erlebnislandschaft aufzuweisen hat, der Architekt oder Landschaftsarchitekt zuständig. Die These, die wir im abschließenden Kapitel diskutieren müssen, lautet zugespitzt: das Erzeugen von Architektur (von „architektonischem Raum“) ist das Erzeugen von Gefühlen. In einer Essaysammlung, die 1995 erschienen ist, führt Böhme Atmosphäre als Grundbegriff einer „Neuen Ästhetik“ ein.125 Als Begriff, so heißt es darin programmatisch, sei Atmosphäre aber erst dann etabliert, wenn es gelingt, „sich über den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt Rechenschaft zu geben“126. Genauer geht es Böhme um eine ästhetische Theorie der Natur, die es „mit der Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden zu tun“ hat. Atmosphären sind die Phänomene, die für den Bezug von Umgebung und Befinden auf einander verantwortlich sind.127 Kunstwerke, so Böhme, haben eine unmittelbar erfahrbare Präsenz, die er ihre Atmosphäre nennt. Diese Atmosphäre geht zurück auf „ästhetische Arbeit“, die nun als die Herstellung bzw. Produktion von Atmosphären gefasst werden soll. Damit soll der Gegenstandsbereich der Ästhetik erweitert sein, der so „von der Kosmetik über Werbung, Innenarchitektur, Bühnenbildnerei bis zur Kunst im engeren Sinne“128 reicht. Eine entsprechende Bestimmung ästhetisch-künstlerischer Arbeit führt zu einem darauf abgestimmten Verständnis von Wahrnehmung, die Böhme nun auffasst „als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen“.129 In seiner Diskussion des Begriffs der Atmosphäre bei Hermann Schmitz verweist Böhme auf dessen phänomenologische Methode, nach der als wirklich anerkannt wird, was sich als Erfahrung unmissverständlich zeigt. In Schmitz’ Rede 124 | Diese Thematik diskutiert unter einer technik-philosophischen Perspektive David Pinzer in seinem Aufsatz „Erlebniswelten und Technikphilosophie“ in diesem Band. 125 | Böhme, Atmosphäre, 1995. 126 | Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 22. 127 | Da wir mit unserem Text keine Diskussion von ästhetischen Theorien vorhaben, sondern den Zusammenhang von Befindlichkeit, Raum und Stimmung thematisieren, sehen wir im folgenden davon ab, Böhmes ästhetischen Ansatz zu diskutieren. 128 | Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 25. 129 | Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 25.

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von den ortlos ergossenen Atmosphären, von denen der Mensch affektiv betroffen und leiblich angeregt wird, entdeckt Böhme ein antiintellektualistisches ästhetisches Moment: „Denn die Atmosphären sind offenbar das, was in leiblicher Anwesenheit bei Menschen und Dingen bzw. in Räumen erfahren wird.“130 Kritisch merkt er an, dass Schmitz den Atmosphären „eine gewissermaßen zu große Selbständigkeit gegenüber den Dingen zubilligt. Sie sind freischwebend wie Götter und haben als solche mit den Dingen zunächst gar nichts zu tun, geschweige denn, daß sie durch sie produziert werden.“131 Böhmes (Gegen-)These lautet: Atmosphären (Gefühle) werden durch Dinge produziert, eine Tatsache, die Schmitz nicht beachtet habe. Diese Einschätzung des Schmitz’schen Werks ist grundlegend, weil nur in seiner Kritik einer nicht an Dinge und Gegenstände gebundenen Atmosphäre Böhme die Rede von der Produktion und Herstellung von Atmosphären begründen und aufrechterhalten kann.132 Böhme kommt zu dem Fazit, dass in Schmitz’ Theorie kein Platz sei für die Vorstellung, Atmosphären könnten durch dingliche oder GegenstandsQualitäten und damit durch ästhetische Arbeit „gemacht“ bzw. erzeugt werden. Um diese Überzeugung, dass Dinge direkt auf ihre Umgebung wirken, abzusichern, bestimmt Böhme das „Dasein“ bzw. die „Existenz“ z.B. einer blauen Tasse als „eine Weise, in der die Tasse im Raum anwesend ist, ihre Präsenz spürbar macht“133 . Die Dinge haben eine eigene Strahlkraft (oder Aura)134 , die abtönt auf ihre Umgebung. Das Wesen eines Dinges bestimmt sich dann nicht mehr durch Unterscheidungsmerkmale gegen andere Dinge oder durch seine Einheit und Integrität, sondern „durch die Weisen, wie es (das Ding, A.H.) aus sich heraustritt“. Damit werden einem Gegenstand (z.B. einer Tasse) Aktivitäten sowie ein Verhalten zu sich zugestanden, so dass man ihm fast ein Selbst und eine Selbständigkeit vielleicht gar eine Identität zugestehen müsste. Auch die folgenden Beispiele, die Böhme anführt, bleiben ganz bei den Dingen und lassen gar nicht die Frage aufkommen, wie solche „Ekstasen des Dings“ überhaupt nur als bestimmte Eindrücke, die Jemand von entsprechenden räumlichen Konstel130 | Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 30. 131 | Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 30 f. 132 | „Allenfalls können die Objekte Atmosphären einfangen, und diese haften dann an ihnen als ein Nimbus. Dabei ist für Schmitz die Selbständigkeit der Atmosphären so groß, der Gedanke, daß die Atmosphären von den Dingen ausgehen, so fern, daß er sogar umgekehrt Dinge als ästhetische Gebilde dann ansieht, wenn sie von Atmosphären geprägt werden“. Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 31. 133 | Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 32. 134 | Den Begriff der „Aura“ diskutiert Böhme bei Walter Benjamin. Später spricht er von den „Ekstasen des Dings“ in expliziter Anlehnung an Ludwig Klages: „Vom kosmogonischen Eros“ (1921), in dem das „Wesen der Ekstase“ und die für Böhme wichtige „Lehre von der Wirklichkeit der Bilder“ behandelt werden.

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lationen hat, vorliegen können. Auch der Raum (der Anwesenheitsraum einer Tasse z.B.) wird zu einer Eigenschaft des Dings: „Die Form eines Dinges wirkt aber auch nach außen. Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen. Ebenso die Ausdehnung oder das Volumen eines Dinges. (…) Die Ausdehnung eines Dinges und sein Volumen sind aber auch nach außen hin spürbar, geben dem Raum seiner Anwesenheit Gewicht und Orientierung. Volumen, gedacht als Voluminizität eines Dinges, ist die Mächtigkeit seiner Anwesenheit im Raum.“135

Wenn Böhme im Zitat von Orientierung spricht, dann wird er doch sicher die Orientierung irgendeines Menschen meinen, der, in der Welt immer schon orientiert, sich hier und jetzt im lebensweltlichen Raum zurechtfindet. Dann ist aber auch ein Ding in dem Raum, in dem er anwesend ist, nicht losgelöst von unserer eigenen Orientierung in der Räumlichkeit der Welt zu verstehen, d.h. die Wahrnehmung entsprechender Räume geschieht hinsichtlich unseres In-der-Welt-Seins. Leider macht er dies nicht explizit. Denn wenn das Ding „in die Umgebung hinein(strahlt)“, dann sind Ding und Raum nur zu verstehen als vorhanden innerhalb unseres Orientierungsraums, in dem allein das Ding wahrgenommen werden kann. Böhme denkt Atmosphären als „Räume, insofern sie durch Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, ‚tingiert‘ [getönt, A.H.] sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume“136 . Das leibliche Spüren bleibt ganz im Bereich des Vor- und Nichtbewussten. Es ist die menschliche Weise, eine Wirklichkeit der Dinge, die Böhme „Sphären der Anwesenheit“ nennt, aufzunehmen und zudem eine Weise, ein Sich-Befinden im Raum zu spüren. Böhme sichert den Dingen eine eigene Wirklichkeit und einen eigenen Raum zu und spricht von der „Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit“. Was ist aber die „Anwesenheit“ des Wahrgenommenen, wenn nicht das, was der Mensch wahrnimmt? Was Heidegger, Schmitz und andere zwischen Subjekt und Objekt in der Schwebe lassen, zieht Böhme nun ganz auf die Ebene des Objekts, denn dessen Atmosphäre („Aura“) ist es, was der Mensch spürt. Subjekt und Objekt teilen sich eine Wirklichkeit.137 Hier strahlt ein Ding etwas aus, was den wahrnehmenden Menschen veranlasst, sich auf eine bestimme Weise zu fühlen. Die vom Ding ausgehende Atmosphäre ist eine 135 | Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 33. 136 | Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 33. 137 | „Auch ein Blatt kann nur grün genannt werden, insofern es eine Wirklichkeit mit einem Wahrnehmenden teilt“, so Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 34.

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aktive Energie, deren Qualität z.B. „heiter“ (oder schrecklich, ernst, bedrückend usw.) genannt werden kann, die daraufhin den Menschen in eben diese heitere Stimmung versetzt. Wenn den Dingen qua Dinge diese Kompetenz bescheinigt wird, Atmosphären auszustrahlen, dann muss es auch einen bewussten Umgang mit dieser Macht der Dinge geben. Böhme vermutet ein Wissen von Atmosphären bei denjenigen Arbeitern, die sich beruflich damit auseinandersetzen. Designer, Bühnenbildner, Werbefachleute138 müssten Erfahrungen mit den Eigenschaften der Gegenstände, die Atmosphären ausstrahlen, besitzen. So ist das „Machen von Atmosphären“ eine Tätigkeit, die zum Beispiel auch Gartenkünstler ausüben, in die implizites wie explizites Wissen sowie handwerkliches Können eingehen.139 Aber bislang soll es für dieses Machen noch keine „Theorie“ geben, obwohl z.B. beim „Theoretiker der Gartenkunst“, C.C.L. Hirschfeld (1742-1792), ein Verständnis anzutreffen ist, „daß die ästhetische Arbeit im Erzeugen von Atmosphären besteht“140. Das Thema Architektur und Raum wird dann von Böhme in einem Aufsatz mit dem Titel „Atmosphäre als Gegenstand der Architektur“ behandelt.141 Er fragt darin nach den Möglichkeiten der Wahrnehmung von Architektur. Zugleich interessiert ihn zu erfahren, was es denn eigentlich ist, auf was hin wir Architektur wahrnehmen wollen. Was zeichnet Architektur jenseits des Zweckmäßigen aus? Böhme sucht nach einer Sprache für das Architektenwerk, die diesem gerecht werden kann. Er fragt: „Ist die genuine Art Architektur wahrzunehmen wirklich das Sehen – oder nicht vielmehr das Spüren? Und gestaltet der Architekt eigentlich Materie – und nicht vielmehr den Raum?“142 138 | In späteren Publikationen nimmt Böhme explizit auch den Architekten in diese Reihe auf, vgl. etwa Böhme, Architektur, 2006. 139 | Auch im Buch „Aisthesis“ behauptet Böhme, „daß die Atmosphären von ihrem dinglichen Pol her Konstituentien haben, die sich objektiv identifizieren lassen“. Dies ist Voraussetzung dafür, dass es „ästhetische Arbeiter“ gibt, die Atmosphären gezielt erzeugen können. Vgl. Böhme, Aisthetik, 2001, S. 52. 140 | Hirschfeld gibt in seinen Büchern praktische Anweisungen, wie mit Hilfe von künstlich angelegten Naturarrangements „Szenen“ gebaut werden können, die eine bestimmte Gefühlsqualität erzeugen sollen. Böhme spricht gar, aufs kompetente Machen von Atmosphären anspielend, von einer bedeutenden Macht: „Diese Macht bedient sich weder physischer Gewalt noch befehlender Rede. Sie greift bei der Befindlichkeit des Menschen an, sie wirkt aufs Gemüt, sie manipuliert die Stimmung, sie evoziert die Emotionen.“ Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 36 und S. 39. 141 | Böhme, Architektur, 2006. 142 | Böhme schlägt vor, die Raumgestaltung als wesentliches Moment von Architektur zu sehen. Wenn dem so ist, dann lässt sich das Bauwerk nicht von der visuellen Wahrnehmung her bestimmen. „Einen Raum sieht man nicht“, heißt es lapidar und höchst

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Böhme unterscheidet zwischen der Körperlichkeit von Dingen und deren Räumlichkeit. Erstere lässt sich beispielsweise in einer perspektivischen Zeichnung darstellen. „Vom letzteren kann man im Sehen binokular und mit beweglichem Auge zwar einen Eindruck bekommen, einen Eindruck freilich, der, wenn man ihn mit anderen Erfahrungen isoliert, etwas eigentümlich Schemenhaftes behält.“143 Offensichtlich kommt man „mit dem Sehen“ allein nicht weiter, wenn man nach der menschlichen Raumerfahrung fragt. Man muss schon selbst im Raum sein, will man Raum erfahren. Böhme spricht von der „leiblichen Anwesenheit“, der man sich am besten durch Bewegung versichert. Die Betonung auf dem Leiblichen bedeutet, dass es bei der Raumerfahrung nicht um einen Ort im Raum geht, den ein Körper einnimmt.144 Er nennt nun die „Befindlichkeit“ den „spezifischen Sinn für das Darin-Sein“. „Befindlichkeit“ vermittele zwischen uns und unserem Wo-Sein. „Im Befinden spüren wir, wo wir uns befinden. Das Spüren unserer eigenen Anwesenheit ist zugleich das Spüren des Raumes, in dem wir anwesend sind.“145 Das Spüren des spezifischen „Wo“ ist ein Aufnehmen des Charakters eines Raums oder seiner Atmosphäre. Das Spüren unserer eigenen Anwesenheit ist zugleich das Spüren des Raumes, in dem wir anwesend sind. Um welchen Raum handelt es sich dabei? – Es ist der Raum, den die (architektonischen) Dinge um sich entfalten und von dem wir oben am Beispiel einer blauen Tasse schon gehört haben. Auch hier lässt sich wieder an so etwas wie eine Aura denken, die den Betrachter in ihren Bann schlägt. Wird dieser Raum von Architekten erzeugt, dann nennt ihn Böhme den architektonischen Raum. Vorausgesetzt, es gehe der Architektur darum, Räume zu gestalten, dann muss man, „um sie zu beurteilen, sich in diese Räume hineinbegeben“146. Dies ist die Konsequenz, die Böhme zieht: Räume lassen sich hinsichtlich ihrer ästhetischen Güte nicht hinreichend von außen betrachten, insbesondere dann nicht, wenn man erfahren will, wie es sich anfühlt, wenn man in ihnen sich bewegt. Weiter heißt es: „Die entscheidende Erfahrung kann man nur machen, wenn man durch seine Anwesenheit an dem Raum, den Architektur gestaltet oder schafft, teilnimmt. Diese Teilnahme ist eine affektiwirksam. Hinter dieser Behauptung stehe aber das Vorurteil, dass man eigentlich Bilder (und nicht einen Raum) sehe. Dies hätte wiederum damit zu tun, dass wir gewöhnt sind, beim Betrachten von architektonischen Räumen uns einen Fotoapparat vorzustellen, der das Modell des einäugigen Sehens abgibt. Stattdessen, so Böhme, sehen wir Menschen aber in der Regel mit zwei Augen. „Also sieht man den Raum doch, nämlich im räumlichen Sehen mit beiden Augen.“ Böhme, Architektur, 2006, S. 109. 143 | Böhme, Architektur, 2006, S. 109. 144 | Vgl auch Böhme, Aisthetik, 2001, S. 80. 145 | Böhme, Architektur, 2006, S. 110. 146 | Böhme, Architektur, 2006, S. 111.

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ve Tendenz von dem Charakter eines Raumes, nämlich seiner Atmosphäre in unserem Befinden gestimmt werden.“147 Wir nehmen an etwas teil, was zuvor schon besteht, nämlich nicht nur die Architektur in ihrer materiellen Vorhandenheit, sondern ebenfalls ist der „Charakter“ des Raums und seine Atmosphäre schon vorhanden, an denen ich allein im affektiven Nachvollzug teilnehmen kann. Damit ist die ästhetische Erfahrung, die uns nur die Teilnahme am architektonischen Raum durch Anwesenheit beschert, als die entscheidende bei Böhme herausgestellt. Hier mag man zu Recht einwenden, dass man in Räumen ja sich niemals einfach nur so bewegt148, sondern dort etwas vorhat, etwas erledigen will. Böhme rät den Architekten, den Raum leiblicher Anwesenheit als ihren wesentlichen Gegenstand aufzufassen. Aber dieser Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ von einem Raum, der allein als Aura eines (architektonisch erzeugten Dinges) interpretiert wird, erscheint zu einseitig ausgelegt, als das er das weltlich-situative Potential des Eindrucks-von voll erfassen könnte. Unsere These ist: Atmosphären kommen nicht neben oder getrennt von Erlebnissen vor. Sie sind Erlebnisse der besonderen Art.

6. K ONKLUSION : Ü BER E INDRUCK- VON UND SO -W IRKEN Wir kommen jetzt zum letzten Abschnitt unserer Untersuchung. Wir waren davon ausgegangen, dass innerhalb des Denkstils der Architektur von einem Erzeugen von Atmosphären ausgegangen wird. Dies bedeutet, dass damit auch die Wirkung des Erzeugten (der Architektur) im Entwurf vorweggenommen ist, wenn beispielsweise Gernot Böhme von der erzeugbaren „Aura“ der Dinge ausgeht und die Architektur in einen architektonischen Raum auflöst, der ästhetisch-charakteristisch erfahren werden kann. Diese Erfahrung, die allein in der Bewegung im architektonischen Raum gemacht werden kann, sei nach Böhme der affektive Nachvollzug dessen, was im Raumentwurf des Architekten erzeugt wurde. Der Subjektseite, also der Interaktion von Erlebendem, Raum und Welt, wird bei Böhme weiter keine Aufmerksamkeit zuteil. Würde Böhme eine Situation des In-der-Welt-Seins ansetzen, dann müsste er das Subjekt, dass einen bestimmten, konkreten Eindruck von der Wirkung hat, in seiner Haltung zu einer „subjektiv“ und „intersubjektiv“ bedeutsamen Welt als ganzer anerkennen. Bei Misch dagegen hatten wir folgendes Zitat gefunden: „Im Eindruck 147 | Böhme, Architektur, 2006, S. 111. 148 | Ausnahmen bilden Tanz und Karussellfahren, wie Hans Lipps klar machen kann, da sie auf Kreisbewegungen beruhen: „Kreisbewegung zeigt, daß diese Räumlichkeit kein Hier hat. Das Erleben dieser Räumlichkeit bedeutet ein Suspendiertsein von überspannendem Vorhaben, wie es die Raumüberwindung wäre.“ Vgl. Lipps, Raum, 1977c, S. 173. Ansonsten bewegen wir uns eher pragmatisch im Raum.

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geht mir die Bedeutsamkeit dessen auf, was im Eindruck nicht bloß gesichtet wird, sondern auch bewußt als Kraft auf mich wirkt, seine Kraft mir mitteilt.“ Lipps, wir erinnern uns, spricht davon, dass das Erleben gebunden ist an die Räumlichkeit in einer spezifischen Gegenwärtigkeit. Die Einheit von Eindruck und Wirken vollzieht sich in einem Gegenwartsraum, den wir als den „gestimmten“ oder „präsentischen“ Raum bezeichnen können. Elisabeth Ströker hat darauf hingewiesen, dass sich gestimmter Raum und Erlebnissubjekt nicht unabhängig gegenüberstehen, nicht dass der Raum erst „wirken“ müsse, darauf dann das Subjekt „reagiere“. Statt dessen heißt es von demjenigen, der sich inmitten des gestimmten Raumes erlebt: „Ich bin als mein Erleben raumhaft auf dem Grunde meiner Möglichkeit, ausdruckserlebendes bewegliches Leibwesen zu sein“149 . Unter dem Aspekt der besonderen Raumzeitlichkeit des Erlebnisses z.B. von Anmutungen architektonischer und landschaftsarchitektonischer Art muss die Behauptung, Atmosphären (nämlich Erlebnisse von Landschaftlichem) ließen sich im Entwurfsprozess erzeugen und baulich vorwegnehmen, kritisiert und verworfen werden. Ich werde stattdessen am Erlebnis folgendes feststellen: 1. Das Erlebnis von Landschaftlichkeit (die Anmutung einer Atmosphäre) besteht nicht aus dem Aufeinandertreffen zweier isolierter Einheiten: der Wirkung eines Objekts und der entsprechenden Reaktion eines Subjekts; vielmehr ist von einer pointierten Einheit von Eindruck und Wirken auszugehen. 2. Dem Erlebnissubjekt ist das Erlebnis in seiner Einheit von Eindruck-von und so-Wirken auch ein Wissen um das Erlebnis. 3. Was es von seinem Erlebnis fühlend und denkend weiß, ist ausdrückbar in einer „Redeform“, die nicht wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen hat, vielmehr der besonderen Eigenart eines Erlebnisses in der Weise des denkenden Fühlens zukommt. Mit einem Eindruck von Geborgenheit oder einem Gefühl von Leere liegen Deutungen von bestimmten Wirkungen vor, die sich nicht ignorieren lassen. Vielmehr bieten sie die wesentlichen Ansatz- und Anhaltspunkte, um Erlebnisse des Landschaftlichen in beispielhermeneutischen Zugängen zu untersuchen. 1. Unter einem Erlebnis von Landschaftlichkeit oder einer Stimmung des Landschaftlichen verstehen wir im Grunde das, was Schmitz und Böhme „Atmosphäre“ nennen, ohne deren Kennzeichnung von Atmosphären in allen Aspekten zu teilen. Mit Josef König aber werden wir festzustellen haben, dass ein Erlebnis in der Gleichzeitigkeit von Eindruck und Wirken besteht. Damit meinen wir, dass es sinnvollerweise nicht möglich ist zu unterscheiden zwischen dem, was auf mich wirkt, und dem, wovon ich einen bestimmten Eindruck habe, vielmehr wir es mit einer Einheit zu tun haben. Was mir als dem Erlebnissubjekt im Erlebnis gegenüber steht, ist mir zugleich anschaulich gegenwärtig. Was gerade hier und jetzt so wirkt, macht meine Gegenwart und 149 | Ströker, Untersuchungen, 1977, S. 52.

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meine Wirklichkeit aus. Wirklich ist im Erlebnis, was auf mich diese bestimmte Wirkung ausübt. Eine Atmosphäre drückt eine bestimmte Stimmung aus, insofern sie den Eindruck von einem bestimmten Wirken ist. Das Wirken ist gleichzusetzen mit dem bestimmten Eindruck, den ein Ding auf uns macht. Auch ein Tier macht (bewirkt) im weichen Boden einen bestimmten Eindruck. Aber diese Weise, einen bestimmten Eindruck zu machen (eine sichtbare Spur zu hinterlassen), ist nicht gemeint. Sondern: dem Eindruck ist stets konkret immanent, wovon er ein Eindruck ist, z.B. von Lebendigkeit, von Geborgenheit, von Erhabenheit, von räumlicher Tiefe. Die „Eigenschaft“, die mit Lebendigkeit angezeigt ist, ist keine, die ein Ding in seiner oberflächlichen Erscheinung determiniert, sondern sie bezeichnet allein diesen bestimmten Eindruck als den entsprechenden Eindruck von einem Bestimmten. Lebendigkeit oder Geborgenheit wohnt dem Eindruck in echter Weise inne. Das anschaulich Gegenständliche des baulich Hergestellten in einer offenen Umgebung kann als bestimmter Eindruck von Landschaftlichem erlebt werden. Die Atmosphäre als der Eindruck-von einem so-Anmutenden ist immer eine bestimmte. Die Atmosphäre beschreibt die Weise, wie z.B. ein Zimmer im Erlebnis da ist. Ein Zimmer z.B. ist niemals nur vorhanden oder so-beschaffen mit seinen Wänden, Möbeln und Ausmaßen.150 Die Wirklichkeit des Eindrucks konstatiert ein „Tun“ der Dinge, nämlich ihr Wirken. Man darf den Eindruck nicht von dem Erlebnis trennen, das jenen erst hervorbringt. Beispielsweise wirkt ein Zimmer leer, öde, triste, kahl. „Das Leer-Wirken ist die Weise, in der das Zimmer da ist; es ist die Weise oder das Wie seines Seins.“151 Damit ist das ausgedrückt, was man sinnvoller Weise als Atmosphäre ansprechen sollte. Sie ist nur in ihrer erlebten Wirkung eine Atmosphäre. Eine Atmosphäre (ein Gefühl, ein Erlebnis) ist weder irgendwie beschaffen aufgrund angebbarer Eigenschaften

150 | König bezieht sich auf eine Überzeugung, wenn er sagt, dass Sein so viel bedeute wie Wirken. Das Sein sei in seinem Wesen und Grund Wirken. „Und darin erst wurzelt dann der deutsche Gebrauch des Wortes Wirklichkeit“ König, Sein, 1969, S. 28. Weiter führt er aus: „Wir subsumieren nicht eine besondere Art des Wirkens – und das so-Wirken der Träger der modifizierenden Prädikate ist allerdings auch so etwas wie eine besondere Art – einer generellen, metaphysischen Überzeugung: vielmehr entdecken wir in dieser zwar besonderen aber ausnehmend besonderen Art den Ursprung der generellen Überzeugung, das Sein Wirken bedeutet. Denn wenn auch das menschliche Handeln zweifelsohne ein Wirken ist und gewiß ein Wirken von sozusagen anderer Art als das so-Wirken der Träger der modifizierenden Prädikate, so ist es doch ein Handeln nur als ein so oder so qualifizierbares Handeln, also z.B. nur als ein tapfer oder feige handeln. Alle solche Qualifizierbarkeit des Handelns geht aber zuletzt zurück auf den Eindruck-von.“ S. 29. 151 | König, Sein, 1969, S.28.

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noch vorhanden in einem determinierenden Sinne. Eine Wirkung (z.B. die von Geborgenheit) ist immer nur als eine aktuelle vernehmbar.152 Atmosphären ereignen sich in Situationen, die den davon betroffenen Menschen in eine besondere Stimmung bringt, in die er allein willentlich nicht gekommen wäre. Um dieses Phänomen einsichtig zu machen, stellt Josef König einen Vergleich an. Er erläutert, dass das so-Anmuten mit einem Wecken oder Wach-Machen verglichen werden kann. Auch dabei haben wir zwei Ereignisse zu unterscheiden: Etwas oder jemand, das/der mich weckt, und ich, der ich (selber) erwachen muss. Tote kann man nicht wecken. Das Erleben einer Atmosphäre, so die These, sei also vergleichbar mit dem Erleben des Weckens. Dieses Beispiel ist vielleicht auch deshalb aufschlussreich, da es uns klar machen kann, dass Erlebnisse keine körperlichen Zustände oder Sachverhalte sind. Was Erlebnis oder Atmosphäre oder das Erleben des Weckens genannt werden kann, ist nicht der Zustand des Wach-Seins: Zuvor befand ich mich im Zustand des Schlafend-Seins, nach dem Wecken bin ich wach. Vielmehr ist die Gegenwärtigkeit des Anmutens, Erlebens oder Fühlens gemeint, die mich erfasst, oder, mit anderen Worten, das Erleben des Erwachens und die damit verbundenen Gefühle. Atmosphären in ihren Anmutungen und Wirkungen im architektonischen Entwurf festlegen zu wollen, erscheint danach genauso wenig möglich, wie das Wach-Machen für sich festzuhalten und vom Erwachen zu trennen. Architektonischen Szenarien mag man generell zutrauen, dass sie das Potential haben zu wecken, aber in der konkreten Situation führt allein das Selbst-Erwachen aufgrund eines „Anrufs“ oder „Anstoßes“ zum Erlebnis. Auch wenn wir es vielleicht nicht anders denken und beschreiben können, sondern es uns so verstellen, dass zunächst ein Ding so (immer, ununterbrochen) wirkt und anschließend in uns der Eindruck von Geborgenheit als Reaktion ausgelöst wird. Wir dürfen uns den Umgang mit Atmosphären aber nicht als ein Zusammentreffen zweier ansonsten in sich geschlossener Welten vorstellen, als ob das Wirken einer objektiven (architektonischen) Außenwelt angehört und der Eindruck meiner subjektiven Innenwelt. 2. Eine Atmosphäre ist das so-Wirkende. Als solches geht sie auf einen Eindruck-von zurück. Insofern ist sie nicht einfach vorhanden und wahrzunehmen, sondern sie ist nur in der Einheit von so-Wirken und Eindruck-von gegenwärtig. In welcher Weise ist der Eindruck-von Ausgedrücktes? Er ist ausgedrückter Gegenstand und ausgedrückte Bedeutung in „ursprünglichem Zugleich“153 . Bedeutung und Gegenstand sind ursprünglich zusammen da. Es

152 | „Nur als z.B. ein einen aktuellen Eindruck-von-Leere hervorbringendes Zimmer ist ein leer wirkendes Zimmer ein leer-wirkendes Zimmer.“ König, Sein, 1969, S. 36. 153 | König , Sein, 1969, S. 79.

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wird nicht nachträglich, aufgrund einer genauen Untersuchung, dem Gegenstand eine Bedeutung verliehen. Im Erlebnis einer Atmosphäre erfassen wir eine Wirkung. Was wir so fassen, besteht in diesem so-Wirken, insofern es wirkt und nicht aufgrund irgend anderer dinglicher Bestimmtheiten wie wahrnehmbare Eigenschaften. Hermann Schmitz spricht bekanntlich von Atmosphären als von einem Gefühlsraum. Warum? Weil der Eindruck sich als Gefühl kundtut, insofern jemand dieses bestimmte Gefühl hat. Aber damit, so möchte ich in Erweiterung von Schmitz behaupten, denkt man gewissermaßen schon den Inhalt des Gefühls. „Ein Gefühl sagt mir“, heißt so viel wie: „ich bin der Auffassung, dass...“. Da wir es beim Fühlen nicht mit einer Wahrnehmungsleistung zu tun haben, entfällt auch der Einwand, es könnte sich doch beim „Eindruck“ um eine Sinnestäuschung handeln. Das Haben eines Gefühls unterliegt keinem Irrtumsvorbehalt. Es sind hier weder Täuschung noch Irrtum möglich, dass ich etwa daran zweifeln könnte, ob es tatsächlich ein Gefühl war. Das Bestimmt-Fühlen, um das es allein geht, ist identisch dem Fühlen eines Bestimmten (z.B. des bestimmten Eindrucks von Geborgenheit). Das Erleben eines Eindrucks-von offenbart mir das, wovon ich einen Eindruck habe oder anders ausgedrückt: in diesem Offenbaren erlebe ich ein Zu-mir-Sprechen von seiten eines Gefühls154 . Eine Atmosphäre ist immer eine z.B. von Geborgenheit. Sie ist von diesem bestimmten Eindruck nicht zu trennen. Der bestimmte Eindruck ist stets Jemandes Eindruck hier und jetzt, insofern dieser Jemand plötzlich von einem bestimmten Wirken betroffen wird. Wenn man sagt, die Landschaft/das Zimmer wirke erhaben/leer, dann muss man dennoch beachten, dass das so-Wirken dieser „Dinge“ (Landschaft, Zimmer) allein im Modus der Gegenwart sich ereignet. Eine Atmosphäre ist sicher vorhanden155 , aber lediglich präsentisch. Im Präsentischen ist das Vorhanden-Sein an den gehabten Eindruck selbst, sein Hier und Jetzt, gebunden. Das Vorhandensein von Atmosphären im Raum der Gegenwart (im präsentischen Raum) lässt sich nicht „methodisch“ überprüfen, 154 | Vgl. König, Sein, 1969, S. 138. 155 | „Daß ein vorhanden-Wirkendes vorhanden ist, ist weder mehr noch minder gewiß und sinnlich gewiß, wie z.B. daß dieses Zimmer leer (öde) ist. Der Himmel über mir, der vorhanden wirkt, ist vorhanden, obgleich er z.B. nicht zu Solchem gehört, von dessen Vorhandensein wir uns durch Tasten überzeugen können. Daß wir ihn sehen, ist freilich die Vorbedingung seines Vorhanden-wirkens […]. Aber das besagt nicht, daß wir uns durch das Sehen und überhaupt durch das Empfinden seiner als eines solchen vergewisserten […]. Ob der Kamm in der Schublade oder Karl beim Appell ist, dessen vergewissern wir uns mit Hilfe der sinnlichen Anschauung. […] Aber entweder überhaupt nicht oder nur in einem radikal anderen Sinne ist es möglich, zu sagen, daß ‚laut Zeugnisses der Sinne‘ ein vorhanden-Wirkendes vorhanden und überhaupt ein so-Wirkendes modifizierend so-beschaffen ist.“ König, Sein, 1969, S. 181.

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wir können unsere sinnliche Anschauung nicht vergewissern, wie wir nachsehen können, ob der Baum vorm Haus noch steht oder schon gefällt wurde. Dass man ununterbrochen dieses Wirken fühlte und sich dieses Gefühls versichern könnte, ist ebenso unwahrscheinlich, wie dass der konkrete Eindruck ständig neu gegenwärtig sei und permanent geweckt werde. „Allein daß wir die Landschaft nicht mehr so finden oder daß uns nicht mehr so ist, als ob ..., ist dies, daß der entsprechende Gedanke […] sozusagen nicht mehr in uns ist. Es besteht keine Einheit mehr zwischen uns und dem einen Gefühl-von. Wir erinnern uns dann sehr wohl noch, daß wir zuvor [in] actu solches dachten. Allein wenn wir fest im Auge behalten, daß wir solches zu denken nur imstande sind, wenn das Gefühl selber denkt, so werden wir uns auch hier nicht verführen lassen, das Denken des Denkens und das heißt das aktuelle Sein-Denken der Vergangenheit anheimzugeben.“156 Wenn dieses Gefühl nicht mehr gefühlt wird, dann schweigt es eben. 3. Die „modifizierenden Rede“ (Georg Misch) ist die Rede, die Worte enthält, die auf Erlebnisse zeigen. Sie hat die Potenz, das Wovon des Eindrucks auszudrücken. Ihr, nicht dem Logos der Wissenschaften, kommt daher die Bedeutung zu, von Atmosphären als von Erlebnissen zu handeln. In der Rede von ihren Erlebnissen des Landschaftlichen, so meine abschließende These, bringen die Besucher ihre Erlebnisse erst hervor. Bei den entsprechenden sprachlichen Ausdrücken haben wir es mit einer Art von „rückwendig-produktiver Vergegenständlichung“ (König) zu tun. Dies wird geleistet in den Gesprächen mit Besuchern der Erlebnislandschaften, insofern diese vom Eindruck-von einem so-Wirken reden. Maß und Angemessen-Sein der Rede sind nur in Maß und Angemessenheit des Erlebnisses selbst zu suchen. Beide stehen deshalb außerhalb jeglicher kritisch-wissenschaftlicher Interpretationsansprüche. Wenn wir sagen, das Zimmer wirkt leer, so drücken wir damit dieses Leerwirken des Zimmers aus.157 Die Leistung der Sprache liegt darin, dass sie das Erlebte als ein anschaulich Gegebenes zu einem echt Ausdrückbaren macht.158 Damit lassen sich auch die in den Interviews gebrauchten Ausdrücke wie indianerforthaft, 156 | König, Sein, 1969, S. 168. 157 | Dieses ist als ein Ausdrückbares „und als solches das Maß oder die Norm der entsprechenden Reden; und generell gilt, daß Reden ein solches Maß besitzen, mit dem gemessen sie entweder angemessen sind und stimmen oder nicht.“ König, Sein, 1969 S. 195. 158 | Etwas Ähnliches formuliert König auch Jahre später, als er einen Nachruf auf Georg Misch hält. Darin heißt es: „Daß die Vergegenständlichung der Erlebnisse diese zugleich gewissermaßen hervorbringt, stimmt damit überein, daß das Wissen von den Erlebnissen mit ihnen selber unmittelbar eins ist; denn nach dieser Auffassung entspringt das Wissen von den Erlebnissen im Vollzug jenes Grund-/aktes der rückwendigproduktiven Vergegenständlichung; infolgedessen ist es doch wohl sogar logisch un-

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Tunnelsystem u.a. als modifizierende Metaphern oder „ursprünglich interpretierende Ausdrücke“ verstehen. Die Besucher versuchen ein echtes Gefühl mit einer sprachlichen Konzeption ursprünglich wiederzugeben, die als passend empfunden wird.159 Die modifizierende Rede erzeugt notwendig bildhaft (nicht begrifflich) das ursprünglich Vergegenwärtigte als Nachtrag. Auch wenn sie ein Bild oder eine Art Metapher von einem „schon irgendwie sinnlich Gegebenen“ ist, haben wir es dennoch mit einem eigentlichen Ausdruck zu tun.160 Das Wissen vom Erwirken (Berührtwerden) ist etwas „Primäres“, es gehört dem Erleben an. Der sprachliche Erlebnisausdruck spiegelt gleichsam, was als Wissen im Eindruck schon gefühlt wurde.161 Versuchen wir eine Zusammenfassung. Die Sinne werden „gerührt“ durch Dinge wie Artefakte. Diese sind die Ursache unserer Empfindungen, was aber nicht mit deren Wirkung verwechselt werden darf. Das Entscheidende ist das richtige Verständnis, was es heißt, dass die Dinge auf mich wirken. Dies kann nicht so aufgefasst werden, als ob die Dinge an mir einen Eindruck hinterlassen, wie sich der Hasenfuß z.B. im Schnee eindrückt. Dass im Sehen und Hören usw. sich eine Wirkung der Dinge auf mich zeigt, hat nichts mit deren determinierenden Eigenschaften zu tun. Nicht wie die Dinge objektiv mess- und abbildbar beschaffen sind, spielt bei der Wirkung eine Rolle. Vielmehr liegt meiner Aufgeschlossenheit für das was ich empfinde ein Vermögen zugrunde.162 Ich erfahre die Wirkung der Dinge an mir. In dieser Aktivität oder Bewegung zeigt sich etwas Entscheidendes: „Daß ich etwas als eine Wirkung der Dinge an mir erfahre, weist vielmehr darauf, wie nur, sofern ich mich einlasse mit den Dingen, mich ihnen aussetze, ich auch von den Dingen affiziert werden, eine Empfindung in mir rege werden kann. Ein Vermögen ist in der Sinnlichkeit umrissen.“163

möglich, daß das Wissen von den Erlebnissen zu diesen erst noch hinzukommt.“ König, Misch, 1967, S. 228 f. 159 | „Unser Sagen und Aussprechen dessen, was das Gefühl uns sagt, ist dieses Bilden des Bildes als eines passenden.“ König, Misch, S. 203. 160 | „Die modifizierende Rede (…) vergegenwärtigt das, auf welches auch sie freilich sich bezieht, ursprünglich, d.h. nur kraft ihrer steht ihr Gemeintes überhaupt vor uns. Sie ist eine Art Metapher, insofern sie etwas verbildlicht; und sie ist zugleich ein eigentlicher Ausdruck, insofern wir hier nur kraft dieser Verbildlichung ein Bewusstsein von der verbildlichten Sache besitzen“, König, Misch, S. 204. 161 | König spricht davon, „daß der Erlebnisausdruck dieses Wissen vom Erwirken reflektiert oder spiegelt“, König, Misch, 1967, S. 231. Weiter heißt es: „Erlebnisse (gibt) es nur in der Gestalt von Zurückgespiegeltem“, a.a.O. 162 | Vgl. Lipps, Natur, 1977b, S. 88. 163 | Lipps, Untersuchungen, 1976, S. 98, Anm. 2. Hvhg. im Original.

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Der bestimmte Eindruck ist etwas, was von mir aufgenommen wird, um mich „frei“ (z.B. im leiblichen wie sprachlichen Ausdruck) dazu verhalten zu können. Wirkungen drängen sich uns auf, insofern es eine Grunderfahrung in unserem Verhältnis zur Wirklichkeit bedeutet, „einen Eindruck bekommen“ zu haben, der von uns eine je maßgebliche Ausdeutung verlangt. Im Eindruck liegt ein Erfassen des Empfundenen/Wirkenden – ohne Erkenntnisabsicht gegenüber einem Sachverhalt. „Der Eindruck kommt ungesucht“ bedeutet: er geht auf keine Frage zurück, es werden keine Gesichtspunkte an ein Ding herangeführt. Was in mir als Gefühl und Gedanke geweckt wird, was im Eindruck selbst liegt, muss erst im Ausdruck gefunden und festgestellt werden. Besinne ich mich auf den gehabten Eindruck, versuche ich ihn selbstbewusst als meinen Ausdruck zu fassen. Der Eindruck dringt aufs Wort: „Es sieht aus wie…“; „es fühlt sich an als ob…“. Eine „Atmosphäre“, die der Architekt als eine bestimmte entwerfen sollte, müsste im Sinne ihrer determinierenden Eigenschaften wesentlich vorausgesetzt sein, sonst könnte man sie weder entwerfen noch bauen noch erzeugen. Der Architekt müsste also schon ein Wissen voraussetzen, wie es sich für einen Menschen anfühlt, diesen bestimmten Eindruck zu empfangen. Der bestimmte, aber ungesuchte Eindruck ist stets an eine konkrete, nicht wiederholbare Situation gebunden. Da das Erlebnis aber nur im Modus einer unmittelbaren Gegenwart des Eindrucks von tatsächlich Wirkendem auftreten kann, der Entwurf aber eine fiktionale Zukunft antizipieren muss, lässt sich auch unter den lebensweltlichen Bedingungen des Entwerfens keine Atmosphäre, kein Gefühl, kein Erlebnis vorwegnehmend konkretisieren. Das Wissen um Erlebnisse, die jemand erst nach haben soll, kann nicht im Architekturentwurf schon vorausgesetzt (gewusst) werden. Ein Wissen vom landschaftlichen Erlebnis ist logisch gebunden an das Erleben im Raum des Landschaftlichen selbst, genauer an dessen nachgetragener sprachlicher Vergegenständlichung. Wenn überhaupt im Zusammenhang mit Erlebnissen von einem „Erzeugen“ oder „Machen“ die Rede sein soll, dann allenfalls im Sinne eines echten Wissens um diesen Eindruck. Die evozierende oder modifizierende Rede erst erzeugt nachträglich zum architektonischen Entwurf das ursprünglich Vergegenwärtigte des Eindrucks von Landschaftlichem konkreter Artefakte in einer Umgebung.

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Erlebniswelten und Technikphilosophie David Pinzer

1. E INFÜHRUNG : E RLEBNISWELTEN UND TECHNIKPHILOSOPHIE Die folgende Untersuchung stellt den Versuch dar, aus technikphilosophischer Sicht einen Beitrag zum Forschungsprojekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ zu leisten. Ziel des interdisziplinären Projekts ist eine (Neu-) Bestimmung des Erlebnisbegriffes in der Architekturtheorie. Die beiden Untersuchungsobjekte des Projektes sind zum einen der Freizeitpark BELANTIS in der Nähe von Leipzig und zum anderen die „Kulturinsel Einsiedel“ bei Görlitz. Mittels Interviews mit Planern und Nutzern dieser Freizeit- oder Vergnügungsparks soll an diesen Beispielen exemplarisch das lebensweltliche Verständnis von Erleben und Erlebnis herausgearbeitet werden. Im Zentrum steht die Frage, ob und wie sich „Erlebnisse“ in Freizeitparks mit Mitteln von Architektur, Landschaftsarchitektur und Technik „herstellen“ lassen – und ob dabei verschiedene Realisationen bzw. Herangehensweisen eine Rolle spielen. Denn beide Parks sind verschieden ausgerichtet: Orientiert sich BELANTIS am klassischen Modell des modernen Freizeitparks mit vielen hochtechnisierten Fahrgeschäften (Achterbahn, Drehkarussell, Bootsrutsche, Schaukel), die in eine verbindende und themenbasierte Kulisse („Reise durch Europa“) eingearbeitet sind, so besteht die „Kulturinsel Einsiedel“ größtenteils aus bekletterbaren Holzspielgerüsten auf mechanischer Basis, Tunnelröhren und Baumhäusern, die fantasievoll und individuell gestaltet sind. Die beiden Parks unterscheiden sich bezüglich der Materialien (BELANTIS: Metall, Blech, Kunststoff, Pappmaché – „Kulturinsel Einsiedel“: Holz, Gummi) als auch im Grad der Technisierung, den man in BELANTIS mit High-Tech und in der „Kulturinsel Einsiedel“ mit Low-Tech charakterisieren könnte. Im Hinblick auf diese Differenzen ist anzunehmen, dass in BELANTIS und in der „Kulturinsel Einsiedel“ mit den unterschiedlichen technischen Artefakten und Stilen auch unterschiedliche Erlebnisse angeboten werden. Dies lässt vermuten, dass ein Verständnis von Erlebnissen und ihrer Realisierung auf Seiten der Planer der Parks ebenso variiert wie auf Seiten der Nutzer, die sich

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auf die jeweiligen Artefakte einlassen bzw. sich vom Image (Eigenwerbung) der Parks angezogen fühlen und damit eine gewisse Erlebnisbereitschaft mit sich führen.1 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die technischen Artefakte der Parks als Gegenstände der Interaktion und damit als Vermittler eines eventuellen Erlebnisses. Dabei wird es aber nicht um technologische Aspekte gehen, sondern es steht der Umgang mit der Technik im Mittelpunkt. Sowohl allgemeine Aspekte und Strukturen von Technik sollen reflektiert werden als auch konkrete Artefakte der Parks wie Fahrgeschäfte, Klettergerüste etc., um über den leiblichen Umgang mit ihnen auf die Begriffe von Leib, Erleben, Erlebnis und dessen Vermittlung zu kommen. Können Erlebnisse durch technische Konstrukte „erschaffen“ werden? Und wenn ja, auf welche Weise? Was sind die Besonderheiten der Spielzeuge in Freizeitparks? Mit diesen Fragen im Hintergrund soll eine vorsichtige Begriffsbestimmung und darüber hinaus eine Orientierung gewonnen werden, die sich als Rahmen und Ergänzung zum empirischen Teil des Projektes versteht. Ausgehend von der vorhandenen technisch-architektonischen Infrastruktur der Freizeitparks wird der Gebrauch von Technik im leiblichen Umgang thematisiert – es wird also kein ingenieurswissenschaftlicher Zugang zu Artefakten gewählt, sondern aus einer phänomenologisch-hermeneutischen Perspektive das leibliche Erleben in Freizeitparks diskutiert. Der Analyse liegen persönliche Erfahrungen zugrunde, die in den beispielhaft gewählten Parks von BELANTIS und der „Kulturinsel Einsiedel“ gemacht wurden.

2. TECHNIKPHILOSOPHISCHE A NNÄHERUNG Die philosophische Reflektion auf die Technik bedeutet eine Auseinandersetzung mit ihrem Gebrauch – denn Technik selber ist nichts Abstraktes und kein naturwissenschaftliches Phänomen, sondern immer an Menschen, an eine konkrete kulturelle Praxis in Zeit und Raum und damit an Handlungen und Umgangsformen gebunden. Generell lassen sich drei nicht-technische Aspekte von Technik in Abgrenzung zu ingenieurs- oder naturwissenschaftlichen Ansätzen ausmachen2: Eine reine wissenschaftlich-technische Betrachtungsweise vermag die geschichtliche Entwicklung von technischen Anordnungen nicht vollständig zu

1 | Weitere Informationen zur theoretischen, methodologischen und methodischen Ausrichtung des Projektes siehe den Aufsatz von Achim Hahn: „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Einführung in ein Forschungsprojekt“ in diesem Band. 2 | Vgl. Leidl u. Pinzer, Einleitung, 2010, S. 11-15.

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fassen. Technik, wie sie sich im konkreten Artefakt zeigt, wird durch verschiedene sozio-kulturelle, politische und ökonomische Parameter mitbestimmt. Konstruktion, Verständnis und Bewertung von Technik gehen immer auf technisches Handeln zurück, das seine Grundlage in der Lebenswelt hat. Von einer natur- und konstruktionswissenschaftlichen Perspektive ist die lebensweltliche Perspektive zu unterscheiden. Der Perspektivität analog werden verschiedene Formen menschlichen Wissens (Umgangswissen, naturwissenschaftliches Wissen) bei der Herstellung von technischen Artefakten zur Anwendung gebracht. Normen und Werte der Lebenswelt werden durch technische Anordnungen repräsentiert im Sinne einer Vermittlung sinnhafter Zusammenhänge. Technik fungiert damit auch als Medium, das den Gebrauch lenkt. Aus den Artefakten spricht die codierte Weltauffassung ihrer Erschaffer, die jene weiter-vermitteln. Es bleibt die Frage, wie weit Werte wirklich transportiert und ob sie auch entsprechend rezipiert werden im Sinne einer einseitigen Mediation. Dieser Punkt wird im Folgenden näher ausgeführt

Die Medialität von Technik: Technische Konstrukte als Vermittler Wenn technische Konstrukte durch diverse lebensweltliche Charakteristika geprägt sind, hat dies zur Folge, dass sich die konkreten Artefakte auch als Verdinglichungen ihrer Weltbezüge deuten lassen. Dies bedeutet, in technischen Artefakten manifestieren sich Weltauffassungen, Werte und Normen, die ihnen eingeschrieben sind und in ihrer Dinglichkeit und ihrer Symbolhaftigkeit den Fortgang der technischen Entwicklung mitbeeinflussen. Technikphilosophische bzw. techniksoziologische Strömungen vertreten verschiedene Auffassungen darüber, wieweit die Medialität konkreter Artefakte reicht bzw. eine Lesbarmachung erfolgen kann3 . Dies zeigt sich in einer starken und eine schwachen Lesart der Einschreibung von Normen und Werten in technischen Konstruktionen.

Technische Codierung und materialisierte Werte Eine starke Auffassung der Einschreibung lebensweltlicher Bedingungsverhältnisse geht davon aus, dass Normen, Werte und Weltauffassungen in technischen Konstrukten codiert vorliegen. Für eine solche Deutung scheinen sich insbesondere jene Konstruktionen zu eignen, deren Verwendungsmöglichkeiten stark begrenzt sind und die ganz gezielte Funktionen erfüllen sollen, wie etwa die Atombombe, aber auch mechanische oder architektonische Struktu-

3 | Zum medialen Charakter der Technik vgl. Hubig, Technik, 2004, S.95-109; siehe auch Gamm, Unbestimmtheitssignaturen, 1998, S.94-106.

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ren4 . Im Zusammenhang solcher gezielter technischer Entwicklung wird oft auf den Machtaspekt technischer Konstruktionen verwiesen, da dieser kein unwillkürliches Nebenprodukt, sondern Hauptzweck gewisser Konstruktionen darstellt5 . Die mediale Lesart technischer Artefakte ist auf den ersten Blick nachvollziehbar, doch hat die starke Auffassung von materialisierten Normen und Werten deutliche Grenzen. Die bloße Vorhandenheit von Einzelteilen in einer technischen Konstruktion vermag noch nicht gänzlich den späteren Verwendungszweck zu bestimmen. Auch wenn die Verwendungsdeterminierung von Artefakt zu Artefakt graduell verschieden und bei Waffen beispielsweise hoch ist – wie die jeweiligen Normen und Werte nun in einem konkreten und materiellen Sinne in technischen Konstruktionen repräsentiert sein sollen, bleibt zunächst fragwürdig6. Eine enggeführte Auffassung der Repräsentation durch Technik würde gezielte, implizite Handlungsaufforderungen bzw. -anweisungen bedeuten und in eine Frage nach dem Akteursstatus von Artefakten münden.

Der Verwendungszusammenhang als bestimmender Horizont Gegenüber der artefaktbetonten Lesart scheint eine Interpretation von einzelnen technischen Konstruktionen ihren jeweiligen sozialen Verwendungszusammenhängen gemäß einleuchtender. Demnach erschließt sich Sinn nicht aus der isolierten Betrachtung von Gegenständen, sondern vielmehr aus einer methodischen Rekonstruktion ihrer Entstehung und Verwendung unter Einbezug verschiedener Faktoren wie historische Entwicklung, gesellschaftlich-kulturelle, politische und ökonomische Rahmenbedingungen. Ebenfalls eine Rolle spielen dabei die jeweiligen vorherrschenden wissenschaftlichen Erklärungsparadigmen sowie die jeweiligen zugrundeliegenden konkreten technischen Zwecksetzungen – und nicht zuletzt auch ihre tatsächliche Gebrauchbarkeit. Indem diese Auffassung über die reine Konstruktion hinausgeht, bringt sie eine „theoretische Offenheit“ der Artefakte hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit mit sich. Denn eine bloße Konzentration auf die Artefakte übersieht leicht den Handlungsspielraum zur Umnutzung, den viele Gegenstände bieten. Doch ist es oft gar nicht notwendig bzw. üblich, Artefakte durch Neukonstruktion umzucodieren. Vielmehr sind es die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge, die einen zielorientierten Gebrauch bestimmen, wie das oft zitierte Hammerbeispiel zeigt: Ob er nun als Mordwaffe oder als Bauwerkzeug verwendet

4 | Vgl. etwa Winner, Artifacts, 1980; siehe auch Pinch u. Bijker, construction, 1984. 5 | Dies gelingt jedoch nicht ohne weiteres: vgl. dazu Winner, Black Box, 1993. 6 | Vgl. Latour, Hoffnung, 2002, sowie ders., Soziologie, 2007.

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wird, liegt weniger an einer codierten Konstruktion, sondern am Kontext der Verwendung. Wenn Technik demzufolge, zumindest der schwachen Auffassung nach, sinnhafte Strukturen abbildet, heißt das, dass technische Artefakte auch die ästhetischen und moralischen Vorstellungen ihrer Konstrukteure widerspiegeln. Im konkreten Falle des Projekts „Erlebniswelten“ geht es um technische Anordnungen in sogenannten Freizeitparks wie Fahrgeschäfte, Skulpturen, gestaltete Innenräume und auch landschaftliche Räume, deren Nutzung dem Besucher Vergnügen bereiten und ihm durch besondere Atmosphären, Empfindungen und nicht-alltägliche Situationen „Erlebnisse“ bescheren soll. Somit existieren auf Seiten der Planer gewisse Vorstellungen und Ideen darüber, wie solche Erlebnisse zu erzeugen und durch Gebrauchsformen zu transferieren seien. Dieser Transfer gelingt dann, wenn er beim Nutzer bestimmte Assoziationen, Bilder und Umgangsformen hervorruft, die ihn im Idealfalle in eine positive Gestimmtheit versetzen. Dies legt nahe, dass hier versucht wird, mithilfe technischer Artefakte eine bestimmte Atmosphäre zu vermitteln. Die Vermittlung kann aber auch scheitern, wenn bei dem Besucher keine Verbindung mit den beabsichtigten Stimmungen hergestellt werden kann, wenn ihm Angebote nicht zusagen oder er gar Langeweile empfindet. Technik dient hier als Medium für Stimmungen und Atmosphären, die erzeugt werden sollen und in ihrer Werthaftigkeit ebenfalls Konstitutionsbedingungen unterliegen. Im Beispiel: Die Verwendung von Holz in der „Kulturinsel Einsiedel“ etc. – die ganze wahrnehmbare Anmutung – erzeugt eine andere Atmosphäre als in BELANTIS, nämlich die eines märchenhaften, fantastischen Ortes mit starker Naturverbundenheit, während in BELANTIS ein Bezug zum geographisch-historischen Raum Europas und einer erlebnisreichen Bildungsreise zu bemerken ist. Eine hermeneutische Deutung erster Stufe verläuft also über die technischen Artefakte zur Beschreibung der intendierten Atmosphäre der Anlage. Auf einer zweiten hermeneutischen Stufe ließe sich dann aus der Atmosphäre auf damit transportierte Wertvorstellungen schließen: Was bedeutet es, wenn als Baumaterial Holz und nicht Beton verwendet wird? Und was sagt die Art und Weise des angestrebten Erlebens – indem man sich in ein Fahrgeschäft hineinsetzt oder indem man versucht, ein Gerüst zu erklettern – über den Sinnhorizont einer Anlage aus? Eine Korrelation kann wohl nicht eins zu eins in Absichten aufgeschlüsselt werden, da der Möglichkeitsraum der Anwendungen immer offen bleibt. Außerdem müsste in einer schlüssigen Auslegung zwischen repräsentierten speziellen Absichten von Konstrukteuren und allgemeinen Einflüssen der Zeitgeschichte wie Moden etc. unterschieden werden können. Wie weit dies gelingt, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden, jedoch scheint eine hermeneutische Zugangsweise zu Technik, zu Artefakten und spezifischen Anordnungen grundsätzlich möglich.

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Leib und Leiberweiterung Eine Voraussetzung für Erfahren und Erleben ist der menschliche Leib. Im folgenden Abschnitt sollen die Begriffe „Körper“ und „Leib“ näher bestimmt und dabei in Beziehung zum Erleben in Freizeitparks gesetzt werden. Die Begriffe „Leib“ und „Körper“ werden im Alltag meist synonym gebraucht, obwohl sie zumindest in der philosophischen Tradition verschiedene Aspekte bezeichnen: Nach Merleau-Ponty ist der Mensch von einer Ambiguität – also einer Doppeldeutigkeit – gekennzeichnet, da er weder ein reines Ding noch reines Bewusstsein sei7. Dabei steht „Körper“ für ein abstrahiertes, objektivierendes Verhältnis zur materiellen Basis, während der Leib den subjektiven Aspekt der Verkörperlichung beschreibt8. Helmuth Plessner drückte dies in dem bekannten Schlagwort, dass man einen Körper habe, aber ein Leib sei9 , aus. Leib bedeutet in erster Linie die Eingebettetheit des Geistigen im Körper, weshalb er also an die Lebenswelt und menschliche Erfahrung zurückgebunden bleibt und den primären Erfahrungshorizont (sog. Teilnehmerperspektive) bildet. Mentale und materielle Phänomene hängen im Menschen zusammen, sie sind untrennbar verleiblicht10. Der menschliche Körper ist also nicht nur Naturgegenstand, sondern er stellt als Leib überhaupt die Voraussetzung allen Erfahrens wie Verstehens dar und eröffnet damit einen Möglichkeitshorizont. Diese Fundamentalität der Leiblichkeit wird jedoch aufgrund ihrer Trivialität oft übersehen. Zu ihr gehören auch Phänomene der Leiberweiterung mittels Instrumenten technischer und künstlerischer Art. Jeder kennt solche Artefakte der Verlängerung und Erweiterung des Leibes aus dem alltäglichen Umgang wie z.B. die Brille, das Auto oder etwa den Blindenstock11 . Dabei werden menschliche Sinne bzw. Fähigkeiten durch Artefakte unterstützt, verbessert oder erweitert – wir können besser sehen, uns schneller bewegen oder Entferntes ertasten. In der Verleiblichung – oder embodiment in den Worten Don Ihdes12 – werden die Grenzen des Leibes durch die Werkzeuge erweitert, so dass z.B. der tastende Finger des Blinden erst an der Stockspitze aufhört. Ein anderes Beispiel ist, dass wir beim Einparken nach einiger Einübung ein Gefühl für die Dimensionen des Autos bekommen 7 | Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie, 1974. 8 | Das hier angewendete Leibverständnis folgt der Beschreibung Bernhard Irrgangs. Vgl. Irrgang, Leib, 2009, S.183 f. 9 | Vgl. Plessner, Stufen, 1975. 10 | Die Verleiblichung des Geistes hebt aber noch nicht die konkreten Schwierigkeiten des Körper-Seele bzw. Gehirn-Geist-Problems auf, d.h. die Interaktion wird auf diese Weise nicht funktionalistisch erklärt. 11 | Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie, 1974, vgl. auch Ihde, Bodies, 2002, S. XI. 12 | Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie, 1974, vgl. auch Ihde, Bodies, 2002, S. XI.

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und unser leibliches Empfinden quasi bis zur Stoßstange ausdehnen. Dinge, die außerhalb unseres Körpers liegen, werden also im Umgang verleiblicht. Auch die Fahrgeschäfte eines Erlebnisparks sind Gegenstände des leiblichen Umgangs, die sich Phänomene der Leiberweiterung zum Zweck des Vergnügens zunutze machen. In ihnen werden der Leib und seine alltäglichen Wahrnehmungen auf eine besondere Weise entgrenzt, z.B. durch extreme Bewegungserfahrungen wie Beschleunigung und Drehung in der Achterbahn. Die sensuale Wahrnehmung des Leibes wird also auf ungewöhnliche Empfindungen erweitert, was auf der einen Seite ein Sich-Aussetzen von Situationen und Erfahrungen – und damit einem gewissen Risiko – bedeutet, und auf der anderen Seite mit positiven Empfindungen konnotiert ist. Die Leiberweiterung kann sowohl passiv als auch aktiv erfolgen, d.h. die Artefakte des Erlebnisparks zielen auf eine leibliche Einwirkung, die den Teilnehmer aktiv herausfordern kann oder auch nicht. Im Beispiel: Wenn man sich in ein bestimmtes Fahrgeschäft hineinbegibt, muss man vielleicht nur wissen, wie bestimmte Beschleunigungskräfte auf das Empfinden wirken, um überhaupt eine Entscheidung zum Teilnehmen zu treffen bzw. seinen Körper in eine gewisse Grundhaltung oder -spannung zu bringen; bei anderen Geräten sind manuelle Steuerbewegungen oder Festhalten nötig. Der Gebrauch der Artefakte fordert ein praktisches Umgehen-Können auf verschiedenen Stufen, je nach dem Grad ihrer Automatisierung bzw. ihren Aktivitätsanforderungen. Es werden also verschiedene Fähigkeiten der Benutzer im Sinne von Leibkompetenzen verlangt – man denke etwa an die Steuerung von Automaten, an Klettern, Hangeln und Treten. Im Beispiel der „Kulturinsel Einsiedel“ werden auf hohen Klettergerüsten oder in engen Tunnelröhren besondere Ansprüche an die leiblichen Kompetenzen gestellt, und der Besucher muss sich entscheiden, ob er – oder sein Kind – über diese verfügt und sich damit den Zutritt zu einem Gerüst zutraut. Hierbei spielen Herausforderung, Überwindung und Mut eine wichtige Rolle.

Erleben und Erlebnis Die Leiblichkeit des Menschen zwischen ihrer Körperlichkeit und ihrer Bewusstheit eröffnet Möglichkeiten des Er-lebens. Das Erleben ist etwas Alltägliches – und doch kann es zum Problem werden, wenn wir uns fragen, was es bedeutet, wenn Freizeitparks mit „Erleben“ oder stärker noch mit „Erlebnissen“ locken. Was macht ein „Erlebnis“ eigentlich aus? Eine eindeutige und gänzlich unumstrittene Definition von Erleben und Erlebnis scheint es wohl nicht zu geben, jedoch existieren mehr oder weniger gelungene Abgrenzungsversuche13 . Diese laufen im Allgemeinen darauf hin13 | Vgl. dazu u.a. Dilthey, Aufbau, 1992; Hauskeller, Atmosphären, 1995.

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aus, dass ein Erlebnis eine besondere Form von Erleben darstellt, sich in ihm sozusagen ein singuläres Ereignis aus dem Strom des Erlebens manifestiert, welches sich in seiner Besonderheit dem Erlebenden einprägt. Dazu schreibt Konrad Cramer im Historischen Wörterbuch der Philosophie: „‚Erleben‘ heißt zunächst noch am Leben sein, wenn etwas geschieht. Von daher trägt das Wort den Ton der Unmittelbarkeit, mit der etwas Wirkliches erfasst wird, die keiner fremden Beglaubigung bedarf und aller vermittelnden Deutung vorhergeht. […] Zum Erlebnis wird Erlebtes, sofern es nicht nur schlicht erlebt wurde, sondern sein Erlebtsein einen besonderen Nachdruck hatte, der ihm bleibende Bedeutung sichert. Im Erlebnis ist der Erlebende aus dem Trivialzusammenhang seines ‚sonstigen‘ Erlebens herausgehoben und zugleich bedeutsam auf das Ganze des Daseins bezogen.“14 Wenn also Erleben etwas Alltägliches darstellt, etwas, dessen teilnehmende Augenzeugen wir sind, so macht der Nachhall eines Ereignisses auf das ganze Dasein des Erlebenden etwas zu einem Erlebnis. „Da sich diese erschließende Leistung des Erlebnisses in Bezug auf den unvollendeten Fluß des Erlebens und in ihm zumal vollzieht, liegt in ihr aber auch die Unmöglichkeit einer vollendeten rationalen Vermittlung des Erlebnisgehalts“15 . Ein Erlebnis ist also eine unmittelbare Erfahrung mit einer Bedeutung für den Erlebenden, die in ihrem Gehalt aufgrund des offenen zeitlichen Horizontes des Daseins und ihrer Bezüglichkeit für den Erfahrenden nicht vollständig rational erfasst und expliziert werden kann, sondern in ihrer Un-Mittelbarkeit verbleibt. Was ein bestimmtes Erlebnis für ein Individuum darstellt, kann sich auch ändern, oder sich auch erst später zeigen usw. Es ist also in seiner Bedeutung nicht völlig zu erschließen – und damit auch nicht objektivierbar. Auf welche Weise nun könnte ein Freizeitpark mit seinen Artefakten und Fahrgeschäften Erlebnisse vermitteln? Es gilt, bei dieser Analyse sowohl äußere Erlebnisfaktoren als auch die Erlebnisbereitschaft von Besuchern zu berücksichtigen. Leiblichkeit, die Atmosphäre, die verwendete Technik und auch die Offenheit von Praxis spielen eine Rolle. Somit lassen sich verschiedene Faktoren ausmachen, die zu einer Kristallisation von Erlebnissen aus dem Erlebensstrom beitragen:16 a) Leibbestimmung: Je stärker die leibliche Erfahrung ist, umso eher wird man dies als Erlebnis bezeichnen. b) Technikbestimmung: Der technische Stil von Anlagen prägt die Erfahrung durch seine sinnlichen, haptischen als auch audiovisuellen Qualitäten und beeinflusst das Haben von Erlebnissen. 14 | S. Cramer, Erleben, 1998, S. 703/704. 15 | S. Cramer, Erleben, 1998, S. 703/704. 16 | S. Cramer, Erleben, 1998, S. 704.

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c) Aktivitätsbestimmung: Die Eingebundenheit der Teilnehmer in das Geschehen in ihrer Aktivität oder Passivität wirkt sich auf Erlebnisse aus. d) Bedürfnisbestimmung: Der Horizont des bisher Erlebten und Erfahrenen bestimmt das, was als Erlebnis erfahren werden kann. e) Unverfügbarkeitsbestimmung: Eine Atmosphäre vor Ort sowie unvorhergesehene Dinge und Ereignisse führen auf unverfügbare Weise zu Erlebnissen. a) Leibbestimmung: Eine außergewöhnliche Leiberfahrung ist für die Herausbildung eines Erlebnisses ein wichtiger Faktor. Besonders eindrückliche Leiberfahrungen – ob nun positiv oder negativ empfunden – scheinen leichter im Gedächtnis haften zu bleiben und sich bei der Rekonstruktion in Geschichten eher als Erlebnismomente aufzudrängen. Gründe dafür könnten in ihrer Ferne zu Gewohnheit und Alltag und in der Stärke des leiblichen Empfindens – von Kitzel über Schwindel bis hin zu Schock – zu finden sein. Rausch- und Schwindelerfahrungen lassen sich auf einer Achterbahnfahrt wie in BELANTIS oder dem Springen auf einem Trampolin wie etwa in der „Kulturinsel Einsiedel“ gleichermaßen gewinnen. Aus einer naturalistischen Perspektive könnte man Hormonausschüttungen des Körpers als Ursache heranziehen. Ob man aber von einer eindeutigen Korrelation im Sinne von „je ungewöhnlicher und eindrücklicher die Leiberfahrung, desto eher wird einer Erfahrung im Nachhinein der Status eines Erlebnisses zugerechnet“ sprechen kann, muss jedoch offen bleiben und bedürfte einer Nachforschung. Dabei gilt es, auch Abnutzungseffekte zu bedenken, denn wiederholt gemachte Extremerfahrungen verlieren trotz Intensität an Außergewöhnlichkeit. Insgesamt scheint eine zu stark naturalistische Herangehensweise dem Phänomen nicht gerecht werden zu können, da Aspekte der persönlichen Erfahrung und des leiblichen Erlebens nicht gemessen werden können. Nichtsdestotrotz haben außergewöhnliche Leiberfahrungen einen hohen Stellenwert für Erlebnisse. Auf welche Weise man den Raum und die Atmosphäre leiblich erfährt ist ganz entscheidend, denn der Leib ist das Medium, in dem sich alle anderen Faktoren wie die Sinnesqualitäten, die Handlungen und die Bedürfnisse bündeln. b) Technikbestimmung: In Anschluss an die leiblichen Aspekte des Erlebnisses ist die Rolle der technischen Artefakte für das Erlebnis zu untersuchen. Lässt sich ein intendiertes Erlebnisgefühl mittels technischer Artefakte auf die Besucher übertragen? Hier sind die hochtechnisierten Fahrgeschäfte von BELANTIS den begehbaren Holzskulpturen der „Kulturinsel Einsiedel“ gegenüberzustellen, überspitzt formuliert also High-Tech und Low-Tech. Führt das automatisierte und hochtechnisierte Fahrgeschäft – über die unter a) angesprochenen extremen Leibempfindungen – zu einem intensiveren Erlebnis als technisch einfacher

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gehaltene Holzspielplätze? Wird auf extremere Leiberfahrungen als erlebnisauslösend gesetzt, müssen Risikofaktoren berücksichtigt werden, die durch Sicherheitsmaßnahmen eine Selbstbeteiligung der Besucher im Sinne von Eingreifen zum größten Teil ausschließt (Achterbahn als extremes Beispiel). In diesem Fall kann das Sich-Aussetzen der Technik dennoch als Vergnügen empfunden werden, solange die Leiberfahrung als besonders und positiv und vor allem als sicher empfunden wird. Obwohl Fahrgeschäfte mit der Angst von Nutzern spielen bzw. auch herausfordern sollen (Moment der Überwindung, des Kitzels), müssen sie auf der anderen Seite verlässlich sein und das Gefühl von Beherrschbarkeit und Sicherheit vermitteln. Der Kontrollverlust über den eigenen Leib bleibt also kontrolliert – zwar mittels der Maschine, aber durch Normierungen anderer Menschen (der Planer), die gewisse Bewegungsabläufe in die Maschine implementiert haben. Ein anderer Aspekt der Technikbestimmtheit des Erlebnisses ist die „erlebte Qualität“ der technischen Apparate selbst, also ihre sinnlich-ästhetische Anmutung. Ein bestimmter Stil von Technik bzw. ihrer Mechanisierung und der dabei verwendeten Materialien kann in einem Zusammenhang wie dem Erlebnispark als passend oder unpassend empfunden werden – zumal neben optischen und haptischen auch Eindrücke von Stimmigkeit und die Atmosphäre beeinflussende Faktoren wie Geräusche, Farben, Gerüche etc. eine Rolle spielen können. c) Aktivitätsbestimmung: Eine anknüpfende Frage ist, welchen Beitrag der Grad der Automatisierung eines Fahrgeschäftes zum Erlebnis leistet. Wie entscheidend ist das Verhältnis von aktivem und passivem Leib-Erleben? Ein hoher Grad an Eigenaktivität bzw. an Einbeziehung des Nutzers ist als erlebnisfördernd vorstellbar. Eine „schwächere“ Automatisierung der Artefakte bzw. ein höherer Grad an Eigenaktivität könnte aufgrund der Eingebundenheit das Erlebnisgefühl der Besucher erhöhen. Der Nutzer, der Einfluss nehmen kann auf das Geschehen und die Bewegungen, hat vielleicht mehr Vergnügen und ein größeres Gefühl von Kontrolle als jemand, der sich einfach passiv einem Ablauf hingibt. Der Nutzer wird so zum Helden seiner eigenen Geschichte. Natürlich muss er auch bereit sein für das Erlebnis, er muss ein gewisses Vertrauen investieren und sich in Fahrgeschäfte bzw. Spielskulpturen hineinbegeben. Im Sich-Ausliefern an eine extreme Leiberfahrung etwa auf sich schnell bewegenden Maschinen und der leiblichen Furcht davor einerseits und dem Wissen um die Sicherheit dieses technischen Artefaktes andererseits liegt der Reiz von Fahrgeschäften. Es gibt ein Spannungsfeld zwischen leiblichen Emotionen, die Widerstand gegen eine Teilnahme auch in körperlichen Symptomen erzeugen (Schweiß, Zittern, Pulsschlag, Schwindel) und dem verstandesmäßigen Wissen um die Sicherheit einer solchen Unternehmung. Hier spielen auch Erinnerungen an frühere Erfahrungen eine Rolle. Nicht immer jedoch muss ein innerer Kampf stattfinden

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– viele Nutzer suchen den Kitzel gezielt oder lehnen im Gegenteil eine Fahrt von Vornherein ab. d) Bedürfnisbestimmung: Das Erlebnis als bedürfnisbestimmt verstanden meint, dass Erfahrungen in Abhängigkeit vom Hintergrund der Nutzer zu Erlebnissen werden können. Mit der Vielfalt von Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen von Nutzern variieren die Möglichkeiten des Erlebens als auch deren „Erlebnis-Kondensate“. Das Erlebnis wäre so vom sozio-kulturellen Hintergrund des Erlebenden abhängig, von seinem Alter, seinem Geschlecht, seiner Bildung etc. Ist für den Einen das Erleben in der Gruppe erlebniskonstitutiv, kann für den Anderen die Vereinzelung wichtig sein. Man kann im Allgemeinen von Faktoren der Erlebnisbereitschaft sprechen. Diese sind einerseits sozio-kulturell, andererseits auch leiblich bestimmt. Denn z.B. altersbedingte Leibkompetenzen rufen verschiedene Bedürfnisse hervor bzw. verschiedene Ansprüche an Erleben – man denke an Kleinkinder, Schulkinder, Jugendliche und Erwachsene. Die jeweilige Biographie des Nutzers bestimmt seine Bedürfnisse im weitesten Sinne. So gibt es ein Bedürfnis nach Ruhe, ein Bedürfnis nach Bewegung, Entspannung etc. entsprechend den Nutzern. Damit ist das Erlebnis als bedürfnisbestimmt verstanden stark nutzerbedingt und setzt Erlebnisbereitschaft auf Seiten der Nutzer voraus. Andererseits ist die Rede von der Bedürfnisbestimmtheit auch problematisch, da der Bedürfnisbegriff unscharf ist und eine Reihe von Konnotationen verschiedenster Traditionen mit sich führt17. Die Reihe der Definitionen scheitert an der anthropologischen Unbestimmtheit des Menschen. So ist ein Bedürfnis zwar etwas Nicht-Überflüssiges, aber Einigkeit über die konkreten Bedürfnisse des Menschen besteht nicht. Damit ist die Unterscheidung zwischen Begehren und Bedürfen immer normativ, denn was zum menschlichen Dasein wesentlich gehört, beruht auf wertender Setzung18. Um also den Bedürfnisbegriff überhaupt auf das Erlebnis anwenden zu können, müsste er in einer weitgefassten Unschärfe verbleiben, um sich nicht die Probleme einer engen normativen Bedürfnisbestimmung einzuhandeln. e) Unverfügbarkeitsbestimmung: Die hier aufgezählten Aspekte unterliegen indessen nur einer heuristischen Trennung und begegnen in der Lebenswelt nicht klar unterschieden. Alle erlebnisbestimmenden Faktoren können im Begriff der „gestimmten Atmosphäre“ vereinigt vorgestellt werden, der somit ein Kompositorium darstellt. Ein wesentliches Element dessen wurde aber bisher noch nicht erwähnt: Die Zufälligkeit des Erlebnisses im Sinne seiner Unverfügbarkeit. Alle Versuche, ein Erlebnis 17 | Vgl. für eine Übersicht: Swiderski, Bildung, 2008; auch Gronemeyer, Macht, 1988. 18 | S. Meran, Schwierigkeiten, 1987, S. 28.

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kontrolliert herbeizuführen, unterschlagen die Dimension des Zufälligen und Nicht-Verfügen-Könnens über die Umstände. Das Erlebnis ist eben nicht mechanistisch in der Addition von Komponenten zu erklären, sondern verbleibt in seinem Eintreten oder Nicht-Eintreten in einem Raum des Unbestimmten. Um dennoch erlebnisbestimmende Faktoren heuristisch zusammenfassen zu können, lässt sich folgende Bestimmung aufstellen: Es sind erstens die Außerordentlichkeit des Erlebten im Sinne der Alltagsferne und zweitens das Erfüllen von Bedürfnissen mittels drittens technischen Anordnungen unter viertens verschiedenen Aktivitätsstufen der Nutzer, die fünftens innerhalb einer „gestimmten Atmosphäre“19 zu einem Erlebnis führen kann, ohne dass darüber vollständig verfügt werden könnte.

3. E RLEBNISWELTEN Der Freizeitpark: Artefakt der Immersion? Der Freizeitpark (auch: Erlebniswelt, Erlebnislandschaft, Erlebnispark) kann neben den Elementen architektonischer und landschaftsarchitektonischer Gestaltung auch als ein Verbund einzelner technischer Artefakte charakterisiert werden, die in den Fahrgeschäften, Skulpturen, Klettergerüsten, der Infrastruktur etc. bestehen. Artefakt bezeichnet das von Menschen Gemachte im Unterschied zur vorfindlichen Natur. Es ist ein hergestelltes „Um-zu“. Als „technisch“ können die Artefakte des Erlebnisparks bestimmt werden, um sie von anderen Artefakten wie zum Beispiel den Gegenständen der Kunst und damit einem eventuell als zweckfrei verstandenen Artefaktbegriff abzugrenzen. Der Artefaktbegriff in Bezug auf den Erlebnispark bezieht sich zwar allgemein auf das künstlich Hergestellte, unterscheidet sich aber in seinem Produkt, seinem Wozu, von anderen Artefakten des täglichen Umgangs. Denn die Erlebnislandschaft ist ein Mittel, um verschiedene Erfahrungen und besondere Erlebnisse „herzustellen“. Dies unterscheidet sie von „klassischen“ Artefakten, die auf Weltgestaltung abzielen. Produkt des Erlebnisparks ist nichts Materielles, sondern angenehm verbrachte Zeit, also Zeit, die weder lang noch übersichtlich erscheint, sondern die aus der Orientierung weitgehend ausgeblendet wird. Anders als im Alltag soll ein Verlust des Zeitgefühls erreicht werden, der Besuch im Erlebnispark soll kurzweilig und unterhaltsam sein, und er soll enden, weil die Zeit vergangen ist und nicht, weil sich das Gefühl der Langeweile einstellt.

19 | Zum Begriff der Atmosphäre vgl. Schmitz, Gefühlsraum, 1981 sowie Böhme, Atmosphären, 2002.

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Es kann paradox erscheinen, dass die Erlebnislandschaft ihren Artefaktcharakter nie leugnet – denn sie ist immer als etwas „Anderes“, „Künstliches“ zu erkennen – das aber dann als gelungen bezeichnet wird, wenn es authentisch und glaubhaft wirkt. Und zwar glaubhaft im Sinne der Stimmigkeit und des Gewordenseins, wenn der Park wie eine „Welt“ wirkt. Wir haben es also mit einem Artefakt zu tun, das Echtheit und Natürlichkeit imitiert. Der Besucher weiß, dass er eine künstliche Erlebniswelt betritt, in die er aber erst dann richtig eintauchen kann, wenn die illusionistische Wirkung gelingt. Diese beruht also auf geplanter Täuschung und damit auch auf „Komplizenschaft“ der Besucher. Diese Einwilligung in die Illusion wurde weiter oben schon im Begriff der Erlebnisbestimmung berührt. Dort, wo die Infrastruktur und das „Skelett“ (Kulisse, Fassade) der Parks sichtbar werden, offenbaren sie eine Illusionsabsicht und werden daher als unpassend empfunden bzw. stören den Besucher beim Erleben und Eintauchen in eine zu erzeugende Atmosphäre. Dabei ist die Illusion durch den Park dem Besucher nicht ständig präsent im Sinne einer permanent bewussten Information, sondern wird über das gezielte Lenken der Aufmerksamkeit partiell ausgeblendet. Eine eventuell nützliche Unterscheidung wäre dabei die zwischen dem willigen, zumindest gewährenden Einlassen auf die Atmosphäre des Parks, indem die Vorstellungskraft angeregt wird einerseits und andererseits der meist negativ konnotierten Anmutung einer Täuschung dort, wo die Einstimmung eben nicht gelingt. Im besten Falle taucht der Besucher in die Atmosphäre des Parks ein. Dieses Eintauchen in eine simulierte Realität nennt man Immersion. Die Untersuchung der Mittel und Mechanismen der Immersion stellt dabei ein eigenes Aufgabenfeld dar, welches in der neueren Forschung allmählich Widerhall findet20. Allgemein meint „Immersion“ das Eintauchen in eine künstliche Welt, wie es zum Beispiel auch bei Filmen, Bühnenaufführungen, in der Literatur etc. geschieht. Es geht dabei um einen Bewusstseinszustand, bei dem der Betroffene auf Grund einer fesselnden und anspruchsvollen (künstlichen) Umgebung eine Verminderung der Wahrnehmung seiner eigenen Person und seiner alltäglichen Bezüge erfährt. Der Erlebnispark zeigt damit auch Aspekte einer virtuellen Realität, wobei virtuell eben nicht als Gegensatz zu „real“, sondern zu „physisch“ und „materiell“ zu verstehen ist. Die virtuelle Realität simuliert dem Nutzer mittels gezielter audiovisueller, räumlicher und haptischer Wahrnehmungsempfindungen eine andere, alternative Realität, in der zum Teil an20 | Vgl. Grau, Immersion, 2006. Grau geht aber davon aus, dass Immersion meist kein geistig aktiver Prozess ist, sondern eine mentale Absorbierung darstellt, einhergehend mit emotionaler Involvierung und einer Minderung von kritischer Distanzierung. Beim Freizeitpark tritt aber stärker als bei den virtuellen Räumen etwa der Computerspiele eine aktive Vorstellungskraft in den Vordergrund. Es geht also auch um Imagination, um aktive Fantasie.

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dere Regeln (physikalischer oder sozialer Art) herrschen als in der Lebenswelt. Genau diese Illusion einer Nebenwelt kann als positiv empfunden werden, weil die Abkehr von der Alltagswelt auch eine gewisse Freiheit, eine Befreiung von Zwängen und Regeln des täglichen Lebens bedeutet. Die zeitweilige Aufhebung bestimmter alltäglicher, sozialer und kultureller Regeln gehört also mit zum Angebot der Freizeitparks. Hier lässt sich auch mit dem Spiel-Begriff (siehe unten) anknüpfen, da eine simulierte, eigenen Regeln gehorchende Realität wesentlicher Charakter des Spiels ist. Natürlich stellt das Spiel oder der Erlebnispark keinen regelfreien Raum dar; es wäre aber zu fragen, ob die Wahrnehmung der Abwesenheit der bekannten Regeln die Wahrnehmung der besonderen Regeln vor Ort bei den Besuchern im Sinne des „Sich-frei-Fühlens-von“ überwiegt. Im Kern bleibt die Überlegung bestehen, ob der Erlebnispark in seiner Gesamtheit als ein Artefakt der Immersion bezeichnet werden kann. Das heißt, nicht das einzelne Fahrgeschäft oder ein bestimmter Staffagebau, sondern der Verbund als ganzer besitzt immersive Kraft. Entscheidend ist hier die Bestimmung des Zwecks: Bleibt der Zustand des immersiven Eintauchens der letzte Zweck der Anlage, oder ist vielmehr anders herum die Immersion das Mittel zum Zweck, um die Besucher an einem bestimmten Ort zu halten? Ein Versuch der Erklärung wäre, die Bestandteile des Parks als immersive Mittel zu bezeichnen, um dem Besucher ein Eintauchen in Vergnügungen oder gar ein Erlebnis zu ermöglichen. Letztendlich wird der Zustand des Eingetauchtseins, des Aufgehens, des Seins-bei-den-Dingen als angenehm empfunden – hier spürt man Kurzweil und verbringt „qualitative Zeit“.

Erlebnis: Verfügbarkeit und Widerfahrnis Mit dem Bestehen von Erlebnisparks wird de facto die Möglichkeit des Verfügens über Erlebnisse behauptet. In der Werbung wird dem Besucher suggeriert, dass es möglich sei, Erlebnisse „herzustellen“ und „abzurufen“. Das Grundproblem stellt dabei die Verfügbar-machung von Erlebnissen dar, als ob bedeutsame Ereignisse aus dem Erlebensstrom hergestellt werden könnten – hier wird ein Verständnis von Artefakten als Werkzeuge und Erlebnissen als Produkte im Sinne von verfügbaren Ressourcen impliziert. Der Park wäre demzufolge eine Fabrik, ein Gestell von Erlebnissen, die zuverlässig und auf Abruf für den Besucher mittels der dafür bereitstehenden Infrastruktur aus technisch-mechanischen Geräten und ähnlichem reproduziert werden können21 . Hier stellen sich zwei aufeinander bezogene Fragen:

21 | Man kann hier auch an das Klischee von Hollywood als „Traumfabrik“ denken.

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a) Sind die Artefakte eines Erlebnisparks Werkzeuge, mit denen Erlebnisse produziert werden können? b) Ist es somit möglich, über Erlebnisse zu verfügen? a) Die zu habenden Erlebnisse des Freizeitparks werden zwar mithilfe technischer Artefakte realisiert – und gelegentlich wird von einzelnen Artefakten des Erlebnisparks als „Werkzeug“ gesprochen, um ihre Dimension als Funktionsbauten herauszustellen – jedoch bleibt es zu bezweifeln, ob Erlebnisse der Kategorie von „Produkten“ zuzuordnen sind und ob die Fahrgeschäfte, Spielskulpturen etc. „Werkzeuge“ darstellen. Muss der Werkzeugbegriff als ein Sonderfall nicht vom allgemeineren Artefaktbegriff abgegrenzt werden? Im eigentlichen definitorischen Sinne dient das Werkzeug der Produktion und dem Bereitstellen neuer Artefakte mittels mechanischer Einwirkung auf einen Ausgangsstoff, während sich die Herstellung eines Erlebnisses schwieriger gestaltet als bei einem materiellen Produkt. Aus Sicht der Betreiber scheint sich die Gleichsetzung etwa eines begehbaren Klettergerüsts mit einem Werkzeug wie dem Hammer anzubieten, denn zunächst besitzen beide eine praktische Funktion. Man könnte das Resultat des einen – eine vollzogene Zweckhandlung an einem Artefakt wie einem Nagel – gleichsetzen mit dem Resultat des anderen – ein spielender Gebrauch, der sich in seiner Besonderheit als „Erlebnis“ charakterisieren lässt. Eine Zweckhaftigkeit ist also beiden Arten von Artefakten gemeinsam. Bei dem einen wäre das Produkt ein eingeschlagener Nagel (um etwa ein Bild an der Wand zu befestigen), bei dem anderen ein Erleben, das sich aus Empfindungen, Atmosphären, Leibgefühl, der Stimmung etc. speist. Für die Parallelisierung von Werkzeug und Klettergerüst spricht, dass mit beiden praktisch umgegangen werden soll, denn auch ein klassisches Werkzeug wie der Hammer weist immer über das bloße materielle Produkt hinaus auf Umgangs- und Erlebnisweisen mit der Welt22 . Ein Hammer ist nicht einfach als Artefakt vorhanden, sondern er besitzt im Gebrauch Verweisungscharakter, er impliziert eine praktische Verwendung. Bernhard Irrgang formuliert: „Der verstehende Gebrauch von Artefakten versteht das Artefakt nicht als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes, sondern auch als in sich strukturiertes Ganzes. Durch den Gebrauch eines Instrumentes verstehe ich eine Situation und gelegentlich auch etwas von mir (…). Im Gebrauch verstehe ich etwas instrumental im Sinne einer Wenn-DannBeziehung.“23 Hier wird ein zentraler Ansatzpunkt der Technikphilosophie getroffen, nämlich, dass der Gebrauch der Dinge jeweils ein schon verstehender ist24 . 22 | Vgl. hierzu Heidegger, Sein, 1972. 23 | S. Corona u. Irrgang, Technik, S.176. 24 | Vgl. Corona u. Irrgang, Technik, S.169.

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Doch wenn Werkzeug im allgemeinsten Sinne für „Mittel zum Zweck“ steht, dann fallen darunter auch Klettergerüste oder etwa Personen. Unter dieser Hinsicht muss eine Werkzeughaftigkeit der Artefakte eines Erlebnisparks natürlich eingestanden werden. Dennoch verschleiert eine derart allgemein gehaltene Definition bestehende Unterschiede, die der Begriff des Spielzeugs im Hinblick auf den Freizeitpark besser trifft. Dazu kann man hier die aristotelische Unterscheidung von Poiesis und Praxis, nämlich von herstellendem Handeln und Selbstzweck-Handeln, heranziehen. Aristoteles unterscheidet poietische Handlungen, deren Inhalt ein Wissen um Prozesse und um einzelne Schritte ist, die zu einem Produkt führen, von praktischen Handlungen, deren Zweck im Vollzug liegt25 . Der Gebrauch eines Werkzeuges wie dem Hammer gehört demnach zu poietischen Handlungen, während das Beklettern einer Spielskulptur praktisch ausgerichtet ist. Weiterhin lässt sich einwenden, dass der Werkzeugbegriff grundsätzlich auf Prinzipien der mechanischen Kräftelehre rekurriert, während praktischer Umgang sich nicht in Termini der Mechanik ausdrücken lässt. Nun sind also die technischen Gegenstände in einem Vergnügungspark durchaus nicht als Selbstzweck zu bezeichnen, sondern sie dienen dem Erleben; das Erlebnis ist aber nichts zu Gebrauchendes im poietischen Sinne des Herstellens, sondern praktischer Lebensvollzug. Da Erleben also mit Lebensvollzug konnotiert ist, bleibt „Werkzeug“ ein unbrauchbarer Terminus für die „Geräte des Erlebens“. Der Einwand bezieht sich somit auf den Unterschied der Kategorien der Zweckhaftigkeit und des Herstellens von Gegenständen einer- und menschlichem Lebensvollzug andererseits. b) Ein Vergnügungspark verspricht, die Atmosphäre, die Situation und die technischen Bedingungen zu schaffen, unter denen dem Besucher ein „unvergessliches Erlebnis“ beschert wird. Dies steht jedoch in Widerspruch zu einem anderen Aspekt des Erlebnisbegriffs, nämlich seinem Unverfügbarkeits- oder Widerfahrnischarakter. Mögen Erlebnisse auch aktiv motiviert sein im Sinne der Erlebnisbereitschaft, so widerfahren sie einem auf der anderen Seite auch. Eine fundamentale Erfahrung des Menschen ist es, dass einige Dinge nicht nur ohne sein Zutun geschehen, sondern auch ohne Eingriffsmöglichkeiten, das heißt, sie liegen außerhalb von Kontrolle. Viele Ereignisse, Situationen und Stimmungen – ein Unfall, ein bekanntes Gesicht auf der Straße, eine Überraschung, eine Traurigkeit – widerfahren einem, ob man will oder nicht. Da das Erlebnis ja per definitionem eine Außenstellung bezüglich des gewöhnlich strukturierten und geplanten Alltags einnimmt, ist ihm eine widerfahrende Ungeplantheit schon grundsätzlich eigen. Wilhelm Kamlah hat sich damit in

25 | Vgl. Aristoteles, Ethik, 1995, S. 2-4.

