Das Verschwinden des Architekten: Zur architektonischen Praxis im digitalen Zeitalter [1. Aufl.] 9783839432525

With the transition from analog to digital in the practice of architectural design, it isn't just the tools that ha

199 99 11MB

German Pages 242 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einführung
I. ANALOGE VORAUSSETZUNGEN
Die Systematisierung der Sensation des Raumes. Raphaels architektonische Repräsentationsmethode und die Mechanisierung des Ruinenzeichnens in der Renaissance
Die Zeichnung als Entwurfswerkzeug. Skizzen und »Modelle« in Michelangelos Architekturzeichnungen
Vom Werk zur Idee. Notizen zum Erstellen und Verstehen einer (jeden) Architektur
II. AUTORSCHAFT UND DIGITALEPRAXIS
Initiator, Geburtshelfer, Regisseur. Tradierte Autorschaftsmodelle im Computational Design
Die Applikation des Computers als »Denkzeug« in parametrischen Entwurfsprozessen, basierend auf Horst Ritteis Design Methodologien. Über den Vergleich analoger und digitaler Entwurfsmethoden
Analoger Blob vs. Digitale Box? Preston Scott Cohen, Valerio Olgiati und das Scheitern in der Architektur
Standardisierung 4.0 in der Architektur
III. AUSBLICKE
Notation und Autorenschaft. Zur wechselvollen Beziehung von Architekt und Architektur
Design Paradigm - Konzept und Zeitlichkeit in der modernen Architektur
Abbildungen
Autorinnen und Autoren
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Das Verschwinden des Architekten: Zur architektonischen Praxis im digitalen Zeitalter [1. Aufl.]
 9783839432525

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Ekkehard Drach (Hg.) Das Verschwinden des Architekten

Architekturen

I Band 31

EKKEHARD DRACH

(HG.)

Das Verschwinden des Architekten Zur architektonischen Praxis

[transcript ]

Im

digitalen Zeltalter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut­ schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages ur­ heberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Überset­ zungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Sys­ temen. Umschlagkonzept Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3252·1 PDF-ISBN 978-3-8394-3252-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter:

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Inhalt

Vorwort

I 7

Einführung

Ekkehard Drach I 1 1 I. A N A LO G E VO RA U S S E TZ U N G E N Die Systematisierung der Sensation des Raumes. Raphaels architektonische Repräsentationsmethode und die Mechanisierung des Ruinenzeichnens in der Renaissance

Rikke Lyngso Christensen I 3 1 Die Zeichnung als Entwurfswerkzeug. Skizzen und »Modelle« in Michelangelos Architekturzeichnungen

Gunnar Schulz 1 49 Vom Werk zur Idee. Notizen zum Erstellen und Verstehen einer (jeden) Architektur

Harmen H. Thies I 75 II. A U T O R S C H A F T U N D D I G I TA L E P RAXI S Initiator, Geburtshelfer, Regisseur. Tradierte Autorschaftsmodelle im Computational Design

Carolin Hötler 1 1 03

Die Applikation des Computers als » Denkzeug« in parametrischen Entwurfsprozessen, basierend auf Horst Ritteis Design Methodologien. Über den Vergleich analoger und digitaler Entwurfsmethoden

Manuela lrlwek 1 1 3 9 Analoger Blob vs. Digitale Box? Preston Scott Cohen, Valerio Olgiati und das Scheitern in der Architektur

Oie W. Fischer 1 1 57 Standardisierung 4.0 in der Architektur?

Gernot Weckherlin 1 1 75 111. A U S B L I C K E Notation und Autorenschaft Zur wechselvollen Beziehung von Architekt und Architektur

Jörg H. Gleiter 1 1 95 Design Paradigm - Konzept und Zeitlichkeit in der modernen Architektur

Angelika Schnell 1 2 1 3 Abbildungen

I 23 1

Autorinnen und Autoren

1 237

Vorwort

Ein Leben in und mit digitalen Welten ist uns heute vertraut und erscheint ganz selbstverständlich. Auch in der Architektur hat das Digitale Einzug gehalten, der Computer das Zeichenbrett ersetzt. Während diese Entwick­ lung sukzessive und eher beiläufig vonstattenging und der Zeitpunkt, an dem der Wechsel vom analogen Zeichnen zum digitalen vollzogen war, nicht mehr so genau erinnerbar ist, sind die Auswirkungen auf die Praxis des Entwerfens doch gravierend. Neben der technischen und operativen Seite dieser Entwicklung, die be­ reits intensiv diskutiert wird, stellen sich j edoch ganz wesentliche Fragen hinsichtlich der Rolle und der Position, die die Architekturschaffenden selbst innerhalb der veränderten Produktionsbedingungen einnehmen. Der Ent­ wurfsprozess, der im Analogen kontinuierlich von ersten Ideen, über Skizze, Zeichnungen und Modelle zum Proj ekt führte, sieht sich dahingehend verändert, als sich im Digitalen diese verschränken. Plan, Modell, 2D- und 3D-Darstellung sind in den Datensätzen der Entwurfsprogramme synchron verfügbar. Das Verhältnis von Zeichnung und Bild bzw. Modell und seinen Repräsentationen ist somit neu zu justieren. Ebenso ist die Stellung, die die Architektinnen und Architekten im Entwurfsprozess nun einnehmen, neu zu verhandeln. Zum einen ermöglichen parametrische Programmierung und algorithmengesteuerte Entwurfsrouti­ nen, Formen von bisher ungeahnter Komplexität zu generieren, andererseits bedeutet bereits die einfache Unterstützung in der Visualisierung einen Ver­ lust von Kontrolle über den Entwurfsprozess. Das tradierte Modell vom Architekten als Autor, der j eden Arbeitsschritt bestimmt, diesen bewusst und gemäß seinen Intentionen formt, erscheint obsolet. Architektur ist in ihrem Entstehen nicht mehr allein dem Gestaltungswillen Einzelner unterworfen,

8I

DAS V E R S C H W I N D E N D E S A RC H I T E K T E N

Gestaltungsprozesse werden zunehmend komplex und die Formen wie die Dinge, die entstehen, erweisen sich als autonom, der Verfligungsgewalt ehemals handlungsmächtiger Autoren entzogen. Dies war auch Thema der Tagung Das Verschwinden der Architekten die vom 03 .-04.07.20 1 4 an der Universität Innsbruck stattfand und aus der der vorliegende Band hervorging. Diese Tagung wurde in Kooperation des Arbeitsbereichs für Baugeschichte und Denkmalpflege der Universität Inns­ bruck mit dem Netzwerk Architekturwissenschaft durchgetlihrt. Mein besonderer Dank gilt hier Prof. Klaus Tragbar und den Mitarbeitern am Arbeitsbereich, die die Tagung erst ermöglichten, ebenso Doris Hai Iama, die von Seiten des Netzwerks Architekturwissenschaft die Tagung inhaltlich und organisatorisch betreute. Allen voran sei an dieser Stelle herzlich den Auto­ ren und Autorinnen gedankt. Die Beiträge im Buch diskutieren die Frage, was die Suspendierung von Autorschaft im Entwurf flir die Architektur konkret bedeuten könnte. Inwie­ weit ist die Verlagerung der schöpferischen Initiative weg vom Subjekt, hin­ ein in die Ebene der Objekte als Chance oder auch als Verlusterfahrung zu begreifen. Kann oder müsste innerhalb momentan stattfindender Bemühun­ gen um Objektivierung, Formalisierung und Automatisierung der Entwurfs­ vorgänge, das Verhältnis einer also abstrakten, unanschaulichen und prozes­ sorientietien Praxis der Architekturproduktion zu deren formalem Erschei­ nen neu verhandelt werden? Der Band versucht Positionen aus Architekturtheorie, entwerfender Praxis und ausdrücklich der Baugeschichte zusammenzubringen. Im Rück­ griff auf historische Obj ektivierungs-, Formalisierung- und Systematisie­ rungsstrategien des architektonischen Entwerfens soll die aktuelle Diskussion mit Perspektiven vordigitaler Theorie und Praxis ergänzt werden. Handelt es sich bei gegenwärtigen Entwurfspraktiken tatsächlich um et­ was originär Neues oder finden sich bereits im Vordigitalen vergleichbare Obj ektivierungs- und Systematisierungsstrategien? Beispielsweise in der jüngeren Vergangenheit im Rahmen von Verwissenschaftlichungstendenzen der Architekturproduktion oder im Aufgehen der entwerfenden Subjekte in kollektiven Arbeitsprozessen. Lassen sich auch in der Architekturgeschichte Beispiele von regelästhetischer Programmierung finden, respektive Ent­ würfe, die Architektur als formales Spiel innerhalb geometrischer oder arithmetischer Regelsätze betreiben?

VORWORT

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Schließlich soll auch nach dem Nutzen solcher historischer Perspektiven für das Verständnis aktueller Entwicklungen gefragt werden. Ließen sich so vielleicht verdeckte, aber immer noch relevante Konfliktfelder - die im Austarieren von Bild, Entwurf, Wirklichkeitsvorstellungen und vermitteln­ der Zeichnung zutage traten - der aktuellen Entwicklung verfügbar machen? Ekkehard Drach

Einführung

EKKEHARD DRACH

Mit dem Übergang vom Analogen zum Digitalen in der Praxis architektoni­ schen Entwerfens, wie er seit den 1 990er Jahren zu beobachten ist, scheint über die Veränderung der Werkzeuge hinaus auch das methodische Reper­ toire des Entwerfens und folglich die Funktion der Zeichnung einem tief­ greifenden Wandel unterzogen. So lässt sich angesichts der Möglichkeiten digitaler Modeliierung und der aktuellen Erfolge in der Verquickung von computer-aided design und computer-aided manufacturing eine Verlagerung der Prozesse der Formtindung beobachten. Es scheint der Antagonismus von planer Zeichnung und deren Visualisierung in dreidimensionale Modelle überwunden. War es bis dahin schwierig, zumindest aufwendig, aus ebenen Proj ektionen d. h. Grundriss und Aufriss bzw. Schnitt, in denen das archi­ tektonische Proj ekt zunächst gezeichnet wurde, ein Bild von dessen räumli­ chem Erscheinen - vorzugsweise in einer Perspektive - zu konstruieren, ist dies nun einfach. Bereits wenig ambitionierte CAD-Programme liefern in der Synchronisation von Dateneingabe und deren Verarbeitung parallel zu tradierten planen Anschauungsmodi dreidimensionale Modelle. Es handelt sich dabei j edoch nicht nur um eine willkommene Vereinfachung. Der ge­ samte Entwurfsprozess verändert sich. Ging in der vordigitalen Praxis dem Bild, respektive der Visualisierung des Entwurfs immer der Entwurf in zweidimensionalen Zeichnungen voraus, ist dies nun nicht mehr zwingend - und das bedeutet tatsächlich einen tiefgreifenden Einschnitt in das Selbstverständnis des entwerfenden Archi­ tekten. Gemeint ist ein Selbstverständnis, demnach dem Architekten die

12 I

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vollständige Kontrolle über den Raum zugänglich ist, die ihn ermächtigt als autonomer Schöpfer von Entwürfen aufzutreten.

1 . DAS V E R S T Ä N D L I C H E

Ort des Entwurfs war die zweidimensionale Zeichnung, die es erlaubte, mit­ tels Horizontal- und Vertikalproj ektionen, d. h. Grundriss- und Aufriss, bzw. Schnitt, j eden Punkt im Raum exakt erfassen und beschreiben zu können. Und es ist tatsächlich diese Kodifizierung des architektonischen Raums innerhalb eines verbindlichen Plansatzes in Grundriss, Aufriss und Schnitt, die » die verbindliche Notation von architektonischen Ideen« 1 erst ermög­ lichte und so das Bild des modernen Architekten begründet.

Abbildung 1: Andrea Palladio: Pantheon in Grundriss, Ansicht und Schnitt (/ 5 70) Rikke Lyngso Christensen beschreibt in ihrem Beitrag Die Systematisierung der Sensation des Raumes, wie sich diese Art des Architekturzeichnens im

Gleiter, Jörg: Notation und Autorenschaft, hier im Band, S. 1 97, siehe hierzu auch: Mario Carpo: Alphabet und Algorithmus, Bietefeld 20 1 2, ) ; Evans, Robin: The Proj ective Cast. Architecture and lts Three Geometries, Cambridge (MA) 1 99 5 .

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frühen 1 6 . Jahrhundert durchsetzt und wie diese fortan das Denken und Han­ deln im Raum bestimmt. Es ist seitdem möglich, Interventionen im Raum in dem Sinn »wahr« darzustellen, als Größe und Form, Längen und Winkel so­ wohl in der repräsentierenden Zeichnung als auch in der Wirklichkeit der räumlichen Realisation gleichbleiben. Umgekehrt gelten perspektivische Darstellungen, die eher das visuelle Erscheinen der Dinge wiederzugeben versuchen, als wenig geeignet, die Kontrolle über den Raum zu gewinnen, da die Darstellung der Formen und deren tatsächliche formale Eigenschaften differieren. Parallele Kanten, also Linien die sich nicht schneiden, treffen sich in der bildliehen Darstellung in Fluchtpunkten, Winkel werden gestaucht bzw. geöffnet, ebenso sind Längenmaße abhängig von ihrer Position hinter der Bildebene mehr oder weniger verkürzt - so wie sie »dem Auge erscheinen, aber nicht sind« 2

'

II;

n Abbildung 2: Vignola: Le due regale della prospettiva pratica (1583) Dementgegen wird die Orthogonalproj ektion in Horizontal- und Vertikal­ rissen als Möglichkeit verstanden, Darstellung und Wirklichkeit zur Deckung zu bringen. Jeweils in Grundriss, Autriss und Schnitt zeigen sich die Dinge so wie sie, ihrer geometrischen Beschaffenheit nach, tatsächlich sind, ihre Form und Größe ist direkt ablesbar. Die Darstellung ist in diesem Sinn wahr, ebenso ist sie exakt. Indem j edem Punkt eine x-, y- und z­ Koordinate zugewiesen werden kann, ist er eindeutig im Raum verortet

2

Raphael zitiert nach Lyngs0 Christensen, Rikke : Die Systematisierung der Sensation des Raumes, hier im Band, S. 32, Fußnote I.

14 I

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Im Gegenzug scheint die Aufteilung der räumlichen Information auf drei, zwar auf einander bezogene, aber immer noch je einzelne Zeichnungen zu­ nächst im Vergleich zu perspektivischen Bildern weniger geeignet, eine räumliche Vorstellung des Dargestellten zu entwickeln. Es entsteht der Ein­ druck, als ob die Präzisierung der räumlichen Information mit einem Verlust an Anschaulichkeit verbunden wäre. Allerdings sind auch perspektivische Darstellungen nur bedingt geeignet, tatsächlich freies räumliches Denken anzuregen. Sie geben zwar gut die visuelle Erfahrung dreidimensionaler Situationen wieder, j edoch handelt es sich zwangsläufig um einen Blick von außen. Der Betrachterstandpunkt liegt konstruktionsbedingt vor der Bild­ ebene, die dargestellten Objekte dahinter. Auch sind perspektivische Pro­ j ektionen immer an je einen Betrachterstandpunkt, einen bestimmten Blickwinkel gebunden. Die Orthogonalproj ektion dagegen ist, indem die Dinge in Form und Größe in der Zeichnung unmittelbar greifbar erscheinen, näher am taktilen Erleben der dreidimensionalen Welt. Diese haptische Unmittelbarkeit, die mehr als einen Betrachtungswinkel zulässt, kommt vielleicht eher der Vorstellung vom Im-Raum-Sein bzw. eines Sich-lm­ Raum-Bewegens nahe und ermöglicht so erst ein Denken im Raum. Denken und Handeln im Raum bedeutet, dass Entwerfenden, die voll­ ständige Kontrolle über den Raum zugänglich ist. Innerhalb einer geomet­ risch zurechtgemachten Welt - in der alle in sie eingeschriebenen Dinge durch Punkte, Linien und Flächen beschrieben werden können - gilt die lineare, längen- und winkelgerechte Zeichnung als o�j ektiv. In ihrer geometrischen Strenge und mathematischen Präzision scheint sie besser geeignet, die Wirklichkeit abzubilden, als subj ektive, durch verkürzte und konvergierende Linien verwirrende räumliche Bilder. Zumindest tut sie das in den Augen einer Praxis, die ihr Ideal darin sieht, mittels der Zeichnung die Differenzen zwischen Darstellung, Vorstellung und Dargestelltem zu überwinden. Dies geht einher mit einer vollständigen Geometrisierung von Welt, wobei die Zeichnung nun Ausgangspunkt des Ganzen ist. Ausführung und räumliches Erfahren des Gebauten sind nachgeordnet Nur in der Zeichnung, j enseits der Unwägbarkeiten von Standpunkt, Blickwinkel, dem je begrenzten individuellen Wahrnehmungs­ vermögen und den Unzulänglichkeiten der Wirklichkeit überhaupt, sind Objekte und Räume tatsächlich objektiv fassbar. Die Darstellung in Grund­ riss, Aufriss und Schnitt kann entsprechend als wirklichkeitskonstituierend

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begriffen werden. Allein in der Orthogonalproj ektion gelingt die Über­ tragung der räumlichen Idee in die Zeichnung und die Übertragung der Zeichnung in die gebaute Wirklichkeit verlustti·ei, wahr und »richtig« . Das ln-Eins-Setzen von Idee-Plan-Raum innerhalb eines geometrischen Repräsentationsmodells bedeutet aber über den Produktionsprozess - die Folge von räumlicher Idee, Entwurfszeichnung, Werkplanung und Bauaus­ führung - hinaus, dass der Modus der Orthogonalproj ektion nicht nur zu bestimmten Architekturen fUhrt, sondern auch die Rezeption des realisierten Gebäudes ist letztendlich durch die vorangehende Zeichnung bestimmt. Jen­ seits von individuellem Blick, der spezifischen Situation, Zeitpunkt oder Standpunkt ermöglicht erst die Frage nach der Übereinstimmung von Bau­ werk und Plan eine obj ektive Bewertung. Nur - zumindest besser als das eingeschränkt, singuläre Erfahren im Konkreten der Wirklichkeit - bietet der Plan Übersicht, er öffnet den unverstellten Blick auf die geometrische Form, so wie sie »wirklich« ist, auf deren Maße, Winkel, Dimensionen und Proportionen. Erst vor dem Zeichnungshintergrund erschließt sich die Stimmigkeit des Entwurfskonzepts bzw. das Konzept überhaupt. Harmen H. Thies fUhrt dies in seinem Beitrag Vom Werk zur Idee. Notizen =um Erstellen und Verstehen einer Oeden) Architektur exemplarisch aus. Er geht hier den umgekehrten Weg, nicht den kontinuierlichen von den vagen Anfängen einer Idee zum realisietien Bauwerk, sondern ausgehend vom Resu.ltat rekonstruiert er Schritt für Schritt rückwärts den Entstehungsprozess, um die eigentliche Entwurfsidee und die Bedingungen ihrer Genese in analytischer Klarheit hervortreten zu lassen. Nicht in Frage gestellt wird hier freilich, dass es sich bei den betrachteten Architekturen um bewusst und gewollt so Gemachtes handelt, dass die Entwerfenden mittels Planung und Plan Verfügungsgewalt über die Gegen­ stände ihres Tuns gewinnen. Unter dieser Annahme ist es nun möglich, in der sukzessiven Freilegung die das Werk konstituierenden Schritte, Einhei­ ten, Elemente, Faktoren und Momente zu erfassen sowie im Erkennen von Abfolgen und wechselseitigen Zuordnungen Abhängigkeiten offenzulegen. »Es gilt« , wie Thies formuliert, » auf die Relationen des Vorher und des Nachher, des Notwendigen und des daraus Folgenden, auch des hier bereits Entschiedenen und des dort dennoch frei Entscheidbaren zu achten - stets mit Blick auf das vermutlich nur so und kaum anders zu Stande gebrachte

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Werk.« 3 Diese gewisse Zwangsläufigkeit in der Entwurfsgenese, wie sie sich hier zu erkennen gibt, speist sich aus dem Anspruch, Architektur als Ab­ sichtsvolles, Bewusstes so und nicht anders Gemachtes zu begreifen. Das bedeutet, es ist zwingend, zunächst vage, nur im Kopf existierende Konzep­ tionen und Ideen der prüfenden und urteilenden Betrachtung zuzuführen, sie somit zu Gegenständen des Nachdenkens zu machen. Dazu, um diesen Pro­ zess der Reflexion und des rationalen Entscheidens erst zu ermöglichen, ist es wiederum zwingend, dass »Konzeption und Idee der intendierten Archi­ tektur eine möglichst eindeutige und widerspruchsfreie, eine obj ektive Ge­ stalt« 4 gewinnen. Mittel dies zu erreichen ist das System korrespondierender Risse wie es bei Thies genannt wird. Erst im Plansatz maßstäblicher Ortho­ gonalprojektionen (Grundriss, Schnitt, Aufriss) sind die konstituierenden Formen unverfälscht und in ihren tatsächlichen Maßverhältnissen greifbar. Auf dieser Ebene gelingt es, die Elemente des Entwurfs dem rationalen Zugriff verftigbar zu machen. Betrachtet wird die reine Geometrie, deren formale, strukturelle wie generische Eigenschaften, mit dem Ziel, mögliche wie zwangsläufige Modifikationen zu erkennen und in der Lage zu sein, die Prozesse der Formtindung bewusst zu steuern. Der Anspruch ist, nicht weniger als die Form und das in der Entwurfsidee vorformulierte Konzept in Übereinstimmung zu bringen. Als Beispiel einer solchen Genese bzw. Re-Synthese eines Werkes der Architektur auf Basis orthogonaler Risse können Gunnar Schutz' Unter­ suchungen zu Michelangelos Biblioteca Laurenziana gelten. In Die Zeich­ nung als Entwwfswerkzeug. Ski::zen und »Modelle« in Michelange/os Archi­ tektur::eichnungen führt er vor, wie Schritt für Schritt in zweidimensionalen Zeichnungen ein hochkomplexer dreidimensionaler Raum entsteht. Es wird deutlich: das Bauwerk ist nicht das unvermittelte Resultat genialer Intuition. Hingegen lässt sich zeigen, dass Michelangelo das Werkzeug Zeichnung ­ insbesondere in Form von Orthogonalproj ektionen - nutzt. Interessant in der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von Autorenschaft ist nun, wie er es nutzt. Ein Arbeiten mit linearen, längen- und winkelgerechten, zweidimensio­ nalen Zeichnungen bedeutet, sich der dort herrschenden Geometrie, den da-

3

Harmen H. Thies : Vom Werk zur Idee, hier im Band, S. 77.

4

Ebd. , S. 77 f.

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bei offen zu Tage tretenden geometrischen Gesetzmäßigkeiten, zu unterwer­ fen. Schon erste formale wie konzeptionelle Ideen aktivieren, sobald man sie in Rissen zeichnet, also geometrisch fasst, die in der j eweils gewählten geometrischen Formulierung bereits angelegten Strukturen, Abhängigkeiten und Regelzwänge. Peter Eisenman spricht in seiner Dissertation The Formal Basis of Modern Architecture 5 von formalen Grundlegungen. Eisenmans akribische Untersuchung, hier am Beispiel moderner Architektur, zeigt uns sehr gut, wie bereits in der Geometrie angelegte Strukturen den Entwurfs­ prozess bestimmen. Eisenman unterscheidet zwei grundsätzliche Kategorien von Form: »generisch« und » spezifisch« . Während die spezifische Form die tatsächliche physische Konfiguration - als Reaktion einer spezifischen In­ tention oder Funktion - meint, ist die generische Form im ursprünglichen platonischen Sinn zu verstehen, als detinierbare Entität mit ihren eigenen, in der Form selbst liegenden Charakteristika, die deren absolute Natur begrün­ den. Im Rückgriff auf eben diese absolute Natur ist es möglich, Form in einem ausschließlich obj ektiven Sinn zu betrachten - j enseits j eglicher sub­ j ektiver ästhetischer Präferenz. 6 I

fE=tt----f Abbildung 3: Peter Eisenman, Lagerung, Ausdehnung und Bewegung von Flächen

5

Die Dissertation von Eisenman am Trinity College in Cambridge (UK) aus dem .Jahr 1 963 wurde erstmals auf deutsch publiziert unter: Peter Eisenman: Die formale Grundlegung der modernen Architektur, Werner Oechslin (Hg. ) , Berlin/Zürich 2005.

6

V gl. Ebd., S. 77 ff ; siehe auch: Drach, Ekkehard: Architektur und Geometrie. Die Historizität formaler Ordnungssysteme, Sielefeld 2 0 1 2, S. 277 ff

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Entwerfen kann demnach als Reihe von Modifikationen, Anpassungen und Verzerrungen, die die generische Form auf ihrem Weg in die Konkretisie­ rung erleidet, verstanden werden. Dabei sind sämtliche Operationen be­ stimmt von in der Form selbst liegenden Kräften und inhärenten dynami­ schen Prozessen sowie - daraus folgend - von der Form selbst eingeschrie­ benen Ordnungsprinzipien und Regelzwängen. Bereits im einfachen Fall eines Würfels, in dem ein weiterer Würfel enthalten ist, bzw. eines Qua­ drates, das in ein Quadrat eingeschrieben ist, setzt sich, sobald eines der Elemente verformt wird, ein Spiel formal folgerichtiger Reaktionen in Gang. (Abb. 3 ) »Der ursprüngliche Würfel [muss nun] so platziert werden, dass er sowohl die Verformung als auch die rechteckige Qualität des Grundvolu­ mens berücksichtigt. Dies würde bedeuten, den Würfel am Ende des recht­ eckigen Grundvolumens anzusetzen, um die Kraft des linearen Vektors auf­ zunehmen.« 7 Zu den nächsten Schritten notiert Eisenman: »Eine weitere Verformung stellt die zentrale Lage des Würfels wieder her, wodurch die untergeordnete Achse betont wird« bzw. »die untergeordnete Achse wird noch stärker, indem der Würfel aus der Hauptachse geschoben wird.« 8 Was mit dem Verweis auf Eisenman und diesem Beispiel gezeigt werden soll, ist, wie im Zeichnungsmodus orthogonaler Proj ektion bereits in der Geometrie eingeschriebene Gliederungen, Richtungen, Bewegungen, pro­ portionale Abhängigkeiten etc. in daraus totgenden Anordnungen, Auftei­ lungen, Reihungen, Serien und Strukturen wirksam werden. Wie geometrische Ordnungen und daraus abgeleitete Entwurfsroutinen, über die Zeichnung, die Entwurfsgenese vorantreiben zeigt auch Gunnar Schulz weiter in seinen Untersuchungen zu Michelangelos Zeichnungen der Biblioteca Laurenziana. Beginnend mit alternativen Grundrisssequenzen, die das eingeschlagene geometrische Ordnungssystem vorgeben, wird dieses über Eck gefühti, dann die Betrachtungsebene gewechselt. In der Ansicht wird das Problem der Wandgliederung diskutiert, die geometrischen Regelvorgaben werden nun im Raum wirksam. In der Rückproj ektion auf die Grundrissgliederung lässt sich das geometrische System weiter klären. Sukzessive entsteht im Wechsel der Plansatzproj ektionen auf nachvollziehbare und nahezu zwingende Weise ein komplexes dreidimensionales Raumgebilde. Entscheidungen in einer

7

P. Eisenman: Grundlegung, S . 127.

8

Ebd. , S . 1 29.