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seiner Philosophischen Anthropologie auseinandergesetzt26. Alltagssprachlich sagt man, dass einem etwas zustößt, was nicht die Folge oder Wirkung seines eigenen Tuns ist, einen also sogar unvorbereitet trifft. Ein Widerfahrnis hat keinen Grund, es dient keinem Zweck – die Suche nach einer Finalursache27 schlägt fehl. Der Werkzeug-Begriff hingegen kann vom Ursache-Gedanken her beleuchtet werden: Ein Werkzeug dient einem Zweck, es hat also eine Finalursache (den vom Menschen gesetzten Zweck, der Grund seines Handelns). Ein Erlebnis aber ist Selbstzweck bzw. gewinnt seinen Zweck in der Bedeutung für das Lebensganze eines Menschen – also im Nachhinein. Damit eignet dem Erlebnis eine Dimension der Unverfügbarkeit, der keine weitere Hinzufügung von Faktoren Abhilfe schaffen kann, sondern die in der Fremdheit des Widerfahrnisses verbleibt. Es kann auch nur von der Seite des Herstellen-Wollens überhaupt an Erlebnis als ein zu erreichender Zweck gedacht werden – denn als Widerfahrnis gerät es gar nicht in die Perspektive des zweckhaften VerfügenKönnens. Diese „Fremdbestimmung“ ist wesentlich für das Erlebnis, denn seine Bedeutsamkeit speist sich eben aus dem größeren Zusammenhang des unkontrollierbaren Zusammenspiels, das über das vom Einzelnen Geplante und Absehbare hinausgeht. Das Erlebnis lässt sich also unter den beiden Aspekten von 1. Hergestelltem, Verfügbaren und 2. Widerfahrnis betrachten – es entsteht in diesem Spannungsfeld. Dieses Changieren zwischen verfügbaren und widerfahrenden Elementen kann man als Spiel bezeichnen – dazu wird gleich noch mehr zu sagen sein. Im Alltäglichen hingegen wird der Erlebnisbegriff unscharf verwendet und oft im Sinne von „Vergnügen“ „Unterhaltung“ „Zerstreuung“ und „Ablenkung“ gebraucht. Zu vermuten ist, dass der Erlebnisbegriff im Kontext der Erlebnisparks in seiner Vielschichtigkeit beschnitten wird, um ihn eindimensional für innerweltlich begegnende Ereignisse zu verwenden und nicht im existenzialen Sinn einer Bedeutsamkeit für das Lebensganze. Diese Verengung erfolgt um des Verfügbarmachens bzw. des Versprechens der Verfügbarkeit willen, wobei widerfahrende Aspekte des Erlebnisbegriffs ausgeblendet werden. Dies spiegelt sich wohl auch im Wandel der Bezeichnung der Parks wider, für die bis vor kurzem der Begriff „Vergnügungspark“ eher gebräuchlich war.

26 | Vgl. Kamlah, Anthropologie, 1984, S. 34-40. 27 | Die Finalursache oder causa finalis bildete noch bei Aristoteles einen Hauptzweig der vierfachen Ursachenbestimmung, nämlich das Werden eines Dinges nach Plänen; z.B. wäre der Bauplan die Finalursache des Hauses. Descartes lehnte die Finalursache als Erklärung für Phänomene ab und ließ nur noch die naturwissenschaftlich fassbaren Effizienzursachen (causa efficiens) gelten.

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Spiel und Spielzeug In Abgrenzung zum Werkzeugbegriff lässt sich der Begriff des Spiels bzw. Spielzeugs in Stellung bringen, der einen offenen Umgang mit Artefakten beschreibt. Wesentlich für das Spiel bzw. das Spielzeug sind Elemente des Zufälligen und die Gültigkeit eigener, begrenzter Regeln. Ein Spielzeug kann dem Erwerb und Erlernen verschiedener Fertigkeiten und Fähigkeiten dienen – es werden aber auch bestimmte Vorgänge des Alltages nachgeahmt. Die Zweckausrichtung ist beim Spielzeug ebenfalls besonders, denn im Unterschied etwa zu einem Werkzeug, dessen Zweck primär in der Herstellung eines anderen Dinges liegt, liegt der Zweck des Spielzeugs im Spiel, d.h. einem praktischen Vollzug, der nicht herstellend ist. Roger Caillois definiert in seinem Klassiker Die Spiele und die Menschen: „Das Spiel ist: 1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, ohne dass das Spiel alsbald seines Charakters der anziehenden und fröhlichen Unterhaltung verlustig ginge; 2. eine abgetrennte Betätigung, die sich innerhalb genauer und im Voraus festgelegter Grenzen von Raum und Zeit vollzieht; 3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang, zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers notwendigerweise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muss; 4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum noch sonst ein neues Element erschafft und die, abgesehen von einer Verschiebung des Eigentums innerhalb des Spielerkreises, bei einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels; 5. eine geregelte Betätigung, die Konventionen unterworfen ist, welche die üblichen Gesetze aufheben und für den Augenblick eine neue, alleingültige Gesetzgebung einführen; 6. eine fiktive Betätigung, die von einem spezifischen Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer in Bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird.“28 Caillois zufolge wird das Spiel stets von mindestens einem der folgenden vier Prinzipien geprägt: Agon (Wettkampf), Alea (Zufall), Mimikry (Maske) und Ilinx (Rausch).Wenn man versucht, diese Prinzipien auf die Freizeitparks anzuwenden, lassen sich durchaus Analogien herstellen29: Maske (wenn auch vielleicht nur imaginiert im Rollenspiel), Zufall und Wettkampf sind Elemente, die im Freizeiterleben der Parks enthalten sind. Rausch als Rauschhaftigkeit wie 28 | S. Callois, Spiele, 1964, S.16. 29 | Sacha Szabo hat diese Analogien in seiner Arbeit zu Jahrmärkten und Vergnügungsparks analysiert. Vgl. Szabo, Rausch, 2006.

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im sogenannten Geschwindigkeitsrausch lässt sich den Fahrgeschäften wie z.B. der Achterbahn zuschreiben, wo Wettkampf und Maske in den Hintergrund treten und der Zufall zugunsten einer Verfügbarkeit von hochtechnisierten Bewegungsabläufen ausgeschaltet wird. Generelle wesentliche Elemente des Spieles sind die Imagination bzw. Fantasie, die Simulation und der Versuch bzw. das Ausprobieren. Spielen als ein praktischer Vollzug besitzt Aspekte des Steuer- und Verfügbaren als auch des Widerfahrenden – denn nicht alle Elemente des Spiels sind kontrollierbar. Das Spiel findet also zwischen Verfügung und Widerfahrnis statt. Schon im Begriff Spiel klingt diese Freiheit an, denn er wird z.B. auch in der Mechanik benutzt, um einen – dort natürlich unerwünschten – Effekt des Nicht-genau-Passens, eben einen Möglichkeitsraum zu beschreiben. Man denke etwa an zwei Zahnräder, die nicht exakt ineinandergreifen. Spiele werden oft mithilfe von Spielzeug vollzogen, und hierunter fallen auch die Fahrgeschäfte der Erlebnisparks. Bei dieser Art von Spielzeugen (z.B. Achterbahn) steht das Sichaussetzen von Widerfahrnissen in einem gegebenen Rahmen im Vordergrund und wird als lustvoll empfunden. Bei einigen Attraktionen kommt dazu noch eine Ebene der Virtualität, auf der reale Extremerlebnisse auf kontrollierte Weise simuliert werden, z.B. das Gefühl des Sturzes von einem Wasserfall oder Gebäude. Ein Spiel kann damit also eine virtuelle bzw. imaginierte nicht-physische Ebene, eine Art Erlebnisraum im realen Raum eröffnen – obwohl es sich auf physische Elemente wie das Spielzeug und den Orientierungsraum bezieht. Im Erlebnispark werden viele Spiele und Spielzeuge unterschiedlichster Art vereint – von Fahrgeschäften über Bewegungs- und Geschicklichkeitsspiele und Rollenspiele bis hin zu klassischen Glücksspielen und Sportspielen. Das Spielen als Praxis gehört wesentlich zum Menschen, ohne dass es bislang gelungen wäre, seine Bedeutung biologisch oder anthropologisch zu erschöpfen. Vielmehr zählt es in seiner Vertrautheit zu den menschlichen Grundkonstanten30. Vom Begriff des Spiels finden sich Verweise auf kognitive und physische Fähigkeiten bzw. deren Entfaltung und Entwicklung, also auf die leibliche Kompetenz des Menschen.

Erleben, Leib und Leibkompetenzen Im letzten Abschnitt soll noch einmal auf das eingangs bereits Vorgestellte zurückgekommen werden, um den Bogen von Leib, Umgang und Erleben im Begriff der Leibkompetenz zu schließen. Im Spiel liegt beides: eine Anforderung an leibliches Können und eine Einübung gewisser Umgangsweisen, in denen

30 | Vgl. Huizinga, Homo, 1940.

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sich beispielhaft der Umgang mit Welt zeigt. „Wir lernen die Welt durch unseren Leib kennen, indem wir mit der Welt umgehen.“31 Der Umgang mit den Artefakten eines Erlebnisparks erfordert verschiedene leibliche Kompetenzen beim Benutzer, also verschiedene Stufen und Formen von Wissen und Körperbeherrschung. Dabei gibt es auch verschiedene Arten von Wissen, etwa das Wissen darum wie man mit Pfeil und Bogen umgeht: „Kompetenz bedeutet ein Ineinander von Wissen und Können. Beim impliziten Wissen ist der Körperteil im Vordergrund (…)“32 . Hier wird zwischen einem expliziten und einem impliziten Wissen unterschieden, frei nach Michael Polanyis Feststellung: „Wir wissen mehr, als wir zu sagen vermögen“33. Diese Unterscheidung ist leicht nachvollziehbar, wenn man an Formen des Wissens in Umgang mit diversen Artefakten denkt, etwa wie ein Musikinstrument oder die Kupplung beim Auto zu bedienen ist, wie man die Teetasse auf dem Tisch greift und wie ein bestimmtes Spiel wie z.B. Mikado funktioniert. In allen Beispielen erschöpft sich unser Wissen nicht in Beschreibungen und abstrakten Anleitungen, sondern beinhaltet immer auch ein Wissen des leiblichen Umgangs. Dass dieses trotz aller Selbstverständlichkeit etwas Erworbenes ist, zeigt die Notwendigkeit des Einübens und Praktizierens, die jeder Mensch in seiner Lerngeschichte erfährt. Im Laufe unserer persönlichen Entwicklung erwerben wir somit – neben explizit ausführbaren Wissensinhalten – viele leibliche Fähigkeiten und Kompetenzen. Eine Leibkompetenz ist also eine Form des impliziten Wissens34 , nämlich ein leibliches Umgangswissen „(…) im Sinne eines verinnerlichten Wissens, einer körperlichen und existentiellen Erfahrung“35 , das sich im praktischen Lebensvollzug herausbildet. Die amerikanische Naturwissenschaftshistorikerin Donna Haraway fasst dieses Wissen im Begriff des embodied knowledge36. Insofern verweist es also auf die somatischen Wurzeln unseres Denkens: „Unser Körper ist das grundlegende Instrument, über das wir sämtliche intellektuellen oder praktischen Kenntnisse gewinnen. Das implizite Wissen entspringt dem intelligenten Gebrauch unseres Körpers.“37 Die verschiedenen Formen des Wissens lassen sich in drei Ebenen aufschlüsseln: Umgangswissen als handwerklich-instrumentales Wissen – die Leibkompetenz; kausales oder bedingtes Wissen als Wenn-Dann-Wissen im Sinne von wis-

31 | Irrgang, Leib, 2009, S.338. 32 | Irrgang, Leib, 2009, S. 317. 33 | Polanyi, Wissen, 1985, S.14. 34 | Vgl. Polanyi, Wissen, 1985, S.14. 35 | Irrgang, Leib, 2009, S. 215. 36 | Vgl. Haraway, Reinvention, 1991. 37 | Corona u. Irrgang, Technik, 1999, S. 173.

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senschaftlichem Wissen; reflexives und rekonstruktives Wissen im Sinne eines hermeneutischen Wissens (philosophische Dimension).38 „Das implizite Wissen basiert auf dem lebensweltlichen Konstruktionswissen und Umgangswissen im Hinblick auf technische Artefakte und Verfahren. Es basiert auf Phänomenen des Ausprobierens, des Suchens, Findens und Passens, also auch des Sich-Bewährens.“39 Eben dieses Ausprobieren und Einüben geschieht beim Spielen und Lernen. Das Spiel erweist sich somit als Praxis des Ausprobierens leiblich-instrumentaler Umgangsweisen, die Menschen seit dem frühen Kindesalter einüben und darin gewisse Stufen des erfolgreichen Umgangs im Sinne von Kompetenzen erwerben. Das Umgehen-Können bildet sich im Laufe des Lebens heraus und seine Schwerpunkte verlagern sich. So ist das kindliche Umgehen-Können ein anderes als das des Erwachsenen. Die leiblichen Kompetenzen sind demnach abhängig vom Alter (Geschlecht) und der persönlichen Lebenssituation. Darüber hinaus weisen Leibkompetenzen neben einer gattungsspezifischen (allen Menschen gemeinsamen) auch eine individuelle Prägung auf: Verschiedene Menschen besitzen auch verschiedene Leibkompetenzen. Die verschiedenen Artefakte eines Erlebnisparks tragen den Alters- und Individualdifferenzen Rechnung, indem sie für unterschiedliche Nutzergruppen konstruiert werden und im Umgang unterschiedliche Anforderungen an den Nutzer stellen. Diese können als selbstverständlich oder auch als anspruchsvoll wahrgenommen werden. Die Erlebnisparks sind hier entweder als Ganze auf die verschiedenen (Alters-)Gruppen ausgerichtet oder sie versuchen, mit ihren Attraktionen verschiedene Kompetenzstufen von Kindern bis Erwachsenen abzudecken. Sofern die Leibkompetenz der Besucher – bzw. die des angesprochenen Klientels – nicht überfordert wird, kann ihre Inanspruchnahme (z.B. trotz oder wegen Anstrengung) als positiv empfunden werden. Hier wirken Mechanismen von Überwindung und Belohnung. Die Ansprüche an die leiblichen Kompetenzen der Besucher decken sich in den Erlebnislandschaften „Kulturinsel Einsiedel“ und BELANTIS nicht: Erfordert BELANTIS relativ geringe leibliche Kompetenzen (eher passive Ausrichtung), so richtet sich die „Kulturinsel Einsiedel“ stärker an leiblichen Erfahrungen aus (eher aktive Ausrichtung). Ein passives Verhalten in einem Fahrgeschäft etwa benötigt weniger ausgebildete leibliche Kompetenzen als das aktive Erkunden von Holzklettergerüsten, Tunneln, Netzen etc. Hier ist auch Erlebnisbereitschaft der Benutzer gefragt. Denn fehlen leibliche Kompetenzen oder wird der leibliche Einsatz als z.B. zu anstrengend verneint, kann das Erlebnis nicht entstehen.

38 | Vgl. Corona u. Irrgang, Technik, 999, S.175. 39 | Vgl. Corona u. Irrgang, Technik, 1999, S.175.

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Am Beispiel der „Kulturinsel Einsiedel“ zeigt sich damit auch ein weltanschaulicher Aspekt mit pädagogischer Note, denn das leibliche Erleben und Können wird durch die Attraktionen forciert – es scheint für die Planer des Parks im Vordergrund zu stehen und damit für sie einen positiven, zu verbreitenden Wert darzustellen. Anhand der Artefakte könnte man Grundhaltungen ablesen wie z.B. die Befürwortung umfangreicher Leibkompetenzen sowie sensualer und räumlicher Erfahrungen (dunkle Räume, Höhlen, Tunnel, Verstecke, Abkürzungen, Baumhäuser) wie auch die Bewertung aktiver Erlebnisse im Sinne von „Abenteuern“. Doch bedarf es soziologischer und psychologischer Studien, welche die hier angedeutete Lesbarkeit der Artefakte in Bezug auf darin enthaltene Werturteile im Detail untersuchen.

4. F A ZIT Als Ergebnis der Untersuchung steht die multifaktorielle Bestimmung des Erlebnisses. Wie gezeigt wurde, gibt es durchaus kontrollierbare Faktoren, die es begünstigen oder anregen, in Erlebnissituationen zu kommen, jedoch sind diese Verfügungsdimensionen nicht hinreichend, um ein Zustandekommen von Erlebnissen zu garantieren. Da Erlebnisse in einem grundlegenden Sinne immer auch widerfahren, sind sie nicht abrufbar. Insofern lassen sich die Artefakte der Erlebnisparks eher als Spiel- denn als Werkzeuge begreifen, denn Erlebnisse werden (auch) in einem Erlebnispark nicht produziert. Zwar sind die technischen Artefakte zentral für das Angebot von Erlebnisparks, „besondere Momente“ über außergewöhnliche Leiberfahrungen zu erreichen, doch gehören bedürfnis- und nutzerabhängige Faktoren auch dazu. Die Artefakte bestimmen zudem die ästhetische Anmutung eines Parks – um in eine intendierte Atmosphäre einzutauchen, bedarf es jedoch auch Voraussetzungen auf Seiten der Besucher. Neben der Bereitschaft zum Erlebnis sind verschiedene leibliche Kompetenzen notwendig, die erst im Umgang mit der Technik das immersive Eintauchen in eine gestimmte Atmosphäre ermöglichen ;gleichzeitig ermöglichen die Parks die Einübung dieser Leibkompetenzen im Spiel. Die beiden Beispiele BELANTIS und „Kulturinsel Einsiedel“ verdeutlichen in ihrer Unterschiedlichkeit die verschiedenen Bedürfnisse und Verständnisse von Erleben, weisen aber als Gemeinsamkeit die Relevanz des leiblichen Umgangs auf.

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III Der Vergnügungspark BELANTIS und der Freizeitpark „Kulturinsel Einsiedel“. Historische Einordnung und Beschreibung

Geschichte des Vergnügungsparks Ute Kessler

1. E INLEITUNG Bei einer näheren Beschäftigung mit der Thematik Freizeitparks, Vergnügungsparks, Wellness-Oasen, Badelandschaften und Freizeitparadiese wird schon durch die häufige Verwendung der Worte Park, Landschaft und Paradies deutlich, dass auch heute noch der Gedanke vom „guten Leben“ mit arbeitsfreier Zeit in einem engen Bezug zu Natur, Landschaft, Parks und Gärten steht. Der folgende Beitrag, der im Rahmen des Projektes „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“1 entstand, möchte sich der Geschichte dieser Verbindung widmen. Bei der Beschäftigung mit der Frage nach dem Erlebnis Landschaft stößt der heutige Autor unweigerlich auf den von Gerhard Schulze2 geprägten Begriff der „Erlebnisgesellschaft“, welche für ihn durch „Erlebnisrationalität, (und) die Funktionalisierung der äußeren Umstände für das Innenleben“3 sowie die Feststellung: „Als zentrales regulatives Prinzip entsteht eine fundamentale psychophysische Semantik, die an Stelle der früheren ökonomischen Semantik tritt.“4 charakterisiert wird. Blickt man jedoch in der Kulturgeschichte und besonders in der Geschichte der Gartenkunst weiter zurück als bis zum II. Weltkrieg, wird deutlich, dass diese bewusste Beeinflussung des Innenlebens über eine psychophysische Semantik in der Außenwelt im Laufe der Geschichte immer wieder 1 | Es handelt sich um ein zweijähriges Forschungsprojekt, das unter der Leitung von Prof. Dr. Hahn an der Fakultät für Architektur, Lehrstuhl für Architekturtheorie und Architekturkritik der TU-Dresden durchgeführt wurde, finanziert durch die Deutsche Forschungsgesellschaft. Über Inhalt und Ausrichtung des Projektes siehe „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Einführung in ein Forschungsprojekt“ von Achim Hahn in diesem Band. 2 | Ein Standardwerk in der Diskussion zu gesellschaftlichen Entwicklungen ist Gerhard Schulzes Werk „Die Erlebnisgesellschaft“, Hamburg, 1993. Er untersucht darin die Veränderungen der Gesellschaft der Bundesrepublik ab der Nachkriegszeit. 3 | Schulze, 1993, Erlebnisgesellschaft, S. 35. 4 | Schulze, 1993, Erlebnisgesellschaft, S. 35.

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breite Bevölkerungskreise erfasst hat. Dies ist bei der bewussten Erzeugung verschiedener Emotionen durch die Szenarien des Landschaftsparks im 18. und 19. Jh. ebenso der Fall, wie bei der Unterhaltung der Volksmassen im alten Rom durch Tierhatzen, Gladiatorenspiele und Siegesfeiern5 oder die Sportwettkämpfe, Theateraufführungen oder Feste in den heiligen Hainen zu Ehren der Götter im alten Griechenland. Will man ein tieferes Verständnis für das „neuartige“ Phänomen Erlebnispark und Erlebnisorientierung entwickeln, ist es also unabdingbar, im Vorfeld weiterer Betrachtungen einen Überblick über die historischen Vorläufer und somit auch Vorbilder dieser Entwicklung zu geben.

2. PAR ADIESE UND HEILIGE L UST- UND M U ss EGÄRTEN – VON DER S TEINZEIT BIS ZUR R ENAISSANCE Bereits im alten Ägypten war den Menschen klar, dass zum Glück mehr als die gesicherte Versorgung mit materiellen Gütern gehört. So spielten der Garten und die musische Unterhaltung der Ahnen im Totenkult eine wichtige Rolle.6 Die Wichtigkeit der Muße spiegelt sich z.B. deutlich in den Weisheiten des Ptahhotep wieder.7 Umgesetzt wurde diese Weisheit z.B. auch in den Privatund Tempelgärten, in denen die Götter, insbesondere die Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin Hathor, mit Tanz, Gesang und Mysterienspielen erfreut wurden und wo bei ausgelassenen Festen, wie dem Fest der Trunkenheit, dem schönen Fest im Tal (Totenfest) oder auch bei Bootsfahrten in den Papyrussümpfen auch die leiblichen und erotischen Genüsse nicht zu kurz kamen.8 Ein schönes Leben nach dem Tod war nur durch materielle Vorsorge im Diesseits und ein gerechtes Leben zu erlangen. Ein Teil der Seele des Verstorbenen pflügte für die Sicherung der Nahrungsversorgung auf den fruchtbaren Reedfeldern.9 5 | Ausführungen zur Massenunterhaltung im alten Rom finden sich z.B. bei Weeber, Panem, 1994. 6 | Gothein, Geschichten 1926, Bd.1, S. 21-23. 7 | Die Weisheiten stammen aus der Zeit des alten Reiches (2707 v. Chr. bis 2216 v. Chr.) vgl. Helck u. Otto, Lexikon, 1999 S. 220-221. vgl. auch folgenden Vers: Folge deinem Herzen, solange du lebst, – tue nicht mehr, als verlangt wird. – Verkürze nicht die Zeit der Muße, – denn deinem Ka ist es ein Greuel, – wenn du nicht auf die Stimme deines Herzen hörst. – Vergeude nicht den Tag – durch übertriebene Sorge für dein Haus. – Was auch geschieht, folge deinem Herzen. – Die Dinge gedeihen nicht besser, – wenn du es vernachlässigst. Papyrus Prisse, Übersetzung in Brunner, Weisheit, 1988, S. 115. 8 | Vgl. Bonnet, Reallexikon, 1952, Beschreibungen von ausschweifenden Landpartien und Picknicks in der Umgebung von Alexandria und dem Kanopus- Kanal finden sich bei Strabon, Geographica, 1833, S.14-17. 9 | Budge u. Wallis, Heaven, 1906, S. 37.

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Anders ist dies bei den ältesten indischen Texten des Rigveda10 und Atharva-Veda, die eine Rückkehr in ein idealisiertes Hirtenleben im Land der Väter ohne Arbeit beschreiben, wo es Flüsse aus Milch und Honig gibt, die die Seele stärken, wo die Toten in bester Gesundheit Milch aus den Eutern zahmer Kühe trinken und gemeinsam mit den Göttern und ihren Verwandten unter schattigen Bäumen sitzen und Soma trinken, wo Gerechtigkeit und Gesundheit herrschen, und wo es viele verlangende Frauen gibt.11 Auch der Garten Eden der Bibel ist ein verlorenes Paradies, wo die Menschen noch in der Gemeinschaft mit Gott lebten. Bei den Sumerern und in Mesopotamien war das schöne und ewige Leben auf der Insel Dilmun nur den Göttern vorbehalten. Dafür kam dem Liebesspiel und der heiligen Hochzeit in Verbindung mit den Tempelgärten und heiligen Hainen der weiblichen Gottheiten (Inanna, Aschtarte, Ishtar), die um das Geheimnis von Tod und Auferstehung wissen, eine besondere Bedeutung zu. Schon im Gilgamesch- Epos verwandelt eine Dienerin der Ishtar durch ihre Liebeskunst in einer Woche den mit den Tieren der Steppe lebenden tierhaften Enkidu in einen Menschen und lehrt ihn, Brot zu essen, Bier zu trinken und trunkene Lieder zu singen.12 Dieses Brauchtum in Verbindung mit Tempelgärten bestand in Abwandlungen durch die Jahrtausende bis ins persische Reich fort und wurde später von griechischen und römischen Reisenden und Geschichtsschreibern (Herodot, Strabon, Athenaios, Pindar, Ovid, Diodor) als „Tempelprostitution“ oder Hierodulenkult in Verbindung mit der Göttin Aphrodite beschrieben. In Folge der Perserkriege im 5. Jh. v. Chr. und der späteren Eroberungen Persiens und Ägyptens durch Alexander den Großen übernahmen die Griechen und später auch die Römer und der Islam, viel von der Gartenkultur Persiens und Ägyptens. Besonders die persischen Gärten mit ihrer Kreuzteilung beeinflussten später die islamischen und christlichen Paradiesvorstellungen und Gärten. Die Verwendung des Wortes Paradies für das Jenseits entstand dann auch durch eine griechische Bibelübersetzung, nachdem Xenophon (426 v. Chr. bis 355 v. Chr.) durch die Beschreibung der pairi-daeza genannten persischen Gärten und Jagdparks dieses Wort ins Griechische gebracht hatte. Bei den griechischen und römischen Schilderungen vom Jenseits, den fernen Wohnorten der Götter und Heroen oder eines vergangenen goldenen Zeitalters vermischen sich diese verschiedenen Einflüsse. Zunächst nahmen die Fruchtbarkeit des Landes und die Vielfalt und Menge der ohne Mühe reifenden 10 | Das Rigveda wurde um 1500 v. Chr. aufgeschrieben und reicht in seiner Entstehungszeit vermutlich bis 2500 v. Chr. zurück. 11 | Jenseitsbeschreibungen finden sich vor allem im Rigveda 9 und 10, (in: Grassmann, Rig-veda, 1876) sowie im Atharva-veda 3, 4 und 6 (in: Grill, Gesänge, 1888). 12 | Maul, Gilgamesch-Epos, 2005, S. 51-54, Übersetzung des Gilgamesch-Epos, Tafel 1, Verse 140 bis 168.

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Köstlichkeiten und das milde Klima im Elysion, dem Garten des Phäakenkönigs bei Homer13 ,14 und in Platons Atlantis15 eine zentrale Stellung ein. Gesundheit, Gerechtigkeit sowie vergnügliche Beschäftigungen wie Reiten, Jagen, Würfelspiel, Tanz, Musik, Liebesspiel und Sport kamen in römischer Zeit bei den elysischen Gefilden Vergils,16 und den fruchtbaren Inseln der Glückseligen bei Plutarch, Plinius d. Ä. und Strabo hinzu.17 Arbeit war aus diesen Vorstellungen vom glückseligen Leben nicht vollständig verbannt sondern einfach. Schon der athenische Machthaber Kimon (510 v. Chr. bis 450 v. Chr.) ließ nach dem Vorbild persischer Könige die Haine um die sportlichen Trainingsstätten und Heiligtümer des Lyceion und der Akademie durch Bewässerung und Baumpflanzungen verschönern und die Agora mit Bäumen bepflanzen.18 In diesen Hainen fanden Sport und Theater im Kontext mit agonalen Spielen und sakralen Festen statt und wenig später gründeten hier die führenden Philosophen Athens ihre Schulen.19 (scholé – griechisch für Muße) Dass es zur Muße einer materiellen Grundsicherung bedarf, war schon Aristoteles (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.) klar. Mit Muße hatte für ihn alles zu tun, was selbstzwecklich getan wird. Alles was der Arbeit diente, war fremdzwecklich. Spiel diente demnach auch nur zur Erholung von der Arbeit und war damit fremdzwecklich.20 Im antiken Griechenland, dem kaiserzeitlichen Rom und dem Europa der Renaissance und des 17.-19. Jh. wurde der Garten oder Park immer wieder zum Sinnbild eines Reiches, in dem die Künste, die Musen und die Tugenden regieren und wo das Ideal des weisen und gerechten Herrschers gilt. In Daphne bei Antiocha entstand bereits unter den Nachfolgern Alexander des Großen nach persischem Vorbild ein weltberühmter Lustpark, wo die Menge vornehme 13 | Homer, Odyssee IV, 564-568. 14 | Homer, Odyssee VII, 112-132. 15 | Platon, Kritias, 113a- 121c. 16 | Vergil, Aeneis VI, 112-132 u. 629-660. 17 | Vgl. Börner, Suche, 1984; Delumeau, History, 1995 sowie 1.Mos. 2, 15, in: Die Bibel,1980. 18 | Gothein, Geschichte, 1929, Bd. 1, S.68. 19 | Beschreibungen der Lage der philosophischen Schulen außerhalb der Stadt finden sich bei Goette u. Hammerstedt, Athen, 2004, S. 210-221. 20 | Vgl. Aristoteles, Politik VIII 2, 1337b32-1338a13 zitiert nach Oberdörfer u. Rosenkranz, Staatsphilosophie, 2000, S.84-85; Die Muße ist ihm wünschenswerter als die Arbeit, Muße ist für ihn selbstzwecklich und trägt die Glückseeligkeit in sich, während Spiel eine Art Arzenei ist, um die Arbeit erträglich zu machen und damit fremdzwecklich ist. Für ihn hat philosophische und geistige Schau „jenes menschliche Tun, das dem Wesen der Gottheit am nächsten kommt, am meisten vom Wesen des Glücks in sich.“(Nikomachische Ethik X 8 1178 b 12-34, zitiert nach Oberdörfer u. Rosenkranz, Staatsphilosophie, 2000, S. 86-87).

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Wirtshäuser, schattige Baumgänge, Blumenbeete und Quellen fand.21 Diesem Ideal folgend, errichtete der römischen Kaiser Augustus (63 v. Chr. bis 14 n. Chr.) zahlreiche öffentliche Gärten, Parkanlagen und Thermen und übergab auch die Parkanlage um sein bepflanztes Grabmal bereits zu Lebzeiten der Bevölkerung.22 Auch Alexandria entwickelt sich zu einer Stadt mit zahlreichen Gärten. Bootsfahrten auf dem Kanopus, Picknicks in den Bohnendickichten der Sumpfgebiete sowie die Jagd in den Sümpfen wurden ein beliebtes Vergnügen der Bewohner Alexandrias, das auch die Römer für ihre Feste inspirierte.23 Griechische Grottenheiligtümer oder Verkleinerungen von Akademie, Lyceion und Nil waren schon vor der Kaiserzeit in den Gärten römischer Bürger, wie z.B. Cicero, beliebt.24 Auch Kaiser Hadrians (76-138) spezielle Verehrung der griechischen Kultur fand in seinem privaten Garten in dem sich verkleinerte Nachbauten von Akademie (Plato), Lyceion (Aristoteles), griechischem Theater, einem Saal der Philosophen, Bibliotheken, Garten-Stadion und Hospital befanden, seinen Ausdruck. Seine besondere Beziehung zu Ägypten spiegelte sich in der Nachbildung des Kanopus Tales bei Alexandria.25 In seiner Villa empfing und beherbergte er Künstler und Philosophen.26 Die Einbeziehung von Denkmälern für Künstler, Philosophen und Staatsmänner in die Gartengestaltung blieb bis ins 20. Jh. hinein populär. Gleichzeitig spielten Sex und Erotik in Verbindung mit dem Lustgarten und einer Verehrung des Gartengottes Priapos und der Liebesgöttinnen Aphrodite und Venus von der Antike bis ins 19. Jh. immer wieder, auch als Gegenpol zur später herrschenden christlichen Moral, eine bedeutsame Rolle.27 Seit der Renaissance findet sich dieser Aspekt jedoch vorwiegend nur noch in den privaten Gärten der weltlichen und geistlichen Fürsten, wenngleich öffentliche Gärten immer auch ein Treffpunkt zur Beziehungsanbahnung und ein Betätigungsbereich für Prostituierte blieben. Im Barock bezeichnete Fürst Orsini seinen Park bei Bomarzo als heiligen Hain, 21 | Gothein, Geschichte, 1929, Bd. 1, S. 76-77. 22 | Gothein, Geschichte, 1929, Bd. 1, S. 94-96. 23 | Vgl. Bonnet, Reallexikon, 1952, Beschreibungen von ausschweifenden Landpartien und Picknicks in die Umgebung von Alexandria und dem Kanal Kanopus finden sich bei Strabo, Gepgraphica, 1833, Buch 1. Abschnitt Ägypten §14-17. 24 | Vgl. Gothein, Geschichte, 1929, Bd. 1. S.88-92. 25 | Seit der Eroberung Ägyptens durch die Römer 30 v. Chr. war der röm. Kaiser auch Pharao von Ägypten. Hadrian betrieb überdies einen Kult für seinen im Nil ertrunkenen Liebsten Antinoos, dessen Vergöttlichung als Antinoos-Osiris er im ganzen Reich durchsetzte. (vgl. Hölbl, Gottheiten, 1981, S. 163-164). Gleichzeitig war er in die griechischen Mysterien eingeweiht. (vgl. Griesshaber, Kaiser, 2009 und Hölbl, Gottheiten, 1981, S. 166). 26 | Vgl. Franceschini, Villa, 1991a und b; Aurigemma, Villa, 1965. 27 | Vgl. Niedermeier, Erotik, 1995.

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in den er sich vom gesellschaftlichen Trubel und den Verpflichtungen des Stadtlebens in Rom zurückziehen und sich unbeschwert sinnlichen und erotischen Freuden widmen kann. Hier stellte er riesige Sphingen und Fabelwesen auf, die er, um der altersbedingten Abstumpfung seiner Empfindungsfähigkeit entgegenzuwirken, grell bemalen ließ.28 Seit der Renaissance fanden auch immer mehr technische Spielereien, Nachbildungen von singenden Vögeln, Grotten mit künstlichen Tieren, Wasserscherze und wasserbetriebene Musikinstrumente und damit das Vergnügen an Illusion und Täuschung Einzug in die europäischen Gärten.

3. D IE P OPUL ARISIERUNG HERRSCHAF TLICHER P RIVILEGIEN : K IRCHWEIH , VAUXHALL , TIVOLIES , W ELTAUSSTELLUNGEN Im Zuge der Christianisierung durch die oströmische und weströmische Kirche entwickelt sich die Kirchweih (später Kirmes) und der Jahrmarkt aus vorchristlichen Festen und Märkten zu Ehren heidnischer Gottheiten, die jedoch durch die Namen von christlichen Heiligen ersetzt wurden. Der jeweilige Souverän war dabei für die Zeit des Jahrmarktes für die Gewährleistung des Marktfriedens zuständig.29 Von dem mittelalterlichen Rechtsbegriff für den Marktfrieden „freyzeyt“ leitet sich übrigens das Wort Freizeit her.30 Diese Feste zogen immer auch Musiker, Gaukler und Schausteller an. Ab dem 17. Jh. wurden in die Volksfeste von Kirchweih und Jahrmarkt zunehmend Attraktionen aus dem Alltags- und Vergnügungsleben der Herrschenden integriert. So war z.B. das Karussell ursprünglich ein Trainingsgerät für das Ringelstechen der Ritterturniere.31 Das erste Kinderkarussell wurde 1620 im byzantinischen Reich, dem türkischen Philippopolis, dem heutigen Plowdiw in Bulgarien beschrieben.32 Auch konzertante Musikaufführungen lösten sich 1637 mit der Eröffnung des ersten öffentlichen Opernhauses aus dem Kontext von Kirche und Herrscherhof. Das ansonsten dem Adel vorbehaltene Privileg der Jagd konnte an den Schießbuden der Rummel schließlich von Jedermann in abgewandelter Form ausgeübt werden. Eine konsequente Eroberung herrschaftlicher Vergnügungen durch das Volk erfolgte in England im Vergnügungspark Vauxhall, der ein Vorbild für die späteren Vergnügungsparks wurde. Die Besitzer öffneten 1660 (nach Aufhe28 | Vgl. Bredekamp, Orsini, 1991. Hier findet sich eine gute Beschreibung der Anlagen und Hintergründe. 29 | Vgl. Szabo, Rausch, 2006, S. 25-28. 30 | Vgl. Szabo, Rausch, 2006, S. 41. 31 | Vgl. Szabo, Rausch, 2006, S. 130-133. 32 | Vgl. Ramus, Jahrmarkt, 2004.

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bung des puritanischen Banns für Vergnügungen) ihren Garten im Stile eines ländlichen Ale-House für die Allgemeinheit. Ein Ale-House war ursprünglich der typische Treffpunkt der einfacheren Bevölkerungsschichten, wo neben Getränken und einfachen Speisen in der Regel auch Bänkelsänger, exotische Tiere, deformierte Personen und Prostituierte zur Unterhaltung beitrugen, die aber auch von den gehobeneren Schichten aufgesucht wurden. Im 17. Jh. stiegen jedoch die Ansprüche und es wurden auch Zeitungen ausgelegt, Spiele im Freien, sowie Tanz und Fußball organisiert.33 Besonders an Vauxhall war im Gegensatz zu den anderen Ale-Häusern der Park, der es nun jedem ermöglichte, einen angenehmen Abend im Kreise der Familie, Freunde oder Geschäftspartner im Garten bei musischer Unterhaltung und freiem Umgang der Geschlechter zu verbringen. Dieses war ein Privileg, das seit dem Ende der Römerzeit nur Adel, Klerus und reichem Bürgertum vorbehalten war. Von 1729-1767 erreichte Vauxhall seine Blüte. Die Besucher konnten ihr Essen in Pavillons einnehmen, die mit Gemälden namhafter Künstler geschmückt waren. Neben Tanz-, Theater- und Musikaufführungen von Komponisten und Artisten, die auch den Hof und Adel begeisterten, wurden Feuerwerke, Ballonaufstiege und Hochseilartistik geboten. Zur gemischten Menge gehörten auch der Prince of Wales und die Londoner Aristokratie. Bereits 1749 lockten Events, wie die Aufführung der Feuerwerksmusik von Händel 12 000 Zuschauer in den Park, 1786, zum Jubiläum der Theater-Company sind es bereits 61 000. Der ursprünglich regelmäßig angelegte Park wird im Laufe der Zeit mit Elementen des zeitgenössischen Gartengeschmacks ausgestattet. Darunter befinden sich chinesische Pavillons, Statuen von Milton und Händel und ein türkisches Zelt. Für den Eintritt von einem Schilling waren alle Unterhaltungsangebote kostenlos, gezahlt wurde nur für die Speisen.34 Zu den Vergnügungen des französischen Hofes des 18. Jh. gehörten neben den großen, theatralisch inszenierten Festen mit Feuerwerken, hohe Schaukeln, Ringelspiele, Rutschbahnen nach dem Vorbild der „Russischen Berge“ aus dem St. Petersburg des 16. Jh., Kegelbahnen, die bereits in der Renaissance beliebten Wasserspritzspiele, Gaukler zur Belustigung, sowie Verkleidungsspiele in denen man das Leben einfacher Landsleute in nachgebauten Dörfchen oder einer Meierei nachspielte. 1771 eröffnete der Sohn eines ehemaligen Generals und Finanzmannes die Pariser Tivoli- Gärten und machte diese Vergnügungen einem breiten, anfänglich feudalen Publikum zugänglich. Die Namensgebung bezieht sich auf den Ort der kaiserlichen und bischöflichen Sommersitze Villa Adriana und Villa d’Este bei Rom und beinhaltet Gärten im italienischen, englischen und holländischen Stil, Bäder, Karussells, Wasserscherze, Schaukeln und Rutschen für Erwachsene, Tanz- und Musikaufführungen sowie Hochseilartistik. Die nachts 33 | Vgl. Clarc, Alshouse, 1983 und Scott, Vauxhall, 1955. 34 | Vgl Scott, Vauxhall, 1955 und Coke, Vauxhall, 2009.

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bunt beleuchteten Gärten wurden schnell berühmt.35 Die Anlage wurde Anfangs auf Basis von Mäzenatentum geführt. Ein Wandel in Qualität und Anspruch der Schauparks begann bereits nach der Revolution von 1789 in Frankreich mit der Eroberung feudaler Lustbarkeiten durch breite Bevölkerungskreise. Bereits um 1800 sind die meisten Schauparks kommerzielle Unternehmen, büßen an Raffinesse und Qualität ein und verlieren in Frankreich schon in der ersten Hälfte des 19. Jh. ihre Attraktivität für das feudale Publikum, das sich nun der Ball- und Kaffeehauskultur und den literarischen Salons zuwendet.36 In Europa entstanden in der Folgezeit, ebenfalls unter dem Namen „Tivoli“ luxuriöse Vergnügungsetablissements – wie das Wiener Tivoli – mit gehobener Gastronomie und Tanzvergnügungen zur Musik von Johann Strauß, die auch vom Adel und dem wohlhabenden Bürgertum besucht wurden. Fahrgeschäfte spielten hier nur eine untergeordnete Rolle. Mit dem Anspruch einer Verbindung von Kultur, Gastronomie und Vergnügen in einem Park eröffnete 1843 der Diplomatensohn Georg Carstensen, bekannt als Partylöwe und Organisator rauschender Feste und Feuerwerke, das bis heute von breiten Bevölkerungsschichten genutzte Tivoli in Kopenhagen. Bis heute wird das Tivoli weiterhin von allen gesellschaftlichen Klassen besucht. Selbst die dänische Königin feierte hier ihren 60. Geburtstag.37 Die Anlage von Bürgerparks und Spazieranlagen auf den ehemaligen Befestigungsanlagen der Städte war ebenso Ausdruck eines selbstbewussten Bürgertums wie die Demonstration von ökonomischer Stärke in den Weltausstellungen. Der unmittelbar nach der französischen Revolution noch sehr präsente Gleichheitsgedanke verlor sich in der Folgezeit. Von der ersten Weltausstellung 1851 im Hyde-Park fürchtete man, dass der elegante Park, von besitzlosen Massen überflutet würde, was jedoch durch die temporäre Gestaltung vermieden werden sollte.38 Das Grundkonzept dieser Weltausstellung mit den verschiedenen Länderpavillons wurde jedoch bis in die Gegenwart beibehalten. Nach der Umsetzung des Kristallpalastes nach Sydenham schlug Prinz Albert, Gemahl von Queen Victoria, die Aufstellung von Nachbildungen paläolithischer Tiere zu Volksbildungszwecken vor.39 In Folge der Weltausstellung erfreuten sich sogenannte „Floren“ (Gewächshäuser, die tropische Landschaftsbilder nachstellten) beim Bürgertum besonderer Beliebtheit und wurden an bestimmten Tagen auch für das besitzlose Volk geöffnet, wovon man sich eine sittliche und moralische Läuterung durch die heilenden Kräfte der Natur versprach.40 35 | Vgl. Faget- Benard, Tivoli, (o.J.) . 36 | Vgl. Schüle, Paris, 2003. 37 | Vgl. Eckard, Tivoli, 2005. 38 | Vgl. Hennebo, Stadtgrün, 1979. 39 | Vgl. Goldmann, Paleontology, 2003. 40 | Vgl. Scherreiks, Hölle, 2005.

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4. D AS I DE AL DES WEISEN H ERRSCHERS UND DIE S EHNSUCHT NACH A RK ADIEN Öffnung privater Parks für die Bevölkerung durch aufgeklärte Herrscher Die Öffnung der herrschaftlichen Gärten auf dem Kontinent erfolgte durch aufgeklärte Herrscher nach dem Vorbild der englischen Königin Caroline und dem von Locke (1632-1704) formulierten Grundrecht „a man has to subsist and to enjoy the conveniences of life“ (das Recht eines Menschen, die Annehmlichkeiten des Lebens zu erhalten und zu genießen)41 So ist z.B. die Öffnung des Berliner Tiergartens, des Wiener Praters und des Münchner Augartens in dieser Linie zu betrachten. Diese Orte wurden entweder wie der Augarten vom Herrscher mit Tanzsälen, Billardzimmern, Erfrischungszimmern und Speisesälen ausgestattet oder entwickelten sich wie der Wiener Prater mit Karussels, Schießbuden, Imbissbuden, einem zeitweiligen Nachbau der Lagunenstadt Venedig, Feuerwerken, Ballonaufstiegen und einer Weltausstellung ohne die Steuerung durch den Herrscher schnell zum Vergnügungspark.42

Der Landschaftspark: Politik, Freiheit, Mystik, Erlebnis und Gefühl Das bereits während Antike und Renaissance als literarisches Thema beliebte Ideal der arkadischen Landschaft wurde im 17.Jh. in Europa mit einer Rückbesinnung auf Renaissance und Antike wieder populär43 und äußerte sich neben den Werken der Landschaftsmalerei in literarischen Werken wie Miltons „Paradise Lost“ und den Pastoralen des Dichters Alexander Pope, der als einer der geistigen Väter des Landschaftsgartens gelten kann.44 Nach ersten Versuchen Popes, Gärten nach den antiken Gartenbeschreibungen des Plinius anzulegen, fand der Maler Kent, dass sich das Freiheitliche auch in der gesamten Machart des Gartens ausdrücken müsse. Ab 1720 wurde dieses Ideal durch Pope und Kent in den Anlagen ihres Mäzens Lord Burlington (Chiswick House) als Abfolge begehbarer Landschaftsbilder, die sich stark an italienischen Reiseeindrücken Kents orientierten, auch gebaut. Das Ideal war die fruchtbare, offene und kultivierte Landschaft mit künstlichen Seen, antiken Tempeln und Ruinen, geschwungenen Wegen und frei wachsender Vegetation. Der landschaftliche Gartenstil galt fortan als Symbol für Freiheit und Natürlichkeit und kann als der 41 | Locke, Government, 1821, S. 109. 42 | Vgl. Pratergeschichte auf www.prater.at. 43 | Vgl. Effe, Hirtendichtung, 2001 und Carnap, Schäferwesen, 1939. 44 | Vgl. Deez, Pope, 1876.

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philosophische und politische Gegenentwurf zum Kontrolle und Disziplinierung verkörpernden barocken Garten des Absolutismus angesehen werden. In der freien, unbeschnittenen Entwicklung der Pflanzen fand man das Ideal der Freiheit versinnbildlicht.45 Der Hang zum Mystischen und Geheimnisvollen war bereits für die Parkanlagen des 18. und beginnenden 19. Jh. prägend. So fanden sich bereits in Chiswick House Sphingen, als Symbol des Geheimnisvollen und Darstellungen heidnischer Gottheiten als Abgrenzung gegen die Dogmen der christlichen Kirche.46 Die Anlage und Pflege eines Gartens war ein beliebtes Refugium politischer Dissidenten wie Lord Burlington oder Sir William Temple, die ebenso wie A. Pope Freimaurer waren.47 In diesem Zusammenhang stand die Pyramide als Symbol für Liebe, Sehnsucht und Erinnerung und für Ägypten, das als Ursprung aller Geheimlehren angesehen wurde.48 Andere Staffagebauten, wie gotische Türme und Ritterburgen, in denen man aus dunklen Kellerräumen in lichtere Obergeschosse aufstieg, hatten metaphorische Bedeutung im Sinne eines Aufstiegs zu geistiger Klarheit oder bezogen sich auf die zur damaligen Zeit beliebten englischen gotischen Novellen von Horace Walpole. Dieser gehörte zu den Mitbegründern des englischen Landschaftsparks und trug mit dem Umbau seines Landhauses in Twickenham zu einem bizarren gotischen Schloss zur Verbreitung des Stils der Neogotik bei.49 Der Vernunft, die man in der rationalen Formensprache barocker Gartenanlagen verkörpert sah, wurde die Freiheit des Gefühls, die Ahnung des Herzens und die Phantasie entgegengestellt. In England fanden die phantastischen gotischen Romane von Horace Walpole eine begeisterte Leserschaft. In Deutschland fanden die emotionalen Werke des Sturm und Drang mit einem starken einfühlenden Verhältnis zur Natur, was sich in den sentimentalen Landschaftsgärten widerspiegelte, großes Interesse beim Publikum. Die Auswahl der dargestellten Themen erfolgte nach Anregungen aus zeitgenössischer und antiker Literatur und hatte somit einen sowohl den Planern als auch den Betrachtern der Gärten vertrauten Bedeutungsinhalt. So repräsentierten die Themen unter anderem verschiedene Lebensutopien. China repräsentierte das Ideal der Herrschaft eines weisen Philosophenkönigs, Tahiti stand entsprechend der damals aktuellen Reiseberichte für das Ideal des unschuldigen paradiesischen Lebens. Da es für den neuen Gartengeschmack, im Gegensatz zu dem des Barock, keine überlieferten Regeln gab, waren die Gestaltungsrichtlinien die ästhetischen Grundregeln der Malerei und die Erzeugung von Stimmungen und Atmosphä45 | Vgl. Gerndt, Garten, 1981, S. 106-116 und Sühnel, Park, 1977. 46 | Vgl. Gerndt, Garten, 1981, S.68. 47 | Vgl. Sühnel, Park, 1977. 48 | Vgl. Assmann, Gärten, 2001. 49 | Vgl. Hartmann, Kunstlexikon, 2009.

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ren. Das Empfinden und das Gefühl brachten die Gestaltung hervor und sollten genau dieses auch wieder beim Betrachter auslösen.50 Gleichzeitig führte bei vielen dilettierenden Parkschöpfern, die englische Anlagen nur vom Hörensagen kannten und nur bedingt über künstlerische Begabungen verfügten, die allein auf Gefühl basierenden Gestaltungen zu grotesken Anlagen, die von zeitgenössischen Kritikern, wie z.B. Goethe, oft bespöttelt wurden.51 Die Einhaltung einer bestimmten Abfolge beim Gartenspaziergang und eine Choreographie der Stimmungen war für diese Parks typisch. Eine der ersten und eindrücklichsten Anlagen war z.B. Painshill Park, der zwischen 1738 und 1773 angelegt wurde. Choreographien gehörten auch ab dem Ende des 18. Jh. zum deutschen sentimentalen Landschaftspark.52 Oft waren die Landschaftsparks so gestaltet, dass der Besucher eine Reise durch verschiedene Länder der Welt unternahm, wie beispielsweise in Kew Garden. Diese Anlage wurde von 1757 bis 1762 als erster botanischer Garten Englands und als eine Art Spaziergang durch Sakralbauten aus aller Welt vom Architekten und Weltreisenden Sir Wiliam Chambers angelegt, der gleichzeitig als Hofarchitekt für die architektonische Ausbildung des Prinzen von Wales zuständig war. Der Garten war zur Landschaft abgeschlossen und wirkte mit einer Anhäufung theatralischer Effekte, die mit Bauwerken unterschiedlicher Stilrichtungen gestaltet wurden, nur nach innen. Dabei waren hölzerne Marmortempel und Fassaden aus Pappmaché und der Aufbau von Illusionen an der Tagesordnung. Chambers selbst gestaltete eine chinesische Pappmachéfassade auf der Gartenseite seines sonst schlicht gestalteten Hauses.53 Darstellungen der „schrecklichen Schönheiten der Wildnis“ und furchterregender Szenen mit Kettengerassel, Vulkanen, Galgen, Stromschlägen sowie skurrilen Felsbauwerken die Chambers 1775 in seiner „Dissertation On Oriental Gardening“54 neben einer verstärkten Ansprache des Gefühls fordert, verwirklicht er jedoch nicht in Kew. Diese Ideen eines totalen Gartenkunstwerks, das alle Sinne anspricht,55

50 | Die Instrumentalisierung der äußeren Welt für die innere Welt ist also eindeutig keine neue Erscheinung der heutigen „Erlebnisgesellschaft“ wie es Schulze annimmt. (Schulze, Erlebnisgesellschaft, 1993, S. 15, 33-35) 51 | Ironische Texte von den 1770er Jahren bis ins 19. Jh. von Justus Möser, Johann Karl Wetzel, Goethe, Ludwig Tieck und anderen sind zusammengestellt bei Gerndt, Garten, 1981, S. 81-91. 52 | Ironische Darstellungen von Gefühlschoreographien finden sich bei Gerndt, Garten, 1981, S. 81-91. 53 | Vgl. Harris, Chambers, 1995. 54 | Chambers, Gartenbaukunst, 1775. 55 | Vgl. Quillitzsch, Chambers, 1995, S.84.

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wurden vor allem außerhalb Englands56 rege diskutiert und inspirierten gemeinsam mit dem 1763 veröffentlichten Stichband über Kew Garden57 die Landschaftsgärten auf dem europäischen Festland und führten dort zur Entwicklung der sentimentalen Landschaftskunst.58 Verbunden mit einem reformerischen Ansatz finden sich Chambers’ Ideen besonders in der Parkgestaltung von Wörlitz (1769-1773) mit seinen zahlreichen Kleinarchitekturen wieder. Wörlitz wurde von Anfang an mit humanistischem Bildungsanspruch für ein größeres Publikum geplant und hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Gartenkunst in Deutschland.59 Im 18. Jh. wandelt sich auch das Landschaftsideal. Als Sinnbild der Freiheit und Spiegel der menschlichen Psyche galt als schön zunächst die nützliche und fruchtbare, kultivierte Landschaft. Ab dem 17. Jh. erfahren jedoch gerade die wilden, unkultivierten Seiten der menschlichen Psyche und das Triebhafte eine gesteigerte Aufmerksamkeit und eine positivere Bewertung.60 Auch in den Dramen des Sturm und Drang steht zunehmend der Konflikt des jungen NaturGenies mit den überkommenen Moralvorstellungen im Zentrum. Diese geänderte Innensicht, die sich in der Romantik fortsetzt, spiegelt sich auch in der neuen Bewertung wilder Naturlandschaften wieder. Der Schau der Erhabenheit der vom Menschen unberührten Natur wurde eine heilende Wirkung auf die Seele zugeschrieben, da damit beim Menschen ein „delightful horror“ erzeugt wird.61 Durch diesen genussvollen Schrecken konnten nach der Auffassung des Schriftstellers, Staatsphilosophen und Politikers Edmund Burke (1727-1797) Teile des Körpers von „gefährlichen und beschwerlichen Störungen befreit“62 werden. Allerdings war die Wahrnehmung des Erhabenen eine elitäre Angelegenheit und bedurfte nach Burkes Meinung eines feinen Gespürs für das Sublime (lat., dt. das Erhabene) und das Außergewöhnliche. Die heilende Wirkung, die Naturlandschaften wie dem Meer oder den Alpen in der Folgezeit zugeschrieben wurden, basierte unter anderem auf diesem philosophischen Hintergrund. Chambers’ Forderung nach der Darstellung „wilder und schröcklicher“ Landschaften, die bereits Ausdruck des geänderten Landschaftsideals war, setzte somit schon weit vor den Verlusterfahrungen der Industrialisierung ein, die

56 | In England wendet man sich bereits den eleganten und schlichten Gestaltungen von Lancelot Brown zu und versucht, die Natur allein wirken zu lassen. 57 | Vgl. Chambers, Plans, 1763. 58 | Vgl. Trauzettel, Chambers, 1995. 59 | Vgl. Harris, Chambers, 1995 und Trauzettel, Chambers, 1995. 60 | Vgl. Kupfer, Gifte, 1996. 61 | Burke, Betrachtung, 1989, S. 108. 62 | Burke, Betrachtung, 1989, S. 176.

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in der Literatur63 für gewöhnlich als Auslöser dieser geänderten Natursicht angesehen werden.

5. I NSTRUMENTALISIERUNG UND P ROFANISIERUNG VON K ULT UND V ERGNÜGEN Saturnalien, Karneval und die Strategie „Brot und Spiele“ Ein erstes typisches Beispiel für die politische Instrumentalisierung eines kultischen Geschehens mit der Absicht einer Ventilfunktion zum Abbau von gesellschaftlichen Spannungen kann man in der Wiedereinführung des alten römischen Brauches der Saturnalien sehen. Dieser hat sich als Karneval bis in die heutige Zeit gehalten. Das Fest zu Ehren Saturns, das auch eine Volksspeisung einschloss, wurde 218 v. Chr. während einer Krise des röm. Reiches wieder aufgegriffen.64 Standesunterschiede waren während des Festes aufgehoben oder umgekehrt und das verbotene Würfelspiel um Geld war erlaubt. Es herrschte Redefreiheit und auch sittlich moralische Grenzen fielen. Der römische Herrscher Sulla (138/134 v. Chr. bis 78 v. Chr.) instrumentalisierte schließlich die Tradition des Siegesfestes, indem er nicht nur einmal, sondern jährlich wiederkehrend, mit den Ludi Victoriae das Volk mit Kampfspielen unterhielt und Volksspeisungen vom Dankopfer an die Götter abhielt.65 Diese Taktik, die besitzlosen römischen Volksmassen (proletarii) ruhig zu halten, wurde später vom römischen Satiriker Juvenal (1. und 2. Jh.) als „Brot und Spiele“ (panem et circenses) bezeichnet66 und damit zum geflügelten Wort für eine in den folgenden Jahrhunderten oft kopierte Strategie. Die ursprüngliche inhaltliche Bedeutung der Kampfspiele und deren agonaler und sakraler Hintergrund wurden dabei unter Beibehaltung der äußeren Form durch neue Bedeutungsinhalte ersetzt oder zum reinen Vergnügen sinnentleert. Bemerkenswert ist hierbei einerseits, dass bereits das antiken Rom mit Lebensumständen und einem „Freizeitproblem“ konfrontiert war, das im Allgemeinen als ein neuzeitliches, erst mit der Industrialisierung auftretendes Phänomen dargestellt wird, und andererseits bereits Lösungen fand, die denen der heutigen sogenannten „Spaß- oder Freizeitgesellschaft“ nicht unähnlich sind.

63 | Z.B. bei Ritter, Landschaft, 1990; Sieferle, Rückblick, 1997; Simmel, Landschaft, 1913. 64 | Vgl. Kissel, Karneval, 2008. 65 | Vgl. Letztner, Sulla, 2000, S.267 und Bernstein, Luidi publici, 1998. 66 | Vgl. Weeber, Panem, 1994 und Thuillier, Sport, 1999.

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Volksparks gegen Aufruhr und für Sozialhygiene und Massenertüchtigung Um seiner mangelhaften Popularität entgegen zu wirken, öffnete König James I. den Londoner Hyde-Park, den königlichen Jagdpark, einem kleinen Kreis der Öffentlichkeit. Das Erstarken des englischen Bürgertums hatte bereits seit Anfang des 17. Jh. zu zunehmenden Konflikten zwischen der „gottgegebenem“ Monarchie und dem Parlament geführt. Sein Nachfolger Karl I ließ 1625 einen Rundweg als eleganten Kutschenkorso für den Hofstaat anlegen und macht den Park 1637 der wohlhabenden bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich.67 Seine Versuche, im absolutistischen Sinne gegen das Parlament zu regieren, führten nach den englischen Bürgerkriegen 1649 zu seiner Enthauptung und damit zur zeitweiligen Abschaffung der Monarchie und zu den englischen Bürgerkriegen. In Deutschland propagierte der damals viel gelesene Gartentheoretiker Hirschfeld in seinem Werk „Theorie der Gartenkunst- Bd. I-5“, ab 1779 den Volksgartengedanken, wo „alle (...) ungehindert zu ihrem Rechte, sich an der Natur zu freuen“68 gelangen mögen. Dabei forderte er für die „Verhütung der Unordnung unter der gemischten Menge“ eine Anlage mit Alleen nach Prinzipien der Symmetrie, weil „... sie die Aufsicht der Polizey, die an solchen Plätzen oft unentbehrlich ist, erleichtern.“69 Der Volksgarten war nach seiner Auffassung der Ort „wo man leicht dem Volk mitten auf dem Weg seiner Vergnügungen eine gute Lehre hinstreuen und seine Aufmerksamkeit durch wichtige Erinnerungen anhalten kann.“70 Ebenso sollten die Volksgärten in Hirschfelds Vorstellung nach griechischem Vorbild Plätze für Spiel und Leibesübung enthalten und in Verbindung mit Schulen als Gärten bei Akademien angelegt werden.71 Der erste deutsche Volkspark, der englische Garten in München, wurde mit dem klaren Ziel geschaffen, möglichen Volksunruhen nach dem Sturm auf die Bastille (1789) entgegenzuwirken.72 Damit entstand der deutsche Volkspark aus der gleichen Intention in der die Öffnung des ersten öffentlichen Herrscherparks durch den englische König James I vorgenommen wurde, nämlich der Verhinderung von Unruhen und der Verbesserung der Popularität des Herrschers. Die landschaftliche Gestaltung entsprach dabei nicht nur dem eigenen Geschmack des aufgeklärten Herrschers Karl Theodor und seiner Berater Rumford und Sckell, sondern man 67 | Vgl. The Royal Parks, Hyde Park, 2007. 68 | Hirschfeld, Theorie 5, 1785, S. 68 f. 69 | Hirschfeld, Theorie 1, 1779, S. 141. 70 | Hirschfeld, Theorie 5, 1785, S. 70. 71 | Hirschfeld, Theorie 5, 1785, S. 78. 72 | Vgl. Buttlar, Landschaftsgarten, 1989, S. 173 ff.

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erhoffte sich neben der deeskalierenden Wirkung auch durch die Möglichkeit der ungezwungene Begegnung aller Stände eine moralisch-sittliche Wirkung der Natur auf das Volk. Gleichzeitig wurde mit Spazier- und Reitwegen sowie Ruheplätzen für Jugend und Gebrechliche auch die Funktion erfüllt, dem Staat den gesunden Menschen mit seiner Körper- und Geisteskraft zu erhalten.73 Bei der Ausgestaltung mit Skulpturen spricht sich Sckell nachträglich deutlich für die Bevorzugung heimatlicher Themen vor antiken Vorbildern aus, die ja doch keiner verstehe.74 In der Folgezeit werden Volksparks gerne mit Denkmalen berühmter Heerführer und nationaler Helden ausgestattet. Nach den Revolutionen von 1830 und 1848/49 gab es in Deutschland erneut einen Aufschwung in der Anlage von Volksparks. (Der Berliner Tiergarten von Lenné 1832, Volkspark Friedrichshain1846, Volkspark Humboldhain 1869) Diese Parks wurden zunehmend nicht mehr für die ästhetische Naturbetrachtung und die Vermittlung verschiedener Gefühle, sondern für die Bedürfnisse der breiten Masse der Arbeiter und besitzlosen Bürger angelegt. Sie haben die klare Funktion der Erziehung, Sozialhygiene und der körperlichen Ertüchtigung breiter Volksmassen und integrieren Spiel und Sportmöglichkeiten. Dabei war der Volkspark Friedrichshain in Berlin das bürgerliche Gegenstück zum Tiergarten. Er entstand ohne die Beteiligung von Staat und Kirche. Hier wurden auch die gefallenen Barrikadenkämpfer der bürgerlichen Märzrevolution von 1848 bestattet.75 Ausgehend von England, wo ab den 40er Jahren des 19. Jh. Sportplätze in die Parkanlagen integriert wurden, verbreitete sich diese Idee mit Olmsted nach Amerika und schlug sich 1856 in der Gestaltung des Central Park wieder.76 Gustav Meyer verwirklicht sie 1861 und 1874 in den Berliner Stadtparks, wobei es sich bei der Sportfläche um einen von Bäumen umstandenen Sandplatz, das sogenannte Hippodrom handelt.77 Nicht zu übersehen ist im 19. Jh. die Tendenz zur Vermittlung nationalistischer Werte durch Denkmale für Nationalhelden und politische Größen. Zudem verschob sich der Fokus auf die Körperertüchtigung, wie sie bereits von Sckell für den englischen Garten in München vorgeschlagen wurde.78 Einen wahren Boom erlebte die Anlage von Volksparks zu Beginn des 20.Jh. bis ca. 1930. Der neue Anspruch an öffentliche Parks, der bis in die Gegenwart wirkt, wurde von Leberecht Migge 1913 folgendermaßen formuliert: „Unsere Massen wollen kein Strauch- und Baummuseum in dem Park der ihnen gehört; sie ver73 | Vgl. Sckell, Beiträge, 1825, S. 198 ff. 74 | Vgl. Sckell, Beiträge, 1825, S. 130. 75 | Vgl. Mühmer, Entwicklung, 2005. 76 | Vgl. Balus, Krakau, 2003, S. 115. 77 | Vgl. Cordes, Stadtplätze, 2008. 78 | Sckell, Beiträge, 1825, S. 130.

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langen mit Recht seine Einrichtungen aktiv ausnutzen zu dürfen und nicht nur zu besehen.“ „Das Volk muss sich im Volkspark wirklich tummeln können.“79 Der Park für das Volk wird immer lauter, durchorganisierter und funktionaler.80 Dieser funktionale Ansatz, der die Gestaltung mit Pflanzen in den Hintergrund drängt, dominierte die Gestaltung der meisten öffentlichen Freianlagen auch nach 1945 bis weit in die 80er Jahre und ist bis heute noch in vielen Grünanlagen deutlich.

Vergnügungsparks – Entspannung und Vergnügen für die Ärmsten In den Großstädten der USA entstanden ab Ende des 19. Jh. zahlreiche Vergnügungsparks (wie Coney Island) für die zunehmenden Bevölkerungsmassen der Städte nach dem Vorbild der alten Schauparks, Rummel und Prater. Anfang des 20. Jh. erreichte diese Entwicklung auch Europa (Lunapark in Hamburg- Altona). Durch die Weltkriege wurde diese Entwicklung allerdings unterbrochen. Diese Vergnügungsparks dienten nun nicht mehr dem luxuriösen, aristokratischen und bürgerlichen Vergnügen, sondern wurden für die breiten Volksmassen konzipiert. Sie integrieren auch Attraktionen der Weltausstellungen, wie z.B. das Riesenrad, welches erstmals 1893 gezeigt wurde. Während Alkohol, sexuelle Anspielungen und körperliche Kontaktaufnahme zwischen den Geschlechtern durch das Übereinanderfallen in den Fahrgeschäften der Vergnügungsparks der Jahrhundertwende noch eine bedeutende Rolle spielten (Verrücktes Haus, Barrel of Love, Tunnel of Love), wurden diese Aspekte in den für Familien konzipierten modernen Themenparks seit der Entstehung von Disneyland 1954 vermieden. Disney gründete Disneyland zur besseren Vermarktung seiner Ideen mit dem ihm eigenen Anspruch an Qualität und Perfektionismus. Seine Filme und Produkte bewerben sich gegenseitig. Gleichzeitig verwirklichte er einen seinen konservativen Einstellungen entsprechenden Familienpark ohne erotische Anspielungen und alkoholische Ausschweifungen mit hohen hygienischen Standards. Disneyland wurde in der Folgezeit zum Vorbild der modernen Themenparks, die sich seit den 80er Jahren auch verstärkt in Europa ausbreiten.81 Bekannte Themenparks in Deutschland sind z.B. der sehr dicht bebaute Europapark in Rust, der Heidepark und das Phantasialand. Je nach Profil wird die Reise durch verschiedene Länder, Märchen oder Mythen in einem sehr dicht bebauten Gelände zum Thema des Parks. Der Familienpark in Tripsdrill ist da-

79 | Migge, S. 24 ff. zit. nach Balus, Krakau, 2003, S. 121. 80 | Migge, S. 24 ff. zit. nach Balus, Krakau, 2003, S. 121. 81 | Vgl. Szabo, Rausch, 2006.

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gegen durch die Einbeziehung eines Wildgeheges eher parkartig gestaltet und thematisiert regionale, schwäbische Besonderheiten.

6. Z USAMMENFASSUNG Wie die vorhergehenden Ausführungen zeigen, waren in den ersten öffentlichen Parks, den Tempelgärten und heiligen Hainen Ägyptens, Mesopotamiens, Persiens und Griechenlands die Themen Totengedenken, Erotik, Fruchtbarkeit, musischer und kultureller Genuss, gemeinschaftliches Mahl (Opfermahl), sportliche Wettkämpfe und Theateraufführungen mit sakraler Bedeutung im Rahmen der Götter- und Ahnenverehrung belegt. Es wurde zudem deutlich, dass Parks und Gärten, die der Besitzer für sich selbst plant und anlegt, das persönliche Weltbild, den Bildungsstand und die Vorstellungen des Besitzers von einem guten und sinnvollen Leben spiegeln.82 In privaten Gärten der Herrscher und reichen Bürger spielt dabei oft neben der Demonstration der eigenen Macht (Botanische und zoologische Gärten seit dem sumerischen Herrscher Gudea), die Demonstration der eigenen (teilweise göttlichen) Abstammung oder der geistigen Zugehörigkeit zu philosophischen Denkschulen und musischen Traditionen (Gärten der reichen Römer, Renaissancegärten, Landschaftsgärten) eine wesentliche Rolle. Jenseitsvorstellungen sowie Gedanken über Tod und Wiedergeburt spiegeln sich in der Anlage von privaten Grabgärten (Ägypten) oder der Anlage von Gräbern im privaten Garten (Persien, Rom, Landschaftspark). Erotik und Fruchtbarkeit spielen dabei bis ins 19. Jh. eine bedeutende Rolle, wie aus den unzähligen Gartenskulpturen und Tempeln für Venus, Pan sowie Eros und Psyche deutlich hervorgeht. Ebenso bekennt man sich mit Dionysos und Bacchus zu Rausch, Trunkenheit und Mystik. Oft stehen private Gärten dabei im bewussten Kontrast zu bestehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wie Prüderie und starker gesellschaftlicher Kontrolle, wie es z.B. im Bomarzo des Fürsten Orsini oder den ersten Landschaftsparks zum Ausdruck kommt. Parks, die der Besitzer für sich selbst anlegen lässt und gleichzeitig der Öffentlichkeit zugänglich macht, sind dahingegen zumeist dem Ideal des weisen und gerechten Herrschers und des Kunstmäzens verbunden, wie dies z.B. im Rom der Kaiserzeit und an den Höfen der aufgeklärten Herrscher Europas der Fall ist (z.B. Park um das Grabmal des Augustus; Wörlitz). Parkanlagen, die hingegen von einem Auftraggeber nicht für die eigene Nutzung, sondern für die Öffentlichkeit konzipiert wurden, entstanden zumeist einerseits mit der manipulativen Absicht einer Abwehr von Krisensituationen, 82 | Eine ausführliche Darstellung zu antiken Erörterungen über das gute Leben und die Renaissance der Ethik des guten Lebens findet sich bei Fenner, Leben, 2007.

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der Erhaltung der körperlichen und geistigen Kräfte der Bevölkerung für den Staat sowie der Erweckung und Stärkung nationaler Gefühle (z.B. Englischer Garten in München, amerikanische Vergnügungsparks Anfang des 20. Jh.), oder sie entstanden nach den ästhetischen Ansprüchen der bürgerlichen Erbauer, hatten aber auch die Absicht des Abbaus von Spannungen und der sittlichmoralischen Läuterung breiter Volksmassen durch Bildung und die heilenden Kräfte der Natur und der Schönheit (bürgerliche Spazierparks, Tropenhallen, Panoramaaussichten). Auf der anderen Seite steht oft ein rein kommerzielles Interesse an Verkauf, Werbung, Kundenbindung83 oder die Verbreitung bestimmter Ideologien und Lebensinhalte (Disneyland, moderne Themenparks).

83 | In Disneyland bewerben sich Filme und Erlebnispark gegenseitig, der Europapark Rust ist die Ausstellungsfläche eines Fahrgeschäfteherstellers und BELANTIS ist als Veranstaltungsort von Musik-Events in das Werbekonzept einer Radioholding eingebunden.

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Landschaftskritik des Vergnügungsparks BELANTIS Ute Kessler

1. M E THODE , VORGEHEN Der Vergnügungspark BELANTIS entstand im Südraum von Leipzig auf 25 ha einer Abraumhalde des Braunkohlebergbaus zwischen dem Cospudener See und dem künftigen Zwickauer See. Er wurde durch die Event Park GmbH & Co.KG als Werbeträger für vier private Hörfunksender konzipiert, die insgesamt 50 Millionen Euro investierten. Der Freistaat Sachsen und die EU förderten die Erschließung des Projektes mit 12,5 Millionen Euro.1 Das Gestaltungsteam bestand aus dem federführenden Architekten (Geschäftsführer des Freizeitparks), einem Landschaftsarchitekten und einem bildenden Künstler. Vor dem Hintergrund der Projektfragestellung wird auf die wirtschaftlichen Hintergründe nicht näher eingegangen. Vielmehr erfolgt eine bewusst subjektive Beschreibung, Analyse und Kritik des Vergnügungsparks BELANTIS auf der Basis des persönlichen Erlebens aus dem professionellen Blickwinkel einer Landschaftsarchitektin.2 Aus dieser Perspektive fällt sofort auf, dass in BELANTIS der Versuch unternommen wurde, sich mehr oder weniger gelungen an die Gestaltungsprinzipien des Landschaftsgartens des 18. Jh. anzulehnen.

1 | Mehr Spaß im Osten, WELT ONLINE von 05.04.2003, ter Vehn, 2002. 2 | Die vorliegende Landschaftskritik entstand im Kontext des Projektes „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft“. Es handelt sich um ein zweijähriges Forschungsprojekt, das unter der Leitung von Prof. Dr. Hahn an der Fakultät für Architektur, Lehrstuhl für Architekturtheorie und Architekturkritik der TU-Dresden durchgeführt wurde, finanziert durch die Deutsche Forschungsgesellschaft. Über Inhalt und Ausrichtung des Projektes siehe „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Einführung in ein Forschungsprojekt“ von Achim Hahn in diesem Band.

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Im Folgenden wird untersucht, ob und wie in BELANTIS mit diesen Gestaltungsprinzipien des Landschaftsgartens3 gearbeitet wurde und welche Unterschiede festgestellt werden können.

2. A NKUNF T UND ERSTER E INDRUCK Nähert man sich BELANTIS von der Autobahn, so wird man hin und wieder von einem Blick auf eine zwar flache, aber durch Wäldchen, Baumreihen, Bäche und Gräben abwechslungsreich gegliederte Landschaft überrascht. Prägend für den Gesamteindruck sind jedoch großflächige Aufforstungsbereiche und Brachen. Ein riesiger Braunkohlebagger an der Autobahn wirkt wie ein Wahrzeichen der Geschichte in der Landschaft. Als erstes taucht hinter den Bäumen die Spitze der Pyramide, des Wahrzeichens von BELANTIS, auf. Kurz darauf präsentiert sich BELANTIS mit einem überdimensioniert wirkenden Parkplatz und einem merkwürdig proportionierten blauen Schloss, bei welchem sich der Gedanke an Pappmaché aufdrängt. Sehr dominant sind große, beigefarbene Containergebäude, die nicht in die Gestaltung einbezogen wurden. Die Stellplätze sind unversiegelt und ermöglichen eine Niederschlagsversickerung in den Pflanzstreifen. Zu Orientierungszwecken wurden verschiedene Baumarten gepflanzt, die auf Schildern zusätzlich erläutert sind. Den Eingang zum Park bildet unübersehbar das blaue, barockisierende Phantasieschloss (Abb. 3, 4) das durch Gestaltungsdetails wie Schnecken, Stuckwellen, Weltkarte und die blaue Farbe bei mir den Eindruck erweckt, ein Wasserschloss sein zu wollen.

3. E INE W ELT IM K LEINEN MIT VERSTECK TEM B ILDUNGSANSPRUCH Menschen, die sich gewohnheitsmäßig einen Übersichtsplan verschaffen, mag sich das Konzept wenn schon nicht auf den ersten, so doch auf den zweiten Blick erschließen. Leicht verzerrt und in der Aufmachung einer alten Schatzkarte ist die Karte von Mitteleuropa mit Mittelmeer und Nordafrika erkennbar. (Abb. 2) Deutlich dargestellt sind der italienische Stiefel und die Straße von Gibraltar mit einem Stück Atlantik und Nordamerika. Den einzelnen Ländern sind Themeninseln mit Fahrgeschäften zugeordnet. Ägypten präsentiert sich mit Pyramide und einer Oase aus „Lehmbauten“, (Abb. 8) Griechenland mit Säulenfragmenten, der Irrfahrt des Odysseus in Booten, Flug des Ikarus und trojanischem Pferd. (Abb. 10) Italien zeigt sich mit dem Vesuv, (Abb. 5) die 3 | Vgl. den Aufsatz zur Geschichte des Vergnügungsparks, Kapitel 4 Landschaftspark, von Ute Keßler in diesem Band.

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Schweiz mit Alpen, Gletscherrutsche und Blockhütte, (Abb. 5, 11) Frankreich mit Wackelfahrrädern (der „Tour de Franz“), Deutschland mit einem Fachwerkstädtchen, (Abb. 6, 15) England mit alter Burg, Robin Hoods Versteck und dem Labyrinth von Avalon, (Abb. 16) Amerika mit Indianerzelten und Kanus (Abb. 9), Spanien mit Hafenstädtchen, Bodega und gestrandeten Piratenschiff. (Abb. 7, 14) Dazwischen gibt es größere Bereiche, die nicht durch Bauten oder Fahrgeschäfte besetzt sind. Entsprechend der Anordnung auf dem Rundweg könnte man dabei, ähnlich wie in einigen Landschaftsparks, einen Spaziergang durch die mythologischen Wurzeln der abendländischen Kultur und damit einen gewissen Bildungsanspruch vermuten, bei dem sich die Assoziationen aber mit Sicherheit von denen eines Parkbesuchers des 18. Jh. unterscheiden werden. Wie auch damals, werden die angeregten gedanklichen Verbindungen vom Bildungshintergrund abhängen. So stellen sich z.B. mit dem Bild der Pyramide, das damals mit Tod, ewiger Liebe, Sehnsucht und dem Ursprung aller Geheimlehren verbunden war4 , heute wohl eher Vorstellungen von Abenteuer, Gefahr, Mystik, Geheimnis, und verborgenen Schätzen ein, die durch Bilder aus Reisereportagen, Indiana- Jones- Filmen, Museumsbesuchen, eigenen Reiseerlebnissen und Computerspielen geprägt sind. Die parkähnliche Gestaltung von BELANTIS, die neben den Klassikern des Kinderspiels (Indianer, Piraten, Ritter, Prinz und Prinzessin, Auto-SandWasser- und Kletterspielplätze) die klassischen Themen der Staffagebauten im Landschaftspark (Pyramide, Vulkan, antike Tempel und Götter, mittelalterliche Burg, Kapelle, Begräbnisorte, Grotte, Alpenlandschaft und Labyrinth) aufgreift, unterscheidet BELANTIS von anderen Themenparks. Das Konzept des Rundgangs durch Europa wird auf der Karte einerseits gezeigt, andererseits verschleiert. Die einzelnen Themeninseln sind nicht nach den entsprechenden Ländern benannt, sondern werden mit zumeist geheimnisvoll und abenteuerlich klingenden Phantasienamen bezeichnet. Namen wie: „Fluch des Pharao“, „Land der Grafen“ oder „Belanitus Rache“ erinnern somit eher an Buch- oder Filmtitel als an Länder. Zumindest im Luftbild wird deutlich, dass dieses Konzept der Weltkarte so auch tatsächlich durch die Anlage von Seen, Hügeln und Inseln gebaut worden ist. Aus der Fußgängerperspektive ist dies ohne Karte jedoch kaum wahrnehmbar. (Abb. 1)

4 | Vgl. Assmann 2001.

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U TE K ESSLER Abb. 1 Übersichtsplan BELANTIS: A Schloss Belantis, Eingang – B Tal der Pharaonen – C Strand der Götter – D Küste der Entdecker – E Land der Grafen – F Insel der Ritter – G Prärie der Indianer – H Reich der Sonnentempel – I Parkplatz

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4. R ÄUMLICHE S TRUK TUR UND DIE S CHAFFUNG BEGEHBARER B ILDER Vom Schloß, dass neben den Kassen auch ein Bistro, Souvenirläden, Spielhölle und einen Wiener Tanzsaal beinhaltet und mit zwei Flügeln einen Platz umspannt, auf dem erste Versuche mit Segways gemacht werden können, führt eine gerade Allee aus Kugelahornbäumen in den Park und zum Orientierungsund Aussichtspunkt mit Kompass. (Abb. 4, 3) Dies ist nicht unbedingt ein Bruch im Konzept der Anlehnung an den Landschaftspark, da auch in diesen Anlagen zumeist einige Elemente (wie z.B. einzelne Alleen) von den vorangegangenen barocken Gestaltungen erhalten blieben. Angenehm fällt weiterhin auf, dass im gesamten Gelände, kaum Zäune wahrnehmbar sind, da diese, ebenso wie die Erweiterungsflächen, geschickt hinter Erdmodellierungen versteckt wurden. Von besonderer Bedeutung für die Gesamtanlage sind die zentralen Wasserflächen, um die die einzelnen Themeninseln angelegt sind, und die, gemeinsam mit dem, den Ufern folgenden, Rundweg wesentlich zur Orientierung im Gelände beitragen. Diese Orientierung auf eine zentrale Wasserfläche findet sich auch bei einigen Landschaftsparks, die als so genannte Binnenparks (Stourhaed, Kew Garden) angelegt sind und sich somit von den meisten, Landschaftsparks unterscheiden, welche versuchten, die Umgebung in den Park einzubeziehen und größer erscheinen zu lassen. (Abb. 5) Diese Gruppierung um eine zentrale Wasserfläche hat in BELANTIS jedoch den Nachteil, dass vom uferbegleitenden Rundweg immer alle Themeninseln gesehen werden und für die als ruhigere Bereiche gedachten Passagen optisch eine starke Unruhe vermitteln. Die einzelnen Themeninseln sind über den am Seeufer entlang führenden Rundweg verbunden. Von diesem gelangt man auf einen kleineren Abstecher, der um die „Alpen“ herumführt. Der Weg über England nach Amerika entpuppt sich als Sackgasse. Man hofft, dass an dieser Stelle in Zukunft weiter gebaut und der Rundgang geschlossen wird. Sichtbeziehungen zur Umgebung existieren in BELANTIS nur von den hohen Fahrgeschäften und vom Gipfel der Alpen. Auf weitere Hügel, von denen Ausblicke möglich wären, führen keine Wege und werden vom Publikum auch nicht selbstständig aufgesucht. Offensichtlich soll die Aufmerksamkeit der Besucher nicht aus dem Park hinaus gelenkt werden. Auch Disneyland schirmt sich durch hohe Erdmodellierungen von der Umgebung ab. Wie auch im Landschaftspark wurde in BELANTIS durch Erdmodellierungen deutlich erkennbar versucht, die einzelnen Themenbereiche so zu inszenieren, dass sich aus verschiedenen Perspektiven stimmige Bilder ergeben, die nicht durch die Präsenz anderer Räume beeinflusst und gestört werden. Diese Inszenierung ist für die einzelnen Themenbereiche sehr unterschiedlich ge-

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lungen. Beim mittelalterlichen Städtchen entsteht aus einigen Blickwinkeln tatsächlich für einen Moment die Illusion eines landschaftlich reizvoll gelegenen Ortes, wobei die offenen Rückseiten der Gebäude aus den meisten Perspektiven kaum auffallen. (Abb. 6) Ein halbwegs stimmiges Bild vermittelt auch das spanische Hafenstädtchen durch die Geschlossenheit der Anlage und die topographische Abschirmung des Hafenbereiches gegen optische Fremdeinwirkungen. (Abb. 7) Auch bei Ägypten, England mit Burg und Wald des Robin Hood (Abb. 16) und den Tipis der Indianer lassen sich ungestörte Bilder finden. (Abb. 9) Gänzlich ungelöst und unbefriedigend sind in dieser Hinsicht die Themenbereiche Italien (Abb. 5) und Griechenland (Abb. 10), die schon durch die baulichen Anlagen nur sehr schwach akzentuiert sind, keine räumliche Geschlossenheit aufweisen und, abgesehen von den Säuleneichen, nicht durch Vegetation oder Bodenbelag erkennbar mediterran gestaltet wurden. Selbst der Vesuv als potentielles Erkennungszeichen, ist nur wenig charakteristisch ausgeformt. Die Grotte fügt sich durch die rechteckige Eingangsgestaltung mit Betonträgern schlecht ein und geht dem Park damit als Blick- und Ansichtspunkt verloren. Eindrücke aus benachbarten Themenbereichen lassen sich kaum ausblenden. Auffällig ist hier auch die vergleichsweise schwache Detaillierung der Bauten.

5. G ESTALTUNG MIT V EGE TATION Auch wenn es beabsichtigt gewesen sein sollte, die einzelnen Themenbereiche durch entsprechend ausgewählte Vegetation zu unterstützen, wie aus der Auswahl der Baumarten für einige Bereiche ableitbar ist, muss leider gesagt werden, dass eine stimmige Gesamtwirkung in BELANTIS bei den wenigsten Themeninseln erreicht werden konnte. Am überzeugendsten bleibt die Gestaltung der ägyptischen Wüste mit den großen Kalkschotterflächen (Abb. 8) und dem kleinen Röhricht am Nil. Unproportioniert wirken die winzigen Palmen, die in ihren Übertöpfen versinken. Eine Palme aus Holz und Blech, wäre hier sicher die überzeugendere Lösung gewesen. Ebenso lässt sich bei den Alpen durch die Verwendung von Kiefern und Lärchen ein Zusammenhang zwischen dargestellter Landschaft und Vegetation erkennen. (Abb. 11) Die Kugel-Ahorne der Schlossallee (Abb. 4), eine typische Pflanze der 1950er Jahre und gegenwärtigen Fußgängerzonen, kann man als Anlehnung an die Formbäume des Barock sehen und die Säuleneichen sollen offensichtlich den heimischen Ersatz für die Zedern Italiens darstellen (Abb. 5). Mediterran anmutende Vegetation wie z.B. Ölweide, Kirschlorbeer und Silberstrauch, die auch mit dem schwierigen Kippenboden ausgekommen wären, wurden leider nicht verwendet. Die ursprünglich stimmige Bepflanzung der Mittelmeerinseln wurde durch grelle Sommerblumenpflanzungen zerstört. Als

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vollkommen misslungen muss die Wahl von Kugelrobinien und Kirschlorbeer für die Rocky Mountains bezeichnet werden. (Abb. 12) Störend sind auch die niedrigen, technisch wirkenden, vorwiegend aus Berberitze bestehenden Hecken, die die Besucher zu offensichtlich vom Verlassen der vorgeschriebenen Wege und die Kinder von Stürzen ins Wasser abhalten sollen. (Abb. 13)

6. G ESTALTUNG MIT M ATERIAL UND B ODENBEL ÄGEN Innerhalb der einzelnen Themenbereiche wurde versucht, Oberflächen mit einer möglichst authentischen Wirkung herzustellen. Besonders gelungen ist dies im mittelalterlichen Städtchen, dem spanischen Hafenstädtchen, den wie Stampflehm wirkenden Mauern der Oasenarchitektur und den Tipis der Indianer. Bei der Pyramide und der englischen Burg wurde mit großem Aufwand versucht, durch von Naturmaterial abgegossene Glasfaserzementmodule eine möglichst natürliche optische Wirkung zu erreichen. (Abb. 16) Dennoch behalten diese Orte eine Anmutung von Plastik bei, die sich auch bei jeder Berührung bemerkbar macht. Auch das Schloss wirkt, obwohl es massiv gebaut ist, von seiner Gesamterscheinung sehr kulissenhaft. Dies liegt zum Teil an den deutlich aufgenagelten Stuckelementen, sichtbaren Fugen und den merkwürdigen Proportionen mit sehr geringen Wandtiefen. Auf die Bodenbeläge wurde innerhalb der Themenbereiche relativ hohe Aufmerksamkeit gelegt. Detailreich und mit Naturstein gestaltet ist der Boden im mittelalterlichen Städtchen (Abb.15) und auf dem Wasserspielplatz. (Abb. 18) In Spanien wurde der Platz um den Brunnen der Bodega mit Klinker und Kalksteinplatten gestaltet. (Abb. 14) Im Hafen wäre zwar Kieselpflaster das stimmigere Material gewesen, aber im kostengünstigen Betonpflaster wurden immerhin Entwässerungsrinnen angedeutet (Abb. 7). Außerhalb der Themenbereiche wurde weniger Wert auf Planung und Ausführung der Bodenbeläge gelegt. Der asphaltierten Rundweg mit Hochborden wirkt sehr ingenieurstechnisch und hätte sich schon mit einer einfachen Pflastereinfassung besser eingefügt. Störend machen sich auch die breiten asphaltierten Ufer der Seen mit begleitender Berberitzenhecke bemerkbar, bei denen wohl aus Kostengründen kein Kies eingewalzt wurde. (Abb. 13) Ansonsten wurde der Bereich Italien und Griechenland auch in Bezug auf die Wahl der Materialien etwas vernachlässigt. Mit ein paar Kräutern, Kalksteinplatten und der Verwendung von Kalksteinschotter an Stelle von Rindenmulch hätte man hier schon viel erreichen können.

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7. C HOREOGR APHIE DER G EFÜHLE Der Rundgang durch BELANTIS ist ähnlich wie im Landschaftspark auf die bewusste Erzeugung von Gefühlen hin angelegt. Zwischen dem heiteren Willkommen und Abschied im Schloss soll durch die Abfolge der einzelnen Ausstattungselemente offensichtlich ein Wechsel von Ausgeliefert-Sein und Aktiv-Werden, Aufregung und Ruhe, Angst und ein Glücksgefühl durch die Überwindung der Angst erzeugt werden. Dazu wurden die Fahrgeschäfte in BELANTIS, ähnlich wie Staffagebauten im Landschaftspark nach dem Prinzip von Attraktion und Pause platziert. Auf besonders intensive Eindrücke folgt eine Pause in Form eines weniger intensiv gestalteten Abschnittes, in dem das Verarbeiten der vorherigen Eindrücke ermöglicht wird. Auf Fahrgeschäfte, in denen man passiv ist, folgen Angebote zum Selber-Aktiv-Werden. Nach einer aus der Werbebranche stammenden Strategie der Erweckung von Erwartungen und deren Erfüllung, werden durch die klischeehafte Gestaltung der Fahrgeschäfte als englisches Schloss, Pyramide oder Alpengipfel bestimmte Gefühlserwartungen aufgebaut. Die Fahrgeschäfte bewirken dann das zu der Erwartung passende Körpergefühl von Kribbeln im Bauch, Schwindel, Geschwindigkeitsrausch, Desorientierung etc. Auf plötzliche Ausblicke in die Weite folgt eine rasante Fallbewegung. So wird aus einer sicheren Position heraus (Todes)Angst und das Gefühl des Ausgeliefert-Seins erzeugt, welches sodann glücklich überwunden wird. Dieses Gefühl des „delightful horror“5, das nach Burkes Auffassung durch plötzliche Anblick der Größe und Weite der Natur und eines Gespürs für das Erhabene bedarf und geeignet ist, den Körper von „gefährlichen und beschwerlichen“6 Störungen zu befreien, wird im Fahrgeschäft bewusst oder unbewusst mit Hilfe der Technik verursacht. Die heilsame Befreiung des Körpers von den von Burke genannten Störungen wird also für Jedermann ermöglicht, ohne dass dazu der Anblick der Größe und Weite der Natur oder ein Gespür für das Erhabene noch eine innere Reflektion oder Bewusstheit über das Geschehen erforderlich ist. Auffällig im Park ist der sehr häufige Einsatz von archaischen und archetypischen Elementen. So wird der Besucher, wenn es um die Erzeugung von Angst und Schrecken und deren Auflösung geht, von geöffneten Mäulern verschluckt und gelangt durch dunkle Tunnel wieder ins Licht. Dieses Element findet sich z.B. mehrfach beim Durchfahren und Durchlaufen der Pyramide, im Strudel, im Drachenmaul, am Ende der Achterbahnfahrt, in der Grotte des Zyklopen und der Bärenhöhle auf dem Pfad der Mutigen. Auch Elemente von Abstieg in die Unterwelt und Flugerlebnisse, die für archaische Kulte, in denen es um 5 | Burke 1989/1757, S. 108. 6 | Burke 1989/1757, S. 176.

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Tod und Auferstehung oder Wiedergeburt geht, typisch sind, finden sich im englischen Schloss z.B. mit dem Abstieg in die Kapelle mit Gruft oder in der Pyramide. Fluggefühle werden im Park allenthalben erzeugt, denen auch durch das Kribbeln im Bauch eine erotische Komponente eigen ist, wie jeder aus dem fröhliche Kreischen der Mädchen auf der Schiffsschaukel entnehmen kann. Deutlich erkennbar ist im gesamten Park die Präsenz von Kult, Mystik, Mythen und Geschichten. Dies zeigt sich nicht nur in der Pyramide, sondern auch in der Grotte des Zyklopen, dem Strand der Götter, dem heulenden (Wer-?)Wolf auf dem Turm der mittelalterlichen Stadt, dem gekreuzigten(!) Halloween- Insekt an der Wand der Alpenhütte, der Kapelle nebst Friedhof und Grabkreuzen, (Abb. 17) dem gesamten Programm in der Burg mit Alchemistenlabor, Kapelle und Merlins Kristall sowie dem Kultplatz der Indianer mit einer Installation aus Pferdeschädeln mit Wolfsmasken und Totempfahl. Unterstrichen werden soll der Charakter der einzelnen Bereiche sicher durch die allgegenwärtige, leise Musik aus den als Steine getarnten Lautsprechern. Diese Musik versucht, sich den jeweiligen Themenbereichen anzupassen. Überall wird jedoch in gewissen Abständen das von einer Mädchenstimme gesungene BELANTIS – Lied eingespielt, in welchem der Papa ständig am Computer sitzt und sich das Kind wünscht, nach BELANTIS zu ziehen, wenn es einmal groß ist. Dies kann wohl als Wink an die Eltern verstanden werden, sich mehr um ihre Kinder zu kümmern. Und zum Glück hält BELANTIS da ja auch gleich Angebote bereit, für die die Kinder die Hilfe der Eltern brauchen, wie z.B. auf dem Tretkarussell oder der Säule der Athene, denn die sozialen Interaktionen zwischen den Parkbesuchern und vor allem innerhalb der Familien, sind auch für die Entstehung von Glücksgefühlen verantwortlich. Ein anderer Auslöser für Gefühle sind mit Sicherheit auch die Spielplätze, die sich an den klassischen Kinderspielen orientieren und wahrscheinlich bei so manchen Erwachsenen Kindheitserinnerungen und Sehnsüchte wachrufen, da es in deren Kindheit solche Spielplätze noch nicht gab. (Abb. 18, 19)

8. BELANTIS ALS E RLEBNISL ANDSCHAF T – ANALY TISCHER V ERGLEICH MIT DEN V ORL ÄUFERN Mit dem Anspruch, eine Welt im Kleinen zu schaffen, wo die Menschen ihre Sorgen vergessen können, knüpft BELANTIS an die griechische Jenseitsvorstellung des Elysion an, wo nach einem Trunk aus der Quelle Lethe alle Sorgen vergessen werden.7 Der für viele Paradiesvorstellungen wichtige Aspekt der fruchtbaren Landschaft, mit Obstbäumen und reicher Ernte spielt in BELANTIS 7 | Vgl. für die folgenden Ausführungen den Aufsatz von Ute Keßler „Geschichte des Vergnügungsparks“ in diesem Band.

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jedoch keine Rolle. Vielmehr werden gegen einen Eintrittspreis Vergnügungen erkauft, die den göttlichen Vergnügungen auf den Inseln der Seligen (Würfelspiel, Reiten, Jagen, Turnen, Lautenspiel) ähneln. Anders als der Vergnügungspark Vauxhall, finanziert sich BELANTIS im Wesentlichen nicht durch verkaufte Speisen, sondern über die Eintrittsgelder und seine Werbewirksamkeit für die privaten Radiosender. Auch der karnevaleske Ansatz der Umkehr der Standesunterschiede, der z.B. für die Feste in den Gärten des Rokoko und den sentimentalen Landschaftspark typisch war, ist in BELANTIS vorhanden. Allerdings begeben sich hier nicht die Herrschenden in die Rolle des einfachen Bauern oder Hirten, sondern das Volk begibt sich in die Rolle der Herrschenden oder von Phantasiegestalten, die Unabhängigkeit, Autonomie, Macht und Reichtum verkörpern. Liebesspiel und Trunkenheit, die wesentliche Bestandteile der Paradiesvorstellungen und des Aufenthaltes in den alten Tempelgärten und Lustgärten waren und auch in der Karnevalszeit und den Gärten der weltlichen und geistlichen Fürsten und verschiedenen öffentlichen Parkanlagen freizügig gehandhabt wurden, sind jedoch in BELANTIS, wie in allen Themenparks, die nach dem Vorbild von Disneyland gebaut wurden, eliminiert. Allenfalls existiert eine Verschiebung auf das durch die Fahrgeschäfte rein technisch vermittelte Bauchkribbeln, wie z.B. bei der Schiffsschaukel. Das Gefühl von Rausch und Grenzüberschreitung wird nicht mehr mit Alkohol hervorgerufen, sondern durch veränderte Körperwahrnehmung mittels der Technik von Karussells, Achterbahnen, den schlingernden Schiffen und dem beweglichen Boden der „Reise des Odysseus“. Ein anderes, bereits in alten Kulturen und im Karneval verwendetes Hilfsmittel zur Erzeugung eines grenzüberschreitenden Rauschzustands ist jedoch in BELANTIS durch Tanz und Musik weiterhin enthalten, da massenwirksame Tanz und Musikveranstaltungen zum konzeptionellen Ansatz gehören. Mit der Bereitstellung von billigen Vergnügungen für breite Volksmassen, die nach einer langzeitigen kulturellen Ablehnung von Muße und Müßiggang plötzlich mit dem Problem arbeitsfreier Zeit konfrontiert sind, und einer Sinnentleerung der ursprünglichen sakralen Bedeutungen der Vergnügungen, knüpft BELANTIS sowohl an die römische Strategie „Brot und Spiele“ als auch an die Hintergründe der amerikanischen Vergnügungsparks des ausgehenden 19. Jh. an. Gleichzeitig steht es damit in der Tradition der kommerzialisierten und liberalisierten Nachahmung der Vergnügen der Oberschicht, die nach 1789 unter verändertem Qualitätsanspruch zunächst in den Schauparks, später in den Rummeln und schließlich in den amerikanischen Vergnügungsparks einer immer breiteren Masse zugänglich wurden. Durch die Entstehung in einer Zeit der Krise und die starke staatliche Beteiligung an der Finanzierung der Er-

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schließung für BELANTIS,8 bestehen auch Parallelen zu dem Volksparkgedanken des 19. Jh. Der versteckte Bildungsanspruch ist entsprechend der heutigen Zeit allerdings nicht national sondern europäisch. Ähnlich wie bei den ersten Volksparks planen in BELANTIS offensichtlich Bevölkerungsgruppen, die sich selber einen relativ hohen Bildungs- und Qualitätsanspruch zurechnen, für eine Zielgruppe, denen eine deutlich niedrigere Bildung und damit ein niedrigerer Qualitätsanspruch zugeschrieben wird. Dies kommt in BELANTIS auch in dem geringen Anspruch an Perfektionismus zur Geltung, der ansonsten für alle seit 1971 in Westdeutschland errichteten Themenparks, die nach dem Vorbild von Disneyland gestaltet wurden, gilt. Mit Disneyland verbindet BELANTIS die enge Verknüpfung mit der Werbungs- und Medienwelt. Auch gestalterisch gibt es zu Disneyland zahlreiche Parallelen, wie z.B. das Märchenschloss als Markenzeichen, die umlaufenden Erdwälle und die verkleinerte Umsetzung der Obergeschosse. Anders als in Disneyland wird in BELANTIS nicht eine Weltvergessenheit durch das Abtauchen in Märchen- und Phantasiewelten angeboten, sondern ein Abtauchen in möglichst allgemeine Kindheitserinnerungen und Reiseträume. Vor dem Hintergrund der Vermarktungsabsicht kann angenommen werden, dass neben dem aktuellen Erlebnis gleichzeitig Sehnsüchte geweckt werden sollen, die dargestellten Länder oder Gebäude auch in Wirklichkeit zu sehen, oder entsprechende Spielzeuge zu erwerben. Offensichtlich wird in BELANTIS auch gezielt mit den Mitteln der Werbeindustrie, insbesondere mit der gesteuerten Erweckung von Erwartungen und Emotionen und deren gezielter Befriedigung gearbeitet. Der gravierende Unterschied von BELANTIS zu anderen Themenparks ist die Einbeziehung gestalterischer Grundprinzipien des Landschaftsgartens in die gezielte Steuerung der Emotionen und Erwartungen. Dabei wurden aber weder der Bedeutungshintergrund noch die Absicht der Erweckung einer möglichst breiten Palette von Emotionen aufgegriffen. Es erfolgte eine Beschränkung auf wesentliche, klischeehafte Motive, Gestaltungsgrundsätze und Gedankengänge. Dies betrifft die Staffagethemen, die choreographierte Abfolge verschiedener Erlebnisse, die Ansprache aller Sinne, die Schaffung begehbarer Landschaftsbilder, geschwungene Wegeführung, hügelige Geländegestaltung, Verbergung der Einfriedungen, Abwechslung von intensiv gestalteten Bereichen mit weniger intensiv gestalteten Bereichen., etc. Der ursprüngliche Bedeutungsinhalt wird durch die von der heutigen Film- und Medienlandschaft geprägten Bedeutungen ersetzt. Neu gegenüber anderen Themenparks ist das Gewicht, das in BELANTIS auf den Aspekt von kultischen, mythischen und geheimnisvollen Elementen liegt, wobei auch der Tod nicht ausgeklammert wird. So finden sich im Park das 8 | Die Erschließung wurde mit 12,5 Mio gefördert, WELT ONLINE, Mehr Spaß im Osten, 5.4.2003.

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Grab des Pharao, Knochen, Einblicke in die Gruft unter der drehbaren Kapelle, ein Friedhof mit Gräbern, Totempfahl und Kultstätten der Indianer mit Pferdeschädeln. In BELANTIS werden diese kultischen Elemente ferner Völker und der Vergangenheit jedoch nicht als Vanitassymbol oder Symbol eigener geistiger Tradition verwendet, sondern als Ansammlung gängiger Klischees und eher mit der Verbindung zu einem Gefühl des Grusels als zu dem eines Gedenkens präsentiert. Ausnahmen bilden hier die Indianer Amerikas, wo in den Schrifttafeln schon eher ein Aspekt der Besinnung feststellbar ist. Der Sinnspruch „Großer Geist, bewahre mich, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin.“ kann durchaus auch als Selbstverteidigung der Planer gelesen werden, die unter Kollegen sicher oft in die Situation kommen, sich für ihre Arbeit rechtfertigen zu müssen.

9. F A ZIT BELANTIS ist ein Vergnügungspark, den ein Auftraggeber nicht für sich selber, sondern für eine Öffentlichkeit planen lässt, der er sich selber nicht zugehörig fühlt und deren Vergnügungen er nicht selber teilt.9 Die geistigen Hintergründe, die in der Historie zu solchen Entwicklungen geführt haben sind auch in BELANTIS deutlich ablesbar. Dies ist die beabsichtigte Abwehr von Krisensituationen, der Abbau der damit verbundenen Spannungen, Erhaltung der körperlichen und geistigen Kräfte der Bürger für den Staat, Vermittlung eines Gefühls nationaler (oder auch europäischer) Einheit und kommerzielles Interesse. Die allgemeine Verfügbarkeit von Lebensmitteln und Vergnügungen für alle Bevölkerungsschichten hat seit der Überwindung der Lebensmittelknappheit der Nachkriegsjahre und ab den 70er Jahren durch Fernsehen, Vergnügungsparks und Freizeitindustrie in Europa ein ähnliches Niveau erreicht wie im Rom der Kaiserzeit. Im Unterschied zu Rom oder den Volksparks, wo die Vergnügungen zur Wahrung der gesellschaftlichen Ordnung und Sicherheit kostenlos zur Verfügung gestellt wurden, zahlt der Besucher in BELANTIS für die für Werbezwecke gesteuerte Erweckung von Emotionen und Gefühlen, für Angebote sozialer und familiärer Interaktionen, sowie für mythische und mystische Sinnbezüge, welche seit dem Volksparkgedanken bewusst aus den öffentlichen Grünanlagen zu Gunsten rationaler und funktionalistischer Gestaltungen eliminiert wurden.

9 | Vgl. den Aufsatz von Jörg Schröder Belantis: „Erlebnisgestaltung zwischen Funktion und Emotion. Interpretation des Interviews mit dem Architekten Herrn Rudolf“ in diesem Band.

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L ITER ATUR Assmann, Jan (2001): Hyroglyphische Gärten (wie in lit. Liste des vorigen Kapitels) Burke, Edmund (1989): Philosophische Betrachtung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, 2. Aufl., Hamburg. Welt online vom 5. 4. 2003, Mehr Spaß im Osten, http://www.welt.de/printwelt/articel622077/Mehr_Spaß_im_Osten.html (Abruf 20.10.09 11:00).

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Abb. 2 Orientierungspunkt mit Kompass

Abb. 3 Schloss BELANTIS – Eingang zum Vergnügungspark

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Abb. 4 Wegeachse zwischen Schloss und Kompass mit Kugelahorn

Abb. 5 Blick über die „griechischen“ Inseln auf „Italien“ mit Vesuv, Zyklopenhöhle, „Zedern“ (Säuleneichen) und die „Alpen“

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Abb. 6 Blick auf die „mittelalterliche“ Kleinstadt

Abb. 7 Das „spanische“ Hafenstädtchen

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Abb. 8 Pyramide mit Nilboot

Abb. 9 „Amerika“ mit Indianerdorf

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Abb. 10 „Griechenland“ mit Zierrasen und Berberitzenhecken

Abb. 11 Die „Alpen“ mit Gletscher und Kiefern

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Abb. 12 Kugel-Robinien bei den Indianern „Nordamerikas“

Abb. 13 Asphaltierte Ufer und „Absturzsicherung“ mit Berberitzenhecken

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Abb. 14 Bodenbelag der „spanischen“ Bodega

Abb. 15 Bodenbelag der „mittelalterlichen“ Stadt

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Abb. 16 „Englische“ Burg mit Achterbahn und „Robin Hoods Versteck“

Abb. 17 Friedhofshügel hinter der Kapelle zu Halloween

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Abb. 18 Wasserspielplatz

Abb. 19 Karussell zum Selbstantrieb

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Landschaftsanalyse des Erlebnisparks „Kulturinsel Einsiedel“ Heiko Lieske

1. V ORBEMERKUNG Im Rahmen des hier dargestellten Forschungsprojektes wurden zwei Erlebnislandschaften in Sachsen einer näheren empirischen Betrachtung unterzogen. Eine dieser Anlagen ist von Architekten entworfen worden, die andere entstand unter Regie eines Autodidakten. Es mag verwundern, warum solch großflächige, intensiv gestaltete Landschaften nicht durch Landschaftsarchitekten geplant und umgesetzt worden sind. Zumindest war uns diese Frage ein Nachforschen wert. Deshalb wurden zum einen Landschaftsarchitekten danach befragt, welche Bedeutung das Erleben für ihr Entwerfen hat, und ob sie selbst sich vorstellen könnten, Erlebnislandschaften zu planen.1 Zum anderen sollten die beiden betrachteten Erlebnisparks – BELANTIS bei Leipzig und die „Kulturinsel Einsiedel“ in der Nähe von Görlitz – einer Analyse aus landschaftsarchitektonischer Perspektive unterzogen werden. Der vorliegende Beitrag versucht dies für die Anlage im Osten Sachsens zu leisten. Die Erlebnislandschaft „Kulturinsel Einsiedel“ wurde 1992 begründet. Seither wird sie sukzessive vergrößert und weiterentwickelt (Abb.1).2 Der Park ist personell, wirtschaftlich und gestalterisch eng mit dem Handwerksbetrieb Künstlerische Holzgestaltung verbunden, der am selben Standort individuelle Spielplatzausstattungen fertigt und europaweit vertreibt. Ein Verein, der Veranstaltungen auf dem Gelände des Parks ausrichtet, gehört ebenfalls zur „Kulturinsel“. Im Jahr 2006 erhielt sie den Deutschen Tourismuspreis.

1 | Siehe den Beitrag des Autors: „Freiräume für das Erleben? Zur Entwurfspraxis von Landschaftsarchitekten“ in diesem Band . 2 | Ihre Geschichte aus Sicht des Betreibers und künstlerischen Leiters ist im Aufsatz von Stefan Nothnagel: „‚Weil sie hier ’n Stück Oase vorfinden.‘ Interpretation des Interviews mit dem Gestalter des Freizeitparks ‚Kulturinsel Einsiedel‘“ in diesem Band näher beschrieben.

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L ANDSCHAFTSANALYSE DES E RLEBNISPARKS „K ULTURINSEL E INSIEDEL “ Abb. 1: Gesamtplan A Eingang; B Parkplatz; C „Zauberschloss“; D „Zauberwald“; E Tiergehege; F „Mäandertal“; G „Baumhaus-Hotel“; H Dachterrasse; I „Rolands Sandsee“; K „Krönum“; L Produktionsgelände

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Der Erlebnispark liegt etwa 10 Kilometer nördlich von Görlitz an der Neiße, dem Grenzfluss zur Republik Polen. Wenige Kilometer entfernt befindet sich der östlichste Punkt Deutschlands. Die Anlage liegt etwas abseits von Zentendorf, einem Ortsteil der Gemeinde Neißeaue im sächsischen Landkreis Niederschlesischer Oberlausitzkreis. Das Landschaftsbild der Gegend ist durch Land- und Forstwirtschaft, kleine Ortschaften, die Neiße-Aue sowie durch WindenergieNutzung geprägt. Im Süden und Nordwesten grenzen Kiefernforste an den Park. Das Luftbild lässt recht gut erkennen, dass dessen Kernfläche wohl vormals zu diesen Aufforstungen gehörte. Heute ist sie gerodet und mit diversen Laub- und Nadelgehölzen gestaltet. Am östlichen Rand des Parks ist der Hangwald an der Talkante der Flussaue erhalten. Daran schließen sich östlich und nördlich Getreidefelder an, die sich bis an die Neiße erstrecken. Die „Kulturinsel“ ist wegen ihres peripheren Standorts vorzugsweise mit PKW bzw. Reisebus über die Autobahn A 4 und die Landstraße S. 127 zu erreichen. Gleichwohl ist eine Anreise mit dem ÖPNV möglich. Der Linienbus von Görlitz hält am Parkeingang. Desweiteren ist der Oder-Neiße-Fahrradweg zu erwähnen, der am Park vorbeiführt. Schließlich besteht in Höhe der „Kulturinsel“ eine Fährverbindung für Fußgänger über die Neiße nach Polen. Die Anlage hat eine Gesamtfläche von ca. 11 Hektar. Davon entfallen rund vier Hektar auf den Parkplatz und seine Erweiterungsfläche im Westen, knapp zwei Hektar auf die östlich gelegenen Produktionsanlagen und etwa anderthalb Hektar auf den südlich gelegenen Zeltplatz. Der Erlebnispark selbst ist ca. vier Hektar groß. Er erstreckt sich in Nordwest-Südost-Richtung entlang der Landstraße.

2. F UNK TIONEN , A K TIVITÄTEN Zonierung Die Anlage gliedert sich in vier Areale. Der eigentliche Erlebnispark bildet zusammen mit dem gegenüberliegenden Besucherparkplatz, der fast ebenso groß ist wie der Park, den öffentlich genutzten Bereich. Private Orte sind die Unterkünfte des Baumhaus-Hotels und des „Waldsiedlums“ an der östlichen Seite des Parks sowie des zentral gelegenen Erdhauses, der außerhalb gelegene Zeltplatz „Behütum“ im Süden der Anlage und die Wohnräume des Betreibers hinter dem Restaurant „Krönum“. Die Unterkünfte liegen auf Flächen, die nur für die Übernachtungsgäste zugänglich sind bzw. in der Regel nur von diesen aufgesucht werden („Behütum“) und insofern halböffentliche Räume sind. Die Wohnung des Betreibers ist im Gelände der Produktionsstätten eingerichtet, das ebenfalls einen halböffentlichen Bereich bildet.

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Abb. 2: Zonierung öffentlich (hellgrau), halböffentlich (mittelgrau), privat (schwarz)

Verteilung/ Verhalten Die Besucher treten aus dem Eingangspavillon (Abb. 8) und versuchen sich zunächst mit der Karte eine Orientierung zu verschaffen. Kindergruppen scheinen eher planlos loszulaufen, sobald ihre Aufsichtspersonen sie in den Park entlassen. Die Orientierung wird aber auch ihnen bald zur Aufgabe. Wie einige berichten, haben sie den Auftrag erhalten, bestimmten Spuren anhand von Schattenzeichen im Gelände zu folgen. Ansonsten sind die Kinder offenbar für jede der von den Einrichtungen suggerierten Aktivitäten zu begeistern. (Abb. 9) Die Erwachsenen scheinen vergleichbar neugierig, sind jedoch zumindest bei der Nutzung der Angebote, die Körpereinsatz erfordern, zurückhaltender. Ihre Aufregung zeigt sich in dem Vergnügen und der Lebhaftigkeit, mit der sie die Unternehmungen der Kinder kommentieren. Darüber hinaus sieht man sie hauptsächlich die Kinder und die Objekte des Parks fotografieren oder auf Sitzgelegenheiten verweilen und das Treiben um sie herum betrachten. (Abb. 10) Der beobachtete Aufenthalt der Besucher entspricht dem Muster, in dem die Attraktionen im Park verteilt sind. In Bereichen hoher Spielgerätedichte, etwa „Rolands Sandsee“, häufen sich auch die Gäste. Ansonsten scheinen die Besucher sich recht gleichmäßig über das Gelände zu zerstreuen.

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Bewegung/Ruhe Die Attraktionen bieten vielfältige, der Aktivität bzw. der Ruhe dienende Gebrauchsmöglichkeiten. Die meisten Spielgeräte sind für ausgelassene physische Aktivitäten entworfen, die eigenen Krafteinsatz erfordern. Besonders hervorzuheben sind in diesem Sinne das „Zauberschloss“ und die Tunnel, deren Erkundung erheblichen Körpereinsatz verlangt. Einige Installationen, wie der große Weidenkorb, der frei schwingend aufgehängt ist und genussvolles Schaukeln ermöglicht, zielen auf ein körperliches Bewegtwerden, das keiner eigenen Anstrengung bedarf. Angrenzend an „Rolands Sandsee“ ist ein Sandspielbereich eingerichtet, der kleinen Kindern ruhigeres Spiel gestattet. Alle Einrichtungen sind neben ihren sonstigen Gebrauchswerten auch als künstlerische oder dem Amüsement dienende Attraktionen gestaltet. Beim „Zauberwald“ scheint dies der alleinige Zweck zu sein. Die Pavillons erlauben in erster Linie entspanntes Verweilen und die Betrachtung der Umgebung. Ihre große Anzahl und gleichmäßige Verteilung im Park sorgen dafür, dass man in ihnen ungestört bleibt. Neben den Pavillons laden viele nicht überdachte Sitzplätze, etwa Holzbänke, zum Rasten ein. Die Versorgungseinrichtungen – ein Imbiss, ein Café und zwei Restaurants – bieten außer der Verköstigung ebenfalls Gelegenheit zur Ruhe und Entspannung. Das „Krönum“ dient als Einrichtung der Erlebnisgastronomie vornehmlich der Unterhaltung.

3. M ATERIELL- STRUK TURELLE B ESCHAFFENHEIT Innen-Außen-Beziehungen Die Erlebnislandschaft kündigt sich durch eine umfassende Beschilderung bereits von weither an. Sogar ein Autobahn-Schild an der A4 weist 17 Kilometer vor dem Ziel auf sie hin. Kurz vor Erreichen des Parks werden die Besucher von einer großen Skulptur auf einem Wiesenhügel begrüßt. Hinter der nächsten Straßenkurve nimmt sie dann eine monumentale Toranlage aus großen Findlingen, Holzwänden und Skulpturen in Empfang. Entlang der Straße, die zwischen der eigentlichen Erlebnislandschaft und dem zugehörigen Parkplatz verläuft, weisen diverse Schilder und Skulpturen auf die Anlage hin. Während der Parkplatz schon von weitem durch seine extravaganten, großen Skulpturen auf sich aufmerksam macht, ist der Park selbst nur durch wenige Lücken seiner sehr dichten Grenzbepflanzung von außen einzusehen. Die dahinter liegenden Gehölzpflanzungen wirken von weitem wie ein Mischwald. Nähert man sich der Anlage auf dem Weg von der Neiße her, ist zwar das Lager- und Produkti-

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onsgelände weithin sichtbar, der Park jedoch verschwindet hinter dem Hangwald, aus dem nur hier und da ein Baumhaus hervorscheint. (Abb. 11) Der Eingang zum Park liegt dezentral, etwas von der Straße zurückgesetzt und tiefer als die Straße. Er ist nur sparsam als Einlass gekennzeichnet, so dass er keineswegs die Aufmerksamkeit der Besucher so auf sich lenkt, wie man das bei einer Erlebnislandschaft vielleicht erwarten würde. Das gilt ebenso für die Parkseite, wo das große zeltartige Torgebäude zwar deutlich präsent, aber kaum als Ausgang erkennbar ist. Von innen betrachtet erscheint der Park fast durchweg introvertiert. Ausblicke in die weitere Landschaft, die zumindest im Norden und Osten, auf der Seite der Neiße-Aue bei den meisten Besuchern wohl als idyllisch gelten dürfte, sind nur an wenigen Stellen möglich. Die öffentliche Dachterrasse der großen Produktionshalle im Osten der Anlage lässt einen freien Blick über die Felder der Neiße-Aue und auf den baumgesäumten Flusslauf zu. Darüber hinaus gestattet sie interessierte Blicke auf das Holzlager und auf Produktionsflächen, wo die Fertigung und Montage von Spielgeräten beobachtet werden können. Der Ort erscheint als Balkon prädestiniert. Die Gestaltung der Terrasse lässt indes nur wenig Absicht erkennen, dass diese Blicke auch tatsächlich genossen werden sollen. Auf der Brüstung sind zwar fensterartige Rahmungen montiert worden, die traditionell dazu dienen, die Szenerie einer attraktiven Umgebung für den Parkbesucher ins Bild zu setzen. Ihre etwas unentschiedene Einbindung in ruinenartige Mauerfragmente führt allerdings dazu, dass sie kaum blicklenkend, sondern eher als Umrahmung der Dachterrasse wirken und somit eine Innengerichtetheit des Raums erzeugen. (Abb. 12) Nach außen orientierte Sitzgelegenheiten oder Aufenthaltsbereiche fehlen. Die Aktivitäten konzentrieren sich auf die Rennstrecke für Tretautos und andere Gefährte, die etwa die Hälfte der Dachfläche einnimmt. In der anderen Hälfte befinden sich zu einer flächigen Struktur zusammengesetzte Pavillons, die zu größeren Veranstaltungen als Verkaufsstände genutzt werden und sonst ungenutzt sind. Auf der Westseite ist die Grenze des Parkgeländes durch ansteigende Böschungen und dichte Strauchpflanzungen, die den Maschendraht- bzw. Bretterzaun wirksam verbergen, deutlich räumlich geschlossen. Der Park ist somit vom Verkehr der Straße weitgehend abgeschirmt. Im Nordwesten der Anlage befindet sich der „Zauberwald“, der hauptsächlich von schwarz-weiß geringelten Kiefernstämmen bestimmt wird. (Abb. 13) Der Übergang zum außerhalb liegenden Kiefernwald geschieht fast unmerklich, indem die Bemalung der Baumstämme im hinteren Bereich unregelmäßig vereinzelt wird und schließlich endet. Die Baumhäuser im Osten des Parks scheinen als einzige von der Aussicht auf die Auenlandschaft der Neiße angemessen Gebrauch zu machen. Zwei der als Hotel genutzten Baumhäuser bieten ein bemerkenswertes Detail. Ihre Duschen sind als Drahtkörbe gestaltet, die zur Flusslandschaft offene Sicht

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bieten. Hier kann der Gast inmitten der Baumkronen duschen und den Blick in die Umgebung genießen. Für den Besucher des Parks hingegen, der nicht Gast des Baumhaus-Hotels ist, bleibt die umgebende Landschaft lediglich zu erahnen, insoweit er durch die Stämme des Hangwaldes und die zahlreichen Stelzen der Baumhäuser die Aue erkennen kann. Dass die Idylle der weiteren Landschaft, die von dem erhöhten Gelände des Parks, insbesondere von der Hangkante zur Aue gut zu überblicken wäre, von den Planern nicht konsequenter in die Gestaltung des Parks einbezogen wurde, erscheint erstaunlich. Ein wichtiges Potential der Landschaft bleibt damit weitgehend ungenutzt.

Abb. 3: Innen-Außen-Beziehungen (parkbegrenzender Gehölzgürtel, Blickpunkte, Blickbeziehungen in die Umgebung)

Geländemorphologie und Vegetation Die Überformung und Bepflanzung des Geländes stellt eins der wesentlichen Mittel zur Gestaltung und Raumbildung in der Erlebnislandschaft „Kulturinsel“ dar. Durch eine extreme Häufung von Hügeln und Wällen auf relativ kleiner Fläche wurde eine überaus bewegte Erdoberfläche hergestellt, so dass es zwischen den Aufschüttungen zu einer Vielzahl enger Teilräume kommt. Diese „Täler“ sind teils platzartig, teils länglich ausgebildet. Das „Mäandertal“ ist ein besonders prägnant ausgeformtes Exemplar des länglichen Typs etwa in der Mitte des Parks. (Abb. 14) Durch einen stark gewundenen Verlauf ist seine Länge auf relativ geringer Fläche maximiert worden. An einigen Stellen sind Erdkörper mit großen Röhren durchstochen worden, wodurch sich kurze Verbindungen zwischen den einzelnen „Tälern“ ergeben.

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Die Aufschüttungen sind fast sämtlich mit dichter Strauch- und Baumvegetation überzogen, während die „Täler“ fast überall frei von Gehölzen sind. Dadurch ergibt sich eine wirkungsvolle Überhöhung des räumlichen Kontrastes zwischen tief liegenden Bereichen und Anhöhen. Der dichte, fast dschungelartige Eindruck des Gebüsches auf den Wällen wird durch die umfangreiche Verwendung von schnellwüchsigen Weiden erreicht. Neben diesen sind als Baumarten vor allem Birken, Robinien, Ahorne, Rotfichten, Stechfichten und Eschen eingesetzt worden. Als Sträucher finden hauptsächlich heimische Arten Verwendung. Ein bestimmtes Muster in der Anordnung der Arten ist nicht erkennbar. Im südlichen, gebäudenahen Bereich gibt es vereinzelt auch Ziersträucher, z. B. Strauchrosen, und Kletterpflanzen. Stauden und Sommerblumen finden sich auf der „Kulturinsel“ nicht. An den Rändern des Parks sind streckenweise vorhandene Bäume (Kiefern, Eichen, Birken) erhalten worden. Im Norden ist der Bestand eines Kiefernforstes zum „Zauberwald“ umgewidmet und in den Park integriert worden. Die weiche Modellierung der Aufschüttungen und ihre dichte Bepflanzung lassen vermuten, dass mit ihnen eine naturhafte Anmutung hervorgerufen werden soll. Abgesehen von dem Wissen der Besucher um die Gestalt der umgebenden flachen Landschaft konterkarieren zwei Eindrücke dieses Bestreben. Zum einen sind die Bodenerhebungen so dicht gestellt, dass die „Täler“ nur als Felsschluchten plausibel wären. Dem widerspricht aber die weiche, ausgerundete Form der sandigen Hügel. Zum zweiten erscheinen die platzartigen Zwischenräume zu eben und gleichförmig ausgeführt, als dass man in ihnen glaubhafte Talsohlen erkennen könnte. Insbesondere die Hügel um „Rolands Sandsee“, dem großen Spielbereich im südlichen Viertel der Anlage, sind sehr deutlich als aufgeschüttete Erdhaufen zu erkennen. Die östliche und westliche Grenze des Parks wird durch Böschungen gebildet. Auf der Ostseite ist dies der natürliche Hang der Neiße-Aue, der einen Höhenunterschied von ca. sechs Metern bildet. Zur Straße hin, an der Westseite besteht eine etwa ein bis drei Meter hohe Böschung, die in Abschnitten geradlinig, zum Teil auch geschwungen verläuft. Gemeinsam mit dem auf ihr gepflanzten Gehölzgürtel schirmt sie die Erlebnislandschaft gegen den Straßenverkehr ab. Vermutlich diente hier das Abtragen des Geländes auch der Gewinnung von Erdmassen für die Modellierung des parkinneren Geländes. Es war freilich noch weiteres Material von außerhalb der Anlage zu beschaffen, um die zahlreichen Auffschüttungen herstellen zu können. Im Norden des Parks, im „Zauberwald“, wurde die Bodenoberfläche nicht überformt, so dass sich keine Raumkanten zum anschließenden Gelände ergeben, das sich als Kiefernwald fortsetzt.

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Abb. 4: Geländemodellierungen

Wegenetz Die Wege und platzartigen Erweiterungen des Bewegungsraums im Park ergeben sich zum größten Teil aus den Restflächen, die zwischen den zahlreichen Bodenerhebungen verbleiben und in der Regel eben angelegt sind. Diese Flächen sind bis auf wenige Ausnahmen nicht befestigt; der sandige Boden ist offenbar geeignet, Niederschläge ohne weiteres abzuführen. Die Wege erscheinen folglich als Trampelpfade, die an weniger frequentierten Stellen Wiese aufkommen lassen und randlos in die angrenzenden Gehölzflächen übergehen. Unter Spielgeräten, die beklettert werden können und keine Absturzsicherung haben, ist Fallschutzmaterial aus Kies („Rolands Sandsee“) bzw. Rindenmulch eingebracht worden. Auch hier verläuft der Übergang zu Wege- und Pflanzflächen unmerklich. Etliche tunnelartige Durchbrüche durch Erdwälle bestehen entweder als Teil des Wegesystems oder bieten davon unabhängige Abkürzungsmöglichkeiten zwischen benachbarten Teilräumen der Hügellandschaft. Zusätzlich zu den beschriebenen Wegen und Plätzen zwischen den Erdkörpern bestehen Pfade und Plateaus, wenn auch weniger zahlreich, auf den Rücken der Bodenerhebungen. Einige der Pfade sind unbefestigt, andere sind mit Naturstein gepflastert. Die steilen Hänge machten offenbar eine Absturzsicherung notwendig, die an den meisten Stellen in Form von Weiden-Flechtzäunen, hin und wieder auch mit einem Geländer aus Holzpfosten und Stahlketten umgesetzt worden ist. Vermutlich dienen die Begrenzungen auch dazu, das Betreten der Hänge, das zu Erosion und Schäden an der Bepflanzung führen könnte, zu verhindern.

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Die auf den Wällen entlangführenden Wege sind an etlichen Stellen über die „Täler“ hinweg mit Brücken verbunden, die sämtlich individuell und als zum Teil abenteuerlich anmutende Konstruktionen ausgeführt sind. Im südlichen Teil des Parks verlaufen Wege streckenweise auch in Gräben, die aus industriell gefertigten Betonelementen hergestellt wurden. Wo sie bis hüfthoch im Boden eingelassen sind, erzeugen sie das eigenartige Gefühl, im Boden eingesunken zu sein. Zum Teil sind die Gräben tiefer geführt und von bepflanzten Erdwällen flankiert. Hier bilden die Erdeinschnitte mit den Sträuchern, die sie überdecken, einen schattigen Laubengang.

Abb. 5: System der Wege und Plätze (schwarz) im Park

Flächen/Plätze/Orte Die offenen Flächen und platzartigen Erweiterungen der Wege sind zumeist ebenfalls als Leerformen der Bodenmodellierung, als ausgedehntere „Täler“ aufzufassen. Ihr Charakter ergibt sich durch den Kontrast zu den sie umgebenden Erdformen. Deren Erhebungen sind durch Sträucher und Bäume überhöht, die auf ihnen angepflanzt sind und in den „Tälern“ in der Regel fehlen. Stehen die Wälle und Hügel eng, ergibt sich ein entsprechend begrenzter Raumeindruck. Die kleineren Exemplare des offenen Freiraumtyps sind zahlreich und relativ gleichmäßig über das Parkareal verteilt. Größere Flächen haben einen offeneren Charakter. Sie finden sich vermehrt im nördlichen und südlichen Drittel des Parks, während die Mitte eher durch dichte Bodenmodellierungen gekennzeichnet ist. Neben den „Tälern“ finden sich auf den Anhöhen der Hügel ebene Flächen, die als Lichtungen in der ansonsten dichten Vegetation der Erdkörper angelegt

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sind. Zumeist dienen sie als Standort für Gebäude (z. B. das „Zauberschloss“) oder Spielgeräte, einige sind auch durch aufgesetzte Hügelchen akzentuiert. Eine gewisse Sonderstellung hat das zentral gelegene Gelände des Tiergeheges. Es ist durch ausgedehntere Geländeüberformungen geprägt, und die Besucher werden teilweise durch Bodeneinschnitte hindurchgeführt. Bepflanzt ist es jedoch nicht, so dass es als große freie Fläche wirkt. Mit der Modellierung des Geländes sowie der pflanzlichen und baulichen Ausstattung ergeben sich räumliche Situationen, die durch ihre visuelle Prägnanz, ihre Nutzungsangebote, durch Bewegungsvorgaben, durch Materialien, durch die Anwesenheit anderer Besucher etc. bestimmte Eigenschaften tragen und Eindrücke evozieren. Das charakterisiert die Räume als spezifische Orte. Mögen viele, insbesondere kleinere Freiräume ähnlichen Gestaltungsprinzipien folgen, so bilden sie doch in dem je verschiedenen Zusammenwirken der genannten Faktoren individuelle Orte, die unterschiedliche Erlebnisse gestatten. Ein Beispiel sei hier genannt. Nördlich des „Zauberschlosses“, von Erdwällen und Felsbrocken vollständig eingefasst, befindet sich das „Kannibalental“. Seinen Mittelpunkt bilden zwei riesige, vermutlich aus halbierten Wassertanks hergestellte Kessel, unter denen Feuerstellen angelegt sind. Um den schaurigen Effekt der augenscheinlich für kannibalistische Essenszubereitungen installierten Kessel zu steigern, sind ringsum Marterpfähle und rot gefärbte Baumskelette aufgestellt. Über Holzgestelle kann der Besucher in die wassergefüllten Bottiche gelangen, die im Inneren Holzroste aufweisen und sich somit schließlich als kollektive Badezuber entpuppen. Einen eigenständigen Charakter trägt der „Zauberwald“ im Norden der Anlage. Er ist aus einem bestehenden Kiefernforst entwickelt worden, indem dessen Baumstämme schwarz-weiß geringelte Markierungen erhielten. Sie sind das wesentliche Gestaltungsmittel des Bereichs, aufgestellte Skulpturen und ein „Zwergenlabyrinth“ treten weniger in Erscheinung. Durch die Offenheit des Raums, den die Baumstämme erst in größerer Entfernung wirksam verstellen, ergibt sich eine gewisse Weite unter dem Kronendach der Kiefern. (Abb. 13)

Gebäude, Einbauten, Spielgeräte Neben der Geländemodellierung spielen die baulichen Elemente die wesentliche Rolle für die Gestaltung der „Kulturinsel“. Ihre Menge und Vielfalt sind schlicht unüberschaubar. Bautypologisch lassen sie sich in 14 Gruppen einordnen: Pavillons, Baumhäuser, mehrgeschossige Gebäude und Türme, Erdhütten, Zelte, Treppenanlagen und Brücken, Skulpturen, Labyrinthe, Bühnen, diverse Spielgeräte, Sitzplätze, Sprüchetafeln, Terrassen sowie Tunnel. Etliche der Baulichkeiten stellen Kombinationen der genannten Kategorien dar. Viele Skulpturen lassen sich beispielsweise auch als Klettergeräte benutzen. Die immense

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Zahl an Objekten aus der hiesigen Werkstatt lässt keinen Überblick über sie zu. Umso erstaunlicher ist es festzustellen, wie individuell und detailliert sie gestaltet und ausgeführt sind. Dass die zahllosen Skulpturen zum Teil wie zufällig am Weg platziert sind, manche gar schon von der Vegetation überwuchert werden, hinterlässt einen Eindrück von Überfülle, der aber womöglich intendiert ist. Jedenfalls führt er zu dem luxuriösen Gefühl, überall etwas entdecken zu können, auf das man nicht ausdrücklich – etwa durch planvolle Blickbeziehungen – hingewiesen worden ist. So verlässt der Besucher den Park schließlich mit dem Eindruck, eventuell längst nicht alles gesehen zu haben. Im Folgenden kann nur auf wenige Installationen exemplarisch eingegangen werden. Auf einer Anhöhe am „Mäandertalweg“ befindet sich das „Kuschelbaumhaus“, eine auf Robinienstämmen errichtete, mit einem Gummidach halb überdeckte Pavillonkonstruktion. Über eine schmale Stiege erreicht man die Plattform, auf der eine Sitzgarnitur mit Tisch eingerichtet ist. Hier kann man es sich bequem machen und Blicke in das nahe Grün der Bäume genießen. Die Eignung des Objekts zum Kuscheln sei dahingestellt – die freistehende Konstruktion des Pavillons kann jedenfalls nicht als ein Baumhaus gelten, wenn man dieses im strengen Sinne einer Behausung versteht, dessen Gründung durch Bäume hergestellt wird. Insofern wären die Unterkünfte des „Baumhaus-Hotels“ ebenfalls als Stelzenhäuser zu beschreiben. Die acht Quartiere in acht bis zehn Meter Höhe sind durch Holzstege untereinander und mit einer zentralen Plattform verbunden. Die individuell gestalteten Holzhäuser enthalten Schlafkojen für bis zu sechs Personen, kleine Aufenthaltsräume und noch kleinere Badnischen. Vor dem Hotel wurde das „Waldsiedlum“ angelegt, eine Ansammlung von Zelten, die mit Reisigmatten gedeckt sind und ein preiswerteres Übernachten gestatten als das „Baumhaus-Hotel“. In der Nähe der Zelte wurde am Tiergehege eine Schaukel aufgestellt, die bis auf ihre Anbindung an enorm hohen Masten recht herkömmlich gestaltet ist. Der große Pendelausschlag sorgt jedoch für ein außergewöhnliches Erlebnis der Körperbewegung. „Ginas Gummi Gipfel“ trennt zwei größere offene Flächen – den „Feuerplatz“ und „Rolands Sandsee“. Der Hügel ist als Kletterberg gestaltet worden. Auf drei Seiten laden Schwellen aus Baumstämmen zum Besteigen ein, während man auf der Südseite über breite, bunte Gummimatten den Berg wieder hinunterrutscht. Ein ähnlicher, etwas kleinerer Rutschhang befindet sich am gegenüberliegenden Hügel. Das erst kürzlich fertiggestellte Restaurant „Krönum“ im Süden des Parks ist ein komplexes mehrgeschossiges Gebäude mit Steinwänden und Zeltdach. Während von außen die Größe des Bauwerks durch seine zerklüftete Form kaum erkennbar wird, so gilt dies für den Innenraum noch stärker. Um einen zentralen, sich über mehrere Geschosse erstreckenden Bühnenraum sind sepa-

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rate Tischnischen angeordnet, die über einen innenliegenden Gang spiralförmig erschlossen werden. Die konsequente Abschirmung der Einzelkammern gegeneinander bewirkt, dass ein Gesamtraumeindruck kaum zustande kommt und das Gebäude auch im Innern wesentlich kleiner wirkt als es ist. Das Restaurant bietet 199 Gästen Platz. Ein Höhepunkt der Ausstattung der „Kulturinsel“ ist zweifellos ihr umfangreiches Tunnelsystem. (Abb. 15) Die Angabe der Betreiber, dass es insgesamt über 500 Meter lang sei und 46 Einstiege hätte, konnte nicht überprüft werden. Stichproben zeigten jedoch, dass die Gänge zum Teil über lange Strecken führen und zahlreiche Verzweigungen aufweisen. In zwei Bereichen – unter dem „Zauberschloss“, dem „Käseberg“ und „Rolands Sandsee“ verdichten sich die Gänge zu Labyrinthen, die in ihrer Komplexität für den analysierenden Besucher nicht nachzuvollziehen sind. (Der Verlauf der Gänge ist offenbar ein Geheimnis; die Verwaltung stellte jedenfalls die Pläne nicht zur Verfügung.) Im Berg des „Zauberschlosses“ wartet der Tunnel mit geheimnisvollen Zeichen, Geräuschen und anderen gruseligen Details auf. Steigt man in die unterirdischen Gänge ein, ist man schon nach der zweiten Biegung von vollständiger Finsternis umgeben, so dass man im Weiteren auf das Vorantasten angewiesen ist, wenn man nicht eine Taschenlampe bei sich führt. Die geringe Höhe der Rohre gestattet die Bewegung nur im Enten- oder Kriechgang. Begegnungen in der finsteren Enge sind besonders aufregend. Am Ausgang kreischen ein paar Mädchen „Einmal und nie wieder!“, während die die Jungen johlen „Los, weiter, zum nächsten Eingang!“ Der Aufenthalt in den Betonröhren ist in jedem Fall ein eigentümliches Erlebnis für Kinder und Erwachsene.

Abb. 6: Gebäude, Spielgeräte, Skulpturen, Tunnel (zum Teil schematisch)

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Interne Blickbeziehungen Das Gesichtsfeld der Besucher ist innerhalb des Parks aufgrund der kleinräumigen Geländemodellierungen und zahlreichen Einbauten in der Regel auf nahe und nächste Objekte und Raumkanten beschränkt. Sichtverbindungen zwischen markanten Elementen über weitere Strecken gibt es kaum. Eine Ausnahme bildet das „Zauberschloss“ als ein größeres Bauwerk auf dem höchsten Hügel, dessen Türme von mehreren Stellen im Park zu erkennen sind und einen Überblick über die Anlage gestatten. Von den Türmen herab sieht man in eine große Masse von Baumwipfeln, nur wenige weitere Objekte sind auszumachen. Eine zweite Ausnahme ist der übergroße Lichtmast auf dem Parkplatz, der von einem Baumskelett bekrönt wird und ein von weither sichtbares Zeichen bildet. Eine dritte Ausnahme ist schließlich der „Zauberwald“, wo der nur spärliche Unterwuchs zwischen den Stämmen hindurch weitere Sichten erlaubt, die freilich keinen Blickpunkt finden, sondern sich im fernen Hintergrund des Kiefernwaldes verlieren. Viele der Holzbauten sind auf Hügeln platziert und entfalten so verstärkte visuelle Wirkung. Allerdings gilt dies nur für den Nahbereich; ein paar Schritte weiter sind sie wieder von Gehölzen oder Erdformen verdeckt, und die nächste Geländetasche lässt ein neues Objekt erleben. Besteigt man einen der vielen Hügel, gelingt ein Ausblicken in benachbarte Bereiche ebenfalls selten, denn die Geländeerhebungen sind dicht zugewachsen und gestatten in der Regel kaum eine Übersicht. Auf ihren Rücken führen schmale Pfade durch Gänge, die mit Weidensträuchern eng bepflanzt sind. An einigen Stellen ist zu erkennen, dass die Sträucher wohl ursprünglich zu Tunneln zusammengebunden werden sollten. Jetzt bilden sie jedenfalls undurchdringliche Hecken, die den Weg säumen und so den Besucher strikt führen, bis sich der Raum in eine Mulde oder ein Tal öffnet und den Blick auf eine Attraktion freigibt. Das enorm große Angebot an Einzelattraktionen lässt erstaunen. Die Fülle von Baulichkeiten und Spielgeräten wird durch eine Vielzahl an großen und kleineren Skulpturen noch gesteigert, die gar nicht alle angemessen ins Bild kommen können. In den größeren offenen Flächen um „Ginas Gummi Gipfel“ sind besonders viele Pavillons und Spielgeräte auf kleinem Raum errichtet worden. Hieraus ergibt sich eine große Zahl von Blickbeziehungen über kurze Distanzen. Von den umgebenden Hügeln, die ebenfalls dicht mit Objekten bebaut sind, gewinnt man durch Lücken der Vegetation Übersicht über diese offenen Bereiche. Besonders zu erwähnen ist das Erlebnis der Ausblicke aus den Tunnelsystemen. Nachdem dem Besucher in den ausgedehnten Gängen über zum Teil weite Strecken jegliche visuelle Orientierung vorenthalten ist, wird der Ausblick am Ende der Betonröhre wohl für jeden zum befreienden Erlebnis. Manche der Tunnel enden eher versteckt im Gebüsch, andere in Baulichkeiten, wie dem „Zauberschloss“ oder dem „Wikingerschiff“. Eine der Röhren entlässt seine Be-

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sucher auf eine große Gummirutsche. Zwei der unterirdischen Gänge enthalten Aufstiege, die jeweils in einem Turm enden, von dem man einen kuriosen Rundblick genießt, ohne selbst bemerkt zu werden. Durch diese Türme gelangt man indes nicht ins Freie, so dass man nach dem Lichtblick wieder in das Dunkel der Tunnel zurückkehren muss – eine Tatsache, die leicht Frustration auslösen kann.

Abb. 7: Interne Blickbeziehungen

4. E R Z ÄHLUNG Bilder Mit der konsequenten Umschließung vieler Bereiche hat man es nicht nur verstanden prägnante Räume zu schaffen. Die Abschließung nach außen wirkt gleichzeitig als ein Rahmen, in dem die landschaftlichen Bilder besonders eindrücklich zur Geltung kommen können. Jeder Bereich des Parks ist als ein eigenständiges Bild konzipiert, das sich wie in einer Ausstellung in ein größeres Thema einfügt. Man kann das Thema der „Kulturinsel“ als harmonisches Miteinander von Natur, Mensch und Technik in der Darstellung einer comicartigen Welt verstehen, in der das Leben Spiel, Abenteuer, Feier und Erlebnis bedeutet, und das Volk der Menschen durch Fabelwesen bereichert wird: „Schritt für Schritt verwirklichen wir so unsere Vorstellung von einem Ort, an dem sich Natur, Kunst und Kultur verbinden, der allen offensteht, an dem Menschen mit-

L ANDSCHAFTSANALYSE DES E RLEBNISPARKS „K ULTURINSEL E INSIEDEL “ einander unerwartete Erlebnisse erfahren: mit Holz, Lehm und Steinen, mit Wind und Wetter, mit Kunst und Spiel...“3

Die Interpretation des Themas folgt vor allem den Ideen des Künstlerischen Leiters und Betreibers der Anlage.4 Seine „Handschrift“, die das Kuriose, das Sinnliche und das Abenteuerliche herzustellen sucht, ist quasi bis in jedes Detail zu verfolgen. Mit der künstlerischen Oberleitung ist die thematische Kontinuität der Raumbilder gewährleistet.

Natürlichkeit/Hergestelltheit Die gegenseitige Durchdringung von Baulichkeiten und Vegetation ist ein wichtiges gestalterisches Motiv der Erlebnislandschaft. Ein oft verwendetes Detail sind Bäume, die augenscheinlich durch Gebäude und Objekte wachsen, durch Pavillons (z. B. das Eingangsgebäude), Plattformen, Autoreifen, Baumhäuser und Pflasterflächen. Auf dem Parkplatz scheint sogar ein Auto von einem Baum durchbohrt und in die Luft gehoben zu sein. Andererseits durchdringen technische Einbauten naturhafte Elemente, wenn Stege, Seilbahnen und Häuser in Baumwipfeln verankert sind und Tunnel das Erdreich erschließen. Die Spielgeräte zeigen eine programmatisch wirkende Kombination von Naturmaterial (vor allem Holz) mit stark vorverarbeiteten Materialien, wie Förderband-Gummi und Edelstahl. Beton findet ebenfalls häufig Anwendung. So sind die Tunnelgänge zum größten Teil aus Betonröhren hergestellt worden. Wo sie zutage treten, sind sie meist mit Naturstein kaschiert (Abb. 17), an manchen Stellen sind sie aber auch als Fertigteile deutlich erkennbar. Wo mittels Beton Felsen imitiert wurden, wurde deren Oberfläche naturhaft gestaltet. Der Umgang mit dem von Laien häufig als kalt und leblos kritisierten Material erscheint auf der „Kulturinsel“ nicht eindeutig. Die Formensprache mutet allerdings durchweg „organisch“ an. Holzteile sind stark abgerundet, die Stelzen der Pavillons stehen grundsätzlich schräg, Fensterrahmen haben irreguläre Form usw. Generell hat man gerade Linien und rechte Winkel vermieden. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Herstellungsprozess verschleiert würde. Im Gegenteil, die künstlerische Gestaltung und handwerkliche Fertigung wird in den Konstruktionen, Detaillierungen und Anschlüssen regelrecht zelebriert. Lediglich die Nachvollziehbarkeit der industriellen Vorfertigung von Werkstoffen wie Stahl, Glas, Förderbändern und Beton wird nicht kenntlich gemacht. 3 | http://www.kulturinsel.com/freizeitpark.html (02.07.2011) 4 | Vgl. den Aufsatz von Stefan Nothnagel: „‚Weil sie hier n Stück Oase vorfinden.‘ Interpretation des Interviews mit dem Gestalter der ‚Kulturinsel Einsiedel‘“ in diesem Band.

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So scheint der gestalterische Ansatz im Erlebnispark grundsätzlich ein naturbezogener zu sein, was aber nicht heißt, dass die Künstlichkeit der Landschaft oder ihrer Einbauten in Frage gestellt würde. Auch die starke Modellierung des Geländes, die sicherlich als Naturzitat zu verstehen ist, kann eigentlich kaum als echtes Naturphänomen missverstanden werden. Zu prägnant sind selbst für naive Besucher die Überformungen. Die Erlebnislandschaft gibt sich deutlich als solche zu erkennen.

„Ethnologie“ und „Mythologie“ Das Thema der „Kulturinsel“, ausgestaltet mit den einzelnen Raumbildern, wird durch eine fiktive Ethnologie und Mythologie unterstützt. Nach dieser Story lebte hier vor langer Zeit ein Volk namens „Turisede“ in Eintracht mit der Natur und mit diversen Fabelwesen. Ihre Spuren sind zum Teil erhalten. So wird in der Nähe des Tiergeheges ein „Ausgrabungsfeld“ gezeigt, in dem archäologische Relikte malerisch aus dem Boden ragen. (Abb. 18) Andere Fundstücke sind im eigens dafür errichteten Museum, einem großen Baumhaus in der Nähe des Parkeingangs, ausgestellt (Abb. 19). Hier wurden auch eine typische Wohnstätte und ein Modell der Siedlung der „Turiseder“ „rekonstruiert“. Der Bezug zur Erlebnislandschaft wird dadurch hergestellt, dass eine Analogie zwischen dem Damals und dem Heute behauptet wird. Das betrifft sowohl den Park und seine Einrichtung als auch die Mitarbeiter, die sich bei Veranstaltungen wie Trolle kleiden und zum Teil auch verhalten. Der Inhaber der Anlage agiert dann als der König der „Turiseder“. Im „Krönum“ wird regelmäßig seine Krönung zelebriert.

5. F A ZIT Das räumliche Konzept der „Kulturinsel“ ist das eines Labyrinths. Die erschwerte Orientierung setzt sofort ein, wenn der Besucher das Eingangsgebäude verlässt. Der Auftaktbereich des Parks hält zwar Informationstafeln bereit, sie unterrichten jedoch nicht über einzuschlagende Richtungen, sondern über Kulturveranstaltungen vor Ort oder in der näheren Umgebung. Eine direkte Wegorientierung zur nächsten Attraktion, etwa dem Zauberschloss, wird dem Ortsunkundigen ebenfalls vorenthalten, denn er kann das Gebäude mit seinen Türmen zwar sehen, die Richtung dorthin ist jedoch durch Hügel versperrt. Vom Eingang weg verlaufende Wege wiederum lassen nicht erkennen, wohin sie führen, weil sie hinter Bodenwellen verschwinden. So halten die meisten Besucher zunächst inne, setzen sich auf eine Bank und versuchen, sich über die comicartige Karte, die sie am Einlass erhalten haben, eine Orientierung zu

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verschaffen. (Abb. 20) Das Muster der labyrinthischen Raumbildung lässt sich fast im gesamten Park wiederfinden. Das Innehalten der Besucher ist augenscheinlich der Sinn dieser räumlichen Verwirrung. Das systematische Vermeiden von Überblick und erkennbaren Wegeverbindungen hat offenbar den Zweck, das Überraschungsmoment für jede räumliche und gestalterische Situation so lange offenzuhalten, bis der Besucher in sie eintritt. Auf diese Weise wird die Spannung auf neue Entdeckungen hinter jeder Wegebiegung erhalten, und man bekommt das Gefühl, noch nicht alles gesehen zu haben, wenn man nicht tatsächlich dort war. Hat man einen der Teilräume betreten, wird man sogleich von ihm gefesselt und hält inne, zum einen, weil die verweigerte Orientierung ein Weitereilen erschwert, zum anderen, weil die gebotene Attraktion – das kuriose Bild – im dreidimensionalen Rahmen der umschließenden Geländeerhebungen wirkungsvoll in Szene gesetzt ist. Das Konzept setzt sich auf den Anhöhen fort. Die auf den Hügeln errichteten Pavillons gestatten zwar Ausblicke, durch die man aber keine wirkliche Übersicht gewinnt. Zum Verweilen sind sie indes gut geeignet. Ein weiterer Effekt der räumlichen Kleinteiligkeit ist, dass der Besucher auf einer eigentlich relativ begrenzten Fläche weite Strecken zurücklegen und dabei viele Attraktionen geboten bekommen kann. Der Gang auf den übersteigert geschlängelten Wegen in den engen „Tälern“ kann freilich mitunter ein eigentümliches Empfinden, ein Gefühl von Vergeblichkeit bewirken, das den Besucher erheitern oder frustrieren mag. Jedenfalls bekommt er den Eindruck, viel gesehen und erlebt zu haben. So kann das Prinzip der „Kulturinsel Einsiedel“ als die Maximierung der sinnlichen und physischen Erlebnisse in einer Landschaft minimierter Einzelräume zusammengefasst werden. Der Vielzahl dinglicher Ausstattungen und Situationen steht die Miniaturisierung ihrer Einzelräume gegenüber. Der Anspruch der Betreiber, mit der Erlebnislandschaft die Einheit von Natur, Kunst und Kultur zu thematisieren, ordnet sich in dieses harmonisierende Prinzip der Modellwelt ein. Hier ist alles auf überschaubare, beherrschbare Maße reduziert: die Räume, die Gebäude, die technischen Einrichtungen und Installationen, die soziale Gemeinschaft der drolligen „Turiseder“ mit ihrem König, ihre erdachte Geschichte und Mythologie und schließlich auch die Gesamtanlage als Darstellung einer ganzen „turisedischen“ Lebenswelt, die von globalen Zusammenhängen abgekoppelt scheint. Die „Kulturinsel Einsiedel“ ist mehr als ein großer Spielplatz – sie ist eine komplexe, gestaltete Landschaft. Diese Eigenschaften und die Ausrichtung auf Erholung und Unterhaltung machen sie den Gartenschauen ähnlich. Ein Unterschied mag darin bestehen, dass diese temporär, BELANTIS und die „Kulturinsel“ hingegen dauerhafte Einrichtungen sind. Eine Erklärung dafür, warum in der Planung von Erlebnisparks Landschaftsarchitekten keine tragende Rolle spielen, ist dieser Unterschied wohl nicht. Die Frage konnte weder mit den

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Analysen der beiden Anlagen noch mit den Interviews geklärt werden, die mit Vertretern dieses Fachs geführt wurden.5 Die Untersuchungen geben jedoch vielfach Anlass zur Vermutung, dass im Hinblick auf ihre Tätigkeit und die Frage, wie mit dem Erleben auch beim Entwurf anderer Freiraumtypen umgegangen werden könnte, der gelegentliche Besuch von Erlebnislandschaften für Landschaftsarchitekten erhellend und verständniserweiternd sein könnte.

5 | Vgl. den Aufsatz des Autors: „Freiräume für das Erleben? Zur Entwurfspraxis von Landschaftsarchitekten“ in diesem Band.

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Abb. 8: Eingangspavillon

Abb. 9: Kinder greifen die Angebote des Parks lebhaft auf, …

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Abb. 10: … während ihre Eltern i. d. R. die Aktivitäten beobachten und fotografieren.

Abb. 11: Der dichte Baumgürtel verhindert Einblicke in den Park (Ansicht von der Neiße).

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Abb. 12: Produktionsanlagen für Spielplatzeinrichtungen, Dachterrasse mit fensterartigen Rahmungen

Abb. 13: Zauberwald

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Abb. 14: „Mäandertal“

Abb. 15: Im Tunnelsystem

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Abb. 16: Klettergerät

Abb. 17: Tunneleingang

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Abb. 18: „Ausgrabungsfeld“

Abb. 19: „Museum“ von Turisede

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Abb. 20: Verwirrende Raumbildung – die Orientierung wird im Park systematisch vermieden.

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IV Gestalten und Erleben von Erlebnisräumen. Interviewinterpretationen

BELANTIS: Erlebnisgestaltung zwischen Funktion und Emotion Interpretation des Interviews mit dem Architekten Herrn Rudolf 1 Jörg Schröder

1. E INFÜHRUNG : D AS E XPERTENINTERVIE W MIT DEM A RCHITEK TEN H ERRN R UDOLF : VORBEREITUNG , D URCHFÜHRUNG , ME THODISCHER A NSAT Z UND F R AGESTELLUNGEN Das Experteninterview mit dem Architekten Herrn Rudolf wurde im Rahmen des Projektes „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“2 Anfang Dezember 2008 in dessen Büro in Leipzig durchgeführt. Herr Rudolf wurde für dieses Interview ausgewählt, weil er als einer der Hauptideengeber, Initiatoren und Planer des Vergnügungsparks BELANTIS3 über umfangreiche Erfahrungen in Bezug auf Entwurf und Planung einer Erlebnislandschaft verfügt. Das Interview wurde durch einen Leitfaden gestützt. Das Experteninterview erschien uns, aufgrund des darin sprachlich verdichteten Erfahrungshorizontes, als eine geeignete Methode, die Architekten und Macher der Erlebnislandschaften hinsichtlich ihrer Auffassung von dieser spezifischen Bauaufgabe sowie hinsichtlich ihres beruflichen Selbstverständnisses zu befragen. Da solche Auffas-

1 | Der Name wurde anonymisiert. 2 | Nähere Informationen zu Fragestellung, theoretischer und methodologischer Verortung sowie der methodischen Vorgehensweise s. den Aufsatz von Achim Hahn „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Einführung in ein Forschungsprojekt“ in diesem Band. 3 | Eine Beschreibung des Parks, fotografische Ansichten sowie eine Karte finden sich in der „Landschaftskritik des Vergnügungsparks BELANTIS“ von Ute Keßler in diesem Band.

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sungen eine eigene Geschichte haben, sind auch biographische Ereignisse und Phasen Gegenstand des Interviews geworden. Im ersten Teil des Interviews (Eingangserzählung) wurde Herr Rudolf durch eine offene Einstiegsfrage dazu aufgefordert, über die Entstehungsgeschichte des Parks und seine dabei gemachten Erfahrungen zu berichten. Herr Rudolf sollte frei und ungestört erzählen können. Für den zweiten Teil des Interviews waren thematische Fragen vorbereitet, die auf bestimmte Themenkomplexe abzielten. Dazu waren, neben Fragen nach der spezifischen „Machart“ einer Erlebnislandschaft, Fragen nach dem beruflichen Selbstverständnis des Architekten vorbereitet. Denn die Bauaufgabe4 eines Vergnügungsparks scheint von Grund auf im Bereich der Architektur eine Sonderstellung einzunehmen und korrespondiert, wie anzunehmen ist, nicht bedingungslos mit dem Selbstverständnis eines Architekten. So stand im Zentrum des Forschungsinteresses die Frage danach, wie ein praktizierender Architekt vor dem Hintergrund seines beruflichen Selbstverständnisses mit einer solchen Bauaufgabe umgeht. Dabei war es wichtig zu erfahren, was das Charakteristische an dieser Bauaufgabe ist und wie sie bearbeitet wird. Der Entwurfsprozess war im Zusammenhang mit den für einen Vergnügungspark eingesetzten Gestaltmitteln und Gestaltabsichten ebenso von Interesse wie Herrn Rudolfs Architekturauffassung im Allgemeinen. Das Interview dauerte inklusive einer kurzen Pause und einem spontan entstandenen Gespräch im Anschluss5 daran insgesamt ca. drei Stunden. Der unten folgenden Interpretation soll zunächst eine kurze Biografie von Herrn Rudolf vorangestellt werden, um ein erstes Bild von seiner Person und seinem beruflichen Weg zu geben.

2. D IE B IOGR AFIE VON H ERRN R UDOLF 6 Herr Rudolf wurde 1962 geboren. Im Jahr 1991 schloss er sein Architekturstudium an einer Fachhochschule für Technik und Wirtschaft ab. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er einige Jahre in verschiedenen Architekturbüros, wo er Führungspositionen einnahm. Im ersten Büro, in dem er nach seinem Studium 4 | Wenn im Folgenden immer wieder von Bauaufgabe die Rede sein wird, so soll dieser Begriff den gesamten Entwurfs- und Planungsprozess einer Erlebnislandschaft meinen. 5 | Im Anschluss an das offizielle Interview hatte sich noch ein informelles Gespräch ergeben. Zu diesem Zeitpunkt war das Aufnahmegerät bereits abgeschaltet. Die Inhalte dieses Gesprächs wurden schriftlich festgehalten und dienen gleichsam als Grundlage der Interpretation. 6 | Die biografischen Verweise sind teilweise im Interview von Herrn Rudolf ausgesprochenen worden. Zum anderen stützen sie sich auf die Internetseite des Architekturbüros von Herrn Rudolf.

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angestellt war, wurde er nach fünf Jahren geschäftsführender Gesellschafter. In dem Büro, in welchem er im Anschluss an diese Tätigkeit arbeitete, wurde er Büroleiter. Schließlich machte sich Herr Rudolf selbstständig. Er führte sechs Jahre eigenverantwortlich ein Architekturbüro, bevor er eine Partnerschaft mit einem Bauingenieur einging. Herr Rudolf war während der Parkentstehung neben seiner Tätigkeit als hauptverantwortlicher Architekt und Ideengeber des Projektes auch leitender Geschäftsführer. Schließlich hat er diese Funktion nach achtzehn Monaten Bauzeit des Parks (2001-2003) abgegeben, da er sich, wie er im Interview an einer Stelle zum Ausdruck bringt, als Planer und nicht als Parkbetreiber sieht. An einer anderen Stelle des Interviews gibt Herr Rudolf zu verstehen, dass er selbst keine Freizeitparks aufsucht. Allerdings sei dies auch nicht notwendig, um einen Vergnügungspark zu planen. Denn man müsse das, was man als Architekt plant und baut, nicht unbedingt selber benutzen. So sagt er: „Ich bin persönlich überhaupt kein Freizeitpark-Gänger [...] War ich noch nie. Ist mitunter aber auch gar keine schlechte Voraussetzung. (PP) Ich mein, nicht jeder Architekt nutzt auch die Dinge, die er selbst baut (P)“.

Ausgehend von der Fragestellung, um welche Bauaufgabe es sich bei der Planung eines Vergnügungsparks handelt und wie Herr Rudolf mit dieser Planungsaufgabe umgegangen ist, soll das Interview im Folgenden interpretiert werden.

3. E NT WURF UND P L ANUNG EINER E RLEBNISL ANDSCHAF T : G ESTALTMIT TEL UND G ESTALTABSICHTEN 7 Im Hinblick auf die Art des Umgangs mit dem Projekt sei die These aufgestellt, dass die Bauaufgabe „Vergnügungspark“ für Herrn Rudolf als Architekt zunächst nicht aus sich selbst heraus Sinn macht. Vielmehr, so scheint es, muss er „Strategien“ entwickeln, der Aufgabe einen übergeordneten Sinn zu geben. Dies scheint in engem Zusammenhang mit seinem Selbstverständnis als Architekt zu stehen, welches durch die Bauaufgabe „Vergnügungspark“ mitunter an Grenzen zu stoßen scheint. So führt Herr Rudolf im Interview eine Vielzahl von 7 | Alle im Folgenden durch eine gesonderte Schriftart und in Anführungszeichen dargestellten Zitate sind der Transkription des Interviews mit Herrn Rudolf entnommen. In diese eingefügte eckige Klammern mit drei Punkten [...] kennzeichnen von mir ausgelassene Zitatfragmente. Für die bessere Verständlichkeit eingefügte Wörter stehen in eckigen Klammern. Einfügungen von (P) oder (PP) verweisen auf Sprechpausen von bis zu drei bzw. sechs Sekunden.

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thematischen Exkursen ein, wodurch er BELANTIS inhaltlich verlässt und welche offensichtlich die Funktion haben der Bauaufgabe einen erweiterten Sinn zu zusprechen sowie sein eigentliches Selbstverständnis als Architekt jenseits der Vergnügungsarchitektur zum Ausdruck zu bringen. Schon in der Eingangserzählung des Interviews zeigt sich ein charakteristisches Moment für die Art und Weise, wie Herrn Rudolf mit dem Projekt umgeht. Er scheint in bestimmten Problemstellungen, die die Bauaufgabe mit sich bringt, Möglichkeiten bzw. Herausforderungen zu suchen. Dies wiederum führt dazu, dass er bestimmten Situationen, mit denen er bei der Planung konfrontiert wird, Bedeutungen zuweist. So stellt er beispielsweise heraus, dass die Bearbeitung des Projekts für ihn eine besondere „Herausforderung “ dargestellt habe, weil es darum ging, ein Unternehmen aufzubauen. Dies sei „natürlich eine Perspektive, die man als Architekt nur im eigenen Laden vielleicht durchlebt“. Auch die Zusammenarbeit mit einem Medienunternehmen sei für ihn sehr spannend gewesen. Er habe dabei viele neue Dinge kennen gelernt, ja „die ganze Medienwelt“ habe sich ihm dabei „erst so richtig erschlossen“. Darüber hinaus sei die Tatsache, dass es sich nicht um eine Bauaufgabe handle, die irgendwann abgeschlossen ist, und dass es zusätzlich auch um den Aufbau des operativen Geschäfts ging, Bestandteil dieser Herausforderung gewesen. Dies seien Aufgaben, die man „ ja als Planer normalerweise nicht kennt“.

Erste Planungsschritte: Infrastruktur, Finanzierungskonzept und Ideenfindung In der Eingangserzählung des Interviews führt Herr Rudolf aus, wie die Entstehung des Parks verlaufen ist und welche Dinge hinsichtlich seiner „Machart “ wichtig waren. Zunächst habe da die Frage gestanden: „Was gibt’s schon?“ Man könne nicht, wie es an ihn herangetragen wurde, „was ganz anderes machen als sonst [...], denn das gibt’s einfach nicht“. Herr Rudolf führt in diesem Zusammenhang aus, dass es zunächst nicht darum ging, eine Leitidee für das Projekt zu entwickeln, sondern dass zuerst einmal die „Rahmenbedingungen“ betrachtet werden mussten. Dabei ging es um die Klärung der Fragen nach dem Standort für den Park, dem Grundstückserwerb, der Erschließung des Gebietes (Anlegen von Infrastruktur) sowie der Entwicklung eines Finanzierungskonzeptes. Herr Rudolf stellt heraus, dass das „Niveau des Investments [...] von Anfang an [...] [eine] ganz entscheidende Frage“ für ihn war. Es sei von Anfang an wichtig gewesen, „die Wirtschaftlichkeit zu berücksichtigen, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der investierten Summe“ und „der Attraktivität, die dadurch entstehen kann“, herzustellen. In diesem Zusammenhang spricht Herr Rudolf einen Aspekt an, den er im Interview immer wieder betont. Es ist die Unterscheidung zwischen „Hardware“ und „Software“, die hinsichtlich der Parkentwicklung eine entscheidende Rolle spiele. So sei

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es beispielsweise für das „Erlebnis“ ungemein wichtig, wie sich die Menschen fühlen, wenn sie BELANTIS von der Autobahn aus ansteuern. „Also was ist das Erlebnis? Ist es angenehm dorthin zu kommen, muss ich mich durch 47 Umleitungen kämpfen, muss ich durch Ortschaften fahren und und und? Dann das Produkt als solches vor Ort. Genauso wichtig wie der Service. Wie ist der Park aufgebaut, von seiner Mitarbeiterstruktur? [...].“ Neben der Infrastruktur, sind es demnach Aspekte wie Service, Mitarbeiterstruktur etc., welche als „Hardware“ einen entscheidenden Einfluss auf die Erlebnisqualität eines solchen Parks haben. Für die eigentliche Ausgestaltung des Parks verwendet Herr Rudolf dann den Begriff „Software“. In den ersten Ausführungen beschreibt er dann die Voraussetzungen, unter denen das Projekt BELANTIS entstanden ist. Hierbei erläutert Herr Rudolf, wie er zur konkreten Leitidee für den Park gelangt ist. Er bringt zum Ausdruck, dass das Projekt von Anfang an mit einer „Katastrophe an Voraussetzungen“ umgehen musste. Denn die Bergbau-Folgesituation an dem Ort, wo BELANTIS entstehen sollte, sei eine „Wüste“ gewesen, die in keiner Weise eine „Erholungsqualität“ bzw. „Atmosphäre“ gehabt hätte. Es gab daher auch keine Bezüge, an denen man die Entwicklung des Parks hätte orientieren können. Jedoch hätten diese eher ungünstigen Voraussetzungen auch eine Chance dargestellt. Sie veranlassten ihn dazu, ein übergeordnetes Konzept für den Park zu entwickeln. Die Struktur des Parks sollte einer „übergeordneten Geschichte“ folgen, „um dem Ganzen auch einen zusätzlichen Sinn zu geben“. So wurde die Idee entwickelt, dem Park „die Form einer kleinen Weltkarte“ zu geben.8 Es handelt sich dabei um verschiedene Themenorte, die bestimmte Regionen der Welt durch für sie typische Bauwerke und Landschaftsbilder repräsentieren. Durch diese Grundkonzeption könne der Park ohne „Willkürlichkeit“ in der Zukunft wachsen. Die einzelnen Themenbereiche gliedern sich somit in eine übergeordnete Sinnstruktur ein und können auf diese Weise ein Gestaltganzes bilden. Der erfinderische Umgang mit den schlechten Ausgangsvoraussetzungen weist wieder auf die zuvor angesprochene Art des Umgangs mit dem Projekt durch Herrn Rudolf hin. Er sucht in bestimmten Problemstellungen Herausforderungen und gibt den Dingen auf diese Weise eine Bedeutung. Hinsichtlich der Ausgestaltung der Themenbereiche erläutert Herr Rudolf, dass zunächst einmal den einzelnen Bereichen des Parks eine Fahranlage als Hauptattraktion zugeordnet wurde und dass es wichtig war, in die verschiedenen Orte Gastronomie zu integrieren. Als einen ganz wesentlichen Aspekt der Planung stellt er in diesem Zusammenhang die Versorgung des Parks mit Toilettenanlagen heraus. Denn entscheidend sei, die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen, und dabei spiele das Thema Funktion eine entscheidende 8 | Vgl. zu der erfolgten Umsetzung dieser Idee die Ausführungen im Aufsatz von Ute Keßler „Landschaftskritik BELANTIS“ in diesem Band.

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Rolle. Hier wird Herrn Rudolfs funktionaler Anspruch an die Architektur deutlich, der, auch im Bezug auf sein berufliches Selbstverständnis, im Verlauf des Interviews immer wieder Erwähnung finden wird. „Dann war ein ganz klarer Anspruch von Anfang an das Thema Toilettenanlagen. Und das ist das wichtigste, was es gibt. Es ist nicht nur das Thema Gestaltung, was gefordert war, es war das Thema Funktion. Natürlich, es waren die Bedürfnisse der Menschen, mit denen ich mich ganz intensiv auseinandersetzen musste. Das Wichtigste bei unsrer Arbeitsakte ist der Mensch. Wir planen von den Nutzern her.“

Das in dieser Sequenz von Herrn Rudolf angesprochene Thema einer auf den Menschen bezogenen Planung mit einer starken Betonung des Funktionalen durchläuft das Interview wie ein roter Faden. „Die Architektur ist“, wie er später sagen wird, „eine dienende“. Wichtig sei, dass man als Architekt, „von sich selbst weg kommt“. Denn der Planer sei ja letztlich nicht derjenige, der „diese Anlagen“ im Park nutzt. Im Bezug auf sein Interesse am Menschen erläutert Herr Rudolf, dass er zur Zeit der Planung von BELANTIS „sehr viel Straßenbahn gefahren“ sei, wobei er den Leuten „zugehört“ habe, „über was sie sich so unterhalten“ und was „ihre Themen“ sind. Bei dieser, man könnte sagen, Feldforschung sei er auf Themen gestoßen, die er dann im Park umzusetzen versucht habe. Bei seinen Alltagsbeobachtungen sei ihm beispielsweise aufgefallen, dass die Menschen offensichtlich eine besondere Sehnsucht nach Ruhe und Entspannung haben. Diese Beobachtungen führten dann dazu, den Park mit einer „relativ großen Weitläufigkeit“ zu planen mit „Zwischenräumen, die Luft lassen“. Der Park sei im Grunde eine Mischung aus Dichte und Weite. Die Zukunft sehe er jedoch eher in einer Rückwärtsbewegung hin zu mehr Ruhe. Darüberhinaus orientierte sich die Gestaltung des Parks auch an den demografischen Entwicklungen, z.B. durch eine Ausrichtung auf Familien. Damit im Zusammenhang steht die Auswahl der Fahrgeschäfte. Man habe deshalb keine „Extrem-Fahranlagen“ in den Park aufgenommen, weil diese „nur für eine kleine Zielgruppe [der Jugendlichen] nutzbar“ seien. Eher beiläufig erwähnt er, dass diese Entscheidung ihren Grund auch in der Finanzierung habe, da solche Extremfahrgeschäfte sehr teuer sind. In gewisser Weise wird an dieser Sequenz wieder deutlich, dass Herr Rudolf aus einer bestehenden Problematik eine Chance zu entwickeln weiß. Denn aufgrund der Tatsache, dass Extrem-Fahranlagen im Zusammenhang mit dem möglichen Investment für BELANTIS zu teuer sind, entwickelt der Park eine familienorientierte Ausrichtung und schafft auf diese Weise ein eigenes Profil. Nicht zuletzt scheint sich eine solche Ausrichtung des Parks aber auch besser mit Herrn Rudolfs Selbstverständnis, einer am Menschen orientierten Architektur, in Einklang bringen zu können. Das Interesse an gesellschaftlichen Phänomenen, wie es oben angedeutet wurde, ist ein sehr charakteristisches Moment für das Denken und Arbeiten

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von Herrn Rudolf. Auch dieser Aspekt wird sich im Interview an unterschiedlichen Stellen immer wieder zeigen. Einerseits weist es auf seinen doch sehr weiten Blick hin, den er auf die zu bearbeitende Bauaufgabe wirft. Darüber hinaus zeigt es möglicherweise aber auch, dass es Themenbereiche gibt, die sein Interesse mehr treffen als der Aspekt des Vergnügens. Denn es ist auffällig, wie lange Herr Rudolf immer wieder bei diesen doch eher übergeordneten Themen im Interview verbleibt und BELANTIS thematisch verlässt bzw. nur peripher bespricht.

Eintritt in die Erlebniswelt Gleich nach der Eingangserzählung kommt Herr Rudolf auf das Schloss im Eingangsbereich des Parks zu sprechen. Hier führt er aus, dass es sich dabei um ein „Identifikationsobjekt“ in Form eines multifunktionalen Gebäudes handelt. Es dient einerseits als Eingangsbereich, andererseits kann man dort auch Veranstaltungen, wie z.B. Hochzeiten, abhalten. Ursprünglich sei geplant gewesen, in diesem Bereich auch eine Eventhalle zu errichten. Dies mit dem Ziel, diesen Bereich des Parks ganzjährlich nützen zu können. Damit ist neben der Identifikationsfunkion des Schlosses auch eine wirtschaftliche Funktion angesprochen, welche der Eingangsbereich erfüllen soll. Denn so kann der Park auch Gewinne erzielen, wenn er in der kalten Jahreszeit geschlossen ist. Das Schloss markiert einen „Durchgang“, wie Herr Rudolf es formuliert. Dieser Schwellenbereich nimmt funktional gesehen die Kassen auf, wo der Besucher die Tickets kaufen kann. Gleichsam fungiert er als Übergang in eine neue Welt – die Erlebniswelt, die sich in vielerlei Hinsicht von der Welt jenseits der Parkgrenze unterscheidet. Als sehr wichtig beschreibt Herr Rudolf dabei die Lage des Eingangsbereiches mit dem vorgelagerten Parkplatz zur Autobahn hin. Dabei sei auch die Nähe des Parks zu einer größeren Stadt (Leipzig) sehr wichtig.

Anregung innerer Bilder und Entwerfen über Bilder Schon in diesen ersten Ausführungen von Herrn Rudolf wird deutlich, welche grundlegenden Mittel der Gestaltung er zur Herstellung eines Vergnügungsparks einsetzt und von welchem Erlebnisverständnis er ausgeht. Im Bezug auf die Aneignung des Parks sagt Herr Rudolf, dass es Bilder sind, die bei den Menschen beispielsweise durch Bücher, Filme und Fernsehen abgespeichert sind und die dann beim „Durchleben bestimmter Situationen [...] noch mal angeregt werden“. Wie er schon in der Eingangserzählung berichtet hatte, seien die im Park bei den Besuchern ausgelösten inneren Bildwelten an deren persönliche Erinnerungen geknüpft. Insofern geht Herr Rudolf als Gestalter eines Vergnügungsparks immer auch von den bereits vorhandenen Bildwelten der Menschen aus. Bestimmte Situationen im Park würden diese dann aktivieren.

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Offensichtlich geht Herr Rudolf davon aus, dass es sich bei den inneren Bildern der Menschen um verallgemeinerbare Bilder handelt. Denn ansonsten würden die entsprechenden gefühlsmäßigen Reaktionen, die durch die spezifischen Situationen im Park ausgelöst werden, nicht für eine Vielzahl von Menschen vorherzusehen sein. So muss der Planer also schon eine Ahnung davon haben, dass beispielsweise die Konfrontation mit einem Schloss oder einer Burg9 im Park bestimmte Gefühle wachzurufen vermag. Im Zusammenhang mit der Beschreibung der im Park eingesetzten Bilder verwendet Herr Rudolf dann den Begriff Klischee. Klischees sind für ihn Bilder und Vorstellungen, die der Gast schon kennt (z.B. von Reisen) und an die er sich erinnert. In der Begegnung mit bestimmten Situationen im Park würden diese Bilder und damit verbundene Emotionen wieder wachgerufen. „Diese berühmten Klischees, die man dann hat, die man dann sofort mit einem bestimmten Gefühl verbindet.“ Dazu seien im Bezug auf die Bauaufgabe „rückwärts“ orientierte Gestaltbilder, also historische Referenzen, wie z.B. die mittelalterlich anmutende Burg, am besten geeignet. Denn diese kennt der Besucher schon. Sie stünden mit Erinnerungen in Verbindung. Erinnerungen werden von Herrn Rudolf als „Bilder im Kopf“ beschrieben. Diese Bilder werden dann durch die Begegnung mit den entsprechenden Situationen und Orten im Park aktiviert. Klischees sind demnach für ihn bereits bekannte Bildvorstellungen bzw. Ausdrucksformen von relativ niedrigem Abstraktionsniveau. Der Park wird von ihm als eine „Landschaft“ verstanden, die nicht zu abstrakt sein sollte. Das Gegenteil zur Abstraktion ist nach diesem Verständnis die Natur. So sagt er: „Deswegen war es auch relativ schnell klar für mich, dass dieser Park keine abstrakte Landschaft sein kann, sondern eine sehr naturnahe (PP), an bekannten Bildern orientierte, zwar nichts Kopiertes, aber an bekannten Schemen und Ausdrucksformen orientierte Gestaltung. Und da war natürlich das Thema nach rückwärts immer einfacher, weil das hatte man schon. [...] das weiß man schon entweder aus einem eigenen Erlebnis oder über Medien, über Fernsehen, über Kino.“

Schließlich sind es nicht nur die inneren Bilder, welche durch die Gestaltung des Parks bei den Besuchern wachgerufen werden. Auch ist die Entwicklung des Parks an die inneren Bildwelten des Entwerfers gebunden. Als ein Beispiel führt Herr Rudolf in diesem Zusammenhang die Pyramide des Parks an. Noch in seinem Studium hatte er Reisen nach Ägypten unternommen, wo er aufgrund eines Forschungsvorhabens an Grabungen teilnahm. Herr Rudolf betont, dass er einen sehr großen Respekt vor der ägyptischen Kultur habe und dass ihn die 9 | Schloss und Burg sind für BELANTIS, neben einer Pyramide, besonders einprägsame Orte. Diese Orte liegen jeweils in einem größeren Themenbereich des Parks. Sie seien hier als gebaute Bilder verstanden.

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Geheimnisse um den Pyramidenbau sehr interessieren. Die damit verknüpften Bilder stünden durchaus in Beziehung zur Entwicklung von BELANTIS. So sei es für ihn insbesondere die Pyramide, die dem Park als Identifikationsobjekt dient und welche er mit seinen Erinnerungen an die Ägyptenaufenthalte in Verbindung bringe. „Wahnsinnig interessant das Thema Ägypten, Pyramide, die ganzen Geheimnisse um den Pyramidenbau. Da kommen schon Bilder. Ich denk mal das sind auch die Bilder, die ich eben beschrieben habe, die halt auch vielleicht nicht immer durch eigenes Erleben, aber durch Bücher, durch Fernsehen, durch Film, durch Kino bei den Menschen einfach im Hirn gespeichert sind. Und durchaus dann bei (PP) bei einem Durchleben dieser Situation hier und da durchaus noch mal angeregt werden.“

So kommt Herr Rudolf auch hier wieder auf die Bilder der Besucher zu sprechen. In diesem Zusammenhang fällt der Begriff „Erleben“. Die Bilder der Menschen entstehen demnach durch Erlebnismomente. Dazu, so Herr Rudolf, gehören Bücher und Filme aber auch Reisen. Er selbst habe sich im Bezug auf die Parkgestaltung auch von Bildern aus Filmen inspirieren lassen. Dabei nennt er als Referenz die Filme „Prinz Eisenherz“ und „Der schwarze Ritter“. Anhand dieser Vorlagen könne man „sehr schön Bilder studieren“.