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Proj ektionsebene ziehen unweigerlich Konsequenzen in den beiden anderen nach sich. Die Aufeinanderbezogenheil von Grundriss, Schnitt, Aufriss, bzw. Horizontal-, Vertikal- und Frontalproj ektion erlaubt es, in der geometrischen Konzeption eingeschriebene Regelprozesse wirksam werden zu lassen. Gleichzeitig werden diese tendenziell selbstgenerativen Abläufe erst, unter Ausschluss der Unwägbarkeilen visuellen Erscheinens, in der geometrisch eindeutigen Darstellungskonvention Plansatz deutlich sichtbar, verständlich und so steuerbar. Die Kontrolle über den Entwurfsprozess ist gewahti, ein rationales, nachvollziehbares und absichtsvolles Gestalten der Welt der Dinge erst möglich. Michelangelo zeigt sich hier, durch die Herrschaft über das Werkzeug Zeichnung, als autonomer und wirkungsmächtiger Autor bestätigt. Voraussetzung einer solchen Kontrolle über den Entwurfsprozess, wie der Handlungsmächtigkeit der Architektinnen und Architekten in der Gestal­ tung von Umwelt, ist Verständlichkeit und Einfachheit - sowohl in der Darstellung, als auch der Gegenstände selbst. Le Corbusier fasst dies schön in einen Satz: »L' architecture est Je j eu savant, correct et magnitique des volumes assembles sous Ia lumiere.« 9

Abbildung 4: Le Corbusier: Vers une architecture (1923) Auf den ersten Blick erscheint diese poetische, wenn auch etwas pathetisch formulierte Definition von Architektur als Spiel von Baukörpern in der

9

Le Corbusier: Vers une architecture, Paris 1 995 [zuerst 1 923], S. 1 6.

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Sonne unverbindlich und weder zu tun zu haben mit Problemen der Autor­ schaft noch geeignet den Konflikt zwischen analoger und digitaler Produk­ tion zu thematisieren. Jedoch konkretisie1i Le Corbusier seine Aussage: »Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen: Licht und Schatten enthüllen die Formen; die Würfel, Kegel, Kugel, Zylinder oder die Pyrami­ den sind die großen primären Formen, die das Licht klar offenbart; ihr Bild erscheint uns rein und greifbar, eindeutig. Deshalb sind sie die schönen Formen, die allerschönsten.

« 10

Le Corbusiers Spiel meint also keineswegs die performative Verfügbarkeil j edweder Volumina - zugelassen sind nur einfache stereometrische Körper -, was angesichts der formalen Möglichkeiten, welche die Disziplin Geomet­ rie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur VerfUgung stellt, doch befremdet. Insbesondere erstaunt dies, da Le Corbusier als progressiver Architekt, als der er sich vorstellt, an anderer Stelle das Potenzial eines geometrisch erweiterten Formapparats im Maschinen- und Ingenieursbau klar erkennt. Er selbst wird auch bald diese selbstgewählte Beschränkung des Repertoires in der zunehmenden Verwendung komplexer, irregulärer Körper überschreiten. So betrachtet zeigt sich in Le Corbusiers zunächst harmloser Definition ein Konflikt: Die faszinierende Formenwelt j enseits einfacher Stereometrie ent­ zieht sich in ihrer abstrakten, mathematisch anspruchsvollen Generierung dem Verständnis des Architekten. Diesem Verlust an Anschaulichkeit und Kontrolle setzt Le Corbusier ein Formkonzept entgegen, das einfach ist, greifbar und eindeutig. Le Corbusiers Argumentation ist dabei nicht neu. Eine ganz ähnliche Beweisführung findet sich bereits bei Etienne-Louis Boullee: »Aus einer Vielzahl von ganz verschiedenen Flächen zusammengesetzt, entzieht sich die Gestalt der unregelmäßigen Körper [ . . . ] unserem Verständnis. Ihre Flächen erscheinen uns durch Vielzahl und Kompliziertheit als nichts Bestimmbares, sie bie­ ten uns nur ein Bild der Verworrenheit. Warum aber läßt sich die Gestalt der regelmäßigen Körper mit einem einzigen Blick erfassen? Weil ihre Formen einfach, ihre Flächen regelmäßig sind und diese

10 Le Corbusier: 1 922. Ausblick auf eine Architektur (Vers une architecture), Basei/Boston/Berlin 200 I, S. 3 8

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sich wiederholen. Wie stark die Erscheinung eines Gegenstandes aufuns wirkt, hängt aber von seiner klaren Erfaßbarkeit ab . « 1 1

Boullee schreibt - hier i n wahrnehmungsästhetischer Begründung aktuali­ siert - eine Tradition fort, die beginnend mit Vitruv bis in die Anfange des 20. Jahrhunderts den Formenkanon der Architektur der geometrischen Einfachheit verpflichtet. 12

2 . DAS V E R S T E L L T KO M P L EXE

Erst mit der Moderne lässt sich hier, zunächst ganz zaghaft - wie das Beispiel von Le Corbusiers Elementarkörperspielen zeigt -, ein Bruch konstatieren. Im fortschreitenden 20. Jahrhundert stellt sich dann immer dringlicher die Frage inwieweit die Kontrolle über Form, Formproduktion und Anschauung noch zu leisten bzw. überhaupt erstrebenswert wäre. Ganz virulent wird die Problematik heute. In dem mehr oder weniger vollzogenen Wandel von analoger zu digitaler Entwurfsproduktion scheint das Modell eines zwingend handlungsmächtigen, in seinen Entscheidungen autonomen Autors nur wenig gerecht zu werden. Nimmt man die Möglich­ keiten digitaler Modeliierung ernst, erweisen sich algorithmische, regel­ basierte oder selbstgenerative Produktionsverfahren als recht gleichgültig gegenüber dem tradierten Konzept von Autorschaft. Die Projektentwicklung findet konsequenterweise innerhalb des digitalen Modells statt - vom Ent­ wurf bis in die Ausführung und lässt, in der Verschränkung von computer­ aided design und computer-aided manufacturing, die Zeichnung ebenso wie die konventionelle Darstellung in Plansätzen obsolet werden. Auch ist, entgegen analoger Entwurfsverfahren, die es erlaubten, in der Architektur­ zeichnung Entwurfsschritte durch Anschauung zu überprüfen, diese sukzessive weiter zu entwickeln oder zu verwerten, der Prozess nun kein

II Etienne-Louis Boullee : Architecture - Essai sur l ' art ( 1 793), Beat Wyss (Hg.), München 1 987, S . 5 7 . 1 2 Siehe hierzu auch: Ekkehard Drach: Das prekäre Verhältnis von Anschaulichkeit und Abstraktion in den Raumkonzeptionen der frühen Neuzeit, in: Cornelie Leopold (Hg.): Über Form und Struktur - Geometrie in Gestaltungsprozessen, Wiesbaden 20 1 4, S. 237-253 .

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zwingend gerichteter - mit definiertem Anfang und Ende - mehr. Modifikationen können ebenso direkt im Entwurfs-Programm respektive am digitalen Modell vorgenommen werden - womit sich Ort und Richtung der entwerfenden Intervention in der Verschränkung von Programm und Modell als frei wählbar erweisen. Zugleich eröffnen sich ganz neue Perspektiven der Gestalttindung. Es ist heute möglich, Formen zu generieren die auf analogem Weg weder denkbar noch realisierbar waren. Die zwischenzeitlich ver­ fügbaren Geometrien sind komplex, sowohl in quantitativer als auch qualita­ tiver Hinsicht. Quantitativ insofern, als nun große Mengen an Daten be­ wältigt werden können, was eine nahezu unbegrenzte Abfolge an Bildungs­ operationen zulässt. Und qualitativ, weil eine Algorithmen basierte Formung auch verwickelte, der Anschauung zunächst unzugängliche Gestalttindungs­ prozesse zulässt. Es ist aber mehr als eine nur technische Erweiterung der Möglichkeiten, die sich im Übergang vom analogen zum digitalen Entwerten auftut. Wenn die im Analogen notwendig angestrebte Einfachheit, die Verständlichkeit und Handlungsmächtigkeit gewährleisten solle, einer zunehmenden Kom­ plexität und Vernetzung weicht, ist diese veränderte Zielvorgabe primär ei­ nem veränderten Verständnis von Welt geschuldet. Ein angemessenes Agie­ ren innerhalb der condition moderne könnte sich dann eben nicht mehr auf die bereits von Leon Battista Alberti in »De re aediticatoria« eingeforderte Kodifizierung des architektonischen Plansatzes berufen, mit dem im ana­ logen Entwerten die vollständige Kontrolle des architektonischen Entwurfs innerhalb eines geometrischen Operationsfeldes gelang. Interessanterweise setzt diese Kritik an tradierten, analogen Entwurfs­ techniken - die über die Zeichnung einen wirkungsmächtigen Autor propa­ gieren - bereits vor dem Verfügbarwerden digitaler Produktionsmittel ein. So forderte Peter Eisenman bereits ab den 1 970er Jahren eine Architektur, die sich den Herausforderungen der Moderne stellt. Dabei ist Moderne nicht als stilistisches Phänomen zu verstehen, dem man sich nach Belieben anschließen könnte (oder auch nicht), sondern als Beschreibung eines neuen Verhältnisses des Menschen zu den ihn umgebenden Dingen. Spätestens seitdem kann die Welt nach den Zumutungen der Aufklärung, den Aus­ differenzierungen eines modernen Wissenschaftsbegriffs sowie den Folgen der industriellen Revolution mitnichten mehr als einfach, verständlich und in Ordnung verstanden werden. »Die Systeme, in denen die Existenz des Men­ schen situiert ist: Natur, Arbeit und Sprache, etablieren sich in einer dem

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1 23

Subjekt entgleitenden und nicht transparenten Unverfügbarkeit, die die Rede vom Subjekt, vom Menschen als problematisch erweist.« 13 Das humanisti­ sche Paradigma, das dem vernunftbegabten, denkenden Individuum das Vor­ recht einräumt, Welt zu deuten und sich darin seines eigenen Status selbst zu vergewissern, gehört demnach der Vergangenheit an und muss durch ein anti-humanistisches 14 ersetzt werden. Damit kehrt sich die Blickrichtung um. Im Zentrum des Interesses steht fortan nicht mehr das Subj ekt. Die Aufmerksamkeit des Architekturproduzierenden muss sich den Objekten selbst zuwenden. Das bedeutet, die Dinge bestehen nunmehr auch unabhän­ gig von einem Betrachter, der folglich auch nicht mehr der privilegierte Erklärer von Welt ist: Die Formen der Dinge, deren Inhalte und die Bedeu­ tungen, die man ihnen zuschreiben will, gehen getrennte Wege. Die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn diese Forderungen ernst genommen würden, führen zu einer Architektur, die sich ihrer eigenen Existenz unter den Bedingungen der Moderne bewusst ist und diese Existenz auch zum Thema macht. Wirklich modern ist folglich nur die Architektur zu nennen, die die Unverfügbarkeit der Obj ekte, der Ordnungen und Bedeutungen gegenüber einem in seinem Subjektstatus verunsicherten Autor anerkennt und einen möglichen Umgang mit diesem Problem tatsächlich sucht. 1 5 Wie sich nun aus der Kritik am Bild des Architekten als autonomen Gestaltschöpfer das Streben nach einer algorithmengesteuetien respektive selbsttätigen Formgenese im Digitalen entwickelt, zeichnet Carolin Hötler in ihrem Textbeitrag Initiator, Geburtshe(fer, Regisseur. Tradierte Autor­ schaftsmodelle im Computational Design nach. In drei Abschnitten diskutiert sie die Idee von Autorschaft bzw. Modelle digitaler Autorschaftsvermei­ dung: »Der erste Teil gilt der Vorstellung des Architekten als Initiator regelgeleiteter Zeichenprozesse. Der zweite Teil diskutieti den Architekten

13

Schwarz, Ullrich: Another Iook - anOther gaze . Zur Architekturtheorie Peter Eisenmans, in: Eisenman, Peter: Aura und Exzess. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, Schwarz, Ullrich (Hg.), Wien 1 995, S. 1 1 -34, hier S. 1 6 .

14

Ygl. Eisenman, Peter: Postfunktionalismus ( 1 976), in: Ebd. , S . 3 5 -42. Siehe auch: Eisenman, Peter: Das Ende des Klassischen. Das Ende des Anfangs, das Ende des Ziels ( 1 984), in: Ebd., S. 65-88.

15

Siehe hierzu auch: Ekkehard Drach: Architektur und Geometrie. Zur Historizität formaler Ordnungsysteme, Bielefeld 20 1 2, S. 277 ff

24 I

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als Formtinder in Computeranimationen und Kraftfeldsimulationen. Und der dritte Tei I fragt nach der Rolle des Architekten in materiellen Selbstbildungs­ prozessen.« 16 In großem Bogen legt sie so eine Entwicklungslinie digitaler Architektur frei - von Eisenmans noch prädigitalen Konzeptionen, Minimal und Conceptual Art, Liquid Architecture, Greg Lynn und Animate Form, über den Paradigmenwechsel von der Ent- zur Rematerialisierung der Form und Frei Ottos Arbeiten hin zu gegenwärtigen Forschungsprojekten wie dem Silk-Pavillon von Neri Oxman, in dem sich digitale und biologische Fabrikationsmethoden verbinden. Die Antwort auf ihre Fragestellung inwie­ weit es nun allerdings tatsächlich gelang, bzw. überhaupt gelingen kann, einen gewissermaßen » Schwachen Autor« in offene, sich dem unbeschränk­ ten Zugriff des Architekten verschließende Entwurfssysteme zu integrieren oder ob das Konzept der Autorschaft letztendlich - wenn auch in veränderter Weise - gestärkt aus diesen Transformationsprozessen hervorgeht bleibt ambivalent. Entgegen den Beharrungsversuchen eines » starken Autors« fokussiert dieser Band auf eben das Bemühen, Modelle j enseits tradierter Autorschaft zu untersuchen - ausgespart bleibt das Phänomen digitale Markenbildung respektive Autorenarchitektur, das den Anspruch auf singuläres Ingenium der entwerfenden Architekten und Architektinnen unbeschädigt lässt.

Abbildung 5: Zaha Hadid Architects: Bergstation der Hungerburgbahn, fnnsbruck (2008)

16

Carolin Höfler: Initiator, Geburtshelfer, Regisseur. Tradierte Autorschafts­ modelle im Computational Design, hier im B and S . I 04.

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1 25

Dennoch ist die Frage nach dem Verhältnis von Intention und Intuition auf der einen Seite und dem Potential eines von Algorithmen gesteuerten Ent­ wertens auf der anderen drängend. Manuela lrlwek stellt in Die Applikation des Computers als »Denlceug« in parametrischen Entwurfsprozessen, basierend auf Horst Ritteis Design Methodologien. Über den Vergleich analoger und digitaler Entwurfsmetho­ den ein Modell vor das die Synthese von systembezogener Komplexität und Entscheidungsmöglichkeiten der Entwerfenden sucht. Horst Ritteis Design Methodologie wird darin zur designmethodologischen Anwendung in computerbasierten Entwurfsprozessen erweitert. Wie dies dann konkret aussehen könnte, zeigen studentische Arbeiten aus dem Masterstudio »Intelligent Building Skin« . Auch Oie W. Fischer thematisiert in seinem Beitrag Analoger Blob vs. Digitale Box? Preston Scott Cohen, Valerio Olgiati und das Scheitern in der Architektur die spannungsvolle Beziehung von hochkomplexen Prozessen der Formtindung und dem - nach wie vor relevanten - Anspruch, absichts­ voll das Entwurfsgeschehen zu steuern. Gegenübergestellt werden zwei zunächst konträre Positionen, in denen sich analoge und digitale Praktiken entgegen der Erwartung verschränken: Preston Scott Cohen mühte sich in seinen frühen Arbeiten Anfang der 1 990er Jahre, das klassische Autor­ schaftsmodell in kontinuierlichen, von abstrakten Regeln gesteuerten, j edoch im Ergebnis unvorhersehbaren Transformationen der Objekte im Raum zu unterlauten - allerdings auf dem Weg analoger Zeichnung. Im Werk Valerio Olgiatis dagegen zeigt sich der Anspruch einer völligen Beherrschung des Proj ektes ungebrochen. Das klare Bekenntnis zu Ort, Material und Programm ebenso wie die handwerkliche Präzision des Entwurfes und der materiellen Ausftihrung ließen sich durchaus als Antithese zu Glo­ balisierung, Medialisierung und Digitalisierung der Architektur verstehen. Die Einfachheit der Erscheinung ist freilich dem Einsatz modernster technischer Hilfsmittel geschuldet - auch wenn diese gerade nicht gezeigt werden. Auch der Beitrag von Gernot Weckherlin thematisiert zunächst nicht Offensichtliches. Er geht in Standardisierung 4. 0 in der Architektur der These nach, wonach die scheinbar nicht-standardisierten Unikate, von denen die aktuelle Architekturdiskussion spricht, in viel stärkerem Maß durch Stan­ dards bestimmt sind »als dies in den kühnsten Visionen des industrialisierten

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Bauens des letzten Jahrhunderts denkbar schien« . 17 Neben weiter ausgereit:. ten technisch-juridisch-finanziellen Standardvorschreibungen ist es vor al­ lem der Standard der Informationstechnik, das binäre System selbst, das in allen seinen Konsequenzen wirksam wird. Zu fragen ist nun, wie solche Standards im Sinne einer technischen aber auch sozialen Normalisierung wirken, was dies für die Architektur bedeutet und aufwelche Weise dies eine kompetente ästhetische Kritik der entstandenen Architektur berücksichtigen müsste. Im dritten Kapitel fasst Jörg H. Gleiter in Notation und A utorenschaft. Zur wechselvollen Beziehung von Architekt und Architektur noch einmal die Entwicklungsschritte: den Weg hin zur Autorenschaft in der Architektur, die Kritik an ebendieser und wie sich die Autorenschaft an digitale Entwurfs­ verfahren bindet, um im Ausblick die Rolle des Architekten als Autor des parametrisch determinierten Formtindungsprozesses neu zu formulieren. Einen weiteren Ausblick bietet darin Angelika Schnell. Mit dem Proj ekt Design Paradigm - Kon=ept und Zeitlichkeit in der modernen Architektur stellt sie ein Forschungsprojekt vor, das die Praxis des architektonischen Entwerfens als performativen Akt begreift. Das bedeutet, nicht allein über den konzeptuellen Architekturentwurf und seine Methoden zu forschen, sondern auch mit ihm. »Die untersuchten ästhetischen Praktiken können (oder sollen) selbst dazu dienen, sowohl Aussagen über den Status des Entwurfs selbst als auch über seine möglichen Anwendungen in einem Forschungskontext zu treffen.« 1 8

3. D I S KU S S I O N

Die Architekten und Architektinnen verschwinden nicht, zumindest in den Beiträgen der Autorinnen und Autoren hier im Band. Auch lässt der Grundtenor den Autor nicht vollends sterben, das tradierte Bild des vordigitalen Autors weicht vielmehr einer Formulierung von Autorschaft die sich den neuen Gegebenheiten einpasst.

17 Gernot Weckherlin: Standardisierung 4 . 0 in der Architektur, hier im B and S . 1 7 8 . 1 8 Angelika Schnell: Design Paradigm - Konzept und Zeitlichkeit in der modernen Architektur, hier im Band S . 2 1 7 .

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Trotzdem soll gerade im Austausch von Architekturtheorie, Bauge­ schichte und Bauforschung der Blick auf gegenwärtige Entwicklungen in der Entwurfspraxis geschärft werden. Um im Rückblick auf Vordigitales, vielleicht durch die Faszination der nahezu unbeschränkten Möglichkeiten im Digitalen, verstellte und nach wie vor ungelöste Fragen nach dem Sinn und Zweck entwerferischer Aktivität zu stellen.

I. Analoge Voraussetzungen

Die Systematisierung der Sensation des Raumes Raphaels architektonische Repräsentationsmethode und die Mechanisierung des Ruinenzeichnens in der Renaissance

RTKKE LYNGS0 CHRISTENSEN

Die Frage, wie man Architektur, eine dreidimensionale Kunstform, auf der Oberfläche eines Blatt Papiers repräsentieren soll, ist in der Tat ein Problem mit lange in die Geschichte der europäischen Architektur zurückreichenden Wurzeln. Vitruv schrieb über diesen Gegenstand zur Zeit des Augustus, wie auch Alberti im 1 5 . Jahrhundert, ohne eine befriedigende Lösung zu finden. Jedoch zu einem gewissen Zeitpunkt in der italienischen Renaissance, und zwar ziemlich genau zwischen 1 5 1 4 und 1 520, wurde die moderne archi­ tektonische Repräsentationsmethode von Grundriss, Aufriss und Schnitt, die es möglich machte, den Raum in Zeichnungen darzustellen und diese für tatsächliche und präzise Konstruktionen zu nutzen, zum ersten Mal in schriftlicher Form dargelegt. Die Methode wurde vom italienischen Maler und Architekten Raphael in einem Brief an Papst Leo X. formuliert. 1 Raphael konzipierte den Brief zu-

Der Brief existiert in drei Versionen: 1) ein Manuskript aus der Hand von Castiglione in Mantua, Archivio Privato Castiglioni, Documenti Sciolti; 2) das

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sammen mit dem Dichter Baldassare Castiglione und dem päpstlichen Sekre­ tär Angelo Colocci zwischen 1 5 1 4 und 1 520. 2Zur Entstehungszeit des Briefes war Raphael leitender Architekt der Bauhütte von St. Peter, eine Position, die er nach Bramantes Tod übernahm und mit Fra Giocondo und Antonio da Sangalio dem Jüngeren teilte. Ab 1 5 1 5 war Raphael auch päpstlicher Präfekt der Monumente des Altertums in Rom und Umgebung, was bedeutete, er musste Sorge dafür tragen, dass keine wichtigen antiken

Manuskript ms B. Monaco, Cod. lt. 3 7b in München, Bayerische Staatsbibliothek; 3) eine gedruckte Version eines verlorenen Manuskripts von 1 7 3 3 in Opera volgari e latine del conte Baldassar Castiglione in Padua. Die drei Versionen sind publiziert (mit Anmerkungen) in: Di Teodoro, Francesco Paolo: Raffaello, Baldassar Castiglione e Ia Lettera a Leone X, Bologna 1 994. Ich zitiere aus der gedruckten Paduaner Version, ebd., S. 1 4 6- 1 5 4 und übersetzt ins Deutsche von .Iahn, Peter Heinrich/Cuntz, Michael: Briefan Papst Leo X. betreffend die Bewah­ rung, Vermessung und zeichnerische Aufnahme der antiken Baudenkmäler Roms [um 1 5 1 8], in: Zeitschrift fur Medien- und Kulturforschung, Heft I (20 1 2), S. 7384. Die Literatur bezüglich des Briefs ist sehr umfangreich, siehe z.B . : Bums, Howard/Nesselrath, Arnold: Raffaello e I ' antico, in: Fromme!, Christoph L./ Ray, Stefano/Tafuri, Manfredo : Raffaello architetto, Rom

1 984,

S.

3 79-452;

Nesselrath, Arnold: Raphael ' s Archaeological Method, in: Fromme!, Christoph L./Winner, Mattbias (Hg.): Raffaello a Roma: II convegno del 1 983, Rom 1 986, S . 357-3 7 1 ; Thoenes, Christof: La »Lettera« a Leone X, in: C. Frommei/M. Winner: Raffaello a Roma, S. 373-3 8 1 ; Rowland, lngrid D . : Raphael, Angelo Colocci, and the Genesis of the Architectural Orders, The Art Bulletin 76 ( 1 994/1 ), S. 8 1 - 1 04; Brothers, Cammy: Architecture, History, Archaeology : Drawing Ancient Rome in the Letter to Leo X & in Sixteenth Century Practice, in: .Iones, Lars/Matthew, Louisa (Hg.): Coming About. .. A Festschrift for .lohn Shearman, Cambridge (MA) 200 1 , S. 1 3 5 - 1 40 . 2

Für einen Überblick über die Diskussionen zur Datierung des Briefes, siehe Shearman,

.lohn:

Raphael in Early Modern Sources

1 48 3 - 1 602,

New

Haven/London 2003, Band I, S. 5 3 8-546. Shearman datiert den Brief vor 1 5 1 9, wie auch Nesselrath in: C. Frommei/M. Winner: Raffaello a Roma. Christof Thoenes datiert den Brief um 1 5 1 9- 1 520 in: ebd., S. 373-376.

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1 33

Monumente, insbesondere Teile mit Inskriptionen, zerstört wurden. 3 Raphael war daher sehr in zeitgenössische Baupraxis involviert und mit archäolo­ gischem Sachverständnis vertraut. Raphaels Brief hat die Form eines Berichts, in dem er erklärt, wie er die Aufgabe, das antike Rom in Zeichnungen festzuhalten - eine Aufgabe, mit der er vom Papst betraut wurde - angehen möchte. 4 Während der erste Teil des Briefes über den Zustand der antiken Ruinen der Stadt informiert, enthält der zweite Teil eine recht lange und detaillierte Beschreibung der Methode, mit der Raphael beabsichtigt, das antike Rom in Zeichnungen darzustellen. 5 Im Zusammenhang mit diesem archäologischen Proj ekt entwickelt Raphael das System von Grundriss, Aufriss und Schnitt. Das Zeichnen antiker Ruinen, vor allem in Rom, war zu Raphaels Zei­ ten tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil der Architekturpraxis. 6 Die Erforschung antiker Monumente mit Hilfe des Mediums der Zeichnung war

3

J. Shearman: Raphael in Early Modern Sources, Band. I, S . 1 86 - 1 89, 207-2 1 1 ; Golzio, Vincenzo: Raffaello nei documenti, Vatikanstadt 1 93 6 , S . 3 1 -34, 3 9-40, 66.

4

Raphaels Brief in: F. Di Teodoro : La Lettera a Leone X., S. 1 47- 1 4 8 : »Essendomi adunque comandato da Vostra S antita ch'io ponga in disegno Roma antica, quanto cognoscere si puo per quello ehe oggidi si vede, con gli edificii ehe di se dimostrano tali reliquie, ehe per vero argomento si possono infallibilmente ridurre nel termine proprio come stavano, facendo quelli membri ehe sono in tutto ruinati, ne si veggono punto, conrisondenti a quelli ehe restano in piedi e ehe si veggono, ho usato ogni diligenza a me possibile, acciocche l ' animo di Vostra Santita resti senza confusione ben satisfatto. «

5

.Iahn, Peter Heinrich: Kommentar zum sogenannten Brief Raffaels an Papst Leo

6

Ackerman, .lames A. : Architectural Practice in the ltalian Renaissance, The

X, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Heft I (20 1 2), S. 85-95 . .Journal of the Society of Architectural Historians 1 3 ( 1 954/3), S. 3 - 1 1 ; Günther, Hubertus : Das Studium der antiken Architektur in den Zeichnungen der Hoch­ renaissance, Tübingen 1 9 8 8 ; Nesselrath, Arnold: I libri di disegni di antichita. Tentativo di una tipologia, in: Settis, Slavatore (Hg.): Memoria dell ' antico nell ' arte italiana. Dalla tradizione all ' archaeologia, Band 3, Turin 1 986, S. 891 47; Sepe, Giovanni: Rilievi e studi dei monumenti antichi nel rinascimento, Neapel 1 93 9 .

34 I

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für die architektonische wie generell für die künstlerische Arbeit zentral, wo­ bei die Idee, in antiker Manier, dem sogenannten all-antica-Stil, zu bauen, um Italiens vergangene Glanzzeit von gewaltiger Macht und Einfluss wiederzubeleben, eine bedeutende Rolle spielte. Von Raphaels umfassendem Proj ekt sind keine Zeichnungen überliefert. Jedoch ist eine Vielzahl von Zeichnungen antiker Bauwerke anderer Archi­ tekten erhalten, sogar von einigen aus dem direkten Umkreis Raphaels, wie beispielsweise die Zeichnungen von Antonio da Sangallo dem Jüngeren und BaidassatTe Peruzzi. 7 Raphaels Formulierung des Architekturrepräsenta­ tionssystems von Grundriss, Aufriss und Schnitt fallt demnach zeitlich zusammen mit einer normativen Zeichenpraxis in Bezug auf die Untersu­ chung der Reste antiker Architektur. In dieser Arbeit werde ich mich daher dem archäologischen Rahmen zuwenden, in welchem Architekten der Renaissance antike Bauwerke an­ hand des Mediums der Zeichnung analysierten, und versuchen eine Bezie­ hung zwischen der Entwicklung des Repräsentationssystems und der Praxis der Ruinenzeichnung erkennbar zu machen. Die Methode von Grundriss, Aufriss und Schnitt reflektierte zu allererst das Zusammentreffen von Ar­ chitektur und Zeichnung, zwischen phänomenologischer und visueller Tiefe. Wie ich zu zeigen versuchen werde, spiegelt diese Methode auch das bedeutsame Zusammenspiel von experimentellen Mechanismen bei der Re­ gistrierung antiker Monumente und einer Systematisierung der Architek­ turzeichnung. Auch wenn diese beiden Aspekte, Experiment und System, auf den ersten Blick im Widerspruch stehen, scheinen sie in diesem besonderen Moment der Renaissance zu interagieren und sich gegenseitig beeinflusst zu haben. 8

7

Viele der Zeichnungen sind reproduziert in: Fromme!, Christoph L./Adams, Nicholas : The Architectural Drawings of Antonio da Sangallo the Younger and His Circle, 2 Bände, Cambridge (MA) /London 1 994; Wurm, Heinrich: Baldassare Peruzzi Architekturzeichnungen, Tübingen 1 984; Bartoli, Alfonso: I monumenti antichi di Roma nei disegni degli Uffizi di Firenze, 6 Bände, Florenz 1 9 1 4-22; Vasori, Orietta: I monumenti antichi in ltalia nei disegni degli Uffizi, Rom 1 98 1 .

8

Zur Beziehung zwischen archäologischer Praxis und der Entwicklung eines Repräsentationssystems in der Architekturzeichnung der Renaissance vgl. in ausführlicher Form meine Dissertation: Lyngso Christensen, Rikke: Spaces of

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1 35

RA P H A E L S B R I E F U N D D I E F O R M U L I E R U N G E I N E S S Y S T E M S A R C H I T E KT O N I S C H E R R E P RÄS E N TAT I O N

I n seinem Brief beginnt Raphael die Beschreibung der Architekturzeich­ nung, indem er zwischen den Repräsentationsmodi des Malers und des Ar­ chitekten unterscheidet. Er rät, dass der Architekt insbesondere perspektivi­ sche Darstellungen, wie sie in der Malerei üblich sind, vermeiden sollte, da die Architekturzeichnung mit perfekten Maßen und parallelen Linien arbeite und nicht mit j enen verkürzten Linien, die nur »dem Auge erscheinen, aber nicht sind« (»appaiono e non sono«) 9 • Raphaels generelle Folgerung ist klar: Die Architekturzeichnung, schreibt er, spaltet sich in drei Teile. Der erste ist der Grundriss (»Ia pianta«), der zweite die Außenwand (»parete di fuora«) mitsamt ihrer Ornamentik und der dritte die Innenwand (»parete di dentro«), auch mit ihren Ornamenten. 10 Mit diesen drei Modi, folgert Raphael, kann man sich » alle Teile eines Gebäudes eingehend von innen und außen .. . II vergegenwarttgen.« Raphael spricht demnach von einer Methode, die drei verschiedene Re­ präsentationen des Gebäudes beinhaltet: es wird von oben betrachtet (Grund­ riss), von außen (Aufriss) und von innen oder hindurch (Schnitt). Die Repräsentationsmethode operiert daher mit einer Vielzahl von Blickwinkeln. Ein solches System multipler Sichtweisen steht in Opposition zu den Regeln

Coneeption. ltalian Arehiteeture between Arehaeology and Appearanee 1 5021 570, Kopenhagen 20 I I . 9

Raphaels Brief in: F. Di Teodoro : La Lettera a Leone X., S. 1 5 3 : » [ . . . ] ehe e ragione di prospettiva appartiene al pittore, non all' arehitetto, il quale della linea diminuta non puo pigliare aleuna giusta misura; il ehe e necessario a questo artificio ehe ricerca tutte Je misure perfette in fatto, non quelle ehe appaiono e non sono . « Deutsche Übersetzung von P. Jahn/M. Cuntz : Brief an Papst Leo X., S . 83.

I 0 Raphaels Brief in: F . Di Teodoro : La Lettera a Leone X., S . 1 52 : »>I disegno, adunque, degli edificii si divide in tre parti, delle quali Ia prima e Ia pianta o vogliamo dire disegno piano, Ia seconda e Ia parete di fuori eon Ii suoi ornamenti, Ia terza e Ia parete di dentro, pur con Ii suoi ornamenti.« I I Ebd. , S . 153: »ln somma, con questi tre modi si possono considerare minutamente tutte Je parti d' ogni edificio, dentro e di fuori.« Deutsche Übersetzung von P. Jahn/M. Cuntz : Brief an Papst Leo X., S . 84.

36 1

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der damals favorisierten Linearperspektive als Mittel zur Darstellung von räumlicher Tiete. Als mathematische Konstruktion mit dem Ziel der Erzeu­ gung von Tiete auf einer tlachen Oberfläche, ist die Linearperspektive von einem einzigen Ausgangspunkt aus organisiert. Raphaels dreiteiliges Reprä­ sentationssystem unterscheidet sich hierbei wesentlich von der perspektivi­ schen Konstruktion des Raumes. Es ist präziser und dabei weniger bildlich. Abgesehen von dem Bestreben nach genauer Wiedergabe scheint der zentrale Aspekt in Raphaels Methode die Anerkennung der Tatsache zu sein, dass Architektur als räumliche Kunsttürm abhängig von einer Pluralität an Ausgangspunkten und Blickwinkeln - von Bewegung - ist, um erfasst zu werden. Wie Christof Thoenes hervorhob, bezieht sich Raphael in dieser Passage 12 klar auf die Schritten von Vitruv und Alberti. Vitruv hatte bereits die Ar­ chitekturzeichnung in drei Teile, mit je bestimmtem Zweck, unterschieden. Der erste Zeichnungstypus war der Grundriss, den Vitruv »ichnographia« nennt. Die anderen beiden betraten die Außenseiten des Gebäudes : der als »orthographia« bezeichnete, stellte das Gebäude in vertikaler Frontalansicht dar und der Typus namens » scaenographia« sollte die Fassade und die Seiten des Gebäudes in Form von Schattierungen und korrespondierenden Linien 13 gegen einen Verschwindungspunkt zeigen. Demnach beinhaltete Vitruvs Konzept der Architekturrepräsentation nicht die Darstellung des Inneren einer Struktur. Es erlaubte aber den Gebrauch der Perspektive primär mit Hilte von Farben und Schatten, um eine Illusion des räumlichen Gegenstands zu erreichen. Alberti, der in seinem Architekturtraktat von der Mitte des 1 5 . Jahrhun­ derts zur Frage der Architekturrepräsentation zurückkehrte, schlug anderes

12 Thoenes, Christof: Vitruv, Alberti, Sangallo . Zur Theorie der Architekturzeich­ nung in der Renaissance, in: Beyer, Andreas/Lampugnani, Yittorio/Schweikhart, Guner (Hg.): Hülle und Fülle: Festschrift für Tilmann Buddensieg, Alfter 1 993, S . 565-575. 13 Vitruvius : De Architectura/On Architecture, Granger, Frank (Hg . , Übersetzung), Cambridge (MA)/London 1 93 1 -34, l . ii. 2 : »1chnographia est circini regulaeque modice continens usus, e qua capiuntur formarum in solis arearum descriptiones . Orthagraphia autem e s t erecta frontis imago modiceque picta rationibus operis futuri figura. ltem scaenographia est frontis et laterum abscedentium adumbratio ad circinique centrum omnium 1inearum responsus .«

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1 37

vor. Er unterschied streng zwischen der Zeichenmethode des Malers und j e­ ner des Architekten - eine Trennung, die Raphael also wiederholte bzw. übernahm. Wahrend es dem Maler erlaubt sei illusionistische Mittel wie Schattierungen, Verkürzungen und Perspektiven zu gebrauchen, sollte sich der Architekt von solchen Methoden fernhalten, da sie das Gebaude nur so zeigten, wie es scheint, aber nicht wie es wirklich ist. Des Weiteren bestand Alberti darauf, dass der Architekt die Architektur vom Grundriss beginnend darstellt und in weiteren Zeichnungen die Form und Lange j eder Fassade und 14 Seite mit realen Winkeln und invariablen Linien ausfühti. Architektur, so Albetii, sollte ausschließlich linear gezeichnet werden, die dreidimensionale Erfahrung eines Gebäudes könnte hingegen durch ein Modell erreicht wer­ 15 den. Wenn es also darum ging die möglichen Wege der Architekturreprä­ sentation in Zeichnungen zusammenzutragen, unterschied sich Raphaels Zu­ gang von dem seiner Vorläufer, indem er eine Zeichnung aufnahm, die auch den inneren Teil eines Gebäudes zeigte - den vertikalen Schnitt. Vitruv er­ klärte seine drei Modi als eindeutige Operationen. Alberti wiederum verstand die zwei Aspekte seines Systems als klar getrennt funktionierend, wie er in seiner Aussage herausstreicht, dass die Gebäudeflanken in anderen (zusätzli­ chen) Zeichnungen dargestellt und der raumliehe Charakter in einem Modell wiedergegeben werden können. Für Raphael war die Idee bedeutend, dass seine drei Repräsentationsmodi als Einheit zusammenwirkten und das Ge­ bäude als ein Ganzes darstellten.

14 Alberti, Leon Battista: L' Architettura (De re aedificatoria), Orlandi, Giovanni/ Portoghesi, Paolo (Hg . , Übersetzung), 2 Bände, Mailand 1 966, ll.li. fol. 2 1 : »Tra l ' opera grafica del pittore e quella dell ' architetto c ' e questa differenza: quello si sforza di far risaltare sulla tavola oggetti in rilievo mediante le ombreggiature e il raccorciamento di linee ed angoli; l ' architetto invece, evitando Je ombreggiature, raffigura i ril ievi medianie il disegno della pianta, e rappresenta in altri disegni Ia forma e l'estensione di ciascuna facciata e di ciascun lato servendosi di angoli reali e di linee non variabilii: come chi vuole ehe l' opera sua non sia giudicata in base a illusorie parvenze, bensi valutata esattamente in base a misure controllabili. « 1 5 Ebd. , ll.i. fol. 20v-2 1 .

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Die Forschung hat oft die Frage gestellt, was es Raphael ermöglichte, ein so präzises architektonisches Repräsentationssystem zu formulieren. Ob­ wohl sich eine Art orthogonaler Proj ektion bereits in der nordeuropäischen Hochgotik in Villm·d de Honnecourts Zeichnungen der Kathedrale in Reims zeigte, scheint diese Methode nicht die Architekturzeichnungen in Italien beeinflusst zu haben. Eine ähnliche Darstellungsweise findet sich hier erst mit der berühmten Aufrisszeichnung des Campaniles der Florentiner Kathed­ 16 rale in der ersten Hältle des 1 5 . Jahrhunderts. Raphaels austlihrliche schriftliche Darstellung der architektonischen Repräsentationsmethode steht daher alleine. Eine der gründlichsten und glaubhaftesten Antworten gab Wolfgang Lotz, der vermutete, dass die neu gewonnenen mathematischen Erkenntnisse und technologischen Errungenschaften, die mit der anspruchs­ vollen Konstruktion von St. Peter einhergingen, zu Raphaels Ausarbeitung 17 führten. Auch wenn diese Erklärung sehr einleuchtend ist, vernachlässigt sie den unmittelbaren Kontext, dem Raphaels Formulierung entsprang, 1 nämlich der Erforschung antiker Gebäude mit Hilfe von Zeichnungen. 8 Allerdings legte auch Lotz nahe, dass der Akt des Zeichnens antiker Ruinen eine wichtige Rolle bezüglich Raphaels Methode spielte. Lotz vermutete, dass speziell der dritte Teil von Raphaels System der Architekturrepräsenta­ tion, der Schnitt, also die gleichzeitige Darstellung des Inneren und des Äußeren einer Struktur, aus der Untersuchung halbverschütteter antiker

1 6 Ackennan, .lames S . : Origins, Imitation, Convention, Cambridge (MA) 2002, S . 28-48. 17 Lotz, Wolfgang: The Rendering of the lnterior in Architectural Drawings of the Renaissance, in: Ders . : Studies in ltalian Renaissance Architecture, Cambridge (MA) 1 977, S. 1 -6 5 . Der Artikel wurde zuerst publiziert als : Das Raumbild in der italienischen Architekturzeichnungen d.er Renaissance, Mitteilungen des Kunst­ historischen Institutes in Florenz 7 ( 1 95 6/3/4), S. 1 9 3 -226. Lotzs Erklärung zustimmend z.B. auch C. Thoenes: La »Lettera«, S . 3 8 1 , C. Frommei/N. Adams: The Architectural Drawings, Band 2, S. 1 -20 und Campbell Ian: Ancient Roman Topography and Architecture, 3 Bände, London 2004, B and 1 , S . 23-24. 18 Dieser Kontext wird als bedeutend betrachtet, aber leider nicht ausgebreitet bei Brizio, Anna Maria: II rilievo die monumenti antichi nei disegni d' architettura della prima meta del Cinquecento, Rom 1 966, S. 4; Zavatta, Giulio : 1 526. Antonio da Sangallo il Giovane in Romagna, lmola 2008, S . 42; C. Brothers : Architecture, History, Archaeology, S. 1 3 5 .

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1 39

Gebäude entstand - eine Entwicklung, die sich mit der zeitgenössischen 19 Illustration der anatomischen Sektion vergleichen ließe. 1'•11'tr

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Abbildung 1: Baldassarre Peruz::: i, Studien des Kolosseums, Rom, UA 395r

1 9 W. Lotz: The Rendering of the lnterior, S. 1 9, Guillerme, Jacques!Yerin, Helene/Sartarelli, Stephen: The Archaeology of Section, Perspecta 25 ( 1 9 89), S . 226-257; Fabricius Hansen, Maria: Representing the Past. The Concept and Study of Antique Architecture in 1 5th Century ltaly, Analeeta Romana Instituli Danici, 23 ( 1 996), S. 83 - 1 1 6 ; Dies . : Ruinbilleder, Viborg 1 999, S. 93 -96, 2 1 9-23 1 .

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Auch wenn Lotz Raphaels Beschreibung des Schnitts nur isolie1i von dessen dreiteiligem System betrachtete, erscheint es lohnend, dieser Spur ein wenig weiter zu folgen, da sie in die Richtung des archäologischen Kontexts von Raphaels Proj ekt weist. Wenn man sich den Zeichnungen antiker Ruinen von Raphaels zeitgenössischen Architekten zuwendet, und hier primär die Darstellungsformen und nicht den Inhalt betrachtet, offenbaren sich be­ stimmte gemeinsame Charakteristika des archäologischen Zeichnungsakts, die auf eine Raumerfassung hinweisen. Die bei Renaissancearchitekten am weitesten verbreitete Weise, die Zeichnungsoberfläche zu nutzen, war, eine Seite für die Studie eines einzel­ nen Monuments zu reservieren oder Elemente von verschiedenen Monumen­ ten, die geographisch recht nah beieinander gelegen waren, auf einem Skizzenblatt zu vereinen, wie beispielsweise bei Baldassarre Peruzzi in sei­ nen Vor-Ort-Skizzen (Abb. 1, Abb. 2, Abb. 3)?0 Diese Studien stammen höchstwahrscheinlich aus den Jahren zwischen 1 5 1 0 und 1 520, also aus der gleichen Zeit wie die Niederschrift von Raphaels Brief an Leo X. Raphael und Peruzzi waren zudem sich nahestehende Kollegen und Peruzzi sollte Raphael nach dessen plötzlichem Tod dann auch zusammen mit Antonio da Sangallo dem Jüngeren 1 520 als Architekt für St. Peter nachfolgen. In seinen Studien, wie j enen für das Kolosseum sowie für den Arco di Camigliano in Rom, stellt Peruzzi die Strukturen nicht etwa in ihrer ruinösen Ganzheit dar, sondern konzentriert sich auf verschiedene Details der Ge­ bäude (Abb. I , Abb. 2). In den Kolosseum-Studien (Abb. 1) ist ein Aus­ schnitt der übereinanderliegenden, auf Plinthen gestützten ionischen Arka­ den der Umfassungsmauern mit einer dünnen dynamischen Linie gezeichnet. Das Element ist von unten dargestellt, mit einer leichten dreidimensionalen Andeutung im Arkadenbogen. Die Arkade wird auf dem Skizzenblatt rechts unvermittelt kombiniert mit einer Detailansicht der Zusammenfügung der Halbsäulenbasis und der Plinthe. Ganz rechts befindet sich dann noch eine weitere Detailansicht, diesmal der Basis und darüber anscheinend ein Schnitt durch die Plinthe mit der Halbsäule. Die Plinthe wird noch einmal in der oberen linken Ecke des Skizzenblatts gezeigt, hier teilweise perspektivisch

20 H. Wurm: Baldassare Peruzzi, S . 1 3 -7 1 ; Huppert, Ann C . : The Archaeology of Baldassarre Peruzzi' s Architectural Drawings, Virginia 200 1 , S. 5 9- 1 2 1 .

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und mit einer dünn gezeichneten Linie verbunden mit diagrammatischen Grundrissdarstellungen des Elements. Bis dahin stammen alle gezeichneten Teile des Skizzenblatts vom Äußeren des Gebäudes, aber im oberen rechten Bereich der Zeichnung tindet sich eine Verschiebung zum Inneren der Struk­ tur: Grundrissvorschläge der inneren Korridore des Kolosseums sind neben Darstellungen der inneren Backsteingewölbe eingefügt.

Abbildung 2: Baldassare Peru=zi, Studien des Arco di Camigliano, Rom, UA 386r Eine weitere Zeichnung Peruzzis enthält Darstellungen mehrerer Monu­ mente innerhalb eines begrenzten Gebiets in Rom (Abb. 3 ) . Die Grundrisse des ionischen Tempels nahe S. Nicola in Carcere und des unweit gelegenen Theaters des Marcellus sind hier kombiniert mit einer perspektivischen An­ sicht des Tempels von Antoninus und Faustina auf dem Forum Romanum

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und des Gesimses des Tempels von Castor und Pollux, ebenfalls auf dem Forum Romanum.

Abbildung 3: Baldassare Peruz=i, Ionischer Tempel nahe S. Nicola in Carcere, Rom (Grundriss); Antoninus und Faustina- Tempel, Rom (perspektivische Ansicht und Details); Castor und Pollux-Tempel, Rom (Gesims); Marcellus-Theater, Rom (Grundriss), VA 63/r Eine Skizzenoberfläche konnte demnach mit einer Mischung aus mehreren Architekturrelikten, dargestellt in unterschiedlichen Repräsentationsmodi, bespielt werden. Spezitische Festlegungen, welche Elemente, und auf wel­ che Art, Teil einer umfassenden Untersuchung antiker Gebäude sein sollten,

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scheinen nicht zu bestehen. Raphaels System wird insofern nicht in seinem strikten Sinn umgesetzt. Stattdessen erscheint das Medium der Skizze frei von fixen Kompositionen und Repräsentationssystemen. Die Untersuchun­ gen können somit als Versuche der Erfassung und des Erkenntnisgewinns betrachtet werden, als frei zusammengestellte Oberflächen, basierend auf individueller Beobachtung und Interessen in einem spezifischen Moment, also als Experimente. Das wohl ausgeprägteste Merkmal dieser Untersuchungszeichnungen ist die Zahllosigkeit von Blickpunkten, die mit der Erkundung der Monumente einhergeht. Details, Grundrisse, Aufrisse und Perspektiven wie auch Schnittdarstellungen verbinden sich auf den Skizzenoberflächen und werden daher zu vibrierenden, kaleidoskopischen Feldern von Tiefen und Sichten. Die Zeichnungen erscheinen als Akkumulationen von Impressionen des Or­ tes, als Beobachtungen aus verschiedenen Blickwinkeln, während man über und durch die archäologischen Strukturen der Vergangenheit wandelt. Die auf den Skizzen oft hinzugefUgten Anmerkungen, etwa wenn Peruzzi auf seiner Studie zum Arco di Camigliano schreibt »Gesims und Säule der 1 Camillo-Bogen in Rom an einem Ort genannt Camigliano i (Abb. 2), funktionieren nicht nur als Identifizierungsnotizen, sondern auch, in Verbin­ dung mit der Kombination von Blickpunkten, als eine verbale Verfolgung der Bewegung durch die Ruinenlandschaft. Des Weiteren sind die zahlreichen und minutiösen den Architekturele­ menten beigefügten Messgrößen für die Zeichnungen charakteristisch (Abb. 1 , Abb. 2). Die Zahlen bestimmen die Größe j edes Elements, aber gelegentlich auch den Maßstab der einzelnen Bestandteile in Relation zuei­ nander, was flir ein Interesse an der Ausdehnung des Raumes spricht. In ähnlicher Weise können auch Antonio da Sangallos Studien des Ko­ losseums verstanden werden (Abb. 4, Abb. 5). Das kleine Blatt zeigt auf ei­ ner Seite den Grundriss, auf der anderen Seite einen perspektivischen Schnitt des Theaters. Auch wenn sie sich in vielerlei Hinsicht von Peruzzis Untersuchungen desselben Objekts unterscheiden, bekunden Sangallos de­ taillierte Schnitt-Darstellungen des komplexen Treppensystems und der Raumfolgen des Kolosseums die eingehende Beschäftigung damit, wie die

2 1 Auf Abb . 2, UA 3 86r: »Cornj ce

& colona alo arco di Camillo jn roma jn loco

dicto Camijliano«. Deutsche Übersetzung: Verfasserin.

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Bewegung durch die Gebäudestruktur auf den verschiedenen Ebenen er­ 22 folgte. Die Zeichnungen zeugen daher von einem Sinn für die Erfassung des Raumes als Ausdehnung und für phänomenologische Tiefe.

Abbildung 4: Antonio da Sanga/la der Jüngere, Grundriss des Kolosseums, Rom, UA 1555r Die Untersuchungszeichnungen spiegeln demnach eine körperliche Nähe mit der Materie, die der archäologischen Arbeit der Architekten um 1 500 zu Grunde lag. Es ist bezeichnend, dass sich der Zugang der Antikenerfor­ schung zu dieser Zeit ändert. Während das Antikenstudium im 1 4 . und 1 5 . Jahrhundert hauptsächlich durch schrittliehe Quellen stattfand - als ein 23 ausgeprägt philologisches Proj ekt - wird in den Architekturtraktaten des

22 C. Frommei/N. Adams : The Architectural Drawings, Band I, S. 1 5 . 23 Weiss, Roberto : The Renaissance Discovery of Ciassical Antiquity, Oxford 1 969, S . 73-89, 1 45 - 1 66; Barkan, Leonard: Unearthing the Past Archaeology and Aesthetics in the Making of Renaissance Culture, New York 1 999, S . 29-3 1 .

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1 6 . Jahrhunderts von Sebastiano Serlio, Jacopo Barozzi da Vignola und An­ drea Palladio eine direkte Erfahrung mit den materiellen Relikten als Grund­ lage für die Erforschung der antiken Gebäude hervorgehoben. Demzufolge betont Serlio das Feldstudium als Kriterium für die Auswahl der Werke, die 24 er in sein Traktat über antike Gebäude übernimmt. Vignola weist darauf hin, dass er das Textstudium ganz weggelassen hat, um nur Beispiele, die man noch in Rom sehen kann und die er selbst mit Mühe untersucht hat, als 5 Grundlage seines Buchs zuzulassen ? Auch Palladio bezeichnet die Tatsa­ che, dass er mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Händen gemessen 26 hat, als Fundament tlir sein Studium des antiken Bauerbes.

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Abbildung 5: A ntonio da Sanga/la der Jüngere, perspektivischer Schnitt des Kolosseums, Rom, UA 1555v

24 Serlio, Sebastiano : Trattato di Architettura Libro Terzo, Rom 2008 [Faksimile Venedig 1 544/Erstausgabe 1 540], Widmung für Francois I. 25 Vignola, .Jacopo Barozzi da: Regola delli cinque ordini, 1 572 [Erstausgabe 1 562], Vorwort an den Leser. 26 Palladio, Andrea: 1 quattro libri dell ' architettura, Mailand 2006 [Faksimile Venedig 1 570], IV, fol. A2.

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Der Wechsel von Philologie zu Materie, von verba zu res, als Grundlage des archäologischen Proj ektes der Renaissance, fOrderte eine neue phänomeno­ logische Basis des Erlebnisses und der Beurteilung der antiken Architektur, die sich in den Untersuchungszeichnungen spüren lässt.