Erzählen von Geschichten Hinsichtlich der gestalterischen Mittel und Arbeitstechniken, die bei der Entwicklung von BELANTIS eine besondere Rolle spielen, stellt auch das Erzählen von Geschichten für Herrn Rudolf ein entscheidendes Gestaltmittel dar. Hierbei sind es verschiedene Arten des Geschichtenerzählens, die er im Interview anspricht. Neben dem schon zuvor beschriebenen Aspekt, der Entwicklung des Parks eine übergeordnete Geschichte zu Grunde zu legen (der Park als „kleine Weltkarte“ ), ist auch das Erzählen von Geschichten durch Animateure für das Parkerlebnis der Besucher wichtig. Damit verbunden ist die Animation der Gäste „zum Mitmachen“. In diesem Zusammenhang spricht Herr Rudolf von „Situationen“, in die sich die Menschen, im speziellen Kinder, hinein begeben können. Dieses, man könnte sagen, Abtauchen in eine andere Welt sei, so Herr Rudolf, für Erwachsene viel schwieriger als für Kinder. Denn Kinder haben, im Gegensatz zu den Erwachsenen, eine noch „unverbrauchte Phantasie“. Die Situation entwickelt sich dabei einerseits aus bestimmten Aktivitäten, zu denen die Menschen animiert werden, andererseits aber auch aus einem thematisch passenden „architektonischen“ Rahmen. So dient beispielsweise das Piratenschiff im Park, vergleichbar einer Bühne, als rahmen-bildendes Element, wo die Kinder durch Animateure aufgefordert werden, etwas „machen zu müssen“. Hinsichtlich der Gestaltung eines Vergnügungsparks ist somit nicht nur der

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baulich gestaltete Rahmen bedeutsam, sondern insbesondere auch die in diesem stattfindenden Aktionen, die wiederum Teil der spezifischen Themenorte sind. Auf diese Weise kommen verschiedene Arten des Geschichten-Erzählens im Bezug auf die Erlebnis-Gestaltung im Park zusammen.

Einsatz von Kulissen Bei der Entwicklung eines Vergnügungsparks ist schließlich, wie Herr Rudolf sagt, der Einsatz von Kulissen ein sehr wichtiges gestalterisches Mittel. An einer Stelle des Parks, dem mittelalterlichen Dorf, sind die Hinterkonstruktionen der Kulissenwände für den Besucher sichtbar, da ihre Rückseiten nicht vollständig kaschiert sind. Herr Rudolf bringt zum Ausdruck, dass ihn dies stört. Zugleich betont er aber auch, dass diese Problemstellen dem Gast gar nicht als solche auffallen. Dies hätten Besucherbefragungen gezeigt. „Und das ist jetzt ein Provisorium, was mir auffällt, was mich natürlich stört. [...] Ja, das stört mich! Ich hätte es gern geschlossen gehabt. Aber ich sage auch da, wenn es den Gast nicht stört, ich bin nicht wichtig . Wenn ich dort hingehe, gucke ich halt weg. [...] Ja oder wie man selbst auch von sich aus immer denkt, ja, und das (P) sofort überträgt auf alle anderen, man hat eine Eigenwahrnehmung, die muss nicht unbedingt mit den anderen übereinstimmen. Jeder hat seine eigene Welt, ja“.

So stört es Herrn Rudolf zwar, dass die Kulissen in diesem Themenbereich des Parks nicht perfekt ausgeführt sind. Das Kulissenhafte selbst ist jedoch offenbar im Zusammenhang mit dieser Bauaufgabe kein Problem für ihn. Man könnte sagen, dass es ihm in diesem Bereich des Parks nicht möglich war, die Ausgestaltung nach den bestehenden Regeln der Kunst der Erlebnisparkgestaltung bzw. nach seinem Perfektionsanspruch als Architekt ausführen zu können. Es scheint, dass Herr Rudolf diese Problematik dadurch ein Stück weit für sich aufzulösen sucht, indem er im Interview an dieser Stelle eine ethische Aussage trifft. So sagt er: „Ich bin nicht wichtig“. Damit stellt er die Wichtigkeit des Nutzers heraus und verweist gleichsam auf seine grundsätzliche Haltung zur Architektur, nach der sich das Architekten-Ego zurücknehmen sollte. Im weiteren Verlauf stellt Herr Rudolf in diesem Zusammenhang heraus, dass es sich im mittelalterlichen Dörfchen des Parks nicht um „Kulissen im klassischen Theaterbau-Sinne“ handelt, sondern dass dort „alles massiv“ ist. Dort seien die Dinge „wirklich gemauert“. Das „Materialhafte“ sei an diesem Ort wichtig. Man könne die Dinge dort „angreifen“. Es sei halt „nichts, was man wegpusten kann“. Denn zur Ausgestaltung dieses Themenbereichs seien „alte Holzbalken“ und „Ziegel aus Abrissgebäuden“ verwendet worden. „So wäre wahrscheinlich auch im damaligen Mittelalter so ein Markt entstanden“, sagt Herr Rudolf. Als er dann nochmals von mir auf die im mittelalterlichen Dörfchen eingesetzten Kulissen angespro-

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chen wird, argumentiert er schließlich wirtschaftlich: „Ja, gut, das ist natürlich immer eine Frage auch der Mittel und der Kosten.“ Interessant scheint in diesem Zusammenhang auch die Passage, in der er über das Abdruckverfahren der Faserzement-Verblendwände10 der Pyramide und der Burg spricht. Hier betont er, dass man eine echte Bruchsteinwand als Vorlage gemauert habe, um die Abgüsse der Faserzementplatten herstellen zu können. „Ja, ja. Auch hier das ist also eine gemauerte Wand, ein Segment (P), was dann abgegossen wurde. (P) Das ist wirklich schon Bruchstein-Mauerwerk.“ Er will den Blick hier offensichtlich weniger auf die produzierten Verblendelemente werfen, sondern stellt deren Herstellungsverfahren in den Vordergrund. So sagt er: „Auch das war ein Thema, das wir entwickelt haben“. Herr Rudolf scheint stolz auf diese Erfindung zu sein. Auf die Frage, ob sich bei der Pyramide eine Stahlkonstruktion hinter der äußeren Faserzementverkleidung befindet, antwortet er mit: „Nee, ja da ist eine Stahlkonstruktion drin.”. In diesem „Nee, ja“ scheint sich zum Ausdruck zu bringen, dass Herrn Rudolf, vor dem Hintergrund seines Selbstverständnisses als Architekt, vielleicht nicht ganz wohl mit diesen Blendwerken ist. Wenngleich er sie doch für diese Bauaufgabe akzeptiert. Zusammenfassend scheint es für Herrn Rudolf sehr bedeutsam zu sein, dass die Dinge im Park, wo es nur möglich ist, im Bezug auf ihre Herstellungsart und Bauweise „echt“ sind. Hierbei fokussiert er ganz besonders auf den Aspekt der Materialgerechtigkeit und stellt die Machart bzw. die Produktionstechniken in den Vordergrund der Betrachtung. Dies deutet auf eine von Grund auf architekturbezogene Haltung im klassischen Sinne hin und unterstreicht sein Selbstverständnis als Architekt, vor dessen Hintergrund er den Park, mit den dafür notwendigen Kompromissen, entwickelt hat.

Architektur oder Bühnenbild? Auf die Frage, ob es für ihn als Architekt ein Problem sei Kulissen in einem Vergnügungspark zu bauen, gibt er im weiteren Verlauf des Interviews zu verstehen, dass diese Art der Kulissen nicht mit einem klassischen Bühnenbild zu vergleichen sind. Denn der Mensch sei bei einem Vergnügungspark Teil der räumlichen „Szenerie“ und nicht passiver Beobachter. Er könne, anders als beim Bühnenbild, an die Dinge herantreten. „Ja. (P) Ich meine, die vierte Dimension ist mit drin. Sie können es begehen, es ist bespielt, ist lebendig. Der Nutzer sitzt also nicht in seinem Sessel und guckt 10 | Für verschiedene Bauten im Park wurden Faserzement-Platten eingesetzt. Diese haben den Zweck historisches Mauerwerk, z.B. dasjenige einer Burg, zu imitieren. Zur Herstellung dieser Platten wurde ein spezielles Abdruck- und Abgussverfahren entwickelt.

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J ÖRG S CHRÖDER irgendeiner Szenerie zu, sondern er bewegt sich dort drin. Er kann anfassen. Er kann anklopfen. Bei einem Bühnenbild sitze ich als Gast immer in einer gewissen Distanz. (P) Wie gesagt, derjenige, der das nutzt, greift alles an, fasst an, er sieht es, er kann es riechen. Die Illusion (PP) hört da auf, wo ich wirklich ran treten kann.“

Da also, wo der Mensch wirklich an die Bauten im Park herantreten kann, höre die „Illusion“ auf. So hat der Aspekt der Illusion für ihn etwas mit Distanz des Menschen zu dem, wie auch immer, gebauten Raum zu tun. Folgt man diesem Gedanken, dann sind auch die Blendwände, wie sie beispielsweise bei der Burg oder der Pyramide verbaut wurden, keine Illusion. Denn der Mensch kann sie anfassen und sich innerhalb ihrer Grenzen bewegen. Neben dem oben angesprochenen Aspekt der Bilder als gestalterisches Mittel und der damit verbundenen Art der Wahrnehmung spricht Herr Rudolf im Bezug auf die Raumentwicklung des Parks schließlich von einer „4-D-Inszenierung“. Die vierte Dimension des Raumes bildet nach diesem Verständnis der Mensch. Demnach scheint sich die Entwicklung des Parks, wie Herr Rudolf sie beschreibt, nicht allein auf das Klischee zu beschränken, sondern auch Momente der Raumerfahrung zu integrieren, die sich durch die Bewegung des Menschen im Park einstellen. Interessanter Weise spricht er in diesem Zusammenhang von „Film“: „Ich sage immer: ein Freizeitpark ist eine 4-D-Inszenierung, ja. Also Kino geht bis 3-D und hier ist die vierte Dimension noch drin, man ist selbst mit, (P) ich bin selbst mit im Film [...].“ Nach diesem Verständnis kann man sagen, dass ein Vergnügungspark wie BELANTIS zwischen Abbild, im Sinne von Klischees (z.B. in Form von Kulissen), und konkreten raumbildenden Situationen, in denen der Mensch sich bewegt, changiert. Verbunden mit diesem doch nicht ganz eindeutigen Raumcharakter des Parks scheint auch eine gewisse Uneindeutigkeit von Wirklichkeit und Fiktion zu bestehen. So stellt sich immer wieder auch die Frage nach der Echtheit der dort installierten Bauten. Möglicherweise ist es genau diese Unschärfe, die den Reiz eines Vergnügungsparks ausmacht. Denn die Besucher wissen auf einer rationalen Ebene durchaus vom Scheincharakter, den die Dinge dort haben. Gleichsam entwickeln sie aber auch Gefallen an der Benutzung dieser Scheinwelt. Bei aller Kulissenhaftigkeit des Parks ist es für Herrn Rudolf wichtig auf die Echtheit der dort verwendeten Bauteile, im Sinne von Materialgerechtigkeit, hinzuweisen. Dies könnte die Funktion haben, seine eigentliche Berufung als Architekt herausstellen zu wollen. So sehr die Bauaufgabe nach Kulissen verlangt, so bearbeitet Herr Rudolf sie doch da, wo es ihm möglich ist, unter den Anforderungen, die sein Berufsethos von ihm abzuverlangen scheint. In diesem Zusammenhang sagt er: „Das sind halt wirklich keine Kulissen im klassischen Theaterbau-Sinne, sondern alles massiv. Ist also wirklich gemauert, es ist Putz, es ist Holz, es sind Ziegel. [...] Das war ganz wichtig.“

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Schließlich gibt Herr Rudolf auf die Frage, ob es sich bei einem Vergnügungspark um Architektur handelt, etwas uneindeutig zu verstehen, dass die Vergnügungsarchitektur für ihn ein „Gestaltvorgang“ und, wie er sagt, „auch Architektur“ ist. Nur sehr zögerlich kann er sich hier offensichtlich dazu durchringen die Gestalt des Parks als Architektur zu bezeichnen. So scheint sich an dieser Stelle des Interviews latent ein innerer Konflikt anzudeuten, den Herr Rudolf, vor dem Hintergrund seines beruflichen Selbstverständnisses als praktizierender Architekt, ansatzweise mit der Bauaufgabe haben könnte. Gleichsam dokumentiert diese Passage das Zwitterwesen, welches Vergnügungsparks offensichtlich haben. Denn solche Parks charakterisiert eine Mischform aus Bauten, wie man sie im Bereich der herkömmlichen Architektur findet, und solchen, die sich durch Kulissen und Verblendwände darstellen. Bauvorhaben jenseits der Vergnügungsarchitektur bezeichnet Herr Rudolf als „normale Bauvorhaben“. Auch durch diese Bezeichnung deutet sich an, dass im Bereich der Vergnügungsparks ein vom Normalen doch eher abweichender Umgang mit Architektur zu finden ist. Doch sowohl bei der Vergnügungsarchitektur und den dort verwendeten Kulissen und Verblendbauten wie auch bei der herkömmlichen Architektur ist es das gestalterische Detail, welches Herr Rudolf, neben dem Aspekt der Funktion, als besonders wichtig ansieht. Denn das Detail nehme einen sehr wichtigen Einfluss auf die Wirkung des Gebauten. Die Dinge müssen „passen“. Das passende Zusammenspiel der Details stellt für Herrn Rudolf demnach ein Thema dar, welches die Brücke zur Architektur jenseits der Vergnügungsparks schlägt. Darauf soll weiter unten genauer eingegangen werden.

Ganzheitlicher Gestaltansatz – Orientierung am Menschen Als besonders wichtiges gestalterisches Mittel für den Park hebt Herr Rudolf schließlich das Element Wasser hervor. Wasser wird von ihm „als Lebens- und Faszinationsträger“ beschrieben. Herr Rudolf stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass es für ihn als Architekt wichtig ist, „mit den natürlichen Kräften zu arbeiten, die uns zur Verfügung stehen. [...] die brauchen wir nur abzurufen, die sind ja da. [...] Deswegen haben wir immer gesagt: ganzheitlich, komplex. Also es ist nicht nur die Oberfläche der Kulisse.“ Für ihn als Architekt sei es wichtig, wie er an anderer Stelle des Interviews sagt, eine Architektur zu entwickeln, die „das Leben im Fluss“ hält. Architekten würden zwar sehr häufig „planabstrakt“ entwerfen, jedoch würde der alltägliche Gebrauch der Architektur durch die Menschen zeigen, dass die Planung nicht nah genug am Leben der Menschen ist. Herr Rudolf führt hier die selbstorganisatorischen Prinzipien von Trampelpfaden an, um diese Problematik anschaulich zu machen.

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J ÖRG S CHRÖDER „Zum Beispiel, ich plane eine Außenanlage und plötzlich sehe ich nach drei Wochen die Trampelpfade, wo ich dann im Vorfeld vielleicht planabstrakt bestimmte Graphiken interpretiere. Aber die Menschen zeigen mir dann nachher so dramatisch, wo sie eigentlich gehen wollen. Komischerweise haben wir dort keine Trampelpfade.“

Auf die Frage, worauf er es zurückführt, dass es im Park keine Trampelpfade gibt, antwortet Herr Rudolf wie folgt: „Ich denke mal, weil wir ziemlich nah am Leben sind, da draußen ziemlich nah an der natürlichen Bewegung, die man einfach (PP) unbewusst oft ja macht. Wenn Sie sich die Trampelpfade angucken, die haben oft einen Bogen, ganz komischer Weise einen Bogen. Also das sind Kräfte, die uns einfach steuern.“ Indem Herr Rudolf hier selbstorganisatorische Prozesse als Analogie für die Notwendigkeit einer am Menschen orientierten Architektur anspricht, führt er erneut eine Metaebene ein. Es seien die natürlichen Kräfte, die den Menschen steuern und an denen sich Architekten orientieren sollten. Unsere Gesellschaft, so z.B. das Bildungssystem, würde jedoch nicht mehr dazu beitragen, dem Menschen diese Zusammenhänge nahe zu bringen. Auch die Architektur habe kein wirkliches Bewusstsein mehr für diese natürlichen Zusammenhänge. Daher sei es eine Aufgabe der Architektur, und durchaus auch eines Vergnügungsparks, diese Zusammenhänge wieder erfahrbar zu machen. Indem er betont, dass ein ganzheitliches, am Menschen orientiertes Verständnis von Architektur auch bei der Bearbeitung eines Vergnügungsparks wichtig und durchführbar ist, setzt er dem möglichen Vorurteil der Banalität der Bauaufgabe ein Gewicht entgegen. Denn er zeigt auf diese Weise, dass man durch die Entwicklung eines Vergnügungsparks durchaus auch einen humanen, ökologischen und damit verbunden ethischen Beitrag leisten kann. Dadurch, so könnte man interpretieren, hebt er sich als Architekt ein Stück weit von einer minderwertigen Position ab, die man ihm im Bezug auf die Arbeit an der Vergnügungsarchitektur zuweisen könnte. Denn das Herstellen von Vergnügungsarchitektur besitzt, wie er selbst zum Ausdruck bringt, in Fachkreisen nicht das beste Ansehen.

4. D IE A RBEITSWEISE VON H ERRN R UDOLF : S CRIBBELN , M ODELLBAUEN , P ROJEK TKOORDINATION Im Zusammenhang mit der Art und Weise, wie Herr Rudolf die Entwicklung eines Vergnügungsparks beschreibt, steht auch seine Arbeitsweise. An verschiedenen Stellen des Interviews beschreibt er, wie er persönlich an das Thema herangegangen ist und welche „Techniken“ er eingesetzt hat, dieses zu bearbeiten. Er selbst habe primär entwerferisch- planerisch sowie koordinierend am Projekt gearbeitet. Bei der Erarbeitung seien „kilometerweit“ Skizzen entstanden. Geknüpft sei dies an eine spezielle Art des Zeichnens, die er „scribbeln“ nennt. Auch während des Interviews erläutert Herr Rudolf verschiedene Dinge, indem

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er dazu zeichnet. Diese Art des Zeichnens stellt somit für ihn, neben der Fixierung von Ideen, eine Kommunikationsform dar, mit der er sich und seine Ideen mitzuteilen weiß. Dabei scheint die Geschwindigkeit der Ideenübertragung eine besondere Bedeutung für ihn zu besitzen. Das Zeichnen scheint einerseits Ausdrucksform, andererseits aber auch ein schneller Ideengenerator zu sein. Hier zeigt sich ohne Zweifel Herr Rudolfs kreative Seite, wie auch seine Art, sich und seine Ideen darzustellen, auf besonders anschauliche Weise. In diesem Zusammenhang sagt er: „Scribbeln, mit dem Stift und mit Papier. Vom Kopf über den Arm, sagen wir mal, das ist mein kürzester Weg, Ideen zu fixieren. Ob das jetzt Schrift ist, oder ob das eine Zeichnung ist. Da ist nun mal eine Zeichnung immer am konkretesten, weil ein Strich ist immer ein Strich. Und das sind eigentlich die Grundgedanken (P), das Konzept, die sind alle auf dem Transparentpapier entstanden, kilometerweit.“

Insgesamt beschreibt er den Entwurfsprozess als einen lustvollen und zugleich schweißtreibenden Vorgang. Er bringt zum Ausdruck, dass einerseits das „Wissen“ über bestimmte Aspekte des Entwerfens eine Rolle spielt, andererseits der Prozess der Umsetzung ein rein „intuitiver, schöpferischer“ Vorgang ist. Dies sei ein sehr „komplexer Vorgang“, für den es im Grunde keine „Anleitung“ gebe. Er beschreibt auch, wie man sich als Entwerfer in das zu Entwerfende einfühlen muss. Alle Sinne müssen offensichtlich an diesem schöpferischen Prozess beteiligt sein. Im Zusammenhang mit der Einfühlung steht die Antizipation. Herr Rudolf beschreibt den Entwurfsprozess wie folgt: „Aber der Prozess, das dann umzusetzen, das ist ein rein intuitiver-schöpferischer Prozess [...] das ist dann diese berühmte Mischung aus Wissen, Kreation, Anfangen zu zeichnen, plötzlich kommt was, plötzlich kommt der Gedanke, plötzlich geht das Netz immer enger [...] kommen dann die eigenen Bilder dazu, das ist ein sehr komplexer Vorgang, das kann man jetzt auch nicht mit einer Anleitung irgendwie. [...] Immer wieder durch den Park gehen, immer wieder die Augen zu machen. [...] Was ist der nächste Eindruck? Oh nein, das kann doch nicht sein. [...] Selber gefühlt, einfach, einfach das, (P) was drei Jahre später Realität ist, durchleben, wie wenn es schon da wäre. Das ist eigentlich so unser Anspruch, mein Anspruch an meine Arbeit. [...] Ist zwar oft schweißtreibend, bin ich fertig am Abend, wenn man so arbeitet in dieser Vorstellungskraft. Kraft bedeutet ja wieder Energie, da ist man dann schon wirklich fertig und kaputt.“

Neben dem Scribbeln wird schließlich das Modellbauen von Herrn Rudolf als eine wichtige Arbeitstechnik des Entwerfens angesprochen. Der Entwurfsprozess wird durch Modellstudien begleitet. Modelle zu bauen sei eine sehr geeignete Vorgehensweise, da man auf diese Weise komplexe räumliche Situationen

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sehr schnell klären könne. So sagt er: „[...] war’s für uns von Anfang an klar, mit Modellen zu arbeiten. Weil das geht am schnellsten [...].“ Herr Rudolf spricht an, dass ein Bildhauer eingestellt wurde, der Arbeitsmodelle entwickelt habe, an denen die Gestalt aber auch bestimmte Prozesse und Abläufe des Parks, wie z.B. das Anstellen der Besucher vor den Fahrgeschäften, studiert und erarbeitet wurden. Die Abläufe sollten optimiert werden, damit der Gast sich zufrieden fühlen kann. Hier betont Herr Rudolf erneut den Aspekt der „Funktionalität“, der mit einer Bedürfnisbefriedigung der Menschen einhergehe. So zeigt sich an dieser Stelle des Interviews wieder, dass Herr Rudolf im Zusammenhang mit dem Kreativ-Schöpferischen, auch funktionale und pragmatische Gesichtspunkte hinsichtlich der Parkentwicklung berücksichtigt. Jedoch betont er in dieser Sequenz den Aspekt des Spielerischen. In diesem Zusammenhang sagt er, dass Modelle „grad für Kinder immer wieder faszinierend“ sind. Möglicherweise weist diese Bemerkung auch auf sein eigenes Bedürfnis hin, sich beim Entwerfen spielerisch auszudrücken zu können. Denn beim Entwerfen eines Vergnügungsparks dürfte der Aspekt des Spielerischen und damit des Kindseindürfens eine besondere Bedeutung haben. So sagt er: „Aber wie gesagt, man muss sich dann auch gehen lassen, man muss dann auch Kind sein“.11 Herr Rudolf spricht sogar von einem „Spieltrieb“, der notwendig sei, um einen Vergnügungspark zu entwickeln. „Man muss ja dann auch Menschen finden, die eine ähnliche Sichtweise entwickeln und im Prinzip auch diesen Spieltrieb mitbringen, ja. also das geht gar nicht anders.“ Auch an anderen Stellen des Interviews weist er auf das Thema des Kindseins beim Entwickeln von Architektur hin. Hierbei spricht er davon, dass der Architektenalltag und die Architekturbranche doch von sehr vielen „Abstraktheiten“ geprägt sind, die nur wenig Raum für das Entfalten der noch „unverbrauchten Phantasie“, wie sie bei Kindern anzutreffen ist, lasse (vgl. dazu das Kapitel: „Erzählen von Geschichten“). Der Architekturalltag scheint Herrn Rudolf demnach in seinem schöpferischen Antrieb all zu oft einzuschränken. Die Arbeit an einem Vergnügungspark lässt ihm hingegen, so ist anzunehmen, mehr Raum für das Spielerische und macht sie daher für ihn vermutlich attraktiv. Neben dem Kreativpotential, das Herr Rudolf ohne Zweifel in sich trägt und welches er für die gestalterische Entwicklung des Parks einsetzt sowie seinem offensichtlichen Bedürfnis nach Ausdrucksmöglichkeiten der Kreativität, beschreibt er seine Arbeit an BELANTIS als eine projekt-koordinierende Tätigkeit. „Aber die, sagen wir mal, die Federführung, die Korrektur, die Abstimmung, [...] das lief alles dann mit über meinen Tisch“. Herr Rudolf hatte schon zuvor dargestellt, dass er die bauausführenden Planungsaufgaben des Projektes nicht selber bearbeitet habe, sondern dass diese an externe Architekten und Ingenieurbüros abgegeben wurden. Aber die „Federführung“ habe er selber behalten. So kann 11 | Auffällig ist, dass Herr Rudolf das Wort Kind im gesamten Interview sehr häufig verwendet.

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man sagen, dass sich Herr Rudolf gewissermaßen als Regisseur versteht. Auf seinem Schreibtisch liefen die Fäden zusammen. Betrachtet man Herrn Rudolfs beruflichen Werdegang, dann passt die Rolle des leitenden Architekten durchaus in diesen Zusammenhang (vgl. dazu Abschnitt 2: Die Biografie von Herrn Rudolf).

5. D ER A RCHITEK TURBEGRIFF VON H ERRN R UDOLF Im Zentrum des Architekturverständnisses von Herrn Rudolf steht die Auffassung, dass Architektur eine „Dienstleistung“ ist. Dies drückt er im Interview wie folgt aus: „Die Architektur ist eine dienende, in meiner Auffassung eine dienende, die kann etwas untersetzen, unterstützen, optimieren, Raum, Gefühle generieren, Schutz bieten vor Kälte. Na die Elemente, die (P) seit Urzeiten die gleichen sind. Und auch die gleiche Wirkung auf den Menschen ausüben“.

Wenngleich Herr Rudolf seinen Architekturbegriff grundsätzlich sehr stark an der Funktionalität des Gebauten orientiert, so werden im Bezug auf die Aufgabe, welche der Architektur zu komme, hier auch erweiterte Themen angesprochen. Denn Herr Rudolf spricht, neben Aspekten wie der Schutzfunktion der Architektur, auch von Gefühlen, und weist damit auf die emotionale Wirkfunktion der Architektur hin. Durch die Betonung dieser Funktionen der Architektur stellt Herr Rudolf im Interview wieder eine Verbindung zu BELANTIS her. Denn dort spielen insbesondere diese emotionalen Faktoren eine ganz besondere Rolle. Dadurch, dass Herr Rudolf die Architektur als Dienstleistung beschreibt, weist er auf ein Ideal hin, welches den Menschen in den Mittelpunkt der Architektur stellt. Indem er dies als Arbeitsmaxime auch für die Arbeit an BELANTIS betont, gibt er der Planungsarbeit und damit verbunden der Bauaufgabe einen besonderen Wert. Sie vermag das Vergnügen zu übersteigen. Insgesamt sei es „das ausgewogene Verhältnis“ aus den drei Komponenten „Funktion“, „Wirtschaftlichkeit“ und „Gestaltung“, welches gute Architektur für ihn ausmache. Diese drei Komponenten bilden in ihrem Zusammenspiel den zentralen Architekturbegriff, wie ihn Herr Rudolf im Interview immer wieder betont. „Wir definieren die Architektur über die drei Komponenten: und das ist die Gestaltung oder die Ästhetik, die Funktion und die Wirtschaftlichkeit. Das sind für uns die drei Ansprüche und wenn die in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, dann können wir zumindest mal für unsere Arbeit sagen, da haben wir eine gute Architektur abgeliefert.“

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In Bezug auf den für ihn so wichtigen Aspekt der Funktionalität geht Herr Rudolf soweit, dass er keinen Unterschied im Bezug auf die Wertigkeit einer Bauaufgabe macht. Es gibt für ihn keine minderwertigen Bauaufgaben. „[...] Funktionalität, ja, ja. Das gehört, wie gesagt, bei der Architektur, auch wenn es Freizeitpark oder [...] Krankenhaus ist, (P) die beiden Themen, die sind [...] untrennbar für mich. Also so verstehe ich Architektur, ansonsten würde ich, wenn ich es jetzt nur über die Gestaltung mache, dann ist es für mich eine Skulptur, ja. Dann hat es halt nur den Anspruch, schön zu sein. Aber Architektur hat nun mal, aus meinem Verständnis heraus, mehrere Aufgaben zu erfüllen.“

Indem Herr Rudolf hier den funktionalen Aspekt der Architektur, unabhängig von der Thematik der Bauaufgabe, so stark betont, stellt er heraus, dass es sich bei einem Vergnügungspark durchaus um eine ernst zu nehmende Bauaufgabe handelt. Denn auch hier müssen die Dinge funktionieren. Für ihn stellt es somit keinen Widerspruch dar, neben herkömmlichen Bauaufgaben, wie z.B. der Planung eines Krankenhauses, auch Vergnügungsarchitektur zu planen und zu realisieren. Denn letztlich sei alle Architektur für den Menschen da. „Es geht letztlich nur um Menschen“ betont er. Es komme aber immer darauf an, das „Bestmögliche“ zu wollen. Als Beispiel führt er ein Projekt aus seinem Büro an: „Wir machen jetzt gerade ein Objekt, das ist ein (P) größeres Einfamilienhaus mit einem Anbau. (P) Da hängen wir uns genauso rein und wollen für den, der dort wohnt, das Bestmögliche wie beim Freizeitpark.“

6. D AS E RLEBNISVERSTÄNDNIS VON H ERRN R UDOLF Erlebnis als Archetypus Schon gleich zu Beginn der Eingangserzählung wirft Herr Rudolf die Frage auf: „Was, was hat überhaupt so ein Park an Aussagekraft, was hat er für einen Erlebniswert?“ Darüber sei er zu der Erkenntnis gekommen: „Eigentlich sind’s die klassischen Themen. Eigentlich sind es die Themen, die schon archaisch fast in unseren Köpfen beherbergt sind.“ Erlebnisse sind demnach an die zeitlosen Bedürfnisse des Menschen gebunden. Diese seien „Abenteuerlust, Spannung, gute Laune, einfach mal einen schönen Tag verbringen. [...] das Empfinden, irgendwo zu sitzen und seinen Magen zu spüren, ja, oder letztendlich auch durch Gerüche oder durch Visualisierung angesprochen zu werden.“ Das sei „überall das Gleiche“. Es seien die Dinge, die man „als Kind gelernt hat“, die einen immer wieder ergreifen würden. Die „Machart“ sei immer die gleiche, die „technischen Möglichkeiten“ jedoch seien es, die sich verändern. Herr

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Rudolf geht demnach von einem, man könnte sagen, „archetypischen“ Erlebnisverständnis („archaisch fast in unseren Köpfen“ ) aus.

„Mechanik“ der Erlebnisgenerierung Die Art und Weise der Gefühls- und damit verbunden der Erlebnisgenerierung geht, so wie sie von Herrn Rudolf beschrieben wird, von einer Art Reiz-Reaktions-Schema aus. Herr Rudolf verwendet in diesem Zusammenhang an einer Stelle des Interviews die Formulierung „Ursache-Wirkungs-Prinzip“: „Thema: wie funktioniert überhaupt unser Körper, unser Organismus, wie reagiert er auf bestimmte Dinge“. Demnach muss man sich als Architekt eines Vergnügungsparks mit der Funktionsweise des Körpers auskennen und Kenntnis von bestimmten Gesetzmäßigkeiten haben, die zu bestimmten emotionalen Wirkungen führen. Herr Rudolf beschreibt in dieser Sequenz, wie man als Planer eines Vergnügungsparks durch spezifische gestalterische Mittel und „Techniken“ den Zugang zur Welt der Gefühle, also zur Empfindung und damit verbunden zum Erlebnis des Gastes herstellen kann. Diesen Vorgang beschreibt er als eine Art synästhetischen Wahrnehmungsvorgang. „[...] was generiere ich, was hab ich für eine für eine Möglichkeit, Menschen zu bewegen? Es geht über die berühmte Stimmung, die Resonanz, die entsteht im Körper, die entsteht über Frequenzen, übers Licht. Das ist eine Möglichkeit über die Augen, dann habe ich den Ton über die Ohren, dann habe ich noch den Geruchs- und den Geschmackssinn, und der Körper fängt an zu schwingen. Ja, man fühlt sich entweder wohl oder fühlt sich komisch.“

Hinsichtlich der Herstellung der Erlebnismomente sei dabei, wie schon zuvor erwähnt, das Detail und das Zusammenspiel der einzelnen Gestaltelemente von besonders großer Bedeutung. Die Dinge müssen zueinander „passen“. „Hier zählt das Gesamterlebnis, auch wenn es ihnen keiner sagen kann, es muss irgendwo alles passen, ja! Also das, was aus dem Lautsprecher kommt in Ägypten, das muss halt der Muezzin sein im Idealfall, und der Lautsprecher sieht halt nicht aus wie ein fertiger Lautsprecher, sondern [...] [wie], diese Tröte, die ja im Minarett hängt, ja.“ Das Gesamterlebnis stellt sich demnach durch das Zusammenwirken der verwendeten gestalterischen Mittel ein und steht in Verbindung mit den Wahrnehmungseindrücken, die bei der Wahrnehmungsverarbeitung im Kopf des Besuchers zusammengesetzt werden. „Ich rede jetzt vom Gast, der also auf den mittelalterlichen Markt geht, dann hat er sofort irgendwelche Erinnerungen, Bilder im Kopf, und setzt sich so die fehlenden Dinge zusammen. Wenn dann noch das, was er riecht, dazu passt, wenn er das noch hört, was auf der Bühne gerade gespielt wird oder aus den Lautsprechern kommt,

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J ÖRG S CHRÖDER dann entsteht vielleicht ein Bild, eine Welt, in die er sich dann für einen Moment auch selbst noch mal mit seiner Fantasie einfühlen kann, ja.“

Erlebnis und Raumaneignung Zu den bereits zuvor angesprochenen Kenntnissen hinsichtlich der Erlebnisgenerierung gehört offensichtlich auch die Kenntnis über bestimmte Aneignungsweisen des gebauten Raumes. So scheint es wichtig zu sein, der räumlichen Ausgestaltung des Parks eine Art Dramaturgie grund zu legen. Herr Rudolf legte, wie schon zu Beginn dargestellt, bei der Gestaltung von BELANTIS insgesamt einen besonderen Wert auf die weniger beschleunigten Raumsequenzen. Dabei spielen die Zwischenräume im Park eine wichtige Rolle. Es sei bei der Entwicklung von BELANTIS wichtig gewesen, zwischen den einzelnen „Erlebniszonen“, womit Herr Rudolf die Themeninseln mit ihren Attraktionen und Fahrgeschäften meint, Pausen anzubieten. In denjenigen Raumzonen, in denen die Menschen „gedanklichen Freiraum“ haben, wo sie „eine Pause“ machen können, wo „Zwischenräume“ sind, „die Luft lassen“, dort haben Erlebnisse offenbar eine andere Qualität als in den beschleunigten Raumzonen. „Die sagen, okay, ich mache das (P), aber dann habe ich auch mal wieder meinen Freiraum und gedanklichen Freiraum, (P) bevor ich mich in das nächste Abenteuer oder Erlebnis stürze und habe mehr Zeit für mich zwischendurch.“ Das Erlebte solle verarbeitet werden können, bevor man zum nächsten Erlebnisort gelangt. Erlebnisse sind in einem Vergnügungspark nach Meinung von Herrn Rudolf im Allgemeinen sehr stark an Abenteuer gebunden und zeichnen sich durch ein bestimmtes Reizangebot sowie durch ein bestimmtes Tempo aus. Damit ist eine zeitliche Dimension des Erlebens und der Erlebnisgenerierung angesprochen. Schließlich spricht Herr Rudolf in diesem Zusammenhang auch von „Naturerlebnis“, womit er wiederum die entschleunigten, landschaftlich gestalteten Räume meint, welche in diesem Sinne auch eine Erlebnisqualität besitzen. „Weil dort ist es sehr schön, dort bin ich aber wirklich (P) bei der Zielgruppe, die dieses Naturerlebnis genießen und ab und zu mal noch eine Attraktion [nutzen].“ Zusammenfassend kann man an dieser Stelle sagen, dass es in BELANTIS neben den beschleunigten „Erlebniszonen“ auch Raum für Entschleunigung gibt, dass demgegenüber die Gestaltung eines Vergnügungsparks im Allgemeinen jedoch mehr Gewicht auf Beschleunigung legt. BELANTIS erhält durch das bewusste Einbeziehen von „langsameren“ Raumzonen eine Doppelgesichtigkeit, welche von den Besuchern auch so erfahren wird.12

12 | Vgl. hierzu den Aufsatz von Sigrid Anna Friedreich „Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein. Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften“ in diesem Band.

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Auch das Moment des Gemeinschaftlichen scheint hinsichtlich des Erlebens eine große Rolle zu spielen. Die Dinge sollen gemeinschaftlich erlebt werden, um zum Erlebnis werden zu können. So sagt Herr Rudolf: „Es gibt viele (P) Großeltern-Enkelkind-Gruppen, die den Park besuchen, was dann aber auch schön ist und auch gewollt ist, dass der Großvater mit seinem Enkel was gemeinsam macht. Nicht dass der Enkel Loopings dreht und der Großvater steht unten und guckt zu, sondern dass die beiden ein gemeinsames Erlebnis haben.“ Dies ist dann sicher auch ein Grund, weshalb der Park auf das Thema Familie setzt. Er wirbt sogar mit dem Slogan: „Gemeinsam auf Reisen zu gehen und miteinander neue Welten zu entdecken, ist für Kinder und Jugendliche ebenso wichtig wie für Erwachsene“. 13 Die Erfahrung eines schönen Tags, so Herr Rudolf, sei schließlich gleichzusetzen mit einem guten Erlebnis. Dies wiederum hänge von den „positiven Schwingungen“ ab, die von einem schönen Erlebnis ausgehen.

7. F A ZIT : U MGANG MIT DER B AUAUFGABE VOR DEM H INTERGRUND SEINES D ENKENS UND BERUFLICHEN S ELBST VERSTÄNDNISSES Im Vordergrund des folgenden Abschlusskapitels soll nun noch einmal die Frage stehen, wie Herr Rudolf als Hauptplaner von BELANTIS vor dem Hintergrund seines beruflichen Selbstverständnisses mit dieser Bau- und Gestaltaufgabe umgegangen ist. Darüber hinaus sei abschließend gefragt, was Architekten und Gestalter möglicherweise für ihre Arbeit am Beispiel der Bau- und Gestaltaufgabe „Vergnügungspark“ lernen können.

Wege des Umgangs mit der Bauaufgabe Durch die Interpretation des Interviews hat sich gezeigt, dass Herr Rudolf bestimmte Wege zu suchen scheint, die es ihm ermöglichen, die an ihn herangetragene Bauaufgabe mit seinem beruflichen Selbstverständnis als Architekt in Einklang bringen zu können. Dies lässt die Vermutung zu, dass die zu bearbeitende Bauaufgabe zunächst eine gewisse Konfliktsituation für ihn darstellt und sich nicht ohne weiteres mit seinem beruflichen Selbstverständnis in Einklang bringen lässt. In Reaktion auf diesen möglichen Konflikt wird die Bauaufgabe von ihm umdefiniert bzw. erweitert. Er stellt dazu Bezüge zu Themen seiner eigentlichen Profession als Architekt sowie zu seinen persönlichen Interessen her und überführt damit die gestellte Bauaufgabe in einen erweiterten Bedeutungskontext, der besser zu seinem eigentlichen Selbstverständnis und Denkstil zu passen scheint. Dies könnte die Funktion haben, einerseits 13 | Das Zitat findet sich auf der Internetseite des Vergnügungsparks BELANTIS: http:// www. BELANTIS.de/de/fuer-gruppen/, (13.09.2011)

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einen übergeordneten Sinn in seinem Tun zu sehen, andererseits sein Tun nach außen hin, z.B. in Fachkreisen, besser vertreten zu können. Hinsichtlich der dazu eingeführten Exkursthemen stellt er insbesondere seinen Anspruch auf eine am Menschen orientierte Architektur und damit verbunden die Rolle des Architekten als Dienstleister in den Mittelpunkt seines beruflichen Selbstverständnisses. Die von ihm eingeführten Exkursthemen beschränken sich jedoch nicht auf den Bereich der Architektur, sondern umfassen auch Aspekte wie z.B. Ökologie, Ethik und Spiritualität. Er spricht in diesem Zusammenhang z.B. von „Bewusstseinserweiterung“ und „Ganzheitlichkeit“. Im Bezug auf die Konzeption des Parks reagiert Herr Rudolf zunächst auf die Rahmenbedingungen, die die Bauaufgabe und das Thema Vergnügungspark vorgeben. So beschäftigt er sich intensiv mit der Art und Weise, wie man einen Vergnügungspark unter betriebswirtschaftlichen, infrastrukturellen, organisatorischen sowie gestalterischen Gesichtspunkten entwickeln kann. Dabei greift er auf ein etabliertes Fachwissen zurück, das bis hinein in die Wahrnehmungspsychologie und Systemtheorie reicht. Das breite Spektrum der mit der Bauaufgabe verbundenen Themen und Beschäftigungsfelder scheint einen besonderen Anreiz für Herrn Rudolf zu schaffen diese Bauaufgabe zu bearbeiten. Sie stellt, auch aufgrund der Größenordnung und Komplexität, eine besondere berufliche Herausforderung für ihn dar, die zunächst nicht direkt mit dem Thema Vergnügen zusammen zu hängen scheint. Als die zentrale Aussage, die sein Denken und damit verbunden sein Selbstverständnis als Architekt sehr treffend beschreibt, kann schließlich seine Formulierung: „Träumen, Glauben, Machen“ angeführt werden, die er im Anschluss an das Interview14 aussprach. Auf der einen Seite verweist er damit auf sein pragmatisches Handeln als Architekt, wodurch die Dinge Realität werden. Auf der anderen Seite sind es Momente des Spielerischen und des Traums, die für Ihn und seine Arbeit eine besondere Bedeutung haben. Die Bearbeitung eines Vergnügungsparks scheint ihm gerade für diese spielerischen Momente Raum zu geben, wodurch die Bauaufgabe für ihn an Attraktivität gewinnen könnte.

Der Kodex der Architektur Insgesamt, so wurde durch die Bearbeitung des geführten Experteninterviews deutlich, ist es ein bestimmtes Selbst- und Berufsverständnis, das sich bei Herrn Rudolf zeigt und das zugleich auf einen bestimmten Kodex verweist, wie er unter Architekten und Gestaltern vorzuliegen scheint. Dies wird in dem geführten Interview besonders durch die ambivalente Beschreibung des Parks als „Architektur“ oder begehbares Bühnenbild deutlich. Es wurde dabei sichtbar, dass Herr Rudolf immer wieder „seriöse“ Aspekte des Gestaltens und Bauens 14 | Vgl. dazu Fußnote 5.

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der Parkanlage betont, wie z.B. Materialgerechtigkeit, Bezogenheit der Architektur auf den Menschen etc.. Daraus kann geschlossen werden, dass es eine Art unausgesprochene Vereinbarung innerhalb des Berufsstandes darüber gibt, was denn unter „guter“ Architektur bzw. Gestaltung verstanden werden kann bzw. was davon abweicht. Im Falle der Gestaltung eines Vergnügungsparks sind offensichtlich Abweichungen von diesem Kodex möglich. Doch wird er für das Projekt BELANTIS von Herrn Rudolf nicht gänzlich aufgegeben. Vielmehr scheint er zwischen dem Kodex, wie er unter Architekten anzutreffen ist, und den Anforderungen, die ein Vergnügungspark an ihn stellt, zu navigieren. Diese Navigation macht es ihm offensichtlich möglich, die Bauaufgabe enger mit seinem beruflichen und persönlichen Selbstverständnis in Einklang bringen zu können.

Gewinn neuer Einsichten und Einstellungen durch die Bearbeitung der Bauaufgabe Durch die Bearbeitung der Bau- und Gestaltaufgabe BELANTIS entstanden, wie sich gezeigt hat, bei Herrn Rudolf neue Einsichten, die zu veränderten Einstellungen führten. Auch hierdurch scheint er der Aufgabe einen größeren Sinn geben zu können. Herr Rudolf formulierte diesbezüglich gegen Ende des Interviews, dass man als Architekt viel von der Bearbeitung einer solchen Aufgabe lernen könne. Die Lernerfahrung, so Herr Rudolf, richte sich dabei vor allem auf die Notwendigkeit einer am Menschen orientierten Architektur. Dabei sei es insbesondere der Aspekt der Wirkweise des Gebauten, womit es sich für Architekten im Allgemeinen auseinanderzusetzen lohne. Somit kann man vermuten, dass die Einstellung zur Vergnügungsarchitektur, die, wie Herr Rudolf zum Ausdruck bringt, in Architektenkreisen eher negativ angesehen wird, erst durch die Arbeit an diesem Projekt und den damit gemachten Erfahrungen eine neue Bedeutung für ihn bekommen hat. Wenngleich für ihn die Arbeit an der Vergnügungsarchitektur nicht widerspruchsfrei zu sein scheint, so gelingt es ihm offensichtlich doch, diese Widersprüche durch die beschriebenen Sinnzuweisungen für sich auflösen zu können. „[...] Da kann man wirklich was von lernen. Auch wenn es oft von Kollegen (P) etwas nach unten getreten wird, nach dem Motto, ist doch nur Kulissenarchitektur [...] Nein, ich bin dankbar, dass ich die Aufgabe in der Form machen konnte, weil ich damit unheimlich viel dazu gelernt habe. Unheimlich viel [...] mir eröffnet wurde [über die], für die ich eigentlich baue, für die Menschen. Das ist immer wieder der Anfangspunkt. Also die Klarheit (P), die Konsequenz an der Stelle wieder zu sagen, okay, was ist für den wichtig, was braucht der hier? Nicht ich, sondern der. Was will der? [...] Und deswegen. Das ist, das ist [...] weil es halt auf die Emotionen geht, und da sind wir wieder bei dem berühmten Thema Schwingungen. Der Mensch lebt nun

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J ÖRG S CHRÖDER mal aus der Emotion heraus. (PP) Und was, was bewirkt ein Gebäude, ein Raum? Das sind Situationen, [die wirken] auf den Menschen, die können ihn stärken, die können aber auch schwächen. Und [sich] damit auseinander zu setzen, das ist schon für unsere Arbeit unheimlich wichtig. Und da haben wir viel gelernt dadurch, persönlich viel gelernt. An diesem für viele Menschen oder für viele Planer banalen Thema des Freizeitparks. Da bin ich auch ein bissel stolz drauf. “

Herr Rudolf verweist ohne Zweifel in dem geführten Interview an verschiedenen Stellen auf wesentliche Probleme im Bereich der zeitgenössischen Architektur. Hierbei ist es insbesondere die zu beobachtende Kluft zwischen der gebauten Umwelt und dem Menschen, die ihn dazu veranlassen einen menschenbezogenen Architekturansatz zu verfolgen. Die Entwicklung von Architektur wird von Herrn Rudolf als mitunter zu abstrakt angesehen. All zu hohe Abstraktionsniveaus im Bereich der gebauten Umwelt erschweren in der Tat die ganzheitlich sinnliche Erfahrung unseres Lebensraumes. Ob Vergnügungslandschaften, wie BELANTIS, als Teil unserer Lebenswelt, sinnhaft-sinnlich erlebt und erfahren werden können, hängt daher nicht zuletzt auch von deren gestalterischen Qualität im Bezug auf ihr Abstraktionsniveau ab. Die Antwort auf das von Herrn Rudolf wahrgenommene Problem all zu abstrakter Lebenswelten und damit verbundener Planungsvorgänge, sollte nach meiner Auffassung jedoch im Bereich der Vergnügungsarchitektur nicht in der Bedienung von Klischeebildern gesucht werden. Denn dies birgt die Gefahr der Banalisierung in sich. Die Qualität von Freizeitarchitektur, wie es die Vergnügungsparks sind, wird sich daher an der Entwicklung von Gestaltkonzepten messen lassen, die dem Menschen ein sinnstiftendes Angebot an Erholungs- und Aktivitätsräumen zur Verfügung stellt, das ohne all zu flache Bildangebote auszukommen vermag. Die „Zauberwelt“ der Vergnügungsparks kann auch aufrechterhalten werden, ohne dem Klischee zu verfallen. Eine Zuwendung zu poetischen Bildern, wie sie beispielsweise von Gaston Bachelard in seinem Buch „Die Poetik des Raumes“ (1957) beschrieben werden, könnte beispielsweise für die Parkgestalter eine wertvolle Inspirations- und Entwurfsgrundlage bilden. Bilder, auch die gebauten Bilder, wenn man denn diesen Begriff verwenden möchte, brauchen Tiefe und Mehrdeutigkeit, um als sinnhaft erlebt und erfahren werden zu können. Erst dann vermögen sie die Phantasie und die inneren Bildwelten des Menschen anzuregen und auf diese Weise zu neuen Wahrnehmungen und Erkenntnissen führen – ein Aspekt, der Herrn Rudolf im Bezug auf die Gestaltung von BELANTIS ja sehr stark am Herzen liegt.

„Weil sie hier ’n Stück Oase vorfinden.“ Interpretation des Interviews mit dem Gestalter des Freizeitparks „Kulturinsel Einsiedel“ Stefan Nothnagel

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem „Macher“ des Freizeitparks „Kulturinsel Einsiedel“1 in der Nähe von Görlitz, dem zweiten Beispiel des Forschungsprojektes „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“2 . Herr Schrader ist Inhaber eines Unternehmens für künstlerische Holzgestaltung und der maßgebliche Entscheidungsträger der Gestaltung des Freizeitparks „Kulturinsel Einsiedel“. Im Mai 2010 führte ich mit ihm in seinem Büro auf dem Gelände des Parks ein leitfadengestützes mehrstündiges Interview, das digital aufgezeichnet und anschließend verschriftlicht und ausgewertet wurde. Ein Schwerpunkt des Gesprächs war Herrn Schraders Biografie und seine persönliche Geschichte der Entwicklung des Parks, um die Bedeutung des Gestaltens vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte zu verstehen (wir glauben, dass es alles andere als zufällig ist, wenn diese Person auf ihre Weise und nicht anders gestaltet). Außerdem wurden gezielt die Themen Erlebnis und Entwerfen besprochen, letzteres hinsichtlich Methoden und Kriterien, um das konkrete Verständnis des Gestalters vom „Erlebnis als Entwurfsaufgabe“ und dem entwerferischen Umgang damit herauszuarbeiten. Im Folgenden soll versucht werden, einen Bogen von der Lebensgeschichte über die Überzeugungen hin zu der Art des Gestaltens von Herrn Schrader zu spannen.

1 | Eine Beschreibung des Freizeitparks sowie bildliche Darstellungen finden sich im Aufsatz von Heiko Lieske „Landschaftsanalyse des Freizeitparks ‚Kulturinsel Einsiedel‘“ in diesem Band. 2 | Informationen zur Fragestellung sowie zur theoretisch, methodologisch und methodischen Ausrichtung s. die Einführung von Achim Hahn in diesem Band.

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1. H ERR S CHR ADER Biografie Herr Schrader (Jahrgang 1957) stammt aus einer Gärtnerfamilie und verbrachte seine Kindheit am Stadtrand von Zittau. Nach dem Abschluss der Schule wollte er eigentlich Zimmermann werden, entschied sich dann aber für eine Lehre als Forstfacharbeiter und zog dafür in die Nähe von Niesky. Zu dieser Zeit kam er zum ersten Mal auf das Gelände der „Kulturinsel Einsiedel“, welches damals ein Bauernhof war. Während seines Wehrdienstes begann er mit dem Schnitzen und entwickelte es zu seinem Hobby. Sein Betrieb unterstützte ihn dabei, so dass Herr Schrader Ausstellungen machen und sich u.a. an der Kunsthochschule in Leipzig weiterbilden konnte. Auf der Suche nach einer Wohnung für sich und seine Freundin, erwarb Herr Schrader den o.g. Bauernhof und ließ sich dort nieder. Als sein Betrieb ihn zum Studium schicken wollte, entschied sich Herr Schrader nach Diskussionen mit dem Parteisekretär dafür, nicht mehr im Forst zu arbeiten sondern stattdessen sein Hobby zum Beruf zu machen. Er begann eine Lehre als Holzbildhauer in Görlitz und wollte im Anschluss daran eine kleine Firma gründen. Dann aber kam die „Wende“, Herr Schrader konnte die Erzeugnisse seiner Schnitzerei nicht mehr absetzen und musste sich einen neuen Lebenserwerb schaffen. Schon zu Zeiten der DDR stellte er „Parkspielskulpturen“ 3 her, sah darin eine Chance für sich und gründete die Firma für Künstlerische Holzgestaltung (1990) in der er auch gemeinsam mit seiner Freundin arbeitete. Diese Firma entwickelte sich zu einem Unternehmen mit etwa 60 Angestellten und mehreren Abteilungen, deren Geschäftsführer Herr Schrader heute ist. Parallel dazu entstand auf dem Gelände im Verbund von ausgestellten Spielskulpturen, einem Galerie-Café und dem Kulturverein Kulturinsel Einsiedel e.V. (1992) ein „Holzspielplatz“, der spätere Abenteuerspielplatz „Kulturinsel Einsiedel“

Das schöne Leben Die Zeit direkt vor der „Wende“ spricht Herr Schrader als „die schönste Zeit“ seines Lebens an, seine Kindheit nennt er „die schönste Kindheit, die man sich überhaupt vorstellen kann“. Diese Lebensabschnitte dürften damit in Herrn Schraders Rückblick Beispiele für fast ideale Lebenssituationen sein. An ihnen lassen sich 3 | Im Folgenden werden Zitate aus dem Interview durch eine gesonderte Schriftart und in Anführungsstrichen wiedergegeben. Auslassungen werden mit [...] gekennzeichnet, Einfügungen erfolgen nicht kursiv in eckigen Klammern, z.B. [werden]. Die Transkription des Interviews folgt weitgehend der gesprochenen Sprache.

„W EIL SIE HIER ’ N S TÜCK O ASE VORFINDEN .“

seine Vorstellungen vom „guten Leben“, bzw. von der „schönen Kindheit“ deutlich machen. Da Herr Schrader vom heutigen Standpunkt aus einen vergangenen Lebensabschnitt als den schönsten bezeichnet, heißt das auch, dass dem gegenwärtigen Leben im Vergleich etwas fehlt, was Herr Schrader nicht wiedergewinnen kann und das womöglich durch den gesellschaftlichen Umbruch 1989/90 verloren ging. In der Interviewsituation kann sich Herr Schrader keine schönere Kindheit vorstellen, als die eigene, selbst erlebte. Was es in ihr gab – die Nähe und Zugänglichkeit der sicher sehr weitläufigen landschaftlichen Freiräume „Feld“ und „Gebirge“, die Situation, als Kind vielbeschäftigter Eltern oft unbeaufsichtigt zu bleiben und so die Freiheit zu haben, „immer dreckig“ zu sein – prägt Herrn Schraders Vorstellung von der „schönen Kindheit“ überhaupt, und so schreibt er diesem Ideal zugleich allgemeine Gültigkeit zu. Was seine Kindheit im Detail ausmachte, erfahren wir zwar nicht, es lassen sich aber die Mängel, die Herr Schrader an der heutigen Kindheit findet4 als Gegenbeispiele dazu lesen. Die Möglichkeit, aktiv eigene Erfahrungen (sich „dreckig“ ) zu machen stellt sich so als wichtiger Bestandteil heraus. Von seiner Lehrzeit als Holzbildhauer, etwa zwei Jahre vor der Wende, berichtet Herr Schrader, er habe damals „schon super gelebt [...] die schönste Zeit in meinem Leben war vor der Wende. [...] Das war ja alles Acker, was jetzt Freizeitpark ist, war alles flaches Land. Getreideacker, sonst was. Wir haben hier als Einsiedler gelebt und konnten tun und lassen was wir wollten. Und hatten eigentlich das, was die Menschen so sich unter Kanada vorstellen, das haben wir hier gehabt.“

Was macht die „schönste Zeit“ in Herrn Schraders Leben aus? Da ist zuerst das gelungene Wohnen als „Einsiedler“, mit dem ein Abstand zum Rest der Welt verbunden ist und das die Freiheit gewährt, tun und lassen zu können, was man will. Sein Wohnentwurf kennt zu dieser Zeit zwei Alternativen, entweder den „Lebenstraum“, in die Großstadt zu ziehen, um anonym und von der Nachbarschaft unabhängig zu sein, oder aber „was alleine zu kriegen“ (d.h. als Gruppe unter sich zu sein). Die Einsiedelei bietet ebenso Unabhängigkeit von Nachbarn (es gibt ja keine), wie das Großstadtleben, ist aber noch der „größere Traum“. Was sie dazu macht, kann das Sehnsuchtsbild „Kanada“ erklären, für das Herr Schrader die Beispiele der Schafherde und der Pferde, die er damals hatte, der Entfernung bis zur nächsten Post, des schwachen Stroms und des fehlenden Telefons beibringt. Sie beschreiben das Leben in einer als natürlich empfundenen Umgebung: ein einfaches, teilweise traditionelles Leben, mit wenig moderner Technik, auf sich selbst bezogen und irgendwie randständig. 4 | Siehe 3. Erlebnisverständis

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In diese Zeit gehört auch das Ausscheiden Herrn Schraders aus dem Forstbetrieb. Er entdeckte den bisherigen Zeitvertreib der Bildhauerei als sein eigentliches Können und mögliche Zukunft, als einen Beruf, der Zweck des Lebenserwerbs und Selbstzweck des Vergnügens gleichermaßen sein soll. Als Ziel der Holzbildhauer-Lehre hatte Herr Schrader die Gründung einer kleinen Firma vor Augen, er wollte sich selbständig und damit auch beruflich unabhängig machen. Herr Schrader hatte sich in der Situation am Ende der DDR eingerichtet und gerade mit der Aussicht auf die berufliche Selbständigkeit ein für ihn gelingendes Leben gefunden. Die „Wende“ stellte ihn zunächst vor eine wirtschaftliche Herausforderung. Das Herstellen kleiner Skulpturen und Gebrauchsgegenstände und deren Verkauf auf Märkten, ging durch den eingebrochenen Absatz nicht mehr auf. Nicht einmal besondere Anstrengungen führten noch zum Erfolg und Herrn Schraders wirtschaftliche Existenz kam in Gefahr. Als ihm das bewusst wurde, suchte er nach einer neuen Strategie, um seinen Lebensstil fortzuführen, und sah dazu in der Herstellung von „Parkspielskulpturen [...] öfter mal die Chance“. Es waren dies Arbeiten, wie er sie schon früher auf Symposien angefertigt hatte und eine Tätigkeit, für die er sich als talentiert empfand. Herr Schrader entschied sich in der neuen Situation also dafür, Unternehmer zu sein. War sein Lebensstil vor der Wende wirtschaftlich unproblematisch umzusetzen, weil schon ein geringes Einkommen dafür ausreichte, so schränkt diesen danach die Notwendigkeit ein, überhaupt ein Einkommen zu erzielen. Die Sorge um den wirtschaftlichen Erfolg begleitet nun das Handeln Herrn Schraders, hängt doch seine gesamte Existenz davon ab: „Wenn man Unternehmer ist, dann hat man eigentlich immer ein Kernproblem, und das heißt Sicherheit [...] drei große Auftraggeber, die wegfallen oder einer der ni bezahlt, äh, du stellst die Existenz in Frage.“ Als Herr Schrader auf das Thema Idealismus zu sprechen kommt, ist es ihm sehr wichtig, vom Wegbrechen seiner Ideale in der Zeit der Wende zu erzählen, als ihm „auch so ’ne Philosophie abhanden gekommen“ sei. Sein zweiter Verlust in der Wende war demnach der eines Lebenssinns, den er zuvor im (gesellschaftlichen) Hinarbeiten auf das Ziel der besseren Welt gefunden hatte (wobei er im persönlichen Beitrag sicherlich auch eine Steigerung des Selbstwertgefühls erlebte). Das bloße Dasein reichte ihm nun nicht aus, es fehlte etwas, um sein Handeln eines „für andere“ sein zu lassen. Herr Schrader empfindet das als „Riesenrückschritt“. Für seinen Anspruch „Leben, um die Welt zu entwickeln“ findet er in der neuen Lebenssituation des „Kapitalismus“ zunächst keinen Platz. Mit der Entscheidung, eine Firma zu gründen und Unternehmer zu sein, entdeckt Herr Schrader jedoch ein neues Ziel darin „ein gutes Beispiel zu sein“. Er versteht dieses Ziel als einen Gegenentwurf zu dem, was in seiner Vorstellung ein Unternehmer in der neuen Gesellschaftsordnung typischerweise ist (nämlich „der

„W EIL SIE HIER ’ N S TÜCK O ASE VORFINDEN .“ große Kapitalist“5). Dazu muss ein besonderer Raum geschaffen werden, eine eigene Welt, in der es möglich ist, ein Arbeitsverhältnis mit Freunden zu führen und nicht etwa eine Beziehung, die sich auf die Rollen als Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschränkt. Diese Welt ist „für die eigene Seele“, dient also dem guten Gefühl, das aufkommen soll, wenn das Unternehmen auf eine solche Weise geführt wird.

Anders sein Aus seiner Kindheit berichtet Herr Schrader auch, dass seine Mutter als selbständige Gärtnerin „sozusagen Geschäftsfrau“ war und deshalb sehr auf die gesellschaftliche Stellung und das Ansehen ihrer Familie achtete. Dementsprechend empfahl sie ihrem Sohn, das zu tun, was allgemein als richtig gilt Herr Schrader aber empfindet dies als schematisches Sich-nach-anderen-Richten, er will nicht das tun, was „man“ (also die anderen) üblicherweise macht, sondern das, was er als Individuum in seiner Situation benötigt, was zu ihm passt6. Es geht ihm also darum, eine eigenständige Person zu sein, die sich in ihrem Handeln nicht nach der Meinung anderer Menschen richtet, sondern den eigenen Willen als Grundlage für (eben dadurch) eigene Entscheidungen annimmt. Der Versuch, sich durchzusetzen und anders zu sein, wurde so zu einem prägenden Verhaltensmuster Herrn Schraders: „Da gibt’s so ’n paar Situationen im Leben 7, wo ich dann gemerkt habe: ‚He, das will ich doch gar ni!‘ Und hab dann eben auch eigene Entscheidungen getroffen“. Aus unserem Gespräch weiß Herr Schrader, dass der Freizeitpark BELANTIS ebenfalls Gegenstand unserer Untersuchung ist. Er nimmt darauf Bezug und vergleicht sein Unternehmen (die Künstlerische Holzgestaltung und den Freizeitpark) mit BELANTIS. Er legt Wert darauf, dass bei seinem Unternehmer-Sein – anders, als beim „Unternehmenskonstrukt“ BELANTIS – Beruf und Leben zusammenfallen, denn Herr Schrader und seine Familie wohnen auf dem Firmengelände und damit quasi im Freizeitpark. Seine Unternehmertätigkeit zielt nicht darauf ab, eine bestimmte Rendite zu erwirtschaften, sie dient dem Selbstzweck des „positiven“ (guten) Lebens. Es erfüllt sich Schraders Leben in dieser Tätigkeit, die als sein „Baby“ wichtigster Lebensinhalt und eigentliche „Lebensaufgabe“ ist. Wenn dieses Handeln gelingt, gelingt auch Herrn Schraders Leben. Leben und Beruf, Privates und Geschäftliches durchdringen sich ebenso in Herrn Schraders Überzeugung davon, wie das Arbeiten in seiner Firma sein 5 | Genau das will Herr Schrader nicht sein, siehe folg. Abschnitt. 6 | Vgl. 4.Gestalten und Bauen. 7 | Seine Entscheidung, Holzbildhauer zu werden und nicht mehr im Forst zu arbeiten, beschreibt Herr Schrader mit ähnlichen Worten.

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soll. Er will nicht „der große Kapitalist“ sein. Anders als dieser möchte Herr Schrader mit „Freunden“ und eben nicht mit Angestellten zusammen arbeiten. Das Verhältnis zu Freunden ist aber eigentlich ein privates und kein geschäftliches und beruht eher auf dem Gefühl, einander verpflichtet zu sein, als auf einem Arbeitsvertrag. Der Befragte weist darauf hin, dass er den „Umgang miteinander“ meint, es scheint ihm darum zu gehen, nicht bloß die Arbeitsleistung der Angestellten zu kaufen, sondern ihnen durch ihr Arbeiten auch etwas zu ermöglichen, nämlich das Mitmachen, die Teilhabe am kreativen Tun. Danach gefragt, ob er sich etwa beim Bau von Baumhäusern als Architekt fühle, antwortet Herr Schrader „so eine Fragestellung spielt für mich gar keine Rolle mehr. Also ich bin nicht Architekt und nicht das und nicht jenes“. Es deutet sich hier ein bewältigter Konflikt um die Zuordnung seiner Person durch andere an, den Herr Schrader an einem weiteren Beispiel verdeutlicht: „wenn man so übers Hobby groß wird, möchte man gerne Künstler sein. Ne? Und die andern auch, die wollten gerne Künstler sein, am liebsten in den Verband freischaffender Künstler, was es damals gab. Ich war im Kunsthandwerker-Verband damals. Irgendwann hab ich gemerkt, dass das eigentlich doch so was von schnurze is, was ich BIN. Ich weiß, was ich bin“.

Herr Schrader verhält sich auch hier anders: er gab es auf, sich über die Zuordnung anderer zu definieren, möglicherweise weil er in den Widerspruch konkurrierender Meinungen geriet, vielleicht auch weil man ihm den „Künstler-Status“ nicht zubilligte. Stattdessen bekundet er, es sei ihm egal, welcher Gruppe er zugeordnet werde. Selbst zu wissen, „was ich bin“ reicht ihm aus. Er rechtfertigt sein Handeln als „müssen“ (um Geld zu verdienen) und „Spaß“ (Selbstzweck) und rückt so vielmehr diese beiden Ziele in den Vordergrund. Es steht nicht die Bewertung seiner Arbeit als „Kunst“ im Interesse Schraders, sondern die Freude daran, „schöpferisch“ zu arbeiten, d.h. die Dinge selbst zu erfinden und als eigene Idee umzusetzen. Das Arbeiten ist zuerst Selbstzweck für den eigenen Genuss und das gute Gefühl. Dass man von dieser Arbeit außerdem „leben kann“ ist für Schraders Lebensstil selbstverständlich notwendig und von daher ein Kriterium, welches das Handeln mitbestimmt. So kann Herr Schrader rechtfertigen, „alles“ zu machen, also ein ganzes Spektrum, das in der Bewertung anderer von „nur Butterförmchen“ bis hin zu „tolle [n] Skulpturen“ reicht.

Selbstbestimmt leben Seinen Lebensgrundsatz bringt Herr Schrader am Beispiel eines Landzukaufs auf den Punkt: „Solange wie man das Gefühl hat, dass man selber der Steuerer ist – das Gefühl reicht ja aus (lacht), tiefer darüber nachdenken darf man natürlich nicht –

„W EIL SIE HIER ’ N S TÜCK O ASE VORFINDEN .“ aber solange geht es einem einigermaßen gut“. Damit es einem „gut“ geht und man zufrieden sein kann, muss sich das Gefühl einstellen, selbst zu steuern und nicht etwa das, von anderen gesteuert zu werden. Herr Schrader scheint aber auch die Abhängigkeiten und Grenzen seines Handelns zumindest zu ahnen, wenn er davon spricht, dass ihm „das Gefühl“ ausreicht, und man nicht „tiefer“ nachdenken soll (wohl weil sich sonst zeigt, worüber sich nicht verfügen lässt). Herr Schrader selbst will „der Steuerer“ sein, will Ziel und Richtung seines Lebens und Handelns bestimmen, will selbstbestimmt leben. Immer geht es ihm darum, nicht das allgemein Übliche zu tun und sich nicht von „den anderen“ bestimmen zu lassen, sondern aktiv mit dem Leben umzugehen. Er will „prinzipiell [...] nur eigene Ideen“ umsetzen, „schöpferisch“ arbeiten und die zum ihm passende Lösung selbst schaffen. Beispielhaft sei an Herrn Schraders Unternehmer-Sein erinnert, das sich nicht nach den üblichen Rollenbildern richtet, indem Beruf und Leben zusammenfallen. Das Unternehmer-Sein wird so zur „Lebensaufgabe“. Herr Schrader möchte in einer Gemeinschaft leben und arbeiten, die seine Ideale teilt und in der er seine Ideen verwirklichen kann. Auch diese Gruppe will er selbst schaffen und braucht dazu Menschen, die mit ihm „auf einer Wellenlänge“ schwimmen. Wohl lässt er seinen „Freunden“ einige „Gestaltungsfreiheiten“, behält dabei aber doch die Kontrolle. Auch deshalb findet Herrn Schraders Leben auf der räumlich isolierten „Kulturinsel“ seinen Platz, die er der Großstadt vorzieht. Hier ist er selbst der „Steuerer“, dort wäre er womöglich einer von vielen die „anders“ sind. Herr Schrader will sich ausdrücklich nicht an Vorbildern orientieren. In seinem Verständnis tut er das Richtige, wenn er mit seinem Handeln „Erfolg“ hat und es ihm „Spaß“ macht.

2. D IE G ESCHICHTE DES F REIZEITPARKS Herr Schrader stellt, als er von der Entwicklung des Freizeitpark erzählt, zunächst die Unterschiede zwischen der „Kulturinsel Einsiedel“ und BELANTIS heraus: Er und seine Familie leben und wohnen auf dem Gelände, sie taten dies auch bereits bevor der Freizeitpark entstand. Als er dorthin zog, war es ein Waldbauernhof, eine Einsiedelei, die er später als Werkstatt für seine Holzbildhauerei nutzte. Ebenfalls vor dem Freizeitpark liegt die Unternehmertätigkeit Herrn Schraders mit seiner Firma für künstlerische Holzgestaltung (Gründung 1990), die ihn mit der Zeit Erfahrung zum Thema Freizeitpark sammeln ließ und die er als seine wirtschaftliche Basis beschreibt. Die Vorgeschichte des Freizeitparks „Kulturinsel Einsiedel“, von Herrn Schrader als „der Holzspielplatz“ bezeichnet, stellt sich im Interview als zufällig und ungeplant dar. Zuerst als Spielplatz für seine Kinder entstanden, wurde die Anlage zum „Aushängeschild“ der Künstlerischen Holzgestaltung. Der erste grö-

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ßere Auftrag versetzte Herrn Schrader finanziell in die Lage, ein Galerie-Café (1992) zu bauen. Später kaufte er zum Gelände des ehemaligen Bauernhofes ein weiteres Grundstück hinzu, Leute aus der Gegend kippten dort Erdaushub ab, den Herr Schrader bebaute: „Also nur ganz simple Sachen eigentlich. Und n großer Schritt war dann, dass wir von Rothenburg vom Flugplatz 8 Bunkerelemente gekriegt haben [...] und da ham wir so Gänge gebaut und so Zeug, und das hat einfach Spaß gemacht, da was zu spinnen und loszulegen“. Herr Schrader und seine Mitarbeiter nutzten also Gelegenheiten, um aus Spaß etwas Einfaches zu bauen, es ging demnach nicht darum, etwas zielgerichtet Vorgestelltes (entworfen/geplant) umzusetzen, sondern ums Bauen an sich, das situative Entscheiden, mit dem sich wohl eine Art Freizeitvergnügen (für Herrn Schrader!) verbindet. Diese Bauwerke waren nicht als Freizeitpark gedacht, sondern als „Angebot für die Leute“, denn Herr Schrader hatte bemerkt, dass lokales Publikum die ausgestellten Dinge als Holzspielplatz nutzten, sie „annahmen“. Das oben angesprochene Galerie-Café wollte Herr Schrader auch nutzen, um mit Ausstellungen die nach der Wende brachliegende Kunstszene zu reaktivieren und so seine persönlichen „Kulturbedürfnisse“ zu decken. Zunächst als Eröffnung solcher Ausstellungen gedacht, organisierte er, seinem persönlichen Geschmack entsprechend, Festivals mit Mittelalter- oder Folkbands. Das Festival („Folklorum“, jährlich seit 1993) zog immer mehr Besucher auf das Gelände, das sich zudem mit Bauten füllte. Der Zukauf eines weiteren Grundstücks wurde notwendig, ein „Ruck“, verglichen mit der zuvor eher unstetigen, ungeplanten Entwicklung. Die Kosten, die dafür aufzubringen waren, brachten Herrn Schrader zum Nachdenken und Planen. Auch wenn er sich nicht mehr an die genauen Umstände erinnern kann, wie es geschah, es formte sich doch ein Bild von dem, was mit dem Gelände geschehen soll: „das geht ja hier irgendwo ganz eindeutig in eine Richtung. Und jetzt muss man überlegen: Wie strukturieren wir das, wenn n Freizeitpark draus werden soll?“ Herr Schrader gibt zwar an, nicht über die Wirtschaftlichkeit nachgedacht zu haben, es sind aber doch wirtschaftliche Erwägungen der Grund für die geplante Entwicklung zum Freizeitpark. Die bis dahin als „Zufallsprodukt“ entstandene Anlage hatte ein Ausmaß erreicht, in dem sie einen Kostenfaktor (Landkauf, Festivals, Erhaltung und Pflege der Bauten) einerseits und ein Potential (Freizeitpark als eigenes Unternehmen und Werbeträger für die Holzgestaltung) andererseits darstellte: „Es ist ja schon so aufwendig alles jetzt zu pflegen und zu erhalten. Eigentlich musst du jetze das voran treiben. Es muss n richtiger Park mit Toiletten und alles was dazu gehört an Pipapo [werden], damit du wenigstens so viel Eintritt nehmen kannst, damit sich das selbst trägt“. Die Alternative wäre schließlich gewesen, das Bauen, die Pflege des Bestandes, die Durchführung der Festivals usw. einzuschränken oder aufzugeben. Herr Schrader entschied sich aber, aus 8 | Gemeint ist ein ehemaliger Militärflugplatz.

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dem Vorhandenen einen Freizeitpark zu entwickeln, der kostendeckend wirtschaften soll. Die Entdeckung des Potentials „Freizeitpark“ war ihm deshalb möglich, weil er mit dem Unternehmen der Holzgestaltung Erfahrung im Umgang mit Freizeitparks an Hand anderer Beispiele sammelte. Das von ihm in seiner eigenen Anlage Gesehene formte sich so „ganz eindeutig in eine Richtung“, eben zum Freizeitpark.

3. E RLEBNISVERSTÄNDNIS Um Herrn Schraders konkretes Gestalten zu verstehen, lohnt es, sich zunächst ein Bild seines Verständnisses vom Erlebnis zu machen und so das Ziel dieses Entwerfens und Bauens zu begreifen. Herr Schrader beschreibt sein Handeln als „Produkt“ der Freizeitwirtschaft: „das ist lustvoller Zeitverbrauch [...] das heißt, ich muss die Gäste so lange halten – lustvoll – dass sie nach Hause gehen müssen, weil ihre Zeit zu Ende ist. Nicht, weil sie alles gesehen haben und es langweilig ist.“ Der Interviewte bemüht dieses Beispiel, um seine Leistungen als Produkt eines Wirtschaftszweiges im Vergleich mit Gütern in einem Laden erklären zu können. Die Grundlage der Herstellung ist dabei eine Gesellschaft, in der Menschen freie, übrige Zeit haben, die jedoch knapp ist und irgendwann zu Ende sein kann. (Die Lebenszeit teilt sich also auf, vermutlich in eine Arbeitszeit und eben die übrig bleibende Freizeit, die „verbraucht“ werden kann.) Die Menschen wollen ihre freie Zeit „lustvoll“ verbrauchen und sie nicht etwa verstreichen lassen, und sie sind bereit, dafür spezielle Anlagen aufzusuchen und dort Geld auszugeben. Herrn Schraders Produkt stellt den lustvollen Charakter dieser Zeit her und lässt keine Langeweile aufkommen. D.h. das Produkt soll den Zeitaspekt aus dem Fokus der Besucher drängen, der bei der Langeweile als unangenehm empfunden wird. Herrn Schraders Produkt kann die Besucher, die ihre Zeit vergessen, im Raum des Parks „halten“, bis „ihre Zeit zu Ende ist“, sie sollen außerdem das Gefühl vermittelt bekommen, nicht alle Attraktionen der Anlage gesehen zu haben, damit sie die Anlage wieder besuchen (u. erneut Geld ausgeben).

Die „Kulturinsel Einsiedel“ als Frei-Raum Mit dem Produkt des lustvollen Charakters des Zeitempfindens deutet sich das Erleben der Besucher als Ziel des Gestaltens an. Wie genau aber erklärt sich Herr Schrader, diesen Charakter beeinflussen zu können? Danach gefragt, warum seiner Meinung nach die Besucher in den Freizeitpark „Kulturinsel Einsiedel“ kommen, führt er aus: „Weil sie hier ’n Stück Oase vorfinden, die ’n Stück Anders-Leben zeigt. Also, wo du denkst: Boah! So geht’s ja auch. Die genießen ein Stück Freiheit, was hier in der Luft liegt. Nicht alles so machen zu müssen, wie’s überall ist.“ Was die Besucher der „Kulturinsel Einsiedel“ vorfinden, beschreibt Herr Schra-

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der mit der Metapher der „Oase“9 . Sie „zeigt“ den Besuchern eine überraschende Alternative zur „Wüste“ des Alltags auf, nämlich die Möglichkeit, Dinge zwanglos zu tun, d.h. ohne auf das Übliche und Normale achten zu müssen. Mit diesem Zeigen weist Herr Schrader die Besucher auf seine persönliche Sicht der Welt hin, die er vermitteln will, um damit einen Wechsel ihres Denkens zu erreichen. Auf intellektueller Ebene sollen sie erkennen: „So geht’s ja auch“, auf der Ebene leiblichen Spürens „genießen“ sie die entsprechende Atmosphäre der „Freiheit“. Herr Schrader bezeichnet die Besucher des Freizeitparks als „stadtflüchtige Leute“. Was sie in der „Kulturinsel Einsiedel“ finden, daran mangelt es in der Stadt und auch „in der Natur“, wo das Gesuchte früher10 zu finden war. Die Natur tritt dem Menschen heute (von Schrader am Beispiel des Waldes erklärt) entweder als benutzte kultivierte „Plantage“ oder als geschützte normierte „unberührte Natur“ entgegen. Beide Male gibt es zu wenige Gelegenheiten, das „Abenteuer in der Natur“ zu finden. Herr Schrader will eben diese Gelegenheiten schaffen, das von ihm Gebaute benennt er als „zwar künstlich“ hergestellt, es sei aber „noch viel abenteuerlicher, als man’s irgendwo anders erleben kann“ und bietet demnach gesteigerte Möglichkeiten, das Gesuchte zu erleben. An einer anderen Stelle spricht Herr Schrader davon, dass er gerne „romantisierende“ und „märchenhafte“ Dinge in seine Gestaltungen einbaut, weil diese sein persönliches Lebensgefühl und auch das der Leute bedienen. Ein „Bedürfnis“ danach entstehe als gegenteilige Reaktion auf die „Gesamtentwicklung“ der Gesellschaft oder des Lebens. Das Bedürfnis der Gäste hat Herr Schrader jedenfalls darin „entdeckt“, sich in die spezielle räumliche Situation des „Naturchaos“ begeben zu wollen, und den gegenteiligen alltäglichen Raum der „scheiß DINOrdnung“ zu verlassen. Diese gesuchte „normale“ Natur charakterisiert der Interviewte als dreckig, chaotisch und ungeordnet, wild, d.h. im Umkehrschluss: nicht kultiviert, unbenutzt, zweckfrei (vielleicht auch „natürlich“ im Sinne von unverdorben oder ursprünglich). Es handelt sich demnach gerade nicht um normierte Natur, sondern um einen Frei-Raum ohne Verbote, mit dem Potential, zu tun und zu lassen, „was man will“. Das „Bedürfnis“ nach diesem Raum und seinen Möglichkeiten ist dem Menschen einprogrammiert, „das trägt man mit sich rum“ und das will man auch befriedigen. Da solche Räume immer seltener zu finden sind, müssen sie zum Ausgleich „künstlich“ gebaut werden. Herr Schrader konstatiert also, dass dem Alltag der Menschen in der „scheiß DIN-Ordnung“ etwas fehlt, wonach diese (vielleicht sogar unbewusst) suchen. Herr Schrader hingegen weiß genau, was das Fehlende ist, nämlich das 9 | Vgl. „Kulturinsel“ und „Einsiedelei“, die auch auf besondere andersartige Räume hinweisen, die sich in etwas befinden (Meer, Wald o. Landschaft) und Herrn Schraders Anspruch, im Zusammenarbeiten eine „eigene Welt zu schaffen“. 10 | Etwa in Herrn Schraders Kinderzeit.

„W EIL SIE HIER ’ N S TÜCK O ASE VORFINDEN .“ „Abenteuer in der Natur“ und mit diesem verbunden das Gefühl der Freiheit, des selbstbestimmten Lebens. Er will mit dem Freizeitpark „Kulturinsel Einsiedel“ eben diesen positiv bestimmten Freiraum herstellen, der den Besuchern erst die Möglichkeiten zum Erleben solcher Abenteuer zur Verfügung stellt.11 Herr Schrader öffnet damit seine Sicht der Welt, seinen Lebensstil (selbstbestimmt zu leben, anders zu sein) für die Besucher, ja er will ihn vermitteln, wenn davon die Rede ist, dass der Freizeitpark ein „Stück Anders – Leben zeigt“, oder der vorherige „Holzspielplatz“ als „Angebot für die Leute“ gedacht war.

Das Potential des Erlebens Was Herr Schrader konkret mit „Abenteuer erleben“ meinte, blieb bislang offen. Im Interview beschreibt Herr Schrader in diesem Zusammenhang, wie die Besucher „das Gefühl haben, dass sie zurück steigen in ihre Kindheit. Und das an sich ist schon ’n Abenteuer.“ In einer Art Rollenspiel fühlen sich die Besucher selbst wieder als Kind, was sich selbstverständlich nur auf Erwachsene beziehen kann. Das eigene Tun, mit dem ganzen Körper in ungewöhnlicher Haltung („auf allen Vieren“ ) und im ungewöhnlichen Raum („Tunnelloch“ ) vollzogen, erinnert an ein ähnliches Handeln in der Kindheit, das damals schon vollzogen wurde und von daher bekannt ist. Herr Schrader führt weiter aus, dass durch dieses „zurück steigen“ die Besucher auf gleiche Höhe mit ihren Kindern kommen, von denen er sie im Alltag zunehmend „entfremdet“ glaubt. Er sieht das Problem darin, dass sich Eltern aus einer dem Kind nicht gerechten Perspektive, „nicht auf Augenhöhe“ mit ihren Kindern beschäftigen oder aber gar keine Zeit für sie finden. Letzteres allein wäre wohl unproblematisch, wenn die Kinder denn „Möglichkeiten“ hätten, sie befinden sich aber stets in geschlossenen, kontrollierten Räumen („Zuhause“, „Kindergarten“ ) mit bestimmten Verhaltensregeln und so fehlt ihnen der Freiraum, den Schraders Kindheit hatte. Herr Schrader erzählt dann, dass er selbst auch einen Sohn hat und es auch ihm schwer fällt, Zeit zu finden, um mit diesem „zusammen etwas zu erleben“ und ihn nicht etwa „zu beschäftigen, damit er Ruhe gibt“. Dasselbe gelte auch für die Besucher: „Und wenn man hierher kommt mit seiner Familie, dann ist das eben etwas zusammen erleben“. Die Gäste suchen demnach mit dem Besuch der „Kulturinsel Einsiedel“ das gemeinsame Erleben in einer Gruppe und erleben gerade dadurch ihre Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis. Am „zusammen erleben“ lässt sich hier sozusagen die Familie erkennen. 11 | So lässt sich auch Herrn Schraders Äußerung verstehen, dass im künstlich gebauten gerade „Abenteuer in der Natur“ zu erleben sind. Unausgesprochen bleibt dabei (für Herrn Schrader als gelernten Forstarbeiter aber sicher selbstverständlich), dass „Natur“ auch Wachsendes, also einen durch Vegetation geprägten Raum meint.

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Die Möglichkeiten, die Herr Schrader für dieses Erleben schafft, können so auch als Ausgleich gesellschaftlicher oder allgemein menschlicher Missstände gelesen werden: das Vergessen der schönen Kindheit und ihres guten Gefühls und damit verbunden der falsche Umgang mit den Kindern, der nicht „auf Augenhöhe“ stattfindet und für den sich die Eltern außerdem zu wenig Zeit nehmen, schließlich der heute fehlende Freiraum für Kinder. Dem setzt Herr Schrader, indem er die Erfahrungen aus seiner eigenen „schönsten Kindheit, die man sich überhaupt vorstellen kann“ verallgemeinert, die Räumlichkeiten und die normative Verfassung des Freizeitparks „Kulturinsel Einsiedel“ entgegen, die es beispielsweise ermöglichen, dass ein Besucher „auf allen Vieren durch so ’n Tunnelloch robbt“.

Das Erlebnis „Abenteuer“ Das „Abenteuer“ schließlich zeigt sich bei Herrn Schrader als Unternehmen, „was ’n bisschen grenzwertig ist, wo man sich überwinden muss, wo man Mut braucht“. Es ist etwas, das man selbst in die Hände nimmt und das einen an die Grenzen (des eigenen Könnens und des Erlaubten) führt, die sich womöglich erst genau dadurch zeigen. Die Schwelle dabei ist man selbst, man verlässt die Gewohnheit und damit das Sichere und Bekannte, muss sich überwinden und braucht deshalb Mut. Man muss also etwas wagen, seinem Willen folgen und sich durchsetzen, ohne genau zu wissen, wohin man gelangt. All dieses Tun ist – unausgesprochen – von den entsprechenden leiblichen Gefühlsregungen der Neugier, des Ungewissen, der Angst begleitet. Herr Schrader stellt in diesem Zusammenhang noch ein „Grundgesetz“ auf: je anstrengender die Aufgabe, desto größer das „Erfolgserlebnis“ nach deren Lösung. Es geht also nicht nur um die eben angesprochenen Gefühle, sondern das Ziel ist das Erleben des Erfolgs, in dem man sich fühlt, „wie so ’n kleiner Held“. Auch hier trifft man wieder auf eine Argumentation des Ausgleichs: das Abenteuer stellt Herr Schrader als nicht alltägliche Herausforderung dar, wie die Tunnelgänge, die es „im normalen Leben nirgends mehr“ gibt. Es ist hierfür eine andere Art von Mut und Anstrengung (nämlich eine für den ganzen Menschen) gefragt, als für die Herausforderungen des Alltags, denen ein solches Erleben fehlt.

4. G ESTALTEN UND B AUEN Haltung und Strategie Als Herr Schrader von der Entwicklung des Freizeitparks „Kulturinsel Einsiedel“ erzählt, kommt er eher beiläufig auf eine wichtige Haltung zum Gestalten zu sprechen: „Ich hasse die Dinge, die üblich sind. (lacht) Ich versuche immer, die

„W EIL SIE HIER ’ N S TÜCK O ASE VORFINDEN .“ Situation zu analysieren. Genau da drauf auf das Bedürfnis etwas zu machen, und nicht, was man so macht“. In diesem Zitat deutet sich Herrn Schraders Verständnis für das Entwerfen als ein Herstellen („machen“ ) an, das auf die Befriedigung eines Bedürfnisses hin ausgerichtet ist. Der erste Satz, einerseits stark mit Gefühlen durchsetzt, andererseits ironisch abgeschwächt, macht eine grundsätzliche Haltung klar: Herr Schrader lehnt „das Übliche“ ab. Der zweite Satz beschreibt seine daraus resultierende Strategie: die Analyse der Situation, in der das Bedürfnis auftaucht, ermöglicht eine Lösung, die „genau da drauf“ passt. Herr Schrader erklärt sein Vorgehen im Folgenden biografisch und verweist zuerst auf die Erziehung durch seine Mutter, die als „Geschäftsfrau“ aus Sorge um den guten Ruf der Familie ihrem Sohn riet, sich so zu verhalten, wie „man“ es macht. Ihrer Begründung „das macht man so“ (man könnte auch sagen: „so gehört es sich“, „so ist es üblich“) steht Herr Schrader ablehnend gegenüber, er will „eigene Entscheidungen treffen“, „anders sein“, „nur eigene Ideen umsetzen“ und keine vorgegebenen Rollen annehmen. Seine Strategie ist es, das in der Situation auftauchende Bedürfnis zu untersuchen und eine speziell dafür zugeschnittene Lösung zu finden. Ein übliches, bekanntes Schema, das „was man da grad macht“, stellt nicht das her, was er in seiner individuellen Situation benötigt. Herr Schrader sucht vielmehr nach dem, was zu ihm und damit „genau da drauf auf das Bedürfnis“ passt und findet es in seinen eigenen Ideen. Diese Strategie beschreibt er als wichtige Grundlage seiner geschäftlichen Tätigkeit, nennt sie „eins unserer Erfolgsrezepte“, da er auf diese Weise immer wieder nach neuen Lösungen sucht, bereits vorhandene weiterentwickelt und so das Prinzip aufstellt, „nur Unikate“ zu produzieren und sich mit der ständigen Entwicklung einen Vorsprung gegenüber Konkurrenten sichert. Wie kann dieses Vorgehen, das bisher auf die Person Schraders beschränkt war, im Umgang mit Auftraggebern, für die etwas entworfen wird, eingesetzt werden? Herr Schrader versucht das am Beispiel des Entwerfens von Spielskulpturen für Kinder zu erklären: „Also erst mal muss man glaub ich selber ’n Stück Kind noch sein und sich vorstellen, wie man selber damit spielen würde, ne. Und das trägt’s natürlich auch ganz sehr. Also die eigene Erfahrung, die eigene Kindheit, die eigene Persönlichkeit prägt dann natürlich die Dinge auch ganz sehr.“

Der Entwerfer muss also dabei selbst noch Kind sein, d.h. sich in die Lage eines Kindes hinein versetzen und antizipieren können, „wie man selber damit spielen würde“. Die Voraussetzung für dieses Können ist, selbst einmal Kind gewesen zu sein, diese Situation zu kennen und seine Erfahrungen damit gemacht zu haben. Schraders Kindheit war ja schließlich die „schönste, die man sich überhaupt vorstellen kann“. Von daher taugt sie zum Vorbild und von daher prägt „die

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S TEFAN N OTHNAGEL eigene Persönlichkeit“ die Dinge, die er entwirft. Herr Schrader hat sich jedenfalls „zum Maßstab gemacht, nie so zu bauen, wie ich denke, dass die andern das wollen. Ich mach das so, wie ich das wollen würde.“ Er nimmt beim Entwerfen die Position des Auftraggebers ein, versucht, sich in ihn und dessen Lage zu versetzen und kann es von dort aus so machen, wie er das für sich wollen würde. So kommen die Person Schraders mit ihren Erfahrungen und ihrem Können und die Perspektive desjenigen, für den gebaut wird, zusammen.12 Warum will Herr Schrader nie so bauen, wie er denkt, „dass die andern das wollen“, warum die Vorstellungen und Bilder seiner Auftraggeber nicht umsetzen? Es sind verschiedene Lesarten plausibel, die sich nicht gegenseitig ausschließen müssen. Einerseits könnte Herr Schrader das Wollen der Kunden als „das Übliche“ ablehnen. Möglich erscheint auch, dass in Schraders Augen der Auftraggeber seine wahren Bedürfnisse nicht erkennt, weil diesem ein Wissen und Können „aus ner andern Richtung“13 dazu fehlt, über das jener aber verfügt. Für diese Möglichkeit spricht auch eine Äußerung Schraders an anderer Stelle über seine Kunden: „es gibt auch verschiedene Typen, die bestimmte Dinge überbewerten oder so was, ne. Und dann muss man entweder das berücksichtigen oder offensiv dagegen, äh, rausreden oder so“. Herr Schrader stellt sich hier als Experte dar, der erkennt, wenn sein Auftraggeber etwas falsch sieht und der dann eine geeignete Strategie für den Umgang damit findet. Womöglich kann Herr Schrader aber auch nicht alle Vorstellungen der Bauherren umsetzen, denn „die eigene Erfahrung, die eigene Kindheit, die eigene Persönlichkeit prägt die Dinge“, was das Entwerfen stark an die Person Schraders und deren Vorstellungen und Vorbilder bindet.