ÄBS C H LIESS E N D E B E M E RKU N G E N

Was diese investigativen Zeichnungen erfassen, ist demnach die unmittel­ bare Sinneserfahrung, also die Sensation des Raumes, motiviert durch die Bewegung in und durch die antiken Monumente mit dem Bestreben ihre Details und ihre Entitäten zu beobachten und zu erfassen. Als Experimen­ tiertlächen zeigten die Skizzen antike Architektur in Form eines Vorrats endloser Kombinationsmöglichkeiten, während die körperliche Begegnung mit den Ruinen ein Bewusstsein des architektonischen Raumes als phäno­ menologischem Gegenstand hervorgebracht haben mag. Setzt man den archäologischen Kontext für das Verständnis der Ent­ wicklung des dreiteiligen Repräsentationssystems voraus, wird es möglich, eine Verbindung zwischen den experimentellen Zeichnungen und Raphaels Systematisierung nachzuvollziehen. Während die archäologische Unterneh­ mung einen Bezug zwischen den Mechanismen der experimentellen Zeich­ nung und der Systematisierung etablie1ie, rüh1ie der Wunsch und die Möglichkeit Architektur räumlich auf einer zweidimensionalen Oberfläche zu repräsentieren von der körperlichen Erfahrung. Experiment und Sys­ tematisierung waren somit eng miteinander verflochten. Zeichnungen antiker Ruinen wurden später zur Basis der Illustrationen in gedruckten Architekturtraktaten und deren Abschnitte zu antiken Bauwer­ ken bei Serlio und Palladio. Insbesondere hier wurde Raphaels Re­ präsentationsmethode von Grundriss, Autl-iss und Schnitt als Vorgangsmus­ ter in den Darstellungen der einzelnen Monumente benutzt. Durch den Um­ schwung von handgemachten Skizzen zu mechanisch reproduzierten Illust­ rationen wurde es möglich, die antike Baukunst weit zu verbreiten - eine

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didaktische Handlung, die aber gleichzeitig mit einer Formalisierung und 27 Disziplinierung der antiken Architektur einherging. Bevor es j edoch zu diesen Auswirkungen kam, war das Zeichnen anti­ ker Ruinen in der Renaissance ein experimenteller und gleichzeitig formati­ ver Akt, der in die Ausarbeitung einer Regel der Architekturrepräsentation mündete, also eine Systematisierung der Sensation des Raumes.

27 Carpo, Mario: Architecture in the Age of Printing. Orality, Writing, Typography, and Printed Images in the History ofArchitectural Theory, Cambridge (MA) 200 1 [zuerst: L ' architettura dell' eta della stampa, 1 998], S. 42-56 .

Die Zeichnung als Entwurfswerkzeug Skizzen und » Modelle« in Michelangeles Architekturzeichnungen 1

GUNNAR S CHULZ

P RO B L E M S T E L L U N G

Die fünfhundertj ährige Rezeptionsgeschichte der - meist unfertigen - Bau­ ten und Projekte Michelangelos belegt seinen anhaltenden Einfluss auf Baumeister und Architekten. Die gesteigerte Bedeutung einer Person als Urheber eines Bauwerkes mag auch an der Persönlichkeit Michelangelos und seinen herausragenden Leistungen in der Bildhauerei und Malerei gelegen haben. 2 An ihm kann daher - im Gegensatz zum Titel dieses Bandes - viel­ mehr das »Entstehen des Architekten« als Künstlerpersönlichkeit untersucht werden. Da von der Entstehung seiner Bauwerke zahlreiche originale Quel-

Der Beitrag ist im Rahmen einer Voruntersuchung der Architektur der Biblioteca Laurenziana in Florenz entstanden. Das Thema wurde erstmals im April 20 1 3 im Rahmen der Tagung » lnterdisciplinaty approaches in ltalian Art and Architec­ ture« der American Association for ltalian Studies in Eugene/Oregon vorgestellt. Einzelne Aspekte wurden bei der Jahrestagung der Renaissance Society America im April 2 0 1 4 in New York präsentiert. 2

Die Rezeption der Kunst Michelangelos zuletzt umfassend dargelegt in Satzinger, Georg (Hg.): Der Göttliche. Hommage an Michelangelo. München 20 1 5 .

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Jen wie Verträge, Briefe, Zeichnungen, Abrechnungen, eigene Aufzeich­ nungen etc. erhalten sind, lassen sich einzelne Entwurfsschritte und Proj ekt­ phasen unterscheiden. 3 Die Architekturzeichnungen Michelangelos bieten mithin auf verschiedenen Detailierungsmaßstäben die Möglichkeit, den Ent­ wurf wegweisender Bauten exemplarisch zu analysieren. An drei Beispielen soll gezeigt werden, wie Michelangelo einen Entwurf überarbeitet und weiterentwickelt. Die Beweggründe für diese Eingriffe wer­ den im Einzelnen herausgearbeitet. Dabei wird der Einsatz der Zeichnung als Entwurfsinstrument überprüft.

3

Das hierzu erhaltene Material ist mehrfach publiziert: Schriftverkehr bei Barocchi, Paola/Ristori, Renzo/Poggi, Giovanni: II carteggio di Michelangelo, Florenz 1 965, Aufzeichnungen in Bard.eschi Ciulich, Lucilla/Barocchi, Paola: 1 ricordi di Michelangelo, Florenz 1 970, Verträge bei Bardeschi Ciulich, Lucilla: I contratti di Michelangelo. Florenz 2005, Zeichnungen bei Tolnay, Charles Erich de/Ente Casa Buonarroti: Corpus dei disegni di Michelangelo, Novara 1 975. Eine ausführliche Analyse des Entwurfsprozesses bei Michelangelos Fassade von San Lorenzo zuletzt bei Satzinger, Georg: Michelangelo und die Fassade von S an Lorenzo in Florenz. Zur Geschichte der Skulpturenfassade der Renaissance, München 20 1 1 . Eine erste ausführliche Gesamtanalyse der Entstehung der Biblioteca Laurenziana bei Wittkower, Rudolf: Michelangelo ' s Biblioteca Laurenziana, in: The Art Bulletin 16 ( 1 934/2), S . 1 23 -2 1 8 . Mit den Grundlagen von Geymüller, Heinrich von: Michelagnolo Buonarotti als Architekt. Nach neuen Quellen, München 1 904 und den Ergänzungen durch Ackerman, .lames Sloss : The architecture of Michelangelo. With a catalogue of Michelangelo ' s works, Harmondsworth 1 970 und Portoghesi, Paolo/Zevi, Bruno/Argan, Giulio Carlo/Barbieri, Franco : Michelangiolo architetto, Turin 1 964 die ergiebigsten Untersuchungen zur Architektur der Biblioteca Laurenziana. Einzelne Entwurfs­ probleme zuletzt bei Maurer, Golo : Michelangelo - die Architekturzeichnungen. Entwurfsprozeß und Planungspraxis . Regensburg 2004; Thoenes, Christof: Michelangelo und Architektur, in: Maurer, Golo/Nova, Alessandro (Hg.): Michelangelo e il linguaggio dei disegni di architettura, Venedig 20 1 2 . S . 1 5-29; Zanchettin, Vitale : Michelangelo e il disegno per Ia costruzione in pietra: ragioni e metodi nella rappresentazione in proiezione ortogonale, in: Ebd., S. 1 00- 1 1 7 ; Catitti, Silvia: Michelangelo e i l disegno architettonico come strumento progettuale ed esecutivo: il caso della Biblioteca Laurenziana, in: Ebd., S. 5 3 -67.

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Die Gliederung der Wand im Ricetto der Biblioteca Laurenziana ist in den Skizzen auf Blatt CB 48 Ar der Casa Buonarroti im Wesentlichen fest­ gehalten. Randskizzen und Korrekturen lassen Rückschlüsse auf die schritt­ weise Entstehung der Zeichnungen auf dem Blatt zu. Die Wechselwirkung zwischen Grundrissstudien und Aufrissskizze wird hier exemplarisch analy­ siert. Die Rückseite des Blattes BM 1859-9-15-514 des British Museum zeigt die Fortentwicklung einer Idee im DetaiL Hierbei handelt es sich um ein Sockelprotil, ebenfalls im Ricetto der Biblioteca Laurenziana, dessen Problemstellung und Lösung an der Ausführung verifizierbar sind. Bei der Analyse der Skizzenfolge auf BM 1859-9-15-514v wird zuerst Entstandenes von später Hinzugekommenen unterschieden. Eine Profilschablone fü.r die Pilaster an den Grabmalen in der Neuen Sakristei ist als Blatt CB 61 Av der Casa Buonarroti erhalten. Die Analyse dieser >Zeichnung< im Maßstab I : 1 gibt einen Einblick in die Umsetzungs­ praxis der Werkstatt von der Zeichnung zum bearbeiteten Stein. Bei allen Analysen wird, abhängig von ihrer Stellung im Gesamtprozess und der Zeichnungsabsicht, die schrittweise Entstehung der Zeichnung selbst nachvollzogen. Diese Einzelbeobachtungen ermöglichen Rückschlüsse auf die Motive zur Weiterentwicklung und Veränderung der Idee während des Entwerfens.

R E KO N S T R U KT I O N D E S E N TW U R F S P ROZ E S S E S

Architektur entsteht nicht ex nihilo . Jedem Bauwerk geht ein komplexer Entwurfsprozess voraus. Dabei entsteht schrittweise aus einer ersten Vorstellung4 - einer Gestaltungsabsicht, einer Idee - unter Berücksichtigung verschiedener Randbedingungen zunächst ein - mitunter unscharfer - Vor­ entwurf: der in einer möglichst vollständigen Planung konkretisiert und präzisiert wird. Mit Hilfe von Werkplänen wird schließlich das Bauwerk realisiert. Im Entwurfsprozess werden Zeichnungen angefertigt, um dem

4

Ygl. bei Yasari, Giorgio/Burioni, Matteo/Feser, Sabine: Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einfuhrung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler. Neu übersetzt und kommentiert, Berlin 20 1 0 die Begriffe pensiero (S. 2 1 2 f.), concetto (S . 302 f) und lineamento (S. 2 1 3) im Verhältnis zum disegno (S. 2 1 3 ff.).

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Entwerfenden und den am Bau Mitwirkenden die Gestalt des Gedachten vor Augen zu führen. Auf diese Weise (Abb. 1) entstehen Zeugnisse, die die Auseinandersetzung mit verschiedenen Entwurfsparametern belegen und die Lösungen ftir Einzelaspekte festhalten. Neben den Fragen der Gestaltung und des Kontextes, stehen konstruktive, funktionale und ökonomische Randbe­ dingungen im Blickfeld des zeichnenden Entwerfers. 5 Mittels der von Alberti kodifizierten Zeichnungsmerkmale der maßstäb­ lichen Risse6 ließen sich komplexe bauliche Sachverhalte zweidimensional festhalten, überprüfen und erläutern. Die Zeichnung diente einerseits als Kommunikationsmedium zwischen Auftraggeber, Entwerfendem und Ausführenden. 7 Von Michelangelo sind beispielsweise Präsentationszeich­ nungen erhalten, die den Auftraggebern als Vertragsgrundlage übermittelt wurden. 8 Zudem existieren beinahe technische Zeichnungen, die der

5

Auf dem Recto des Blattes A8 Vol. I, 1 60, fol. 286 des Archivio Buonarroti sind beispielswiese die statischen Maßnahmen zur Verstärkung der bestehenden Mauerwerkswand unter dem Neubau der Biblioteca Laurenziana eingetragen. Als die Zeichnung entstand, war der als A8 vol. V, 42, fol. 21 7r gesammelte Brief Michelangelos an Giovanni Spina vom 8. August 1 524 noch Teil des Blattes . Er bestätigt Zeichnungsinhalt und -funktion. Dazu Barocchi, Paola; Ristori, Renzo; Poggi, Giovanni: Lettere di Michelangelo e suoi corrispondenti da! 25 novembre ( 1 523) all ' (I gennaio 1 5 3 3 ) . Florenz 1 973, Band 3, S. 96.

6

Im einleitenden Kapitel zum zweiten der Zehn Bücher über die Baukunst schreibt Leon B attista Alberti, dass der Architekt die »wahren Winkel« und mit »bestimmten und giltigen Maße« in Grundrissen und Ansichten zeichnet, Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst (De re aedificatoria), Theuer, Max (Hg.), Darmstadt 1 975 [zuerst 1 9 1 2] , S. 69 ff.

7

Zu Grundlagen der Zeichnung als Planungs- und Entwurfswerkzeug vgl. Schlimme, Hermann/Holste, Dagmar/Niebaum, Jens : Bauwissen im Italien der Frühen Neuzeit, in: .lürgen Renn/Wilhelm Osthues/Hermann Schlimme (Hg.): Wissensgeschichte der Architektur. Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit, Ber­ lin 20 1 4, S . l 85 ff. Die verschiedenen Zeichnungsintentionen bei Michelangelos Architekturzeichnungen hat G. Maurer: Michelangelo - die Architekturzeichnun­ gen, anhand umfassender Beispiele zusammengetragen.

8

Vgl. beispielsweise die Analysen bei G. Satzinger: Michelangelo und die Fassade von San Lorenzo, S. 39 ff. bzgl. der Präsentationszeichnung auf Blatt C8 45 A.

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Aufstellung von Materiallisten dienten. 9 Andererseits belegen weitere Blätter die intensive Auseinandersetzung des Entwerfenden mit Gestaltungsvarian­ ten in der Grund- und Aufrissdisposition mittels Skizzen. 10 Im Verlauf des Entwurfsprozesses werden die Fragestellungen hinsicht­ lich der Realisierbarkeit konkretisiert. Zudem überlagern sich im fortge­ schrittenen Entwurfsstadium die Problemfelder bzw. Lösungsansätze. Dem­ entsprechend ändern sich der Maßstab und mithin die Detaillierung der Zeichnung. Auf dem Weg dieser Ideenentwicklung entsteht ein breites Spektrum an Skizzen, Arbeits- und Präsentationszeichnungen sowie Model­ len.

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Abbildung 1: Schema der Zeichnungen im Entwurfspro=ess und bei der Entwurfsrekonstruktion Bei der Analyse historischer Entwurfsprozesse (Abb. 1) sind in der Regel nur wenige Skizzen und Zeichnungen erhalten und nur ein Bruchteil der ur­ sprünglich angefertigten Dokumente bekannt. Die schrittweise Entwicklung

9

Vgl. beispielsweise die Skizzen fur die Marmorbestellungen fur die Fassade von S an Lorenzo. Hierzu ebd., S . 60 ff.

1 0 Beispielweise Analysen zur Entstehung des Blattes Parker 308r des Ashmolean Museum in Oxford bei G. Maurer: Michelangelo - die Architekturzeichnungen, S. 89 ff. und die Ecklösungen beim F assadenentwurf fur San Lorenzo bei G. S atzinger: Michelangelo und die Fassade von San Lorenzo, S . 55.

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der Idee kann daher nur lückenhaft rekonstruiert werden. Im Idealfall lässt sich der realisierte Bestand in einer Bauaufnahme dokumentieren. Diese ent­ spricht im Wesentlichen den Ausführungszeichnungen der letzten Planungs­ phase. Unter Berücksichtigung der späteren Hinzufügungen und der doku­ mentarisch belegten Planungsstadien ist es möglich, den Entwurfsprozess anhand der Zeichnungen und Skizzen innerhalb der Rahmenbedingungen zurückzuverfolgen. Darüber hinaus kann oft in der Zeichnung die schrittweise Entstehung der Zeichnung selbst - Strich für Strich - nachvoll­ zogen werden und zuerst Gezeichnetes von später Hinzugekommenem unterschieden werden. Diese Einzelbeobachtungen aus der Rekonstruktion der Zeichnungsentstehung ermöglichen Rückschlüsse auf die Motive zur Weiterentwicklung und Veränderung des Entwurfes und die Zeichnungs­ absicht. Daraus lassen sich Erkenntnisse zu ihrer Stellung im Gesamt­ entwurfsprozess ableiten und belegen.

A N LAG E S C H E M A I N G R U N D - U N D A U F R I S S S K I ZZ E N

Eine entscheidende Entwurfsphase des Ricetto ist mit dem Blatt CB 48 Ar dokumentiert. 1 1 Geschossigkeit, Wandgliederung und Treppenanlage lassen keine Zweifel an der Zuweisung des Blattes zum Entwurf des Ricetto . In einigen Teilen weichen die Skizzen j edoch von der Realisierung ab. Indem die Zeichnungsfolge auf dem Blatt schlüssig im Zusammenhang zwischen Grund- und Aufriss hergeleitet wird, lassen sich einzelne Schritte der Entscheidungstindung nachvollziehen. Auf dem Blatt sind eine Ansichtsskizze der Westwand der Ricetto­ Innengliederung, die fragmentarische Ansichtsskizze eines Giebels und drei Grundrissskizzen mit j eweils unterschiedliche Dispositionen von Pfeiler­ und Säulenstellungen zu erkennen.

II R. Wittkower: Michelangelo ' s Biblioteca Laurenziana, S. 2 1 7 analysiert die Entstehung der Ansichtsskizze auf dem Blatt. Diese Rekonstruktion des Zeich­ nungsvorgangs stützt Wittkowers Thesen vom Planungs- und B aufortschritt seit dem Frühj ahr 1 524. Der Zusammenhang mit den Randskizzen auf dem Blatt ist nicht hergestellt.

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Abbildung 2: Michelangelo Buonarroti, Grund- und Aufrissskiz::en der Gliederung des Ricetto der Biblioteca Laurenziana, CB 48 Ar Die Grundrisse im Einzelnen zeigen: ein von zwei freistehenden quadratischen Pfeilern gerahmtes Säulenpaar vor der Wand. (GR I , oben links 12 , Abb. 3) Die Wand dient hier als Hintergrund, vor dem die Gliederungsarchitektur aufgebaut wird.

12 Das Blatt wurde vermutlich am oberen und linken Rand beschnitten, da die Federstriche hier über den Blattrand verlaufen.

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ein Säulenpaar in einer Wandnische. (GR 2, Mitte rechts, Abb. 4) Diese Nische wird gerahmt von leicht hervortretenden Pilastern. 13 eine Ecklösung. (GR 3 , in der Mitte, Abb. 5) Zwei Säulenpaare, die im Wandzug zu stehen scheinen, stoßen rechtwinklig aufeinander. In einer Korrektur zeichnet Michelangelo einen Pfeiler in die Ecke. Es gibt drei Möglichkeiten, die Zeichnung GR 1 im Bezug auf das Verhältnis von Wand und Gliederungsarchitektur zu interpretieren, denn die Wand kann links oder rechts von den Gliederungselementen angenommen werden: In Variante 1 (Wand links von den Gliederungselementen) verlauJen Basis- und Gebälkprofile in einer vorderen Flucht ohne Versprünge. Die Wand ist mit flachen Nischen für die Pfeiler profiliert. Diese Wandspur ist mit einer kräftigen Begrenzung am linken Blattrand nachgezogen. In Vari­ ante 2 (Wand rechts von den Gliederungselementen) treten die Säulen leicht hinter die Flucht der rahmenden Pfeiler. Alle Gliederungselemente stehen vor einer geraden Wand. Über dem Pfeiler entstünde ein Gebälkkopf tUr den es in der Ansicht keine Hinweise gibt. Die nachgezogene Begrenzung markiert in dieser Variante die Ausladung der Plinthen in der Aufsicht. In Variante 3 stehen die Gliederungselemente wie in Variante 2 vor einer geraden Wand. Die gesamte Gruppe ist in eine Wandnische eingestellt. Nur GR 1 und GR 2 geben die in der Ansicht skizzierte Disposition von freistehendem Säulenpaar mit rahmenden Pfeilern/Pilastern wieder. Der in GR 1 freistehende Pilasterpfeiler 14 ist in der linken Säulen-Pilaster-Gruppe der Ansicht anhand der seitlichen Doppellinie (links besonders deutlich ge­ zeichnet und mehrfach nachgezogen) wiederzuerkennen. Bei der rechten Gruppe fehlt die Doppellinie (mindestens auf der rechten Seite, auch links ist sie nicht bis auf das Sockelgeschoss getUhrt). Die in GR 2 skizzierten, mit

13 In der Skizze ist nicht zweifelsfrei erkennbar, ob nur der Pilaster (rechte Seite) oder ein zweiseitiger Pfeiler (linke Seite) das Säulenpaar rahmt. Der Abstand zwischen Flankenwand und S äule variiert ebenfalls auf den beiden Seiten. 14 Der Begriffwird hier im Sinne Albertis »co/umnae quadrangulae« verwendet. Er beschreibt ein Stützelement für Bogenstellungen mit allen Einzelheiten einer Säule, aber mit quadratischem Grundriss. Vgl . Alberti, Leon Battista/Poliziano, Angelo : Leonis Baptiste Alberti de re aedificatoria incipit lege feliciter, Florenz 1485, Buch 7, Kap. 1 5 , Blatt 1 3 1v und Buch 8, Kap . 3, Blatt 1 42r; L.B. Alberti: Zehn Bücher, S. 396-397 und S. 425-426.

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der Wand verbundenen Pilaster sind in der rechten Gruppe wieder zu erken­ nen.

Abbildung 3: Drei Grundrissvarianten hervorgehend aus der Skiz::e GR 1 auf CB 48 Ar

Abbildung 4: Zwei Grundrissvarianten hervorgehend aus der Skiz::e GR 2 auf CB 48 Ar

Abbildung 5: Grundriss der Ecke mit nachträglicher Einzeichnung des Eckpfeilers aus der Skiz::e GR 3 auf CB 48 Ar Bedingt durch die symmetrische Lage der Pilaster als Rahmung der Taber­ nakel in der Ansicht, beginnt die Gliederung der Ecke mit einem Pfeiler (aus GR I) oder einem Pilaster (aus GR 2). Der gezeichnete Grundriss (GR 3 ) ersetzt den Pilaster durch eine Säule und gibt damit keine der beiden Eck­ situationen am Rand der Ansichtsskizze wieder. Eine Reihung der Skizzen auf dem Blatt in der Folge ihrer Entstehung lässt sich wie folgt aufstellen: Nachdem Michelangelo über die Disposition der Grabmalarchitektur in der Neuen Sakristei nachgedacht hatte, bei der er die Säulen zu Paaren gruppierte, als Rahmungen für Altäre einsetzte 1 5 und immer weiter in die

15 Vgl. die Altarrahmung auf Blatt CE 40 Ar.

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Wand einstellte, 16 versucht er das Säulenpaar als Gliederungsmotiv in eine kontinuierliche Wandgliederung zu übertragen. Er beginnt damit, für den Ricetto ein Säulenpaar mit rahmenden Pilasterpfeilern im Grundriss (GR 1 ) zu skizzieren.

Abbildung 6: Neue Sakristei, Ostwandgliederung, Teilansicht Anschließend prüft er in der Ansicht (Gruppe links, auf der Höhe des Hauptgeschosses) die Ausbildung der Wandgliederung des Hauptgeschos­ ses, auf einer ersten Basislinie stehend. Das Säulenpaar steht wie die Pilas­ terpfeiler vor der Wand und ist in diesem Stadium vermutlich noch nicht schraffiert. Im Aufriss werden daraufhin die beiden anschließenden Wand­ telder ergänzt. Die Wandgliederung wird nach links (Pilasterpteiler) und rechts (vollständige Pteiler-Säulenpaar-Gruppe) erweitert. Dann fügt er (mit durchgezogenen Linien) das Gebälk hinzu und entscheidet, die Säulen wie in den Grabmalentwürfen in die Wandmasse zurückzuschieben. Die Grund­ rissskizze (GR 2) hält diesen Gedanken fest. In diesem Zuge werden die Säulen-Gebälk-Nischen schraffiert und die freistehenden Pilasterpfeiler werden in tlache Pilaster übertragen. Als Michelangelo über die Gliederung der Wandtelder - die nun wie Blöcke hervortreten - mit Nischenädikulen nachdenkt, ergänzt er die obere Skizze eines Giebels. Vielleicht in diesem Moment wird ihm bewusst, dass eine kontinuierliche und geschlossene Komposition entsteht, wenn die größte Ausladung des Giebels (die Sima der

16 Vgl. die Analysen bei G. Maurer: Michelangelo - die Architekturzeichnungen, S. 89 ff

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Ädikula) die Breite eines Wandblockes markiert, und nicht, wie zuvor in der Neuen Sakristei realisiert, den Abstand zwischen zwei Pilastern (Abb. 6, Abb. 7).

Abbildung 7: Ricetto der Biblioteca Lauren=iana, Westwandgliederung, Teilansicht Die Giebel zwischen den Pilastern der Neuen Sakristei scheinen zu groß und sperrig flir die schmalen Wandabschnitte - sie flillen die in einer tieferen Ebene verlaufende Wandfläche maximal. Die überzeugendere Lösung ist im Ricetto gefunden, wo sich Giebelausladung und Breite des vorspringenden Wandblockes wechselseitig bedingen.

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Abbildung 8. Biblioteca Laurenziana, Rahmung der Lesesaalfenster, Innenseite

Abbildung 9. Biblioteca Lauren=iana, Rahmung der Lesesaa(fenster, Außenseite

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Diese Verbindung zwischen Giebelausladung und dessen Begrenzung/ Rahmung kann auch bei weiteren Elementen der Laurenziana - allerdings für zurückspringende Nischenfelder - beobachtet werden: bei den Rahmun­ gen der Fenster im Lesesaal (Abb. 8), aber auch Außenrahmungen derselben Fenster an der Ost- und Westfassade (Abb. 9). Ohne bereits eine Vorstellung für die Ecke zu haben, fügt Michelangelo den unteren und den oberen Teil der Ricettogliederung hinzu, wobei er fest­ stellt, dass die Wandgliederung zu lang ist für die Proportionen der Ricetto­ Westwand. Der letzte Entwurfsschritt bezieht sich auf die Grundrissskizze zur Ecklö­ sung, da sie nicht dem Gliederungssystem in der Ansicht entspricht. Aus den Grundrissvarianten (GR I und GR 2) lassen sich diverse hypothetische Eck­ lösungen ableiten.