Methoden: „Gestalten pur“ und „Teamwork“ Am Beispiel des „Mäandertals“14 , einer Wegeführung die Herr Schrader anlegte, um Besucher an einer Baustelle im Park vorbei zu führen, beschreibt er sein Gestalten. Das Tal ist „vom Wegverlauf halt wie so ’ne Schlucht. [So] dass du im Grün drin steckst. Was wir ja immer so voraussehen, wie das dann, wo das hin wächst.“ Um diesen Raum zu erhalten, schneidet Herr Schrader selbst jährlich die Vegetation zurück. Er beschreibt das als „Gestalten pur [...] [Ich] hab dann ’n Gestaltungsbild im Kopf und sag: Du weg, du nicht. Du den Zweig weg und du darfst. Und seh’ das vor 12 | Herr Schrader erläutert: „[man] muss die Ziele des Auftraggebers zu seinen eigenen Zielen machen [...] nicht tun, was er will, was er sich träumt erst mal, was er will. Sondern, verstehen warum, und wie das zusammenhängt. Weil ihr habt ein Wissen aus ner andern Richtung, das hat er nicht. Und aus beiden zusammen, wird dann was.“ 13 | Siehe vorhergehende Anmerkung. 14 | Siehe Abb. 10 „Mäandertal“ im Aufsatz von Heiko Lieske “Landschaftsanalyse des Freizeitparks ‚Kulturinsel Einsiedel‘ in diesem Band.

„W EIL SIE HIER ’ N S TÜCK O ASE VORFINDEN .“ mir, wie das wohl, wie das weiterwachsen wird dann, ne. Das macht eigentlich richtig Spaß. Und das möchte ich nicht abgeben, weil das die andern nicht können“. Was Herr Schrader hier als „Gestalten pur“ beschreibt, ist ein kurzfristiges, situatives Handeln, bei dem alle Tätigkeit von einer Person, nämlich Herrn Schrader, ausgeht. Es ist also keine Erklärung nötig, was oder warum etwas zu tun ist, da er selbst Hand anlegt und alleine entscheidet „Du [...] weg und du darfst.“ (Eine Formulierung, die so nur zum Gegenüber einer personifizierten Natur gesprochen werden kann). Das Kriterium dieses Tuns ist das „Gestaltungsbild im Kopf“ (d.h. ganz bei Schrader), das erreicht werden soll. Dazu muss Herr Schrader mit dem natürlichen Wuchs der Vegetation gezielt umgehen können und um die Folgen seines Eingreifens wissen, er muss diese antizipieren, also vor sich sehen können, „wie das weiterwachsen wird“ und das mit dem „Gestaltungsbild“, das er gleichzeitig vor Augen hat, zur Deckung bringen. Herr Schrader hat demnach ein spezielles leibliches Können, bei dem Denken und Handeln zusammen fallen, er eine konkrete Gestalt15 mit seinem Handeln herstellen will, und er außerdem mit der Natur „auf Du und Du“ ist. Der Interviewte fühlt sich alleine im Besitz dieses Könnens, das ein erfolgreiches Handeln möglich und ihm zudem „richtig Spaß“ macht. Jedes Ergebnis bleibt provisorisch und wird im nächsten Jahr wieder verändert, sozusagen als Reagieren auf das eigene Handeln und das Wachstum der Vegetation. Das „Gestalten pur“ könnte Herrn Schraders Zugang zum Entwerfen sein, bringt es doch zwei biografische Entwicklungen zusammen: das Können des Forstarbeiters im Umgang mit dem natürlichen Wuchs des Baumes (die Antizipation „wo das hin wächst“ ) und das Können des Bildhauers, ein „Gestaltungsbild“ zu entwickeln und das Werkzeug an der richtigen Stelle anzusetzen. Herr Schrader kann und möchte vermutlich auch nicht alleine arbeiten, er braucht für sein Gestalten Mitarbeiter und hat unterschiedliche Aufgabenbereiche für sie eingerichtet. Seine Haltung für das Arbeiten im Team ist es, die Fäden in der Hand zu behalten. Er will der Autor seiner Werke sein, will auch hier „das Gefühl haben, der Steuerer zu sein“, indem er über „den Weg“ (d.h. die Entwurfsmethode) entscheidet. Es gibt also eine klare Hierarchie, die Herr Schrader an anderer Stelle als „Kreativitätskette“ bezeichnet. Er ist der Chef im Team und der Verfasser der „grundsätzlichen Gestaltungsentwürfe“. Die Initiative liegt mit der „Grundidee“ bei Herrn Schrader, er gibt das Konzept vor. Die Mitarbeiter, welche es können, die „gestalterische Kraft“ haben, sollen aber nicht einfach das nachbauen was ihr Chef „schon im Kopf hat“. Sie erhalten die Möglichkeit zu gestalten, sie sollen „sich selbst einbringen“. Genau wie Herr Schrader, sollen sie ihre Arbeit mit ihrer ganzen Person durchdringen. Auch hier scheint Herr Schrader seinen Lebensstil vermitteln zu wollen, diesmal an seine Mitarbeiter 15 | Es handelt sich um die räumliche Situation der „Schlucht“ und ihrer Anmutung, „dass du im Grün drin steckst“.

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(die dazu innerhalb eines bestimmten Rahmens die Freiheit, „schöpferisch“ zu arbeiten, erhalten), und schließt damit an seinen Wunsch an, „mit Freunden zusammen zu arbeiten“.16 Er hat sich seine Mitarbeiter danach ausgesucht, dass sie mit ihm „auf einer Wellenlänge“ schwimmen, so passen sie derart zusammen, dass er auch auf das Passen ihrer Arbeitsergebnisse vertrauen kann. Wo die Grenzen dieser Zusammenarbeit liegen, wird an einem Beispiel deutlich, in dem Herr Schrader vom Entwurfsprozess des „Krönums“17 erzählt: Er gibt die Grundidee vor und lässt diese von einer neu eingestellten Architektin im Modell darstellen, was jener aber nicht gelingt. Sie scheint (noch?) nicht ins Team zu passen, sie plant zu weit, macht alles „schon fertig“, anstatt ihre Arbeit als „Zwischenstand“ zu begreifen. Wenn Herr Schrader ausspricht, was der Architektin nicht gelungen ist, bringt er den Entwurfsprozess auf eine Formel: die Grundidee vorläufig „anzulegen“, darüber zu „diskutieren“ und den Entwurf dann „zu verändern“. Dabei stimmen sich die Mitarbeiter mit Herrn Schrader ab, loten seine Grenzen aus („Kannst’ damit leben?“ ) oder fragen ihn um Rat. So kommt die Herausforderung ins Spiel, einem anderen am Entwerfen Beteiligten die eigenen Vorstellungen verständlich machen zu müssen, damit dieser sie für sein weiteres Tun benutzen kann. Diese Vermittlung kann nur sprachlich erfolgen, auch muss Herr Schrader sein Konzept vorstellen und erklären und sich dabei immer wieder vergewissern, dass ihn sein Gegenüber verstanden hat. Nicht alle Begriffe sind klar, manche bedürfen der Veranschaulichung in Skizzen oder lassen sich erst, wie von Herrn Schrader bevorzugt, am Modell zeigen. Herr Schrader stellt den typischen Ablauf eines Projektes der Künstlerischen Holzgestaltung so dar: Zunächst reist er persönlich an den Ort des Projektes, um dessen Qualitäten kennenzulernen. Er macht dort Rundum-Fotos, die seinen Mitarbeitern später ein „Gefühl für den Raum“ vermitteln sollen. Außerdem will Herr Schrader aber auch den Auftraggeber kennenlernen und mit ihm ins Gespräch kommen, er will seine Interessen analysieren und ihn als Fachmann beraten. Danach erstellt er ein „Grundkonzept“18 und bespricht dieses mit einem der zwei Leiter der Modellbauabteilung. Zur internen Kommunikation des Entwerfens nennt Herr Schrader die „Modellskizze“ als wesentliches Mittel. Es handelt sich dabei um ein maßstäbliches aber aus Karton und Holz16 | Es sei hier an die im Abschnitt Anders sein entwickelte Argumentation erinnert. (S.219 f.) 17 | Das „Krönum“ ist ein mehrgeschossiges Gebäude, das als Restaurant und Showbühne betrieben werden soll. Es wurde von Herrn Schrader und seinen Mitarbeitern entworfen und geplant und befand sich zum Zeitpunkt des Interviews gerade im Bau. 18 | Herr Schrader betont, dass man dazu in der richtigen Verfassung sein muss, so hatte er „auf einmal Zeit beim Autofahren und war frisch, das ist auch immer wichtig, damit man überhaupt das kann“.

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stäben schnell und grob zusammengesetztes Modell, das häufig und mit wenig Aufwand verändert werden kann. An Hand der Modellskizze werden Details der Planung (Maße, Normen, Kosten) „immer weiter eingegrenzt, und dann wird das richtige Modell entwickelt“, das dem Kunden vorgestellt wird. Dieses Modell dient dann bei der „reinen Umsetzung“, als „dreidimensionale Zeichnung“: der Produktionsleiter bespricht daran mit den Meistern die Ausführung, es wird in Baugruppen zerlegt und ist maßliche Grundlage der Konstruktion, schließlich wird es auch zur Montage der Bauten mitgenommen. Auf die Frage nach den Vorteilen des Arbeitens mit Modellskizzen antwortet Herr Schrader: „Die Modellskizze bringt die Basis, damit man gleichberechtigt drüber reden kann,“ und präzisiert: „dann sehen beide das Gleiche. Das ist wie so n Schritt aus m Gehirn ausgeschnitten und hingepackt. Und man kann darüber reden. Man kann sagen: Ja das ist super, aber hier drüben…“. Das Klären der Sicht, d.h. der Bedeutung der im Sprechen verwendeten Worte ist das Ziel des Arbeitens mit dem Modell. Das Kennenlernen von Ort und Auftraggeber sowie die Erstellung des Konzepts blieben Herrn Schrader alleine vorbehalten, die Ideen und Vorstellungen waren bis dahin verbal verfasst, die Bedeutung der Worte waren für Schraders Mitarbeiter nicht erreichbar, weshalb man nicht „gleichberechtigt“ über sie sprechen konnte. Im Modell werden sie anschaulich und begreifbar, sie sind nicht mehr flüchtige Gedanken, sondern als Objekte „hingepackt“; vor allem merkt man, ob beide „das Gleiche“ sehen (oder darüber reden), indem man spricht und zeigt und so Zusammenhänge feststellen und Entscheidungen begründen kann. Die Modellskizze sichert demnach in dieser Phase das Verständnis der am Entwerfen beteiligten Personen ab. Es lassen sich also zwei Methoden wesentlich unterscheiden. Die von Herrn Schrader als „Gestalten pur“ bezeichnete, scheint biografisch gewachsen. Sie ist im Beispiel des Arbeitens am Mäandertal allein auf seine Person bezogen, bei der alle Tätigkeit liegt. Das Beispiel des Beschneidens der Vegetation, stellt sich als Aufgabe dar, die Herr Schrader spielerisch alleine bewältigt und mit der er locker umgeht. Ihr Ergebnis gilt nur für ein Jahr, dann wird erneut gestaltet. Für die Antizipation der Veränderung ist die gedankliche Vorstellung („voraussehen“ ) ausreichend, eine Vermittlung für sich selbst oder andere ist nicht nötig, es fallen hier beim Gestalten also Entwerfen und Ausführen in einer Situation zusammen. Herr Schrader ist bei diesem Handeln selbst im Raum 19, der durch dieses gestaltet wird. Anders als beim „Teamwork“, wo ein Modell die spätere Ausführung repräsentiert, ist Herr Schrader in die Situation verstrickt, sein Handeln hat direkt und sofort Konsequenzen und kann nicht in Varianten abgewogen werden. Der Gestaltende macht sich durch das Im-Raum-Sein die

19 | Vgl. Herr Schrader: „wie so ne Schlucht, [so] dass du im Grün drin steckst“.

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Aspekte des orientierten und des gestimmten Raumes20 zu Nutze, etwa wenn Herr Schrader sich vorstellt, wo die Vegetation „hinwächst“ und so zielgerichtet auf die Raumwirkung „wie so ne Schlucht“ hinarbeiten kann. Möglicherweise tritt Herr Schrader diesem Raum aber auch kurzzeitig gegenüber, wenn sein „Gestaltungsbild im Kopf“ tatsächlich bildhaft gemeint ist und mit dem Bild des Raumes ihm gegenüber verglichen wird, oder wenn er erwähnt: „Gibt auch noch Sachen, die man, die ich trotzdem drei Tage später wieder wegreißen lasse“, er also aus der Distanz zu einer anderen Einschätzung kommt, als beim Im-Raum-Sein. Die zweite Methode, „Teamwork“, ist notwendig, weil Herr Schrader sein Werk im Regelfall nicht alleine umsetzen kann und dazu mit anderen Menschen zusammenarbeiten muss (und will). Er will dabei führen, ist also darauf angewiesen, seine Idee („Gestaltungsbild“ ) den Mitarbeitern zu vermitteln, bzw. deren Vorstellungen zu verstehen, um diese zielgerichtet zu bewerten. Die Vorhaben im Gestalten für Auftraggeber sind ungleich komplexer, bedürfen der Planung und geben andere zeitliche und räumliche Dimensionen vor. Sie werden nicht „in der Situation“ angegangen, sondern im abstrakteren, aber hinreichend anschaulichen Modell, das den Entwurf darstellt. Der Gestaltungsvorgang ist nun in unterschiedliche Arbeitsschritte („Kreativitätskette“ und „reine Umsetzung“ ) zerlegt, für die das Modell als Fixpunkt verwendet wird. Diese Methode mag in Schraders Augen aber hinter der ersten zurückstehen, sie scheint – überspitzt formuliert – verwässert oder verdünnt zu sein, während erstere noch „pur“, also das eigentliche Gestalten ist.

Die Kriterien der Gestaltung Direkt nach seinen Kriterien für einen gelungenen Entwurf gefragt, benennt Herr Schrader im Zusammenhang mit Projekten der Holzgestaltungsfirma drei Dinge als ausschlaggebend: das Passen der Gestaltung an den Standort, das Erfüllen eines Zwecks und das Schaffen eines „Unikats“. Grundsätzlich versucht Herr Schrader „vom Gefühl her [...] harmonische Zustände herzustellen“. Er setzt damit diese (ausgeglichenen, wohlklingenden) Zustände des Gefühls als erstrebenswert, als gut und vor allem als überhaupt herstellbar voraus. Seine Methode ist es dann, das Bauwerk so zu gestalten, dass dieses sich „nahtlos mit der gegebenen Natur ergänzt und zusammen rein passt richtig“. Das als Natur Gegebene bedeutet hier Landschaft als vorgefundene Gestalt aus Gewachsenem und Gebautem. Diesem vorgefundenen Zustand fehlte aber etwas, so wie dem gestalteten Objekt ohne seine Einbettung in eben diesen Zu-

20 | Zu den Raumbegriffen siehe die Ausführungen im Text von Sigrid Anna Friedreich „Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein. Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften.

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stand etwas fehlen würde. Erst beide zusammen ergeben ein richtig passendes Ganzes. An einer anderen Stelle bringt Herr Schrader seine Wertschätzung für die geistige Haltung Hundertwassers zum Ausdruck, bemängelt aber das fehlende „Gemeinschaftsbild“ 21 bei manchen von dessen Bauwerken. Dabei formuliert Herr Schrader eine Überzeugung, quasi als Maxime seines Gestaltens: „Es ist ja mit allen Dingen so: Es gibt Detailgestaltungen, die sich in einem Größeren dann wieder einbringen müssen“. Für Herrn Schrader ist es also grundsätzlich notwendig, dass alle (gestalteten) Einzelheiten sich in einem „Größeren“ wiederfinden „müssen“, d.h. das Einzelne zum Ganzen passen muss. Nach Stil und Handschrift seiner Gestaltungen gefragt, spricht Herr Schrader einen weiteren Aspekt an: „Ich hab’s ja gerade versucht zu erklären. Wo sind meine Ideale? [...] die Anregungen, wo kommen die her? Ist das eine. Und das andere ist eben: Wie ist das Gestaltungsgefühl, was man hat?“ Mit dem Verweis auf ein „Gefühl“ beschreibt Herr Schrader die Entwurfsmethode als ein leibliches Können, weicht aber zudem in einen Bereich aus, der sich dem Fragen nach Gründen und in gewisser Weise auch der Objektivität der Sprache entzieht. Das Gefühl ist ganz bei dem, der es empfindet, es ist nicht begründbar und weder richtig noch falsch. Ein „Gestaltungsgefühl“ kann Herrn Schrader hier in zwei Weisen dienen: als Umschreibung eines (für ihn) sprachlich nicht vollständig fassbaren Phänomens und als letzte Rechtfertigung, die das weitere Fragen nach Gründen beendet. Bislang tauchte vor allem das Kriterium des Passens als ein Zusammenpassen von Altem und Neuem sowie Einzelnem und Ganzem auf. Ob eine Gestaltung aber passt, das kann Herr Schrader womöglich nur über sein Gefühl entscheiden. An einigen beispielhaften Bauwerken aus dem Freizeitpark „Kulturinsel Einsiedel“ (die im Interview an Hand von Fotos besprochen wurden) wird dies deutlich. So sprach Herr Schrader etwa im Zusammenhang mit dem o.g. „Gestalten pur“ von einem „Gestaltungsbild im Kopf“, dem das gezielte Manipulieren der Vegetation („rausschneiden“, „rausfällen“, „zusammen schrauben“, „pflanzen“ ) dient. Die Pflanzen sollen in ein bestimmtes Landschaftsbild „hineinwachsen“, das für die Besucher des Parks „natürlich“ wirken soll: „Ich will ja nun nicht den Wald haben, der über allem steht, sondern es soll so ’ne verrückte Wildnis-Landschaft sein. Und das musst du schon steuern. Das sieht zwar kein Mensch der hier durchgeht, der denkt das wuchert alles, aber wenn ich das nicht machen würde, würde das total beschissen aussehen“. Das Kriterium des Handelns ist auch hier das Passen, konkret die Übereinstimmung der (wachsenden) Vegetation mit einem vorgestellten Zustand, dem „Gestaltungsbild“. Das Entwerfen und Bauen 21 | Herr Schrader bemängelt an einem Entwurf Hundertwassers die Mitbestimmung späterer Mieter. Er erklärt, dass nur wenige Mieter dies wollen und können und die so gestalteten Häuser deshalb „ein einziges Wirrwar“ sind.

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des „Krönums“ scheint mir ein weiteres Beispiel für diese Entwurfsmethode zu sein: nachdem der Versuch des „Teamwork“ mit der Architektin scheitert, entscheidet sich Herr Schrader dafür, das Gebäude ganz alleine „wie ’ne Skulptur zu entwickeln“, wichtig ist ihm dabei, „drinzustehen und zu sagen, jetzt muss ich da drüben die Plattform so [gestalten]“. Auch hier gibt es eine konzeptionelle Vorstellung: „Von vornherein war mir klar, ich will solche Dachbalken haben. Das muss so archaisch sein, die Wände nach innen kippen. Dass das lastet. So richtig trägt und lastet. So schwer ist“. Das Konzept zeigt sich als vorgestellte Raumwirkung, die erreicht werden soll. Den methodischen Umgang damit beschreibt Herr Schrader in der Folge als ein Abwägen zwischen „gestalterischen“ Aspekten (dem Passen zur atmosphärischen, bildhaften Vorstellung) und „praktischen“ Aspekten (der zu Beginn des Abschnitts erwähnten Zweckerfüllung), die sich miteinander „vereinbaren lassen“ müssen. Die Durchdringung beider Aspekte wird am Beispiel der „Arbeitshalle“ noch deutlicher, einer Betonplatte die im Bereich zwischen Freizeitpark und Betriebsgelände liegt. Sie kann unten von den Mitarbeitern der Holzgestaltungsfirma und oben von Besuchern des Freizeitparks betreten werden. Herrn Schrader kam es beim Entwurf darauf an, „keine Halle im klassischen Sinn“, d.h. keine „Blechhalle“ zu bauen, denn diese „passt überhaupt nicht in die Landschaft“ (des Parks einerseits, möglicherweise aber auch des Neißetals, in dem der Park liegt). Auch wurde das Gebäude bepflanzt und die Oberfläche auf Besucherseite verputzt, denn „da möchte ich natürlich dann keine Bunkeratmosphäre haben, sondern es soll halt auch in die Natur rein passen“. Andererseits argumentiert Herr Schrader auch mit Gründen des Zwecks: „ [ich] hab praktisch ’ne Art Tiefgarage geschaffen. Das heißt wir können auf das Dach drauf, können dort weiterbauen“. Es zeigt sich, dass beide Kriterien, das Passen (der Atmosphäre, des Bildes) und die Erfüllung des Zwecks, gemeinsam auftreten. Darüberhinaus wird deutlich, dass es für den Aufenthalt der Besucher in oder mit den Bauwerken die passende Atmosphäre braucht. Ein letztes Beispiel führt Herrn Schraders Kriterien noch einmal im Zusammenhang vor: Herr Schrader erzählt, er versuche „das Holz als Lebewesen zu betrachten. Und dem wie so ein zweites Leben noch mal zu geben“22 . Da Bretter dabei seiner Meinung nach kein zweites Leben für den Baum darstellen, weise ich ihn auf den Eingang zum „Zauberschloss“ hin, der gerade aus Brettern gebaut ist. Herr Schrader rechtfertigt aber diese Gestaltung: „Stell dir vor, ich würde jetzt das aus lauter so Handgriffen – hau den Balken und so weiter – hier zusammenfügen! Ist die Frage, ob’s zum Schluss noch ein Ganzes ergibt. [...] Aber das ist zweitrangig. Erstrangig ist natürlich auch die Frage des Aufwands und Aufwand und Nutzen in ein Verhältnis zu bringen“. Als „erstrangig“ bezeichnet 22 | Siehe folg. Abschnitt. Diese Haltung lässt als Kriterium u.a. bestimmte Materialien ausscheiden („Ich hasse Spanplatten“).

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Herr Schrader hier das Kosten-Nutzen-Verhältnis gegenüber dem Kriterium der Ganzheit, des Zueinander-Passens. Beide Kriterien lassen die Herstellung des Bauwerks „aus lauter so Handgriffen“ unvernünftig erscheinen und damit ausscheiden. Herr Schrader führt weiter aus: „wir dürfen das auch nicht zu weit treiben. Das sind Sachen die eher so, sagen wir das Grundgefühl, das Grundprinzip prägt. Und im Einzelfall geht’s eben genau darum: Wenn ich diese Wände jetzt geradlinig hoch geschoben [hätte], dann hätte ein gewisses Etwas, der gewisse Reiz, das Spielerische gefehlt“. Nicht zu weit treiben möchte Herr Schrader hier sein Prinzip, das Holz „als Lebewesen“ zu verwenden, das die Gestaltung nicht so sehr „prägt“, wie „das Grundgefühl“. Dieses Gefühl schafft ein „gewisses Etwas“ in Schraders Gestaltungen, das fehlen würde, wendete man „bloß“ die ausgesprochen Kriterien an. Damit ist möglicherweise ein entscheidender Faktor der Gestaltung in den für den Interviewten sprachlich nicht fassbaren Bereich verlegt. Wir erfahren zwar, dass ein gewisser „Reiz“ und das „Spielerische“ bei den Gestaltungen nicht fehlen dürfen, also durchaus ein Kriterium sind, worin dieses aber besteht, wie man es erkennt oder entwirft, das kann oder will Herr Schrader nicht sagen. Vielmehr erscheint das Abwägen, das „Passend-Machen“ der Gestaltung im Bereich der Intuition (sicher auch der Erfahrung) angesiedelt, wenn es ein „Grundgefühl [...] prägt“.

5. S TIL In Zusammenhang mit dem charakteristischen Aussehen seiner Werke kommt Herr Schrader immer wieder auf Grundsätze zu sprechen, die sich darin ausdrücken und hinter der Erscheinung wirksam sind. In den nachfolgend angeführten Beispielen verdichtet sich die Verbindung zwischen Schraders Biografie und seinen persönlichen Haltungen einerseits und der konkreten Erscheinung seines Werkes oder ihrer Entstehung auf der anderen Seite.

Vorhandene Gestaltqualitäten nutzen Der Stil seiner Gestaltungen, so Herr Schrader „hängt so’n bisschen mit meiner Vergangenheit zusammen. Wenn wir jetzt Holz verwenden, versuche ich – das ist ein Versuch, das ist natürlich nicht immer zu machen – aber das Holz als Lebewesen zu betrachten. Und dem wie so ein zweites Leben noch mal zu geben. Und das nicht so pur als Material zu verplempern. Ich hasse Spanplatten“. Es geht Herrn Schrader hier darum, die Erscheinung seiner Gestaltungen zu erklären. Er führt aus, dass diese „krumme“ Form nicht etwa aus der (bloß ästhetischen) Haltung „krumm ist schön“ herrührt, sondern es dafür eine (ethische) „Begründung“ gibt, nämlich die, den Baum „als Lebewesen“ zu verwenden. Das bedeutet, das „Lebewesen“

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des Holzes in Erscheinung treten zu lassen, trotz Bearbeitung (z.B. Zersägen) soll die Geschichte des Baums, sein Wachstum und Gepräge für die Besucher zu erkennen sein. Die Form der Bauwerke rührt also daher, dass die verwendete Holzart der Robinie natürlicherweise krumm wächst. Wäre das nicht mehr erkennbar, würde man das Holz schlechterdings „pur als Material […] verplempern“; so wird etwa bei den gehassten „Spanplatten“, das Holz in seine Zellstruktur aufgelöst. Den Ursprung dieser Maxime sieht Herr Schrader selbst in seiner „Vergangenheit“, die Ausbildung und die Arbeit im Forst haben wahrscheinlich diese besondere Sicht auf das Holz geschult. Das Prinzip fügt sich aber auch in die Haltung Schraders ein, anders sein zu wollen, etwa wenn jedem Baum eine individuelle Geschichte zugestanden wird, das Holz anders als die Spanplatte nicht genormt sein und natürlich wirken soll. Schließlich weist die Ablehnung der ästhetischen Regel „das muss immer krumm sein, und es hat aber keine Begründung“ eine Nähe zur Ablehnung des Künstlerstatus auf. Der andere Gedanke, dem Holz ein „zweites Leben noch mal zu geben“, führt zum möglichen Verständnis dieses Handelns als „Recycling“. Mit den anderen Materialien im Freizeitpark scheint Herr Schrader eher nicht dogmatisch umzugehen. Er verwendet, was verfügbar und günstig zu bekommen ist: Betonplatten aus damaligen Beständen der Nationalen Volksarmee, Gummimatten und Stahlrohre aus dem Braunkohle-Tagebau, alte Fenster, die im Bekanntenkreis übrig waren. Diese Dinge werden umgearbeitet, ihre Gestaltqualität wird aus dem Zusammenhang der Verwendung gelöst und neu gedeutet: Gummi für Förderbänder nutzt er als Dacheindeckung, Entwässerungsrohre werden zu Tunneln. Den Gegenständen haftet aber ihre Geschichte, ihre alltägliche Verwendung an, welche für die Besucher erkennbar bleibt.

„Unikat“ und „Provisorium“ Zu Beginn seiner Unternehmertätigkeit, so berichtet Herr Schrader, hat ihm ein erfahrener Unternehmer geraten: „Du musst dich entwickeln. Das gehört dazu, du kannst nicht stehen bleiben. Du musst dich permanent entwickeln“ – ein Rat, den sich Herr Schrader zu Herzen genommen hat und der seine Ausprägung in zwei Haltungen erfährt: derjenigen, „nur Unikate“ herzustellen und derjenigen, den Freizeitpark als „Provisorium“ zu begreifen. Der Grundsatz „nur Unikate“ bezieht sich auf das Entwerfen der Holzgestaltungsfirma. Ein Entwurf gilt Herrn Schrader dann als gelungen, „wenn wir ein Stück bissl über uns hinaus gewachsen sind. Wenn es auch ein Weg ist, also keine Wiederholung von dem, was wir schon gemacht haben“. Der berufliche Grundsatz schließt so an Schraders Selbstbild an, „schöpferisch“ zu arbeiten, also Dinge (neu) zu schaffen, zu erfinden und sich nicht zu wiederholen. Herr Schrader will eben „prinzipiell nur eigene Ideen umsetzen“ und nicht das, was andere erfunden haben. Diese Haltung ist damit eng mit der Person Schraders, in der Um-

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setzung aber auch mit der des jeweiligen Mitarbeiters (der „Gestaltungsfreiheit“ hat) verbunden. Sie macht sich gewissermaßen den Zufall des Individuellen zu Nutze und ergänzt sich mit dem Vorgehen, jedes Projekt als Antwort auf individuelle „Bedürfnisse“ der Auftraggeber und Nutzer zuzuschneiden – was zwangsläufig zu Einzelstücken führt. Im Erfolg und der anhaltenden Nachfrage nach seinen Produkten deutet Herr Schrader seine Methode als wirtschaftlichen Vorteil, die ihm eine „Marktlücke“ verschafft und vorm „Überholen“ durch die Konkurrenten schützt. Schon als Herr Schrader von der Entstehung des Freizeitparks erzählt weist er auf dessen „Provisorien“ hin. Als das Interview aber zum Schluss kommt, nimmt Herr Schrader das Thema noch einmal auf: „Also das Provisorium als eine einfache Lösung, nicht für tausend Jahre gebaut. Wo’s auch nicht schlimm ist, wenn wir das noch mal verändern. Also gerade hier dieser Hang (zeigt auf ein Foto). Da ist die Bühne davor und da haben wir einfach Stämme hingeschwuppt. Und irgendwann verfault einer, dann wird er ausgetauscht. Und irgendwann ist es mal so weit, dass man hier was anderes macht, eine andere Lösung. Aber diese Lösung hat nicht viel gekostet und reicht erst mal ’n paar Jahre“.

Dieses Prinzip ist eines, das im Freizeitpark „überall steckt“, jedes Bauwerk ist also „vorerst“. Kurzfristig und mit wenig Aufwand und Kosten hergestellt, reicht es „erst mal ’n paar Jahre“; die spätere Veränderung ist als Entwicklung zum Besseren kalkuliert. Erfahrungen, die beim ersten Entwerfen noch fehlten, können so im Umgang mit dem Bauwerk gesammelt werden und in die Entwicklung investiert werden, die Gestaltung ist auf diese Weise verbesserungsfähig. Herr Schrader sieht seinen Freizeitpark als „einen Organismus […] eine Pflanze, die sich ständig weiterentwickelt“, alles ist deshalb provisorisch. Entsprechendes gilt für seine Haltung dem Leben gegenüber, wenn er davon spricht, dass er sich „von einem Projekt zum anderen gehangelt“ hat. Die Überzeugung dahinter könnte heißen: „Du musst dich entwickeln, um anders zu bleiben“. Das fordert immer neue Entscheidungen „aus der Situation heraus“ und integriert so die Veränderungen der Welt (wie das Wachstum der Vegetation und den Verfall der Holzbauwerke).

6. Z USAMMENFASSUNG In den zuvor angeführten Beispielen stellt Herr Schrader die Einheit von Person und Werk heraus. Er erklärt und rechtfertigt das Aussehen seiner Werke mit persönlichen Überzeugungen und Haltungen zur Lebensführung. Das Gefühl, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und das Handeln selbst zu bestimmen, ist ihm sehr wichtig. Im Interview zeigt Herr Schrader das an biogra-

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fischen Beispielen aus seiner Kindheit oder seiner Berufswahl und der späteren Abkehr davon, sowie der Hinwendung zur Holzbildhauerei. Seiner Vorstellung vom guten Leben scheint er in der Situation kurz vor der Wende, als er und seine Familie als „Einsiedler“ gelebt haben, am nächsten. Er konnte tun und lassen, was er wollte, da er abseits lebte, führte ein einfaches, naturnahes Leben, das er sich gut von seiner Tätigkeit als angehender Holzbildhauer leisten konnte; der Spaß stand im Vordergrund der Arbeit. In der Situation der Wende entscheidet sich Herr Schrader zum Unternehmer-Dasein. Diese Tätigkeit macht künftig sein Leben aus, er wohnt und arbeitet auf dem Gelände seines Unternehmens, bzw. des Freizeitparks und will dort „gut“ leben. Das Thema des Erlebnisses tauchte erst nach und nach im Handeln von Herrn Schrader auf. Seitdem er die Holzbildhauerei betrieb, hatte er immer schon Spielskulpturen gemacht. Gestaltete sein Unternehmen zunächst viele Spielplätze, verschob sich das Tätigkeitsfeld mit der Zeit auf Gestaltungen für die Freizeitbranche, und Herr Schrader konnte Erfahrungen in diesem Bereich sammeln. Dieses Wissen ermöglichte es ihm, den ungeplanten „Holzspielplatz“ plötzlich anders zu sehen und darin das Potential eines Freizeitparks zu entdecken. Die Entstehungsgeschichte der „Kulturinsel Einsiedel“ ist damit eng an die Lebensgeschichte der Person Schrader geknüpft und so soll der Park letztendlich auch deren Wertvorstellungen vermitteln, wenn er seinen Besuchern das andersartige Leben des Herrn Schrader als Alternative zum stumpfen Alltag zeigt. Herr Schrader schafft mit der „Kulturinsel Einsiedel“ einen Freiraum, der den Besuchern das selbstbestimmte Leben ermöglichen soll. Einen Raum, in dem das „Abenteuer in der Natur“ erst möglich wird, der auf diese Weise auch Mängel des Alltags auszugleichen vermag. Unter Abenteuer versteht der Interviewte eine körperlich-leibliche Herausforderung, deren Meistern das positive „Erfolgserlebnis“ verspricht (ein mögliches Scheitern an dieser Anstrengung macht Herr Schrader nicht zum Thema). Es fällt auf, dass Herr Schrader viel häufiger vom Gestalten oder Bauen, als vom Entwerfen spricht23, was mit Blick auf seinen Werdegang verständlich wird: zunächst über das Hobby des Schnitzens, sicherlich auch über Bildhauer-Kurse an der Kunsthochschule dürfte Herr Schrader mit dem Gestalten in Kontakt gekommen sein, zu dem das Bauen als Umsetzen des Vorgestellten selbstverständlich dazu gehörte. Aus dieser Zeit als Holzbildhauer könnte auch Schraders Verständnis vom „Gestalten pur“ stammen, dass er an einem Beispiel aus der Landschaftspflege im Freizeitpark schildert: er alleine antizipiert und handelt direkt in einer Situation, das Ergebnis schließt die zukünftige Entwicklung (hier der Vegetation) ein und ist nur vorerst gültig. Die Tätigkeit als „Erlebnismacher“, mit größeren und komplexeren Aufgaben machte die Zusammen23 | Die Begriffe können meiner Ansicht nach hier synonym verstanden werden, wenn man dabei bedenkt, dass Entwerfen und Bauen im Gestalten zusammen kommen.

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arbeit mit anderen nötig, in der sich zudem Herrn Schraders Leben erfüllt, der „mit Freunden“ zusammen arbeiten will. Die Wahl der Mitarbeiter ist für Herrn Schrader denn auch die Wahl seines Lebensumfeldes und die persönliche Beziehung zu ihnen wird ausschlaggebend. Nicht alle sind darum Fachleute auf dem Gebiet des Gestaltens und vielleicht verwendet Herr Schrader auch deshalb (im Vergleich zu Plänen anschaulichere) Modellskizzen und Modelle als Grundlage der Kommunikation im Unternehmen. Grundsätzlich will Herr Schrader den Weg vorgeben, aber seinen Mitarbeitern auch „Gestaltungsfreiheit“ lassen. Herrn Schraders Haltung zum Leben, dieses selbst zu bestimmen, zeitigt auch einen Grundsatz für sein Entwerfen, er will „nur eigene Ideen umsetzen“. Im Gestalten für andere drückt sich diese Haltung in der Strategie aus, nicht die konkreten (Gestalt)Wünsche der Auftraggeber zu erfüllen, vielmehr versetzt sich Herr Schrader in seine Kunden hinein, versucht ihre „Bedürfnisse“ zu verstehen, um diese dann auf seine Weise zu erfüllen. Zum Unwillen, die Ideen anderer umzusetzen, kommt hier das Selbstverständnis als Fachmann hinzu, der mit dem Auftraggeber ins Gespräch kommt und diesen berät. Herr Schrader akzeptiert keine Vorbilder (die „Anregungen“ anderer und das, was man „aus seiner Kindheit mitnimmt“ sind das maximale) und so kann er auch für seine Gestaltungen keine nennen. Seine Art zu arbeiten ist „schöpferisch“, ist „erfinden“. Das hauptsächliche Kriterium dieser Arbeit ist das Passen, dem zuletzt nur über Herrn Schraders Intuition beizukommen ist. Seine Gestaltungen sollen harmonische Empfindungen auslösen, die dem Alltäglichen abgehen, und müssen deshalb eines sein: anders – als das Normale, anders als die Alltagswelt. Materialien oder Fragmente werden für die Verwendung am, bzw. als Bauwerk umgedeutet und umgearbeitet. Das Holz nimmt als hauptsächliches Material (und als solches mit einem biografischen Hintergrund) sicherlich eine besondere Position ein, aber auch diesem Material soll eine verborgene Qualität entlockt werden, wenn seine Geschichte lesbar gemacht wird. Den Umgang mit Erfahrungen und Können beim Entwerfen – im Freizeitpark stellt er sich im Prinzip des Provisoriums, bei den Produkten der Holzgestaltung als Unikat dar – beschreibt Herr Schrader als „Versuch und Irrtum“, aus Fehlern soll gelernt werden. D.h. das Machen von Fehlern beim Gestalten ist von vornherein einkalkuliert, und Herr Schrader geht progressiv damit um, indem er daraus ein Wissen aus Erfahrung aufbaut. Mit dem Entwerfen wird also in gewisser Weise zwanglos oder spielerisch umgegangen: einmal indem man „tut und lässt, was man will“ und sich die Freiheit nimmt, spielerisch zu gestalten, ein anderes Mal, indem jedes Ergebnis nur vorerst gilt, also Ausgangspunkt einer weiteren Entwicklung ist. Herr Schrader trifft in seinem Entwerfen auf Themen, die dem professionellen Architekturdiskurs gut bekannt sind: Materialität, Wirkung, Benutzbarkeit oder Zweckmäßigkeit, nicht zuletzt die Frage der Kosten werden dort seit langem besprochen. Seine (selbstgewählte) Außenseiterposition erlaubt Herrn

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Schrader aber einen Blickwinkel, den der typische Architekt nur schwer einnehmen kann und so macht das Interview auf Problemstellungen aufmerksam, von welcher die professionalisierte Debatte nur am Rande oder gar nicht redet. Herrn Schrader ist es möglich, vom „Gestaltungsgefühl“ zu sprechen und das Provisorium an Stelle genauer Planung zu loben. Er begegnet der Herausforderung, Raumwirkung (sich und anderen) zu vermitteln mit Modellen. Schließlich begreift er den Freizeitpark als einen Raum, der seinen Besuchern Möglichkeiten zum Handeln bieten soll und sieht darin seine Gestaltungsaufgabe.

Zwischen „Klischee“ und „Möglichkeiten“ Die Gestalter im Vergleich Stefan Nothnagel

1. A RCHITEK TUR UND E RLEBNIS ? Als Ingenieur, der vor allem im Architekturentwurf ausgebildet ist, stellte sich mir, als ich an das Thema unserer Forschungen herantrat, die Frage, was „Erlebnis“ denn mit Architektur, mit dem Entwerfen und Bauen zu tun hat. Zielt das Handeln des Architekten auf ein Erlebnis? Wird an den Akademien etwa das Fach Erlebnis-Gestaltung gelehrt? Ist es nicht vielmehr so, dass unter der Überschrift des Erlebens Scheinwelten und gestalterische Zumutungen entstehen, die unserem Denken und Wollen als Architekten geradezu entgegenstehen? Blickt man auf den Diskurs der Fachpresse, so taucht das Thema Erlebnis tatsächlich zuerst als Reaktion auf die baulichen Auswirkungen der „Erlebnisgesellschaft“ auf. Max Rieder1 kritisiert die zunehmende Verwendung des Erlebnis- u. Landschaftsbegriffs „zur Vermarktung des Trivialen“, Alban Janson2 stellt einer alle Lebensbereiche durchdringenden kommerziellen Kulturindustrie die „anspruchsvolle Architektur“ gegenüber. Thorsten Bürklin3 fordert das Erleben als „Empfinden und Denken, Gefühl und ratio zugleich“ zu verstehen und das Erleben des Alltags wieder zu erlernen. Das Erlebnis wird in diesen Beiträgen zum einen als Gegenstand des derzeitigen Architekturschaffens behauptet, zum anderen werden z.B. bei Rieder „Erlebniswelten“ als problematische und unerwünschte Entwicklung beschrieben, die entgrenzte, global austauschbare Räume schaffe, welche von den „Nobodys der wissenschaftlichen Fachwelt“ umgesetzt würden. Das Handeln der Besucher wird als Flucht aus dem Alltag verstanden, die Ursache dafür in Städten gesehen, denen „Akti1 | Rieder, Utopie, 2004. 2 | Janson, Kapazität, 2004. Der Aufsatz erschien in der Zeitschrift des BDA „Der Architekt“, die das Heft 3/2004 der „Welt als Erlebnis“ widmete, u.a. mit einem Beitrag von Gerhard Schulze. 3 | Bürklin, Erleben, 2004.

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onsräume“ fehlen und die „dem Verlust der letzten Frei-Räume“ durch eine übermächtige Kommerzialisierung ausgesetzt seien.4 Eine andere Perspektive auf das Thema öffnet Janson, wenn er betont, dass Architektur räumlich erlebt wird und vom Standpunkt des entwerfenden und bauenden Architekten eine Erweiterung des Begriffs der „architektonischen Sachverhalte“ um die „Erlebnisdimension“ vorschlägt.5 Auch Steen Eiler Rasmussen6 fordert unter dem Titel „Architektur Erlebnis“ eine lebensweltliche Sicht auf die Architektur, die an der Wahrnehmung von Bauwerken ansetzt. Zudem hebt er zwei Weisen des Erlebens gegeneinander ab: das Gegenüber-Haben von Körpern und das DarinSein in einem Raum. Franz Xaver Baier7 mahnt ebenfalls einen Wechsel des Architekturbegriffs zu einem Verständnis des gelebten Raumes an, in dem der Mensch immer schon ist. Während Rasmussen das Erleben als Verstehen von Dingen begreift, höchstens noch vom „Eindruck“ eines Raumes spricht8, weist Baier darauf hin, dass Raumerleben „nicht zu trennen von den Stimmungen, Gefühlen und Affekten“ und „eher unreflektiert emotional erfahrbar“9 ist. In diesem Sinne äußern sich auch Ludwig Fromm10, der dem gebauten Raum einen Erlebnisraum nebenan stellt, „in dem wir uns fühlend befinden“, sowie Alban Janson, der (Graf von Dürckheim zitierend) von „Stimmungsqualitäten“ eines Raumes oder vom „Innengefühl“ darin11 spricht. Kommen diese Beiträge vorwiegend aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Erleben oder aus der Entwurfslehre, so lassen sich auch Berichte der entwurflichen Praxis, dem Machen von Architektur finden: Peter Zumthor12 spricht davon, dass Atmosphären die „emotionale Wahrnehmung“ ansprechen, dass ihn Stimmungen berühren und er in Räumen sehr schnell „ein Gefühl für das, was ist“ habe. Was hier in der Entwurfspraxis auftaucht, ist nichts anderes als das Erleben von Atmosphären, das davon Betroffen-Sein, ein gefühlsmäßiger Eindruck vor jeder verstandesgemäßen Vergewisserung. Auch Verena Huber, eine schweizerische Innenarchitektin, beschreibt Stimmung als etwas, das „erlebt und erfahren werden“ kann und „nur in der Beziehung von Mensch zu Mensch

4 | Rieder, Erlebniswelten, 1998, S. 25. 5 | Janson, Scherzo, 2005. Das Verständnis dieser „Erlebnisdimension“ wird dort in Anlehnung an Graf von Dürckheims Begriff „gelebter Raum“ entwickelt. Erleben und Raum sind demnach miteinander verknüpft. 6 | Rasmussen, Architektur, 1980. 7 | Baier, Raum, 1996. 8 | Rasmussen, Architektur, 1980. S. 42 ff. 9 | Baier, Raum, 1996. S. 35. 10 | Fromm, Raumpaar, 2008. 11 | Janson, Scherzo, 2005. S. 158 ff. 12 | Zumthor, Atmosphären, 2006.

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und vom Menschen zum Raum“13 entstehe. Bellprat Associates14 (Architekten aus Winterthur, die sich als Szenografen verstehen) erläutern an einem touristischen Beispiel, wie sie „das Erlebnis Rheinfall steigern“ konnten und meinen damit die gezielte Herstellung bestimmter Befindlichkeiten bei den Besuchern. Hier ist also ein bestimmtes Erlebnis tatsächlich das Ziel des Entwurfs. Wenn die Autoren in der Beschäftigung mit Atmosphäre oder mit dem Ziel einer Erweiterung des Architekturbegriffs auf das Thema Erleben stoßen, so stellen die aus der Perspektive des Entwerfens verfassten Beiträge Fragen nach dem Erzeugen von Erlebnissen oder bestimmten Weisen des Erlebens. Sehr oft wird dabei ein Zusammenhang von Erleben, Raum und Atmosphäre festgestellt, vor allem wenn das Betroffen-Sein von Gefühlen und Stimmungen als (Raum) Erleben identifiziert wird.15 Am Verständnis für die Funktions- oder besser Wirkungsweise von Stimmung oder Atmosphäre16 macht sich somit die Frage nach deren Herstellbarkeit (und damit auch nach der des Erlebnisses) fest. Werden Stimmungen als rein privat und subjektiv verstanden, entziehen sie sich auch der Herstellbarkeit und damit dem Einfluss des Entwerfers – eine Auffassung die man wohl deshalb im Diskurs entwerfender Architekten, zumindest veröffentlicht, nicht erwarten kann. Vielmehr zeigen sich die Autoren – mehr oder weniger – von der Machbarkeit überzeugt17. Die Beiträge sind aber hinsichtlich der anzuwendenden Methoden und der Grenzen dieses Herstellens differenziert. Manche, wie Bellprat Associates18 oder Susanne Hofmann19 , verstehen Stimmungen als Eigenschaft von Gegenständen (oder Raum, wenn dieser ent13 | Huber, Stimmung, 2001. S. 47. 14 | Bellprat Associates, Design, 2008. 15 | Im Gegensatz dazu behandelt Fliedner „Erlebnisse der Ewigkeit (der Ideen)“. (Fliedner, Erlebnis, 1999) Joedicke nähert sich dem Erleben fernab jedes lebensweltlichen Verständnisses und beschreibt das Raumerlebnis als Ergebnis einer gerichteten Abfolge von Körperfunktion und subjektiv-kultureller Prägung. (Joedicke, Raum, 1985) Rasmussen, 1980, erwähnt ebenfalls keine gefühlsmäßigen Aspekte des Erlebens. (Rasmussen, Architektur, 1980) 16 | Philosophische Positionen sind dabei durchaus im Diskurs präsent, hauptsächlich über Beiträge von Gernot Böhme (etwa in Arch+, Heft 178/2006, oder in Daidalos, Heft 68/1998) und Hermann Schmitz (in Der Architekt, Heft 1/2000). 17 | Vgl. Hasler, Kapazität, 2007. S. 69: „Denn dass der architektonische Raum prinzipiell die Kraft hat, dem innewohnenden Menschen (…) einen prägenden, verstärkenden, unterstützenden Rahmen zu verleihen – davon bin ich überzeugt, und das braucht auch nicht weiter bewiesen zu werden. Das ist eine Sache der Erfahrung.“ Allerdings thematisiert Hasler keinerlei emotionale Betroffenheit im Zusammenhang mit der Raumwirkung und versteht sie eher als Erkenntnis. 18 | Bellprat Associates, Design, 2008. 19 | Hofmann, Atmosphäre, 2006, S. 66.

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sprechend als Gegenstand gedacht wird) und können Regeln oder Schrittfolgen, d.h. Technologien der Herstellung aufzählen. Anderen kommen Zweifel an der Machbarkeit, z.B. Peter Zumthor, der einerseits eine „handwerkliche Seite“ sieht, die „einigermaßen […] objektivierbar“ sei, andererseits sehr persönliche Aspekte betont, etwa „Stimmigkeit. Das ist auch mehr ein Gefühl.“20 Atmosphäre wird hier also als „Wechselwirkung zwischen den Menschen und den Dingen“21 verstanden. Auch Zumthor zählt ein Repertoire an Regeln auf, nur um es anschließend mit dem Hinweis auf übergeordnete, persönliche Hinsichten zu relativieren. Alban Janson fragt nach dem „Anteil“ der baulichen Beschaffenheit an der Anmutung von Räumen, die im Wechselspiel mit subjektiven (z.B. biographischen) Aspekten entstehe. Einerseits fordert er das Erleben beim Entwerfen der Raumgestalt zu bedenken, und ist überzeugt, die „Mechanismen der Raumerfahrung“ könnten „im architektonischen Entwurf rational zugänglich“ gemacht werden, auf der anderen Seite erkennt auch Janson eine „Grenze der Kontrollierbarkeit“.22 Ludwig Fromm beschreibt ein Lehrkonzept u.a. zum „Szenischen Gestalten“. Atmosphären werden dort (in Anlehnung an Hermann Schmitz) mit Situationen verbunden, welche durch „Methoden des Narrativen“ beeinflusst werden können: „Die Erzählung definiert, beschreibt Stimmungs- und Situationsbedingungen“23 . Stimmungen und Atmosphären sind in diesem Verständnis also keine Eigenschaften, die den Dingen anhaften und den Menschen sicher zu stimmen vermögen. Verena Huber etwa ist überzeugt: „Die Beziehung von Raum und Mensch sind komplexer. Rezepte für Stimmung im Raum sind darum kaum formulierbar.“24 Harald Bodenschatz25 , ein Berliner Architektursoziologe, macht auf eine Trennung von Architektur- und Alltagswelt aufmerksam. Diese unterschiedlichen Perspektiven haben demnach unterschiedliche Bedeutungen bestimmter Begriffe zur Folge, so dass die jeweiligen Diskurse (z.B. um Echtheit) verständnislos aneinander vorbei gehen. Baier fordert ebenfalls Raum ausgehend vom darin lebenden Menschen zu verstehen. Aus dieser lebensweltlichen Sicht löst sich die Vorstellung vom architektonischen Raum in den Tätigkeiten „Wohnen, Bauen, Räumen“ auf, also im Umgang des Menschen mit dem Gebauten.26 Auf ein ausgeprägtes Verständnis der Architektur als Fachwissenschaft weisen uns

20 | Zumthor, Atmosphären, 2006, S. 21 ff. 21 | Zumthor, Atmosphären, 2006, S. 17. 22 | Janson, Scherzo, 2005, S. 169. 23 | Fromm, Raumpaar, 2008, S. 64. Dagegen meint Janson: „Der Architekt muß keine ‚Geschichte‘ erzählen“ (Janson, Kapazität, 2004, S. 22). 24 | Huber, Stimmung, 2001, S. 45. 25 | Bodenschatz, Mickey Mouse, 2008. 26 | Baier, Raum, 1996, S. 89 ff.

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andere Beiträge implizit hin. Wenn beispielsweise Christian Norberg-Schulz27 fordert, die Architektur vom Gegenstand her zu beschreiben und „nicht vom unmittelbaren Erlebnis“ auszugehen, dann führt dieser Diskurs weg von der Lebenswelt des Alltags. Wenn der Architekt dem Laien „zum Erlebnis (‚Verständnis‘)“ verhelfen soll, geht er selbstverständlich nicht von der Wirkung der Architektur auf das Subjekt und dem entsprechenden Begriffsapparat aus, sondern beschreibt eine „objektive Reiz-Situation“.28 Die Perspektive des wohnenden Menschen, der sich als Experte des Gebrauchs auf den Umgang mit dem Gebauten versteht, blendet diese Auffassung aus. Auf den Punkt gebracht lautet die Frage nach dem „Style“ dann so: Für wen sollen wir bauen? Für die Architekten oder für den Alltagsgebrauch der Menschen?

2. D IE I NTERVIE WS MIT DEN G ESTALTERN Die Forderung nach der Beachtung subjektiven Erlebens im Entwerfen berührt damit ganz grundsätzlich die Verantwortlichkeit des Architekten. Der Gestalter ist dann nicht nur einem Berufsethos und berufsständischen „Regeln der Kunst“ verpflichtet, sondern der Wirkung seines konkreten Werkes auf den Menschen. Entscheidet man sich dafür, auf Grundlage dieses lebensweltlichen Verständnisses zu entwerfen – in dem das Erleben des Menschen, seine Stimmungen und Gefühle ihren Platz haben – stellt sich die Frage, wie der Architekt an das Wissen um das Erlebnis kommt. Wie kann z.B. Alban Jansons Anspruch, beim Entwerfen solle die „Korrelation zum konkreten Erleben mitbedacht“29 werden, in der Praxis aussehen? Wie kann man mit der Schwierigkeit umgehen, keine „Rezepte“ für dieses Entwerfen formulieren zu können, wie geht man mit Fällen des Scheiterns um? Der vorliegende Band enthält die Interpretation zweier Interviews mit Gestaltern von Freizeitparks30, die im Rahmen des Projektes „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“31 entstanden sind. Mit diesen Interviews liegen uns dichte Beschreibungen für ein besonderes Entwerfen vor. Ist es doch zu erwarten, dass die „Macher“ in der Auseinandersetzung mit einer solchen Bauaufgabe gar nicht anders können, als das Erleben in ihrem Entwerfen zu thematisieren. Tatsächlich beschäftigt sich Herr Rudolf, der für den Freizeitpark BELANTIS bei Leipzig verantwortliche Architekt, von Beginn des Projektes an mit dem 27 | Norberg-Schulz, Logik, 1968, S. 84. 28 | Norberg-Schulz, Logik, 1968, S. 89. 29 | Janson, Scherzo, 2005. S. 168. 30 | Vgl. die Aufsätze von Jörg Schröder und Stefan Nothnagel in diesem Band. 31 | Zu Thema, Fragestellung sowie der theoretischen, methodologischen und methodischen Ausrichtung des Projektes vgl. die Einführung von Achim Hahn in diesem Band.

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Erleben. Anders als in Beiträgen aus dem Fachdiskurs wird in der Auswertung dieses Interviews deutlich, wie sehr die Entwurfsaufgabe Rudolfs Selbstverständnis als Architekt herausforderte. Die Bearbeitung habe ihn für sein heutiges „Architektenleben“32 einen „unheimlich direkten Weg“ zum Menschen eröffnet, der doch der Adressat seines Entwurfes sei. Herr Rudolf wurde also genau mit der oben aufgeworfenen Fragestellung konfrontiert, für wen er entwerfe und wessen Maßstäbe zur Beurteilung anzulegen seien. Zudem bringt Herr Rudolf den Aspekt der Stimmung in engen Zusammenhang mit funktionalen Gegebenheiten eines Entwurfs, wodurch es gelingt, auch eine funktionale Sichtweise der Herstellung von Stimmungen33 plausibel zu machen. Herr Schrader, der die „Kulturinsel Einsiedel“ gestaltet, ist kein traditionell ausgebildeter Architekt34 , verfügt aber über gut zwanzig Jahre Berufserfahrung als Holzbildhauer und Holzgestalter. An seinem Beispiel zeigt sich, wie das Verständnis vom Erleben aus persönlichen Beobachtungen und Entdeckungen gewonnen werden kann, auf diese Weise stark von der Person geprägt ist und sich in deren Weltbild einfügt (z.B. wenn Herr Schrader die Besucher seines Freizeitparks als „stadtflüchtige Leute“ versteht, d.h. dem Leben in der Stadt das fehlt, was sein Park bietet). Bei Herrn Schrader taucht zudem ein Thema auf, das der Fachdiskurs völlig vernachlässigt: das Entwerfen im Kollektiv – denn erst wenn subjektive Kriterien beim Entwerfen eine Rolle spielen, stellt sich das Problem, diese einander verständlich zu machen und in die gemeinsame Sprache kommen zu lassen. Beide Interviews bringen aber noch ein weiteres sehr wichtiges Thema ans Licht, indem sie das Handeln und die Überzeugungen der Befragten in einem biografischen Zusammenhang erforschen. Beide Gesprächspartner machen ihre Ideale, ihre Motivation zum Gegenstand und betten ihr Entwerfen glaubhaft in das „Wollen des Guten“ ein. Beide glauben, mit ihrem konkreten Tun zu einer „besseren Welt“ beizutragen. Ein Glaube, der meiner Meinung nach ernst zu nehmen ist und etwa neben wirtschaftlicher Motivation (und sicher auch Selbstgeltung) genannt werden muss.

32 | Wortwörtliche Zitate der Interviews werden serifenlos und in Anführungsstrichen wiedergegeben. Auslassungen in den Zitaten sind durch (…) markiert, Einfügungen des Autors durch [ ] kenntlich gemacht. 33 | Vgl. Bellprat Associates, Design, 2008, S. 186. Auch dort wird davon berichtet, eine Atmosphäre des Ungestört-Seins mit funktionalen Mitteln herzustellen. 34 | Zwar ist Herr Schrader kein Architekt im Sinne des Berufsstandes, dennoch beschäftigt er sich professionell mit dem Gestalten von Bauwerken, die dem Wohnen in einem weiter gefassten Verständnis dienen. Er mag in erster Linie Spielgeräte entwerfen und bauen, aber für den Betrieb seines Freizeitparks gestaltete er ebenso Parkplätze, Herbergen und Restaurants. Dabei wurde er mit bekannten Problemen des Architekturentwurfs konfrontiert und entwickelte seine persönlichen Lösungen.

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Das Verständnis der Entwurfsaufgabe Den Auftrag zum Freizeitpark BELANTIS erhielt Herr Rudolf von einer Investorengruppe, die ihn mit einer Studie zur wirtschaftlichen Machbarkeit eines Freizeitparks in Sachsen beauftragte. Herr Rudolf erhielt also keinen „gewöhnlichen“ Planungsauftrag, er sollte keinen Architektur-Entwurf für eine vorgegebene Bauaufgabe erarbeiten, sondern zuerst die Wirtschaftlichkeit eines geplanten Unternehmens untersuchen. Um sich Kenntnis der „Rahmenbedingungen“ eines solchen Unternehmens zu verschaffen, setzte sich Herr Rudolf mit den „Themen (…) die dazu gehören“, wie „Erlebnis“, „Freizeitverhalten“ und „Bedürfnisse der Menschen“ auseinander, beschäftigte sich mit Fragen der Verkehrsanbindung, des geeigneten Standorts und mit bereits gebauten Freizeitparks. Ziel dieses Handelns war es, die Umstände für die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens kennen und beherrschen zu lernen, wozu auch das „Herstellen“ von Erlebnissen zählt. Nach der Studie zur Wirtschaftlichkeit übernahm Herr Rudolf als Gründungsgeschäftsführer die „baulastige“ Umsetzung des Unternehmensaufbaus, leitete also Entwurf und Planung. In dieser Hinsicht erscheint das Projekt BELANTIS als eines unter (vielen) anderen. Vor allem aber das gleichzeitige Ausfüllen der Rollen als Architekt und Bauherr unterschied das Projekt von den Planungen, die Herr Rudolf bis dahin bearbeitete. Es war „nicht eine Bauaufgabe (…), die dann abgeschlossen ist, sondern schon parallel das operative Geschäft“. Herr Rudolf musste also die „Funktionalitäten“ des Entwurfs, die Abläufe innerhalb des Betriebs, selbst (er)kennen, um dann quasi für „sich“ als Bauherr zu entwerfen. Eine entscheidende Frage für die konkrete Gestaltung des zukünftigen Parks war die nach seinem „Erlebniswert“, die sich Herr Rudolf als Befriedigung der „Bedürfnisse“ des Menschen z.B. nach „Abenteuerlust“ und „gute [r] Laune“ beantwortete. Dazu muss, so erklärt Herr Rudolf, der Entwurf an allgemein bekannte Ausdrucksformen („Klischees“ ) anknüpfen, so dass deren Bedeutung den Besuchern verständlich wird. Dieses Verstehen führt nach Herrn Rudolfs Meinung ganz funktional zu einem bestimmten Gefühl beim Rezipienten: „was man als Kind gelernt hat, ergreift einen immer wieder“. Ganz anders stellt Herr Schrader in seiner Geschichte die „zufällige“ Entwicklung des Freizeitparks „Kulturinsel Einsiedel“ dar. Er hat ihn nicht geplant, sondern auf seinem Grundstück eines Tages „entdeckt“. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Herr Schrader und seine Mitarbeiter das Gelände „zum Spaß“ und zu Werbezwecken mit den Produkten der Holzgestaltung bebaut. Herr Schrader eröffnete ein Galerie-Café und veranstaltete Musikfestivals auf dem Gelände. Dieser „Holzspielplatz“ und die Veranstaltungen wurden von Menschen aus der Umgebung „angenommen“. D.h. Herr Schrader stellte fest, dass die Besucher seine Gestaltungen in Gebrauch nahmen, womöglich beobachtete er auch, wie sie dies taten. Sein Handeln zu dieser Zeit beschreibt er aber nicht als zielgerichtetes Entwerfen, um einen Freizeitpark aufzubauen. Erst als die Kosten

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der Pflege und der Festivals für ihn finanziell relevant wurden, sein Hobby sozusagen zu teuer wurde, „entdeckte“ er plötzlich die Möglichkeit, die Anlage zum wirtschaftlichen Unternehmen des Freizeitparks zu entwickeln. Bis dahin hatte Herr Schrader als Holzgestalter für andere Freizeitparks gearbeitet und so auch Wissen über die Konzeption und die Infrastruktur solcher Bauwerke gesammelt, das ihm wohl erst das Sehen des eigenen Geländes als Freizeitpark ermöglicht hat. Ihm wurde klar, dass er die Entwicklung nun gezielt „voran treiben“ und das Gelände geplant gestalten musste. Ein Parkplatz und ein Wegesystem wurden angelegt, um die Besucher im Park zu lenken, bestimmte Flächen wurden für eine spätere Gestaltung vorgesehen. Mit der „Entdeckung“ des Freizeitparks benötigte Herr Schrader zugleich eine konzeptionelle Erklärung für das Kommen der Besucher, d.h. für die Funktionsweise des nunmehr gezielt zu gestaltenden Parks. Im Interviewgespräch findet er sie in der Möglichkeit, „Abenteuer“ zu erleben, die seine Anlage ihren Besuchern bietet. War sie bislang das Ergebnis der „zufälligen“ Entwicklung, galt es für Herrn Schrader nun einen Raum zu entwerfen, der genau diese Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Ganz gezielt beschäftigte sich Herr Rudolf für die Planung von BELANTIS mit dem Erlebnis als einer wichtigen Bedingung seines Entwurfs. Er entwickelte im Zuge dieser Beschäftigung ein Verständnis der Entwurfsaufgabe Freizeitpark, die auf das Beeinflussen der Stimmung der Besucher zielt, die „gute Laune“ haben, „einfach mal einen schönen Tag verbringen“ wollen. Dazu hat sich Herr Rudolf ein funktionales Konzept zurecht gelegt: er ist der Überzeugung, mit dem passenden „Klischee“ (einer Form mit zeichenhafter Bedeutung oder einer bekannten Geschichte, z.B. die Pyramide in BELANTIS) beim Menschen bestimmte Gefühle auslösen zu können. Sein Arbeiten für BELANTIS zielte darauf, dass „der Gast zufrieden ist“, die Besucher sich also in einer Atmosphäre der Zufriedenheit oder Sorgenlosigkeit befinden, in der sie sich „einfach treiben lassen können“. Demnach kann tatsächlich das Herstellen einer Stimmung als ein wichtiges Entwurfsziel Herrn Rudolfs beim Gestalten des Freizeitparks gelten. Herr Schrader thematisiert das Erlebnis hingegen nicht ausdrücklich, er zielte ja auch in seiner Gestaltung zunächst nicht auf einen Freizeitpark, sondern auf sein persönliches Vergnügen. Erst als immer mehr Besucher seine Anlage in Gebrauch nahmen, erschloss sich Herrn Schrader das Konzept seiner Anlage: in einer Atmosphäre der „Freiheit, was hier in der Luft liegt“, eröffnet sich den Menschen die Möglichkeit anders zu sein, als in ihrem Alltag. Die Gestaltung des Raumes soll es zulassen, „ni alles so machen zu müssen, wie’s überall ist“. Es soll eine Stimmung des Natürlichen, der „Unordnung“ und „Wildnis“ aufkommen, die nach Herrn Schraders Meinung dem Alltäglichen abgeht, dem Menschen aber ein grundsätzliches „Bedürfnis“ ist. Diese Stimmung soll den Besucher ein „Abenteuer“ im Umgang mit den Dingen ermöglichen, womit ein nicht-alltägliches Verhalten gemeint ist, in dem man leiblich tätig wird, sich mutig überwindet und körperlich anstrengt.

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Beide Entwerfer verstehen ihre Gestaltungsaufgabe als Antwort auf ein Bedürfnis, zu dessen Befriedigung die Menschen die Freizeitparks aufsuchen. Die Befindlichkeit der Besucher und die (als ursächlich dafür angesehene) räumliche Wirkung der Gestaltungen ist für beide ein wichtiges Entwurfsziel. Herr Rudolf zielt auf eine sorgenlose Stimmung der Besucher, Herr Schrader auf die abenteuerliche und wilde. Beide setzen diese Stimmungen gegen die Befindlichkeiten des Alltäglichen ab, welche die Besucher gerade nicht haben wollen. Der Sinn der Gestaltung liegt für Herrn Rudolf darin, eine bestimmte Form der Entspannung und des Ausgleichs zum Arbeitsalltag für Menschen bestimmter „Zielgruppen“ zu schaffen. In Herrn Schraders Argumentation klingt hingegen der Anspruch an, eine Alternative zur Normalität des gesamten Lebens aufzuzeigen. Diese Alternative ist Herrn Schraders persönliche Lebensweise, die Ausdruck in seiner Gestaltung findet und so allen, die sich dafür interessieren, „’n Stück Anders-Leben zeigt“.

Der Umgang mit der Entwurfsaufgabe Herr Rudolf studierte zunächst Beispiele von Freizeitparks, die bereits in Betrieb waren. Er fasste diese Parks als ähnliche Typen auf: in allen gebe es Themenbereiche und alle würden im Laufe des Betriebs erweitert. Auf dieser Grundlage entwickelte Herr Rudolf das Konzept für BELANTIS und strukturierte den Park in „Form einer kleinen Weltkarte“. Herrn Rudolfs Entwerfen lässt sich als auf die Herstellung von Stimmungen gerichtet verstehen: die funktionale Befriedigung „profaner“ Bedürfnisse soll eine Art Grundstimmung der zufriedenen Sorgenlosigkeit herstellen. Die Fahranlagen lassen den Körper spüren, die kulissenhafte Wirkung der „Klischees“ soll die Empfindung ähnlich wie Filme „ansprechen“, man soll sich „mit seiner Fantasie einfühlen“ können. Die Landschaft, die Herr Rudolf zu Planungsbeginn vorfand, bezeichnet er als „Wüste“ ohne „Erholungsqualität“. Eine schöne Landschaft musste erst geplant werden und sie muss sich mit dem Wachstum der Vegetation entwickeln. Beim Entwerfen dieser Landschaft war es für Herrn Rudolf wichtig, die Blicke der Besucher zu führen, bestimmte Dinge bildhaft ins Blickfeld zu rücken, andere aus der Sicht zu nehmen. Schließlich sollte man von erhöhten Stellen aus den „Park im Überblick“ sehen können. Herr Rudolf scheint also von der prinzipiellen Herstellbarkeit räumlicher Wirkungen überzeugt zu sein und hält ein entsprechendes handwerklich-technisches Repertoire an Mitteln dafür bereit. Für das Spüren der eigenen Körperlichkeit etwa bemüht Herr Rudolf das Beispiel der „technischen Möglichkeiten“ von Schaukeln, dessen Bedeutung der technischen Machbarkeit35 35 | Das setzt ein Verständnis „objektiver“ Parameter voraus, auf deren Grundlage zu planen ist. Der Mensch wird als physikalischer Körper betrachtet, auf den Kräfte einwirken, die Maschinenbauer berechnen, damit „Sie also kein Übelkeitsgefühl kriegen“

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des Sich-Spürens indes für alle Fahranlagen des Freizeitparks gelten dürfte. Auch das Sehen von Filmen und „durch Gerüche oder durch Visualisierungen angesprochen zu werden“, löst nach Herrn Rudolfs Meinung bestimmte Gefühlszustände aus, die mittels der Bedeutung dieser Gestalten gezielt beeinflusst werden können. Allgemein bekannte Ausdrucksformen („Klischees“ ) verbinde man „sofort mit einem bestimmten Gefühl“. Es wird hier also ein kausales „Prinzip der Gefühlsherstellung“ behauptet, das allgemein verbindliche, nicht subjektive Bedeutungen von Gestalten unterstellt, die bestimmbare Gefühle auslösen. Die Herstellbarkeit von Raumwirkungen muss für Herrn Rudolf selbstverständlich sein, wenn er den Zaun, aus Richtung des Freizeitparks gesehen, hinter einer Erdaufschüttung verbirgt, damit der Besucher „wenn er auf seinem geführten Weg läuft, nie das Gefühl hat, dass er eingesperrt ist“. Herr Rudolf sieht zudem einen Zusammenhang zwischen der Funktionalität und den Stimmungsqualitäten eines Raumes, den er am Beispiel der ausreichenden Dichte von Sanitäranlagen ausführt. Das Erfüllen von „Bedürfnissen“ steht hier für Herrn Rudolf im Mittelpunkt, denn gelingt dies nicht, so brechen unangenehme Situationen und Stimmungslagen in die Sorgenlosigkeit der Besucher: „mein Kind das quengelt (…) und muss dann vielleicht noch vier, fünfhundert Meter laufen, bis ich zum nächsten WC komme und das ist überfüllt“. Herr Schrader verfolgt das Konzept der „Irrgartenstruktur“ für seinen Freizeitpark, d.h. nicht, dass sich die Besucher „verirren“ sollen, vielmehr sollen sie keinen Überblick über den Park bekommen. Es soll herausfordernd sein, sich zurecht zu finden, die Besucher sollen nicht alles sehen, damit keine Langeweile aufkommt. Die Entscheidung, den als Hobby ungeplant entstandenen „Holzspielplatz“ zum Freizeitpark zu entwickeln, bedeutete für Herrn Schrader, das Vorhandene zielgerichtet umzubauen, Parkplätze, Wege und Toiletten anzulegen, also eine Infrastruktur zu schaffen. Die „Attraktionen“ hingegen mussten nach dem gleichen Konzept wie bisher erweitert werden. Herr Schrader hatte diese Bauwerke „improvisiert“ und später „weiterentwickelt“. Er riss diejenigen, mit denen er schlechte Erfahrungen machte ab und errichtete etwas anderes an ihrer Stelle. Diese Bauten werden also von Herrn Schrader nicht im Sinne einer dauerhaften Architektur geplant, sondern immer wieder verändert und angepasst. Herr Schrader sieht es als seine Gestaltungsaufgabe an, „Möglichkeiten“ zur Verfügung zu stellen, um „Abenteuer“ zu erleben. Er zielt dabei auf ein „Erfolgserlebnis“ der Besucher, das sich nach der körperlich oder seelisch anstrengenden Bewältigung eines Hindernisses einstellt, wenn man sich „wie so ’n kleener Held“ fühlt. In diesem Verständnis beeinflusst Herr Schrader die Stimmung der Parkbesucher nicht direkt, diese müssen ja selbst tätig werden und „sich überwinden“, aber der Gestalter muss Gegenstände herstellen, die die(Zitat Herr Rudolf). Gefühl ist in diesem Sinne eine körperliche Reaktion auf äußere Einwirkungen.

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ses Überwinden ermöglichen. Diese Gegenstände muss er räumlich so anordnen, dass man sie als solches Hindernis gebrauchen kann und gebrauchen darf. Das auf diese Weise „künstlich“ Hergestellte soll natürlich wirken, wobei Herr Schrader das Natürliche als „Wildnis“ und „Unordnung“ dem Alltag des Stadtbewohners gegenüberstellt. Beispielhaft führt er die „Tunnelgänge“ im Freizeitpark „Kulturinsel Einsiedel“ an, denn „so was gibt’s im normalen Leben nirgends mehr“.36 Nach Herrn Schraders Vorstellung kommt bei den Besuchern der „Kulturinsel Einsiedel“ das Gefühl auf, „dass sie zurück steigen in ihre Kindheit“. So gelangen sie mit ihren Kindern „auf Augenhöhe“ und können mit diesen etwas zusammen erleben. Das Teilen einer gemeinsamen (kindlichen) Perspektive ermöglicht in Herrn Schraders Verständnis ein gemeinsames Erleben der Familie37. Frau Lorenz, eine Mitarbeiterin Herrn Schraders, die ebenfalls interviewt wurde, kommt in diesem Zusammenhang auf das Erinnern zu sprechen: „es ist aber auch was, was echt unvergessen bleibt (…) dann können die [Besucher] sich noch ewig drüber unterhalten und auch schwärmen, was sie da Verrücktes gemacht haben“. Das gemeinsame Erlebnis bleibt der Gruppe als Geschichte „unvergessen“, da ein besonderes und bedeutsames „Verrücktes“ erinnert und einander erzählt wird.

Haltung und Methode Das Entwerfen beider Gestalter beschäftigt sich also mit dem Erzeugen einer bestimmten Atmosphäre, die von den Besuchern im jeweiligen Freizeitpark erlebt werden kann, die auf ihre Befindlichkeit einwirkt. Die jeweils konkret angestrebten Stimmungen sind freilich unterschiedliche: in BELANTIS will Herr Rudolf die Besucher in die Sorgenlosigkeit versetzen, in der sie einen „schönen Tag verbringen“ können, auf der „Kulturinsel Einsiedel“ zielt Herr Schrader auf die Wirkung der Andersartigkeit, in der die Besucher sich „wie so ’n kleener Held“ fühlen können. Beide Gestalter verstehen ihr Handeln als Erfüllen von „Bedürfnissen“ der Menschen in der modernen Gesellschaft, die Freizeitparks sozusagen als ausgleichendes Gegengewicht zum Arbeiten (Rudolf) oder überhaupt zur Welt des Alltags (Schrader) aufsuchen. Beide Gestalter nennen das Erleben von „Abenteuern“ als eines dieser Bedürfnisse, meinen aber auch hier konkret etwas Unterschiedliches: in BELANTIS kann man auf den Fahranlagen „seinen Magen“ spüren, sich in die „Welt“ (und Geschichte?) einer bekannten Form „mit seiner Fantasie einfühlen“, auf der „Kulturinsel Einsiedel“ muss man sich zuerst in der „Unordnung“ zurechtfinden, kann die Bauwerke spielend als Hindernisse gebrauchen und mit deren Überwindung ein „Erfolgserlebnis“ haben. Entsprechend sind auch die Mittel zur Herstellung verschiedene: Herr Rudolf nennt 36 | Im Alltag gibt es sicher auch Tunnel und Gänge, die von Menschen betreten werden könnten, wie etwa die Kanalisation, nur darf man das gewöhnlich nicht. 37 | D.h. auch sich als Mitglied einer Familie zu erleben.

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die Maschinen der Fahranlagen, die an der Körperlichkeit des Menschen ansetzen, die „Klischees“, die stimmige Gefühle bewirken können und die Befriedigung von Hunger und Notdurft durch genügend Gaststätten und Toiletten. Herr Schrader indes spricht von „Möglichkeiten“, die er den Besuchern anbietet, also Bauwerken, die zur mutigen Überwindung brauchbar und erlaubt sind, und er spricht von der Wirkung seiner Gestaltungen als „Provisorium“ und „Wildnis“. Während das Erleben der Besucher von Herrn Rudolf als technisch kontrollierbar verstanden wird, etwa wenn das Übelkeitsgefühl auf Fahranlagen als Funktion des Körpers berechnet werden kann, macht nach Herrn Schraders Verständnis der Besucher sein Erlebnis selbst, indem er z.B. „auf allen Vieren durch so ’n Tunnelloch robbt“ und ein „zurück steigen“ in seine Kindheit fühlt. Das Moment des Sich-Überwindens, das Herr Schrader (z.B. Mut und Furcht als etwas, das die Person hat) als Teil des Erlebnisses versteht, kommt bei Herrn Rudolf nicht zur Sprache. Bei beiden Gestaltern zeichnet sich deutlich der Zusammenhang von grundsätzlichen Entwurfshaltungen und methodischem Vorgehen ab. Beide richten sich in ihrem Handeln auf Bedürfnisse, die Herr Rudolf als Bedürfnisse unterschiedlicher „Zielgruppen“ versteht, die einen typischen Lebensstil pflegen und für die er entwirft. Er selbst teilt diesen Lebensstil nicht, muss sich aber in ihm auskennen, um sich daran zu orientieren. Seine eigene Person rückt Herr Rudolf dabei in den Hintergrund: „wichtig ist, dass man von sich selbst weg kommt. (…) Bin ich derjenige, der auch wirklich später dort diese Anlagen nutzt? Also muss ich die Menschen auch vielleicht näher betrachten, die potenzielle Freizeitpark-Besucher sind“. Herr Rudolf setzt zudem eine Art „Erlebniskultur“ voraus, d.h. basale, allgemein verbindliche und über-individuelle Gewohnheiten der Menschen im Umgang mit dem Erleben von Stimmungen. Im Entwerfen kann man darauf aufsetzen und bestimmte Empfindungen erzeugen: „Diese berühmten Klischees die man dann hat, die man dann auch sofort mit einem bestimmten Gefühl verbindet“. Entsprechend versteht er den Entwurf des Parks als Umsetzung von Typen, die bereits tradierte Lösungen der Entwurfsaufgabe enthalten, an die Herr Rudolf anknüpft, denn „etwas ganz Anderes“ und Neues gebe es nicht. Auf der „Kulturinsel Einsiedel“ entdeckten die Besucher den Gebrauchswert der Gestaltungen als „Holzspielplatz“. Herr Schrader verstand den Gebrauch und damit zugleich die Bedürfnisse der Besucher erst nachträglich. In ihnen erkennt er unbefriedigte Suchende, die „anders“ sein wollen als im Alltag, und bietet seine eigene Lebensweise als Beispiel für ein solches Anders-Sein an. Seine Person steht damit stellvertretend für alle, weshalb in Schraders Gestalten für andere seine persönlichen Kriterien zum Tragen kommen können. Herr Schrader will „schöpferisch“ selbst neue Lösungen schaffen und gerade keine bestehenden adaptieren. Er entdeckt vermutlich auch sein Erlebnisverständnis an sich selbst und wählt damit einen persönlichen Zugang zur Gestaltung, so müsse der Gestalter „selber ’n Stück Kind noch sein und sich vorstellen, wie man sel-

Z WISCHEN „K LISCHEE “ UND „M ÖGLICHKEITEN “ ber damit spielen würde“. Herrn Schraders Wissen um die Herstellung dürfte so im Wesentlichen aus seinen eigenen Erfahrungen bestehen. In den Erzählungen der Macher über das Entwerfen taucht mit dem Passen der Gestaltung ein für beide wichtiges Thema auf. Herr Rudolf verdeutlicht es an einem Beispiel eines Themenbereichs aus BELANTIS, dort zähle „das Gesamterlebnis. Auch wenn es ihnen keiner sagen kann, es muss irgendwo alles passen. Also das, was aus dem Lautsprecher kommt in Ägypten, das muss halt der Muezzin sein, im Idealfall. Und der Lautsprecher sieht halt nicht aus wie ein fertiger Lautsprecher in Nebelgrau, sondern wie diese Tröte, die im Minarett hängt“. Auch für Herrn Schrader spielt das Passende eine wichtige Rolle: „vom Gefühl her versuche ich in der Regel, harmonische Zustände herzustellen. (…) Grundsätzlich baue ich gerne so, dass es sich einfach mal nahtlos mit der gegebenen Natur ergänzt und zusammen rein passt richtig“. Beiden geht es um das Passen ihrer Gestaltung im Verhältnis zu etwas, einmal zu einem Thema38, einmal zu einer vorgefundenen, als natürlich gewachsen verstandenen Umgebung, in die das Werk passen soll. Es kommt auf den Eindruck der Gestaltung an, der ein Erkennen des Gemeinten („Ägypten“ ) durch den Besucher ermöglichen soll, was Erinnerungen aber auch Erwartungshaltungen aufkommen lässt. Innerhalb dieses Horizonts soll nun das Entworfene passend und stimmig wirken, soll es sich als Einzelnes in ein Ganzes einordnen39 . Sowohl Herr Rudolf als auch Herr Schrader bedienen sich im Umgang mit diesem Eindruck einer ähnlichen Methode, sie müssen „voraussehen, wo das hin wächst“ (Schrader) oder „was drei Jahre später Realität ist durchleben, wie wenn ’s schon da wär“ (Rudolf). Beide versuchen sich die tatsächliche Wirkung ihrer Entwürfe vorzustellen und mit einer gewünschten, ebenfalls sich vorgestellten Wirkung zu vergleichen. Schließlich leiten sie aus diesem Vergleich Handlungen zum Anpassen des Entwurfes ab.40 Beide können Kriterien und Wissen aufzäh38 | Das Thema in Herrn Rudolfs Beispiel ist „Ägypten“, Herr Schrader entwickelt ein ähnliches Beispiel, als er gefragt wird, ob eine Gestaltung seines Parks ein „Zarenschloss“ zum Vorbild habe: „[Das war] ich sag mal die Anregung. (…) So ’n bissel russisch soll das aussehen mit den Zwiebeltürmchen druff“. Beide setzen also an allgemein bekannten Zusammenhängen an: Ägypten als arabisches Land mit Minaretten und Muezzin-Gesängen, Russland mit den Zwiebeltürmen orthodoxer Kirchen. 39 | In dieser Hinsicht bekommt Ordnung auch für Herrn Schrader Bedeutung: seine Gestaltungen sollen zwar wild und ungeordnet wirken, sie müssen aber als solche in eine Ordnung der Welt, die zwischen „ordentlich“ und „wild“ unterscheidet passen. 40 | Z.B. Herr Rudolf zur Planung von BELANTIS: „Immer wieder durch den Park gehen, immer wieder die Augen zu machen. Auf Papier, und zu sagen: Okay, was ist der nächste Eindruck? Oh nein, das kann doch nicht sein. Also muss die Bodenwelle noch weiter, da muss der Weg noch, damit ich erst in dem Moment die komplette Pyramide sehe.“ Z.B. Herr Schrader zur Landschaftsgestaltung in Einsiedel: „Einmal im Jahr geh ich mit der Motorsäge durch (…) und hab dann ’n Gestaltungsbild im Kopf und sag: Du weg, du

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len, die in das Sich-Vorstellen eingehen, bzw. auf deren Grundlage der Vergleich stattfindet (etwa den allgemein bekannten Zusammenhang von Ägypten, Minarett und Muezzin, oder Wissen um den Wuchs von Bäumen oder Wissen um die Funktionen des menschlichen Körpers), allerdings relativieren auch beide den Anteil rationaler Entscheidungen. So weist Herr Rudolf auf die Umsetzung des Wissens und der Erfahrungen in einem Entwurf als „rein intuitiver, schöpferischer Prozess“ hin, der nicht angeleitet werden könne. „Auch wenn es ihnen keiner sagen kann, es muss irgendwo alles passen“, so äußert sich Herr Rudolf im o.a. Interview-Zitat. Es kann also „keiner sagen“, wie alles passen muss, nicht alles daran kann in die Sprache gebracht und erklärt werden. Auch bei Herrn Schrader deutet sich Ähnliches an, wenn er etwa „vom Gefühl her“ versucht „harmonische Zustände herzustellen“, oder erklärt, dass neben vorbildhaften „Anregungen“ sein „Gestaltungsgefühl“ die Entwürfe präge. Ohne die Anwendung dieses Gefühls, fehle den Gestaltungen ein „gewisses Etwas, der gewisse Reiz, das Spielerische“. Passen soll der Entwurf also zur persönlichen Vorstellung41 der Gestalter davon, wo das Werk hinein gehören und wie es wirken soll, also etwa „zur Landschaft“ oder „wie Ägypten“. Diese Vorstellung erschöpft sich allerdings nicht in sprachlich vermittelbaren Zusammenhängen, vielmehr bleibt etwas, dem nur mit dem Gefühl beizukommen ist, ja womöglich kann das eigentliche Passen nur gespürt werden. Auch zielt das Passen auf die Stimmung ab, was Herr Rudolf und Herr Schrader vor allem negativ erklären: Wenn etwas nicht passt (nicht stimmt), dann stört es die gewünschte Stimmung, beispielsweise ein „fertiger Lautsprecher in Nebelgrau“. Herr Schrader führt es am Beispiel eines Parkplatzes aus, den er abseits des Parks anlegte, „um die Autos dort weg zu haben, die unsere kleine, intime Welt hier zerstören, denn die passen nicht rein. (…) Ich versuche eine Welt zu schaffen, die sozusagen eine Art Hypnose auch macht, wo man sich dann mal anders fühlt. Und wenn man dann auf Dinge trifft, die aus der anderen Welt kommen, dann ist das: Klick, das gehört da nicht hin“. „Klick“ macht es in Herrn Schraders Verständnis beim Besucher, der plötzlich aus der Stimmung, sich in einer anderen Welt zu befinden, fällt, weil er die Autos dieser Welt nicht zuordnen kann.

3. H ER AUSFORDERUNGEN FÜR DIE G ESTALTER In den Interviews hebt sich bei beiden Gestaltern ein jeweiliger Umgang mit besonderen Schwierigkeiten hervor. Diese Herausforderungen, die im Diskurs nicht. Du den Zweig weg und du darfst. Und sehe das vor mir, wie das weiterwachsen wird dann.“ 41 | Vermutlich konkretisiert sich die Vorstellung erst im Entwerfen und deckt sich am Ende mit dem dann passenden Entwurf.

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des Faches kaum eine Rolle spielen, stellen sich dem praktischen Gestalter im Entwerfen von Freizeitparks und im Versuch, Stimmungen zu gestalten, ganz selbstverständlich. Herr Rudolf arbeitet als Gestalter eines Freizeitparks außerhalb des gängigen Verständnisses einer „anspruchsvollen Architektur“ (Janson) und sieht sich im Interview mit der Frage konfrontiert, ob er für BELANTIS als Kulissenbauer tätig war. Herr Rudolf versteht das Problem und löst es, indem er sein Verständnis von Architektur erweitert und das Gestalten des Freizeitparks als „Lehre“ für sein Schaffen als Architekt deutet. Herr Schrader betont, dass sein Gestalten an seine Person gebunden ist, etwa wenn „die eigene Kindheit, die eigene Persönlichkeit“ es prägt. Die Schwierigkeit entsteht dann, wenn die Arbeit des Gestaltens in der Gruppe geteilt wird und andere Personen mit der ihnen eigenen Biografie ins Spiel kommen und die jeweiligen Vorstellungen kommuniziert werden müssen.

Die Erweiterung des Denkstils Im Interview wird Herr Rudolf gefragt, ob denn das Bauen von Kulissen (als das der Interviewer Herrn Rudolfs Gestalten für BELANTIS u.a. versteht) nicht problematisch sei. Der Interviewer, selbst auch Architekt, fragt hier aus dem gängigen Denkstil so, dass Herr Rudolf sich rechtfertigen möchte. Er hebt die Bauten in BELANTIS von „Kulissen im klassischen Theaterbau-Sinne“ ab. Der Gast sitze in BELANTIS nicht als Zuschauer entfernt vom Gebauten, sondern könne „heran treten“ und „anklopfen“. Herr Rudolf betont die Machart des „historischen Marktplatzes“, die „wirklich“, „massiv“ und „handgemacht“ sei, was bei anderen Bauwerken des Parks durch die „Frage der Mittel und der Kosten“ allerdings nicht möglich gewesen sei. Es wird deutlich, dass sich Herr Rudolf einem Ideal des guten Bauens nach bestimmten Kunstregeln und Konzepten des Echten (also bestimmten Macharten, „guten“ und „schlechten“ Materialien usw.) verpflichtet fühlt und mit dieser Haltung in Konflikt zu wirtschaftlichen Aspekten des Bauens gerät. Außerdem ist sich Herr Rudolf einem Rechtfertigungsdruck gegenüber der Architektenschaft bewusst, von der solche Gestaltungen „nach unten getreten [werden], nach dem Motto: Ist doch nur Kulissen-Architektur“. Herr Rudolf versteht sich aber als Architekt42 und muss deshalb die Bauaufgabe des Freizeitparks in den Denkstil des Architekten einbinden. Er bezieht dazu die Erfahrungen des Entwerfens für BELANTIS als „Lehren“ auf sein heutiges Architekturschaffen, so habe er die Bedeutung von „Toilettenanlagen (…) dort gelernt. (…) Es ist das Banalste, aber ich entdecke immer wieder auch Projekte, (…) die dieses Thema so was von vernachlässigen. Und das ist das Wichtigste was es gibt. 42 | Herr Rudolf unterscheidet seine Tätigkeit als „Parkbetreiber“ von der als „Planer“ und sieht letztere als seinen eigentlichen Beruf an.

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S TEFAN N OTHNAGEL Daran wertet der Gast letztendlich auch den ganzen Abendaufenthalt im Restaurant“. Was Herr Rudolf hier beschreibt, entdeckt er nicht aus der Perspektive eines Architekten, sondern aus der eines Restaurantbesuchers. Der Architekt wendet sich also der Lebenswelt zu, weil er beim Entwerfen für den Freizeitpark den Menschen als Ziel seines Entwerfens entdeckt hat und leitet daraus eine „Konsequenz“ für das Entwerfen schlechthin ab, nämlich sich „zu sagen: Okay, was ist für den [Nutzer] wichtig? Was braucht der hier? Nicht ich.“ Herr Rudolf macht klar, dass er für andere entwirft, seine eigene Person und seine eigenen Kriterien deshalb in den Hintergrund treten, als Entwerfer muss er vielmehr Kenntnis von den Bedürfnissen der Nutzer seiner Bauwerke haben. Er ist sich sicher, „der Mensch lebt nun mal aus der Emotion heraus“ und fragt sich deshalb: „Was bewirkt ein Gebäude, ein Raum – das sind Situationen – auf den Menschen? Die können ihn stärken, die können aber auch schwächen. Und sich damit auseinander zu setzen, das ist schon für unsere Arbeit unheimlich wichtig“. Diesem Entwerfen stellt Herr Rudolf ein „planabstrakte [s]“ gegenüber, dem die Nähe zum Leben der Menschen fehle und konstatiert für die Architektur: „Unsere Branche ist ja leider auch durch viele Abstraktheiten geprägt, die dazu führen, meines Erachtens, dass sie halt oft an den Menschen vorbeigehen“.

Das Gestalten im Team Herr Schrader möchte auf der „Kulturinsel Einsiedel“ einen Frei-Raum mit der Atmosphäre der Andersartigkeit herstellen und gibt sich überzeugt davon, genau das zu können. Er will ausschließlich seine eigenen Ideen umsetzen, die „anders“ und passend sind, weil deren Urheber sich selbst als „anders“ und im Gestalten erfahren versteht. Sein Erfolg ist demnach eng an seine Person geknüpft, was an einer Methode, die Herr Schrader als „Gestalten pur“ bezeichnet, besonders deutlich wird. Am Beispiel der Landschaftsgestaltung beschreibt er ein Vorgehen, das gut zur Herkunft aus Forstarbeit und Bildhauerei passt: Er alleine ist an diesem Gestalten beteiligt, auf der Grundlage seines Erfahrungswissens geht er spielerisch und unmittelbar mit dem Wuchs der Vegetation um. Der Raum, in dem er sich beim Gestalten befindet ist identisch mit dem Raum, den er gestaltet. Er ist also in der Atmosphäre, auf die er mit seinem Handeln Einfluss nehmen will.43 43 | Sich als Gestalter mit der Gestaltung in einem Raum, in einer Situation zu befinden, thematisiert auch der Architekturdiskurs, vor allem in Zusammenhang mit der Lehre des Entwerfens: Hofmann berichtet von Studenten, die „einer durch Atmosphären geleiteten Entwurfsstrategie“ folgend „Prototypen“ bauen, welche die künftigen Nutzer testen können. (Hofmann, Atmosphäre, 2006, S. 66) Peter Zumthor beschreibt das Arbeiten mit Studenten als „eins zu eins, es gibt keine Modelle. (…) D.h., daß wir immer über Dinge theoretisieren, die wir dann auch machen“. (Widder u. Confurius, Bilder,

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Eine zweite Methode kommt ins Spiel, wenn die Aufgaben nicht mehr von Herrn Schrader alleine zu bewältigen sind, was im beruflichen Alltag der Normalfall sein dürfte. Herr Schrader braucht dann Mitarbeiter und einen besonderen Umgang mit ihnen („Teamwork“ ), bei dem einige Herausforderungen auftauchen: weitere Persönlichkeiten mit ihren je eigenen Erfahrungen und Ideen sind am Gestalten beteiligt, zudem liegen Entwerfen und Bauen zeitlich, räumlich und personell auseinander. Herr Schrader möchte hier „den Weg“ vorgeben und die Kontrolle behalten. Es stellt sich also das Problem der Vermittlung von Vorstellungen, vor allem weil dem „Gestaltungsgefühl“ eine entscheidende Bedeutung zukommt, dieses aber das Gefühl der Person Schraders ist. Herr Schrader begegnet diesen Schwierigkeiten mit einer klaren Hierarchie: er selbst macht die „grundsätzlichen Gestaltungsentwürfe“ und entscheidet im Zweifel, was zu tun ist. Da er seine Mitarbeiter aber mit sich „auf einer Wellenlänge“ weiß, sie wohl auch danach aussucht und positioniert, welche „gestalterische Kraft“ sie in seinen Augen haben, kann er ihnen „Gestaltungsfreiheiten“ lassen. Im gemeinsamen Diskurs erklären sie an Hand schnell gebauter anschaulicher „Modellskizzen“ aus Karton und Holzstäben einander ihre Vorstellungen. Sie entwerfen, indem sie über die Modellskizze sprechen, darauf zeigen, sie verändern und so ihre Ideen in die Wirklichkeit kommen lassen. Die Vorstellung eines Entwerfers erhält dabei Wirkung auf die anderen Beteiligten, die maßstäbliche Modellskizze erleichtert aber auch die Kontrolle der technischen Herstellbarkeit dieser Vorstellung.44 Zudem zeitigt ein Pool gemeinsamer Erfahrungen eine gemeinsame Sprache der Beteiligten, die „wissen, (…) was ’n Marterpfahl is“, die also auch wissen, was ihr Chef erwartet. Herr Schrader kann so einen Teil der Arbeit seinen Mitarbeitern überlassen, wie der Mitarbeiter „es verstanden hat und so wie er ’s kann, wird er ’s jetzt als Modellskizze [umsetzen] und darüber diskutieren wir“, d.h. der Entwurf des Mitarbeiters wird in einer Art „Chefkritik“ am Modell besprochen und kontrolliert. Für Herrn Rudolf sind diese Fragen womöglich selbstverständlich, das Entwerfen mit anderen Beteiligten macht er nicht zu einem besonderen Thema.45 Die Methode und Herausforderungen eines Gestaltens im Team können in ihren prinzipiellen Zügen als typisch für die meisten Architekturbüros angesehen werden. Das Problem der Kommunikation von Entwurfsideen ist also kein neues, dennoch zeigt es sich hier als besonders schwierig, wenn es sich bei den 1998, S. 99) Pahl vergleicht die Ausbildung von Architekten der Gegenwart im Unterschied zu den Bauhütten des Mittelalters: „Durch die Einheit des Ortes, an dem die Planung des Bauwerks stattfand, war (…) sofort eine praktische, technische und räumliche ‚Überprüfung‘ des Gedachten möglich“. (Pahl, Handwerk, 2010, S. 14 f.) 44 | Frau Lorenz, eine Mitarbeiterin Herrn Schraders, betont diesen Aspekt. 45 | Nur am Rande erwähnt Herr Rudolf, dass man Mitarbeiter finden müsse, „die eine ähnliche Sichtweise entwickeln“.

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zu vermittelnden Vorstellungen um Stimmungen und nicht um Sachverhalte handelt, für die routinierte Darstellungen bekannt sind. Herr Schrader begegnet dieser Schwierigkeit, indem er und seine Mitarbeiter an Modellskizzen und später an stofflich konkreten Modellen auch der Wirkung ihrer Gestaltung näher kommen und versuchen, sich darüber auszutauschen.

4. F A ZIT Obwohl beide Gestalter für die Bauaufgabe eines Freizeitparks gestalten und dabei versuchen, ein bestimmtes „Erlebnis“ der Besucher herzustellen oder zu beeinflussen, nähern sie sich dem Thema aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Herr Rudolf blickt als Architekt auf ein besonderes Projekt und einen Lebensabschnitt zurück, in dem er nicht nur Bauplaner sondern Geschäftsführer eines Freizeitparks war. Er beschreibt und bewertet sein damaliges Handeln aus heutiger beruflicher Perspektive, also im Hinblick auf sein Entwerfen für „normale“ Bauaufgaben. Für Herrn Schrader ist die Gestaltung des Freizeitparks (und seines damit verbundenen Unternehmens für Holzgestaltung) zugleich die Gestaltung seines Lebens. Die berufliche Perspektive als Gestalter ist zugleich eine persönliche, schließlich fallen sein Wohnen und Arbeiten im Ort des Freizeitparks zusammen. Als ausgebildeter Architekt beschäftigt sich Herr Rudolf strategisch mit der Umsetzung der Bauaufgabe, studiert zu Beginn des Entwurfsprozesses das entsprechende Fachwissen und kommt über die thematische Auseinandersetzung mit dem Erlebnis zu Gestaltung und Bau des Freizeitparks. Herr Schrader hingegen „entdeckt“ in seinem Hobby-Spielplatz, den er mit seinem Können als Forstarbeiter und Holzbildhauer gebaut hat, einen Freizeitpark. Ein Verständnis für das Erleben in diesem Raum liegt damit bei Herrn Schrader wohl erst nach dessen Gestaltung vor (sein darauf folgendes Entwerfen zielt freilich strategisch auf einen Freizeitpark). Der Architekt lehnt sich an Tradiertes an, sieht die Lösung in „klassischen Themen“. Seine Aufgabe ist die Gestaltung eines Konzeptes für den Park und das Verpacken von Fahranlagen in passende „Klischees“ und die schnelle Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse wie Hunger und Notdurft. Gelingt ihm dies, so haben die Besucher geradezu automatisch einen unbeschwerten „schönen Tag“. Der Holzgestalter will einen außergewöhnlichen Frei-Raum schaffen und sich dabei gerade nicht an Überkommenes anlehnen. Seine Gestaltung soll den Besuchern „Möglichkeiten“ bieten, mit denen sie selbst etwas tun müssen, um „Abenteuer“ zu erleben. Beide Macher wollen aber eine atmosphärische Wirkung gestalten, Herr Rudolf die der Sorgenlosigkeit, in der man „sich treiben lassen“ kann, Herr Schrader die der Andersartigkeit, die wild und frei wirkt. Beide kommen in ihrem Entwerfen an die Schwierigkeit, ihre Entwürfe passend zu machen, sozusagen die sprachlich objektivierbaren Aspekte

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(z.B. Materialität, Funktion, Bedeutung) ins stimmige Verhältnis zueinander zu bringen. Beide gehen dieses Problem gefühlsmäßig an: Herr Rudolf „intuitiv, schöpferisch“, Herr Schrader mit „Gestaltungsgefühl“. Ihr Handeln vollzieht sich jedoch vor sehr unterschiedlichen Haltungen: Herr Rudolf entwarf BELANTIS mit wirtschaftlichem Interesse für bestimmte „Zielgruppen“, deren Kriterien er an seine Gestaltungen anlegen wollte. Er musste darum Kenntnis von diesen Kriterien erlangen und seine eigenen Vorstellungen vom guten Bauen zurückstellen. Diese Haltung wendet Herr Rudolf aber auf sein heutiges Schaffen und formuliert entsprechende „Konsequenzen“ für den Architekturentwurf. Herr Schrader gestaltete die „Kulturinsel Einsiedel“ für sich selbst als Hobby und stellte dann fest, dass Besucher seine Gestaltungen „angenommen haben“. Seine persönlichen Kriterien, sein „Anders-Sein“, müssen deshalb in seiner Logik auch das Richtige für seine Besucher sein. Sowohl Herr Rudolf als auch Herr Schrader wollen ihre Tätigkeit als Antwort auf „Bedürfnisse“ der Menschen und als Verbesserung mangelhafter Lebensverhältnisse verstanden wissen, d.h. beide wollen in ihrem Arbeiten das „gute Leben“ befördern.

Erzeugen von Atmosphären? Hinter dem Entwerfen beider Gestalter steht selbstverständlich die Überzeugung, Erlebnisse anderer Menschen mindestens beeinflussen, wo nicht gezielt herstellen zu können. In dieser Ansicht stützt beide der Erfolg ihrer jeweiligen Gestaltungen, der sich in der Wirtschaftlichkeit, in Besucherzahlen und -umfragen darstellt. Ein eventuelles Misslingen des Gestaltens oder des Habens eines Erlebnisses auf Seiten der Besucher, also ein Abstecken der Grenzen des eigenen Könnens ist für beide jedoch kein Thema. Herr Schrader ist davon überzeugt, dass sein Ideal des guten Lebens das allgemein richtige ist, und er die Menschen aufklärt, indem er ihnen das „AndersLeben zeigt. Also wo du denkst: Boah, so geht’s ja auch“. Sein Entwerfen richtet sich damit aber nur an Anhänger seines Stils, während Herr Rudolf es sich zur Aufgabe gemacht hat, andere „Zielgruppen“ zu erreichen, für deren Ideal er gestaltet. Herr Rudolf geht dabei von einer „mechanischen“ Gefühlsgenerierung aus, die auf der Vorstellung körperlicher „Ursache-Wirkungs-Prinzip [ien]“ und einer allgemeinen „Stimmungskultur“ beruht, die das Entwerfen bedient. Ausgeblendet bleibt also die Frage nach einem Anteil des Subjekts am Erleben, der im Entwerfen ja nicht zu erreichen wäre. Wenn Herr Rudolf die spätere Raumwirkung „durchleben“ will oder Herr Schrader den Wuchs eines Baumes vor sich sieht, wenn also beide die reale Wirkung ihrer Entwürfe antizipieren, so bleibt außer Acht, dass es sich dabei nur um die Wirkung auf sie beide handeln kann. Ebenso bezieht sich die Wahl des Passenden auf die Person des Gestalters. Sie bleibt eben Herrn Rudolfs Intuition und Herrn Schraders Gefühl geschuldet.

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Architektonisches Handeln In ihrem Entwerfen für das besondere Erleben setzen sich die Gestalter mit dem, was räumlich wahrgenommen und besonders mit dem, was als Atmosphäre räumlich erlebt wird, auseinander. Sie beschäftigen sich also mit einem Thema, das für Architekten seit je eine Rolle spielt, nämlich mit der Raumwirkung. Auch sie gehen diese Aufgabe mit dem Selbstverständnis des HerstellenKönnens an und ignorieren dabei weitgehend den nicht verfügbaren Einfluss des erlebenden Subjekts. Herr Rudolf beschreibt Empfindungen als Ergebnis eines Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, d.h. sie können nach dieser Überzeugung technisch bewirkt werden. Als Ursache könnte das kulturell geprägte, passende „Klischee“ gelten, das der Gestalter treffen muss. Das Entwerfen versteht Herr Rudolf aber auch als Prozess, der Intuition, also die Persönlichkeit des Gestalters erfordert. Das Gestalten Herrn Rudolfs hat also, ähnlich wie das von Peter Zumthor beschriebene, eine verfügbare „handwerkliche Seite“ und eine andere persönliche und gefühlsmäßige.46 Darüber hinaus schafft Herr Rudolf eine Wendung seiner Erfahrungen mit dem Freizeitpark auf die Architektur, die der Fachdiskurs nicht leisten kann, weil er sich auf diese Erfahrung gar nicht erst einlässt. Der Mensch und seine Bedürfnisse rücken für Herrn Rudolf in den Fokus des Entwerfens (unter diesem Gesichtspunkt ordnet Herr Rudolf Freizeitparks ebenso wie Krankenhäuser der Architektur zu). Der Entwerfer versteht die Sicht des Nutzers, den er als Adressaten seiner Tätigkeit anerkennt und dem gegenüber er in dieser Hinsicht als Dienstleister verantwortlich ist. Damit gelingen Herrn Rudolf die Erweiterung seines Architekturverständnisses und ein Schritt hin zur Überwindung der Trennung von Architektur- und Alltagswelt, wie sie etwa von Bodenschatz und Baier gefordert wird.47 Mit Herrn Schraders Beispiel liegt ein Fall des Gestaltens außerhalb des üblichen Denkens von Architekten vor. Er entwirft von einem persönlichen, fast autodidaktischen Standpunkt aus, der durchaus in einen lebensweltlichen Gebrauch der Gestaltungen eingebettet ist. Herrn Schraders Karriere ist sozusagen die Professionalisierung eines Hobbys, seine Gestaltungen wurden nachgefragt, „angenommen“, und Herr Schrader ist entsprechend von der Richtigkeit seines persönlichen Gestaltens überzeugt. Er hat nachträglich verstanden, dass die Besucher seine Gestaltungen als „Möglichkeiten“ aktiv in Gebrauch nehmen und selbst deuten, sie z.B. mit ihrer Kindheit in Verbindung bringen. Womöglich ist Herr Schrader dabei der Gestaltung von etwas wie „Stimmungs- und Situationsbedingungen“48 auf der Spur, die den Besuchern bekannt vorkom46 | Vgl. Anm. 21. 47 | Vgl. Anm. 26 u. 27. 48 | Vgl. Anm. 24.

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men und mit denen sie „etwas anfangen können“. Der nicht-akademische Zugang zum Gestalten führt zu self-made-Methoden, die der Fachdiskurs in seiner Beschäftigung mit dem Erlebnis und mit Atmosphäre nicht kennt. Herr Schrader spricht das Arbeiten im Team an und scheint mindestens für die Herausforderung der Kommunikation beim Gestalten in einer Gruppe sensibel. Der Schritt in die konkrete Räumlichkeit der „Modellskizzen“ weist immerhin in die Richtung einer tatsächlich erlebbaren Raumwirkung.49 Wenn wir Stimmungen und Atmosphären nicht gezielt entwerfen können, aber unser Gestalten offensichtlichen Anteil daran hat, dann kann die Forderung hier nicht lauten, das Gefühlsmäßige künftig aus der Architektur auszuschließen. Vielmehr ist es wichtig noch genauer hinzusehen, dies freilich im lebensweltlichen Umgang mit dem Raum, der ja auch dem Architekten nicht fremd ist, wenn er in Bauwerken lehrt und lernt, einkauft oder auf den Anschlusszug wartet. Vielleicht ist der Ertrag einer solchen Beobachtung nur eine Achtsamkeit für die eigenen Grenzen, vielleicht aber auch ein Nachdenken über Kriterien der Beurteilung von Gebäuden oder ein stärkeres Augenmerk auf tatsächliche Raumwirkungen und persönliche Erfahrungen in der Ausbildung von Architekten.

49 | Lange Zeit war unter Architekten die Bemusterung wirklicher Oberflächen am Ort ihrer Verwendung üblich.

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Freiräume für das Erleben? Zur Entwurfspraxis von Landschaftsarchitekten Heiko Lieske

1. V ORBEMERKUNGEN Im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ wurden Fragen des Erlebens von gestalteten Freiräumen1 zunächst anhand von Erlebnislandschaften – also speziell auf das Erleben hin entworfenen Landschaften – untersucht. Das Erkenntnisinteresse geht freilich über diese Sonderformen hinaus, es betrifft letztlich alle Freiräume, die Menschen zugänglich und somit Räume sind, die erlebt werden: mehr oder weniger kulturell bestimmte oder naturnahe Landschaften, innerstädtische und ländliche Freiräume (einschließlich aller Zwischenformen), professionell gestaltete und aus den Zusammenhängen der alltäglichen Ingebrauchnahme entstandene – so genannte gewachsene – Landschaften. Mit dem Fortschreiten des Projektes tauchten insbesondere Fragen nach der professionell gestalteten Landschaft auf. Dies gründet zum einen darin, dass der Blick auf den eigenen Berufsstand nahelag: das Projekt wurde an der Fakultät Architektur der TU Dresden durchgeführt, die Ausbildungsstätte für Architekten und Landschaftsarchitekten ist, und die Mehrheit der teilnehmenden Wissenschaftler ist selbst in diesen Disziplinen tätig. Zum anderen fiel bei der Beschäftigung mit Erlebnislandschaften auf, dass diese nicht von Landschaftsarchitekten geplant worden waren, sondern von einem Architekten bzw. von einem Autodidakten. War das ein Zufall? Jedenfalls war das Interesse daran geweckt, was es für Landschaftsarchitekten heißt, räumlich zu erleben, welche eigenen Erinnerungen und Vorstellungen die Frage nach dem Erleben bei ihnen wachruft, welche besonderen Eigenheiten das Erleben von Außenräumen womöglich trägt und, welche Rolle Erlebnisqualitäten in ihrer beruflichen Praxis spielen, wenn die Gestalter Freiräume entwerfen, die zum üblichen Repertoire 1 | Als Freiräume werden hier alle Räume verstanden, die nicht mit Gebäuden überbaut sind. Der Begriff Außenräume wird als Synonym für Freiräume verwendet.

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der Objektplanung zählen, wie Grünanlagen, Parke, Plätze, Wohnhöfe, Gärten, Spielplätze etc.2 So entstand die Idee, Landschaftsarchitekten nach ihrem eigenen Erleben von Freiräumen und danach zu befragen, ob und ggf. wie dieses Erleben Eingang in ihre Entwürfe und realisierten Projekte findet. Zur Erschließung dieses Fragenkomplexes, der als bislang nahezu unerforscht betrachtet werden muss,3 erschien uns das leitfadenorientierte Interview als ein geeignetes Instrument. In einem weitgehend verlaufsoffenen Gespräch sollte der interviewte Landschaftsarchitekt bzw. die Landschaftsarchitektin die Möglichkeit bekommen, innerhalb des Rahmenthemas „Erleben gestalteter Freiräume“ Schwerpunkte der Unterhaltung selbst zu setzen und auf die verschiedenen, nicht zuletzt die biografischen Aspekte, nach eigenem Dafürhalten unterschiedlich stark und detailliert einzugehen. Diese mehr oder weniger freie Gestaltung des Interviews durch den Interviewten sollte Rückschlüsse darauf erlauben, welche Themen und Motive für die entwurfliche Praxis der Landschaftsarchitekten eine Rolle spielen, und in welcher Weise sie dies tun. Die Fragen des Leitfadens waren indes so gewählt, dass sie einerseits das Gespräch am Laufen halten und den Interviewten ggf. auf das Rahmenthema zurückführen konnten, falls er zu weit abschweifen sollte (was allerdings nicht vorkam). Andererseits waren sie ausreichend allgemein und abstrakt formuliert, so dass sie die Möglichkeiten der Gesprächsgestaltung möglichst nicht einschränken, sondern vielmehr Anstöße hierfür geben würden. Die Fragen waren dazu angelegt, sechs grobe Fragerichtungen zu erschließen: Wie erlebt der Entwerfer selbst Außenräume? Gibt es professionsspezifische Zugänge zum Erleben? Erscheint ein auf das räumliche Erleben orientiertes Entwerfen grundsätzlich als möglich und sinnvoll bzw. erwünscht? Wie fließen eigene Erlebens-Erfahrungen in die Entwurfsarbeit ein? Welche Methoden des Erlebens-orientierten Entwerfens kommen zur Anwendung?

2 | Mit Objektplanung ist die objektbezogene Gestaltung von Freiräumen gemeint, im Gegensatz zur Landschaftsplanung – dem anderen Hauptarbeitsbereich der Landschaftsarchitektur –, bei der die nachhaltige Entwicklung von Landschaft in den Maßstabsebenen der Bauleitplanung bis Regionalplanung im Vordergrund steht. 3 | Nicht-planungswissenschaftliche Literatur zum Erleben in Landschaften ist im Aufsatz von Achim Hahn: Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären in diesem Band dargestellt. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass theoretische Abhandlungen in Architektur und Landschaftsarchitektur, die die Analyse oder Herstellung räumlicher Qualitäten thematisieren, diese zumeist auf Aspekte des Ästhetischen beschränken, z. B. Tessin 2008, Loidl u. Bernard 2003.

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Welche berufspraktischen Restriktionen – Sachzwänge, Desinteresse beim Bauherrn, Mehraufwand, Zeitdruck etc. – stehen dem Erlebens-orientierten Entwerfen entgegen? Welches Verhältnis hat der Entwerfer zu Erlebnislandschaften? Drei Interviews mit insgesamt vier Landschaftsarchitekten wurden durchgeführt, wortgetreu transkribiert und mit hermeneutischen Verfahren ausgewertet.4 Spätestens hier ist etwas zu mir als Person des Interviewers und Autors dieses Beitrags zu sagen. Das ist insbesondere deswegen notwendig, weil ich demselben Berufsstand wie die Interviewpartner angehöre – ein Freiraumplaner befragte also Freiraumplaner. Das bringt einige Besonderheiten für das Vorverständnis der Forschungsfrage, für das Gespräch und für dessen Auswertung mit sich, die zum Teil als Vorteile, zum Teil aber auch als Hindernisse gelten können. Von Vorteil ist sicherlich, dass die Gesprächsführung und das gegenseitige Verständnis der Teilnehmer erleichtert werden, wenn diese einen beruflichen Hintergrund teilen, weil sie gewissermaßen eine gemeinsame Sprache sprechen. Missverständnisse sind damit weniger wahrscheinlich als wenn beispielsweise ein Sozialwissenschaftler einen Fachplaner befragt. Genau diese gemeinsame fachsprachliche Basis des Gesprächs, die, wie weiter unten gezeigt werden wird, auch ein wesentliches Fundament der räumlichen Konzepte der Landschaftsarchitekten bildet, ist jedoch gleichzeitig ein ernst zu nehmendes Hindernis für die Herausarbeitung der relevanten Kategorien, Themen und Probleme in der Analyse des Gesprächs. Der forschende Kollege entdeckt womöglich nur das, was ohnehin schon Teil der Fachdiskussion ist. ProfessionellFragloses wird nicht thematisiert, während ein Fachfremder vielleicht fragen würde, warum dieses so und jenes anders gehandhabt wird. Der interviewende Kollege kann sich bestimmter Hilfskonstruktionen und Techniken bedienen, um sich in die Position eines Fachfremden zu versetzen. Damit kann er die methodische Problematik entschärfen; aufheben kann er sie nicht. Deshalb ist es umso wichtiger, dass der Wissenschaftler in der Darstellung der Ergebnisse seinen eigenen beruflichen Hintergrund offenlegt und damit die kritische Diskussion seiner Erkenntnisse sowie Achtsamkeit bei der Weiternutzung der Daten empfiehlt, die in einem speziellen Kontext gewonnen worden sind. Zum eigenen Vorverständnis der Fragestellung sei noch bemerkt, dass ich davon aus4 | Der Leitfaden und die Transkripte der Interviews können an der TU Dresden, Fakultät Architektur, Professur für Architekturtheorie und Architekturkritik eingesehen werden. Die für die Durchführung und Auswertung der Interviews angewandten Methoden und Instrumente sind aus einem anderen Forschungsprojekt zu Freiräumen herangezogen und auf das Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung angepasst worden, vgl. Lieske 2009.

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gehe, selbst über ein quasi vor-fachliches Empfinden für räumliche Stimmungen zu verfügen, dem eine durch die Ausbildung und Berufspraxis erworbene, andersartige Empfänglichkeit für räumliche Qualitäten gegenübersteht, die das naive Empfinden – so mein Eindruck – mitunter wenig zur Geltung kommen lässt. Insofern ist die Forschungsfrage darauf gerichtet zu ergründen, ob dieser mutmaßliche zweite Modus des räumlichen Erfassens als ein allgemeines Phänomen des Berufsstands zu verstehen ist, und falls dem so ist, wie sich dies auf die Entwurfspraxis auswirkt.5

2. D IE I NTERVIE WPARTNER Bevor die Ergebnisse der Befragung erörtert werden, erscheint es wichtig, auch die Interviewpartner kurz vorzustellen. Die drei besuchten Landschaftsarchitektur-Büros sind hauptsächlich in der Objektplanung tätig, das heißt sie gestalten i. d. R. innerörtliche Freiräume in den Größenordnungen von kleinen Stadtplätzen bis zu großen Parkanlagen. Zur Herkunft der Interviewten erscheint zunächst interessant, dass alle vier einen kleinstädtischen Hintergrund haben bzw. in Stadtrandlage aufgewachsen sind, was ihnen einen jederzeit leichten Zugang zur freien Landschaft6 erlaubte. Alle hatten über ihre Familien intensive Berührungen mit der Gartenbaupraxis, Olaf (alle Namen sind geändert) auch mit der Landwirtschaft. Diese Kontakte bestanden indes jeweils nur episodisch – niemand wuchs in einem landwirtschaftlichen Betrieb auf. Michael betreibt in München gemeinsam mit einer Partnerin ein Büro mit etwa einem Dutzend Mitarbeitern. Das Unternehmen ist in der Stadt München und im Umfeld, in letzter Zeit aber verstärkt im Ausland tätig. Michael arbeitet nunmehr seit etwa 20 Jahren in diesem Beruf. Michael ist ca. 45 Jahre alt. Er wuchs am Rand einer Stadt mittlerer Größe auf. Die dortige Situation beschreibt er als dörflich, geprägt von Feldern, Wiesen und vielen aufgelassenen Steinbrüchen. Mit dieser Landschaft hat sich Michael in seinem ersten Beruf – er studierte zunächst Kunst – intensiv auseinandergesetzt. Dabei interessierten ihn weniger die naturhaften Situationen als die „starken Eingriffe in die Landschaft“ 7, die Steinbrüche. Hier schuf er aus vorgefundenen industriellen Rudimenten temporäre, „spielerische“ Installationen. Zum Charakter der so entstandenen Arbeiten gehörte, dass sie sich nicht 5 | Ihre Auswirkungen auf den tatsächlich gebauten Freiraum, seine Nutzung und sein Erleben durch die Nutzer erfordern weitergehende Untersuchungen. 6 | Als freie Landschaft wird hier die nicht bebaute Landschaft verstanden. 7 | Im folgenden werden alle Zitate aus den Interviewtranskripten in abweichender Schriftart und in Anführungszeichen gesetzt. Einfügungen wurden in eckigen [ich], Auslassungen in runden Klammern (…) vorgenommen.

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dauerhaft räumlich manifestieren, sondern lediglich in ihrer fotografischen Dokumentation nachvollziehbar bleiben sollten. Michael beschäftigte sich also in dieser Zeit sehr intensiv mit Außenräumen, er suchte besonders prägnante Landschaften auf und nahm an ihnen gezielt Veränderungen vor. Die scheinbar folgerichtige Konsequenz, die man in seiner weiteren beruflichen Entwicklung zum Landschaftsarchitekten erkennen mag, birgt freilich zwei Neuorientierungen, die für Michaels räumliches Empfinden und Agieren seither bestimmend sind. Zum einen stellt er fest, dass sich sein Interesse und seine Tätigkeit von den ländlichen auf innerstädtische Außenräume verlagert haben. Zum anderen reflektiert Michael, dass ihm die besondere Sensibilität für die Erlebnisqualitäten von Landschaften, die er in seiner Zeit als Künstler erworben hatte, seit seiner Beschäftigung als Landschaftsarchitekt ein Stück weit wieder abhanden gekommen ist. Die fachlich-analytische Betrachtung und Bewertung der Eigenschaften eines Außenraumes spielen nun für ihn in der planerischen Tätigkeit eine wesentlich stärkere Rolle als das räumliche Erleben. In dieser Einschätzung der Dominanz des Analytischen über das Erleben stimmt er mit den anderen Interviewten überein. Diese würden jedoch vermutlich seiner Forderung widersprechen, dass das fachliche Argument jedenfalls gegenüber den Erlebnispräferenzen der Nutzer Vorrang haben solle. Michael vertritt hierbei eine klare Position. Das Mitspracherecht der Nutzer sollte nach seinen Erfahrungen mit Bürgerbeteiligungen „auf der Ebene einer Stoffsammlung“ bleiben. Die Bürger könnten nicht überall mitentscheiden, „weil ihnen dafür einfach die Qualifikationen fehlen“. Michael ist es durchaus bewusst, dass die Nutzer in der Regel andere Vorlieben für bestimmte räumlich Situationen und Gestaltungen haben als er und seine Kollegen. Über die Motive dieser Präferenzen und auch die Präferenzen selbst kann er nur Vermutungen äußern. Er hielte es für lohnend, die Thematik näher zu untersuchen. Letztlich, meint er, müsse sich im Zweifelsfall jedoch die fachliche Position, die aus der Qualifikation der Planer, aus der aktuellen Fachdiskussion und aus nicht-subjektiven Kriterien resultiere, gegenüber den Vorstellungen der Nutzer durchsetzen. Sabine und Kai – beide etwa 35 Jahre alt – führen gemeinsam ein Landschaftsarchitektur-Büro in Berlin, nachdem sie im Anschluss an das Studium zunächst an Hochschulen und in anderen Büros tätig waren. Weitere Mitarbeiter gibt es in ihrem Unternehmen nicht. Ihr Schwerpunkt liegt im Entwurf von städtischen Freiräumen, die sie als beauftragte Planer oder im Unterauftrag für andere Büros bearbeiten. Kai verlebte seine Kindheit und Jugend am Rand einer Kleinstadt – er nennt es „auf dem Land“ – und hielt sich dort sehr viel außer Haus auf. Über die beiden Gärten der Eltern hatte er intensiven Kontakt zum Gartenbau und zur Kleintierhaltung. Gleichzeitig pflegte er seine künstlerischen Neigungen, etwa, wenn er immer wieder den Baum vor dem Haus der Eltern malte. Natur (bzw. Land-

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schaft) und Kunst – diese beiden Interessensgebiete schienen sich zunächst für ihn im Beruf des Landschaftsarchitekten, von dem er zufällig erfuhr, zu einem Bild von Romantik und Kreativität zu vereinen. Während und nach der Ausbildung lernte er die nüchterneren Seiten des Berufsalltags, den „Mainstream“ kennen. Davon enttäuscht spezialisierte er sich auf den für ihn interessantesten Teilbereich, den Entwurf, und wandte sich für einige Tätigkeiten auch ganz vom Beruf ab, indem er heute einen Verein mit Jugendlichen betreibt, die künstlerische Interventionen in städtischen Freiräumen vornehmen. Die Aktivierung der Potentiale der Laien, die vorbehaltlose Akzeptanz ihrer Erlebnisweisen und Präferenzen sowie die Nutzung ihrer Ideenwelt für die Gestaltung öffentlicher Außenräume sind Ideale, die Kai gern umgesetzt sehen würde, die aber seiner Meinung nach in der Planungspraxis keinen Platz haben. Hierfür sieht er zwei Gründe. Einerseits seien sowohl die zu gestaltenden Räume als auch die Erlebensweisen und Vorstellungen der Nutzer zu komplex, vielfältig und veränderbar, als dass man sie für die Planung handhabbar machen könne. Andererseits seien die Bauherren und die Fachwelt an ihnen auch gar nicht interessiert, weil sie selbst Planungen und Freiräume bevorzugten, die ihren eigenen ökonomischen, fachlichen und stilistischen Kriterien folgen. Gegenüber der Planungspraxis seiner Kollegen hat Kai so im Laufe der Zeit eine weitgehende Skepsis entwickelt, die dazu führte, dass er sich, sofern er die Möglichkeiten dafür hat, andersartigen Wegen der Gestaltung von Freiräumen in Kunst- oder Sozialprojekten zuwendet. Sabines Kindheit begann am Rand einer mittelgroßen Stadt, wo sie nach eigenem Bekunden viel Zeit in den angrenzenden Wäldern verbrachte. Auch die regelmäßigen Aufenthalte in dem sehr großen, zur freien Landschaft offenen Garten der Großeltern hätten ihre Vorliebe für Natur und Landschaft geprägt. Die Großstadt hingegen, in die die Familie umzog, als Sabine elf Jahre alt war, empfand sie als „beängstigenden Moloch“. Deshalb suchte sie nach Beendigung ihrer Schulzeit eine Ausbildung für eine Tätigkeit „in der Natur“. Sie wurde zunächst Forstwirtin und erfuhr dann von der Landschaftsarchitektur, die ihr als Verbindung von Kunst und Technik in der Landschaft sehr reizvoll erschien. So nahm sie das Studium auf und ist in diesem Beruf bis heute tätig. Wie sie ausführt, sind die Erinnerungen an die Landschaften ihrer Kindheit, etwa die Brandenburger Kiefernforste, wichtige Quellen für ihre Entwürfe. Einen weiteren wichtigen frühen Einfluss auf diese sieht Sabine in dem Erleben der Theaterwelt ihrer Mutter, die Schauspielerin ist. Sabine meint beim regelmäßigen Theaterbesuch eine besondere Empfänglichkeit für „das Visuelle“, für Farben, Stimmungen und Proportionen ausgebildet zu haben, die ihr in ihrer heutigen Tätigkeit zugute kommt. Dabei sucht sie – ganz ähnlich wie Olaf – in ihren Entwürfen die Konzentration auf wenige, wirkungsvolle Erlebnisqualitäten, wie sie an einem minimalistischen Spielplatz erläutert, den sie entworfen und realisiert hat.

F REIRÄUME FÜR DAS E RLEBEN ?

Olaf ist Inhaber eines Büros mit Standorten in Berlin und in der Nähe von Frankfurt am Main, in deren Umkreis sich die meisten der bearbeiteten Projekte befinden. Das Büro hat ca. 15 Mitarbeiter. Olaf ist etwa 50 Jahre alt und seit 30 Jahren im Beruf. Olaf wuchs in einem kleinen, ursprünglich landwirtschaftlich geprägten Ort in einer kleinteiligen Landschaft auf. Wie die anderen Interviewpartner verbrachte er in der Kindheit viel Zeit im Freien, wo er, wie er sagt, eine „große Natürlichkeit“ erlebte. Auch die Gegend bei seinen Großeltern, die Landwirte waren und ihn regelmäßig an ihrer Arbeit teilhaben ließen, beschreibt er als „eine Art Naturraum“. Die Erinnerungen an diese schlichten, alltäglichen Landschaften sind ihm sehr wichtig, und Olaf vermutet, dass sie Einfluss auf sein heutiges räumliches Wahrnehmen und seine Arbeit als Landschaftsarchitekt nehmen. Auch heute sucht er gern ähnliche, einfache Gegenden und Orte der Kulturlandschaft auf, wenn er mit seiner Familie Ausflüge macht. Neben den erinnerten Orten und Landschaften der Kindheit spielen für Olaf – augenscheinlich stärker als für die anderen Interviewten – Personen und Erlebnisse in diesen Landschaften eine nachhaltige Rolle. Ausführlich berichtet er z. B. von gemeinsamen Ernteeinsätzen und von Abenteuern mit seinen Freunden am Teich, im Obsthain oder im Wald. Diese Erinnerungen verbinden sich bei Olaf stark mit Assoziationen von Sinneseindrücken, seien es Silhouetten, Geräusche, der Geruch von Erde oder der Geschmack von Quarkbroten. Die starken Wirkungen auf das (erinnerte) Erleben, die von diesen basalen Eindrücken ausgehen, versucht er in seinen Entwürfen ebenfalls zu ermöglichen. Das geschieht nicht so sehr durch ihr gezieltes Herstellen, sondern durch das Zulassen und ggf. Hervorheben von Qualitäten, die vielen zu gestaltenden Räumen bereits innewohnen. Dazu übt er sich zum einen im räumlichen Empfinden und blendet dafür bisweilen bewusst analytische Wahrnehmungskategorien der Landschaftsarchitektur aus. Zum anderen setzt Olaf in seiner entwerferischen Tätigkeit Strategien der Reduzierung ein, die auf die Schaffung schlichter, aber prägnanter Raumsituationen gerichtet sind und die potentiellen Qualitäten der „gewachsenen Räume“ zur Geltung kommen lassen sollen.

3. D ARSTELLUNG DER B EFUNDE (THEMEN , D EUTUNGEN , THESEN) „Dieses Offene, Großzügige“ 8 – Biographische Hintergründe Wenn die Interviewten, nach ihrer Herkunft befragt, darüber reflektieren, welches Verhältnis sie in ihrer Kindheit und Jugend zum Außenraum pflegten, 8 | Die Überschriften, unter denen Aussagen zu Themen subsumiert sind, zitieren Begriffe und Wendungen aus den Interviews.

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dann wird deutlich, dass in jedem der Einzelfälle die Beziehungen zum Außen und insbesondere zur freien Landschaft vor der Stadt oder dem Dorf als sehr eng erinnert werden. Alle Befragten hielten sich bevorzugt im Freien auf und verbrachten dort viel Zeit. Die Präferenz ist mit bestimmten Vorstellungen über geschätzte Qualitäten des Außenraums sowie über Möglichkeiten des Handelns und Gestaltens in ihm verbunden. Die Qualitäten ergeben sich zum einen aus spezifischen geometrischen Eigenschaften und Dimensionen des Freiraums, der nach oben unbegrenzt ist und seitlich i. d. R. eine große Ausdehnung besitzt. Kai erklärt, dass er sich als Kind sehr viel außer Haus aufgehalten hat, weil er sich schlicht in der Enge seines Zimmers nicht wohlfühlte. Das Draußen bot ihm die für sein Wohlbefinden notwendige Weite. Sabine schätzt ebenfalls „dieses Offene, Großzügige“ der freien Landschaft. Dass sich in dieser Charakterisierung des Nicht-Eingeschränkten die Anmutung der Offenheit und Weite mit dem Gefühl einer physischen Freiheit zu einem Gesamteindruck verschränkt, zeigt ihre Aufzählung dieser Eigenschaften, die auch den „Auslauf“ umfasst, also die Möglichkeit loszulaufen, ohne gleich an Grenzen zu stoßen. Zum anderen sind die geschätzten Qualitäten des Freiraums durch Eigenschaften bestimmt, die für die Interviewten bestimmte Bedeutungsgehalte tragen. Dazu gehören Erfahrungen des Aufgehobenseins in einer Gemeinschaft, etwa der Familie oder des Freundeskreises. Ganz besonders deutlich wird das in den Ausführungen Olafs, beispielsweise wenn er von den Ernteeinsätzen bei den Großeltern erzählt: „[Ich] hab das intuitiv wahrscheinlich alles aufgenommen, was wir dort erlebt haben: der Geruch von Erde, Kartoffelernte oder Rübenernte, aber auch die, ich weiß noch unzählige Mäuse, (…) dann ein tolles Mittagessen zu haben oder so eine Pause zu machen so im Freien. Ich weiß noch, es gab fette Quarkbrote. Da wurden noch richtige Lager gemacht zwischen den Kartoffelsäcken usw.“

Dass ihm der Geruch von Erde, die Quarkbrote oder die Kartoffelsäcke eine Erwähnung wert sind, zeigt, dass die Erinnerung an das damalige Erleben auch an bestimmte Einzeleindrücke gebunden ist, die einen besonderen Wert erlangt haben – ob bereits im Moment des Erlebens selbst oder erst in der Erinnerung, sei dahingestellt. Eine weitere wichtige Eigenschaft des Außenraums ist offenbar sein Naturbezug, der von allen Interviewten angesprochen wird. Für sein Erleben braucht es jedoch nicht unbedingt den Aufenthalt in „unberührten“ Naturlandschaften. Natürlichkeit wird von den Befragten übereinstimmend eher als ein Merkmal von Außenräumen verstanden, die ein wenig reglementiertes Verhalten gestatten. So erzählt Olaf aus seiner Kindheit:

F REIRÄUME FÜR DAS E RLEBEN ? „Das war halt doch noch sehr naturverbunden, würd ich mal sagen. Es gab dort solche Fichtenschonungen, da wurde dann Klettern gemacht, jeder musste sich sozusagen eine Fichte aussuchen, wer höher kommt. Gemeingefährlich, da würden heute alle Eltern einen Herzinfarkt kriegen, was wir damals alles gemacht haben. Aber im Grunde hat es keinem geschadet, ja?“

Auch für die anderen Interviewten ist der Kontakt zur Natur in stark wirtschaftlich geprägten Kulturlandschaften, wie Steinbrüchen (Michael), Feldflur (Kai) und Kiefernforsten (Sabine) ein wichtiges Merkmal des erinnerten Freiraums. Der Aufenthalt in ihm ist augenscheinlich mit bestimmten Handlungsmöglichkeiten verbunden, die schon in Sabines „Auslauf“ angesprochen wurden. Michael wuchs in einer Oberfrankener Gegend auf, die von jeher durch „starke Eingriffe in die Landschaft“ geprägt war. In seiner Zeit als junger Künstler hat er solche überformten Situationen aufgesucht, um Kunstinstallationen umzusetzen. Auch Sabine und Olaf haben Freiräume zur räumlichen Gestaltung genutzt, wenn sie sich Buden bauten oder kleine Lebensräume für Wildtiere einrichteten. Olaf hat darüber hinaus etwas später, in seinen Gartenbau-Praktika, die Möglichkeit schätzen gelernt, im Freiraum eigenverantwortlich praktisch-handwerklich tätig zu sein. Das Hand-Anlegen in einem als naturbezogen empfundenen Freiraum hat auch Sabine gereizt, als sie sich zunächst in Forstwirtschaft ausbilden ließ, denn sie „wollte etwas Praktisches und etwas in der Natur machen“. Zwar merkte sie bald, dass diese körperlich schwere Arbeit für Frauen nicht geeignet ist, über diesen Weg fand sie jedoch zur Landschaftsarchitektur.

„Kiefernwälder“ – Freiräume und Berufswahl Alle Interviewten stellen einen Zusammenhang zwischen den geschilderten biographischen Erfahrungen und ihrer Berufswahl her. Olafs Orientierung war von dem Wunsch geleitet, relativ kleine, das heißt im Ganzen, als Landschaft erlebbare Außenräume (im „Naturraum, in der Landschaft“ ) gestalten zu wollen. In den Praktikumstätigkeiten vor dem Studium schienen sich diese Vorstellungen zu bestätigen. Hinzu kamen dort die Notwendigkeit, sehr selbständig zu arbeiten und für den gebauten Raum weitgehende Verantwortung zu übernehmen, sowie die Erfahrung, dass die Eingriffe schnell Wirkung entfalteten, das gebaute Ergebnis der planerischen Tätigkeit also schon bald zu erleben war. Kai war lange Zeit nicht konkret klar, was es heißt Landschaftsarchitekt zu sein: „Ja irgendwie Landschaft und Kunst, das klingt gut, das will ich machen. Das klingt kreativ und romantisch und ist eigentlich das, was ich brauche.“ Ähnlich vage waren Sabines Vorstellungen von dem Beruf: „Ich wusste nur, es hat irgendwas mit Landschaft zu tun und (…) ich hab damals schon ein bisschen (…) ahnen können, dass das eine Mixtur aus etwas Künstlerischem und etwas Technischem ist. Das hat mich gereizt. Das hat sich dann auch letztendlich bestätigt.“ Sie berichtet an einem konkreten

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Beispiel, wie räumliche Erlebnisse der Kindheit und Jugend nicht nur ihren Berufswunsch, sondern ihr späteres landschaftsarchitektonisches Arbeiten prägten und sich bis heute in ihren Entwürfen wiederfinden: „ [D]iese Kiefernwälder haben mich schon immer fasziniert. Auch während des Studiums hab ich ganz oft was mit Kiefernwäldern vorgeschlagen (lacht). Das hat mich schon sehr geprägt.“ Die anderen Befragten berichten nicht von solcherart direkten Übertragungen konkreter räumlicher Situationen in ihre heutigen Entwürfe. Jedoch stellen auch sie deutliche Bezüge zwischen Raum- und Sinneseindrücken in der Kindheit und ihrem jetzigen Planen her, so Olaf: „Also diese wahrgenommenen Landschaften von früher, die sind im Grunde bis heute präsent. Und ich bin da ziemlich sicher, dass die dann natürlich auch Einfluss nehmen, bewusst und unbewusst, auf planerische Prozesse, sag ich jetzt mal, einfach. Ob das dann einfach Silhouetten sind oder auch Gerüche oder Geräusche, also einfach alles, was in irgendeiner Weise die Sinne anregt“.

„Zurückzoomen“ – Wandel des Erlebens Allerdings wird im weiteren Verlauf dieser Interviewstelle spürbar, dass das Weiterwirken der frühen Eindrücke im gegenwärtigen Arbeiten zumindest kein unvermitteltes ist. Man hätte an dieser Stelle vielleicht eine Erläuterung erwarten können, wie Olaf im Entwerfen versucht, ähnliche Raumqualitäten herzustellen wie diejenigen, die er für so wertvoll hält, weil sie sein frühes Erleben geprägt hatten. Stattdessen stellt er dar, dass die damaligen Sinneseindrücke kaum noch zu erfahren seien: „Düfte, wunderbar, ja, also ich meine, wie wir sie früher noch erlebt haben, gibt es nur noch in Ausnahmefällen oder in Landschaftsschutzgebieten oder sowas, ja?“ Wenn er mit seinen Kindern einen Ausflug macht, sucht er keine gestalteten Situationen oder ausgewiesenen Erholungslandschaften auf, sondern einfache, alltägliche Außenräume der Kulturlandschaft, die all die Qualitäten bieten, die er selbst früh kennengelernt hat und schätzt. So wandert er mit ihnen zur Mühle im Wald. „Wir wollen einfach Zeit miteinander verbringen in einer schönen Landschaft oder an schönen Orten, wo man sich wohl fühlt und wo einfach eine gute Atmosphäre ist.“ Auf die Frage, ob er Außenräume heute noch genauso erlebe wie früher, antwortet er: „Das weiß ich nicht, ob ich die jetzt anders erlebe als früher, weil ich sie früher nie bewusst erlebt habe, sondern sie waren einfach da.“ Davon abgesehen, dass er damit bereits einen prinzipiellen Unterschied im Erleben genannt hat, wird auch aus seinen weiteren Ausführungen deutlich, dass er sowohl im Erleben der Landschaftsarchitekten generell als auch in seinem persönlichen Erleben deutliche Unterschiede zum Erleben der Nicht-Fachleute einschließlich seiner eigenen frühen Erfahrungen erkennt:

F REIRÄUME FÜR DAS E RLEBEN ? „[I]ch hoffe, dass es mir gelingt, nach wie vor nicht als Landschaftsarchitekt durch die Landschaft zu gehen, ja? Also das ist für mich so eine Art Maxime, dass ich immer wieder sozusagen zurückzoome auf null, auf den Anfang, um nicht so mit der klassischen Landschaftsarchitektenbrille alles wahrzunehmen und alles zu kommentieren oder so, sondern, wenn ich an einem Ort bin, lebe ich an diesem Ort, ja? (…) [I]ch leb dort im Grunde ganz genauso wie ich auch jetzt lebe und nehme einfach die Dinge dann dort wahr, die so sind und nehm das entweder an oder ziehe mich zurück oder wie auch immer. (…) [W]as das Raumerleben angeht, haben sich im Laufe der Zeit bestimmte Dinge herauskristallisiert, die ich halt einfach wahrnehme, also Horizontlinien z. B. prägen mich sehr stark.(…) [W]enn ich zeichne, mach ich nur Punkte, Striche, Kreise, die irgendetwas bedeuten, was dann sozusagen das, was ich mir überlegt hab, aufs Papier bringt, ja? Und da wächst aber dann sofort der Raum in mir. Also ich sehe das immer räumlich, auch wenn das im Grunde nur zwei Striche sind. Die haben ihre Bedeutung und stehen für etwas und das find ich sehr spannend. Und dann erklär ich das immer: Wenn du so raus guckst, sieht man wahnsinnig viel, erst mal, ja, an Einzelheiten. Aber es gibt auch so ein paar Grundsätze, die immer da sind. Es gibt immer einen Horizont, der halt mal näher und mal weiter weg ist. Es gibt oftmals eine Form von Himmel, so als, von den vier Elementen, ja so? Es gibt Einwirkungen, Geräusche. Da drüben gibt es diese Linie der Bundesstraße, so Straßenlinien, so räumliche Einbauten, naturräumliche Gegebenheiten, und die stehen alle immer in irgendeinem Verhältnis zueinander. Und diese Art des Verhältnisses, das ergibt dann den jeweiligen Raum.“

Olaf kritisiert also zunächst die seiner Meinung nach typische Wahrnehmung des Landschaftsarchitekten, der gleich alles „kommentieren“ müsse, als bloß analytisch. Er betrachtet sie wohl als eine auf bestimmte Eigenschaften des Raums spezialisierte, aber auch verkürzte Weise des räumlichen Erfassens. Er selbst versucht „zurück zu zoomen“, das heißt er bemüht sich – zumindest in einem ersten Schritt der Annäherung an einen Ort –, Räume in einem nicht fachlich orientierten, quasi naiven Modus zu erleben. Er erläutert aber auch, dass er sich im Lauf des Berufslebens eine weitgehende Abstraktionsfähigkeit angeeignet hat, die er als Bereicherung empfindet. Seine Wahrnehmung wird von ihr „stark geprägt“. Es ist eine Reduktion der „wahnsinnig vielen Einzelheiten“ auf wenige Grundelemente: Horizontlinie, Punkte, Striche, Kreise etc. – Formen, die jeweils für etwas stehen, Bedeutung haben. Ihre Beziehungen untereinander bilden den Raum. Olafs Analyse läuft schließlich darauf hinaus, dass ihm die Dinge „bewusst werden“, sobald er sie benennt. Michael stellt ebenfalls fest, dass sich sein räumliches Erleben seit Beginn der planerischen Tätigkeit gewandelt hat. Vor dem Studium der Landschaftsarchitektur hatte er ein besonderes Interesse und Sensorium für räumliche Qualitäten entwickelt, die sich in seinen Kunstinstallationen im ländlichen Außenraum manifestierten. Mit dem Berufswechsel zur Landschaftsarchitektur

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traten dann, wie er heute sagt, zwei Änderungen ein. Erstens ist er nun nicht mehr so gern in der freien Landschaft oder am Stadtrand tätig. Er bevorzugt den Aufenthalt und die Arbeit in urbanen Freiräumen. Zweitens schätzt er ein, dass seine Empfänglichkeit für Erlebnisqualitäten im Außenraum im Laufe der Zeit abgenommen hat: „Ich würde heute sogar sagen, dass ich diese Sensibilität abgebaut habe. (…) Es ist nicht so leicht über sich selbst in dieser Art zu blicken, und ich weiß es nicht. Aber ich würde das so vermuten. Mich hat es damals wesentlich mehr interessiert als heute. Ich bin immer noch wesentlich lieber draußen als im Büro, das hat sich nicht geändert. Aber im Freien bin jetzt gern in der Stadt und nicht so sehr gern am Rand (…) Ich glaube dass ich die Wahrnehmung eher zurückgefahren habe. Das würde ich schon so sehen.“

Sabine, auch wenn sie eine solche Abnahme der Empfänglichkeit für räumliche Qualitäten nicht an sich feststellt, stimmt jedenfalls zu, dass „der Beruf, bzw. die Ausbildung schon immer sehr prägend ist.“ Daneben spielen aber auch die Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend für sie noch immer eine große Rolle. Insbesondere ihr Kontakt zum Theater, das Bühnenbild und auch die Schauspieler selbst hätten dazu geführt, dass ihr bis heute „das Visuelle“ sehr wichtig sei. „Und ich denke, dass ich da noch sehr aufgeschlossen bin, was das betrifft. Ich beobachte sehr viel, ich vergleiche sehr schnell, Farben, Stimmungen, eben auch Proportionen. Ja ich denke, (…) bei Planern ist es nicht mehr möglich zu sagen: ‚Ich erlebe jetzt ganz spontan ohne irgendwelche Einflüsse.‘ Man reflektiert doch recht schnell und hinterfragt, was jetzt hier der Grund dafür ist, dass ich mich wohl oder unwohl fühle.“

Das Analytische der professionellen Wahrnehmung tritt hier deutlich hervor. Während Sabine und Kai das Erleben der Nutzer als weitgehend natürlich und ungeschult verstehen, wenden sie für ihr eigenes planerisches Beschreiben, Bewerten und Entwerfen ein Vokabular an, das einem weitgehenden Reflexionsprozess zu entstammen scheint. Auf diesen Unterschied weisen sie auch selbst hin. Das Analysieren scheint im Wesentlichen auf einer Reduktion und Abstraktion sowie einer Bewusstmachung von Freiraumqualitäten zu beruhen, auf deren Wahrnehmung der Landschaftsarchitekt eingeübt ist. So erkennt er Eigenschaften des Raums, die dem naiv Erlebenden wohl kaum in dieser Form bewusst geworden wären, Parameter wie bestimmte Proportionen, Lichteinfall, Untergliederungen, Strukturen, Organisation und so weiter. Hiermit gelingt es dem Planer, die Mannigfaltigkeit der Eindrücke auf eine handhabbare Menge zu begrenzen, zu vereinheitlichen und zu verfeinern, so dass die relevanten Einzelqualitäten benennbar, erklärbar und für die Anwendung in der Planung ver-

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wendbar werden. Die beiden verschiedenen Erlebensweisen des Laien und des Experten sollen hier als naives bzw. professionelles Erleben bezeichnet werden.

„Intellektuelle Ebene“ – Dominanz des Fachlichen Wenn der Landschaftsarchitekt sich darin übt, einen Gesamteindruck in Einzelparameter der räumlichen Konstitution aufzulösen, dann kann dies auch dazu führen, dass er das naive Erleben, je mehr es an Relevanz für sein tägliches Tun verliert, ein Stück weit verlernt. Jedenfalls hat Michael an sich selbst festgestellt, dass er im Laufe seiner Tätigkeit als Landschaftsarchitekt diese „Sensibilität abgebaut“ habe. Er hält es für schwierig, die „intellektuelle Ebene“, also die fachliche Betrachtung, auszublenden, denn sie erscheint ihm „sehr dominant“. Offenbar erfordert der jetzige Beruf die Einübung und die Reflexion des naiven Erlebens nicht – andere professionelle Anforderungen (funktionaler, ästhetischer, ökonomischer, organisatorischer Art) stehen wohl im Vordergrund und überdecken das bei Michael vielleicht noch immer latent vorhandene Interesse und die Sensibilität für unvermittelte Landschaftseindrücke. Olaf sind die Differenzen zwischen den beiden Erlebensweisen offenbar ganz klar, und beide sind ihm wichtig. So legt er zwar großen Wert auf die Vervollkommnung seiner Abstraktionsfähigkeiten, pflegt aber gleichzeitig auch seine Empfindungsfähigkeit für naive Eindrücke, wie unter „Zurückzoomen“ bereits beschrieben. So ungleich wichtig und reflektiert die Frage des Verhältnisses zwischen den beiden Erlebensweisen bei den Interviewten ist, so übereinstimmend schätzen sie ein, dass in ihrer Arbeit das professionelle Erfassen der Freiraumeigenschaften das ungeschulte Erleben dominiert. Auch Sabine spricht davon, dass der Beruf für ihr Erleben „sehr prägend“ sei. Zwar hat sie nicht den Eindruck, dass sie dadurch weniger empfänglich für naive Eindrücke geworden sei. Es liegt jedoch recht nahe zu vermuten, dass das reduzierende und abstrahierende Prinzip der fachlichen Analyse nicht nur zu einer Auslese, Sortierung und Aufbereitung der Freiraumqualitäten für die planerische Verwendung führt, sondern auch zu einer Verkürzung oder Verdrängung der Eindrücke, die für ein reichhaltiges Landschaftserleben gerade als wertvoll gelten. Dabei handelt es sich zum einen um Phänomene, die aufgrund ihrer flüchtigen Natur nicht planbar sind, wie Gerüche, Geräusche, Witterung und zufällig Vorgefundenes. Zum anderen sind es persönliche Befindlichkeiten und soziale Sachverhalte, die ebenfalls von Veränderlichkeit und von wechselnden äußeren Umständen geprägt sind, wie Stimmungen, Geselligkeit, Selbsterfahrung, Interaktion und so weiter. Kai räumt ein, dass der Planungsprozess mit einer solchen Verminderung der Erlebnisvielfalt verbunden ist, stellt dies aber als unvermeidlich dar – wegen der enormen Komplexität eines Freiraumgebildes:

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Sein Fazit aus dem Problem, dass in der Planung mit reduzierten Erlebnisqualitäten gearbeitet werden muss, ist, dass eigentlich der Freiraum am besten funktionieren müsste, wenn er ungeplant bliebe. Jedenfalls für Außenräume, die hauptsächlich von Kindern genutzt werden, scheint ihm dies nur konsequent. Die Erkenntnis behandelt er allerdings wegen der Erwartungen des Bauherrn und der Sicherheitsanforderungen als rein theoretisch: „ [D]ie besten Spielplätze sind die, die nicht gestaltet sind oder nicht sichtbar gestaltet sind. Aber auch da ist natürlich die Frage: Wie verkaufe ich sowas? Wenn ich das der Wohnungsgesellschaft zeige, (lacht) die wollen einen Spielplatz haben und nicht irgendwie einen Haufen Gerümpel.“ An anderer Stelle meint er dazu : „Vielleicht brauchen ja alle einen Wald, einen See und zwei, drei Leute, die mal ein bisschen aufpassen, dass sich da keiner aufspießt, ertrinkt oder so. Vielleicht ist das der beste Spielplatz. (…) Ja so kleine Urwälder machen und so, wo dann halt ein bisschen Personal ist, das aufpasst. Ja, das ist utopisch. Das geht gar nicht.“ Dass Kai seine utopischen Ideen vor allem auf Freiräume für Kinder und Jugendliche bezieht, könnte damit zusammenhängen, dass einige der Außenraumqualitäten, die er selbst (wie die anderen Interviewten) als Kind am meisten schätzte, mit ihrer Ungeplantheit und Unreglementiertheit verbunden waren. Sie waren Grundlage dafür, dass die Interviewten damals bestimmte Erfahrungen mit dem augenscheinlich territorial Unbegrenzten und mit der Natur machten, dass sie sich mit sich selbst und mit dem Zusammensein in Gruppen beschäftigten, dass sie Handlungs- und Gestaltungsspielräume nutzten und Eigenverantwortung lernten. Dass Kai für Erwachsene das Ungeplante nicht empfiehlt, hängt wohl damit zusammen, dass er bei diesen Nutzern in erster Linie andere Bedürfnisse mutmaßt, nämlich auf Funktion, Ordnung und Strukturiertheit gerichtete – etwa kurze Wege, Schutz vor Wetter etc. – sowie solche ästhetischer Art, die nicht unbedingt mit einer aktiven Betätigung im Außenraum einhergehen.

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„Erfahrungswerte“ – Verinnerlichung der Analyse Neben dem reduzierenden und abstrahierenden Mechanismus des fachlichen Analysierens wird aber noch etwas Anderes erkennbar. Sabine spricht davon, dass ihr Entwerfen auf „Erfahrungswerten“ aufbaut. Diese Erfahrungen bezieht sie aus dem Alltagsleben, der Kindheit, der professionellen Ausbildung und „allem, was danach kam“. „Ja, man schaut schon, wenn man irgendwo eine Allee sieht, (…) was hat denn die für eine Proportion, wie stehen die Bäume zueinander, was ist denn das für ein Abstand, fühl ich mich hier wohl? (…) Das hinterfrage ich nicht permanent, aber mir fällt schon was auf.“ Hier zeigt sich, dass die landschaftsarchitektonische Analyse einerseits auf eine Bewusstmachung und Benennung zielt, wenn beispielsweise ein Wohlfühlen in einer Allee mit bestimmten Größenverhältnissen erklärt wird, die als gelungene Proportionen eines Freiraums zur Sprache gebracht und damit als „Erfahrungswert“ handhabbar gemacht werden. Wenn Sabine solche erlebensrelevanten Eigenheiten eines Raumes auffallen, ohne dass sie die zugrundeliegenden räumlichen Parameter „permanent hinterfragt“, dann heißt das andererseits, dass ihr die Analyse wenigstens zu einem Teil schon in Fleisch und Blut übergegangen ist. Kai geht es ebenso. Der „Prozess“, sich einen Eindruck bewusst zu machen, „[d]as ist ein Ding, was sich verselbstständigt hat. Das wird wahrscheinlich bei jedem so sein, dass man es dann nicht mehr trennen kann.“ Mit der Verdichtung ihrer analytischen Einsichten zu „Erfahrungswerten“ und ihrer Verinnerlichung im täglichen beruflichen Gebrauch steht Sabine und Kai ein Repertoire an Untersuchungs- und Entwurfsinstrumenten wie ein Handwerkszeug zur Verfügung, das sie sicher, ohne großes Überlegen, anwenden können. Auch Olaf gibt einen Hinweis darauf, dass er die erlernten Analyse- und Gestaltungsmittel mittlerweile so routiniert beherrscht, dass er sie bei der Arbeit kaum noch zu reflektieren braucht: „Zugegebenermaßen mach ich das fast alles intuitiv, wobei ich mir der Werkzeuge durchaus bewusst bin, die es gibt, also um Spannung zu erzeugen oder um Weite zu erzeugen oder Enge und geschützten Raum (…)“ Das solcherart reflexiv begründete, aber in der Praxis intuitiv gewonnene Erleben der Planer soll hier spontanes Erleben heißen.

„Mischpulte“ – Analytisches und entwurfliches Handwerkszeug Olaf erläutert ausführlich seine Arbeitsweise an „Mischpulten“, die sein Instrumentarium auf übersichtliche Weise zusammenstellen und handhabbar machen. Das sind grafische Darstellungen, die mittels Piktogrammen und Diagrammen für je eine Thematik die Relevanz oder Dimension anzeigen. „Mischpult 1 beschäftigt sich mit Formen, Flächen, Grenzen, Topographie oder wie auch immer und analysiert dann nach formalen oder organischen, statisch, dyna-

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Die beschriebene Reduktion der unüberschaubaren Einzelheiten auf abstrakte Grundelemente sowie ihr Benennen sind demnach als Analyseschritte zu verstehen, die dazu dienen, planerisch relevante Eigenschaften und Sachverhalte von Situationen in ein Vokabular zu übersetzen und so operabel zu machen. Sie resultieren in einer Art Sprache, die ebenso im mündlichen und schriftlichen Austausch angewendet wird wie sie sich in grafischen Darstellungen, wie Skizzen, Perspektiven, Funktionsschemata, 2D- und 3D-Plänen und so weiter, in Filmclips und Modellen manifestiert. Als wesentliches Element eines spezifischen Denkstils der gestaltenden Planer, auf den weiter unten anhand der Befunde nur kurz eingegangen werden kann, wird diese Sprache ebenso in der Analyse und im Entwurf wie auch in der Kommunikation mit dem Bauherrn und anderen Fachplanern eingesetzt. Der Gestalter ist dabei in der Lage, Eindrücke einer physischen räumlichen Situation in die abstrakte Gestaltersprache zu „übersetzen“, so wie er auch imstande ist, Informationen aus dieser in räumliche Vorstellungen und in die gebaute Realität zu überführen: „Also meistens entwerfe ich im Grundriss, in jedem Falle. Und es ist aber auch so, dass, wenn ich im Grundriss was mache, dass ich es sofort 3D sehe. Also, ich stell mir das vor. Das passiert ständig so. Ich kann da auch eine Perspektive zu malen, schnell, aber normalerweise brauch ich das nicht. So, ich weiß genau, wenn ich jetzt das und das mache, das sind 20 Meter, da ist das und da das. Ah, okay. Und das geht so, ja?“ (Kai, vgl. Olafs ähnliche Aussagen unter „Zurückzoomen“)

„Szenario XY“ – Verselbständigung des Fachdiskurses Neben der Notwendigkeit dieses fachlichen Denk- und Kommunikationsstils für die Tätigkeit des Planers und den praktischen Vorteilen, die er in der all-

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täglichen Arbeit bringt, sieht Kai allerdings eine Gefahr darin, dass sich das reduzierte Erleben und die Ausbildung des spezialisierten Vokabulars verselbständigen würden. So fragt er sich, ob ein im Grundriss überzeugend dargestellter Entwurf in jedem Fall auch noch stimmig wirke, wenn er falschherum an der Wand hinge. Kai und Sabine haben die Erfahrung gemacht, dass vom Gestalter heute Darstellungen erwartet werden, die zum Teil nur noch wenig mit dem letztlich zu bauenden Freiraum zu tun haben, dafür umso mehr eigene Bildqualitäten besitzen. Welche Konsequenzen eine allein aus der Logik der Entwurfsgrafik entwickelte Planung für den baulich realisierten Raum haben kann, hat Sabine anhand eines kürzlich eingeweihten Gebäudes erfahren. Die dort bemerkten Probleme des Innenraums hält sie für durchaus übertragbar in den Außenraum: „Ich hab mir das angeschaut zur Eröffnung und hab mich in diesen Räumen nicht wohl gefühlt. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, das ist etwas, also wie eine computergenerierte Zeichnung, zwischen 3D-Modell, was irgendwie cool aussah in den Perspektiven und auch vielleicht im Film, der präsentiert wurde, den Bauherren präsentiert wurde oder so. Aber im Endeffekt war alles eher erdrückend. Also man hatte keine gerade Wand, man konnte sich an nichts wirklich orientieren.“

Interviewer: „Aber der Fußboden war dann wenigstens horizontal?“ Sabine: „Ja, das war er schon. (lacht) Das war aber auch das einzige. Aber ähm, es fing schon an [zu] flimmern, also der Raum veränderte sich bei jedem Schritt. Nichts ist kontinuierlich geblieben. Es ist halt der fließende Raum, der in der Darstellung sicher cool aussieht, aber für mich war das eher beängstigend sogar. (…) Ich glaube, dass es immer irgendwie unangenehm ist, also, dass man das Gefühl hat, die Decke, der Raum bewegt sich. Es ist nichts Statisches, nicht sicher [ist] der Raum gewesen. Ja ich denke wirklich, es ist heutzutage öfter so, dass man halt tolle Darstellungen abliefert, tolle Lichteffekte usw. aber wenn man sich wirklich in diesen Räumen, ich sprech jetzt speziell von Innenräumen, bewegt, ist es unangenehm.“ Interviewer: „Aber das könnte doch für einen Außenraum genauso gelten, oder?“ Sabine: „Naja sicher.“ Von einem ähnlichen Beispiel, einer dekonstruktivistischen Feuerwache, weiß Kai zu berichten. So wie Sabine, die dreidimensionale Darstellungen selbst regelmäßig verwendet, hält auch er ein Entwerfen mit diesen Mitteln grundsätzlich für nützlich, aber in den genannten Beispielen erkennt er ein „manieriertes 3D-Entwerfen“, das sich von der Realität außerhalb des Kreises der gleichgesinnten Gestalter abgekoppelt und verselbständigt hat. Für ihn ist das eine Arbeitsweise, die im Gegensatz stehe zu klassischen Entwurfsmethoden, die aus dem Körpermaß des Menschen, aus seinen Proportionen und Orientie-

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rungsbedürfnissen entwickelt worden seien, und die er für weiterhin wertvoll und der Bauaufgabe angemessen hält. Dennoch ist er davon überzeugt, dass die manierierten Formen des Entwerfens und Darstellens von den Bauherren erwartet werden – ein Dilemma, aus dem er sich befreit, indem er sich selbst nur noch selten in der Entwurfspraxis betätigt. „Wenn ich als Landschaftsarchitekt irgendwie was zu sagen habe, wenn ich gestalten will, wenn ich irgendwie damit sogar noch Geld verdienen will, dann muss ich etwas machen, was dem Bauherrn gefällt, was der Jury gefällt. Das heißt, ich mache einen Plan, oder ich kann auch einen Film machen, wenn sie einen Film haben wollen, aber meistens eher einen Plan und der muss geil aussehen. Und das heißt, es ist ein statisches Ding, was ich da abgebe, das ist überhaupt nicht dynamisch. Auch wenn ich da 5 Layer oder 10 Layer drauf packe, Szenario XY 2010 bis 2050, à la Koolhaas, Diagramm, keine Ahnung, es ist [egal]. Hauptsache da sind drei gute Perspektiven drauf, die Farben stimmen, die Proportionen stimmen, das Ding sieht echt aus, es hat irgendwas Erhabenes und es ist irgendwie geil. Zeitgemäßer Style oder so. Das entscheidet (…), weil, es ist ein schönes Bild, es ist wie in der Werbung (…) Das ist so die Coolness grad, das braucht man. Und das ist in zwei Jahren vielleicht ganz anders und dann ist dieser Park sowieso noch nicht fertig, weil er ist in 50 Jahren erst fertig mit den Bäumen, so, wie ich sie dargestellt hab. Es ist ein dynamisches Ding, was man da macht. Es ist ja kein schnelles Produkt. Das kann man überhaupt nicht vorweg denken. (…) Und das will auch keiner wissen. (…) Was ich an Jury-Texten gelesen habe, was die Leute da behaupten, da sträuben sich mir die Haare.“

„Freiraum als Ganzes“ – Suggestion von Reichhaltigkeit des Entwurfs Manchen seiner Kollegen wirft er überdies vor, dass sie die Reduzierung der Planung auf einige wenige Freiraumqualitäten in ihren Plan- und Textdarstellungen bewusst verschleierten und dem Publikum eine Reichhaltigkeit des räumlichen Entwurfs suggerierten, die sie mit dem gebauten Freiraum gar nicht einlösen könnten: „[D]as ist sehr komplex, was da im Freiraum abgeht. Und man kann die Welt nicht denken, so als Ganzes. Es ist immer nur eine Annäherung, es ist teilweise ein fauler Kompromiss, manchmal ist es ein halbguter Kompromiss. (…) Aber ich glaube, dass oftmals Landschaftsarchitekten ihren Kram so verkaufen, zumindest kommt es so rüber in den Texten und das ist immer so, totalitär irgendwie.“

Betrachtet man aktuelle Präsentationsformen von Entwürfen, wie sie etwa in Fachzeitschriften und Wettbewerbsausstellungen veröffentlicht werden, so

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kann man tatsächlich feststellen, dass die analytisch reduzierten Erlebnisqualitäten des geplanten Außenraums in den Darstellungen der Landschaftsarchitekten, insbesondere in Perspektiven, Fotomontagen und anderen räumlichen Abbildungen, mit Qualitäten des naiven Erlebens angereichert werden, auf die der Planer keinen tatsächlichen Einfluss hat. Beliebt sind hierfür beispielsweise prägnante Wolkenformationen, Tätigkeiten und Interaktionen von Passanten sowie Andeutungen von Dynamik (Unschärfe, Durchflug, Filmclips). Interessanterweise scheint dem beurteilenden Publikum (das in der Regel nicht mit den Nutzern identisch, sondern der Bauherr oder eine Wettbewerbsjury ist) diese „Anreicherung“ der Darstellungen mit Elementen, über die die Planer nicht wirklich verfügen, nicht unwillkommen zu sein. Ob der Grund hierfür darin zu suchen ist, dass etwa die Jury eines Wettbewerbs den spezialisierten Denk- und Kommunikationsstil des Planers teilt, oder dass der Bauherr aus andersartigen, womöglich ökonomischen Motiven wenig Interesse für gestalterische Fragen hat (wie Michael mutmaßt), kann hier nicht näher untersucht werden.

„Was Geiles“ – Stimmungstotalität des entworfenen Bildes Einige Interviewpassagen lassen den Schluss zu, dass die Verinnerlichung der „Erfahrungswerte“, das Beherrschen des raumgestalterischen Handwerkszeugs und der täglich geübte Umgang mit plangrafischen Bildqualitäten bei den Gestaltern, wenn sie eine Entwurfspräsentation betrachten, zu einem spontanen Gesamteindruck eigener Art führen, der in Hinblick auf seine intuitive Entstehung mit dem naiven Erleben einer Landschaft verglichen werden kann. Das wird dort deutlich, wo die Befragten die eigene oder die Reaktion eines Publikums auf Entwurfspräsentationen wiedergeben. Kai malt sich aus, wie der Bauherr reagieren würde, wenn der Planer ihm eine von den Konventionen abweichende (nach Kais Meinung der Komplexität des Freiraums angemessene) Darstellung präsentieren würde: „Das will ja kein Bauherr: ‚Was ist denn das hier? Tausend Punkte, die sich andauernd alle bewegen irgendwie. Was soll das sein?‘(lachen) ‚Und dann gibst du mir 20 Diagramme? Ich will hier was Geiles haben, ja?‘“ Offenbar erleben die Fachleute für Gestaltung und ihre Auftraggeber eine entsprechende Darstellung zunächst in ihrer Stimmungstotalität, bevor sie Einzelaspekte anderer Art, zum Beispiel Funktionszusammenhänge, bemerken. Wie Kai weiter feststellt, teilt sich der Gesamteindruck auch dem Publikum mit, ohne dass dieses die substanziellen Entwurfsqualitäten erkennen könnte, die von dem „geilen Bild“ übertönt werden. Vielleicht ist dies – neben den entwurfspraktischen Erfordernissen – auch einer der Gründe für die Verselbständigung der Gestaltersprache: sie schafft eine Distanz zu den Laien, die auch einen gewissen Schutz vor Kritik der Nutzer bieten kann.

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„Richtige Antwort“ – Selbstverständnis des Planers Was sind nun die Konsequenzen der eigenständigen Bildhaftigkeit des Entwurfs für den gebauten Freiraum? Angesichts von Sabines Erfahrungen mit dem oben genannten windschiefen Gebäude muss man feststellen, dass die Übertragung des Eindrucks auf den gebauten Raum in diesem Fall wohl gründlich misslungen ist. Was auf den Plänen und im Film noch „cool“ wirkte, erwies sich realisiert als „erdrückend“ und sogar „beängstigend“. Während Sabine hier nicht als Planerin, sondern als Besucherin über die Arbeit eines Kollegen urteilt, berichtet Michael aus Sicht des Landschaftsarchitekten über einen neuen Park in München-Riem mit „3 Kilometer langen Achsen“ , der nach seiner Beobachtung von den Nutzern nicht angemessen geschätzt und aufgesucht wird. Er hat festgestellt, dass Laien naturbezogene bzw. vermeintlich natürliche Freiräume (z.B. den Englischen Garten in München, den Laien womöglich für „Lichtungen an einem Fluss“ hielten und der „heimelig“ wirke) und intakte Kulturlandschaften bevorzugen, Außenräume ohne „Verletzungen“, wo „nichts stört“. Aktuelle, offensichtlich gestaltete Parkanlagen wie den Park in Riem mit seiner „Rasterung der Baumstellung“ und der „klaren Orthogonalisierung der Geometrien“, wo die „Künstlichkeit einfach sehr präsent ist“ dagegen meiden sie, obwohl sie „aus fachlicher Sicht angemessen“ seien und eine „richtige Antwort auf die Fragestellung der Bauaufgabe“ gäben. Hier zeigen sich einerseits die verschiedenen Haltungen der Laien und der Gestalter. So, wie die Nutzer die naturbezogenen Anlagen als stimmig empfinden, so versteht Michael die streng geometrischen neuen Anlagen als passend – nur eben jeder in seiner eigenen Logik, und beide passen in diesem Fall offenbar nicht recht zusammen. Andererseits drängt sich freilich die kritische Frage auf, ob eine planerische Lösung für einen Erholungspark angemessen und richtig sein kann, wenn die Nutzer die Anlage nicht gern nutzen. Besteht das Problem darin, dass die Landschaftsarchitekten eine den Besuchern der Parks wichtige Dimension – die Erlebnisqualität – vernachlässigen? Oder haben die Planer ein anderes räumliches Empfinden als die Nutzer? Wie Michael einräumt, sind den Landschaftsarchitekten die Kriterien der Besucher nicht wirklich bekannt. Er vermutet, dass neben dem Eindruck der Natürlichkeit die „Maßstäblichkeit“ des Raums eine große Rolle spiele. Michael sieht sich in seiner Arbeit mit der Fragestellung konfrontiert, „was für Qualitäten da sein müssen, was die Menschen eigentlich aufnehmen oder annehmen – einerseits. Andererseits ist es natürlich so, (...) es gibt natürlich eine fachliche Ebene und die passt möglicherweise nicht ganz so da rein. (...)[D]as heißt, die Bilder, die jetzt sozusagen das Publikum als positiv erachtet, sind vielleicht andere Bilder als wir fachlich momentan etablieren wollen.“ Dem könnte ein Kritiker entgegenhalten, dass die Nutzer sich vielleicht räumlich wohlfühlen wollen, anstatt Bilder anzuschauen. Einem Bild tritt man schließlich als Betrachter gegenüber, während man sich als Nutzer in einem Raum aufhält. Der Planer steht, wenn

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er ihn entwirft, dem zu planenden Raum auf dem Papier oder dem Bildschirm zunächst tatsächlich wie einem Bild gegenüber. Der Nutzer hingegen befindet sich im Raum, wenn er ihn in Nutzung nimmt und erlebt. Michaels Wortwahl „Bilder“ erweist sich somit als symptomatisch für die Diskrepanzen, die zwischen den Erwartungen der Landschaftsarchitekten und denen der Nutzer an gestaltete Freiräume bestehen. Diese Differenzen zeigen sich für Michael in der unterschiedlichen Präferenz der Besucher für die verschiedenen Freiräume. „ [E]s wird sehr wohl auch vom Publikum, zwar subjektiv aus seiner Sicht jetzt, qualitativ eingeschätzt, (...) wahrscheinlich immer emotional natürlich, weil ihnen die Qualifikation fehlt, um das abstrahiert zu beurteilen. Aber auf der emotionalen Ebene wirkt sich das 100%ig aus. Und ich denke, dass natürlich die Leute auch dort eher hin gehen, wo sie sich besser fühlen.“

Aus diesen Formulierungen wird nicht nur deutlich, dass Michael einen starken Zusammenhang zwischen den Eigenschaften der gebauten Umwelt und dem Erleben des Publikums sieht. Es zeigt sich auch, dass er der Meinung ist, in den Fragen der Gestaltung müssten bei Unstimmigkeiten die Fachplaner gegenüber den Nutzern dominant sein, denn diesen fehle die Qualifikation für ein sachgerechtes Urteil. Den Nutzern wird so die Kompetenz für die Beurteilung des öffentlichen Raums abgesprochen, der sich doch aber gerade in der öffentlichen Nutzung bewähren muss. Dieser Einschätzung Michaels würden die anderen Interviewten, insbesondere Kai, sicherlich widersprechen. Bei ihm wird an Passagen, die weiter unten näher besprochen werden, deutlich, dass er – zumindest was Erholungslandschaften angeht – die Nutzer als die eigentlichen Experten der Erholungsnutzung versteht und in die Gestaltung mit einbeziehen möchte.

„Räumliche Ruhe“ – Entwurfliche Reduzierung Die Interviews enthalten aber auch Beispiele einer gelingenden Übertragung abstrakter Kompositionen in den gebauten Raum. Olaf wendet das Reduktionsund Abstraktionsprinzip der Analyse konsequent auch in der Gestaltung an, wo er es zu einer Entwurfshaltung entwickelt und als eine Art minimalistischen Stil einsetzt. Er reduziert den Entwurf auf wenige Grundelemente, einfache und kraftvolle Gesten, mit denen die vorhandenen Qualitäten des Ortes bzw. wichtige Zutaten umso wirksamer zur Geltung kommen sollen. Die Reduktion führt zu Großzügigkeit und erhält die Möglichkeit der Eigenentwicklung des Ortes: „Also gerade im Stadtraum bin ich immer bemüht möglichst großzügige Areale zu schaffen, die nicht überlagert sind in irgend einer Form, die dann auch noch eine

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H EIKO L IESKE Entwicklung bringen könnten oder können. Und ich versuche dann halt dort über wenige Gestaltungselemente so eine gute Ruhe hineinzubringen, die auch dann eine räumliche Ruhe ausstrahlt, die Einblicke und Ausblicke in eine Richtung und Verbindungen herstellen. Das können Blickverbindungen sein, das können Wegeverbindungen sein oder irgendwelche Linien einfach. Aber das sollte möglichst immer großzügig bespielbar sein. Wenn ich irgendwo reduzieren kann, dann reduzier ich erst mal, weil, voll wird es von alleine, ja?“

Olaf bemüht sich, seine Entwürfe möglichst stimmig in die bestehenden Situationen einzufügen, so „dass es sich nicht von alleine zu stark fühlt. Es sind immer noch ein paar Grundmodule, die sind auch immer gleich, die sind sehr reduziert bespielt, so dass alle Funktionen, die dort möglich sind, (...) da geht eigentlich alles, aber nur wenn [der Platz] frei bleibt. In dem Moment, wo ich da feste Einbauten dann vorsehe, dann geht das nicht mehr. Auch Fluchtwege, Brandschutz, diese ganzen funktionalen Dinge für den Notfall, das muss ja auch alles möglich sein, in allen Situationen. Und trotzdem glaube ich, dass es ein sehr schöner Platz werden wird, der auch in der Wahrnehmung dann auch angenehm ist für die Menschen. Also es ist jetzt nicht mehr eine große Wüste oder sowas. Erstens hat er Dimension durch die Gebäudefassaden, durch die Begrenzung und auch durch diese paar Schwerpunkte hat er, glaub ich, doch noch was auch sehr Menschliches. Das ist eben die Gefahr dann. Wenn ich nichts machen darf, weil da zu viel drauf gepackt werden soll, dann könnte es auch gähnende Leere sein oder Ödnis oder sowas. Ja und das ist halt die Kunst, das dann so zu justieren, dass es beides ist: Erlebnisraum und auch Funktionsraum, Nutzungsraum für alle Eventualitäten, so als städtischer Platz jetzt. Und das ist sehr spannend.“ „Das schönste Kompliment ist eigentlich, wenn man dann irgendwo hin kommt und einer sagt: ‚Was habt ihr hier eigentlich gemacht? Sieht sehr schön aus! Ist doch nur ein bisschen Pflaster und ein paar Treppenanlagen da drin.‘ (lacht) Ja, genau, mehr ist es nicht. Es gab aber auch mal Ansätze, mehr draus zu machen. Da haben wir dagegen gekämpft. ‚Wisst ihr noch, wie ihr hier alles grün machen wolltet, wie in diesen kleinen Platz Bäume sollten? Und noch zwanzig Parkplätze und noch das und noch das.‘ Das kann so ein kleiner Stadtplatz nicht leisten. Und jetzt sitzen da im Sommer auf Terrassen alle Leute und können dort essen, trinken, rumhüpfen, spielen, ja, den Anblick genießen.“

Neben der Sparsamkeit beim Hinzufügen gilt es auch, Störendes zu entfernen: „Wir haben da so zwei Blickachsen freigestellt: ‚Naja, da kann man ja bis da und dahin gucken!‘ Ja ja, konnte man früher nicht, nur einmal an einer Stelle was weggenommen, wo es dann in Leserbriefen immer heißt: ‚Die reißen alles ab!‘ (beide lachen)“

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Auch für die anderen Befragten scheint es ein Qualitätskriterium einer guten gestalterischen Intervention in „gewachsenen Räumen“ zu sein, dass man sie kaum bemerke. Gute Landschaftsarchitektur sei dort kontextuell und bescheiden, weil das Erlebbar-Machen, ggf. auch Wiederherstellen latenter Qualitäten eines Ortes dem „gewachsenen Raum gut tut“ (Olaf). Kai meint ganz ähnlich, zumindest im Bezug auf Spielplätze, der beste Freiraum sei der nicht gestaltete (bzw. nicht sichtbar gestaltete) Freiraum. Auch Michael führt ein Beispiel dafür an, dass die wichtigsten Maßnahmen oftmals in behutsamen Reparaturen bzw. im Freilegen der dem Ort bereits innewohnenden Qualitäten bestehen. So schlug er für einen großen Freiraum am Geschosswohnungsbau, der ihm zu offen und unstrukturiert erschien, lediglich eine hohe Hecke vor, die den Freiraum gliedern und seinen „Rücken“ bilden sollte.

„Miscanthus“ – Minimalismus für das Erleben Dass das Prinzip der „räumlichen Ruhe“ (Olaf) auch auf neu herzustellende Anlagen anwendbar ist, erläutert Sabine anhand eines kleinen Freiraums, den sie für eine Bundesgartenschau entworfen hat. Die Aufgabenstellung sah einen Spielplatz unter dem Motto „Luft“ vor. Sabine bepflanzte den gesamten Raum mit Miscanthus, einem übermannshohen Schilf. Die Idee dabei war, dass der Besucher sich durch das raschelnde Schilf hindurchbewegt wie durch eine dichte Pflanzenmasse, die ihn durch Größe, Kompaktheit und Geräusch sensorisch vom Außen abtrennt: „Man ist sozusagen kleiner als Gras, man wird richtig hinein in so einen Körper geschoben und hat die Möglichkeit, über Hochstände rauszuschauen, hochzuklettern, runterzurutschen auch usw. (...) In Anlehnung an ein Stück Natur, raus gestochen und dorthin gesetzt. Ja, man hat letztendlich auch das Gefühl, man steckt da jetzt in etwas drin, aber man ist da nicht gefangen, sondern man kann eben auch raus. Und das ist eine Erfahrung, das ist ein Erlebnis für Kinder wie auch Erwachsene natürlich.“

Mit der Reduzierung der akustischen und visuellen Eindrücke beabsichtigte Sabine, eine verstärkte Körperwahrnehmung zu stimulieren. Zunächst sollte es deshalb auch keine Wege geben, was aus Gründen der Pflege jedoch nicht möglich war: „ [D]ass man sich die Wege bahnen muss. Aber das ist ein bisschen utopisch. Deswegen sind kleine Pfade rein gelegt worden. Also dieses Selbsterfahren, sich die Pfade suchen, das war nicht ganz möglich.“ Wenngleich sie die Reduzierung also nicht bis zu dem erhofften Punkt treiben konnte, so ist doch bemerkenswert, wie Sabine es sich selbst zur Aufgabe gemacht hat und es ihr auch gelang, gezielt Freiraumqualitäten zu schaffen, die hauptsächlich auf naive Weise erlebt

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werden können: Enge und Weite (Drinstecken und Rauskönnen), Naturbezug, Selbsterfahrung, Aktivwerden (Wege bahnen).