Abbildung 1 0. Ecklösungen mit allen Gliederungselementen aus GR 1 (Variante 1), GR 1 (Var. 3) und GR 2 (Var. 2)

Abbildung I I : Eck/äsungen, um ein Gliederungselement reduzierter A ufbau, aus GR 1 (Variante 1), GR 1 (Var. 3) und GR 2 (Var. 2)

Abbildung 12: Eck/äsungen, um :::w ei Gliederungselemente redu::: ierter Aufbau, aus GR 1 (Variante I)

D I E Z E I C H N U N G ALS ENTWU R F S W E R KZ E U G

1 61

Im ersten Lösungsansatz werden die Gliederungselemente der Grundriss­ skizze vollständig über Eck geführt. Alle Elemente werden auf beiden Wän­ den wiederholt (Abb. 1 0). In der folgenden Lösung wird die Ecke um ein Element reduziert (Abb. 1 1 ). Eine kontinuierlich durchlaufende Gliederung entsteht, bei der die Wände miteinander verkettet werden. Die Gliederungs­ elemente der einen Wand werden mit denen der zweiten zur Eckvariante des Ausgangsgrundrisses. In der dritten Lösung (Abb. 1 2) werden zwei Glieder­ ungselemente der Grundrissskizze entfernt. Die Reduktion lässt das Aus­ gangsschema unkenntlich werden. Die Wandflächen fi.ir die Ädikulen rücken dabei dicht zusammen. Bei den Grundrissen mit vortretenden Pilastern /Pi Iasterpfeilern ist die Reduktion auf nur eine Säule nicht möglich, da sich die Pilaster in der Ecke überschneiden würden. Die Grundrissskizze der Ecke (GR 3) beschreibt keine hier dargestellten Varianten exakt. Am ehesten ist sie in der Säulenstellung im zweiten Lösungsansatz zu erkennen. Sie ist der erste Schritt in Richtung Straffung des Gliederungsapparates. Indem die Pilaster aus der Wandfront in die Flankenseiten der Wandblöcke gedreht werden, können alle Gliederungsele­ mente beibehalten werden und - wie im zweiten Lösungsansatz - über Eck geführt werden. In der späteren Realisierung ist dieser Ansatz wiederzufin­ den, sogar mit der hier skizzierten Transformation der Ecksäule in einen Pfei­ ler (Abb. 1 3 ) .

Abbildung 13: Ricetto der Biblioteca Laurenziana, Hauptgeschoss, Teilgrundriss

VO M A N LAG E S C H E M A Z U M D E TAI L

Nachdem Michelangelo das Anlageschema der Hauptgeschossgliederung des Ricetto der Biblioteca Laurenziana mehrfach überarbeitet hatte, widmete

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er sich auf dem Blatt BM 1859-9-15-514 dem Entwurf der Basisgeschoss­ ausbildung. 17

Abbildung 14: Michelangelo Buonarroti, Ansichtsskizzen der Gliederung des Ricetto der Biblioteca Lauren=iana, BM 1859-9-15-514r Auf dem Recto (Abb. 1 4) ist die Anlage des Hauptgeschosses mit einem Wandblock und einem Säulenpaar in der gleichen Tiefenschicht der Wand angedeutet. Sie entspricht im Wesentlichen der späteren Ausführung. 1 8 Der

17 Das Blatt ist als Faksimile veröffentlicht in Tolnay, Charles de : Corpus dei disegni di Michelangelo . Novara 1 975-80, Bd. 4, Tafel 528 mit dem Katalogbeitrag ebd. S. 5 6 . 1 8 R.

Wittkower:

Michelangelo ' s Biblioteca Laurenziana, bezeichnet diese

Zeichnung als Gliederung der Basis im Endstadium (»Differentiation of the Ricetto Base in its final form«, S . 1 48). Er schreibt die Zeichnung dem Ende einer zweiten Planungsphase zu, in der der Ricetto mit Fenstern in einem Obergeschoss belichtet werden sollte und Michelangelo von seiner ursprünglichen Idee eines

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1 63

Hauptzeichnungsgegenstand scheint allerdings die Ausprägung der Sockel­ zone zu sein, da hier mehrere Zeichnungsschichten übereinander liegen. Insbesondere der Wandblock ist durch die Detaillierung mit Profilen intensiv bearbeitet. In seinem Zentrum befinden sich Pentimenti zweier Nischen­ rahmungen. Des Weiteren sind auf dem Blatt die Ansicht der Volutenkon­ sole, eine Alternative der Rahmenprofilierung sowie ein Gebälkprofil skizziert. Unter der oberen Zeichnungsschicht ist in der Mitte des Blattes eine um 90° gedrehte Schnittzeichnung einer Säule auf einem Sockel zu erkennen.

Abbildung 15: Michelangelo Buonarroti, Ansicht und Details des Sockelgeschosses des Ricetto der Biblioteca Laurenziana, BM 1859-9-15-514v

Gewölbes mit Oberlichtem absah. Gegen diese endgültige Phase (»definite shape«, S. 1 54) sprechen die Proportionen der Konsolen, die hier in einem statisch logischen Gefüge die Säulen zwischen Sockelkranzgesims und -basis unter­ stützen. Das Sockelgeschoss ist dementsprechend noch nicht an die finalen Proportionen angepasst.

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Abbildung 1 6: Ricetto der Biblioteca Lauren::: iana, Detail der Nordwand Auf dem Verso (Abb. 1 5) ist eine Folge von 12 Profilen 19 , zwei Kopfstudien (Profil und Ansicht) sowie (unten links) die Ansicht des Wandfeldes der Sockelzone ähnlich der auf dem Recto skizziert. Das Wandfeld steht auf ei­ nem Basisprofil, die hohe Mittelzone wird von einem umlaufenden Profil gerahmt. Ein ausladendes, mehrteiliges Kranzgesims bildet den oberen Ab­ schluss. Das in der Realisierung weiß verputzt gebliebene Mittelfeld des So­ ckels ist mit einer rechteckigen Nischenrahmung unterteilt. Eine kleine Skizze oberhalb dieser Ansicht kann als Grundriss der Wandblockkante gele­ sen werden. Alle Elemente der Ansicht sind ähnlich dem hier Skizzierten auch im realisietien Zustand des Basisgeschosses wiederzu.tinden (Abb. 1 6). Bei bei­ den fällt auf, dass in der Mittelzone ein aus drei bis vier Teilen zusam­ mengesetztes Profil als umlaufender Rahmen den weiß verputzten Wand­ block begrenzt. Unten gehört dieser Rahmen j edoch auch zum Basisprofi I, oben ebenso zum reduzierten Gebälkabschluss des Sockelgeschosses. Als Teil des Sockels hat das Profil der Basis und des Gebälkes der Grundrissspur horizontal vom Wandblock über den Rücksprung zum nächsten Block zu

1 9 Ebd. , S. 1 5 4 differenziert zwischen sieben Variationen des Basisprofils des Sockelgeschosses und fünf Skizzen der Basisprofile für die Hauptgeschosssäulen.

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folgen. Da das Profil sowohl horizontal fortlaufend als auch geschlossen wandfeldrahmend ausgeprägt ist, entsteht ein Konflikt zwischen dem einzelnen Element und seiner Beziehung zur Umgebung bzw. der Kompo­ sition als Ganzem - geschlossenes Rechteck vs. umlaufendes Band. 20 Die Wandblockskizze zeigt, dass sich der Zeichner mit diesem Problem der Komposition und » Symmetria« auseinandersetzt Er skizziert eine perspektivische Erweiterung der frontalen Ansicht, um die Rahmung des Rücksprungs und der Wandnische und so den weiteren Verlauf des Profils in die Tiefe der Wand zu zeigen. Das Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen wird auf diese Weise sichtbar gemacht. Das zentrale Problem bestand darin, wie die Rahmung der Flanke der vorspringenden Wandpartie und der zurückliegenden Wand ausgebildet wer­ den sollte. Die Skizze sieht für alle Flächen Rahmenprofile vor. Daher musste Michelangelo einen Profilabschluss finden, der horizontal und verti­ kal gefi.ihrt werden konnte, und der in einem Knotenpunkt in Breite, Tiefe und Höhe zusammenläuft (Abb. 1 7) . Darüber hinaus war es notwendig, das

20 Vitruv äußert sich zu diesem Thema: » Symmetria ferner ist der sich aus den Gliedern des Bauwerks selbst ergebende Einklang und die auf einem berechneten Teil beruhende Wechselbeziehung der einzelnen Teile fur sich gesondert zur Gestalt des Bauwerks als Ganzem.« Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, Fensterbusch, Curt (Hg.), Berlin 1 964, S. 3 9 . ln der Folge nehmen Alberti und Vasari diese Kompositionsgrundlage in ihre Werke auf. Bei Alberti handelt das 9. Kapitel des ersten Buches » [ . . . ] über das Verhältnis der Teile oder Glieder zum Ganzen

und

unter

sich,

sowie

deren

geziemende

und

verschiedene

Zusammenfugung. « L.B. Alberti: Zehn Bücher, S. 47. Bei Vasari heißt es in der fntrodu::ione alle tre arti »[ . . . ] di qui e, ehe non solo ne i corpi umano, e degli animali, ma nelle piante ancora, e nelle fabbriche, e sculture, e pitture conosce Ia proporzione, ehe ha il tutto con le parti, e ehe hanno le parti fra loro, e col tutto insieme . « Vasari, Giorgio : Le Vite De' Piv Eccellenti Pittori, S cvltori, E Architettori: S critte da M. Giorgio Vasari Pittore Et Architetto Aretino, Di Nuouo dal Medesimo Riuiste Et Ampliate Con I Ritratti Loro Et con l ' aggiunta delle Vite de viui, & de ' morti Dall ' anno 1 5 5 0 . infino al 1 567, Florenz 1 5 68, Kapitel 1 5 , S . XLI.

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Profil über die Kante symmetrisch auszuführen. Daher musste es im Grund­ riss um eine diagonale 45°-Achse gespiegelt werden können. 21

Abbildung 1 7: Isometrische Darstellung der Knotenpunkte aus Werksteinprofilen im Sockelgeschoss des Ricetto der Biblioteca Lauren:::iana. (Darstellung nach Handaufmaß der Sockel::: one, hier der rechte Vorsprung im Mittelwanqfeld der Westwand Oberer Profilabschluss b:::w . Kantenprofil hervorgehoben.)

2 1 Diese Anforderung schließt einige der gezeichneten Profile aus, da sich beim Zusammensetzen eines Eckstabes Überschneidungsflächen der Profillinien ergä­ ben, die eine Realisierung in Stein unmöglich gemacht hätten. Insbesondere das Kymation im oberen Abschluss ist hier nicht realisierbar. Michelangelo musste darüber hinaus sicherstellen, dass trotz symmetrischer Spiegelung >über Eck< genügend Steinmaterial blieb, um die Kantenleiste bruchsicher in der Wand zu verankern.

D I E Z E I C H N U N G ALS ENTWU R F S W E R KZ E U G

1 67

Um eine Lösung zu tinden, beginnt Michelangelo eine Reihe von Profilen zu skizzieren. Dieser Prozess lässt sich anhand der Folge von 1 4 daraus weiter­ entwickelten Profilvarianten schlüssig nachvollziehen: Ausgehend von der­ j enigen Basisprotilierung, die der auf dem Recto skizzierten am stärksten entspricht (Umzeichnung A), wird schrittweise die Komplexität erhöht, bzw. werden einzelne Profilelemente weggelassen. 22 Zwischen den Varianten sind einerseits zwar nur marginale Unterschiede auszumachen. Anderseits scheint bei einigen dieser Skizzen die Verknüpfung nur über einen Protilstab hergestellt zu sein. 23 So entstehen zwei Gruppen von Skizzen: die Sockel­ basisprofile (A-D, H-1) und die Säulenbasisprotile (E-G, I ' -L). 24 Mit dem Protil D war ein universelles Ende tlir die zum Teil komplexen Protile gefunden. Die Kombination von C und D zeigt im Wesentlichen die endgültige Lösung. Die Entstehung der Skizzen des Blattes BM 1859-9-15514v kann nach den hier aufgezeigten Analysen in der Zeit vor der Austlih­ rung der Sockelgeschossbasis des Ricetto angenommen werden. Die Wand­ feldrahmung der Realisierung ist gegenüber der axonametrischen Skizze nochmals reduzierter und differenzierter, da nur noch der vorspringende

22 In zwei der zwölf Profilskizzen (l und .1) sind durch deutlich erkennbare später hinzugefügte Striche zwei Profilvarianten zu erkennen (! ' und .1'). 23 Hier sei nur beispielhaft auf zwei Schritte der Variation verwiesen: B entsteht, indem A um ein Plättchen über dem unteren Torus und unterhalb des oberen Kymations reduziert wird. D wiederholt den Teil oberhalb des unteren Torus in einem größeren Maßstab. Für die Rekonstruktion der vollständigen Genese der Reihe sei auf die einzelnen Blattanalysen in der Dissertation des Verfassers verwiesen. 24 Vgl. R. Wittkower: Michelangelo ' s Biblioteca Laurenziana, S . 3 7 . Wittkower differenziert sieben Sockelbasisprofile und fünf Säulenbasisprofile für das Hauptgeschoss. Da die S äulenbasen nicht denen auf der Reeto-Seile entsprechen, datiert er diese in eine spätere Entstehungsphase. Die Anordnung auf dem Blatt und der inhaltliche Zusammenhang der Skizzen widersprechen allerdings der von Wittkower vorgeschlagenen zeitlichen Trennung. Auch die Tatsache, dass Michelangelo bereits auf CB 48 A die Ricetto-S äulen so weit differenziert, dass die Kapitelle der toskanischen Ordnung (wie realisiert) und attisch-ionische Basen erkennbar sind, spricht gegen eine Variation der Basisprofile für die Hauptgeschossgliederung in diesem Planungsstadium.

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Block, nicht mehr die zurückliegenden Wand- und die Flankenfläche ge­ rahmt werden. Die Anforderungen an das skizzierte Profil bleiben dennoch bestehen. Die >negative< Ecke, in der das Rahmenprofil in der Wandmasse verschwindet, entfällt. Die Skizzen verdeutlichen, wie intensiv sich Michelangelo mit der Detailausbildung beschäftigt hat und wie er unkonven­ tionelle Kombinationen in die Überlegungen einbezieht.

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Abbildung 18: Skizzenfolge auf Blatt BM 1859-9-15-51 4v, Um::eichnung der ein::elnen Skiz::en von Sockelbasisprofilen und Säulenbasisprofilen (grau hinterlegt) in der Folge ihrer Entstehung auf dem Blatt

VO M D E TAI L Z U M » M O D E L L «

Das Blatt CB 61 A (Abb. 1 9a) ermöglicht einen Einblick in die Reali­ sierungspraxis, die sich an den Entwurf der Profile in Skizzen anschließt. Auch wenn das in einer Schablone im Maßstab 1 : 1 vorliegende Profil in dieser Weise nicht realisiert wurde, lässt sich daran der letzte Schritt vor der Ausführung in Stein ablesen. Der Zweck solcher Schablonen (ital. : mo­ dine/modano) war es, sich mit den ausführenden Steinmetzen und dem

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1 69

Auftraggeber auf verbindlich und kontrollierbare Muster festzulegen. 25 Andererseits konnte mit der Schablone die Wirkung in wahrer Größe zum Beispiel im Verhältnis zu den bereits ausgeführten Architekturgliedern der Neuen Sakristei bzw. der geplanten und zum Teil begonnenen Skulpturen überprüft werden. 2 6

Abbildung 19a: Analyse des Blattes CB 61 A. Zustand der Schablone

Abbildung 19b: Analyse des Blattes CB 61 A, Zeichnungsspuren

25 Zur Verwendung der Schablonen im Allgemeinen: Cooper, Tracy E. : I modani, in: Millon, Henry A./Lampugnani, Vittorio Magnago (Hg.): Rinascimento da Brunelleschi a Michelangelo. La rappresentazione dell' architettura. Mailand 1 994. S. 494-500, hier S. 494; H. Schlimme/D. Holste/.J. Niebaum: Bauwissen, S. 1 9 1 . 2 6 Forschungsstand zur Neuen Sakristei bei Wallace, William E. : Michelangelo at S an Lorenzo. The genius as entrepreneur, Cambridge (UK)/New York 1 994, S . 75 ff. und Argan, Giulio Carlo/Contardi, Bruno: Michelangelo architetto. Mailand 1 990, S . 85 ff

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Abbildung 19c: Analyse des Blattes CB 61 A, Eintragung der Viertelteilungen

Abbildung 19d: Analyse des Blattes CB 61 A, Eintragung der Drittelteilungen

Auf dem Blatt sind Spuren der Zeichnungsentstehung und des Zuschnittes sichtbar (Abb. 1 9b) . Zwei horizontale Kreidestriche teilen das Blatt in drei Zonen. Ein Strich in vertikaler Richtung ist in der Mitte des oberen Torus abzulesen. An den Schnittkanten des Papieres sind an einigen Stellen noch Reste der Eisen-Gallus-Tinte zu erkennen, die bei der Übertragung von der Ausgangszeichnung auf dieses Blatt verwendet wurde. Die Unterteilung durch die Kreidestriche ermöglicht eine Einteilung des Gesamtprofils in Plinthe, Basis und Pilasterfuß. Alle Radien der Profile lassen sich anhand der Teilung dieser Basishöhe re-konstruieren. Der sechste und der zwölfte Teil (Abb. 1 9d) sowie der vierte und der achte Teil (Abb. 1 9c) definieren die Durchmesser der Stäbe, WUlste und Kehlen sowie den Höhenbezug der Profile untereinander.

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Abbildung 19e: Analyse des Blattes CB 61 A, Eintragung der historischen Maßeinheiten

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Abbildung 19f Analyse des Blattes CB 61 A, Überlagerung sämtlicher Analyseschritte

Unter Berücksichtigung der historischen Maßeinheie 7 lassen sich die Höhen der Steine tlir Plinthe und Basis sowie der Abschluss der Zeichnung nach

27 Ein definiertes Maßsystem gab es im frühen 1 6 . Jh. in Florenz nicht (vgl. Naredi­ Rainer, Paul von: Architektur und Harmonie . Zahl, Mass und Proportion in der abendländischen Baukunst. Köln 1 982). Es wurde einheitlich mit braccio, soldo und denaro gemessen. Ein braccio wird mit 58 cm (ein Viertel mit 14,5 cm gezeichnet bei Ruggieri, Ferdinando : Studio d' architettura civile [ . . . ] . Florenz 1 722, Bd. I, S. I sowie explizit beschriftet mit » ll braccio Fiorentino [ . . . ] col quale sono state [ . . . ] misurate l ' opere [ . . . ]«) zwischen 54,8 1 665 cm und 59,4 1 854 cm (bei Salomon, Joseph: Metrologische Tafeln über die Masse, Gewichte, und Muenzen verschiedener Staaten [ . . . ] . Wien 1 823, S . 1 2) und mit 5 8 , 3 626 cm (bei Martini, Angelo : Manuale di metrologia, ossia misure, pesi e monete in uso attualmente e anticamente presso tutti i popoli. Torino 1 88 3 , S. 206) angegeben.

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oben exakt beschreiben. Die Plinthe misst 3 soldi und die Basis 4 Yz soldi (Abb. 1 9e) . Die Teilung eines soldo an der Kante der Plinthe in 1 2 denari definiert die horizontalen Vor- und Rücksprünge der Einzelprotile. 28 Während der Entwurf der Profile in Skizzen ohne Maß- und Kon­ struktionsvorgaben voranschreitet (vgl. BM 1859-9-15-514, CB 92 Ar/v), sind spätestens bei der Herstellung der Schablonen geometrische Konstruk­ tionsmethoden und Maßangaben verwendet worden. 2 9 Die eigenhändige Be­ schriftung Michelangelos auf Blatt CB 59 Ar zeigt, dass Michelangelo auch in diesem fortgeschrittenen Stadium der Ausführungsplanung kurz vor der Realisierung mindestens einbezogen und die finale Ausbildung von ihm autorisiert wurde. Da im gezeigten Beispiel die Protilierung im Detail von der konventionellen Ausbildung abweicht, ist Michelangelos Anteil an der Übertragung in eine realisierbare Form mit »bestimmten und giltigen Ma­ ßen« 30 sehr wahrscheinlich.

Eine j eweils obj ekt-, baustellen- oder werkstattspezifische Messgröße muss daher in diesem vorgegebenen Rahmen gesucht werden. Bei CB 61 A liegt der soldo mit knapp 29 mm und der sich daraus ergebende braccio mit 57,7 cm innerhalb dieser Spanne . Auf CB 64 A vom März 1 5 1 7 ist der dritte Teil eines braccio von Michelangelo gezeichnet (Längenangaben der gezeichneten Strecke zw. 1 9, 8 cm und 20 cm), wodurch sich ein braccio von 59,4 cm bis 60 cm ergibt (vgL G. S atzinger: Michelangelo und die F assade von S an Lorenzo, S . 29 und Echinger­ Maurach, Claudia: Studien zu Michelangelos .JuliusgrabmaL Hildesheim 1 9 9 1 , B d . 1 , S . 302). 28 Die Methode, die horizontale Verschiebung mit der regofa diagonale zu bestimmen, bei der j ede Auskragung auf der Verbindungslinie vom Fußpunkt der Plinthe bis zum maximalen Rücksprung der Basis liegt, kann fur dieses Blatt nicht nachgewiesen werden (vgL G. Maurer: Michelangelo - die Architekturzeich­ nungen, S. 1 80 f). Der Grund hierfur könnte gewesen sein, dass Michelangelo es vorzog, die Rücksprünge in nachprüfbaren rationalen Maßzahlen anzugeben. 29 Die Ausarbeittmg »nach rein optischen Gesichtspunkten [ . . . ] ohne je mit konkre­ ten Maßen bedacht worden zu sein« (G. Maurer: Michelangelo - die Architektur­ zeichnungen, S. 1 8 1 ) kann für CB 61 A widerlegt werden. 30 L.B. Alberti: Zehn Bücher, S. 70.

D I E Z E I C H N U N G ALS ENTWU R F S W E R KZ E U G

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FAZ I T

Die Analysen der Blätter CB 4 8 Ar, BM 1859-9-15-514v und CB 6 1 A haben gezeigt, welche Rückschlüsse auf den Entwurfsprozess sich aus der Rekonstruktion der Zeichnungsentstehung herausarbeiten lassen. Mit Blick auf den (gesamten) Entstehungszusammenhang wird deutlich, welche Erkenntnisse für den Entwurfsprozess aus der Zeichnungsanalyse unter Berücksichtigung des realisierten Bestandes möglich sind.

Vom Werk zur Idee Notizen zum Erstellen und Verstehen einer (jeden) Architektur

HARMEN H . THTES

Vergewisserungen: Architektur ist das Ergebnis eines Artefakte schaffenden Prozesses. Nicht etwa das Resultat eines Prozesses, aus dem Gebilde der Na­ tur hervorgehen oder entstehen - eines Prozesses also, der seinen eigenen, natürlichen Gesetzen tolgt. Architektur ist vielmehr ein bewusst und gewollt so Gemachtes. Sie resultiert aus den Bemühungen und der Arbeit koordiniert, planvoll und zielgerichtet handelnder Menschen. Über den Anteil Einzelner und über das Gewicht historisch-kultureller und gesellschaftlicher Prägun­ gen, die das Denken, Empfinden und Handeln dieser Einzelnen im Kontext gruppenspezifischer Konventionen und Traditionen verständlich werden las­ sen, wird man lange und intensiv nachdenken können. Hier soll es nicht zum Thema werden. Vielmehr gilt es, ebenso offenkundige wie offensichtliche Einsichten in den Prozess des Entwerfens zu vergegenwärtigen. Und zwar, indem konstitutive Positionen, Schritte und Relationen im Entstehungs-Pro­ zess einer j eden Architektur isoliert und anhand weniger, uns allen wohl bekannter Architekturbeispiele genauer betrachtet werden. Diese Positionen, Schritte und Relationen sowie ihre zeitliche und sachliche Ordnung gehören zu den Konstanten eines j eden Entstehungs-Prozesses von Architektur. Ihre begriff-liche Isolierung, darstellende Beschreibung und genauere Untersu­ chung begründen j enen Parallel-Prozess, der dem tatsächlichen Entstehen ei­ ner Architektur und zumal ihrem Entwerten nachgeordnet ist und den wir Verstehen nennen.

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HARMEN H . TH I ES

Das erkenntnistheoretische Konzept des Verstehens ist hier zu bemühen, weil es - kaum anders als das Einsichten suchende Nachdenken über Archi­ tektur in den Traktaten und Theorien seit der Renaissance - zu den ent­ scheidenden Denkmodellen der europäischen Neuzeit zählt. Seit dem 1 8 . Jahrhundert ist e s zu den Grundlagen j ener Wissenschaften geworden, die wir die historischen oder (später dann) die Geistes- bzw. Kulturwissenschaf­ ten nennen (in der angelsächsischen Welt die humanities oder auch social sciences). Giambattista Vico oder Johann Gottfried Herder sind hier zu nen­ nen, auch - überraschend vielleicht - lmmanuel Kant, aus dessen Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ( 1 787) j ene Sätze zitiert werden sollen, die ohne weitere Umwege die im Folgenden skizzierte Vorgehensweise begründen: »Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ [ . . . ] : so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt, dass sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten [ . . . ] . « 1

Was Kant hier zur Begründung der kritischen Methode und im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Metaphysik in Erinnerung ruft, be­ schreibt schlagwortartig, was auf das Verstehen von >Produktionen< des menschlichen Geistes - auch auf Architektur also - zu übertragen wäre: die spezifische Vorgehensweise der historischen oder Geisteswissenschaften, der humanities: » [ . . . ] denn nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann.« 2

Kant, lmmanuel: Werke in sechs B änden, Weischedel, Wilhelm (Hg.), Darmstadt 1 957, Band II, Kritik der reinen Vernunft, S. 2 3 . 2

Ebd. , Band V, Kritik der Urteilskraft, S 498 (§68, Von dem Prinzip der Teleologie als innerem Prinzip der Naturwissenschaft).

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1 77

Die Umkehrung der tatsächlichen Genese einer (j eden) Architektur dient dem Verständnis dieses Entstehungs-Prozesses. Denn Einsicht und Erfah­ rung lehren uns, dass wir nur ausgehend vom Resultat, schrittweise rück­ wärts gehend, alle tatsächlich konstitutiven Elemente, Faktoren und Mo­ mente erfassen, isolieren, beschreiben und nach Art und Umfang ihres An­ teils am Ganzen dieses Werks beurteilen können. Wenn dies gelingt, verste­ hen wir das Werk. Wir sind dann in der Lage, es nach Begriffe n selbst [zu] machen und zustande [zu] bringen. So gehören Analyse und Re-Synthese des Werks und der das Werk generierenden Prozesse zusammen. Wir sind aufgefordert, die konstitutiven, das resultierende Werk ebenso wie die genetischen Prozesse begründenden Schritte und Einheiten zu bestimmen, gleichzeitig ihre Sukzession und wechselseitige Zuordnung. Es gilt auf die Relationen des Vorher und des Nachher, des Notwendigen und des daraus Folgenden, auch des hier bereits Entschiedenen und des dort dennoch frei Entscheidbaren zu achten - stets mit Blick auf das vermutlich nur so und kaum anders zu Stande gebrachte Werk. Dabei können wir von einer Sequenz architektur-immanenter Schritte und Positionen ausgehen, die ohne weiteres evident erscheint: Vorauszuset­ zen ist stets eine Idee, eine Vorstellung oder eine Konzeption, ohne die der genetische Prozess nicht in Gang zu setzen ist - Position eins. 3 Hier kommt bekanntlich Vieles zusammen, was an dieser Stelle nicht weiter zu verfolgen ist. Doch bleibt vor Augen zu halten, dass Konzeptionen und Ideen zunächst nur im Kopf und in der Vorstellung des oder der den Bau Intendierenden und dann Entwerfenden existieren. Wie sie zustande kommen und was ihr konkreter Gegenstand ist, gehört zu j enen Fragen, die rasch und eindeutig kaum zu beantworten sind. Der zweiten Position kommt entscheidende Bedeutung zu. Ohne sie ist nichts ins Werk zu setzen. Sie ist durch die Notwendigkeit bestimmt, das als Konzeption und Idee zunächst nur im Kopf Existierende zu o�j ektivieren, es zu einem Gegenstand prüfender, urteilender Betrachtung und damit des

3

Näheres dazu: Thies, Harmen H. : Proportion und Gliederung, in: Johannes, Ralph (Hg.): Entwerfen. Architektenausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Geschichte-Theorie-Praxis, Harnburg 2009, S . 1 2 0- 1 44. Das Fol­ gende ist diesem Text z.T. w örtlich entnommen.