„Hier-ist-was-los-Landschaft“ – Erlebnislandschaften Insbesondere die letztgenannte Qualität, das Aktivwerden der Besucher, ist ein Aspekt, den Kai an herkömmlichen, von Landschaftsarchitekten entworfenen Außenräumen vermisst. In Erlebnislandschaften empfindet er diesen Mangel besonders stark. Er zweifelt an, dass diese Einrichtungen überhaupt dem Erleben dienen, denn erleben könne man ja eigentlich überall, in Erlebnisparks allerdings würde den Besuchern das eigene, vielfältige Erleben abgenommen, indem ihnen klischeehafte Erlebnisse „vorgesetzt“ würden. „Erlebnislandschaft bedeutet eigentlich als Synonym Spaßlandschaft oder so, ja? Oder Hier-ist-was-losLandschaft oder so, ja? (...)[D]as hat ja von vornherein gleich so einen billigen Touch. Da geht es ja ganz stark um Effekte, ganz viele bunte Blumen auf einem großen Berg oder so, und in der Mitte steht ein Schlumpf.“ Er besucht keine solchen Anlagen, denn dort sieht er seine Freiheit sowohl im Erleben als auch in der Nutzung beschnitten. So erlaube die Erlebnislandschaft nur eine Lesart: „Okay, ich soll jetzt hier irgendwie den Wilden Westen spüren. Oder: Ich soll jetzt (...) hier irgendwie meditativ drauf kommen (...). Also in beiden Fällen, das eine ist laut und kitschig und das andere ist leise, aber auch kitschig. Und es verlangt von mir diese Pro-Einstellung dem gegenüber. Ich bin nicht mehr frei, sozusagen. Da verschließ ich mich selbst. Ich kann nicht irgendwie was damit machen, was ich will. Das find ich total nervig.“

Die Angebote erlaubten auch nur die eine Nutzungsform, für die sie geplant worden sind. Wenn Kai den Auftrag bekäme, eine solche Einrichtung zu planen, dann wäre das für ihn nur von Interesse, wenn er die Möglichkeit hätte, die Erlebnislandschaft gemeinsam mit den Nutzern zu entwerfen und zu bauen – das Machen wäre das Erlebnis, und das Produkt würde den Prozess und die Beteiligung der Nutzer widerspiegeln. In diesem Falle dürfte sogar ein Schlumpf entstehen, denn „die würden ihn ja machen, weil sie ihn toll finden. Den setze ich ihnen ja nicht vor und sage: ‚Hier Schlumpf, hier! Toll! Erlebnis!‘ (...) Der Gestaltungsprozess würde sich abzeichnen an dem Schlumpf, logisch. Da sind ganz andere Leute beteiligt, viel mehr Leute beteiligt usw. Das hat verschiedene Einflüsse. Deshalb wäre das, was sich im Raum dann abzeichnet und fertig dann irgendwann ist, ein ganz anderes Erlebnis. Und ich glaube, dass das ein originäres Erlebnis wäre.“

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Sabine könnte es sich durchaus vorstellen, eine Erlebnislandschaft zu schaffen. Allerdings würde sie die Angebote auf ein Drittel kürzen, denn sie meint, dass bereits die alltäglichen Sinneseindrücke eine Überfrachtung bewirken: „ [I]ch würde versuchen, das Ganze so zu gestalten, dass man sich mehr bewegt, dass man mehr tatsächlich oben – unten – alles drum herum erlebt, weniger mit Licht, mit Lärm usw. arbeiten, vielleicht eher Räume schaffen, wo man sich selbst mal hört. Also ich würde, glaub ich, mehr auf Körper und Wahrnehmung gehen, weniger auf die äußeren Einflüsse setzen, denke ich.“

Die starken körperbezogenen Reize, die von den Fahrgeschäften ausgehen, würde sie auf eine Attraktion beschränken: „Vielleicht eine solche Attraktion, eine kleine Achterbahn. Das ist schon was Tolles, diese Geschwindigkeit, was man sonst nicht erleben kann. Ich glaub, ich würde auch versuchen, die äußeren Einflüsse zu reduzieren.“ Olaf fände es „ungeheuer reizvoll“, eine Erlebnislandschaft „unter anderen Gesichtspunkten“ zu entwerfen, etwa unter denen der jahreszeitlichen Rhythmen. Eine herkömmliche Anlage zu planen, würde er jedoch – wie übrigens auch Michael – ablehnen. Er findet den Ansatz „einfach grotesk“, wenn z.B. an der Nordseeküste eine künstliche Wasserwelt geschaffen wird. Er meint jedoch, für jedes Thema könne prinzipiell eine gelungene Erlebnislandschaft geschaffen werden. Grundsatz sei, dass sich die Unterthemen einem Schwerpunkt, einer großen Idee unterordnen (so wie sich z.B. die VW-Landschaft in Wolfsburg der Idee „Auto“ unterordnet) sowie, dass sich die Einzelelemente in eine große Raumstruktur einfügen. Damit ist wohl gemeint, dass sie nicht zu groß, zu zahlreich, zu aufdringlich im Verhältnis zu den zur Verfügung stehenden Räumen und Flächen werden dürften. Wenn diese Regeln angewendet würden, dann könne das Thema gut inszeniert werden, die Landschaft bekäme „Stil“, und das Erleben gelänge. Auf diese Weise könnten sich Erlebnislandschaften in bestehende größere Zusammenhänge integrieren. Erlebnisparks und andere gestaltete Freiräume sind für Olaf „Sonderformen der Kulturlandschaft“. Sie gelingen, wenn sie sich „mit der Landschaft verzahnen“. Die Äußerungen der Landschaftsarchitekten zu herkömmlichen Erlebnislandschaften lassen sich wohl so zusammenfassen, dass sie sie grundsätzlich ablehnen, weil sie dort die Erlebnisqualitäten zwar als quantitativ maximiert, aber als qualitativ (intellektuell, sensorisch, schöpferisch, handwerklich, körperlich-betätigend) als unangemessen eingeschränkt empfinden. Mit der Kritik daran werden gleichwohl bestimmte Ansprüche der Gestalter an Freiräume deutlich, die – obwohl die Befragten gerade keine Erlebnislandschaften entwerfen – auf ihre eigene Arbeit gespiegelt die Reflexion ihrer fachlichen Ansätze und Methoden ermöglicht.

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4.F A ZIT Für die anfangs gestellte Frage nach dem räumlichen Erleben des Landschaftsarchitekten und danach, welche Rolle dieses Erleben in der täglichen Praxis des Gestalters spielt, war es der qualitativ angelegten Kleinstudie möglich, etwas Klärung schaffen. Zunächst konnte nachvollzogen werden, wie das intensive räumliche Erleben von Freiräumen für die Befragten in ihrer Kindheit und Jugend eine sehr große Rolle spielte, wie es bei jedem der vier Gesprächspartner zur Wahl des jetzigen Berufes führte und die Arbeit noch immer prägt. Gleichwohl reflektieren die Interviewten, dass im Laufe der Ausbildung und Berufstätigkeit ihr Erleben bedeutende Veränderungen erfuhr. Danach befragt, stimmen sie insoweit überein, dass die Beschäftigung mit der Landschaftsarchitektur dazu führte, dass andere, nämlich fachlich-analytische Kriterien der Beschreibung, Bewertung und Konzeption von Landschaften zunehmend dominant wurden und heute die tägliche Arbeit mit den Freiräumen wesentlich stärker bestimmen als das ursprüngliche Erleben, das sie im Rückblick eigentlich für sehr wichtig halten. So lassen sich unterschiedliche Weisen des Erlebens identifizieren – auf der einen Seite das vorbegriffliche Erleben der Planer in ihrer Kindheit (und der Laien), das hier naiv genannt wird, auf der anderen das reflektierte, zweckgerichtete und selektive Erleben der Planer in ihrem Beruf, das hier professionell heißen soll. Mit der Ausbildung und der Berufspraxis üben sich die Gestalter in fachlich spezialisierte Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen ein, die auf der Reduktion, Abstraktion und Benennung der „wahnsinnig vielen Einzelheiten“ (Olaf) beruhen, die den zu untersuchenden oder zu planenden Freiraum ausmachen. Von dem naiven Erleben unterscheidet sich das professionelle Erfassen grundsätzlich dadurch, dass dieses auf konkrete Zwecke – auf das Herstellen von Freiräumen – gerichtet ist und, wenigstens prinzipiell, reflektiert geschieht. Das naive Erleben begegnet dem Erlebenden in der Regel unbewusst, wie Olaf es formuliert: die Außenräume „waren einfach da“. Im Lauf der beruflichen Entwicklung der Gestalter geschieht es offenbar, dass die unreflektierte Erlebensweise von der analytischen in den Hintergrund gedrängt wird. Aus den Gesprächen mit den Interviewten lässt sich erkennen, dass sie mit dieser Verschiebung des Fokus unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und auch verschieden damit umgehen, wenngleich alle die Dominanz des zweiten über den ersten Erlebens-Modus bestätigen. Diese Dominanz wird von einigen der Befragten bedauert, weil sie eine Verkürzung ihrer eigenen Sensibilität und, daraus folgend, der potentiellen Reichhaltigkeit der Erlebnisqualitäten in den von ihnen entworfenen Freiräumen befürchten. Olaf geht mit diesem Problem offensiv um, indem er sich bemüht, neben dem professionellen Blick auf die Landschaft gezielt auch sein naives Erleben wachzuhalten („zurück zu zoomen“ ) und in seinen Entwürfen zur Geltung kom-

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men zu lassen. Michael scheint das Verblassen seines laienhaften Empfindens weniger zu bedauern als die anderen Befragten. Das Durchsetzen der fachlichen Perspektive auch gegen etwaige andere Präferenzen oder Widersprüche der Nutzer hält er im öffentlichen Raum für durchaus gerechtfertigt. Schließlich bringe ja der Fachmann eine durch Erfahrung erworbene spezielle Kompetenz für das Räumliche in die Entscheidung ein, die im Zweifelsfall mehr Gewicht haben solle als die „subjektiven“ Vorlieben der Laien. Sabine und Kai sehen in der Ausbildung der fachlichen Kompetenz der Planer allerdings nicht nur Gewinne. Gerade die Professionalisierung und Spezialisierung des Umgangs mit der Landschaft berge die Gefahr, dass die Freiräume weniger an den Anforderungen der Nutzer und tendenziell hauptsächlich an fachinternen Kriterien orientiert entworfen würden. Das zeige sich im gebauten Raum besonders augenfällig an bestimmten häufigen Formalismen (z.B. dem „fließenden Raum“ ), wenn der Entwurf – auf dem Papier oder am Bildschirm entwickelt und stimmig wirkend – sich realisiert als unangenehm erweist. Hiermit sprechen Kai und Sabine ein weiteres Problem an. Die Entwürfe der Planer müssen zunächst in grafischer Form vor einer Prüfinstanz – dem Bauherren oder einer Jury – bestehen. Für diese grafischen Präsentationsformen haben sich eigene Anforderungen und Standards herausgebildet, so dass die Darstellungen für gewöhnlich Bildqualitäten eigener Art aufweisen, die jedoch mit dem gebauten Raum und seinen Erlebnisqualitäten nur selten in Deckung zu bringen sind. Die grafischen (und sprachlichen) Ausdrucksformen des Planers können von dem naiven Erleben des Nutzers schließlich so weit entfernt sein, dass sie als verselbständigt zu gelten haben. Problematisch wird dies, wenn die Präsentationsformen kaum noch einen verlässlichen Rückschluss darauf gestatten, welche Qualitäten der zu bauende Freiraum besitzen wird. In der täglichen Planungspraxis der Landschaftsarchitekten wird das Vorliegen der zwei verschiedenen Erlebensmodi – des naiven und des analytischprofessionellen – offenbar selten reflektiert oder gar als möglicherweise problematisch thematisiert. Sabine meint: „Man kann das nicht wirklich trennen, als Planer vielleicht nicht. Ich denke, als Laie, klar, da ist es dann wirklich in dem Moment das jetzige Wohlfühlen oder eben nicht Wohlfühlen.“ Kai stimmt zu: „Also, (...) das ist in Teilen unbewusst, ganz klar, teils, wie sagt man a priori, ja, das ist schon immer da gewesen. Die Frage ist, inwieweit man sich das bewusst macht, bewusst machen kann. Das sollte man im Studium eigentlich lernen (...), sich diese Dinge bewusst zu machen.“ Kai hält es demnach für wichtig, dass sich Landschaftsarchitekten mit der Frage, wie Wohlfühlen im Freiraum zustande kommt, beschäftigen, auch wenn er mit Sabine darin übereinstimmt, dass die Thematik komplex und schwierig zu fassen ist, „dass es eine recht große, mysteriöse Kiste ist, die da abläuft, mit dem Entwerfen und so weiter und sofort, dass es Möglichkeiten gibt das zu kommunizieren, dafür Wörter und Vokabular zu entwickeln. (...)Es gibt da Ansätze, ästhetische Qualitä-

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H EIKO L IESKE ten zu kommunizieren und sie irgendwie operabel zu machen, aber das ist dann auch schon klar eine Fachdiskussion.“ Die Gespräche ließen noch einen anderen Aspekt der Ausbildung eines professionellen Erlebens erkennen. Die Landschaftsarchitekten entwickeln für ihre fachlichen Analysen und Entwurfsschritte ein spezielles Repertoire an Methoden und Instrumenten, das sie wie ein selbstverständliches Handwerkszeug zu beherrschen lernen. Im Laufe seiner Aneignung, Einübung und täglichen Anwendung gewinnen sie eine zunehmende Sicherheit und Spontaneität, so dass die Reflexivität des raumanalytischen Erfassens mit der Berufserfahrung einem eher intuitiven Umgang mit dem Räumlichen Platz macht. Dieses reflexiv begründete, durch Einübung verinnerlichte Verhältnis zum Raum soll hier spontanes Erleben heißen. Die Eigengesetzlichkeit und Spontaneität des spezialisierten Erfassens, die den Entwurfsdarstellungen zugrunde liegen, können die Gestalter so zu einem räumlichen Empfinden eigener Art führen, das sich in der gebauten Landschaft beispielsweise als „räumliche Ruhe“ (Olaf) manifestiert, die ebenfalls dem Prinzip der Reduktion und Abstraktion verpflichtet ist. Daraus folgt nicht zwangsläufig, dass der entstehende Freiraum „ärmer“ an Qualitäten sei, die auf naive Weise erlebt werden können. Beispiele wie Sabines Schilf-Spielplatz zeigen, dass das Gegenteil der Fall sein kann, wenn ausgewählte Einzeleindrücke durch Tilgung vieler anderer verstärkt wirksam werden. Bestimmte äußere Restriktionen, wie Sicherheitsanforderungen, Engstirnigkeit der Bauherren, Zeitdruck und so weiter, aber auch die Komplexität des Gegenstands und der Aufgabe sehen die Landschaftsarchitekten als regelmäßige Schwierigkeiten bei der Schaffung reichhaltiger Erlebensmöglichkeiten im Freiraum. Dies führe dazu, dass oftmals für das Erleben relevante Eigenschaften des Außenraums, die für sie selbst in Kindheit und Jugend prägend waren, nicht hergestellt werden könnten. Zu den wichtigsten dieser Qualitäten zählen Selbsterfahrung, Freiheit, intensives Empfinden, Naturbezug, Aufgehobensein in einer Gemeinschaft, eigenes Gestalten und Hand-Anlegen sowie Verantwortung. Zum Teil ist den Befragten, besonders Olaf, bewusst, dass die Schwierigkeiten, die Bedingungen für solche Qualitäten zu schaffen, auch mit der beruflichen Spezialisierung und der Technisierung ihrer Tätigkeit zu tun haben. Sie trennen den Gestalter vom Nutzer und vom konkreten Ort, die Gestaltung von der Umsetzung sowie die Hand vom Werk (handwerkliche Aspekte spielen kaum eine Rolle). So kann wohl Kais Idee einer alternativen Erlebnislandschaft, an der die Besucher mitentwerfen und mitbauen, als ein Reformvorschlag für die Methoden der eigenen Profession interpretiert werden. Schließlich ist er ein Gestalter, der sich aus der herkömmlichen entwerferischen Tätigkeit der Landschaftsarchitekten zurückgezogen hat, weil ihn deren verselbständigte Sprache und „manierierte“ Arbeit nicht mehr reizte. Stattdessen hat er einen Verein ins Leben

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gerufen, dessen Mitglieder, die verschiedenste kulturelle Hintergründe haben, in gemeinsamen Projekten im Außenraum kreativ tätig sind. Einen anderen Ansatz wählt Olaf, der durch sein bewusstes „Zurückzoomen“ auf den naiven Erlebensmodus versucht, die Einschränkungen, die mit dem Blick durch die „Landschaftsarchitektenbrille“ verbunden sind, zu vermeiden. Auf diese Weise das fachliche Erfassen für einen Moment auszublenden, erscheint Michael hingegen sehr schwierig. Jedenfalls hält er es wohl nicht für ausgeschlossen, dass man es „trainieren“ könne. Dass damit aus Landschaftsarchitekten Experten für naives Erleben werden könnten, darf man zwar bezweifeln. Vielleicht ließen sich aber durch eine solcherart gepflegte Sensibilität für naive Erlebnisse einige der Kommunikationsprobleme zwischen Gestaltern und Nutzern von Freiräumen relativieren.

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L ITER ATUR Lieske, Heiko (2009): Eigenheimgärten. Zur Gartenkultur in Neubaugebieten. Dresden. Loidl, Hans u. Bernard, Stefan (2003): Freiräumen. Entwerfen als Landschaftsarchitektur. Basel. Tessin, Wulf (2008): Ästhetik des Angenehmen. Städtische Freiräume zwischen professioneller Ästhetik und Laiengeschmack. Wiesbaden.

Auf der Suche nach einer anderen Weise, da zu sein Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften Sigrid Anna Friedreich

1. E INLEITUNG : E RLEBNISL ANDSCHAF TEN ALS F ORSCHUNGSGEGENSTAND Seit Gerhard Schulze 1992 die Ergebnisse seiner empirischen Studie zur Alltagsästhetik unter dem Titel „Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart“1 veröffentlichte, ist die wissenschaftliche Diskussion über seine Thesen und die Rolle des Erlebens und des Erlebnisses in der Gesellschaft nicht verstummt.2 Aber auch jenseits von wissenschaftlichen Diskursen lässt sich beobachten, wie das Thema Erlebnis in der Alltagswelt an Boden gewonnen hat. Erlebnisse werden allerorten gesucht und überall feil geboten. Zu den nachgefragten Angeboten gehören zunehmend auch räumliche Umwelten, die mit Versprechungen besonderer Erlebnisse locken. Wellnessoasen, Erlebnisbäder, Vergnügungsparks, Einkaufs- und Urlaubsparadiese bieten unvergessliche Tage, Abenteuer, Nervenkitzel, Spaß und Abstand vom Alltag für die ganze Familie. Diese „Erlebnislandschaften“3 wurden bereits in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untersucht. Die vorliegenden Veröffentlichungen las1 | Schulze, Erlebnisgesellschaft, 1993. 2 | Z.B. Volkmann, Projekt, 2000; Rössel, Erlebnisgesellschaft, 2003; Günther, 20 Jahre, 2006. 3 | Unter „Erlebnislandschaften“ sollen im folgenden all jene Räume verstanden werden, die mit dem Ziel entworfen, geplant und gebaut werden, ihren Nutzern Erlebnisse zu vermitteln. Dazu zählen insbesondere Themenparks, Spaßbäder, Brandlands, Zoos und Sportanlagen der besonderen Art. In der Literatur wird hierfür nur selten der Begriff

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sen sich grob in vier Forschungsschwerpunkte untergliedern. Sie beschäftigen sich mit Erlebnislandschaften als kulturgeschichtlichem Phänomen4 , als Orte des Tourismus5 , als Systeme von Zeichen6 und als Orte kultureller Praxis.7 Als Gegenstand des Erlebens von Besuchern jedoch wurden Erlebnislandschaften nicht untersucht. So blieben zwei miteinander verbundene Fragen offen. Trotz vielfältiger Besucherbefragungen gibt es zum einen kaum Kenntnisse darüber, was mit den Besuchern in den Erlebnislandschaften geschieht, was sie erwarten und erhoffen, was sie erleben und was dies für ihr Leben bedeutet.8 Zum anderen finden sich in der Literatur kaum Untersuchungen darüber, welche Rolle die gestaltete Umwelt für dieses Erleben spielt.9 Die folgende Arbeit, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“10 entstand, möchte am Beispiel zweier Freizeitparks einen ersten Versuch zur Beder Erlebnislandschaften gebraucht. Statt dessen werden die Anlagen als Erlebniswelten, Freizeit- oder Erlebnisparks bezeichnet. Eine Einführung in den Begriff und eine detaillierte Darstellung des Spektrums der Erlebniswelten findet sich bei Kagelmann, Erlebniswelten, 1998, S. 61-77. 4 | Z.B. Szabo, Rausch, 2006; Dering, Volksbelustigungen, 1986; Scherreiks, Hölle, 2005. 5 | Z.B. Steinecke, Erlebnis- und Konsumwelten, 2000; Kagelmann, Erlebniswelten, 1998; Frank, Kathedralen, 1995; Goronzy, Spiel, 2006; Opaschowsky, Kathedralen, 2000. 6 | Z.B. Baudrillard, Agonie, 1978, (insbes. S. 24-26); Großklaus, Räume, 1995; Legarno, Subjektivität, 2000; Schirrmeister, Scheinwelten, 2002; zusammenfassend dazu: Bormann, Spaß, 1998 sowie Korff, Euro Disney, 1994. 7 | Z.B. Klugmann, Project, 1995; Real, Culture, 1977. 8 | Zu diesem Ergebnis kam bereits 1993 Stacy Warren: „The element that is most often overlooked in analysis of the popular landscape is, surprisingly, the people.“ (Warren, Heaven, 1993, S. 183.) Und noch 2006 notierte Armin Günther in einer Übersicht über die Arbeiten zu künstlichen Erlebniswelten: „Aber was wissen wir von dem Leben und vor allem auch dem Erleben der Parkbesucher? Was wissen wir von ihren Motiven und Erwartungen, von den Erfahrungen, die sie in diesen 6-8 Stunden zuzüglich der Stunden davor und danach machen? Erschreckend wenig!“ (Günther, 20 Jahre, 2006, S. 52.) 9 | Im Bereich der Tourismus- und Freizeitforschung entstanden einige Arbeiten, die sich mit der räumlichen Gestaltung der Erlebnislandschaften, der “Erlebnisarchitektur”, befassen. Jedoch wird auch in ihnen die Architektur analysiert, nicht aber, wie die Besucher sie erleben. z.B. Romeiss-Stracke, TourismusArchitektur, 2008; Hennings, Kunstwelten, 1998; Rieder, Erlebniswelten, 1998. 10 | Es handelt sich um ein zweijähriges Forschungsprojekt, das unter der Leitung von Prof. Dr. Achim Hahn an der Fakultät Architektur, Lehrstuhl für Architekturtheorie und Architekturkritik der TU Dresden durchgeführt wurde, finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Über Inhalt und Ausrichtung des Projektes s. den Aufsatz von

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antwortung der beiden Fragen unternehmen. Nach der Darlegung des methodischen Zugangs soll zunächst mit der Beschreibung von vier Modi räumlichen Erlebens ein Ausschnitt aus dem Spektrum möglicher Erlebnisweisen vor dem Hintergrund individueller Lebenssituationen gezeigt werden. In einem zweiten Schritt werden diese vier Modi mit Hilfe phänomenologischer Theorien zum ge- bzw. erlebten Raum analysiert. Dadurch wird deutlich, in welcher Weise die gesuchten Erlebensweisen für die Interviewten einen Weg bahnen, ihren Alltag hinter sich zu lassen. Der dritte Abschnitt widmet sich dann an Hand von einzelnen Beispielen der Rolle der gestalteten Umwelt (Architektur und Landschaft) für das Erleben. Auch hier wird durch die Hinzuziehung einer Theorie über die Weisen des Sprechens versucht, die Interpretationen zu stärken und die Ergebnisse zu schärfen. Ein Fazit fasst das Wesentliche mit Bezug auf die zwei eingangs gestellten Fragen zusammen.

2. M E THODE : G ESCHICHTEN ALS Z UGANG ZUM E RLEBEN UND ZUM E RLEBTEN Ein Problem für die Untersuchung des Erlebens liegt darin, dass sich das Erleben jenseits von Mimik und Gestik nicht ausdrückt. Es muss erst nachträglich in Worte gefasst werden, um anders als zwischenleiblich mitteilbar11 zu sein. Für unser Forschungsanliegen war es deshalb nötig, mit Besuchern der Freizeitparks über ihren Besuch und das dortige Erleben ins Gespräch zu kommen.12 Achim Hahn „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Einführung in ein Forschungsprojekt“ in diesem Band. 11 | Im Folgenden wird aufgrund der Lesbarkeit auf die Nennung der weiblichen Form verzichtet. Sie ist selbstverständlich stets mitgemeint. 12 | Wir suchten unsere Gesprächspartner vor Ort im Freizeitpark „Kulturinsel Einsiedel“ und im Vergnügungspark BELANTIS (s. hierzu die Parkbeschreibungen von Ute Keßler und Heiko Lieske in diesem Band), interviewten sie aber auf Grund der zu erwartenden Länge des Gespräches zu einem anderen Zeitpunkt zumeist in ihrer häuslichen Umgebung. Insgesamt erhielten wir 35 Zusagen für Gespräche, von denen dann 20 tatsächlich geführt werden konnten, jeweils 10 für BELANTIS und die „Kulturinsel Einsiedel“. Auf Grund der Absagen entstand ein Ungleichgewicht in der Geschlechtszugehörigkeit. Es wurden 12 Frauen und 8 Männer interviewt. Um eine große Bandbreite an möglichen Erlebnissen zu finden, versuchten wir, Gespräche mit Menschen aus verschiedenen Lebensphasen und mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen zu führen. So konnten für beide Erlebnislandschaften sowohl Menschen ohne Kinder als auch Eltern sowie ältere Besucher in der Rolle der Großeltern gefunden werden. Die soziale Differenzierung reicht vom zwänzig jährigen Auszubildenden bis zum siebzig jährigen Oberarzt, von der kinderlosen Studentin bis zur arbeitslosen Mutter ohne Ausbildung,

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Für die Wahl einer Gesprächs- bzw. Interviewmethode war für uns ausschlaggebend, dass das, was für einen Besucher zum Erlebnis wird, nur vor dem Hintergrund seines bisherigen Lebens, seiner Erfahrungen und Wertungen, seiner Gewohnheiten und Vorlieben, seiner Erwartungen und Sehnsüchte zum Erlebnis werden kann.13 Was ihm bei seinem Besuch geschieht, erhält seine Bedeutung erst in seiner Lebenswelt, der Welt, so wie er sie im Laufe seines Lebens gelernt hat zu empfinden, zu sehen und zu deuten. Seine Erlebnisse sind Teil seiner Geschichte, die er mit ihr hat. Will man also verstehen, wie ein Erlebnis zu Stande kommt, so bedarf es der lebensweltlichen und biographischen Einbettung des Erlebnisses. Es bedurfte also einer Interviewform, die den Befragten Raum gab, uns ihre Erlebnisse so erzählen zu können, dass ihr lebensweltlicher Hintergrund und ihre Einbettung in die Lebensgeschichte der Befragten für uns erschließbar wurde. Dafür bot sich die Methode des problemzentrierten Interviews14 an. Das problemzentrierte Interview gehört zu den unstandardisierten Interviewformen. Es beginnt mit einer Erzählaufforderung an den Interviewten, auf die dieser völlig frei und ohne Eingreifen des Interviewers sich äußert. In einem zweiten Schritt fragt der Interviewer all jene Dinge nach, die er in den Aussagen seines Gegenübers nicht verstanden hat. In der dritten Phase schließlich stellt der Interviewer seinem Gesprächspartner Fragen zu Themen, die dieser bisher nicht berührt hat, die aber für das Forschungsinteresse des Interviewers von Relevanz sind. Damit verbindet das problemzentrierte Interview die Vorteile eines offenen mit denen eines Leitfaden gestützten Interviews. Es ermöglicht eine Datenerhebung, in der die Annahmen der Interviewer die Inhalte in einem ersten Schritt nur gering vorformen, um dann aber im zweiten Schritt Antworten auf Fragen zu erhalten, die aus den (nicht zu annullierenden) Vorannahmen der Interviewer, ihrem professionellen Wissen und fachlichen Einstellungen erwachsen. Damit ergibt sich die Möglichkeit, den Erkenntnisgewinn als Wechselspiel zwischen empirischem Material und theoretischem Wissen zu organisieren.15

vom dreißig jährigen Architekten, der als Bogenbauer arbeitet, bis zur promovierten Erziehungswissenschaftlerin gleichen Alters. 13 | Vgl. Hahn, Pragmatik, 1998, S. 265 ff. Zu den Hintergründen dieser Annahme siehe außerdem den Aufsatz „Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären“ von Achim Hahn in diesem Band. 14 | Witzel, Verfahren, 1985 sowie Witzel, Interview, 2000. 15 | Witzel, Interview, 2000; zu den Vorteilen des problemzentrierten Interviews im Vergleich zum narrativen Interview s. Mey, Erzählungen, 2000.

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In Vorbereitung auf die Durchführung der Interviews wurde sowohl eine erzählstimulierende Frage16 als auch ein Leitfaden erarbeitet. Der Leitfaden umfasste Fragen nach Erwartungen, ersten Eindrücken, Orientierung im Raum, Orten und Situationen, Gebäuden und Landschaft, Wissen und Sinnzusammenhängen, Freizeit- bzw. Raumbiographie, sowie der Rolle, die Erleben und Erlebnisse für die Lebensführung des Interviewten haben. Die Interviews dauerten ein bis zwei Stunden und wurden im Anschluss wortwörtlich transkribiert. Für die Auswertung der Interviews wurden die Transkripte zum einen systematisch auf alle Aussagen hin durchsucht, die im weitesten Sinne mit Erleben und Erlebnissen in Verbindung standen. Das Gefundene wurde unter analytischen Begriffen gesammelt, wie z.B. Zeit, Raum, Situation, Gefühl, Stimmung, Landschaft, Architektur, Lebensform. Wir erhielten so Einblick in die Dimensionen des Erlebens (räumlich, zeitlich, situativ), fanden verschiedene Formen bzw. Zustände, in die die Interviewten beim Erleben kamen (Gefühl, Stimmung, Befindlichkeit), erfuhren etwas über die Rolle von Landschaft und Architektur beim Erleben und konnten Erwartungen und Vorlieben, Enttäuschungen und Hindernisse beim Erleben im Kontext der Lebensform verankern. In den Aussagen zum Erleben fanden sich auch Wörter oder Begriffe der Interviewten, die im Kontext ihrer Erzählungen einen besonderen Stellenwert erhielten (z.B. „Abtauchen“17 oder „Sich-Treiben-Lassen“ ) oder aber im Vergleich 16 | Die erzählstimmulierende Frage soll den Interviewten anregen, das Thema frei aus seiner Sicht zu entwickeln. Unsere Frage war wie folgt formuliert: „Wir haben uns ja heute getroffen, um über Ihren Besuch in BELANTIS/ der „Kulturinsel Einsiedel“ zu sprechen. Ich würde gern zu Anfang einmal Ihre Geschichte von diesem Besuch hören. Erzählen Sie mir doch mal, wie das mit Ihrem Besuch in BELANTIS war, so richtig von Anfang bis Ende: beginnend damit, wie es dazu kam, dass Sie hinfahren wollten, über Ihre ersten Eindrücke, als Sie BELANTIS/ die „Kulturinsel Einsiedel“ sahen, Ihre verschiedenen Erlebnisse im Park bis hin zur Abreise. Erzählen Sie ruhig alles, was Ihnen in Erinnerung geblieben ist. Uns interessiert alles, was Ihnen beim Erzählen dazu einfällt.“ In den ersten Interviews wurde noch eine zweite Erzählung angeregt, die auf die biografischen Erfahrungen mit Landschaft abzielte. Diese Frage wurde aber auf Grund des Umfanges der generierten Erzählungen in den späteren Interviews nicht mehr gestellt. Stattdessen versuchten wir, die biographischen Bezüge und Kontexte des Erlebens in BELANTIS und der „Kulturinsel Einsiedel“ über einzelne Nachfragen zur Raum- und Freizeitbiographie im dritten Interviewteil in Erfahrung zu bringen. 17 | Im Folgenden werden alle wörtlichen Zitate aus den Interviewtranskriptionen in Anführungszeichen gesetzt und durch eine besondere Schriftart kenntlich gemacht. Auslassungen werden durch eckige Klammern mit drei Punkten gekennzeichnet […]. Durch die Autorin vorgenommenen Einfügungen stehen in eckigen Klammern, z.B. [werden]. “(P)” steht für eine Pause von ca. drei Sekunden, “(PP)” für sechs Sekunden etc. In

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der Interviews unterschiedliches Erleben der gleichen Örtlichkeiten spiegelten (z.B. „Röhren“, „Tunnel“, „Keller“, „Höhle“ sowie „Tunnelsystem“ und „Labyrinth“ für die unterirdischen Gänge in der „Kulturinsel Einsiedel“). Diese individuellen Begrifflichkeiten nutzten wir als besonderen Zugang zum Erleben als auch zum Erlebten (Architektur und Landschaft, so wie sie erfahren wurden) des einzelnen Besuchers. Ihre Bedeutung wurde in Verbindung mit parallelen Stellen und Detaillierungen innerhalb des Interviews aber auch (wo es möglich und sinnvoll schien) vor dem Hintergrund der im Interview deutlich werdenden Lebensführung herausgearbeitet. Wir erhielten so zum einen Einzelfallstudien zu möglichen Weisen des Erlebens in einer Erlebnislandschaft. Im Vergleich der einzelnen Fälle konnten wir feststellen, dass die meisten dieser Weisen des Erlebens nicht nur bei einem Besucher zu finden waren, sondern auch in den Erzählungen anderer Besucher in abgewandelten Varianten vorkamen. Zum anderen traten für einzelne konkrete Räumlichkeiten in den Parks eine Vielzahl von unterschiedlichen Eindrücken zu Tage, an Hand derer die Rolle der Gestaltungen für das Erleben verdeutlicht werden kann. Im Folgenden werden zunächst an je einem Interview vier Modi des Erlebens vorgestellt, die mit einem besonderen Bezug zum räumlichen Erleben einhergehen: „schauen“, „sich treiben lassen“, „abtauchen“ und „wieder Kind sein“.18

3. I NTERPRE TATIONEN I: M ODI DES R ÄUMLICHEN E RLEBENS Frau Arnheim 19: „schauen“ Frau Arnheim ist eine junge Frau Anfang 20. Sie wuchs in einem kleinen Dorf auf und zog zum Studium in eine große Stadt, wo sie alleine lebt. Sie hat einen Freund, der gerne in Vergnügungsparks fährt. In seiner Begleitung besuchte sie im letzten Jahr vor der Befragung 4-5 verschiedene Freizeitparks. Bevor sie ihren Freund kennenlernte unternahm sie nicht mehr als einmal pro Jahr einen solchen Ausflug. Nun ist sie zusammen mit ihrem Freund sogar im Besitz einer Jahreskarte für den Vergnügungspark BELANTIS, dem die beiden am Wochenende öfter einen Besuch abstatten. Obwohl die viele Zeit, die Frau Arnheim seitdem in Vergnügungsparks verbringt, vor allem ihrem Freund geschuldet ist, so findet sie doch auch selbst Freude daran. Zum einen möchte sie gerne den wiedergegebenen Passagen wurden der Verständlichkeit halber grobe sprachliche Unregelmäßigkeiten geglättet. 18 | Die hier vorgestellten Erlebnisse umfassen nicht das Ganze Spektrum des Erlebens der Befragten. Es handelt sich vielmehr um eine Auswahl, die sich durch die bevorzugten Themen der Interviewten ergab. 19 | Sämtliche Namen der Interviewten wurden anonymisiert.

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solange es geht, den „Nervenkitzel“ auf den Fahrgeschäften auskosten, wobei sie jedoch die extremen Fahrgeschäfte meidet. Zum anderen nutzt sie die Parks als Gelände zum „Durchlaufen“, „Schauen“ und „Fotografieren“. Auch die Motivation zu dem im Interview besprochenen Besuch in BELANTIS gründete in dieser Vorliebe: „Wir waren schon öfters in BELANTIS und wollten uns dann halt mal anschauen, was die so für ein Programm sich ausgedacht haben zu Halloween.“ So besieht sich das Paar insbesondere all jene Gestaltungen, die für das Fest zusätzlich vorgenommen wurden und wertet ständig deren Qualität. Vieles fanden sie „nett gemacht“. Man hatte sich in ihren Augen „Mühe gegeben“. Sie fanden es „in Ordnung, hätten [...] [sich] aber auch noch mehr vorstellen können.“20 Dabei verglichen sie BELANTIS mit anderen Parks, die deutlich größer und vielfältiger sind und „viel mehr Möglichkeiten [bieten], sich was anzuschauen“. Generell unterscheiden sie die Angebote der Parks in aktive und passive, in solche, die „man sich anschauen, oder [solche] wo man mitfahren kann.“ Es sind für sie zwei unterschiedliche „Möglichkeiten, Spaß zu haben“. Um beide Möglichkeiten genießen zu können, ist Frau Arnheim eine Balance von Angebot und zur Verfügung stehender Zeit wichtig. Ist die Zeit zu kurz, so kommt sie ins Hetzen, ist das Angebot zu gering, so kommt Langeweile auf. Stimmt das Verhältnis, so können sie sich „in Ruhe alles einzeln vornehmen“, wozu auch gehört, Zeit zu haben „einfach nur mal so zum Durchlaufen.“ Die Art, wie Frau Arnheim dabei auf die Dinge im Park schaut, lässt sich beschreiben als „einen Blick haben auf“. Zum einen gefallen ihr erhöhte Stellen im Gelände, von denen sie „so n bisschen auf den Park schauen kann“ und „nen schönen Blick“ hat. Zum anderen erfreut es sie, Gebautes aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen: „wir […] ham auch mal diese Bootsfahrt gemacht, ähm, uns das alles so angeschaut, so von dieser Perspektive fand ich’s auch mal nett”. Dabei „ist [es] dann für mich immer so der Fokus, wo find ich jetzt ein schönes Motiv, um noch mal ein Bild zu machen, um das irgendwie fest zu halten.” Damit schafft sie sich während ihres Aufenthaltes eine eigene Beschäftigung, während ihr Freund die etwas rasanteren Fahrgeschäfte nutzt: „Dann such ich mir halt schöne Motive, die ich fotografieren kann oder genieße da auch ein bisschen mal, mal durchzulaufen, mir das alles anzuschauen.“ Was Frau Arnheim hier als „Durchlaufen“ und „Schauen“, „Ausblicke haben“ und „Fotografieren“ beschreibt, lässt sich fassen als eine bestimmte Weise, in der Zeit, im Raum, bei den Dingen und bei sich selbst zu sein. So benötigt Frau Arnheim das Gefühl, genügend Zeit für alles zu haben, um ins „Durchlaufen“ und „Schauen“ zu kommen. Nur so kann sie sich den Dingen in der Weise des „Schauens“ widmen. Was sie dann „schaut“, befindet sich in einem Abstand zu ihr. Es sind die Dinge, die weiter entfernt sind, auf die sie einen „Ausblick“ hat oder die in einen Abstand gerückt werden, indem sie sie als Motive für Fotos nimmt. In beiden Fällen wird das Verhältnis zur Umgebung durch die visuelle 20 | Transkriptionsregeln s. Fußnote 16.

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Wahrnehmung dominiert, die Frau Arnheim in ein Gegenüber zum Ding bzw. zur Landschaft bringt. Im Falle des Fotografierens wird gar aus der erlebten Landschaft21 mit Blick durch das Objektiv ein Bild, von dem die Fotografierende selbst kein Teil mehr ist. Damit wird das Verhältnis zu den Dingen dadurch bestimmt, dass Frau Arnheim mit ihnen nichts anfangen will, als sie anzusehen, sie wahrzunehmen. Sie ist damit befreit davon, mit den Dingen etwas anfangen zu müssen, sie als etwas Bestimmtes zu nehmen und zu benutzen. Sie sind für sie im Schauen zunächst nur ein Gegenstand der Wahrnehmung, der aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich erscheint. In der Rede vom „Fokussieren“ wird außerdem deutlich, wie Frau Arnheim ihre Wahrnehmung selber bewusst lenkt, Ausschnitte aus der Umgebung bildet und Perspektiven wechselt, um so zu bestimmten Ansichten zu gelangen. Dabei ist sie ganz auf ihre Wahrnehmung konzentriert. Man könnte auch sagen, sie ist „ganz Auge“. Für diese Weise, in der Zeit, im Raum, bei den Dingen und sich selbst zu sein, hat Frau Arnheim eine biographisch verwurzelte Vorliebe. Sie wuchs in einem Dorf auf, das zwischen Hügeln eingebettet liegt. Mit ihren Eltern machte sie dort oft Wanderungen, die sie auf die Kämme der Hügel führten und „höhere Ausblicke“ boten. Im Dorf spielte sie mit anderen Kindern unbeaufsichtigt im Freien. Sie resümiert: „also das war für mich als Kind, muss ich sagen, hab ich das sehr genossen diese Ruhe und Landschaft und Freiheit, die man dort hat, die ich hier in ner Großstadt nich sehe.“ Ruhe, Landschaft als Raum, der eine Weite hat, und die Freiheit, sich darin zu bewegen und unvorherbestimmte Dinge zu tun, sind Frau Arnheim also angenehm und mangeln ihr in der Großstadt. Das „Durchlaufen“ und „Schauen“ in BELANTIS scheint dafür ein kleiner Ersatz zu sein. Allerdings verwundert es, dass Frau Arnheim diesen Ausgleich in Vergnügungsparks sucht und findet. Abgesehen davon, dass auch Frau Arnheim Gefallen am Nervenkitzel auf den Fahrgeschäften findet, ist es vor allem das Angebot an Neuem, die Möglichkeit, etwas entdecken zu können, was Erlebnislandschaften wie BELANTIS für Frau Arnheim so interessant macht. Dieses Potential von Vergnügungsparks musste sie jedoch erst selbst entdecken. Auf einem ihrer Besuche in einem Vergnügungspark wollen die mitreisenden Männer gerne Fahrgeschäfte nutzen, die für Frau Arnheim zu schnell sind. Sie trennt sich deshalb zeitweise von ihren Begleitern. und sagt sich: „Ich lauf jetz selber mal hier lang und schau mir das an. [...] Hab mir Motive zum Fotografieren gesucht, oder hab mich einfach mal irgendwo hingesetzt und was getrunken, also da hab ich wirklich so die Erfahrung auch machen können, man kann da wirklich öfters hinfahren, man kann, wenn man will, auch immer wieder was Neu21 | Zur Bestimmung dessen, was im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ unter „Landschaft” verstanden wurde s. den Aufsatz von Achim Hahn „Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären” in diesem Band.

A UF DER S UCHE NACH EINER ANDEREN W EISE , DA ZU SEIN es für sich entdecken, oder sich neue Fokusse suchen, auf die man sich konzentriert und dann macht es auch Spaß, wenn man mehrmals im Jahr unterschiedliche Parks dann besucht.“

Das gesuchte Neue findet Frau Arnheim dann in den wechselnden Dekorationen oder neuen Gebäuden und Fahrgeschäften. Sie findet es aber auch dadurch, dass sie im Gehen und Schauen, insbesondere auf der Suche nach Motiven für Fotografien neue Perspektiven auf bereits Bekanntes gewinnt. Besonders reizvoll findet sie dabei die Verbindung von Natur und Technik, ein Arrangement, dass in Vergnügungsparks oft zu finden und ohne Hindernisse zu fotografieren ist.

Herr Thiel: „sich treiben lassen“ Herr Thiel ist ca. 35 Jahre alt und lebt mit seiner Freundin und seinem sechsjährigen Sohn in einem selbst gebauten Haus am Rand einer mittelgroßen Stadt. Der Anlass für ihren Besuch der „Kulturinsel Einsiedel“22 war, dass sich Herr Thiel (und seine Freunde) für den Bau eines Holzhauses in seinem Garten inspirieren lassen wollten. Beruflich ist Herr Thiel als Berater einer großen Firma im Außendienst tätigt. Auch seine Frau ist beruflich viel unterwegs, so dass sie wenig gemeinsame Zeit haben. Die unruhige Lebensweise führte bei Herrn Thiel bereits zu körperlichen Symptomen, für die er in seiner Freizeit einen Ausgleich zu schaffen versucht. Es geht ihm darum, den „Stresspegel zu reduzieren“ und „runter zu kommen“. Die Art und Weise, wie er es tut, beschreibt er als „Sich-Treiben-Lassen“. Es zieht sich als Thema durch das gesamte Interview, von seinen Erzählungen vom Besuch der „Kulturinsel Einsiedel“ über die Aussagen zu sonstigen Freizeitbeschäftigungen bis hin zu den generellen Lebensorientierungen. Herr Thiel spricht vom „Sich-Treiben-Lassen“ immer dann, wenn er oder seine Familie etwas tun, was keinem Plan folgt. Dies beginnt für den Besuch der „Kulturinsel Einsiedel“ bei der Vorbereitung der Fahrt zum Freizeitpark, setzt sich bei der Orientierung im Park fort und bestimmt bis auf kleinere Unterbrechungen die Art, wie sie sich im Park bewegen. „Also wir warn da jetzt nicht super drauf vorbereitet, dass wir genau wussten, die und die Sachen sind da und die wolln wer jetzt machen, sondern primär wars halt so, dass wir uns gedacht ham, das ist interessant und da lassen wir uns auch ein Stück weit treiben.“ In ihrer Vorbereitung haben die Thiels sich also nur grob orientiert. Sie wissen nicht „genau“, sondern, so ließe sich ergänzen, nur ungefähr, welche „Sachen“ in der „Kulturinsel Einsiedel“ da sind. Sie wissen außerdem auch nicht, welche dieser „Sachen“ sie 22 | Eine Beschreibung der „Kulturinsel Einsiedel“ findet sich im Aufsatz „Landschaftsanalyse des Erlebnisparks ‚Kulturinsel Einsiedel‘“ von Heiko Lieske in diesem Band.

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wie nutzen wollen. Sicher sind sie sich nur darüber, dass sie die „Kulturinsel Einsiedel“ „interessant“ finden. Das Verhältnis zu den Sachen bleibt also sowohl in Bezug auf das Wissen als auch das Wollen relativ unbestimmt. Vorhanden ist lediglich ein Interesse, eine offene, zugewandte Einstellung, die mit besonderer Aufmerksamkeit und Anteilnahme an einem Sachverhalt verbunden ist. Im Park angekommen, besorgt sich dann die Gruppe einen Übersichtsplan. “[...] da gings letztendlich äh für uns darum, nur zu sehn, wie erstreckt sich der Park und wie sind die Stationen. Aber wir sind jetzt nicht äh so an die Sache rangegangen, dass wir gesagt ham, da müssen wir noch hin und da und da und da, sondern wir ham uns letztendlich […] treiben lassen.“ Auch in der Orientierung behalten die Thiels also eine gewisse Ungenauigkeit bei. Sie verschaffen sich nur einen groben Überblick und entwickeln für die Bewegung im Park keinen festen Plan und visieren keine bestimmten Orte an. Einzelne Stellen im Park werden als „Stationen“ wahrgenommen, sind also Gegebenheiten, die dadurch gekennzeichnet sind, dass man sie passiert, nicht dass man dort bleibt. Dafür spricht auch die folgende Interviewstelle „Und dann ham wir uns treiben lassen über die Bauten, über das Tunnelsystem, über letztendlich auch die Sachen, die da grad neu am Entstehen sind.“ Selbst die „Sachen“, die sie dann genauer in Augenschein nehmen, sind während des Unterwegs-Seins im Park also keine Ziele. Es sind keine „Bauten“, zu denen man treibt, man treibt „über“ sie hinweg. Dieser Zustand des „SichTreiben-Lassens“ endet, als mit dem konkreten Wunsch, eine bestimmte Stelle des Parks zu sehen, ein Ziel auftaucht und zeitliche Planung notwendig macht. „Also, wir ham uns da ein Stück weit treiben lassen, wobei wir letztendlich schon festgestellt ham, als wir aus dem Park raus sind, zur Neiße runter, dass wir halt überlegt ham, okay wie machen wir n das jetzt, weil uns war n Stück weit klar, dass wir äh beides in Kombination nicht schaffen. Also wir könn nicht zur Neiße runtergehen und äh zurück in den Park, um das alles noch mal zu erleben, weil wir einfach schon äh n Stück weit zu spät angekommen sind”. „Sich-Treiben-Lassen“ lässt sich damit charakterisieren als ein Zustand ungerichteter Offenheit, der das Verhältnis des Menschen zur Zeit, zum Raum, zu den Dingen und zu sich selbst bestimmt. „Sich-Treiben-Lassen“ bedeutet vor allem nichts vorzuhaben, d.h. die Zeit wird nicht durch Pläne strukturiert und vorgreifend mit auszuführenden Handlungen oder zu erwarteten Ereignissen gefüllt. Sie ist tatsächlich freie Zeit. Diese Ziellosigkeit in der inneren Gerichtetheit setzt sich in der Bewegung im Raum fort. Sie folgt momentanen Gegebenheiten und spontanen Wünschen. Es ist unklar, wo man am Ende ankommt. Da man mit den Dingen nicht von vornherein etwas vor hat, steht auch nicht fest, ob etwas hinderlich oder entgegenkommend ist. Was die Dinge sind und ob sie mich etwas angehen, entscheidet sich im Vorübergehen, (das dann auch zu einem Stehenbleiben und Beginnen werden kann). Damit sich dieser Zustand

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einstellt, muss der Mensch ihn zulassen. Er muss sich treiben lassen. Er muss sich dieser ziellosen Bewegung anheim geben. „Sich-Treiben-Lassen“ impliziert damit auch ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst, ein Verhältnis, in dem die Kontrolle über die eigene (innere oder äußere) Bewegung abgegeben wird, in dem man sich einem Geschehen anvertraut, dessen Richtung nicht vorher zu bestimmen ist. Eben diese Abgabe der Kontrolle braucht für Herrn Thiel besondere Bedingungen, damit sie ihm gelingt. Die Wesentlichste ist, dafür zu sorgen, dass er und seine Familie Zeit haben, die nicht verplant ist, in der nicht bestimmte Vorhaben abgearbeitet werden müssen und die Familie ins Hetzen kommt. Dies gilt für ihren Besuch der „Kulturinsel Einsiedel“ ebenso wie für andere Unternehmungen in der Freizeit. Paradoxerweise planen eben dafür Herr und Frau Thiel ihre Freizeit. Denn nicht nur die Arbeitszeit sorgt für zeitlichen Druck, auch die Suche nach „Highlights“ kann für die Thiels dazu führen, dass sie sich in ihrer eigenen Freizeit gehetzt fühlen. So suchen sie im Vorfeld aus, was sie machen möchten, und teilen ihre Zeit so ein, dass sie das Ausgesuchte in den jeweiligen Einheiten in Ruhe genießen zu können. Neben dem Vorhaben, nichts vorzuhaben, scheint auch die Art der Bewegung einen Einfluss auf die Möglichkeit zu haben, sich treiben zu lassen. Sowohl beim Besuch der „Kulturinsel Einsiedel“ als auch im Urlaub ist es das Gehen und Schauen, bei dem sich Herr Thiel treiben lassen kann. Ersteres beruht auf einer ruhigen Bewegung der Gliedmaßen, bei der jeder Zeit die Richtung geändert werden kann, letzteres geschieht beim ruhigen, aber ziellosen Schweifen der Augen, die nichts suchen, sondern vom Vorbeiziehendem angesprochen und gefangen genommen werden können. Damit ist dem Gehen und Schauen eine bestimmte Weise eigen, sich zur Umgebung zu verhalten. Diese scheint jedoch nicht ganz unabhängig davon zu sein, welche Qualitäten die jeweilige Umgebung hat. So sucht Herr Thiel im Urlaub entweder die Ränder von Gewässern auf oder besichtigt Sehenswürdigkeiten, um „sich treiben lassen“ zu können. Umwelten, die anstrengendere Aktivitäten nahe legen, wie z.B. Berge, die bestiegen werden können, werden für jene Zeiten ausgesucht, in denen man sich gerade nicht treiben lassen will. In der „Kulturinsel Einsiedel“ wiederum sucht Herr Thiel nach Anregungen für den Bau eines Blockhauses in seinem Garten. Er fährt also hin, um herum zu gehen und die Sachen in Augenschein zu nehmen. Und er will sich gerade diese Sachen anschauen, weil ihn ihre Machart fasziniert. In gewisser Weise ist er also auch beim Besuch der „Kulturinsel Einsiedel“ auf einer Besichtigungstour. Dass er zwischendurch auch mit seinem Kind klettert oder durch Tunnel kriecht, scheint den Grundmodus des „Sich-Treiben-Lassens“ nicht zu stören. Das mag u.a. daran liegen, dass Herr Thiel auch bei diesen Beschäftigungen weiterhin die Machart der Gebäude beschaut und analysiert.

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Neben dem „Sich-Treiben-Lassen“ spricht Herr Thiel auch mehrmals vom „Getrieben-Werden“23 . Im Unterschied zum Treiben-Lassen, das ziellos in die Weite führt, gerät der Getriebene auf dem Weg zu einem Ziel unter Druck und so in die Enge. Dieser Druck, unter dem der Getriebene steht, ist ein Zeitdruck. Wer getrieben ist, hat keine Zeit zu verweilen. Er ist überall eigentlich schon zu spät. Er rennt der Zeit hinterher. Der Grund dafür ist, dass sich der Getriebene nicht am rechten Platz befindet. Er sollte schon woanders sein, hat stets zu wenig Strecke zurückgelegt. Er ist immer unterwegs zu einem Ziel, das schon belanglos und vom nächsten abgelöst wird, noch bevor er es erreicht. Herr Thiel bringt dafür das Beispiel des Besuchers, der von einem Wegesystem an Angeboten zum Aktiv-Werden vorüber geleitet, durch einen Freizeitpark getrieben wird. Verwunderlich ist aber, dass er sich auch von seiner eigenen Kreativität getrieben fühlt. Die Kreativität, auch als „schöpferische Kraft“24 beschreibbar, bedrängt ihn also. Sie lässt ihn nicht in Ruhe. Offensichtlich ist diese Kraft zu stark, aber vielleicht auch zu sehr auf ein Ziel, das Gestalten, gerichtet, als dass sich Herr Thiel von ihr treiben lassen könnte. So entsteht der Eindruck, Herr Thiel ist nicht nur in seinem Arbeits- und Familienleben ein getriebener Mensch. Auch für sich selbst noch wird er bedrängt von seinen eigenen Kräften. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das „Sich-Treiben-Lassen“ für ihn ein so wichtiges Thema ist. Es verspricht eine Befreiung aus der Enge des Getrieben-Seins in die Weite einer unbestimmten Gegenwart. Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass das „Sich-Treiben-Lassen“ (für Herrn Thiel) nicht nur die Weise bestimmt, in der eine Umgebung erlebt wird, sondern umgekehrt auch von dieser Umgebung beeinflusst wird. So scheint es für ihn Umgebungen zu geben, in denen es leichter fällt, sich treiben zu lassen. Ihre Qualitäten haben eine Nähe zu denen von Gehen und Schauen. Sie legen langsame bzw. ruhige Bewegungen nahe und werfen keine Probleme auf, die sich in den Vordergrund der Aufmerksamkeit drängen.25 Umgedreht gibt es Räume, die so gestaltet sind, dass er sich von ihnen getrieben fühlt. Dazu gehört eine Überzahl an Angeboten und Bewegungseinengung, z.B. durch festgelegte Wege, die freies Abschweifen im Gehen verhindern.26 Das „Sich-Treiben-Lassen“ in Erlebnislandschaften scheint damit auch deren Machart geschuldet. Ob und wann sich jedoch ein Besucher getrieben fühlt, hängt nicht zuletzt von seinen 23 | Z.B. getrieben von Kreativität; Kinder durch einen Erlebnispark treiben; auf Wegen getrieben werden. 24 | Duden, 2000, S. 575. 25 | Aber auch in Räumen, die hektisch sind, wie z.B. in einem Bahnhof, könnte man „sich treiben lassen“, solange keine Notwendigkeit zum zweckgerichteten Handeln aufkommt. 26 | Im Fall von Frau Arnheim ist es die Menschenmenge, welche das Vorwärtskommen behindert und so das Gehetztsein steigert.

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Vorlieben und Erwartungen ab. Herr Thiel hat hier sicher eine größere Sensibilität als andere interviewte Besucher.

Frau Eigner: „Abtauchen-Können in eine Scheinwelt“ Frau Eigner ist ca. 35 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Kindergartenalter in einer großen Stadt in einer Altbauwohnung in einem dicht bebauten Viertel. Sie arbeitet als Wissenschaftlerin und ist zeitweise viel beschäftigt. So fiel auch der Ausflug ihrer Familie nach BELANTIS in eine Zeit mit hoher Arbeitsbeanspruchung. Frau Eigner hatte deshalb ihren eigentlich geplanten Urlaub deutlich kürzen müssen. Der Besuch in BELANTIS war einer der wenigen Urlaubstage, den die Familie gemeinsam verbrachte. Ihr Ziel und ihre Erwartung an diesen Tag waren: „Wir machen jetzt einen schönen Familienausflug.“ Für Frau Eigner haben derartige Familienausflüge auf Jahrmärkte und in Freizeitparks eine lange Tradition, die bis in ihre eigene Kindheit reicht. Es waren damals für sie „Highlightmomente, vor allen Dingen waren es die ja relativ wenigen Momente, wo die ganze Familie was zusammen gemacht hat.“ Dieses „Familienevent“ möchte Frau Eigner nun auch mit ihren eigenen Kindern erleben. In der Rolle der Erwachsenen haben sich aber ihre Vorlieben geändert. Früher ging es ihr darum, die Fahrgeschäfte zu nutzen bis ihr übel wurde. Heute sucht sie etwas anderes: „Es ist dieses Abtauchen-Können in eine Scheinwelt, die dann halt auch möglichst echt wirkt. Das genieße ich sehr.“ Eine Scheinwelt, die möglichst echt wirkt, ist ein Widerspruch in sich. Eine Scheinwelt ist eine Welt, von der man weiß, dass sie etwas vortäuscht. Man hat ihren Täuschungscharakter also bereits entlarvt. Eine Welt dagegen, die echt wirkt, ist keine Scheinwelt, sondern man nimmt sie als das, was sie zu sein vorgibt. Damit hat die Welt im Vergnügungspark für Frau Eigner zwei Realitäten: eine, in welcher der Eindruck echt, und eine, in welcher der Eindruck der einer Täuschung ist. In der Formulierung von Frau Eigner sind diese beiden Realitäten ineinander gewoben. Nimmt man dies ernst, so ist ihr „Abtauchen in eine Scheinwelt“ begleitet bzw. immer wieder durchbrochen von Momenten, in denen der Charakter der Täuschung bewusst wird. Wie aber ist es überhaupt möglich, der Täuschung bzw. in den Worten von Frau Eigner der „Illusion“ zu verfallen, wenn man zugleich um sie als Illusion weiß? Frau Eigner gibt in ihren Beschreibungen und Erklärungen zwei Dinge an, die für sie nötig sind, um „abtauchen“ zu können: sie muss einen harmonischen Eindruck von ihrer Umwelt haben und selbst gerade nichts wollen. Ein harmonischer Eindruck entsteht für sie, wenn die wahrnehmbaren Dinge zusammen passen. Tun sie das nicht, so versucht Frau Eigner durch Auswahl der Perspektive sich Landschaftsausschnitte zu schaffen, die ihr stimmig erscheinen. Auf dem Parkplatz vor BELANTIS angekommen stört sie z.B. die Gleichzeitigkeit von Schloss und Pyramide.

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S IGRID A NNA F RIEDREICH “Also, das Schloss hat mich an Disney Land Paris erinnert. Und das war so ‚Hach ja, schöön!‘ Und so Märchen. Und die Pyramide würde ich mit Ägypten verbinden, auch tolle Erinnerungen. Aber das passte gefühlsmäßig und vom Ort her nicht zusammen. Ich hab mich so gestellt, dass ich immer nur eins sah. Und das fand ich besser. Also es ging auch. Man konnte immer Positionen wählen, wo man eins ausblenden konnte. Das hat mich sonst gestört.”

Angenehm ist es ihr, dass BELANTIS im Inneren so angelegt ist, dass sie „immer nur einzelne Attraktionen“ sieht. In diesen Beschreibungen steht Frau Eigner zunächst den Gebäuden noch gegenüber und genießt es, ein jedes für sich einzeln, d.h. in seiner Ganzheit bzw. Gestalt wahrzunehmen. Mit dieser Wahrnehmung sind zugleich auch Gefühle verbunden, die an den Bedeutungen hängen, die die Gebäude für Frau Eigner haben. Aus diesem Gegenüber kommt Frau Eigner aber beim Durchwandern des Parks in ein „Mitten-Drin-Sein“. Das Getrennt-Sein der einzelnen Attraktionen beschreibt sie nun so: „gefühlt hab ich von dem einen Ort den anderen nicht gesehen.“ Die Formulierung weist hier daraufhin, dass der andere Ort vielleicht zu sehen gewesen wäre, wenn man seine Aufmerksamkeit bewusst darauf gelenkt hätte. Der Raum aber wird hier nicht gezielt wahrgenommen, sondern gefühlt. In dieses Gefühl scheint Eingang zu finden, was als zum Raum zugehörig und passend erscheint. Sichtbares von anderen Orten wird nicht wahrgenommen. Zum „Abtauchen“ ist es nun nur noch ein kleiner Schritt. Es bedarf einer „Atmosphäre“, die die gebaute Welt zum Leben erweckt. „Also entscheidend finde ich es, schaffen sie es, so ne Phantasiewelt aufzubauen. […] Es muss nur zueinander passen, so dass man so die Chance hat, abzutauchen.“ Fallen dagegen Elemente auf, die nicht ins Gesamtbild passen, wie z.B. die offenen Rückwände von Häusern eines Dorfes, so findet Frau Eigner das “super hässlich. ... Das zerstört jegliche Illusion.“ „Abtauchen-Können in eine Scheinwelt“ hat also etwas mit dem Eintauchen in „Atmosphären“ zu tun. Atmosphärisch erscheinen die gebauten Welten als echt. Sie entwickeln aber nur dann eine „Atmosphäre“, wenn sie in sich stimmig sind, alle Teile zueinander passen. Um „Abtauchen“ zu können, braucht es aber noch mehr. Es ist die Freiheit vom „Denken“ bzw. in einem umfassenderen Sinne der Verzicht auf das Umsetzen eigener Antriebe, Wünsche oder Vorsätze. So verzichtet Frau Eigner bewusst darauf, Tafeln mit Hinweisen zu Bedeutungen des Gebauten zu lesen. “Ja, so diese Tafeln, ich hatte angefangen, die zu lesen. Dachte: ‚Oh jetzt könnte ich heute mal meinen Geist wieder benutzen.‘ Aber dann doch: ‚Das brauche ich jetzt eigentlich grad nicht.‘ Weil ich mag ja so dieses Gefühl: ‚Jetzt werde ich so ein Stück an die Hand genommen und äh, in eine Phantasiewelt mitgezogen.‘ Und kann mich dann auch einfach reinbegeben.”

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Frau Eigner will ihren „Geist“ nicht benutzen, ein anderer soll sie führen (an die Hand nehmen und mitziehen). Sie gibt diesem anderen nur nach bzw. begibt sich in es hinein. Damit ist das „Abtauchen“ ein Vorgang, bei dem Frau Eigner höchst passiv bleibt und lediglich durch ein inneres Nachgeben beteiligt ist. Eine solche Einstellung zur Welt ist im Alltag kaum möglich. Im Vergnügungspark aber findet Frau Eigner Bedingungen vor, die es ihr ermöglichen, sich selbst so „gehen“ zu lassen. Dazu gehört insbesondere, dass sie sich um ihre Kinder nur wenig sorgen muss. Der Park ist nach ihren Aussagen so gestaltet, dass es den Kindern nicht langweilig wird und den Eltern so das Management der Gefühle leicht fällt. Stets ist wieder eine neue Attraktion für die Kinder in der Nähe. Die Eltern können außerdem ihre Kinder selbst auf den kleinen Fahrgeschäften begleiten und ihnen so die Angst nehmen. Es stehen auch keine Ver- oder Gebotsschilder im Park, die Eltern an ihre Pflicht gemahnen, für die Einhaltung der Regeln durch ihre Kinder zu sorgen. Das entlastet vom leidigen Grenzen setzten und durchsetzen. So kommt Frau Eigner zu dem Resümee: „Das war ein unglaublich entspannter Tag und gefühlt war es durch die Aufmachung des Parks so.“ Nicht ganz ohne Einfluss dürfte jedoch auch gewesen sein, dass Frau Eigner selber keine Vorsätze hatte, bestimmte Dinge sehen oder bestimmte Fahrgeschäfte nutzen zu wollen. Dieses Fehlen eigener Vorhaben mindert nicht nur das Diskussionspotential innerhalb der Familie, was als nächstes zu tun sei. Es versetzt Frau Eigner zugleich auch in jene Ziellosigkeit, die ein „Abtauchen“ bzw. „Reingezogen-Werden“ in eine Scheinwelt begünstigt. So ist es neben dem Erleben des Erlebens ihrer Kinder und dem Schauen im Gegenüber der Landschaft27 vor allem das Abtauchen in die „Atmosphäre“ der gestalteten Umgebung, welches ihr den Tag angenehm macht. Auch sie ist dabei in einer spezifischen Weise in der Zeit, im Raum, bei den Dingen und bei sich selbst. So fällt ihr auf, dass sie anderes als sonst in Freizeitparks nicht nach zwei Stunden genug hat. Erst der heranziehende Abend und der Regen legen die Abfahrt nahe. Das lässt sich so interpretieren, dass ihr in BELANTIS die Zeit nicht lang geworden ist oder umgekehrt, ihr ist die Zeit langsamer verstrichen, als die Uhr sie zählte. Auch der Raum ist ihr anders als sonst gegeben. Je mehr sie sich in den Park hinein bewegt, desto mehr verliert sie die Orientierung. Lediglich die Richtung zum Ausgang ist stets klar, da das Schloss als Eingangsgebäude immer sichtbar bleibt. Die Beziehung zu den Dingen ist in gewisser Weise von einer geringeren Klarheit geprägt. Wie das Zitat von der gefühlten Unsichtbarkeit anderer Orte zeigt, ist es nicht der klare Verstand, der hier die Wahrnehmung bestimmt, sondern das eher diffuse Gefühl. Und schließlich ist mit der Übergabe an die „Hand“ der Atmosphäre auch ein besonderes Selbsterleben verbunden, das darin besteht, mehr Teil eines Ganzen als Bestimmer des Geschehens zu sein. 27 | Hier besteht eine Parallele zum Fotografieren von Frau Arnheim.

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S IGRID A NNA F RIEDREICH „Abtauchen-Können in eine Scheinwelt“ beschreibt also eine Art des Verfallens an eine Atmosphäre. Dieses atmosphärische Eintauchen wird jedoch immer wieder gestört. Zum einen dann, wenn die Dinge nicht passen und so die Atmosphäre zerbricht. Zum anderen wenn, wie oben bereits deutlich wurde, der Charakter der Illusion wieder bewusst wird. Für die letztgenannte Störung scheint Frau Eigner in besonderer Weise empfänglich zu sein, da sie dazu neigt, ihr Erleben zugleich zu reflektieren und so in einen Abstand zu ihm zu kommen. Dies wird schon an der zitierten Äußerung vom Genuss des „Abtauchen-Könnens“. Genuss entsteht, wenn einem positiven Erleben noch zusätzliche Aufmerksamkeit gewidmet wird, das Erleben als etwas Positives also bewusst ist. Dies führt jedoch dazu, dass im Erleben selber eine Reflexivität entsteht. Der Erlebende ist nicht im Erleben aufgegangen, sondern begibt sich in einen Abstand zu sich selbst bzw. seinem Erleben, um es genießen zu können. Diese Neigung zur Reflexion zieht sich durch das Interview mit Frau Eigner. Als Wissenschaftlerin, so lässt sich deuten, ist die Reflexion ihr Handwerk, gehört sie zu ihrer professionellen Haltung und prägt hier über den Bereich ihrer beruflichen Arbeit hinaus ihren Umgang mit der Welt. In ihrer Suche nach „Abtauchen“ möchte sie gerade dieser reflektierten Art des „In-der-Welt-Seins“ entkommen und stolpert dann doch wieder über das, was sie loswerden wollte.

Frau Wallner: „Ich bin sofort Kind.“ Frau Wallner ist ca. 30 Jahre alt und hat einen Sohn im Kindergartenalter, mit dem sie am Rande einer großen Stadt wohnt. Sie hat Forstwirtschaft studiert und arbeitet im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und Umweltbildung. Frau Wallner kennt die „Kulturinsel Einsiedel“ durch den Besuch von Festivals in der Zeit, als sie noch kein Kind hatte. Den im Interview besprochenen Besuch unternahm sie zusammen mit ihrem Sohn und einer befreundeten Familie. Ihnen war im Bekanntenkreis erzählt worden, dass man die „Kulturinsel Einsiedel“ gut für einen Ausflug mit Kindern nutzen kann. Man könne sich „ den ganzen Tag dort vertun“. Es hätte „viel mit Abenteuer zu tun“, könne „aber auch für Erwachsene halt eine Herausforderung mit sein.“ Frau Wallner wird durch diese Möglichkeiten, Abenteuer zu erleben und sich Herausforderungen zu stellen wieder ins „KindSein“ versetzt. Welcher Art sind diese Abenteuer und Herausforderungen? Frau Wallner beschreibt sie ausführlich am Beispiel des „Schlosses“, das sie als „verwunschen“ bezeichnet. Dieses Gebäude folgt sowohl vom äußeren als auch vom inneren Eindruck her nicht den bekannten Ordnungen eines Hauses. Es hat zwar Fenster, gewährt aber „nicht wirklich Einblick. Man weiß nicht wirklich, was einen drinnen erwartet“. Außerdem lässt sich nicht feststellen, wo vorn und hinten und dementsprechend der Eingang des Hauses ist. „Sondern es ist überall ein Zugang möglich, es ist überall, rein theoretisch, n Ausgang möglich“ Sogar einen als „Notaus-

A UF DER S UCHE NACH EINER ANDEREN W EISE , DA ZU SEIN gang“ beschrifteten Zugang findet Frau Wallner. Mit der unbekannten Ordnung verbindet sich also ein Risiko. Es kann darin zu Notfällen kommen. Frau Wallner versucht nun zunächst über eine oberhalb des Kopfes liegende Luke in das Gebäude zu gelangen. Trotz mehrmaliger hartnäckiger Anläufe scheitert sie an ihren Kletterkünsten. So nimmt sie schließlich einen anderen Eingang, wo sie jedoch unter engen räumlichen Bedingungen in ein großes Gedränge gerät und für sich und ihr Kind einen Weg bahnen muss. Im Inneren verliert Frau Wallner dann wieder „sehr schnell die Orientierung“. Sie weiß nicht mehr „wo der Ausgang ist“. Schließlich gelangt sie zu einer „Röhre“, die als Rutsche dient und in der es vollkommen dunkel ist, so dass Frau Wallner nicht weiß, wie und wohin sie in ihr rutschen wird. Eigentlich hat Frau Wallner im Dunkeln „absolute Panik“. Nachdem sie sich aber mit dem Gedanken beruhigt hat, dass ja in Deutschland sicher „alles vom TÜV abgenommen“ ist, kann sie sich „drauf einlassen“ und benutzt die Rutsche. Für diese Überwindung wird sie auch belohnt: „man [ist] dann sehr stolz [...], wenn mans hinter sich gebracht hat […] und sich bestätigt weiß“. Als sie sich dann wieder außerhalb des Schlosses befindet, hat sie „das Gefühl, ich hab jetzt per Zufall den Ausgang wieder gefunden. Es hätt auch anders kommen können.“ Was Frau Wallner hier durchlebt und meistert sind dreierlei Herausforderungen. Zum einen erfährt sie einen Verlust der Orientierung in Bezug auf das Schloss. Diese Gebäude entspricht in seiner äußerlichen und inneren Erscheinung nicht den gewohnten Formen von Gebäuden und setzt so grundlegende Muster der räumlichen Orientierung außer Kraft. Zugleich vermittelt diese Erscheinung Frau Wallner einen Eindruck, dass das Gebäude „verwunschen“ sei. Es fällt damit aus dem Rahmen einer vernünftigen und rational zu bewältigenden Welt.28 Die zweite Herausforderung bestand darin, sich das Gebäude mittels der Fähigkeiten des Körpers zu erschließen. Dabei muss Frau Wallner aber erleben, dieser Herausforderung zunächst nicht gewachsen zu sein. Sie erfährt also eine Grenze ihres Vermögens. Der andere Eingang forderte dann, mit räumlicher Enge und sozialer Dichte zurechtzukommen und dabei zugleich auch die Wege für das eigene Kind zu sichern und zu bahnen. Frau Wallner kommt so in Situationen, in denen sie körperlich und sozial in ungewohnter Weise agieren muss. Die dritte Herausforderung begegnet ihr in ihren eigenen Gefühlen. Es gelingt ihr, ihre Angst zu überwinden und die Kontrolle für die Situation in der Rutsche abzugeben. Sie überschreitet damit eine in ihr selbst liegende Grenze und erhält ein positives Selbstgefühl, nicht nur die Situation 28 | Auch im Alltag können Erfahrungen gemacht werden, die mit den üblichen Interpretationsmustern nicht deutbar sind, z.B. wenn eine eben noch vorhandene Brille spurlos verschwindet. Der Kommentar zu so einem Vorfall lautet dann: „Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.“ Dort, wo die alltagsweltlichen Erklärungen nicht mehr weiterhelfen, werden sie aus „anderen Welten“ hinzugezogen, in diesem Falle die der Magie und Zauberei.

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gemeistert zu haben, in dem sie sich selbst bezwungen hat, sondern auch über sich selbst gewesen zu sein. Wie beim Einstieg in die Rutsche, gibt es im Schloss immer wieder Situationen, „kritische Punkte“, an denen Frau Wallner sich entscheiden muss, eine solche emotionale Herausforderung anzunehmen und die mit ihr verbundenen Gefühle durchleben zu wollen. Frau Wallner erachtet dies als positiv, „weil halt nicht alles so abgesichert und normalisiert ist, sondern man muss sich halt wirklich mit schon Herausforderungen auseinandersetzen, also auch das Kind muss sich da irgendwie durchbeißen. Und das hat natürlich immer irgendwie n Charme von, von, von Wildnis und (P) ja, was (P) nicht so nem gesicherten Alltagsrahmen.“ Die „kritischen Punkte“ scheinen damit Momente zu sein, in denen sie mit sich und der Herausforderung ringt, in denen es die Möglichkeit des Misslingens und Versagens gibt. Die Kontrolle geht verloren, der „Zufall“ bringt die Rettung29, nicht das eigene Vermögen. Dies findet außerhalb des „gesicherten Alltagsrahmens“ statt und hat den „Charme von Wildnis“, also einer unkontrollierten und potentiell gefährlichen Welt. Neben der Welt der Phantasie (verwunschener Eindruck) begegnet Frau Wallner also noch einer Welt, die sich durch eine größere Unsicherheit und ein größeres Risiko des Scheiterns auszeichnet. Oder anders gesprochen, sie geht ein größeres Wagnis ein, etwas Unangenehmes zu erleben und nicht zum Guten wenden zu können, als ihr dies im Alltagsleben möglich scheint – sie erlebt ein Abenteuer. Allerdings ist das Risiko, das sie eingeht, begrenzt. Nicht nur der TÜV, sondern auch die Anwesenheit anderer Menschen geben Sicherheit. „Aber man hatte nie das Gefühl, man ist verloren. Also man muss sich natürlich mit sich und seinem eigenen Gefühlsspektrum auseinander setzen, aber es sind ja immer irgendwelche Leute um einen drumherum. Also man hat schon das Gefühl, das ist jetzt sicher, und man könnte im Notfall jetzt auch mal um Hilfe rufen oder dergleichen.“

Der Antrieb, sich in die Erkundung der „verwunschenen“ Gebilde zu begeben, die Herausforderungen anzunehmen und sich dem Abenteuer zu stellen, wird von Frau Wallner mit Rückgriff auf das Verhältnis des Kindes zur Welt noch einmal genauer beschrieben.

29 | Dies entspricht der Empfindung von Frau Wallner. Würde das Herausfinden aus dem unterirdischen Röhrensystem tatsächlich dem Zufallsprinzip folgen, so müssten 50 Prozent der Besucher im Röhrensystem verloren gehen. Die unterirdischen Gänge sind zum einen so gebaut, dass sie Ausgänge nahe legen und man sich in ihnen nicht ganz verliert, zum anderen bleibt ein Rest an Orientierung bzw. Fähigkeit zur systematischen Suche vorhanden, um schließlich mehr oder weniger gezielt bei einem Ausgang anzukommen.

A UF DER S UCHE NACH EINER ANDEREN W EISE , DA ZU SEIN „Aber diese Sache ist, dass ich mich freiwillig und ohne dass ich irgendwie was ablege, sondern ich bin sofort Kind, ich bin sofort neugierig, ich muss mich ausprobieren, ich muss mir neue Sachen zutrauen (P) die ich natürlich auf nem anderen Spielplatz einfach vormache, aber die keine Herausforderung für mich mehr darstellen, das ist dort [in der „Kulturinsel Einsiedel“] nicht so. Man weiß einfach nicht, wo es hingeht, und wird immer wieder Neues entdecken, finden. Und man, man ist fertig jetzt mit dem einen, und man hat trotzdem immer noch Spannung und Lust, man will noch was nächstes entdecken, und das ist ja (P) das Kind-Sein an sich, und das kann man halt als Erwachsener dort erleben.“

Damit lässt sich auch das „Kind-Sein“ als eine besondere Weise, im Raum, in der Zeit, bei den Dingen und bei sich selbst zu sein, beschreiben. Kennzeichnend für die Art, wie sie dabei den Dingen begegnet, nennt sie als erstes die Neugier. Gierig sein auf Neues bedeutet, offen, empfänglich und in gewisser Weise auch unvoreingenommen ihm gegenüber zu sein. Dies gilt insbesondere für das Kind als einem Menschen, dem die Welt noch nicht vollständig erschlossen ist, sondern in vielem noch unbekannt und unvertraut. Es ist mit ihr noch nicht bzw. nicht so schnell fertig wie ein Erwachsener. Als zweites nennt Frau Wallner das Ausprobieren. Darin steckt, etwas auf Probe zu tun. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten mit einer Sache umzugehen. Diese Möglichkeiten gilt es zu finden, zu entdecken. Welche dann genutzt wird, bleibt dabei noch offen. Das Ausprobieren hat einen Status des Vorläufigen und Unernsten. Ihm ist das Spielerische inhärent. Schließlich gehört für Frau Wallner das Sichetwas-Zuzutrauen zum Kind-Sein, in dem zugleich eine besondere Weise des Verhältnisses zu sich selbst liegt. Sich selbst etwas zutrauen bedeutet, nicht daran zu zweifeln, etwas zu können. Das Kind hegt also kein Misstrauen gegen sich selbst. Es grübelt und überlegt nicht lange, ob es fähig ist, etwas zu tun. Es reflektiert nicht über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Es beginnt im Vertrauen auf sich selbst. Unvoreingenommen, spielerisch und sich selbst vertrauend begegnet also das Kind in der Vorstellung von Frau Wallner der Welt. In diese Einstellung gerät Frau Wallner in der „Kulturinsel Einsiedel“ unvermittelt von einem Moment auf den anderen und ohne eigenes Zutun. Der neue Zustand wirkt in ihr zwingend, sie muss „sich ausprobieren“, muss sich „neue Sachen zutrauen“. In Bezug auf die Zeit scheint damit eine große Gegenwärtigkeit bestimmend zu sein. Es drängt Frau Wallner zum Tun im Jetzt. Als Erklärung für diesen Wechsel ins Kind-Sein führt Frau Wallner den Verlust der Orientierung an: dass man „einfach nicht [weiß] wo es hingeht“. Es entsteht damit die Notwendigkeit, sie wieder herzustellen, also aktiv zu werden, und die Möglichkeit, im unbekannten „Wo“ etwas zu entdecken. Der Anstoß, der ins Kind-Sein führt, ist also die Begegnung mit einer Welt, die nicht mehr vertraut ist, einer räumlichen Umgebung, die

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Rätsel aufgibt. Im „Kind-Sein“ ist Frau Wallner also auch in einer besonderen Weise ins räumliche Umfeld gestellt. Neben dem Verlust der Orientierung ist es aber auch der eingangs genannte Eindruck des „Verwunschenen“, der die Welt verfremdet. Man kann deshalb davon ausgehen, dass auch er den Sprung ins „Wieder-Kind-Sein“ befördert. Diesen Eindruck des „Verwunschenen“ bzw. „Verträumten“ und „Phantasievollen“ führt Frau Wallner auf die Gestaltungen in der „Kulturinsel Einsiedel“ zurück. Sie fallen mit den versteckten Ein- und Ausgängen, den verschlungenen Wegen auf drei verschiedenen Ebenen, der geringen Einsicht in andere Bereiche des Geländes und der Dunkelheit in Röhren und Häusern aus den Ordnungen des Alltags. Aber nicht nur die Gestaltungen sind der Welt des Alltags und der Erwachsenen fern, auch die Gestalter selber stellt sich Frau Wallner als Menschen vor, die anders als die meisten ihre Arbeit tun. Es sind Menschen, „die [...] immer noch mit einer kindlichen Begeisterungsfähigkeit da am Agieren sind. (P) Ja und das ist mit Sicherheit ein wesentlicher Zug, was das ganze Gelände ausstrahlt, ähm (P), also mein Bild ist, ich habe dort (P) vorrangig mit männlichen Akteuren zu tun, die ihr Kind-Sein bewahrt haben.“ So drückt sich für Frau Wallner das Kind-Sein der Gestalter in ihren Gestaltungen aus und führt zugleich deren Nutzer wieder ins Kind-Sein zurück. Dieses Wieder-Kind-Sein gibt Frau Wallner das Gefühl: „Ich bin wieder absolut lebendig.“ Es ist für sie eine Möglichkeit unter anderen, zu diesem Gefühl zu kommen. Generell sucht Frau Wallner danach, sich selbst in dieser Weise intensiv zu fühlen. Das ist für sie das „Tolle am Erleben“. Sie braucht dafür nicht unbedingt neue Reize, sondern einen „Punkt [...], wo ich konzentriert bin, bewusst da bin und irgendwas mitnehme, [...] [aus dem] ich lerne und teilweise noch monatelang schöpfen kann.“ „Erlebniswelten“ mit ihrer „Reizüberflutung“ überfordern sie deshalb. Sie sucht eher nach „Rückzug“ und „Ruhe“ im Freien im Urlaub am Meer oder im Alltag im Wald, wo sie schon als Kind viel Zeit verbrachte. Dort findet sie „Ecken, wo ich denk, Boah, hier kann ich atmen, hier bin ich einfach nur. ‚Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein‘. (lacht)“ Dieses Einfach-Dasein-Können ist für sie der Inbegriff von Glück. Sie ist der Meinung, dass man es dann findet, wenn man sich nicht über das „Vorgegebene“ als „Krone der Schöpfung“ erhebt, sondern einen „achtungsvollen Umgang mit dem, was halt vorgegeben ist“ pflegt. Es ermöglicht, „dieses Sich-Aufgehoben-Fühlen im fest vorgelegten Gefüge“ und führt dazu, „sich als Teil dessen nicht bloß zu verstehen, sondern Glückseligkeit erfahren zu können, dass man ist“. An der Art der Gestaltungen in der „Kulturinsel Einsiedel“ liest sie ab, dass deren Urheber in eben dieser rücksichtsvollen Weise mit dem Vorgegebenen umgehen. Die „Kulturinsel Einsiedel“ ermöglicht ihr damit nicht nur das Glück des Kind-Seins, sondern zugleich auch das Glück, sich an einem Ort zu befinden, an dem sie sich im Ganzen aufgehoben fühlt. Die bisherige Darstellung an Hand von vier Interviewinterpretationen zeigte, dass die Befragten vor dem Hintergrund ihrer Biographie und derzeitigen

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Lebenslage, ihren grundlegenden Lebenseinstellungen und Interessen in den Freizeitparks danach suchen, in verschiedene Modi des Erlebens zu kommen, in denen ihnen Zeit, Raum, Dinge und sie selbst anders gegeben sind als im Alltag. Im Folgenden soll nun versucht werden, diesen Befund mit theoretischen Konzepten anzureichern und seine Aussage in analytische Begriffe zu überführen.

4. THEORE TISCHER Z UGANG I: R AUM UND E RLEBEN Für die Erarbeitung des Forschungsstandes zum Thema Erlebnislandschaft wurden im Verlauf des Projektes auch theoretische Erklärungen für die zentralen Kategorien von „Raum“ und „Erleben“ rezipiert. Da es darum ging, dem räumlichen Erleben von Besuchern aus ihrer eigenen Perspektive auf die Spur zu kommen, lag es nahe, sich dabei auf phänomenologisch orientierte Konzepte zu konzentrieren, die sich der Problematik des „erlebten Raumes“30 in eben dieser Hinsicht widmen.31 Der Begriff des „er- bzw. gelebten Raumes“ beschreibt den Raum in der Weise, wie er sich dem Menschen in seiner lebensweltlichen Perspektive darbietet. Es ist der Raum der Eindrücke und Wahrnehmungen, der Orientierung und Bewegung, des Handelns und Verhaltens. Es ist der Raum, der den Menschen in seinen Bedeutungen etwas angeht, der ihn betrifft und mit dem er und in dem er einen Umgang finden muss. Nur insofern und in der Weise in der er den lebenden Menschen etwas angeht, ist er gelebter Raum.32 Dieses „Angehen“ ist mehr, als zu wissen, was ein Ding bedeuten kann. Es umfasst das Angesprochen- und Involviertsein als leibliches Wesen.33 Es führt dazu, das etwas, was Bedeutung hat, für den Menschen auch bedeutsam wird. Der gelebte Raum ist 30 | Der Begriff des “erlebten Raumes” stammt von Otto Friedrich Bollnow, der aus rein grammatikalischen Erwägungen den Begriff des “gelebten Raumes” von Karlfried von Dürckheim nicht verwenden wollte. s. Bollnow, Mensch, 1989, S. 18 ff. 31 | Stellvertretend seien hierfür genannt: Binswanger, Raumproblem, 1933; Bollnow, Mensch, 1989; Dürckheim, Untersuchungen, 2005; Kruse, Umwelt, 1975; Linschoten, Fragen, 1958; Strauß, Formen, 1930; Ströker, Untersuchungen, 1977. 32 | „Der Raum mag sich dem erlebenden Subjekt noch so sehr als Gefüge eigenständiger Wirklichkeiten darbieten, von eigenem Sinn und immanenter Bedeutung, solange er gelebter und erlebter Raum bleibt, so lange er sinn- und bedeutungshaltige Wirklichkeit, die als das, wofür sie genommen wird und in der Bedeutung, in der sie vollzogen wird, nur aus der eigenartigen Lebenswirklichkeit des Subjektes heraus verständlich ist, das sie in seiner Weise gegenwärtig hat und lebt.“ Dürckheim, Untersuchungen, 2005, S. 17. 33 | Zur Grundlegung der Raumkonstituion im Leibsubjekt s. Ströker, Untersuchungen, 1977, S. 18 ff, sowie S. 156 ff.