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Nachdenkens zu machen. Damit dies geschehen kann, haben Konzeption und Idee der intendierten Architektur eine möglichst eindeutige und wider­ spruchsfreie, eine obj ektive Gestalt zu bekommen. Kernstück und wesentli­ ches Hilfsmittel dieser sekundären, dem primären Konzipieren sich an­ schließenden Phase im Entstehungsprozess einer Architektur ist das System korrespondierender Risse oder ein Analogon, das alle Eigenschatten und Vorzüge dieses Systems auf vergleichbare Weise zu bieten hat (beispiels­ weise ein durch Logarithmen gesteuertes Computer-Programm) . Als ein Plansatz maßstäblicher, die Formen und Maßverhältnisse nicht verfälschender Orthogonalproj ektionen (Grundrisse, Schnitte, Aufrisse) ist dieses System korrespondierender Risse (oder sein Analogon) sowohl als Modeliierung wie als Obj ektivierung und Präsentation des intendierten Werks zu verstehen. Als Proj ektionen sind diese Risse mehr Vor-Bildungen als Nach- oder Ab-Bildungen. Zu ihren wesentlichen Funktionen gehört die vollständige Reproduzierbarkeit des aus Einzelstücken und Teileinheiten gefügten Ganzen. Was nicht mit Zirkel, Lineal und auf der Grundlage eines verbindlichen Maßstabs konstruiert und entsprechend reproduziert werden kann, als Riss also (oder sein Analogon), das wird auch nicht zum Architek­ tur-Werk im Sinne der hier skizzierten Systematik zählen können.4 Der be­ reits von Leon Battista Alberti herausgestellten Bedeutung der Risse sucht die vom Autor Rissanalyse genannte Methode baugeschichtlicher Unter­ suchungen gerecht zu werden. 5 -

4

Alberti zu diesem Punkt: »Die ganze Baukunst setzt sich aus den Rissen und der Ausführung zusammen. Bedeutung und Zweck der Risse ist, den richtigen und klaren Weg zu zeigen [ . . . ]« zitiert nach: Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst (Oe re aedificatoria), Max Theuer (Hg.), Darmstadt 1 975 (zuerst 1 9 1 2), S. 1 9 . » Tota res aedificatoria lineamentis et structura constituta est. Lineamentorum omnis vis et ratio consumitur, ut recta absolutaque habeatur via [ . . . ]« zitiert nach: Alberti, Leon Battista: L 'Architettura (Oe re aedificatoria), Orlandi, Giovanni/Portoghesi, Paolo (Hg.), 2 Bände, Mailand 1 966, S. 1 9 .

5

Dazu Texte des Autors : Thies, Harmen H. : Grundrißfiguren Balthasar Neumanns . Zum maßstäblich-geometrischen Rißaufbau der Schönborn-Kapelle und der Hofkirche in Würzburg, Florenz 1 980; ders. : Michelangelo . Das Kapitol (Italieni­ sche Forschungen, Kunsthistorisches Institut in Florenz, Dritte Folge, Band XI), München 1 982; Ders . : Proportion und Gliederung.

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Zur dritten Position der Sequenz gehört dann sei bstverständlich, dass das im genannten System der korrespondierenden Risse (oder dem modernen Analogon der lntormationstechnologie) vor-gebildete und vor-konstruierte Architektur-Werk j etzt auch baulich realisiert wird. Ausdrücklich ist hier auf das grundlegende Prinzip der Arbeitsteiligkeit innerhalb dieses Produktions­ und Realisierungsprozesses zu verweisen. Was der Architekt (oder eine ihrerseits arbeitsteilig organisierte Gruppe in seinem Namen oder an seiner Stelle) in den Positionen eins und zwei konzipiert, entworfen und in Rissen klar und deutlich beschrieben und dargestellt hatte, ist j etzt mit Hilfe geeigneter Baustoffe, adäquater Techniken und konstruktiver Methoden von anderen in die Wirklichkeit des gebauten Werks zu überführen. Die Risse der Position zwei sind in dieser Hinsicht als Arbeitsanweisungen und Realisierungshilfen, als unabdingbare Voraussetzungen tlir das zu erkennen, was dann in Position drei materialiter und realiter zu erstellen ist. Neben dem skizzie1ien Leitfaden zur Umkehrung des Richtungssinnes beim Konzipieren und Realisieren eines (j eden) Architektur-Werks wird sich der Prozess des Verstehens an die altbewährten Kriterien der Vitruvianischen Begriffs-Triasflrmitas, utilitas und venustas zu halten haben. 6 Sie helfen die im Zuge der Analyse isolierten Einheiten und ihre j eweiligen Fügungen nä­ her zu bestimmen, das Gewicht und den Anteil detinierbarer Faktoren und Momente an der Genese eines Werks besser einzuschätzen und zusammen mit der re-konstruierten Sequenz von Analyse-Positionen und -Schritten das stets re-synthetisierende Verstehen begründbar und anschaulich zu machen. Hier sollen diese Faktoren und Momente zugunsten der Präsentation einiger weniger Architektur-Beispiele allerdings beiseite bleiben, ebenso ein näheres Eingehen auf die vielschichtigen Positionen eins und drei (eins : Entwurfs­ idee bzw. Konzept, drei: bauliche Realisierung). Stattdessen sei in Erinnerung gerufen, dass das analytische Zerlegen des Ganzen einer Architektur, zumal das Zerlegen ihrer maß- und formgerechten Obj ektivierungen im System der korrespondierenden Risse (Position zwei) seit der Renaissance zu den Konstanten und zur Substanz der neuzeitlich­ modernen Architektur-Theorie und Architektur-Lehre zählen. Dies gilt für

6

Zur []Iustration des Gemeinten seien die Schwebefähre in Marseille von Arnodin ( 1 907, fzrmitas und utilitas), der Entwurf eines Bürohauses aus Eisenbeton von Mies van der Rohe ( 1 922!23,jirmitas und utilitas) und das Haus des Flurwächters von Ledoux ( 1 78 3 , fast ausschließt ich venustas) genannt.

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Entwürfe und ihre Imaginationen nicht anders als flir bereits Gebautes. Es genügt der Hinweis auf besonders bedenkenswerte Beispiele.

Abbildung 1 : Leonardo da Vinci, Kon=eptski=ze, Mailand., Codex A tlanticus 31 Ov-a (etwa 1490) Etwa auf die kleine Konzept-Skizze Leonardo da Vincis, die den Rohling eines offenbar sakralen Zentralbaus über dem griechischen Kreuz (mit einer Kuppel ohne Tambour) zeigt - herausgehoben aus ihrem Unterbau, einem quadratischen Basisbaukörper mit vier abermals quadratischen Eck- >Tür­ men< - architekturgeschichtlich vermutlich einer der Erstlinge des analy­ sierenden und reflektierenden Entwerfens (Abb. 1 ) . 7 Wechselwirkend de­ monstrieren und erklären die nur zur Veranschaulichung voneinander getrennten Teil-Einheiten dieser Kantiguration ihre Zugehörigkeit und Abhängigkeit zum und vom j eweils Anderen. Wir können die Fügung nachvollziehen, wir verstehen sie. Und wir begreifen, dass eine Vielzahl zentral organisierter Architekturen seit der Renaissance diesem Schema ge­ mäß entworfen und konzipiert worden sind (beispielsweise Bramantes St. Peter oder Schinkels Nikolai-Kirche in Potsdam) . Oder auf Leon Kriers Schnitt-Isometrie zur Demonstration seiner Ent­ wurfs-Idee für einen Antiquitätenmarkt in Tegel (Wettbewerb 1 982, Abb.

7

Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Codex Atlanticus 3 1 0 v . a. , Umzeichnung. Vgl. auch Thies, Harmen H. : Zu einer Typologie neuzeitlicher Ordnungsfiguren und Wölbgestelle, in: Büttner, Frank/Lenz, Christian (Hg.): Intuition und Darstellung (Festschrift Erich Hubala 1 985), München 1 985, S. 77-86.

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2). 8 Auch hier wird das intendierte Ganze in seine konstitutiven Bestandteile zerlegt und in der bildliehen Darstellung auseinander gezogen, um unmissverständlich die gezielte Kombination der beiden kategorial einander entgegen gesetzten Teil-Einheiten deutlich werden zu lassen: den dunklen, lastenden, im Erdreich gegründeten, massiv gemauerten und gewölbten Sockelbau unten - und den schwebend abgehobenen, allseits offenen, lichten und antiken Tempeln gleich aus Säulen, Balken und einem Dach gefügten Skelett-Bau oben. Die Charakteristika des Einen zeigen und erklären sich an den ihnen entgegen gesetzten Grundeigenschaften des Anderen. Abermals lassen sich Setzungen des Entwurfs nachvollziehen und also verstehen.

Abbildung 2: Leon Krier, Antiquitätenmarkt in Tegel, Wettbewerbsentwurf (1982)

Abbildung 3: Coop Himmelb (l)au, Musee de CoJ?fluance, Lyon (2001-2014) Oder schließlich auf das Musee de Contluance in Lyon von Coop Him­ melb(l)au (200 1 -20 1 4, Abb. 3), j etzt um darauf hinzuweisen, dass die als

8

Publiziert in: .Jencks, Charles: Die Postmoderne. Der neue Klassizismus in Kunst und Architektur, Stuttgart 1 987.

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sachlich notwendig zu erkennende Position zwei architekturimmanenter Entstehungsphasen eines Bauwerks, die geometrische und maßliehe Ob­ j ektivierung des zu erstellenden Werks (auch im Sinne einer Arbeitsanwei­ sung), in diesem Fall den digitalen Datensätzen logarithmengesteuerter Computerprogramme übertragen ist - und nicht mehr dem bis ins späte 20. Jahrhundert verbindlichen System korrespondierender Risse. Diese Datens­ ätze so zu analysieren wie einen traditionellen Plansatz, wird allerdings Schwierigkeiten bereiten, ebenso eine verstehende Nach-Konstruktion des tatsächlichen Entwurfs-Prozesses .

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Abbildung 4: Paul Frank!, Schemaskiz=en aus Entwicklungsphasen der neueren Baukunst (Leipzig 1914)

Abbildung 5: Christian Norberg­ Schulz, Schemaski=zen aus Kilian lgna= Dientzenhafer e il barocco boemo (Rom 1968)

In den Schema-Zeichnungen bau- und architekturgeschichtlicher Unter­ suchungen ist diese Analysen und Re-Synthesen kombinierende Methode seit dem 1 9 . Jahrhundert mit großem Erfolg eingesetzt worden. Es genügt auf Arbeiten zu verweisen, die wegen ihrer schematisierenden Analyse-Skiz­ zen den meisten geläufig sind: auf Paul Frank! etwa CEntwicklungsphasen der neueren Baukunst, Leipzig 1 9 1 4 , Abb. 4) oder auf Christian Norberg­ Schulz (Kilian lgnaz Dient=enhofer e il barocco boemo, Rom 1 968, Abb. 5). Wie sehr Untersuchungen und Darstellungen dieser Art das Verstehen von Architektur fördern, sollen auch die folgenden, Begriff und Anschauung nach Möglichkeit kombinierenden Restitutionen einzelner Entwurfs-Wege bzw. -Entscheidungen exemplifizieren. Es sind Skizzen und Versuche, die selbstverständlich j ederzeit - nicht zuletzt mit den Mitteln und auf der

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Grundlage der hier propagierten Methode - revidiert oder korrigiert werden können.

Abbildung 6: Andrea Palladio, Darstellung der Rotonda in den Quattro libri dell 'architettura (15 70) Die Villa Almerico-Capra bei Vicenza, die Rotonda Andrea Palladios, wird in seinen Quattro libri dell 'architettura ( 1 570) so dargestellt und beschrie­ ben, dass uns alle Elemente für eine Nach-Konstruktion entscheidender Ent­ wurfs-Schritte zur VerfUgung stehen (Abb. 6). 9 Dies gilt vor allem fiir die

9

Ausführliche Darstellung in H. Thies : Proportion und Gliederung. Passagen des Folgenden sind diesem Text entnommen.

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Position zwei der Sequenz architekturimmanenter Genese-Schritte, flir die Analyse des Riss-Aufbaus und in diesem Zusammenhang flir die Restitution der zur Realisierung der Rotonda notwendigen Folge zielgerichteter Ent­ wurfsentscheidungen. Möglich wird dies aufgrund der von Palladio selbst in seinem Traktat gelieferten Basisinformationen: Gezeigt werden Grundriss, Schnitt und Aufriss der präsentierten Architektur (letztere in einer Kombina­ tion von zwei einander ergänzenden Bauwerks-Hälften) in ein und demsel­ ben Maßstab, dazu - entscheidend wie stets, wenn es nicht allein um die Geometrie des Ganzen und seiner Teile, sondern um konkrete Abmessungen geht - ausreichend präzise Maßangaben in Grundriss, Schnitt und Aufriss (piedi, Füße). Der zugehörige Text bietet knappste Hinweise auf den Bau­ herrn, die Lage und die Funktion der Villa (utilitas). Die materiell­ konstruktiven Entscheidungen (firmitas) ergeben sich aus einer genaueren Untersuchung der Risse - und aus der Kenntnis des tatsächlich Gebauten. Schon j etzt wird deutlich, dass es zur Hauptsache um Fragen der venustas geht, um Anmutungen, um Ästhetik. Allein der Aufbau des Entwurfs nach Palladios Rissen soll interessieren, j ene schrittweise Re-Konstruktion und zugleich Objektivierung der Bauge­ stalt, die - ausgehend von der Riss-Gestalt des Baus und also rückwärts gerichtet - am Ende Hinweise auf die Entwurfs-Konzeption Palladios (und seines Bauherrn) liefern könnte. Die Rotonda bleibt damit ein Parade-Bei­ spiel für das Verstehen von Architektur - zugleich flir die Überprüfung die­ ses Verstehens. Denn das hier Präsentierte bleibt selbstverständlich Hypo­ these.

Abbildung 7: Rotonda-Analyse, Skiz::e I (Achs-Kreu:: und 15-Fuß­ Raster)

Abbildung 8: Rotonda-Analyse, Ski::ze 2 (Grund-Figuren und Maße: 15, 30, 60, 90 Füße)

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Eine erste Entwurfs-Entscheidung war mit der Wahl des Standorts gefallen (Nähe zur Stadt, Erreichbarkeit, Eignung des Baugrunds, genaue Positionie­ rung des geplanten Bauwerks in Relation zu Topographie und Umgebung, Höhe, Ausblick, Orientierung usw.), in abstracto darzustellen in der Fixie­ rung eines Achskreuzes, das für alle weiteren Schritte grundlegend bleibt. Mit dieser primären Setzung war auch das zeit- und ortsübliche Maßsystem eingeführt - ein piede (Fuß) . Palladio entwickelt auf dieser Basis einen Quadrat-Raster von 1 5 Fuß Seitenlänge (Abb. 7).) Die Analyse-Skizze 2 (Abb. 8) führt Einheiten und Kombinationen vor Augen, die mit Hilfe dieses Rasters und durch schlichte Additionen zu realisieren sind. Palladio fasst die 1 5 Fuß Raster-Quadrate zu Gruppen und einfachen Grundfiguren zusammen, die erste Hinweise auf die von ihm intendierte Baugestalt liefern: im Zentrum ein Kernquadrat aus vier 1 5 Fuß Raster-Einheiten und also 3 0 Fuß Seitenlänge, ausgehend von diesem Kernquadrat ein griechisches Kreuz, zusammen gesetzt aus fünf Kern­ quadraten. Gleichzeitig erscheint das Zentrum von einem größeren Quadrat umschlossen, dessen Seitenlänge, aus vier 1 5 Fuß Einheiten addiert, j etzt 60 Fuß beträgt. Entscheidend tlir alles Weitere ist vor allem dies größere Quad­ rat mit 60 Fuß Seitenlänge. Es liefert die körperlos-abstrakte Basisgröße j enes von Palladio so gewollten und bis zu diesem Schritt noch vollkommen ungegliederten, ja gesichtslosen Corpus der Villa. Auch in der baulichen Verwirklichung sollte dieser quadratische Kastenkörper dann als das materielle Kernstück der Rotonda wahrgenommen werden.

+� Abbildung 9: Rotonda-Analyse. Skiz::e 3 (Quadratischer Corpus und 4 dazu gestellte Säulen-Portiken)

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Abbildung I 0: Rotonda-A nalyse, Ski::ze 4 (Nach-Konstruktion des Grundrisses, Maße)

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Der nächste, nicht minder entscheidende Entwurfsschritt bestand darin, dem quadratischen Corpus der primären Setzung auf allen vier Seiten eine Architektur-Einheit zuzugesellen, die diesem Kern nach Struktur und Eigen­ art vollkommen tl·emd ist: Dem homogenen Körper aus kontinuierlich angeordneten Mauerwerkszügen und geschlossenen Wänden wird eine skelettartig-offene Struktur aus Einzelstützen und verbindenden Balken auf einem Podium mit Freitreppe und unter einem flach geneigten Giebeldach mit Frontispiz vor die Wand gestellt (Abb. 9). Die erste Einheit, der quadrati­ sche Kernkörper, mag als der architektonische Rohling bezeichnet werden, die zweite als das Formen und Maße liefernde Element. Dass es sich hier um ein heterogenes, aus ursprünglich ganz anderen Zusammenhängen heraus­ gelöstes Versatzstück handelt, um das Fragment eines antik-römischen Podientempels, ist bekannt. Wichtig bleibt, sich die Funktion dieses Elemen­ tes innerhalb des schrittweise sich entfaltenden und bereits j etzt als Idee fasslich werdenden Entwurfsprozesses zu vergegenwärtigen. Wir könnten diese Idee mit dem Wort Selbst-Organisation umschreiben. Die Achsen des quadratischen Corpus und die Achsen der vier Tempelportiken der Rotonda werden in eins gesetzt. Sie funktionieren als ein tertium comparationis, als ein beiden Elementen gemeinsames und deswe­ gen vermittelndes Kettenglied. Und da dem isolierten Teilstück der antiken Tempelfront nur der Kopf und das Gesicht, nicht aber der Leib geblieben war, hatte der quadratische Kernbau das diesem Bautypus Fehlende zu lie­ fern: vier Wände, vor die vier Tempelfronten so zu stellen waren, dass j etzt j ede dieser vier Fronten einen Leib, und zwar denselben Leib, hinzugewon­ nen hatte, der bisher gesichtslose Kernbau dagegen vier Köpfe und vierfacci­ ate. Die bisher ungeteilte und fast formlose Mauetwerksstruktur des Kernkörpers war j etzt mit Bauteilen und Formen, mit Maßen und Maßverhältnissen versorgt. Der Corpus wird auf diese Weise gegliedert und proportioniert. Formen, die ursprünglich einzig und allein zur Architektur von Tempelportiken und Vorhallenfronten gehörten, hatte Palladio aus die­ sen Zusammenhängen gelöst, um sie Teile j ener quadratischen Kern-Einheit werden zu lassen, die bis zu diesem Schritt ohne Teilung und Gliederung, ohne Maße und Proportionen auskommen musste. Er hatte sie dem Glieder­ bau ent-lehnt und der Mauerwerksstruktur mit-geteilt. Das bis zu diesem Punkt Gezeigte wird durch die Maßangaben Palladios, durch seine Traktat-Risse und nicht zuletzt durch die anschauliche Präsenz der Rotonda bestätigt. Das gilt für die Sequenz der Schlüsselmaße 1 5 , 30, 60

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und 90 Füße ebenso wie für das Bestreben Palladios, an diesen Maßen trotz aller notwendigen Rücksicht auf Mauerstärken (aus den Traktat-Rissen ist zu erschließen: 1 Fuß) und trotz unvermeidbarer Differenzen zwischen Innen­ und Außenmaßen festzuhalten. Auch im konkreten Aufbau sollten sie fass­ lich und anschaulich bleiben. Dies zu leisten, war und ist die alles Weitere bestimmende Aufgabe der vier Tempelportiken. Denn mit ihnen war das For­ men, Maße und Relationen zur Anschauung bringende System der Säulen­ ordnungen eingeführt. Während Anlage und Grundriss zunächst dem abs­ trakten 15 Fuß Raster der Positionen eins bis drei folgen, war dieser ebenso eingängigen wie einfachen Grund-Ordnung in den vier Potiiken - und damit in den Säulenordnungen - ein figurierendes Moment ganz anderen Charak­ ters und ganz anderer Herkunft entgegengesetzt. Im Grundriss der Rotonda ist zu sehen, dass die Breite der vier Tempel­ fronten (Innenmaß : 30 Füße) die Binnenteilung des quadratischen Kernbaus bestimmt. Ausgehend von den Vorhallenflanken durchmessen j e zwei Mauerzüge in diesem 3 0-Fuß-Abstand das Innere des Kubus, um in der Mitte dann ein wiederum 30 Fuß messendes Quadrat zu bilden, dem eine zentrale Rotunde desselben Durchmessers eingeschrieben ist. Die Breite und das Maß der Portiken organisieren den Grundriss des Kernkörpers der Rotonda - in Konkurrenz gleichsam mit den Rastermaßen der Grundanlage (Abb. 1 0). Im Aufriss und im Schnitt leisten dies die Höhe des Podiums mit seinen Basis­ und Abschlussprofilen (1 0 Füße), die Höhe der j eweils sechs ionischen Säulen in den Giebelfronten der Vorhallen ( 1 8 Füße), die Höhe und der Aufbau der dreiteiligen Gebälke auf diesen Säulenstellungen (gemeinsam mit den Säulen: 2 1 % Füße) und die Höhe der die Tempelfronten zusam­ menfassenden Giebelfelder (7 Füße) . Diese Maße sind an die Glieder und Formen des Systems der Säulenordnungen gebunden (im Falle der Rotonda: an die Ionica) . Sie sind diesem System primär zueigen. Sie vor allem lassen erkennen, was Gliede­ rung mit Hilfe dieses Systems bedeutet. Wirklich (>dem Wirken gleichbindenden< Andrea Palladio zuzu­ schreiben ist.

Abbildung I I : Rom, das Kapitol Michelange/os im Stadtgefüge (Ausschnitt aus dem No/li-Plan 1 748 und Luftaufnahmen ca. 1930) Während die baulich-architektonische Einheit der Rotonda klar und deutlich genug in ihren Grenzen bestimmt ist, gibt das Kapitol Michelangelos

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mancherlei Anlass zu Fragen und Diskussionen (Abb. 1 1 ). 10 Denn zur Piazza di Campidoglio gehören nicht allein der Platz mit der Reiterstatue des Mare Aurel in seiner Mitte, sondern auch - konstitutiv - die drei den Platz einschließenden Paläste : der Senatorenpalast in der Mitte, der Konserva­ torenpalast zur Rechten und der Palazzo Nuovo zur Linken. Dennoch bleibt zu fragen, ob auch die aus der Stadt auf die Höhe des Platzes führende Ram­ pentreppe, die Cordonata, ob die Baukörper und das Innere der drei Paläste, ob die in der Tiefe des Platzes links und rechts in die Höhe führenden Trep­ pen und Loggien, ob die stadtseitige Balustrade und ihre Figuren und ob manches andere Teilstück des uns als Kapitol bekannten Architektur­ Komplexes tatsächlich zum Ganzen dieser vielteiligen Baugestalt gehören, zu ihrer Einheit.

Abbildung 12: Arata lso::aki, Venvaltungszentrum in Tsukuba (Japan, 1980-1983) Das Isolieren und Zitieren von Teilstücken des Kapitols-Komplexes, wie beispielsweise des ovalen Platzschildes mit seiner charakteristischen Pavimentierung, genügt offenbar, um dies aus allen Bindungen herausgelöste Teilstück (unter welcher Zielsetzung auch immer) als Stellvertreter des Gan­ zen wahrnehmen zu können, als >das Kapitol< . Der postmoderne Entwurf Arata Isozakis für das Verwaltungszentrum in Tsukuba (Japan, 1 980- 1 98 3 , Abb. 1 2) fragmentiert nicht allein die >eigentliche< Einheit der Piazza di

1 0 Genaueres zum Aufbau, zum Anteil Michelangelos und zur Datierung: H. Thies : Das Kapitol.

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Campidoglio, sondern - mehr noch und darüber hinaus - die Einheit des zitierten Platzschildes. Dennoch funktioniert dieser Verweis.

Abbildung 13: Michelange/os Kapitol, Lageplan und Grundriss (Faleti-Stich 1567) Auch hier ist folglich vom Werk auszugehen, vom so vor Augen stehenden Ganzen und seiner Genese. Denn dies Ganze ist das vielschichtig-komplexe Ergebnis Jahrhunderte langer Bemühungen um eine dem Ort und seiner Bedeutung angemessene Gestalt. Weder zeitlich, noch räumlich, weder mit Blick auf die Autorschaft, noch nach der Zielsetzung und Wirkung einzelner Eingriffe und Maßnahmen ist die Architektur des Kapitols einfach zu fassen. Zumal der - für das Bild des Komplexes seit dem 1 6 . Jahrhundert selbstre­ dend entscheidende - Anteil Michelangelos muss aus einer Vielzahl von Beobachtungen, Materialien und Nachrichten herausgeschält werden. Aber­ mals werden die Schritte einer rückwä1is gehenden Analyse zur Grundlage vorsichtiger Re-Synthesen j ener baulichen Zustände, die den nicht um­ kehrbaren Prozess der sukzessiven Genese beschreibbar werden lassen -

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begrifflich und anschaulich zugleich. Abermals geht es um das Verstehen dieser Architektur. Wir sind aufgefordert, sie nach Begriffe n selbst [zu] ma­ chen und zustande [zu] bringen.

Abbildung 14: Michelange/os Kapitol, Vogelschau-Perspektive (Duperac­ Stich 1568) Im Prinzip vergleichbar den Rissen der Rotonda in Palladios Quattro libri dell 'architettura (der Position zwei unserer Folge notwendiger Schritte) gibt es zeitgenössische Publikationen des Michelangelo-Entwurfs, die auf Grund systematischer Vergleiche, vor allem aber auf Grund von Bauaufnahmen der aktuellen Situation als weitgehend zutreffende Wiedergaben j ener Pläne gel­ ten dürfen, die ab 1 5 3 7/3 8 sukzessive und unter schwierigen äußeren Um­ ständen baulich realisiert worden sind - bis zum Tod Michelangelos 1 564 unter seiner Aufsicht: zum einen ein Lageplan mit den Grundrissen des Platz­ Ovals, des Marc-Aurei-Sockels und der drei Palast-Fassaden ( 1 567, Abb. 1 3 ) und zum anderen eine Vogelschau-Perspektive, eine Vedute, die den Aufbau und die Gliederung dieser Front-Architekturen in ihrer Stellung zum Platz­ 11 oval und zum Reiterstandbild vor Augen stellt ( 1 568, Abb. 1 4 ).

1 1 Auf dem Lageplan-Grundriss-Stich ist zu lesen: AREAE CAPITOLINAE ET ADIACENTIUM

PORTICUUM

S CALARUM

TRIBUNALIUM

EX

MICHAELIS ANGEL! BONAROTI ARCHITECTURA ICHNOGRAPHIA ROMAE ANNO MDLXVII. Auf der Vogelschau-Perspektive : CAPITOLII QUOD S P Q R IMPENSA AD MICHAELIS ANGEL! B ONAROTI EXIMII

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Ausgehend von diesen Publikationen des Michelangelo-Entwurfs, er­ gänzt durch Bauaufnahmen und eine eingehende Untersuchung des bauli­ chen Bestandes, ist es möglich, den schrittweisen Aufbau der Architektur von ersten Setzungen über zweite und dritte Entscheidungen bis zur struktu­ rell-architektonischen Organisation der Palastfronten zu verfolgen. Das Nach-Konstruieren zentraler Positionen fUhrt dabei nicht nur zum Verständ­ nis der vielteiligen Anlage und ihrer sukzessiven Genese. Es liefert darüber hinaus wichtige Argumente zur Datierung des Ganzen. Auch über die Gren­ zen des von Michelangelo Entworfenen, über Kern, Umfang und Reichweite seiner Kapitols-Architektur sind j etzt begründete Aussagen möglich. Ein­ griffe und Änderungen, die dem von ihm Beabsichtigten zuwiderlaufen, sind an dieser Nach-Konstruktion zu messen und entsprechend leichter zu fassen und namhaft zu machen. Am Einscheidendsten für Wirkung und Wahrnehmung des Platzes war die Verlängerung der Cordonata unter Giacomo della Porta bei gleichzeitiger Verminderung ihrer Neigung - mit dem Ergebnis, dass der aus der Stadt Hinaufsteigende die Höhe des Platzes erst mit dem Betreten des leicht gewölbten Ovalschildes tlir das Reiterstandbild erreicht. So ist es heute. Michelangelo dagegen hatte vorgesehen, dass der Platz an seinem ursprüng­ lich erheblich höher liegenden Rand im Zuge der Platz-Balustrade betreten werden sollte. So war es auch ausgeführt. Denn von hier aus, noch diesseits der stadtseitigen Fronten der beiden Seitenpaläste und gleichsam auf der Schwelle des Platzes, hätte der Besucher das Ganze der Architektur mit dem Mare Aurel auf seinem relativ niedrigen Sockel in Zentrum und den drei Palastfronten in der Tiefe und zu den Seiten mit einem Blick erfassen können - einem Überblick, vergleichbar der Vedute des Duperac aus dem Jahr 1 568. Jetzt erst hätte er die >wahre< Tiefe der Platzarchitektur sehen und ermessen können. Als im 1 9 . Jahrhundert (für das bequemere Befahren mit Kutschen und später Autos) vier > Straßen-Kanäle< in das leicht zum Ovalschild hin ge­ neigte Kontinuum des umschließenden Paviments und in den bis dahin

ARCHITECTI EXEMPLAR IN ANTEIQUUM DECUS RESTITUI POSSE VIDETUR

TABULA

ACCURATISSIME

STEPHANI

DUPERAC

PARISIENSIS GALLI OPERA DELINEATA SENATORIS 111 VIRORUM URBIS CONSERVATORUM PRAETORIA AREAM GRADUS MOENIANA COMPLECTENS ROMAE KAL OCTOBRIS ANNO SALUTIS MOLXVII I.

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geschlossenen Stufenring 12 dieses Schildes gebrochen und bei dieser Gelegenheit auch noch die Fundamente der Palastecken freigelegt wurden, war das ursprüngliche Platz-Relief Michelangelos definitiv zerstört. Heute hat man Mühe, die originalen Basislinien dieser Architekturen wenigstens optisch zu rekonstruieren. Andere, Konzeption, Bild und Wirkung der Architektur Michelangelos ähnlich beeinträchtigende Änderungen müssen an dieser Stelle beiseite bleiben. 13 Zu den ersten Setzungen des Michelangelo-Entwurfs gehörte die Aufstel­ lung des antik-römischen Reiter-Standbildes des Mare Aurel 1 53 7/ 1 5 3 8 . Sie war auf Befehl des Papstes (Pauls II I. Farnese) vom Lateran hierher geschafft und auf ein neu es, von Michelangelo entworfenes Postament gestellt worden. Die Gestalt und der Grundriss dieses Postaments enthalten wichtigste Hin­ weise auf die von Michelangelo damals bereits konzipierte Kapitols­ Architektur. Reiter, Postament und ovaler Platzschild des Standbildes sollten als die handelnde und entscheidende, alles (auch zeitlich) Folgende durch ihre Präsenz an seinen Platz und in seine Form bringende, als eine aktiv ausgreifende, Figur und Architektur in sich versammelnde Schliissel-Einheit des Ganzen wirken und deswegen, fast notwendig, im Zentrum des neuen Kapitols stehen - seiner Wirkung auf Sinne und Wahrnehmung ebenso ge­ mäß wie seiner historischen und figürlichen Bedeutung. Im maßlieh-geometrischen Aufbau des Reiter-Sockels waren die folgen­ den - nach der Logik der dann realisierten Platz-Organisation notwendigen - Entwurfs-Entscheidungen bereits enthalten. Sie waren dort vorgebildet. Denn die aus Kreis-Segmenten gefügte Postament-Architektur liefert, heute noch, die wichtigsten Abmessungen j ener Ovato-Konstruktion, die dann (sehr viel später, aber noch zu Lebzeiten Michelangelos) zur Basis des Stu-

1 2 Miche1angelo hatte hier drei >Nasen< entworfen, entsprechend den drei wichtigs­ ten Aufgängen auf das Kapitol, siehe die Stiche von 1 567 und 1 5 6 8 . 1 3 Dazu gehören: die reichere Ausbildung der Mittelfenster beider Seitenpaläste (von della Porta am Konservatorenpalast eingefuhrt), die Verdoppelung der Stirnachsen beider Seitenpaläste (bei Errichtung des Pal. Nuovo beschlossen), die Veränderung der F assaden-Gliederung des Senatoren-Palastes und das Fortlassen der dort vorgesehenen Freitreppen-Loggia (della Porta), auch das >monumentale< Freilegen des Kapitols durch Abriss der städtischen Bebauung unterhalb und zu Seiten der Cordonata in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.

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fen-Ovals und des von ihm umgrenzten, leicht gewölbten Platzschildes wer­ den sollte. Aufmaße des Reitersockels, des ovalen Stufenringes, der stadt­ seitigen Balustrade und der umstehenden Palastfronten lassen eine komplexe Fügung von Maßen, Geometrien, Positionen und Relationen erkennen, die alle in der Postament-Architektur bereits angelegt waren. Umgekehrt: ohne das Marc-Aurel-Postament wären die wichtigsten Folgeschritte im Prozess des Entwerfens und der dem Entwerfen folgenden - mehrfach verzögerten baulichen Verwirklichung nicht möglich geworden (Abb. 1 5 , Abb. 1 6) .

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Abbildung 15. Kapitol, Bauaufnahme des Platzes und der Palastfronten (Thies)

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Abbildung 1 6: Kapitol, Plat=-Ovato und Reiter-Postament, Geometrie und Maße (Thies)

Zugleich mit dem Standbild, dem Postament und seinen aus Kreissegmenten gefUgten Stirn- und Flankenstücken waren die >Mitte< des neuen Kapitols, das zentrale Achskreuz, die geometrische Konstruktion und die Maße des seinerseits aus Kreis-Segmenten gefügten Ovato und damit die Form des die­ ser Konstruktion folgenden Stufenringes fixiert. Denn Kernmaße des Postamentes (vor allem die 7 palmi für seine Breite und die 1 8 114 palmi für die Segment-Radien seiner Flankenstü.cke) addieren sich in der Längsachse zu j enen 80 palmi Seitenlänge der beiden gleichseitigen Dreiecke, die im Zentrum des Ganzen zu einer Kernraute versammelt sind und die damit die

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Zirkeleinstiche der Ovata-Konstruktion bestimmen. Dies Ovato sollte auf dem Achskreuz eine Länge von (3 x 80 ) 240 palmi und eine Breite von (etwa) 1 8 1 palmi bekommen. Wegen der irrationalen >Höhe< in einem gleichseitigen Dreieck war hier nur mit Näherungen an rationale Werte zu rechnen. Angestrebt war offensichtlich, aber aus geometrischen Gründen für die Breite selbstverständlich nicht realisierbar, eine >einfache< Maß-Relation, nämlich 4 zu 3 (240 zu 1 80 palmi). =

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Abbildung 1 7: Kapitol, Nach-Konstruktion des Faleti-Stiches von 1567 (Thies) Der Vergleich dieses auf dem Kapitol gemessenen Ergebnisses mit einer maßstäblich-geometrischen Nach-Konstruktiondes Grundriss-Stiches von 1 567 (Abb. 1 7) 14 bestätigt die Annahmen, dass dieser Plan tatsächlich den Grund-Entwurf Michelangelos zeigt ([ . . . ] EX MICHAELIS ANGEL! BONAROTI ARCHITECTURA ICHNOGRAPHIA [ . . . ]) und dass wegen der datierten Zentral-Einheit dieses Plans, des Reiterstandbildes mit seinem

14 Rissanalyse, möglich wegen des über der Cordonata-Mündung eingetragenen Maßstabs.

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Postament ( 1 53 7/ 1 5 3 8), auch das Entwurfs-Konzept Michelangelos in diese Zeit zu datieren ist. Die Nach-Konstruktion zeigt dieselbe Ovato-Konstruk­ tion, die der Realisierung zugrunde liegt (3 x 80 240 palmi für seine Länge und, etwa, 1 82 palmi für die Breite). Die Angelpunkte fiir die > Verschwen­ kung< der Seitenpalast-Franten sind hier wie dort an die Anordnung entspre­ chend wichtiger Postamente in der >Basislinie< des Ganzen, der Platz-Balust­ rade gebunden. Und: die Architektur der dem Reiterstandbild auf seinem Oval-Schild entgegen gestellten Portikus-Fronten ist von ihrer j eweiligen Mitte her entwickelt, in Relation zum Reiter-Standbild. 1 5 Eine Struktur-Analyse der Portikus-Front des Konservatoren-Palastes (dasselbe gilt für die Architektur des allerdings erst im 1 7 . Jahrhundert errichteten Palazzo Nuovo) zeigt j ene, den Charakter und das Bild des Gan­ zen prägenden Teileinheiten, die konkret nur im Anschluss an die Positionie­ rung der Palastfronten zu entwerfen waren, in ihrer Relation zum Reiter­ Standbild und zum Platzoval (Abb. 1 8, Abb. I 9). Wie bei der - Wechselwir­ kungen auslösenden - Stellung des Reiterstandbildes mit seinem Platzschild gegenüber den auf Abstand zu haltenden Baukörpern geht es bei diesen Pa­ last-Architekturen um eine Entgegensetzung, eine Auseinandersetzung zwi­ schen kategorial verschiedenen, einerseits >aktiven< und zum anderen >passi­ ven< Akteuren. Entscheidend und Weiteres nach sich ziehend ist der Casset­ tone-Bock, der sieben Mal - gleichsam unter Druck - in das >Massiv< der Seitenpalast-Franten gedrängt und gezwängt erscheint. 16 Er ist eo ipso raumhaltig und seinem Wesen gemäß körperabweisend, ein reines Gestell aus vier Säulen, einem diese Säulen verbindenden Gebälk-Rahmen und ei­ nem > Wölbstein< , der das Gebilde nach oben abschließt und deckt, einem Cassettone. Seitlich, von hinten und von oben erscheint dieser Cassettone=

15 Die bauliche Ausführung ist hier >besser< , indem die Achsen der Seitenpaläste nicht auf den Reiter, sondern auf die Flankenkreis-Scheitet des Platzovals gerich­ tet sind. Standbild und Platzschild bleiben auf diese Weise >eins < . So, vermutlich, hatte Michelangelo es gedacht - der Stecher (B . Faleti) wird sich an dieser Stelle vertan haben. 16 Zu dieser ins Auge fallenden Grundriss- und Aufbau-Figur Michelangelos siehe auch: Thies, Harmen H. : Zum Cantanale der Markusbibliothek des Jacopo Sansovino in Venedig, in: architectura 1 2 . 2 ( 1 982), S. 1 64- 1 8 3 .

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1 97

Bock bedrängt. Sein Raum bergender, j a fordernder und so den Portikus aller­ erst öffnender und sichernder >Widerstand< gegen diesen Druck von außen überträgt sich auf die ihn bedrängende Körpermasse. Sie übernimmt im Gegenzug Eigenschaften und Formen, die dem Baukörper allein, das heißt ohne die Raum schaffende und damit den Platz erweiternde Aktion und die Widerständigkeit der sieben Cassettone-Böcke, fremd geblieben wären. Der Körper hat sich unter dem Ein-Druck der Böcke zu sammeln und zu konzentrieren, zu verdichten. Er bekommt eine artikulierte Struktur und ein Gesicht in Gestalt von Schottenpfeilern, die den Baukörper kolossal zusammenfassen und gliedern.

Abbildung 18: Kapitol, Konservatorenpalast

Abbildung 19: Kapitol, Konservatorenpalast, Struktur-Analyse (Thies)

Die im Grundsätzlichen mit diesem Geschehen vergleichbare Rolle der Ro­ tonda-Portiken in ihrem Verhältnis zum und ihrer Wirkung auf den Kernkör­ per der Villa wird auf diese Weise, hoffentlich, evident. Hier wie dort geht es um Leistungen des Systems der Säulenordnungen, die wir - nachvollzie­ hend - verstehen können. Wir können diese architekturspezifischen, actio und reactio synchronisierenden Leistungen dementsprechend im Präsens beschreiben, ganz so, als vollziehe sich das Beobachtete und in Begriffe

98 I

HARMEN H . TH I ES

Übertragene hier und j etzt, im Akt des Hinsehens und des nachvollziehenden Verstehens. Dass abermals von Fiktionen die Rede ist, versteht sich von selbst.

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Abbildung 20: Le Corbusier, Fünf Punkte einer neuen Architektur (192 7) Die Beispiele der Rotonda des Palladio und der Piazza di Campidoglio des Michelangelo könnten den Gedanken nahelegen, dass die Beobachtungen, Einsichten und Erkenntnisse, die dort zu machen und zu gewinnen sind, nur für Architekturen eines besonderen Ranges und einer bestimmten, zweifellos längst vergangenen Epoche gelten - für die Neuzeit vielleicht, nicht aber die Moderne. Und schon gar nicht flir das, was nach dieser Moderne und in der Gegenwart geschieht, seit - etwa - der zweiten Hälfte des letzten Jahrhun­ derts. Wenn wir uns beispielsweise an den Einsatz und die Bedeutung des Systems der Säulenordnungen als einer äußerlichen Kennzeichnung von Entwurfsprozessen halten, die im Sinne der skizzierten Vorgehensweise verstanden werden können, dann endet diese, Renaissance, Barock und Teile des Klassizismus umfassende Epoche mit dem Historismus. Neue Materia­ lien, neue Konstruktionsweisen und neue Bauau(gaben der (ersten) industriellen Revolution hätten demnach zu entsprechend neuartigen

VOM WERK Z U R I D E E

1 99

Entstehungsprozessen geflihrt, die durch eine bevorzugte Kombination von Faktoren der firmitas und der utilitas charakterisiert erscheinen - und einen seither fast beliebigen Umgang mit der venustas

1

2

4

Abbildung 21: Le Corbusier, Vier Arten der Komposition (1930) Dieser Annahme ist die Überzeugung entgegen zu halten, dass die eingangs beschriebenen Generalia der Produktion einer (j eden) Architektur unter allen >Umständen< gelten. Denn wäre dies nicht der Fall, könnte sinnvollerweise auch nicht von Konstanten eines Oeden) Entstehungs-Pro::esses von Archi­ tektur gesprochen werden - was in diesen Notizen geschehen sollte. Diese Überzeugung bedarf allerdings der Begründung. Was an der Rotonda und dem Kapitol zu exemplifizieren ist, müsste auf analoge Weise auf Beispiele der modernen - und dann auch der nach-modernen - Architektur übertragen werden können. Eine frühe, mittlerweile als >klassisch< geltende Übeiira­ gung hatte Colin Rowe 1 947 mit einem Aufsatz geliefert, in dem die Struktur der Villa Stein in Garches von Le Corbusier ( 1 927) mit Anlage-Schemata der Villen Palladios verglichen wird. Er hatte überraschende Übereinstim­ mungen konstatieren können. 17

1 7 Veröffentlicht in: Rowe, Colin: Die Mathematik der idealen Villa und andere Es­ says. Basel/Berlin/Boston 1 998 [zuerst: The Mathematics of the Ideal Villa, in: Architectural Review 1 947] . Dazu H. Thies : Proportion und Gliederung.

1 00 I

HARMEN H . TH I ES

So wird zum Abschluss - rechtfertigend gleichsam - aufj ene bekannten theoretischen Positionen Le Corbusiers zu verweisen sein, die genau j ene Schlüsselbegritfe, Konstanten und Generalia des neuzeitlichen Nachden­ kens über Architektur bemühen, die damals ( 1 927 bis 1 93 0) als Grundsätze einer zeitgerechten und ausdrü.cklich gegen alles Historisieren gerichteten modernen Architektur propagiert wurden: die Fünf Punkte einer neuen Architektur und die Vier Arten der Komposition (Abb. 20, Abb. 2 1 ) . Vor al­ lem die von Le Corbusier zum besseren Verstehen seines Entwurfes der Villa Savoye bei Poissy ( 1 929 bis 1 93 1 ) skizzierten und auf knappste Weise erläuterten Vier Arten der Komposition liefern entscheidende Hinweise auf die ungebrochene Geltung j ener konstitutiven Positionen, Schritte und Relationen im Entstehungs-Pro::ess einer Oeden) Architektur, die hier präsentiert werden sollten. 1 8

1 8 Auch dazu H . Thies : Proportion und Gliederung. Außerdem: Ders . : Z u den Wur­ zeln der Modernen Architektur, in: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissen­ schaftlichen Gesellschaft 1 9 8 8 ( Teil !, S. 1 23 - 1 52 ) und 1 989 ( Teil ll, S. 1 29 - 1 6 3 ) .

II. Autorsc haft und d igitale Praxis

Initiator, Geburtshelfer, Regisseur Tradierte Autorschaftsmodelle im Computational Design

CAROLTN HöFLER

Im computerbasierten Entwurf sehen sich Architekten mit einem neuen operativen Möglichkeitsraum aus technischen Systemen, Verfahren und Prozessen konfrontiert. In immer größerem Umfang vertrauen sie auf die Ar­ beit von Computerprogrammen, die Formbildungsprozesse automatisieren und Handlungsoptionen vorschlagen. Mit der Einführung der Computer­ technologie in den Entwurf Anfang der 1 990er Jahre entbrannte eine Debatte um die Autorschaft in der Architektur, die bis heute anhält. Sie geht der Frage nach, inwiefern der Architekt angesichts der zunehmenden Digitalisierung von Entwurfspraktiken noch als relevanter Entscheider gelten kann, oder ob dieser Prozess den Architekten nicht schon längst weitgehend entmündigt hat. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht also das Bild des Architekten selbst - in seiner traditionellen Rolle als intuitiver Entwerfer, Gestalter und Demiurg. Der Autorbegritl� wie er heute meist verwendet wird, entstand erst im 1 8 . Jahrhundert mit der Veränderung der literarischen Produktion. 1 Der Begriff »Autor« , der vom lateinischen Wort auctor (Substantiv zu augere >>wachsen lassen, fördern«) stammt, ist seit dem 1 8 . Jahrhundert die Summeibezeichnung für Personen, die Texte verfassen und als deren =

Vgl. lngold, Felix Philipp/Wunderlich, Werner: Nach dem Autor fragen, in: Dies. (Hg.): Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven, Konstanz 1 992, S. 9 - 1 8 , hier S . 9.

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CA RO L I N H ö F L E R

Urheber gelten. Dieses Verständnis ist mit der Vorstellung des >freien

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Abbildung 6: Parametrischer Lösungsprozess - mögliche Lösungswege für ein Entlvurfsproblem

Abbildung 7: Studentischer Entlvurf an der HBC =ur Er=eugung und Reduktion von Varietät mit einem parametrischen Modell

D I E A P P L I KAT I O N D E S CO M P U T E RS A L S » D E N KZ E U G «

2.1

1 1 49

A n g ew a n dte p a ra m etri s c h e E n twu rfs p rozesse bei stu d e n t i s c h e n E n twü rfe n

Die Aufgabe im Masterstudio »Intelligent Building Skin« umfasst die Ana­ lyse eines Landes im Hinblick auf ihre traditionelle Architektur und die Umwandlung wesentlicher Gesichtspunkte in zeitgemäße, nachhaltige und temporäre Architektur in Form eines Pavillons. In dem nachfolgenden Fall­ beispiel handelt es sich um das Land Marokko, welches als traditionelle Architektur das Berberzelt aufweist. Aufgabe ist, neben dem temporären Charakter der Architektur, die Modularität und Nachhaltigkeil des Pavillons herauszuarbeiten und eine nachvollziehbare Nachnutzung aufzuzeigen. Die entwurfsmethodischen Hilfsmittel basieren hier auf der Verwendung eines physikalischen Modells und parametrischer Sottware mit sogenannten Add-ons. (Abb. 7) Ohne das Add-on »Kangaroo Physics« ist eine Umsetzung von hängen­ den, zeltcharakteristischen Formen nicht möglich. Deshalb beschäftigten sich die Studenten zuerst, wie in Abbildung 7 dargestellt, mit dem grund­ sätzlichen Aufbau in Grasshopper (parametrische, visuelle Software) und Kangaroo (Add-on), um eine Zeltdacharchitektur darzustellen. Grundlegend für j ede Simulation ist die Hauptkomponente von Kan­ garoo, die Kangaroo Physics Engine. Diese hat fünf verschiedene Input­ Parameter, die im Folgenden beschrieben werden: Force O�jects ( 1 ) wirken auf die verschiedenen Teile der Simulation ein und können zum Beispiel von der Deformation des gewählten Materials und dessen Elastizität abhängig, Krümmungen darstellen oder wie in diesem Fall durch Springs from Mesh die Federung (1 b) und damit die Gravitation nachempfinden. Dabei ist es prinzipiell möglich weitere Force Obj ects anzufligen, da Kangaroo den gro­ ßen Vorteil hat, in Echtzeit das Zusammenspiel zu berechnen. Anchor Points (2) fixieren die Geometrie unabhängig von den Force Ob­ j ects. Sie werden in Rhino gesetzt und durch die »Parameter Points« und » set multiple points« eingelesen; sie können während der Simulation weiterhin in Rhino verschoben werden. Geometry (4) ist die zu transformierende Geometrie und wird in diesem Fall durch die Vertices, die Eckpunkte des Meshes, bestimmt. Die Inspirationsquelle des Berberzeltes benötigt eine rechteckige Grundform. Simulation Reset (5) ist verbunden mit dem Kippschalter beziehungs­ weise Umschalter Toggle True/False und hat zwei Funktionen. Wenn True

150 I

M A N U E LA I R L W E K

aktiviert ist kann das Setup tlir die Simulation erstellt werden, False startet die Simulation. Der Timer (5a) gibt vor, nach welchen Zeitabständen die Simulation aktualisiert wird, da die verschiedenen Parameter zum Beispiel durch Slider auch nach Start der Simulation verändert werden können. Es werden mit 20 Millisekunden sehr kleine Zeitintervalle gewählt.

Aktive /')'imulation (rot), (2a) Ankerpunkte markiert

Aktive ,)'imulation, {lc) Spring\' = 1 . 0

Aktive /')'imulation, (2a) Ankerpunkte sind noch nicht versehohen

Aktive ,)'imulation, (I c) Spring\' = 1 . 1, die Gravitation kann im Re reich 0-1 realistisch dargestellt 1verden

Aktive /')'imulation, (h� ,)'prings = 0. 0

Aktive ,)'imulation, (l c) Spring.\' = 1 . 3

Abbildung 8: Studentischer Entvmrf=ur Er=eugung und Reduktion von Varietät basierend auf demselben parametrischen Modell, dargestellt mit Rhinoceros Am Ende werden in diesem Schritt drei Parameter oder Stellschrauben ge­ wählt, um Varietät zu erzeugen: Als erstes ist nun das Mesh ( 1 a) zu nennen. Es gibt die Größe in Bezug auf die Fläche vor. Zudem kann durch dessen Untetieilung die maximale Anzahl der Anchor Points bestimmt werden, da die Punkte vor Start der Simulation nur auf den Kreuzungspunkten des Gitters des »Meshes« gesetzt werden dürfen.

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1 151

Zum Zweiten kann die Stärke der Springs ( 1 c) durch den Slider verändert werden. Allerdings macht es an dieser Stelle keinen Sinn, die möglichen Grenzen auszutesten, da im Rahmen der Aufgabenstellung eine möglichst realistische Zeltform angestrebt wird. Zum Dritten ist die AnzahI der tatsäch­ lich gesetzten Anchor Points (2a) und deren Position im Raum ein Parameter, der die Form stark beeinflusst. Hier besteht, wie schon unter 2.2 der graphi­ schen Darstellung der Programmwahl erwähnt, eine durch die Struktur des add-on bestimmte Schwierigkeit. Die Ankerpunkte müssen durch in Rhino gesetzte Punkte eingelesen werden und können nicht parametrisch durch Grasshopper erzeugt werden. Es wird - nach verschiedenen Lösungsversu­ chen - entschieden, die Hilfskonstruktionen parametrisch zu erzeugen und nach Start der Simulation die Rhinopunkte auf die Hilfskonstruktionen zu verschieben.