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deshalb stets in irgendeiner Weise mit Gefühlen, Stimmungen und Befindlichkeiten verbunden. Sie werden durch die in vorhandenen Räumlichkeiten gefundene Bedeutsamkeit angeregt, prägen aber zugleich auch die Art und Weise, in der Räumlichkeiten empfunden und wahrgenommen werden. So kann eine räumliche Gegebenheit von verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich erlebt werden.34 Diese Unterschiedlichkeit im Erleben gründet zum einen in der jeweils aktuellen Einstellung des Erlebenden zum Raum, zum anderen in der Unterschiedlichkeit der Erlebenden als Personen. In Bezug auf die Einstellungen zum gelebten Raum sollen hier drei verschiedene Formen des Raumerlebens bzw. drei verschiedene Formen von Räumen beschrieben werden: der gestimmte Raum, der Aktionsraum und der Anschauungsraum.35 Diese drei verschiedenen Weisen, einen Raum zu erleben bzw. diese drei daraus resultierenden Räume realisieren sich nicht einzeln. Vielmehr sind im gelebten Raum stets alle drei Zugangsweisen präsent, aber je nach der Einstellung des Menschen zum Raum wird die eine oder andere dominant.36 In den gestimmten Raum37 gelangt der Mensch, wenn er keine Ziele und Zwecke verfolgt, frei ist von jeder Gerichtetheit auf ein Tun oder Lassen Er nimmt die Dinge dann nicht in ihren Eigenschaften wahr, sondern sie begegnen ihm als Ausdrucksgestalten, die in ihrer Ganzheit die Stimmung ausmachen und von denen der Mensch in seiner Befindlichkeit betroffen wird. Die Stimmung teilt sich ihm mit, gleichviel ob sie ihn ansteckt oder er von ihr abgestoßen wird. Was die Form des Erlebens im gestimmten Raum damit auszeichnet, ist ein präreflexives Verhältnis der Unmittelbarkeit zwischen Mensch und Raum. Dies prägt auch die Struktur des gestimmten Raumes. Ohne Ziel oder Thema ordnet sich der gestimmte Raum nicht mehr nach messbaren Abständen, vielmehr sind die Abstände Qualitäten, die den Dingen als Nah- bzw. Fernsein selbst eigen ist. Auch gibt es im gestimmten Raum kein Zentrum und keine ausgezeichneten Orte. Ebenso fehlt jede Richtungsbestimmtheit. Damit ist der gestimmte Raum ein orientierungsloser Raum. Wege führen hier nicht zu Zielen, sie sind weder richtig noch falsch, sondern führen nur weiter, aber nirgendwohin. Dieses Fehlen der Gerichtetheit von Mensch und Raum spiegelt sich in dessen Bewegungen im gestimmten Raum. Es sind Ausdrucksbewegun34 | Vgl. hierzu Punkt VI Interpretationen II: Erleben von Landschaft und Architektur. 35 | Da wir hier nur eine grobe Beschreibung leisten können, wird auf eine Diskussion der Differenzen zwischen den angegebenen Autoren verzichtet. In der Bezeichnung der Räume folgen wir Ströker, Untersuchungen, 1977. 36 | Vgl. Dürkheim, Untersuchungen, 2005, S. 58; Kruse, Umwelt, 1974, S. 110 f.; Ströker, Untersuchungen, 1977, S. 20. 37 | Zur Beschreibung des gestimmten Raumes vgl. Ströker, Untersuchungen, 1977, S. 22-53; Kruse, Umwelt, 1974, S. 59-76; Bollnow, Mensch, 1989, S. 229-243; Dürckheim, Untersuchungen, 2005, S. 64-82.

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gen, denen das Zweck- und Zielhafte mangelt und eine funktionale Gliederung des Leibes in Richtungen fehlt. Paradigmatisch dafür ist der Tanz, aber letztlich zeugt jede Bewegung dort, wo sie über die reine Funktion hinaus ausdruckshaft wird, von der Teilhabe an einem gestimmten Raum (z.B. wenn aus einem reinen Gehen ein festliches Schreiten wird). Dabei kann die Bewegung vom gestimmten Raum ausgehen, oder aber auch in den gestimmten Raum überhaupt erst hineinführen. Fehlt der Bewegung das Ziel, und den Abständen das Maß, so wird auch die Zeit zur reinen Dauer. Die Bewegungen brauchen keine Zeit, sie dauern an. Die Zeit wird zur stetigen Gegenwart. Im Gegensatz zum gestimmten Raum verfolgt der Mensch im Aktionsraum38 Ziele und Zwecke. Er ist gerichtet auf bestimmte Dinge und Sachverhalte im Raum, die ihm in ihren Eigenschaften erscheinen und interessieren. Mit ihnen gilt es, etwas anzufangen. Dies geht nur, wenn er sie in Gebrauch nehmen kann. Der Aktionsraum ist deshalb vor allem ein Nahraum. Das Verhältnis des Menschen zum Raum ist hier eines der Möglichkeiten. So gliedert sich der Aktionsraum jeweils nach den Relevanzen des Handelnden in Gegenden, Plätze und Richtungen, er besitzt ein Zentrum und Abstände, die im Hinblick auf das Ziel abgeschätzt und so vermessen werden. Die Wege im Aktionsraum sind Wege, die zu Zielen führen. Damit ordnet sich der Raum auf die verfolgten Absichten hin und ermöglicht so eine Orientierung. Auch die Bewegungen dienen dem Erreichen des Zieles. Die Glieder des Leibes werden dafür funktional und differenziert eingesetzt (z.B. zügiges Laufen über unebenen Grund, um etwas nicht zu verpassen). Die Zeit verläuft hier linear. Die Gerichtetheit auf ein Ziel führt nicht nur zur Quantifizierung der Abstände, sondern auch der Zeit. Die Bewegungen dauern nicht einfach an, sondern brauchen eine bestimmte Zeit. Der Anschauungsraum39 tut sich auf, wenn der Mensch ohne konkrete Ziele sich der Wahrnehmung einer Sache widmet. Die Dinge sind ihm hier nicht mehr zu etwas dienlich, sondern einfach vorhanden. Sie begegnen ihm trotzdem nicht wie im gestimmten Raum in ihren Ausdrucksgestalten, sondern in ihren sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften. Sie haben aber im Unterschied zum Aktionsraum keine Relevanz für das Verhalten des Menschen. Kennzeichnend für das Verhältnis des Menschen zum Ding im Raum ist hier der Abstand. Mensch und Sache stehen sich gegenüber. So ist der Anschauungsraum vor allem ein Fernraum. Die Bewegung in ihm beschränkt sich auf die Unterstützung der Sinnesorgane wie z.B. durch Kopfbewegungen oder Fortbewegung im Ganzen. Wie der Aktionsraum ist auch der Anschauungsraum zentriert und durch Richtungen strukturiert, ermöglicht also eine Orientierung. Die Dinge 38 | Zur Beschreibung des Aktionsraumes vgl. Bollnow, Mensch, 1989, S. 202-212; Kruse, Umwelt, 1974, S. 79-109; Ströker, Untersuchungen, 1977, S. 54-93. 39 | Zur Beschreibung des Anschauungsraumes vgl. Ströker, Untersuchungen, 1977, S. 93-135; Kruse, Umwelt, 1974, S. 109-129.

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aber sind in einem bloßen Nebeneinander da. Zeit ist in diesem Raum ein Gegenstand der Wahrnehmung selbst, etwas, zu dem man ebenso ins Gegenüber tritt wie zu jeder anderen Sache. Diese drei verschiedenen Räume sind, wie oben bereits erwähnt, Aspekte des gelebten Raumes, die stets alle zeitgleich anwesend sind, je nach der Einstellung des Menschen zur Umwelt aber dominant werden können. So wird ein und derselbe Raum unterschiedlich erlebt, je nachdem, in welcher Weise der Mensch auf ihn gerichtet ist. Die Unterschiedlichkeit des Erlebens fußt aber darüber hinaus auch in der Unterschiedlichkeit der Menschen hinsichtlich ihres bisher gelebten Lebens, den gemachten Erfahrungen, den Sinngebungen, Werthaltungen, Einstellungen, Vorlieben und Abneigungen bis hin zu dauerhaften Befindlichkeiten. Was einem einzelnen in einer Situation und damit in einer räumlichen Umgebung bedeutsam wird, ist verknüpft mit seinem vorherigen Leben und fügt sich selbst als ein Lebensmoment in den Fortgang dieses Lebens ein.40 Räumliches Erleben hat damit einen biographischen Aspekt und ist eingebunden in die Art, wie ein Mensch sein Leben führt. Legt man nun die Begrifflichkeiten des ge- bzw. erlebten Raumes an die oben dargestellten Modi des Erlebens an, so zeigt sich, dass die verschiedenen Erlebensweisen jeweils eine Nähe zu einer der drei Formen des gelebten Raumes haben, nicht aber deckungsgleich sind. Auf Grund des zur Verfügung stehenden Platzes als auch dessen, was das Interviewmaterial hergibt, kann im folgenden nicht jeder Modus des Erlebens gleich intensiv und ausführlich in Bezug auf die vorgestellten drei Raumarten durchdekliniert werden. Es ist hier lediglich das Ziel den Grundgedanken grob zu veranschaulichen. So lässt sich das „Schauen“ von Frau Arnheim gut als ein Tun beschreiben, dass in den Anschauungsraum führt bzw. in ihm stattfindet. Im Schauen ist Frau Arnheim ganz auf das Sehen konzentriert. Da sie mit dem Gesehenen nichts vorhat, liegt es nicht nur in einem messbaren Abstand von ihr entfernt. Es gibt (zunächst) auch keine über das Sehen hinausgehenden Interessen, die eine Art unsichtbare Bindung zum Gesehenen herstellen würden. Das bloße Nebeneinander der Dinge, bei gleichzeitiger Zentrierung des Raumes auf Frau Arnheim wird besonders deutlich beim Fotografieren. Hier geht die visuelle Wahrnehmung durch den Sucher des Objektivs. Der Raum wird so zum Bild, in dem die Dinge auf einer Fläche „herumliegen“. Frau Arnheim versucht nun, durch Perspektive und Position, die nebeneinander liegenden Dinge so zueinander zu rücken, dass sie für sie ein schönes Bild ergeben. Sie ist also stets das Zentrum des Raumes, auf das die Dinge ausgerichtet sind, wenngleich sich das Zentrum bewegen muss, um die Dinge anders in den Blick bzw. ins Bild zu bekommen. So scheinen im Fotografieren die Eigenschaften des Anschauungsraumes besonders vordergründig zu sein. Zugleich aber ist mit der Tätigkeit 40 | Vgl. Dürckheim, 2005, S. 100.

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des Fotografierens auch die Raumordnung des Aktionsraumes aktuell. Denn Frau Arnheim hat etwas vor, bewegt sich mit einem Ziel im Raum. Auf der Suche nach dem richtigen Standpunkt muss sie die Gegebenheiten des Umfeldes berücksichtigen, achten, dass sie nicht stolpert, kein Gegenstand so nah kommt, dass er ungewollt ins Bild ragt etc. Bei ihrer Suche nach dem guten Bild ist Frau Arnheim also im Aktionsraum tätig bzw. ist ihr der Raum als einer gegeben, der auf ihre Vorhaben hin strukturiert wird und dessen Dinge sie nun in ihren Eigenschaften, ein gutes Bild zu kreieren, interessieren. Geht es ihr bei den Aufnahmen gar um Fotos von einem der Ausblicke, die sie in BELANTIS genießt, so tauchen auch die Strukturen des Stimmungsraumes mit auf. Denn solche Ausblicke sind stets verbunden mit der Möglichkeit, den Blick ungehindert in die Tiefe der Umgebung gehen zu lassen. Sie vermitteln damit eine ganz grundlegende Empfindung von Weite, die sich der gesamten Befindlichkeit mitteilt. Es findet eine Art unmittelbares Durchdrungensein von einer Qualität der Umgebung statt – die Umgebung wird als Stimmungsraum erlebt. So gehen die drei Räumlichkeiten im „Schauen“ von Frau Arnheim eine spezifische Konstellation ein. Frau Arnheim mag die weiten Ausblicke, das stimmungshafte MitHineingenommen-Sein in die Weite. Sie möchte aber auch von diesen schönen Ausblicken (und anderen visuellen Eindrücken) Bilder machen. Sie beginnt, etwas zu tun. Um ihr Tun gut auszuführen, ist es nötig, die Umgebung als von ihr losgelöstes Gegenüber zu betrachten, zum Gegenstand ihrer Wahrnehmung zu machen. Stimmung, Handeln und Anschauung sind so gleichzeitig da. Eine Dominanz festzulegen scheint nicht möglich. Die Strukturen der Räumlichkeiten bzw. die Einstellungen zum Umfeld changieren, gehen fließend ineinander über. Es ist aber anzunehmen, dass der Anteil des Stimmungshaften zurückgeht, sobald Frau Arnheim mit der Suche nach dem richtigen Bildausschnitt beginnt, ja sobald die Idee, ein Foto zu machen, überhaupt in ihr aufkommt. Ganz ähnlich ist die Situation beim „Sich-Treiben-Lassen“ von Herrn Thiel. Auch hier gibt es kein spezielles Interesse, das Herr Thiel während des Gehens im Modus des „Sich-Treiben-Lassens“ verfolgt. Es gibt aber auch keine Ausrichtung auf eine reine Wahrnehmung der Umwelt wie im Schauen von Frau Arnheim und kein deutliches Durchstimmtsein von einer speziellen Sache. Vielmehr scheinen die Besonderheiten der drei Raumformen bzw. Zugangsweisen zum gelebten Raum jeweils so weit zurückgenommen, dass zwischen ihnen eine Art Gleichgewicht auf niedrigem Niveau entsteht. Ein wesentliches Moment dafür scheint die Abgabe der Kontrolle über den Gang der Dinge zu sein. Herr Thiel bewegt sich durch den Raum, ohne etwas vorzuhaben. Dafür muss er trotz Ziellosigkeit soweit in der Ordnung des Aktionsraumes sein, dass er seinen Weg zwischen den Dingen unbeschadet gehen kann. Während des „Treibens“ tauchen Stationen auf. Es werden also aus der Vielzahl der Dinge einzelne als Besondere wahrgenommen. Sie fallen wegen irgendetwas – einer Eigenschaft – auf. Solange kein Interesse besteht, deshalb mit ihnen etwas

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anzufangen, werden sie bloß wahrgenommen, sind also Strukturen des Anschauungsraumes wirksam. Das Stimmungshafte der Einstellung zur Umwelt kommt hier in Form der ungerichteten Offenheit zum tragen. Herrn Thiels Befinden wird nicht primär durch eine bestimmte Qualität der Umwelt bestimmt, vielmehr ist er überhaupt erst empfänglich für sie. Damit ist das „Sich-TreibenLassen“ eine Art Schwebezustand in Bezug auf den gelebten Raum. Es gibt keine vordergründigen Ziele des Wollens, keine fokussierten Gegenstände der Wahrnehmung und keine die Befindlichkeit dominierenden Qualitäten. Es ist ein Zustand, von dem aus sich aufbrechen lässt in alle drei Formen des gelebten Raumes, der aber selber eine Art Ruhepunkt ist. Im Fall des „Abtauchens“ von Frau Eigner liegen die Dinge anders. Sie sucht danach, in einen Stimmungsraum eintauchen zu können. Sie will von einer Atmosphäre eingefangen werden, die sie in eine andere Welt hinein zieht. Frau Eigner möchte also nicht selbst etwas tun, sie möchte auch nicht denken und analysieren, sondern von dem unmittelbaren Eindruck einer Atmosphäre durchdrungen und versetzt werden. Als Kriterium für ein Gelingen nennt sie die Stimmigkeit der Umgebung. Stimmigkeit aber ist keine Eigenschaft sondern eine Qualität. Sie beschreibt, wie die Dinge zueinander passen. Dies ist kein objektiv angebbarer, sondern ein subjektiv empfundener Sachverhalt, der Bedeutsamkeit besitzt. Sowohl das Nichts-Vorhaben als auch die Relevanz von Qualitäten gehören zur Struktur des Stimmungsraumes. Hinzu tritt ein Mangel an Orientiertheit, der sich auch bei Frau Eigner finden lässt. Allerdings scheint der Aufenthalt im Stimmungsraum für Frau Eigner eine unsichere Sache. Zu schnell wird die Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt, warum ein Umfeld eine bestimmte Atmosphäre hat und Frau Eigner sich von ihr einfangen ließ. Damit aber wechselt die Einstellung vom Stimmungs- zum Anschauungsraum. Im Kind-Sein von Frau Wallner dagegen dominiert der Aktionsraum. Wenn Frau Wallner plötzlich zum Kind wird, dann wird sie in der Weise des Kindes aktiv. Sie klettert und kriecht mit Neugierde, Lust am Entdecken und Ausprobieren. Dennoch ist es das Stimmungshafte, der Eindruck des Verwunschenen und Aus-der-Ordnung-Geratenen, der sie ins Kind-Sein versetzt und wohl auch während des Kind-Seins erhalten bleiben muss, damit der Zustand des KindSeins sich nicht auflöst. Stimmungsraum und Aktionsraum gehen hier also eine enge Verbindung ein. Was lässt sich nun durch diese theoriegeleitete Beschreibung gewinnen? Legt man zugrunde, dass die beschriebenen drei Formen des gelebten Raumes die Formen des gelebten Raumes für den Menschen umreißen, so zeichnet sich bereits an den vier Beispielen ab, dass das besondere Erleben in Erlebnislandschaften vor allem in Verbindung mit einem Zugang zum Stimmungs- oder Anschauungsraum gesucht und gefunden wird. Dort, wo der Aktionsraum auftaucht, ist er entweder eng an einen der beiden anderen Räume gebunden (z.B. Fotografieren – Schauen) oder wird von einer für den Erwachsenen nicht

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alltäglichen Haltung zur Welt (Kind-Sein) dominiert. Damit zeigt sich, dass die Besucher von Erlebnislandschaften nicht unbedingt und nur nach dem großen, besonderen Erlebnis suchen, sondern auch die Möglichkeit schätzen, jene Formen des gelebten Raumes zu erleben, zu denen sie in ihrem Alltag wenig Zugang mehr finden. Erlebnislandschaften bieten die Möglichkeit, in einer anderen Weise in der Welt zu sein, als es ihnen im Alltag möglich ist. Dies wird besonders deutlich bei Herrn Thiel, der vor dem Hintergrund eines angestrengten Alltagslebens nach Möglichkeiten sucht, einen Ruhepunkt im Fluss des Lebens zu finden bzw. „sich treiben zu lassen“. Aber auch Frau Wallner auf der Suche nach einem Zustand der Glückseligkeit im Wieder-Kind-sein, Frau Eigner mit dem Wunsch des Abtauchens aus der dauernden Reflexion und Frau Arnheim auf der Suche nach den weiten Ausblicken in eine Landschaft machen diese Verbindung von persönlicher Lebenssituation und gesuchtem Ausgleich im räumlichen Erleben gut deutlich. In welcher Weise aber ermöglichen die Gestaltungen in den Erlebnislandschaften diesen Zugang zum gelebten Raum? Wie tauchen sie in den Geschichten der Besucher überhaupt auf und welche Rolle spielen sie für das Erleben? Im Folgenden wird dieser Frage am Beispiel der unterirdischen Tunnelanlage der „Kulturinsel Einsiedel“, zwei Beispielen erlebter Architektur aus BELANTIS und zwei Beispielen von Landschaftserleben in der „Kulturinsel Einsiedel“ nachgegangen. Zusätzlich zu den bisher verwendeten Interviews wird dafür auf weitere Gespräche mit Besuchern von BELANTIS und der „Kulturinsel Einsiedel“ zurückgegriffen.

5. I NTERPRE TATIONEN II: E RLEBEN VON L ANDSCHAF T UND A RCHITEK TUR „Tunnel“, „Keller“, „Höhle“: Der Einfluss der Situation Die unterirdische Tunnelanlage der „Kulturinsel Einsiedel“ ist 500 Meter lang und hat ca. 30 Ein- bzw. Ausgänge. Sie verbindet verschiedene überirdische Bauten, die über den ganzen Park verteilt sind. Die Tunnel bestehen z. T. aus eingegrabenen Beton- oder Eisenröhren, z.T. wurden sie mit Betonplatten hergestellt. Es gibt Bereiche, in denen die Tunnel in zwei Etagen verlaufen. Die Beleuchtung in den Tunneln erfolgt nur über Tageslicht, dass durch die Einbzw. Ausgänge und gelegentlich eingefügte Fenster eindringt. An vielen Stellen herrscht in den Tunneln totale Dunkelheit. Eingeweihte Besucher bringen deshalb Taschenlampen mit, die aber auch an der Kasse erworben werden können. Diese Anlage taucht in den Beschreibungen der Besucher in unterschiedlichen Zusammenhängen auf und wird mit verschiedenen Ausdrücken gefasst.

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So spricht Herr Thiel von „Tunneln“ und von „Tunnelsystem“. Ein Tunnel lässt sich charakterisieren als eine unterirdische Verbindung zwischen zwei Gegenden, Orten oder Plätzen. Ein Tunnel hat also immer einen Ein- und einen Ausgang. Er ist für die Durchquerung gedacht, und man kann sich in ihm gemeinhin nicht verlaufen. Zu mehreren vorkommend bilden die Tunnel für Herrn Thiel ein „System“, d.h. sie fügen sich zu einer abgegrenzten, in sich sinn- oder zweckhaften Einheit. Ein System als eine sinnhafte Einheit besitzt eine Ordnung, die sich verstehen lässt und mit der man mittels Vernunft einen Umgang finden kann. In dieser Weise spricht Herr Thiel auch dann über die Tunnel, wenn er von seinen Erfahrungen während des Durchkriechens berichtet. Er findet es zwar „beengt“, „beschwerlich“ und „gewöhnungsbedürftig“, muss sich aber nicht überwinden hineinzugehen, sondern hat Spaß am Aufenthalt unter der Erde. Sein Sohn dagegen scheut sich zunächst, die Tunnel zu betreten. Herr Thiel erklärt sich dies damit, dass Kinder „ein Stück weit ne Grenze [...] überschreiten [müssen], weil für die ist das schon schwierig, weil die es nicht richtig einordnen können, wenn die da jetzt reingehn.“ Was aber können Kinder nicht richtig einordnen, wenn sie hineingehen? Wie groß und weit das System ist, ob man wieder heraus kommt? Ob es möglich ist, sich endgültig darin zu verlaufen? Oder anders, können die Kinder nicht richtig einordnen, um was es sich handelt, ob es ernst wird oder Spiel bleibt, was ihnen begegnet? Auf jeden Fall kann ein Erwachsener nach Herrn Thiels Meinung diese Einordnung leisten und muss deshalb keine Grenze überschreiten. Weil er weiß, so lässt sich weiter auslegen, dass es Spiel ist, hat er keinen „Respekt“ und keine „Bedenken“ wie sein Sohn. Er muss sich nicht überwinden, hinein zu kriechen. So scheint es das Wissen (Tunnel als System in einem Freizeitpark) und eine gewisse leibliche Unempfänglichkeit (keine Platzangst und keine Angst vor Dunkelheit) zu sein, die es Herrn Thiel ermöglichen, sorgen- und angstfrei in den Tunnel zu kriechen. Insgesamt vermittelt seine Beschreibung eine gewisse Distanziertheit. Er spricht hier immer in der dritten Person oder dem unpersönlichen „man“ über seine Erlebnisse. Lediglich die Adjektive „beengt“ und „beschwerlich“ transportieren ein leibliches Empfinden. Damit zeugt die Sprache von einer analytischen Distanz zu den Dingen und Geschehnissen, die auch während des Aufenthaltes im Tunnel nicht durchbrochen zu werden scheint. Bei Frau Zeigner41 dagegen gibt es zwei unterschiedliche Weisen, über die unterirdischen Gänge zu sprechen. In der kurzen Beschreibung der Geräte, die sie in der „Kulturinsel Einsiedel“ mit ihren Freunden nutzt, bezeichnet sie die 41 | Frau Zeigner ist ca. 35 Jahre alt und betreibt ein kleines handwerkliches Gewerbe. Gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Kindern sowie der Familie ihrer Freundin fährt sie jedes Jahr einmal für ein Wochenende in die „Kulturinsel Einsiedel“. Tagsüber begleiten die Erwachsenen dort ihre Kinder und schwatzen, während diese spielen. Nachts aber gehen die gestandenen Eltern selber auf Entdeckungstour in unterirdischen Gänge,

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unterirdischen Gänge zunächst als „Tunnel“ oder „Röhren“. Als sie dann aber eine genauere Beschreibung ihrer Erlebnisse beim Aufenthalt unter der Erde gibt, wird aus den „Tunneln“ und „Röhren“ eine Sache, die „eben was von einem Labyrinth hat“. Ein Labyrinth ist im Unterschied zum Tunnel nicht ein einfacher direkter Weg sondern ein Geflecht aus Wegen, in dem man die Orientierung verliert, in die Irre geht. Die Anlage hat für Frau Zeigner also keine ersichtliche Ordnung mehr. Dies macht für sie auch den Reiz der Tunnelanlage der „Kulturinsel Einsiedel“ aus. „Das ist ja wahrscheinlich auch ein gewisser Nervenkitzel in einem Labyrinth, [...] so ein bisschen so ausprobieren, Orientierungssinn ausprobieren: Findet man sich immer wieder raus?“. Im Unterschied zu Herrn Thiel bestimmt damit das unmittelbare Erleben und nicht das Wissen von der Anlage den Eindruck, den Frau Zeigner von ihr hat. Aus „Tunnel“ und „Röhren“ mit der Funktion eines unproblematischen Durchgangs wird ein erlebter Raum, in dem sich Frau Zeigner nicht planmäßig geordnet bewegen kann.42 Bei Herrn Reifert43 wiederum tauchen die unterirdischen Gänge als „Keller“ auf. Er betritt die Tunnelanlage selber gar nicht, hört aber, während er vor dem Schloss auf seine Nichte wartet, die im Schloss verschwunden ist, dass man auch in Räume unterhalb des Gebäudes gelangen kann. Das führt dazu, dass er fürchtet, seine Nichte könnte sich in diesem „Keller“ verirrt haben. Herr Reifert weiß also nichts von den Ausdehnungen der unterirdischen Räume. Für ihn befinden sie sich unter dem Schloss, also unter einem Bauwerk mit Innenräumen und werden dementsprechend als Keller vorgestellt und angesprochen. Damit sind für Herrn Reifert aber nicht nur Lage und Funktion eines Raumes gemeint. Keller sind für ihn zudem Orte, wo er sich nicht gern aufhält. „Denn klettern durch Baumwipfelpfade und nutzen Schaukel und Trampolin zum allseitigen Vergnügen. 42 | In ähnlicher Weise wechselt bei Frau Wallner die Wortwahl zwischen der Beschreibung der Sache und der Beschreibung des Erlebens von “unterirdischen Betonröhren”, mit der Material, Form und Funktion angegeben ist, zu “dunkles Labyrinth”, welche die Qualitäten des erlebten Raumes ausdrückt. 43 | Herr Reifert ist ca. 55 Jahre alt, studierte EDV und arbeitet als Angestellter in der Planung von Bauvorhaben. Der im Interview besprochene Besuch der „Kulturinsel Einsiedel“ war sein zweiter. Weil ihm und seiner Frau die Kulturinsel auf dem ersten Besuch so gut gefiel, hatten sie seinem erwachsenen Neffen einen Ausflug dorthin geschenkt. Neben Herrn Reifert und seiner Frau nahmen der Neffe mit seiner Ehefrau und deren beide Kinder an dem Ausflug teil. Während des Besuches hatte Herr Reifert viel Freude an der Freude der Kinder, wurde aber selbst kaum an den Bewegungsspielzeugen und Gebäuden aktiv. Er genoss den Tag vielmehr als gemeinsame Zeit mit der Verwandtschaft in einem Umfeld, dass noch nicht so vom „Kommerz“ erobert wurde, sonden „noch so n bissel [P] so Natur“ ist und ihn beim Schnitzen am Feuer „och wieder bissel zum Kind“ werden ließ.

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S IGRID A NNA F RIEDREICH wie gesagt, ich hab gehört das Ganze wär irgendwie unterkellert, [...] also mit Keller. Ich würde mich da selber ni ganz wohl fühlen.“ Herr Reifert assoziiert also mit dem vorgestellten Raum zugleich die Art, wie er ihn erleben würde. Form und Funktion werden hier zugleich mit den Qualitäten eines Raumes in einem Wort gefasst. Wieder anders beschreibt Frau Berger44 die unterirdischen Räume. Auch sie hat sich bei ihrem Besuch nicht in den Tunneln bewegt. Sie war mit ihrem Sohn und dessen Freund nur als Begleitperson in den Park gegangen und verbrachte ihre Zeit damit, länger an einem Ort zu sitzen und andere Besucher zu beobachten, während sie auf die Kinder wartete, die in der unterirdischen Anlage verschwunden waren. Frau Berger spricht von „Höhlen“ und einem „Höhlensystem“. Die unterirdischen Gänge sind bei ihr also Räume, die nicht nur der Durchquerung dienen, sondern auch für einen Aufenthalt genutzt werden können. Dies spiegelt ihre Situation des Wartens, während dessen sich ja die Jungen unter der Erde längere Zeit aufhielten. Frau Berger beschreibt sie dementsprechend auch als „Maulwürfe“, die „unter Tage“ sind. Sie vergleicht sie also mit Tieren, die unter der Erde leben und nicht nur ihren Weg durch sie hindurch nehmen. Wie Herr Thiel weiß sie, dass die „Höhlen“ untereinander verbunden sind und ein Ganzes bilden, in dem letztlich kein Kind verloren gehen kann. Auch für sie, die selbst nicht hinabsteigt, bilden die Höhlen deshalb ein „System“.

„Disneyland Paris“, „Ägypten“, „Spanien“: Die Rolle leibhaftiger Erfahrung Sind es im Beispiel der Beschreibung der Tunnelanlage vor allem situative Bedingungen, die die Wortwahl und das Erleben bestimmen, so wird in den beiden folgenden Beispielen die Rolle der biographischen Erfahrungen für die Wirkung von Artefakten deutlich. In der obigen Darlegung des Erlebens von Frau Eigner in BELANTIS wurde bereits zitiert, dass die gleichzeitige Anwesenheit von Schloss und Pyramide Frau Eigner stört. “Also, das Schloss hat mich an Disney Land Paris erinnert. Und das war so ‚Hach ja, schöön!‘ Und so Märchen. Und die Pyramide würde ich mit Ägypten verbinden, auch tolle Erinnerungen. Aber das passte gefühlsmäßig und vom Ort her nicht zusammen.“ Welche Rolle spielen also die Gebäude hier für ihr Erleben? Beide Bauwerke erinnern Frau Zeigner an einen selbst erlebten Ort und an das Erleb44 | Frau Berger ist ca 35 Jahre alt und als Psychologin tätig. Sie fuhr gemeinsam mit ihrem Sohn und dessen Freund zur „Kulturinsel Einsiedel“, um ihrem Kind einmal eine Möglichkeit zur Auszeit von einem anstrengenden Alltag zu geben. Sie selbst wollte die Jungen beim Klettern und Spielen beobachten, kam dann aber nicht dazu, da sie für lange Zeit in den unterirdischen Gängen verschwanden. So saß Frau Berger an verschiedenen Plätzen, beobachtete andere Besucher und machte nach eigener Aussage die Erfahrung, ohne schlechtes Gewissen einfach mal Zeit zu haben.

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nis dieses Ortes. Was nicht zusammenpasst ist zum einen die räumliche Nähe von Paris und Ägypten. Dies widerspricht dem geografischem Wissen, aber auch den gemachten Erfahrungen. Nicht zusammen passt aber außerdem das Kindheitserleben in Disneyland Paris und das Urlaubserleben der Erwachsenen in Ägypten. Dabei sind es keine speziellen Erlebnisse, die erinnert werden, sondern es scheint ein Grundgefühl der erlebten Situation zu sein, eine Stimmung, die mit der Wahrnehmung der Gebäude wieder geweckt wird („Hach ja, schöön!“ ). Das positive Gefühl beim (einzelnen) Anblick der Gebäude fußt also auf persönlichen Erfahrungen, auf der Bedeutsamkeit, die die Bauwerke für Frau Eigner transportieren. Für Frau Eigner verbindet sich z.B. mit dem Symbol Ägyptens, das sie als solches erkennt, nicht der Wüstenritt auf einem Kamel und nicht die Geheimnisse der Pyramiden, sondern das Gefühl von Sorglosigkeit und freier Zeit, die sie im Gelände eines Clubresorts in Ägypten genoss. Wurde im Fall der Pyramide von Frau Eigner das Gebäude noch als das erkannt, das vom Architekten intendiert war, so erkennt Herr Kurz45 auf Grund seiner eigenen Erfahrungen in Spanien das spanische Küstenstädtchen in BELANTIS nicht als solches. Für ihn sieht es nicht nach Spanien aus. Es fehlt an Sand, und untypische Gewächse stören. Die Gebäude im spanischen Themenbereich sehen für Herrn Kurz “ehrlich gesagt zu neu aus. Wenn ich in Spanien bin, dann sind die Gebäude mehr son bisschen, vor allem auf Formentera, wo ich war, ehm, da sind die Gebäude son bisschen zerfallen und da bröckelts hier und da. Das, da sehn die Gebäude einfach zu neu aus noch.“ Auch die Pflasterung im Hafenbereich findet er nicht passend. Sie deckt sich nicht mit seinen eigenen Erfahrungen in Spanien. „Da sind vor allem diese, so kleine Steine, so Klackersteine in, eh, so fast rosarot und weiß-grau und so. So was sind für mich spanische Wege. Oder so ein klacker, klacker, klacker, wenn man seinen Koffer da rüberfährt am Flughafen […][Da ist es] uneben und (p) das ist hier einfach zu, zu perfekt gemacht.” Spanisch ist für Herrn Kurz also das, was er selbst in Spanien wahrgenommen hat – visuell, akustisch, haptisch. Diese eigene Erfahrung sorgt in BELANTIS dafür, das er etwas nicht wiedererkennt, was als bauliche Anlage gerade darauf angelegt war, beim Besucher an Bekanntes anzuknüpfen und vertraute Gefühle zu wecken. Das gebaute

45 | Herr Kurz ist ca. 20 Jahre alt und befand sich zum Zeitpunkt der Befragung in einer kaufmännischen Ausbildung. Er ist ein großer Freund von Freizeitparks. Jedes Jahr besucht er mehrere von ihnen. Viele der größeren Einrichtungen in Deutschland und Europa hat er so schon kennengelernt. Herr Kurz fährt auf diesen Besuchen gern und viel auf den Fahrgeschäften. In den Pausen zwischen den Fahrten sucht er dann aber in den gebauten Umgebungen in Stimmungen zu fallen, bzw. wie er es ausdrückt, ins „Umgebungsgefühl“ rein zu kommen. Dies gelingt ihm nur dort, wo die Dinge für ihn „passen“ bzw. „stimmig“ sind. Den spanischen Tehmenbereich in BELANTIS findet er diesbezüglich nicht gelungen.

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Klischee eines spanischen Hafens vermag bei Herrn Kurz also nicht die vom Architekten gewünschte Wirkung zu erzielen.46

„Indianerfort“ und „Hobbits“ in der Lausitz: Konglomerate aus Realität und Fiktion Ebenfalls an eigene Erfahrungen knüpfen die Beschreibungen des Landschaftlichen an. In den beiden folgenden Beispielen sind es jedoch nicht nur die persönlichen Erfahrungen an einem bestimmten Ort, sondern auch Erfahrungen, die im Umgang mit Medien gewonnen wurden. So beschreibt Herr Thiel die „Kulturinsel Einsiedel“ als „Indianerfort“ und verbindet damit in einem Wort, was sich gemeinhin ausschließt: Indianer und Fort als Befestigungsanlage z.B. von weißen Siedlern in Amerika. Die „Kulturinsel Einsiedel“ scheint für ihn Qualitäten zu haben die mit den üblichen Vokabular (und den dazugehörigen Deutungsmustern) nicht zu greifen ist. Er macht den „Eindruck“ des „Indianerforthaften“ an der Eingrenzung auf einen „bestimmten Bereich“, der „Bauart“ mit „Naturstoffen“ und „bestimmten Formen“47 fest. „Also, ich sag mal, wenn man sich überlegt, dieses eher äh wirklich so das Indianerforthafte passt letztendlich von den Zusammenhängen her. Auch wenn dort viele Bauwerke halt drin sind, die halt mit einem Indianerfort überhaupt nichts zu tun haben.“ Das „Indianerforthafte“ ist also etwas, was die ganze Kulturinsel durchwirkt, ohne dass man es an jedem einzelnen Ding festmachen könnte. Damit liegt es nahe das „Indianerforthafte“ als Ausdruck für einen stimmungshaften Eindruck zu interpretieren, der auf den Qualitäten des Landschaftlichen in der „Kulturinsel Einsiedel“ basiert. Für diese Interpretation des „Indianerforts“ als Begriff für das Stimmungshafte spricht auch, dass Herr Thiel gleich zu Anfang seiner Beschreibung davon berichtet, er habe sich „zurückversetzt gefühlt in son Indianerfort“. Die Rede vom Sich-Versetzt-Fühlen verweist auf den Wechsel in einen gestimmten Raum. Im Empfinden der Stimmung des „Indianerforthaften“ wird er versetzt. Da er sich „zurückversetzt“ fühlt, muss ihm die Stimmung schon von früheren Situationen her bekannt sein. Sie wird nun durch Eindrücke erinnert und erneut zum Leben erweckt. Frau Berger dagegen assoziiert mit der Landschaft der „Kulturinsel Einsiedel“ mehrere und andere Bilder und Vorstellungen. Sie fühlt sich erinnert an ein „Dorf“, eine „Enklave“, an „Hügellandschaften“, an die Landschaft der „Hobbits“. Es zeigt sich, dass in diesen Assoziationen mediale und leibhaftige Erfahrungen zusammenfließen. Zum einen fühlt sich Frau Berger an die Geschichte 46 | Zu den Intentionen des Architekten s. den Aufsatz von Jörg Schröder Belantis: „Erlebnisgestaltung zwischen Funktion und Emotion. Interpretation des Interviews mit dem Architekten Herrn Rudolf in diesem Band.“ 47 | An anderer Stelle spricht Herr Thiel von „untypischen“ und „verrückten Formen“.

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der Hobbits erinnert. Das sind Phantasiewesen aus einer Mischung zwischen Zwerg, Elfe und Mensch, welche abseits des üblichen Gangs der Weltgeschichte in kleinen Dörfern in einem Hügelland leben.48 Diese Geschichte passt für sie so gut zur „Kulturinsel Einsiedel“, dass sie sich nicht wundern würde, kämen ihr dort ein paar Hobbits entgegen. Hügellandschaft kennt Frau Berger jedoch nicht nur aus den Medien. Hügellandschaft verbindet sie zum einen mit Schottland und Irland, wo sie sich selbst auch schon aufgehalten hat. Außerdem erinnert sie die Hügellandschaft an die Lausitz als „Ostergegend“. Mit ihr verbindet sie „dieses Hügelige, Grüne, Freundliche, Friedliche, Gemütliche.“ Die Versuche von Frau Berger, ihre Eindrücke von der „Kulturinsel Einsiedel“ als Landschaft in Worte zu fassen, zeigen, wie das Erleben während des Besuches der „Kulturinsel Einsiedel“ frühere Erfahrungen weckt, seien sie leibhaft oder medial. Diese Erfahrungen sind für Frau Berger zunächst in Form von sprachlichen Bildern und Schlagworten zu greifen. Durch eine zusätzliche Reflexion gelingt es Frau Berger dann, die diesen Bildern für sie innewohnenden Qualitäten auch explizit zu benennen.

6. THEORE TISCHER Z UGANG II: E INDRUCK UND W IRKUNG Um die oben gezeigten Weisen des Sprechens über die Gestaltungen in den Erlebnisparks (Architektur und Landschaftliches) genauer begrifflich fassen zu können, lohnt sich ein zweiter theoretischer Zugang. In seiner Schrift “Sein und Denken“ versucht Josef König das „Ursprungsverhältnis von Sein und Denken, Sprache und Wirklichkeit“49 grundlegend zu klären. Er trifft dafür die Unterscheidung zwischen determinierenden und modifizierenden Prädikaten der Rede (und mithin zwischen zwei unterschiedlichen Modi des Sprechens).50 Unter determinierenden Prädikaten versteht er solche, die sinnlich fassbare Eigenschaften von Dingen angeben wie Farbe, Klang, Größe etc. und damit ihren Gegenstand erschöpfend beschreiben können. Modifizierende Prädikate enthalten dagegen Urteile über etwas und beziehen sich auf Unsinnliches, z.B. in der Aussage, etwas sei gerecht oder gütig. Sie betreffen das „wie“ einer Sache. Sie bestimmen (determinieren) damit zwar ebenfalls ihren Gegenstand, aber sie enthalten darüber hinaus selbst etwas von dem, was sie aussagen. Dieser Unterschied kommt dadurch zu Stande, dass im Fall eines determinierenden Prädikates eine Eigenschaft festgestellt wird, die einer Sache eignet, unabhängig davon, ob und wer sie wahrnimmt. Im Fall eines modifizierenden Prädikates dagegen 48 | S. Tolkien, Herr, 2001. 49 | Kümmel, König, 1990/91, S. 179. 50 | König, Sein, 1969, S. 1-17. Die Begriffe „determinierend“ und „modifizierend“ übernimmt König in „freier Verwendung von Husserl“. König, Sein, 1969, S. 1, Fn. 1.

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wirkt etwas auf den Sprecher in bestimmter Weise, z.B. wirkt ein Gesichtsausdruck gütig. Diese Wirkungen, die in der modifizierenden Rede ausgedrückt werden, bestimmen sowohl den Eindruck (z.B. gütiger Eindruck), als auch das Wovon des Eindrucks (Eindruck von Güte). Der Eindruck wird deshalb von König „dadurch charakterisiert, daß ihm sein Wovon in echter Weise einwohnt.“51 Der Eindruck der Güte bestimmt also selbst die Weise des Eindrucks, in diesem Fall ein gütiger Eindruck zu sein. Nur in der modifizierenden Rede bestimmt das Wovon des Eindrucks zugleich den Eindruck selber. Eine solche Kennzeichnung der Sache ist aber nur dann und insofern möglich, wenn ein Mensch bzw. der Sprecher diesen Eindruck von der Sache hat. Modifizierende Prädikate sind also nicht mit der Sache selbst gegeben, vielmehr ist es so, „daß sie ihren Trägern allererst zuwachsen, wenn der fühlende Mensch vor diese hintritt.“52 D.h. aber auch, dass sie nicht vom fühlenden Menschen der Sache lediglich zugeschrieben werden. König vergleicht zur Erklärung den Vorgang mit dem des Erwachens.53 Aus dem Schlaf auftauchend wird der Mensch zugleich geweckt von etwas und erwacht selbst zu etwas. In eben dieser Weise verhält es sich mit der Wirkung, die von einer Sache ausgeht und dem Eindruck, den ein Mensch von ihr hat. Das Verhältnis zwischen Mensch und Sache lässt sich dann allerdings nicht mehr in den Begriffen von Subjekt und Objekt beschreiben. Vielmehr handelt es sich um einen „Verschränkungsvorgang“, mit dem „ein ganz eigenartiger Erkenntistypus angesprochen [ist], der von zeichenhafter Erkenntnis im Bild oder Wort unterschieden werden muss, aber auch nicht als voraussetzungslose Offenbarung verstanden werden kann.“54 Dieser Erkenntnistyp kann hier nicht weiter analysiert werden. Wenn jedoch König das „so-Wirken“ als „Substanz [...] des Seienden“ bezeichnet, so läßt sich daraus schließen, dass im Eindruck eine Erkenntnis der Substanz des Seienden liegt, die innerhalb eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses nicht gefunden werden kann.55 Was lässt sich mit dieser Sprachanalyse Königs für die Interpretation der Aussagen der interviewten Freizeitparkbesucher gewinnen? Zum einen bestätigt sich, was die Interpretation bereits herausarbeitete. Wenn die Besucher von ihrem Erleben zu erzählen beginnen, wechseln sie von der determinierenden in die modifizierende Rede. Aus der Beschreibung von Dingen und Räumen mittels Eigenschaften (Tunnel, Röhren, Beton, System) wird eine Beschreibung von Eindrücken. Die Tunnel haben nun z.B. „eben was von einem Labyrinth“. Mit anderen Worten, die Tunnel wirken nun labyrinthisch. Frau Zeiger hat den Ein51 | König, Sein, 1969, S. 13. 52 | König, Sein, 1969, S. 5. 53 | König, Sein, 1969, S. 41 ff. 54 | Kümmel, König, 1990/91, S. 184. 55 | König, Sein, 1969, S. 159.

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druck von etwas Labyrinthischem. Im Fall von Herrn Reifert wird deutlich, wie in einem Wort sowohl determinierende als auch modifizierende Bedeutungen stecken. „Keller“ ist zunächst der Raum unter dem Haus, dann aber auch der Raum, in dem er sich nicht wohlfühlt, ein Raum, den er sich als Keller vorstellt, der den Eindruck eines Kellers macht, kellerartig ist. Bereits dieses Beispiel macht deutlich, dass die modifizierende Rede in unterschiedlicher Weise vorhanden ist und die Aufforderung, in modifizierender Weise über etwas zu sprechen, z.T. Schwierigkeiten bei den Interviewten hervorruft, einen sprachlichen Ausdruck zu finden. So versucht Herr Kurz über eine Beschreibung mittels sinnlicher Wahrnehmungen zu begründen, warum die spanische Themeninsel auf ihn keinen spanischen Eindruck machte. In der Äußerung, dass die Gebäude zu neu aussehen, steckt dann der stärkste Hinweis auf ein „so-Wirken“. Die Gebäude wirken auf ihn neu, und dies passt nicht zu seinen Eindrücken von Spanien. Interessant ist an seinen Äußerungen aber auch der Versuch, die Schwierigkeiten der Beschreibung seines Eindrucks mittels Lautmalerei zu lösen. Das Erzählen vom „klacker, klacker, klacker“ der Kofferrollen auf dem Pflaster bringt in die Situation der Rede eine sinnliche Komponente, die eine Brücke schlagen kann zwischen dem Erzähler, der etwas erinnernd empfindet, aber nicht ausdrücken kann, und dem Zuhörer, dem mit dem onomatopoetischen Wort etwas zu empfinden gegeben wird, das ihm einen wortlosen Zugang zum Unausdrückbaren ermöglichen kann. Relativ nah an diesem Versuch unmittelbarer Kommunikation liegt die Beschreibung von Frau Eigner über die Wirkung, die der Anblick des Schlosses in BELANTIS auf sie hatte. „Hach ja, schöön!“ Wie selbst die Transkription noch anzeigt und ein Abhören der Interviewaufnahme bestätigt, wird diese Aussage getragen von der Art und Weise ihres Sagens. Hier wird der Ausdruck nicht nur in Worten, sondern vor allem durch Betonung, die Mimik der Sprache gesucht. Das Sprachliche selber beschränkt sich auf ein onomatopoetisches „Hach“, ein allgemein bestätigendes „ja“ und den Oberbegriff für alles Gute: „schön“. Damit wird auch hier der Eindruck stark durch einen leiblichen Ausdruck kommuniziert. Einen Schritt weiter geht dann Herr Thiel. Auch er sucht nach Worten für seinen Eindruck von der „Kulturinsel Einsiedel“ als Ganzem. Er beschreibt es schließlich als „Indianerfort“ bzw. als das „Indianerforthafte“, das das Ganze trifft, obwohl es im Einzelnen nicht an jedem Ding (mittels determinierender Eigenschaften) gefunden werden kann. Er hat also den Eindruck eines „Indianerforts“ bzw. es wirkt auf ihn „indianerforthaft“. Frau Berger schließlich fasst ihren Eindruck von der „Kulturinsel Einsiedel“ nicht nur in metaphorischen Ausdrücken, sondern auch in (abstrakten) substantivierten Adjektiven als dieses „Freundliche, Friedliche, Gemütliche“ und kommt damit den Beispielen Königs am nächsten. Gerade an den zwei Beispielen des landschaftlichen Eindrucks von der „Kulturinsel Einsiedel“ wird außerdem deutlich, wie ein und dieselbe Sache ganz unterschiedlich wirken kann. Die Hügellandschaft der Hobbits und das India-

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nerfort scheinen – zumindest für die Autorin – keine Gemeinsamkeiten zu haben. Es sind zwei völlig unterschiedliche Eindrücke. Frau Berger und Herr Thiel ließen sich hier offenbar von unterschiedlichen Wirkungen zu verschiedenen Eindrücken wecken. Dies mag nicht zuletzt mit ihren früheren Erfahrungen, Vorlieben und Interessen zu tun haben, die die Anmutungen der Hügellandschaft oder die der zusammengezimmerten Holzbauten zu einem bestimmten Eindruck werden ließen.

7. F A ZIT : A UF DER S UCHE NACH EINER ANDEREN W EISE , DA ZU SEIN

Kehren wir zu den anfangs gestellten Fragen zurück und fassen das Gewonnene noch einmal zusammen. Was geschieht mit den Besuchern in den Erlebnislandschaften, was erwarten, erhoffen und erleben sie und was bedeutet dies für ihr Leben? Wie tauchen Landschaft und Architektur in den Geschichten der Besucher auf und welche Rolle spielen sie für das Erleben? Fokussiert auf das räumliche Erleben konnte an vier Beispielen gezeigt werden, wie die Interviewten bei ihrem Besuch einer Erlebnislandschaft versuchen, in andere „Modi des Daseins“ zu gelangen. Das von ihnen beschriebene „Schauen“, „Sich-Treiben-Lassen“, „Abtauchen“ und „Wieder-Kind-Sein“ ist verbunden mit einer jeweils spezifischen Weise in der Zeit, im Raum, bei den Dingen und bei sich selbst zu sein.56 Dabei besteht eine mehr oder weniger enge Verbindung zwischen biographischen Erfahrungen, gegenwärtigen Lebenssituationen und Lebensformen sowie dem gesuchten Modus, in der Welt zu sein. Erlebnislandschaften scheinen damit eine räumliche Umwelt zur Verfügung zu stellen, von der sich die Interviewten erhoffen, dass ihnen dort der Wechsel in einer andere Weise, da zu sein, gelingt. In der Art, in der die Besucher von ihren Erlebnissen erzählen, zeigt sich, wie die landschaftlichen und architektonischen Gestaltungen je nach Situation, bestehenden Vorlieben und gemachten Erfahrungen unterschiedliche Wirkungen auf sie haben, verschiedene Eindrücke hervorrufen und so den Wechsel in einen anderen „Daseinsmodus“ unterstützen oder behindern können. Erlebnisse sind in den Erlebnislandschaften also weder einfach abrufbar, noch erzielen die Gestaltungen vorhersehbare Wirkungen. Erlebnislandschaften scheinen vielmehr Möglichkeiten zu bieten, die die Besucher an sich selber zulassen und für sich entdecken und ausprobieren müssen.

56 | Als fünftes Verhältnis kommt das zum Mitmenschen hinzu, dass hier jedoch nicht mit betrachtet wurde.

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A UF DER S UCHE NACH EINER ANDEREN W EISE , DA ZU SEIN

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V Resümee

Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Abschließende Betrachtungen zu einem Forschungsprojekt Achim Hahn und Sigrid Anna Friedreich

1. E INLEITUNG Die in diesem Band versammelten Aufsätze entstanden im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojektes „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ und gehen der Frage nach dem Gestalten und Erleben von Erlebnislandschaften an Hand von zwei Beispielen unter verschiedenen Hinsichten nach. Die Betrachtungsweisen gehen von phänomenologischen Begriffsklärungen und technik-philosophischen Fragen über eine historische Einordnung des Phänomens Erlebnislandschaften und der landschaftsarchitektonischen Beschreibung der Beispiellandschaften bis hin zur Interpretation von Interviews mit Gestaltern über ihre Arbeit an und Gesprächen mit Besuchern und Besucherinnen über ihre Erlebnisse in diesen Erlebnislandschaften. Gibt es nun Erkenntnisse, die über die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungen hinausgehen bzw. sie in einen Zusammenhang bringen? Während der regelmäßigen Besprechungen aller Beteiligten im Projekt kristallisierten sich mehrere Themen heraus, die für einige der Hinsichten gleichermaßen relevant waren oder aber auch alle Betrachtungsweisen tangierten. Im weitesten Sinne handelte es sich um Themen, die das Entwerfen und Erleben von Atmosphären betreffen. Bei genauerer Betrachtung lassen sich dabei sechs Schwerpunkte ausmachen, die im Folgenden dargestellt werden sollen.

2. THEORIE UND P R A XIS AUS ME THODOLOGISCHER S ICHT Es spricht eigentlich nichts dagegen, so ließe sich am Ende des Projektes zusammenfassen, aber viel dafür, jede räumliche Umgebung, in denen Menschen sich aufhalten, als Erlebnislandschaft zu begreifen. Erleben ist das primäre sinnliche

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Aufgeschlossensein für Umwelten. Und jede Architektur markiert harte Grenzen und anschauliche Horizonte, deren erleb- und wahrnehmbare Gesamtheit mit dem Begriff Landschaft treffend gefasst ist. Genauer: Landschaft beschreibt die Situation der leibhaften Anwesenheit als Erleben von Räumlichkeit. Es ist ein wesentliches Ergebnis der im Projekt praktizierten Interdisziplinarität, dass dieses kreative Verständnis von Erlebnislandschaften vor allen von den Professionen ergriffen werden kann, denen die Gestaltung unserer alltäglich aufgesuchten Wohn-Umwelten ein tiefes Anliegen ist. Erlebnislandschaften sind also nicht nur jene Vergnügungslandschaften, für deren außer-alltäglichen Besuch wir Eintritt entrichten müssen, sondern sie sind unsere dauerhaft aufgesuchte Lebensumgebung, für deren empfundenes Anmutungspotential gestaltende Berufe eine Verantwortung tragen. Dieser Verantwortung, so haben wir erfahren, will sich auch niemand entziehen, sie kann aber nur dann tatsächlich übernommen werden, wenn verstanden ist, was es mit dem Erleben von Landschaftlichkeit auf sich hat. Für ein besseres Verständnis setzt sich unsere Forschung ein. Zu ihrer Auffassung der Bedeutung von Erlebnislandschaften konnte die Architekturtheorie nur kommen, da das Projekt in einer grundsätzlichen, methodologischen Bewegung die Ausdrücke „Erlebnis“ und „Landschaft“ als Bestandteile konkreter Lebensformen nahm und untersuchte, welchen Gebrauch jene Ausdrücke innerhalb praktizierter Sprachspiele aufweisen. Architekturtheorie, so wie wir sie verstehen, setzt sich entsprechenden Praxisfällen aus, um die in solche Lebensformen hineingeschaffenen Erfahrungen kritisch herauszustellen. Theorie ist also die empirisch gesättigte, beschreibende Feststellung von spezifischen „Erfahrungszusammenhängen“, die in Umständen und Situationen dieser Lebensformen entdeckt und gewonnen wurden. Eine Theorie der „Atmosphäre“ z.B. ist dann die aus empirischem Forschungsmaterial hermeneutisch verdichtete Rekonstruktion von Erfahrungskonstanten mit erinnerten Erlebnissen im gestimmten Raum. Aufmerksamkeit unter Architekten und Landschaftsarchitekten für ein Thema wie das „Erleben von Landschaftlichkeit“ wird man dann erzielen können, wenn man räumliche Situationen perspektivisch untersucht. Unter „Perspektive“ ist der vorwissenschaftliche individuelle Zugang zu unserer Welt zu verstehen, den Entwerfer und Planer in der Regel einnehmen, wenn sie über ihre Arbeit vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und antizipatorischer Erwartungen sprechen. Dazu zählen vollzogene Sichtweisen des Gestaltens und des Empfindens landschaftlicher Umgebungen. Damit werden persönliche Haltungen angesprochen, denen wir methodologisch zu entsprechen hatten. Zugleich mussten aber auch die Forscher sich „perspektivisch“ verhalten, um den Gestaltern und den Besuchern pragmatisch eingestellte Anreger und Zuhörer ihrer Geschichten sein zu können. Wir denken, mit unserem Projekt nachgewiesen zu

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haben, dass solche lebensweltlichen Perspektiven analytisch aussagekräftig sind und deren Untersuchung zu einem wissenschaftlichen Ertrag führen werden. Eine weitere methodologische Entscheidung war zu treffen, als uns unsere Forschung vor die Frage brachte: Wie aber kommen erleben und erfahren zusammen? Vor allem der professionell geschulte und eingestellte Architekt und Landschaftsarchitekt weiß in der Regel wenig darüber, was für ein Geschehen „das Erleben von Landschaftlichkeit“ ist und wie er sich zu diesem Geschehen bewusst verhalten kann. Wie müsste eine Architekturtheorie aber konkret fragen, damit der Architekt und Landschaftsarchitekt sich in eigenen Situationen des Entwerfens und Gestaltens von Erlebnissen besser orientieren kann? Architekturtheorie, so ihr Selbstverständnis1 , will für Orientierungswissen2 jener Berufe sorgen, und muss plausibel machen, was ein Architekt überhaupt darüber wissen kann. Begriffe wie Atmosphäre, Stimmung, Erleben kursieren seit Jahren in Slogans der Architektenwelt. Damit benennen sie möglicherweise etwas, das nun verstärkt in die wissenschaftliche Aufmerksamkeit gehoben gehört. Genauer besehen, haben wir es hier zunächst mit Phänomenen der Architekturkritik zu tun, die determinierbare Eigenschaften an Architekturen (allgemeiner: Artefakten) vermissen oder entdecken. Aber Orientieren und Navigieren in Thematiken des „räumlichen Erlebens“ sind schon fehlgeleitet, wenn sie Architektur und Landschaft von den leiblich-räumlichen Erlebens- und Erfahrensmöglichkeiten der Menschen abschneiden. Wenn Atmosphären, Stimmungen, Erlebnisse keine Ding-Eigenschaften einer Architektur sind, was sind sie dann? Das wollten wir herausbekommen und dafür musste die Architektur bzw. Landschaft erst „ver-lebensweltlicht“ werden, nämlich in den Geschichten sowohl der Entwerfer als auch der Besucher platziert werden. In Geschichten ist Jedermann immer verstrickt, wie Wilhelm Schapp3 herausgefunden hat: „Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter.“4 Insofern prägen Geschichten jedes menschliche Dasein. Ihre Inhalte müssen aber im Denken und Sprechen auch benannt und anderen mitgeteilt werden können, damit sie helfen, die jeweilige Identität der darin Verstrickten gehaltvoll aufzubauen. Wenn niemand sie hörbar macht, bleiben sie verborgen und eben ungehört. Die Architekturtheorie ihrerseits muss immer wieder versuchen, diese „geschichtlichen“ Ebenen des qualitativen „Hier und Jetzt des Erlebens“ zu erreichen und zu Gehör zu bringen. Dies haben wir in unserem Projekt durch offene Gespräche mit Gestaltern und Besuchern beispielhaft versucht. Was die Architekturkritik möglicherweise als ihre Entdeckung feiert, wussten Bewohner immer schon: Es kann an einem Ort gemütlich oder kalt, anzie1 | Vgl. Hahn, Architekturtheorie, 2007. 2 | Vgl. Mittelstraß, Maß, 2003. 3 | Schapp, Geschichten, 1985. 4 | Schapp, Geschichten, 1985, S. 1.

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hend oder trostlos sein. Was vielleicht neu ist, ist die Behauptung der Architekturkritik, solche räumlichen Qualitäten ließen sich vor den Richterstuhl der Ästhetik ziehen, um sie dort zu verhandeln. Die architekturtheoretische Methodologie muß dieser Wendung widersprechen. Eine Ästhetik der Architektur, wie sie in den meisten Architekturkritiken vorgeführt wird, basiert allein darauf, das ästhetische Objekt zu betrachten. Ein so gewonnener Augeneindruck wird dem Architekten mitgeteilt: Eine kleine Welt aus Sender und Empfänger. Dem gegenüber interessieren wir uns für Erfahrungen mit Architektur und Landschaft, die aus einem pragmatischen Umgang in Zusammenhängen des Erlebens und Gebrauchens resultieren. Solchem Umgang liegen stets Ausrichtungen des Interessierens, Bewertens, Erwartens usw. zugrunde. Architekturtheorie versucht, diese vorwissenschaftlichen Kenntnisse, wie oben erläutert und im Projekt durchgeführt, zu bergen und die Entwerfer und Planer darin zu orientieren, worauf nämlich Umgang und Gebrauch in der Welt der Handelnden abzielen. Architekturtheoretische Orientierung ist das Bekannt- und Vertrautmachen von Architekten und Planern mit den entsprechenden Geschichten, die davon handeln, was sich aus der Perspektive des Erzählers zugetragen hat, als er sich mit der Entwurfsaufgabe Erlebnislandschaft beschäftigte oder als er/sie sich in und durch diese Erlebnislandschaft bewegte und was ihm/ihr dabei zustieß. Damit gehen Theorie und Praxis ein enges, sich gegenseitig kritisch beäugendes und von einander lernendes Verhältnis ein. Theorie versucht zu verallgemeinern, was sich an konkreten Einzelfällen erwiesen hat. Verallgemeinern heißt hier: Prinzipien des Gebrauchs entdecken. Der Gebrauch zeigt sich stets am Beispiel, und Beispiele bringen denjenigen, dem sie gegeben werden, auf etwas: Wie jedermann „Begriffe“ der Umgangssprache (erleben, Landschaft, gestalten) in seinen Anwendungen beherrscht und was diese Beherrschbarkeit als ein soziales (mitweltliches) Können auszeichnet. „Wer einen Begriff verstanden hat, der kann mit ihm arbeiten. Es gibt kein anderes Kriterium für das Verständnis eines Begriffs“5 . Unter einem Prinzip verstehen wir dann die situationsadäquate Anwendung einer „Regel“, nämlich das Können des Gebrauchs eines umgangssprachlichen Ausdrucks. Beispiele „entfalten ein zuvor nur unausdrückliches Verständnis des Allgemeinen“6. Die Einzelfälle, die unsere Forschung beispielhermeneutisch untersucht, sind aber nicht die Leiter, die man nach erfolgreichem Ein- und Aufstieg in den Turm von sich wirft, da sie nicht mehr benötigt wird. Im Gegenteil, die Qualität der Theorie ist ganz und gar abhängig von der Reichweite und Plausibilität der Beispiele, auf die sie sich stützt und an denen sie etwas aufweist und zeigt. Man kann das Prinzip, auf das uns Beispiele bringen, nicht von den Anwendungen in den Sprachspielen absondern, weil gerade die Breite der tatsächlichen Wortverwendungen das Allgemeine ihrer 5 | Buck, Lernen, 1989, S. 203. 6 | Buck, Lernen, 1989, S. 204.

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Bedeutung zum Ausdruck bringt: „Das Allgemeine ist hier nur faßbar in den konkreten Besonderheiten seiner Abwandlungen.“7 In jedem Beispiel wandelt sich nicht nur der erzählte Fall gegenüber seinem Vorgänger; ebenso wandelt sich auch das Allgemeine, insofern es fallweise eine wieder „neue“ Facette seines Gebrauchs zeigt.8 Die Beispiele sind nicht beliebige oder identische Fälle desselben (Allgemeinen), sondern verschieden und zugleich, unter einer bestimmten Hinsicht, aber auch ähnlich. In den folgenden Punkten sollen einige der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den von uns in dieser Weise als Beispiel untersuchten Interviews mit Gestaltern und Besuchern aufgezeigt werden.

3. B ILDHAF TES E NT WERFEN UND R ÄUMLICHES E RLEBEN ? P ROBLEME MIT DEN VERSCHIEDENEN W EISEN , IM R AUM ZU SEIN Eine der zentralen Fragen des Projektes zielte darauf zu klären, wie die Gestalter vorgehen, wenn sie Räume entwerfen, planen und umsetzen, die explizit dafür gemacht werden, Erlebnisse zu generieren, also Gefühle und Stimmungen hervorzurufen. In den bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Thema innerhalb der architekturbezogenen Fachwelt wird die Frage der Herstellbarkeit von Atmosphären bereits diskutiert und trotz Zweifel und gesehenen Grenzen letztlich bejaht.9 Diese Haltung liegt auch bei den von uns befragten Gestaltern und Gestalterinnen vor. Allerdings sehen sie sich bei den Versuchen, Atmosphären zu entwerfen trotz verschiedener Entwurfstechniken alle mit einem grundlegenden Problem konfrontiert. Die gestalterische Arbeit bringt sie in ein Gegenüber-Sein zum entworfenen Raum, das Erleben aber wird durch das In-Sein in diesem entworfenen Raum entstehen. Das Stehen im Gegenüber zum entworfenen Raum macht diesen zu einem zweidimensionalen Bild, zu dem sich ein Verhältnis des Betrachtens einstellt. Das Erleben im entworfenen Raum dagegen umfasst, selbst im Zentrum dieses Raumes und von ihm 7 | Buck, Lernen, 1980, S. 205. 8 | „Was z. B. der verbale Ausdruck ‚spielen‘ bedeutet, das läßt sich nicht an sich, als ideale Einheit der Bedeutung, angeben; es wird bewußt als Regel des analogen Abwandlungen des Worts in seinen situationsbezogenen Verwendungen, und die Bewußtheit der Regel besteht nur darin, daß man mit dem Wort analoge Situationen ‚trifft‘, nicht subsumiert: Ob etwa mehrere Leute ‚ein Spiel spielen‘, oder ob der eine ‚mit dem anderen spielt‘ und was dabei ‚nur gespielt‘ ist, was bei einer Unternehmung alles mit ‚hereinspielt‘ usw.“ Buck, Lernen, 1989, S. 206 f. 9 | Zur Diskussion der Literatur zum Thema Erleben und Atmosphäre innerhalb architekturbezogener Diskurse s. den Beitrag von Stefan Nothnagel „Zwischen ‚Klischee‘ und ‚Möglichkeiten‘. Die Gestalter im Vergleich“ in diesem Band.

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umschlossen zu sein. Bei genauerer Betrachtung aber wird deutlich, dass das Entwerfen durchaus nicht nur im Gegenüber zum Entwurf, im Bildlichen also verharrt. So entwirft z.B. Herr Rudolf10 zum einen „Klischees“, die er als allgemein bekannte, mit Gefühlen verbundene Bilder versteht (z.B. Pyramide, Burg).11 Für die Ausarbeitung dieser Bilder aber geht er im Geiste immer wieder in den vorgestellten Landschaftsraum, um die Wirkungen seines bildhaften Entwurfes an sich selbst als im Raum seiend zu überprüfen. Das Entwerfen des Bildes geschieht so einerseits im Gegenüber, andererseits wird es durch imaginiertes Raum-Erleben korrigiert. Herr Schrader begibt sich für seine Entwürfe stets selbst in den Raum, für den er etwas entwerfen soll.12 Im Fall der „Kulturinsel Einsiedel“ hat er diesen vor der Haustür. Dort ist es ihm möglich, seine bevorzugte Weise des Entwerfens, das „Gestalten pur“, in bildhauerischer Manier direkt im Raum seiend zu praktizieren. Für Auftragsarbeiten aber reist er an den Ort, an dem seine Gestaltungen später stehen sollen, um einen Eindruck von diesem zu gewinnen. Die Entwürfe selber entstehen dann allerdings nicht mehr am Ort selbst, sondern in der Imagination bzw. am erstelltem Modell von diesem Ort. Sowohl in der Vorstellung als auch am Modell bedarf es dann eines zusätzlichen Antriebes, den Entwurf nicht im Gegenüber als Bild zu sehen, sondern sich in seine Räumlichkeit zu versetzen. Darauf wird allerdings besonderen Wert gelegt. Herr Schrader arbeitet u.a. auch deshalb mit Modellen und nicht mit Plänen, weil sich an ihnen als räumlichen Gebilden leichter die Wirkung des Entwurfes zeigt. Noch deutlicher wird das Problem des Entwerfens für das Erleben in den Aussagen der Landschaftsarchitekten.13 Sie unterscheiden zwischen einem professionellem und einem laienhaften Erleben. Dabei nehmen die befragten Landschaftsarchitekten im professionellem Erleben den Raum entweder als Bild oder als von Flächen und Linien gegliedert und damit abstrahiert von seiner Fülle wahr. Um dennoch einen Entwurf zu fertigen, in dem auch die Besucher mit ihrem laienhaften Erleben sich wohlfühlen, versucht der Landschaftsarchitekt Olaf beim Entwerfen immer wieder, auf das laienhafte Erleben „zurück zu zoomen“ bzw. zwischen beiden Weisen, im Raum zu sein, zu „switchen“, um die Wirkung seines Entwurfes auf spätere Nutzer 10 | Alle Namen der hier im Folgenden genannten Personen wurden anonymisiert. 11 | Vgl. den Aufsatz von Jörg Schröder „Belantis: Erlebnisgestaltung zwischen Funktion und Emotion. Interpretation des Interviews mit dem Architekten Herrn Rudolf“ in diesem Band. 12 | Vgl. den Aufsatz von Stefan Nothnagel „‚Weil sie hier ’n Stück Oase vorfinden.‘ Interpretation des Interviews mit dem Gestalter des Freizeitparks ‚Kulturinsel Einsiedel‘“ in diesem Band. 13 | Vgl. den Aufsatz von Heiko Lieske „Freiräume für das Erleben? Zur Entwurfspraxis von Landschaftsarchitekten“ in diesem Band.

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am eigenen Leibe zu überprüfen. Auch die Landschaftsarchitektin Sabine berichtet von der Differenz zwischen laienhaftem und professionellem Erleben. Bei ihr scheint aber der Wechsel zwischen beiden ein eher fließender zu sein. Eine klare Trennung sieht dagegen der Landschaftsarchitekt Michael zwischen seinem, den Entwurf prägenden professionellen Blick auf die Landschaft als Bild und dem Erleben der Besucher, die nach Orten suchen, an denen sie sich wohlfühlen. Sie begeben sich also in den Raum hinein, während Michael als Gestalter sich im Gegenüber zur Landschaft befindet, wenn er sie als Bild zu sehen vermag. Abgesehen von der Haltung Michaels kann also eine einfache Gegenüberstellung von bildhaftem Entwerfen und räumlichen Erleben keine adäquate Beschreibung des Entwerfens von Erlebnislandschaften liefern. Vielmehr zeigt sich, dass das Entwerfen zwar im Gegenüber zum Raum geschehen kann, aber nicht in dieser Haltung verbleiben muss. Neben dem bildhauerischen Gestalten im Raum bringen Imagination, räumlicher Ersatz durch Miniaturen (Modelle), Perspektivwechsel („switchen“ ) und Rückgriff auf Erfahrungen die Gestalter aus dem reinen Gegenüber in ein Zwischenreich vorgestellten Im-Raum-Seins und damit in das Erleben des vorgestellten Raumes. Dieses Tun können die befragten Gestalter und Gestalterinnen beschreiben und geben es als Möglichkeit an, Wirkungen ihrer Gestaltungen vorwegnehmen zu können und so zu einem gelungenen Entwurf zu finden. Inwieweit diese Techniken tatsächlich dazu führen, den gestalteten Raum wie der zukünftige Nutzer zu erleben, hängt für sie nur davon ab, wie gut es gelingt, den professionellen Blick abzulegen. Allerdings findet sich beim Landschaftsarchitekten Michael auch die Haltung, die durchaus wahrgenommene Differenz zwischen dem Erleben der Gestalter und dem der Nutzer nicht im Entwurf überbrücken zu wollen. Für ihn sollte der professionellen Blick über die Qualität des Entwurfs entscheiden, und nicht die laienhafte Perspektive derer, die ihn in Gebrauch nehmen.

4. P ROFESSIONELLES „G ESTALTUNGSGEFÜHL“ UND „ ABSTR AHIERT [...] BEURTEILEN “. D IFFERENZEN IN DER V ERBINDUNG VON E THIK UND Ä STHE TIK Es zeichnen sich also unter den befragten Gestaltern unterschiedliche Positionen in Bezug auf die Zielsetzung ihrer Entwürfe bzw. die Frage, wann ein Entwurf gelungen ist, ab. Gleichviel aber, ob dem gesuchten Erleben der Nutzer gedient werden soll oder nicht, fällt es schwer, die Kriterien für dieses Gelingen anzugeben. Für die einen sind es am Ende Intuition und Gefühl, die ihre Entscheidungen als Gestalter bestimmen. So nennt Herr Rudolf das Finden der richtigen Gestaltung einen „intuitiv, schöpferischen Prozess“, für den es „keine Anleitung“ gebe. Er muss die Entwürfe imaginativ durchleben, um zu wissen, ob sie

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gut sind. Auch Herr Schrader urteilt emotional über die richtige Gestaltung. Er begründet seine Entscheidungen letztlich mit seinem „Gestaltungsgefühl“, das ihm sagt, ob etwas gut gemacht ist und passt. Der Landschaftsarchitekt Michael dagegen schreibt es den Besuchern zu, emotional ihre Urteile zu fällen, während er als Landschaftsarchitekt von seinen Gefühlen Abstand nehmen kann und die Landschaft „abstrahiert“ zu sehen vermag. Für ihn ist die Beurteilung von Gestaltungen vorwiegend eine intellektuelle Angelegenheit. Er geht davon aus, dass Landschaftsarchitekten im Unterschied zu Besuchern Landschaften „abstrahiert [..] beurteilen“. Das Passende ist dann das, was sich in die abstrakten Ordnungen, in denen er Landschaftsgestaltungen wahrnimmt, einfügt, gleichviel, ob es für Laien nachvollziehbar und angenehm ist. Gerade an seinem Beispiel wird deutlich, wie das Urteil über gelungene Gestaltungen von der Haltung des Urteilenden gegenüber dem beurteilten Gegenstand abhängt. Michael möchte eine Landschaftsgestaltung, die abstrakten Prinzipien folgt. Diese scheint ihm die richtige zu sein. Dafür spricht, das diese Meinung von einem Teil seiner Profession vertreten wird. Ob die Gestaltung dann noch ihren Nutzen erfüllt, ist für ihn zweitrangig. Die Landschaftsgestaltung erhält damit den Status eines Kunstobjektes, dessen Ausdruck nicht gefallen muss. Herr Rudolf dagegen sucht nach Gestaltungen, die die Bedürfnisse der Besucher erfüllen. Er sieht dabei dezidiert von seinen eigenen Vorlieben ab, versteht sich als Dienstleister und die Architektur als eine dienende. Er schafft seine Gestaltungen für andere, die auch andere Bedürfnisse und Vorlieben haben. Wieder anders versteht Herr Schrader sein Tun. Er gestaltet so, wie er es selbst am liebsten vorfinden würde, wäre er ein Besucher, und geht davon aus, dass diese in gleicher Weise wie er empfinden. So fußt die eigentlich ästhetische Gestaltungsentscheidung in einer ethischen Haltung, der Haltung, die ein Gestalter zu den Nutzern seiner Gestaltungen einnimmt. Dabei scheint der Versuch, den Nutzern zu entsprechen, zugleich auch verbunden mit dem Versuch, ihr Erleben im Entwurf vorweg zu nehmen und die gestalterischen Entscheidungen dann aus dem Gefühl zu treffen.

5. „S CRIBBELN “ UND „M ODELLBAUEN “. F ORMEN DER K OMMUNIK ATION ÜBER A TMOSPHÄRISCHES IM E NT WURFS - UND B AUPROZESS Um den gelingenden Entwurf kämpft jedoch oft nicht ein Gestalter allein, sondern eine Gruppe von Fachleuten. Damit wird es notwendig, die eigenen Vorstellungen von der zu bauenden Gestalt anderen mitzuteilen und verständlich zu machen. Insbesondere wenn die Entscheidungen an einem „Gestaltungsgefühl“ hängen, stellt sich die Frage, wie dieses Gefühl vermittelt, wie über es kommuniziert werden kann.

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Sowohl Herr Rudolf als auch Herr Schrader arbeiteten während des Entwurfs von BELANTIS bzw. der „Kulturinsel Einsiedel“ mit anderen Gestaltern, die Entwürfe ausarbeiteten, und Handwerkern, die diese umsetzten. Dafür benutzen sie auch Methoden mit einem gewissen Potential, Atmosphärisches zu vermitteln. So greift Herr Rudolf gerne zu Stegreifzeichnungen, die in ihrer Offenheit für Ausdrucksqualitäten eher einen emotionalen Eindruck vermitteln als z. B. die technische Zeichnung einer Ansicht. Auch das Modell, mit dem Herr Schrader gerne arbeitet, kann je nach Machart einen Eindruck von den zu erwartenden Qualitäten der Gestaltung geben und ermöglicht zugleich leichter, sich in den Raum des Entwurfes hinein zu versetzen. Nicht zuletzt transportiert auch eine Sprache, die auf gemeinsame Erfahrungen zurückgreift, die mit diesen Erfahrungen verbundenen atmosphärischen Qualitäten. Herr Schrader kann im Umgang mit seinen langjährigen Mitarbeitern auf diesen gemeinsamen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Wenn er von einem „Totempfahl“ spricht, weiß der andere, was den „Totempfahl“ zum (eindrucksvollen) „Totempfahl“ macht, weil ein solcher bereits schon einmal gemeinsam entworfen und in seiner Wirkung empfunden wurde. Jenseits der Rede über Atmosphärisches in Arbeitsgruppen wird auch in der Kommunikation unter Fachkollegen und mit den Bauherren Wert auf die Vermittlung atmosphärischer Eindrücke gelegt. Der Landschaftsarchitekt Kai spricht davon, dass es innerhalb der Zunft der Landschaftsarchitekten nötig wäre, „was Geiles“ abzugeben. Offensichtlich hat er dabei eine Vorstellung davon, was „geil“ wäre, aber seinen Beschreibungen lässt sich nur entnehmen, dass dies bildlich und nicht in Diagrammen und Plänen möglich ist. Ein Bild aber ist, wie schon oben angemerkt, offener für die Vermittlung von Eindrücken als Pläne. Auch auf der Seite der Bauherren nimmt Kai wahr, dass bildliche Darstellungen, die mit Dingen angereichert sind, über die der Landschaftsarchitekt nach der Realisierung des Bauvorhabens gar nicht verfügen kann (Wolken, Vögel, Menschen) und die atmosphärische Eindrücke vermitteln, auf Zuspruch stoßen. Eine Vorliebe von Landschafts-Architekten für die bildliche Präsentation und der von ihnen wahrgenommene Wunsch der Bauherren nach solchen Darstellungen verweist damit auf die Rolle, die das Atmosphärische für die Einschätzung des Entwurfes sowohl unter Fachkollegen als auch im Umgang mit den Bauherren gewonnen hat.

6. „E INDRUCK-VON “ UND „S O -W IRKEN “. A TMOSPHÄRE ALS UNMIT TELBARE V ERBINDUNG VON M ENSCH UND R AUM Aber kann so die Atmosphäre eines Bauwerkes oder Landschaftsraumes im Entwurf und dessen Darstellungen vorweggenommen werden? Lässt sich die

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Atmosphäre von Gestaltungen tatsächlich mit Hilfe solcher Methoden planen? Wie die Interpretation der Interviews mit Besuchern und Besucherinnen zeigt, können gleiche Bauten von verschiedenen Personen atmosphärisch unterschiedlich erlebt werden. Die unterirdischen Gänge in Einsiedel werden z.B. von Herrn Thiel als „Tunnelsystem“ wahrgenommen und betreten, ohne dass er sich überwinden muss. Herr Reifert fühlt sich dagegen an Keller erinnert, in denen er sich nicht wohlfühlen würde. Die erlebte Atmosphäre scheint also nicht durch die materiell-physisch vorhandene Gestaltung festgelegt. Auch die Diskussion theoretischer Ansätze zur Klärung dessen, was Atmosphären sind, macht deutlich, dass die Vorwegnahme von Atmosphären im Entwurf nicht möglich ist.14 Atmosphären entstehen durch das So-Wirken z.B. einer Landschaft, das zugleich ein bestimmter Eindruck-Von dieser Landschaft ist. So wie das Geweckt-Werden aus dem Schlaf und das Wach-Werden nicht getrennt werden können, so sind die Wirkung einer Gestaltung und der Eindruck von ihr nicht voneinander zu lösen und auch nicht als ein Nacheinander von Vorgängen zu denken. Vielmehr steckt in der Architektur das Potential, etwas zu wecken, das aber nur dann Wirkung zeigt, wenn sich der betreffende Mensch wecken lässt, bzw. wach wird durch den Eindruck, den er von der Architektur gewinnt. Damit ist die Wirkung der Architektur vom Eindruck, den ein Mensch von ihr hat, nicht zu trennen. Eine solche Wirkung im Entwurf und dessen Realisation mit Sicherheit vorwegnehmen zu wollen, ist unmöglich, weil sie erst im Zusammentreffen von Mensch und Architektur entsteht.

7. „A BTAUCHEN “ IN A TMOSPHÄREN . E RLEBNISL ANDSCHAF TEN ALS B EISPIEL FÜR DAS E RLEBEN VON A RCHITEK TUR Eben dieses Zusammentreffen von Mensch und Architektur im Erleben lässt sich am Beispiel von Erlebnislandschaften in besonderer Weise studieren. Wie die Auswertung der Interviews mit Besuchern und Besucherinnen zeigt, suchen sie während ihrer Aufenthalte gerade in jene Art, im Raum zu sein, zu gelangen, die mit dem Begriff der Atmosphäre oder aber auch als Sein im gestimmten Raum beschrieben wird.15 Dabei pflegen sie individuelle Vorlieben, die in ihren Biografien und Lebensformen verwurzelt sind. Während Frau Arnheim beim „Durchlaufen“ und „Schauen“ lediglich eine Offenheit für Stimmungshaftes entwickelt, gelingt es Herrn Thiel im „Sich-Treiben-Lassen“ in eine Art schwere14 | Vgl. den Aufsatz von Achim Hahn „Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären“ in diesem Band. 15 | Vgl. den Aufsatz von Sigrid Anna Friedreich „Auf der Suchen nach einer anderen Weise, da zu sein. Eine Studie über räumliches Erleben in Erlebnislandschaften“ in diesem Band.

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loses Gleichgewicht zwischen Stimmung, Anschauung und Tun zu gelangen. Frau Zeigner möchte dagegen beim „Abtauchen-Können in eine Scheinwelt“ ganz im gestimmten Raum verweilen, wohingegen Frau Wallner durch die Umgebung angeregt wird, sich nicht nur wie ein Kind zu fühlen (in die Stimmung der Kindheit zu fallen), sondern auch sich so zu verhalten und aktiv zu werden. Auch in der Art der Beschreibungen der Erlebnisse finden sich Hinweise darauf, dass das Atmosphärische der gestalteten Umgebung einen wesentlichen Anteil am Erlebnis hat bzw. sogar in dessen Zentrum stehen kann. Ein Park als ganze Landschaft, ein Arrangement von Gebäuden, eine einzelne Wegausführung mutet die Besucher an, weckt Erinnerungen an frühere Erfahrungen, stößt Assoziationen an und versetzt in andere Räume und Zeiten, sei es auch nur für Augenblicke. Dabei wirkt die gestaltete Umwelt auf die Befragten in einer bestimmten Weise – sie haben einen bestimmten Eindruck von ihr, z.B. den Eindruck der Weite (Frau Arnheim) oder den der Stimmigkeit (Frau Zeigner), den Eindruck, unterirdische Gänge bilden ein System (Herr Thiel) oder ein Labyrinth (Frau Zeigner), den Eindruck, eine Landschaft habe etwas „Indianerforthaftes“ oder sei wie das Land der Hobbits. Mit diesen Eindrücken verbinden sich jeweils Stimmungen und Gefühle, die manchmal ganz im Vordergrund des Erlebens stehen und bewusst werden, oft aber auch nur im Hintergrund anwesend sind und einen gefühlsmäßigen Rahmen geben. So verändern die vorgefundenen Gestaltungen das Befinden der Besucherinnen und Besucher. In der Begegnung mit Landschaft und Architektur in den Parks lassen sie sich berühren von Wirkungen, suchen sie Eindrücke, die zu besonderen Gefühlen und Stimmungen führen, die ihnen als besondere Erlebnisse erinnerbar bleiben. Was so in Erlebnislandschaften gesucht wird, geschieht jenseits davon im Alltag ganz ungesucht. Der gestaltete Raum, die Baulichkeiten unserer Umwelt wirken auch im Alltag auf uns und hinterlassen Eindrücke, die unsere Befindlichkeit berühren, Spuren in unseren Stimmungen und Gefühlen hinterlassen. Auch wenn wir nicht danach suchen, in Stimmungen abzutauchen, werden wir doch von der baulichen Umwelt stimmungshaft berührt. So zeigt sich am Beispiel der Erlebnislandschaften nicht nur, dass eine Reihe von Menschen Sehnsucht nach einem Aufgehobensein im gestimmten Raum haben, und sei er auch inszeniert. Es wird zugleich auch deutlich, dass das stimmungshafte Erleben der räumlichen Umwelt kein Phänomen von Erlebnislandschaften ist, sondern unseren Alltag durchzieht. Hier bildet es den Hintergrund unserer aktuellen Befindlichkeit und begleitet uns durch die Tage. Es scheint darum ganz angemessen, die Frage nach der Gestaltung unserer alltäglichen Umwelt zu stellen. Welchen Prämissen folgt sie? Wem ist damit gedient? Und welche Rolle spielt das Befinden derer, die täglichen Umgang mit dem Gebauten haben (müssen), bei dessen Entwicklung?

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A CHIM H AHN UND S IGRID A NNA F RIEDREICH

L ITER ATUR Buck, Günther (1989): Lernen und Erfahrung. Darmstadt. Hahn, Achim (2007): Architekturtheorie. Wien. Landgrebe, Ludwig (2010): Der Begriff des Erlebens (1929-1932). Würzburg. Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens. Frankfurt/M. Mittelstraß, Jürgen (2003): Das Maß des Fortschritts. Mensch und Wissenschaft in der Leonardo Welt. In: https://kath.de/akademie/rahner/04Vortraege/01print/inhalt-pdf/_mittelstr-fortschritt.pdf (Zugriff am 10.11.2011). Schapp, Wilhelm (1985): In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. 3. Aufl., Frankfurt/M.

A UTORENVER ZEICHNIS Sigrid Anna Friedreich, M.A., geb. 1966, Studium der Soziologie, Volkskunde und Germanistik an der Georg August Universität Göttingen, wiss. Mitarbeiterin im Projekt „Kindheit im Nationalsozialismus“ am Seminar für Volkskunde in Göttingen, wiss. Mitarbeiterin im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ an der Fakultät Architektur der TU Dresden, Doktorandin der Fakultät Architektur der TU Dresden Achim Hahn, Prof. Dr. habil., geb. 1951, Studium der Architektur, Stadt- und Regionalplanung an der RWTH Aachen (Dipl. Ing), Promotionsstudium Soziologie an der Universität Oldenburg (Dr. rer. pol.), wiss. Assistent am Institut für Soziologie der TU Berlin (Habilitation), Professur für Soziologie an der Hochschule Anhalt (FH), seit 2001 Professur für Architekturtheorie und Architekturkritik an der Fakultät Architektur der TU Dresden, vielfältige Forschungstätigkeit, Leiter des Projektes „Erlebnislandschaft – Erlebnislandschaft?“ Buchveröffentlichungen zuletzt: „Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen“ (Wien 2008) Ute Keßler, Dipl.-Ing., Studium der Landschaftsarchitektur an der TU Dresden, Mitarbeit in verschiedenen Landschaftsarchitekturbüros, freiberufliche Tätigkeit als Dipl.-Ing. für Landschaftsarchitektur, wiss. Mitarbeiterin im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ an der Fakultät Architektur der TU Dresden Heiko Lieske, Dr.-Ing., geb. 1969, Studium der Landschaftsarchitektur an der TU Dresden und am Edinburgh College of Art , vielfältige Mitarbeit in Forschung und Lehre an der TU Dresden, freiberufliche Tätigkeit als Freiraumplaner in Dresden (Tätigkeitsbereiche Objektplanung, Partizipation, Gartendenkmalpflege, Umweltbildung), Promotion an der TU Dresden (Landschaftsarchitektur), wiss. Mitarbeiter im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ an der Fakultät Architektur der TU Dresden Stefan Nothnagel, Dipl.-Ing., Studium der Architektur an der TU Dresden, wiss. Mitarbeiter im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ an der Fakultät Architektur der TU Dresden, Tätigkeit in sächsischen Architekturbüros David Pinzer, M.A., geb. 1980, Studium der Philosophie an der TU Dresden, wiss. Mitarbeiter im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ an der Fakultät Architektur der TU Dresden, freiberuflicher Fotograf in Dresden

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E RLEBNISL ANDSCHAFT – E RLEBNIS L ANDSCHAFT ?

Jörg Schröder, Dipl.-Ing., Studium der Architektur in Wuppertal, Aachen und Berlin, Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros in Deutschland und den Niederlanden, wiss. Mitarbeiter im Projekt „Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft?“ an der Fakultät Architektur der TU Dresden, wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl Raumgestaltung der Fakultät Architektur der TU Dresden, Doktorand der Fakultät Architektur der TU Dresden

A BBILDUNGSVER ZEICHNIS Ute Keßler: Landschaftskritik des Vergnügungsparks BELANTIS: Abb. 1: Andreas Fuchs, 2011 Abb. 2-4; 6-8; 10-15; 17-19: Ute Keßler Abb. 5; 9; 16: Jörg Schröder Heiko Lieske: Landschaftsanalyse des Erlebnisparks „Kulturinsel Einsiedel“: Abb. 1; 4: Andreas Fuchs, 2011 Abb. 2; 3; 5-7; 9-15; 17-18; 20: Heiko Lieske, 2010 Abb. 8; 16; 19: Stefan Nothnagel, 2010

Architekturen Eduard Heinrich Führ DIE MAUER Mythen, Propaganda und Alltag in der DDR und in der Bundesrepublik Dezember 2012, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1909-6

Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes 2011, 366 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1551-7

Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.) Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes Dezember 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1568-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Architekturen Sonja Hnilica Metaphern für die Stadt Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie Oktober 2012, 326 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2191-4

Sonja Hnilica, Markus Jager, Wolfgang Sonne (Hg.) Auf den zweiten Blick Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen 2010, 280 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1482-4

Joaquín Medina Warmburg, Cornelie Leopold (Hg.) Strukturelle Architektur Zur Aktualität eines Denkens zwischen Technik und Ästhetik Januar 2012, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1817-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Architekturen Anita Aigner (Hg.) Vernakulare Moderne Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung 2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1618-7

Ekkehard Drach Architektur und Geometrie Zur Historizität formaler Ordnungssysteme März 2012, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2002-3

Alexandra Klei Der erinnerte Ort Geschichte durch Architektur. Zur baulichen und gestalterischen Repräsentation der nationalsozialistischen Konzentrationslager 2011, 620 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1733-7

Tom Schoper Zur Identität von Architektur Vier zentrale Konzeptionen architektonischer Gestaltung 2010, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1587-6

Michael Falser, Monica Juneja (Hg.) Kulturerbe und Denkmalpflege transkulturell Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2091-7

Julia Gill Individualisierung als Standard Über das Unbehagen an der Fertighausarchitektur 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1460-2

Maren Harnack Rückkehr der Wohnmaschinen Sozialer Wohnungsbau und Gentrifizierung in London Januar 2012, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1921-8

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