Aktive ,Simulation (rot), (2a) Ankerpunkte markiert

Verschiebung der Hi(fskom·truktion in der Reihe nach Variante A, siehe G-rasshoppermodc/1

Aktive ,Simulation, (2a) Ankerpunkte sind noch nicht versehohen

Gezieltes Auslesen und Verschiehen der Hilf�konstruktionen nach Variante R. \"iehe . Grasshoppermode/1

Modell derfavorisierten Uhung im Grundriss

Modell derfavorisierten UJsung in Pe1:o,;pektive

Abbildung 9: Studentischer Entwurf Im Folgenden wird die Definition durch ein parametrisch erzeugtes Mesh und davon abhängige Hilfskonstruktionen der Punkte ergänzt. Das Boundary

1 52 I

M A N U E LA I R L W E K

des Mesh wird durch ein variables Rechteck (6a) erzeugt, dessen Untertei­ lung durch weitere Slider (6b) entsteht. Die gleichen Slider erzeugen eine Fläche, die durch Divide Surface ge­ teilt wird, um die Ankerpunkte zu setzen. Diese werden dann gelistet und durch eine Linie in Z-Richtung verschoben. Dabei gibt es wiederum zwei Varianten. Einmal können die Punkte durch Variante A in Reihen ausgelesen und verschoben werden oder sie können durch Variante B mit Hilfe eines » Tree ltem« einzeln und gezielt verschoben werden (Abb. 7). 2.2

G e g e n ü b e rste l l u n g u n te rs c h i e d l i c h e r E n twu rfswe rkze u g e

Der Entwurfsprozess des Zeltdaches i m Rahmen des Masterstudios »Intelli­ gent Building Skin« findet abwechselnd im Modellbau und mit parametri­ scher Software statt. Durch diesen sich gegenseitig beeinflussenden Prozess werden wechselseitige Vorteile genutzt. Gleichzeitig entsteht die Heraus­ forderung, dass nicht alles eins zu eins übersetzt werden kann. Im Folgenden werden einige Schwierigkeiten beschrieben: Die Übertragung der Erkenntnisse des Modellbaus in ein parametrisches Modell kann nur eingeschränkt erfolgen. Im Entwurfsprozess mit Arbeitsmodellen wird die rechteckige Grundflä­ che der Strumpfhose nach dem Spannen über den Grundriss an den Rändern beschnitten. Diese Maßnahme verändert als Konsequenz auch das parametri­ sche Modell. Das parametrische Mesh muss dahingehend geändert werden, dass nun eine vieleckige, planare Grundfläche (Polygon) gewählt wird. Die Simulation der Elastizität und Verformbarkeit der Strumpfhose im parametrischen Modell erfolgt über Springs. Die Eigenschaften der Strumpfhose eignen sich gut, um Zeltarchitektu­ ren darzustellen. Allerdings ist es schwierig, die Strumpfhose so zu spannen, dass sie dem gewählten Faktor der Springs in der Simulation entspricht. Auch eine möglichst gleichmäßige Spannung, wie sie in der Simulation gegeben ist, lässt sich nur teilweise umsetzen. Dabei wäre eben diese aus konstruktiven Gründen zu bevorzugen. Ein Ziel des Entwurfes ist eine in der Form gespannte Hülle. Während es im Modellbau einfach ist, Punkte frei zu setzen, fUhrt dies im parametrischen Entwurfsprozess zu Schwierigkeiten. Die bereits erläuterte Problematik der Anchor Points und deren Erzeugung verhindert dies. Es ist möglich, in der

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1 153

Anzahl der Anchor Points zu variieren; es können j edoch keine Punkte im Raster gezielt auslassen werden. 2.3

F a z i t : M ö g l i c h es m e t h o d i s c h e Vorg e h e n i n parametrischen u n d phys i kal ischen E ntwu rfsmode l len

Durch die Aufgabenstellung und die sehr tief gehende Recherche sind die Kontextvariablen geklärt. Jedes Land hat hinsichtlich ihrer traditionellen Architektur entwurfsentscheidende Charakteristika, die für die Modifikation zur Darstellung eines modernen Pavillons herangezogen werden können. Da­ bei werden topografische Gegebenheiten, wie im Norwegen-Pavillon das Höhennivellement der Fj orde zwischen Wasserspiegel und Bergkette ebenso herangezogen wie die Wüstenlandschaft in Marokko. Im Falle des Vietnam­ Pavillons ist das Material Bambus die entwurfsentscheidende Kontextvari­ able. Der Kontext kann in der Form interpretiert werden, dass entwurfsrele­ vante Kriterien ein Spektrum zwischen Topografie und Materialität aufspan­ nen. Die Obj ektvariablen werden maßgeblich durch die Kriterien der Studen­ ten beeinflusst. Die Entscheidungskette spiegelt sich in den parametrischen Modellen wieder. Somit kann der Entwurfsprozess im parametrischen Mo­ dell gelesen und die Entscheidungen nachvollzogen werden. Die Entscheidungen, welche Teile des parametrischen Modells statisch und wel­ che für die Variantenbildung dynamisch bleiben, hängt alleine von den Entwurfsentscheidungen der Studenten ab. Die Beeinflussung des Modells kann durch "interne" Beurteilungen der Geometrie im 3D oder durch "ex­ terne" Rückschlüsse beispielsweise durch physikalischen Modellbau erfol­ gen. Im Falle des Marokko-Pavillons konnte das Wechselspiel zwischen Erkenntnissen aus dem parametrischen und dem physikalischen Modell nur zu einem gewissen Teil übertragen werden. Die Obj ektvariablen definieren sich hier über die Hoch- und Tiefpunkte, zwischen denen sich die Fläche des Zeltdaches aufspannt. Durch die Sirnutationen mit "Kangaroo-Physics" wird es möglich, die räumlichen Eigenschaften über die Definition der Hoch- und Tiefpunkte zu testen. Die Generierung der Varietät scheint ungemein vielfäl­ tig. Die Einschränkung erfolgt über die Eigenschaften, wie hoch der nutzbare Raum unter der Zeltdachkonstruktion abschnittsweise sein soll, wie viele Fixpunkte nötig sind und wie flexibel die Konstruktion auf andere Nutzun­ gen reagieren kann (Abb. 1 0).

1 54 I

M A N U E LA I R L W E K

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Abbildung I 0: Entwurfsmethodischer Ansatz und parametrisches Modell Modellbautechnische Erkenntnisse lassen sich generell nicht gänzlich in das parametrische Modell übertragen. Die Vorgehensweise des Modellbaus als Entwurfswerkzeug, Kontrollelement oder reale Simulation ist j edoch ebenso legitim und schließt einen wechselseitigen Entwurfsprozess mit unterschied­ lichem Erkenntnisgewinn im Vergleich zum parametrischen Modell nicht aus. Der parametrische Lösungsprozess ist dagegen von dem methodischen Rittel-Modell nicht zu trennen. Die Veränderung der Geometrie ist die logi­ sche Folge der Entwurfsentscheidungen. Die Bausteine des parametrischen Entwurfes sind in der Software so eingebunden, dass im Prinzip das Rittei­ sche Methoden-Entwurfsmodell 1 : 1 übertragbar und durch die rechnerge­ stützte Kapazität erweiterbar ist. Die methodische Vorgehensweise nach Rit­ te! wird durch parametrische Software um ein Vielfaches erweitert. Ebenso ermöglicht dieses Entwurfswerkzeug eine Aufweitung des gestalterischen Spektrums und die Erstellung eines umfassend und eingehend geprüften Lösungsraumes. Die Performancevariable stellt das Resultat aus der Kalkulation zwischen Kontextebene und Objektebene dar. Die Entwerfer, in diesem Falle die Studenten, sollten anhand ihres Resultates prüfen, ob Veränderungen auf der Ebene des Kontextes und/oder des Objektes erfolgen sollen oder ob das Ergebnis beziehungsweise die Ergebnisse zufrieden stellend sind oder nicht.

D I E A P P L I KAT I O N D E S CO M P U T E RS A L S » D E N KZ E U G «

1 155

Können diese Fragen mit J a beantwortet werden, sind Lösungen i m Lösungs­ raum entstanden, die den gewünschten Kriterien entsprechen. Muss die Frage mit Nein beantwortet werden, sollten die beeinflussenden Variablen und Parameter auf der Kontext- und/oder auf der Objektebene verändert wer­ den. Der Prozess startet dann erneut, ohne das Script zu verändern. Eine klassische Feedback-Schleife entfällt somit. Das physikalische Modell kann als legitimes Entwurfswerkzeug zur Überprüfung der Geometrie und zur Variantenbildung dienen; die entwurfs­ methodische Vorgehensweise ist j edoch wesentlich unpräziser als im para­ metrischen Modell. Die gezielte Steuerung der Varietät über mathematisch geometrische Kalkulationen kann im physikalischen Modell nicht dargestellt werden. 2 .4

D i e E n twi c k l u n g v o n S c r i pt i n g p roze s s e n fü r e rwe iterte S i m u l at i o n e n

Parametrische Entwurfssoftware bietet bereits ein Spektrum, materialspezifi­ sche Eigenschaften zu testen. Hier könnten weitere Forschungsschritte unternommen werden, um nicht nur materialspezifische Eigenschaften son­ dern auch weitere Aspekte der Entwurfsentscheidungen umfassender prüfen zu können. Ein Forschungsgebiet stellt die Implementierung argumentativer Entscheidungsprozesse durch mehrere Designer zur gleichen Zeit an einem Entwurfsobj ekt dar. Die Vielzahl verschiedener Add-ons zeigt, dass Simula­ tionen wie bei Kangaroo vermehrt gefordert sind. Nicht nur Architekten arbeiten an diesen Scripten, welche auf offenen Plattformen verteilt werden. Individuell gescriptete Add-ons zur Simulation spezieller Situationen kön­ nen Entscheidungshilfen flir relevante und methodische Entwurfsentschei­ dungen darstellen. Die Frage, ob physikalische Modelle als Entwurfswerkzeuge in naher Zukunft obsolet werden, kann nur durch die Forschung an der Qualität der Computersimulationen festgemacht werden. Momentan stecken noch einige Add-ons in der Entwicklung und haben Schwächen in bestimmten Berei­ chen. Die möglichst identische Simulation von Materialität und Geometrie durch parametrische Software hilft als Entscheidungs- und Denkhilfe auf den methodischen Ebenen gezielt, einen präzisen Lösungsraum im Entwurf zu entwickeln.

Analoger B lob vs. Digitale Box? Preston Scott Cohen, Valerio Olgiati und das Scheitern in der Architektur

0 L E W . FISCHER

1 . I N T RO : » D I G I TA L E A R C H I T E KT U R «

Die zeitgenössische Architekturtheorie verortet den Paradigmenwechsel in der Methodik des Entwurfes von »analogen« Medien, die auf den klassischen Repräsentationstürmen von orthogonalen Zeichnungen, Perspektive und Modell basierten, wie sie bereits durch Leon Battista Albertis De re aedi­ .ficatoria ( 1 443-52) festgelegt wurden, hin zu » digitalen«, die durch eben j ene Medien nur noch unzureichend beschrieben werden können, in den letzten zwei bis drei Dekaden. Erst zu diesem Zeitpunkt wurden ausreichend leistungsfähige Computer und entsprechende Software für Architekten ver­ fügbar, um aus dem imaginären Raum der Renaissance auszubrechen. Vor allem mit der breiten Anwendung von Scripting, parametrischer Opti­ mierungssoftware und digitalen Fabrikationsmethoden wird die klassische Vorstellung von Autorenschaft des Architekten unterlaufen zu Gunsten eines Setzens von Regeln, bei denen die endgültige Form eher zufällig eine Folge dieser vom Entwerfer angestoßenen Prozesse ist, und j enseits seiner gestalterischen Vorstellungskraft liegt. Oder, um eine weit verbreitete evolutionstheoretische Metapher aufzugreifen, entwickelt ein Büro einen spezifischen Code oder DNA, damit eine eigene Populationen von Projekten mittels simulierter genetischer Adaption in verschiedenen ökologischen Nischen nisten kann, so zu tinden beispielsweise in den Texten von

158 I

Ü L E W. F I S C H E R

Alejandro Zaera-Polo/FOA und Patrik Schumacher/ZHA. 1 Nicht zutallig konvergieren Sprache, Themen und Theorien aus Artificial Life, Genetik, lT und Systemtheorie, wenn es um parametrische Formfindungen im 2 1 . Jahr­ hundert geht.

2 . A N A L O G E R B L O B : A U T O N O M I E D E R N O TAT I O N ?

S o überzeugend diese Narration von der Geburt des digitalen Entwurfs aus dem Geiste der lT Revolution im Allgemeinen klingt, und obwohl sie zahl­ reiche prominente Führsprecher hinter sich schart, so scheint sie doch bei genauerer Betrachtung zu technologiedeterministisch. Bereits in den 1 970er und 1 980er Jahren lassen sich gedankliche Experimente ausfindig machen, die auf die heutige Entwicklung parametrisch-digitaler Entwurfsmethoden hinweisen. Nicht zufällig zeigt die von Greg Lynn, einem Pionier der digitalen Architektur, kuratietie Ausstellung Archaeology of the Digital am CCA auch den Entwurf des Biozentrums, Frankfurt am Main, 1 987, von Peter Eisenman. Z Doch diese Experimente mit Scripting, der kombinatori­ schen Logik der DNA »Buchstaben« oder vielmehr Basenpaare GTAC und des dreidimensionalen Computerprograms Form-Z im New Yorker Büro von Eisenman werden erst als Folge der formalen Recherche der vorange­ gangenen Jahrzehnte verständlich. So zeichnet sich in Eisenmans Serie der Hauses und den nachfolgenden städtebaulichen Projekten der 1 970er und 1 980er Jahre bereits eine analoge Virtualisierung der Architektur ab, wie beispielsweise mit der Methode des Scaling beim Proj ekt Romeo and Juliet (aka: Moving Arrows, Eros, and Other Errors) ausgestellt auf der Biennale di Venezia, 1 985, die bereits gedanklich eine digitale Parametrisierung vorwegnimmt, um theoretisch die klassisch humanistische Autorenschaft der

Foreign

Office

Architects

(Zaera-Polo,

Alejandro/Moussavi,

Farshid) :

Phylogenesis FOA ' s Ark, Barcelona 2003 ; S chumacher, Patrik: The Autopoiesis of Achitecture, 2 Bände, Chichester 20 I 0-20 1 2 . 2

Canadian Center of Architecture, Montreal, 7. Mai bis 27 Oktober 20 1 3 , die ausgestellten Beispiele für » digitale Architektur« waren neben dem Biozentrum Frankfurt, von Peter Eisenman ( 1 987): Lewis Residence von Frank Gehry ( 1 9851 995), Expanding Sphere von Chuck Hoberman ( 1 992) und Dachstrukturen für Odawara Sportkomplex ( 1 9 9 1 ) und Galaxy Toyama ( 1 992) von Shoei Yoh.

A N A LO G E R B L O B

VS .

D I G ITALE BOX?

1 159

Architektur zu unterlaufen und eine Automatisierung, oder vielmehr Autonomisierung, des Entwurfes unabhängig vom menschlichen Betrachter zu testen und zur Diskussion zu stellen. 3 An Stelle des klassischen Bezugs zum Menschen, entweder direkt über die Repräsentation und Proportion (Humanismus) oder indirekt über die Maßstäblichkeit und Funktionalität (Moderne), setzt Eisenman eine innerarchitektonische Operation, die sich nur auf den Entwurfsprozess (Zeichnung) selbst bezieht: Verschiedene Maßstäbe werden in einer Zeichnung iiberlagert, vorhandene architektoni­ sche Elemente (Situation) mit verschwundenen historischen Artefakten oder Schichten (Stadtplan von Verona, Friedhof von Verona, das Grab von .lulia, die Kirche von Montecchio, Grundrisse der Paläste von Romeo und .Julia, etc.) und außerarchitektonischer Narration (William Shakespeares Drama Romeo and Juliet, 1 597, übersetzt in die Sprache der Architektur als Notation) überlagert. Damit vermeidet Eisenman die traditionelle repräsen­ tative Funktion der Architektur (als Darstellung von etwas Außerarchi­ tektonischem) und führt sie durch prozessual-akzidentielle Elemente ad absurdum. Er möchte so die Metaphysik der Architektur (Anthropozen­ trismus, Ursprung, Präsenz) ebenso wie die des künstlerischen Werkes (Abgeschlossenheit, Einheit, Autorenschatt) und die der Sprache (Bedeu­ tung, Identität, Repräsentation) unterlaufen und durch Serialität, Diskonti­ nuität und Komplexität in eine neue Offenheit überführen. Inwieweit tatsächlich ein »Verschwinden des autorativen Architekten« erreicht wird, oder ob dieser nicht vielmehr als Demiurg durch die Hintertür wieder eintritt, indem sowohl Entwurf als auch Interpretation vollkommen determiniert sind, bleibe dahingestellt. 4 Auch im friihen Werk von Preston Scott Cohen Anfang der 90er Jahre zeigt sich ein hochkomplexer Prozess der Formtindung, der an Hand von im Vorfeld abstrakt festgesetzten geometrischen Abbildungsregeln eine

3

Eisenman Peter: Moving Arrows, Eros and other Errors . An Architecture of Absence, in: AA Files 12 ( 1 986), S . 77-83

4

Siehe : Knights, Clive R. : The Fragility of Structure, the Weight of lnterpretation. Some Anomalies in the Life and Opinions of Eisenman and Derrida, in: Borden, Ian/Rendell, .Jane (Hg.): InterSections : Architectural Histories and Critical Theories, London 2000, S. 70-88, hier: S. 74-76; siehe dazu auch die Beiträge von Carotine Höfler und .lörg Gleiter.

1 60 I ÜLE

W.

FISCHER

kontinuierliche Transformation eines Obj ektes im Raum zeichnerisch aus­ führt (analog), eine bewusst mühsame und das Endergebnis nicht vorausse­ hende Prozedur der fortgesetzten Proj ektionen, um eine klassische Auto­ renschaft des Architekten über die tormale Gestaltung zu unterlaufen. Scott Cohen strebt in seinen frühen Projekten - eine Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Notation der Architektur, welche der Zeichnung, vielmehr dem Prozess des fortgesetzten Zeichnens, seiner Abbildungsgesetze, den gleichen Stellenwert einräumt, wie gebauten Proj ekten - eine Ausei­ nandersetzung mit dem Paradigma der formalistischen Autonomie an. Damit ist der Ansatz Peter Eisenmans aus den späten l 970er Jahren gemeint, eine Autonomie der Architektur als Konzeptkunst durch Selbstreferentialität zu erzielen, 5 analog zu der These Clement Greenbergs, dass sich die Modernität in der Kunst primär durch die Thematisierung der Medienspezitizität ausdrücke, also dass beispielsweise sich die moderne Malerei durch abstrakten Farbauftrag auf eine zweidimensionale Fläche auszeichne. Ei­ senman versucht Greenbergs Theorie auf die Architektur zu übertragen, und das spezifisch Architektonische in der Verwendung ihrer Elemente als Zeichen zu lesen - in der Auswahl, Größe, Anzahl, und Verteilung von Stütze/Balken, Wand/Decke und Volumen/Leerraum bzw. Öffnung und de­ ren intentionaler Markierung als Wiederholung und Ditferenzierung,6 j en­ seits von sogenannt »außerarchitektonischen« Forderungen wie Funktion, Geometrie, Konstruktion oder Materialität (bzw. deren Überwindung und Verschwinden im Werk) . Während Eisenman die Abstraktion der Architektur betont, und ihre tormale Autonomie als absolut gegenüber dem Prozess des Bauens wie auch gegenüber Fragen der Funktion setzt, stellt Cohen die architektonische Form sowohl als verfremdet und autonom als auch als angepasst und verortet (»assimilated and situated«) vor. 7 Cohen erhofft von dieser dialektischen Figur eine Otlenlegung der paradigmatischen Formen der Architektur, ihre Axiome und Regeln, um die verborgenen Paradoxien zum Vorschein zu

5

Eisenman, Peter: Aspects of Modernism: Maisan Domino and the Self­

6

Ebd , S. 1 2 1 f

Referential Sign, in: Oppositions 1 5 - 1 6 (1 979), S. 1 1 8- 1 2 8 . 7

Cohen, Preston Scott: Stereometrie Permutations, in: Appendx: Culture/Theory/ Praxis, No 3 ( 1 997) (ur!: http ://www . appendx. org/appendx/issue3/cohen/stereo/ index2. htm) .

ANALOGER BLOB VS . D I G ITALE BOX? 1 1 6 1

bringen: dafür sucht Cohen nach Referenzen in der Geschichte, wie schon Eisenman, der an Hand historischer Projekte (A1berti, Palladio, Scamozzi oder der Venezianischen Palazzi) auf eine Kontinuität der humanistischen Architektur seit der Renaissance bis in die Moderne pocht, die erst Le Corbusier mit dem Maisan Dom-ino und Giuseppe Terragni mit dem Casa del Fascio mittels einer autonomen Architektur überwunden hätten, 8 ein Proj ekt, dass Eisenman mit seiner Serie der Hauses in den späten 1 960er und 1 970er Jahren fortzusetzen glaubt (oder erst erfindet?) . Doch sucht Cohen in der Geschichte weder nach großen Traktaten noch nach postmodernen Typologien, sondern nach den Lücken und Fehlstellen in geometrischen Systemen, wie beispielsweise in der (fiktiven) Rekonstruktion des Ent­ wurfsdilemmas beim Palazzo Gambara in Brescia: mit einer Serie von analytischen Zeichnungen vollzieht Cohen retrospektiv dessen historische Transformation als ein prozessuales Zug-um-Zug nach, als eine geschlossene Komposition in palladianischer Manier, die durch eine nachträglich asymmetrisch eingefügte Treppe gestört wird, was wiederum ganze Serien von weiteren Adaptionen in der geometrisch-symmetrischen Reihung der Fassaden (Hof und Garten) und der Haupträume bis hin zur Struktur des Palazzo nach sich zieht. Folge dieser Anpassungen auf Grund einer ersten (hypothetischen?) Störung ist eine Spur geometrischer Abweichungen, 1n­ kohärenzen und Asymmetrien des architektonischen Systems, welche die klassischen Ideale architektonischer Repräsentation unterläuft. Doch das sieht Scott Cohen nicht als einen Nachteil, sondern eher als eine Bereiche­ rung und zusätzliche Informationsschicht der Architektur: Als ordnendes System bedürfe sie inhärenter Konflikte und des Ringens um (den Anschein der) Ordnung. Identität und Spezifizität der Bauten gründen, so Cohen weiter, nicht in der Autorität des Architekten, noch in der Originalität des örtlichen oder historischen Kontextes allein, sondern entstehen erst aus der Verhandlung unversöhnlicher Widersprüche zwischen einem abstrakten (oder ideellen) System und den lokalen Gegebenheiten. Cohen versteht Ge­ bäude als immanent, das heißt, als in sich geschlossene Systeme eigener Ordnung, die es flir den sorgfältigen Betrachter zu entdecken gilt, anstatt sich allein auf die übergeordneten Ordnungsschemata zu konzentrieren, wie sie

8

Vgl. bereits die Doktorarbeit von Eisenman am Trinity College in Cambridge (UK) aus dem Jahr 1 963 : Eisenman, Peter D . : The formal Basis of Modern Architecture, Baden 2006.

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beispielsweise in den Analysen italienischer Palazzi bei Rudolf Wittkower, Colin Rowe oder Peter Eisenman vorherrschen. Deshalb entnimmt Cohen seine Beispiele nicht dem Fundus der viel besprochenen Architekturikonen von Alberti, Michelangelo, Palladio, etc., sondern der Kleinmeister, wie im Fall des Palazzo Gambara in Brescia eine Reihe unbekannter Architekten und Baumeister des 1 6 . bis 1 9 . Jahrhunderts: an Hand dieser diskutiert er die gesuchte Dialektik von Norm (Typus, Stil, Homogenität) und Abweichung (Singularität, Identität, Andersmiigkeit) als geometrische Spur der Diffe­ renzierung (Individualität) und Kontingenz (durch Regeln des Decorum bzw. funktionale Anforderungen). So gerät die Analyse des Palazzo Gambara zu einer Art historischer Wiederaufführung, der Prozess des Zeichnens selbst zu einer (fiktiven?) Aneignung, zu einem eigenen entwerferischen Proj ekt. Scott Cohens eigene Entwurfsproj ekte, wie beispielsweise Stereometrie Permutations ( 1 993), demonstrieren, wie er die proj ektive Geometrie als Inhalt der Architektur versteht. Damit reiht sich Cohen ein in eine lange Tradition geometrischer Traktate als Ausweis humanistischer Wissen­ schaftlichkeit in Abgrenzung gegenüber einer rein baumeisterliehen Praxis, bzw. zur Perspektivkonstruktion als Repräsentationsform in der Malerei seit den Renaissanceschriften von Alberti. Doch im Gegensatz zu Greg Lynn, der ebenfalls aus dem Umfeld von Eisenman stammt, verweist Cohen in seiner Auseinandersetzung mit der Geometrie weniger auf Alberti, 9 sondern sucht auch hier, wie schon bei seiner Wahl der analysietien Bauten, den Zugang zu seltenen und außergewöhnlichen Quellen. So bauen seine Überlegungen zum Prozess des Zeichnens auf den Regeln der Stereometrie (Steinschnitt) und der Linear-Perspektive auf, besonders auf die Traktate des britischen Mathematikers Brook Taylor, der wegen seiner obskuren Schreibweise wenig beachtet wurde, obwohl er bereits 1 7 1 5 eine umfassende mathe­ matische Beschreibung der 3 -Punkt-Perspektivkonstruktion vorlegelegt hatte, welche die Rolle der Fluchtpunkte bei der Abbildung von Objekten im Raum, die sich nicht parallel zur Bildebene befinden, richtig einschätzt. Zudem setzte sich Taylor mit dem inversen Problem der Rekonstruktion von Betrachterstandpunkt bzw. Augpunkt im Bild auseinander, das heißt, beschreibt eine Methode, ausgehend von der zweidimensionalen perspek­ tivischen Abbildung das ursprüngliche dreidimensionale Objekt und dessen

9

Vgl. Lynn, Greg: Animate Form, New York 1 999.

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räumliche Disposition zu berechnen - und legte so die Grundlagen zur darstellenden und proj ektiven Geometrie in der Mathematik.

I

Abbildung 1 : Preston Scott Cohen, Stereometrie Permutations, 1993 Die kreative Anwendung geometrischer Theoreme wird in Preston Scott Cohens Zeichnung Rectilinear Spiriculate ( 1 998) sichtbar, als eine Serie aufeinanderfolgender proj ektiver Abbildungen einfacher geometrischer Körper, die in kreistürmiger Anordnung sowohl Bild als auch Konstrukti­ onslinien komplexer Transtorrnationen zeigt, ohne einen Anfang noch ein Ende oder Ergebnis zu etablieren. Die Zeichnung muss vielmehr als Spur eines offenen Prozesses gedeutet werden. Die von Cohen angewandten Proj ektionsverfahren basieren auf der 3 -Punkt-Perspektive von Brook Taylor und stereometrischen Verfahren von Girard Desargues und Philibert Delorme, wie sie im französischen Manierismus tlir Steinmetze entwickelt wurden, 10 wobei j edes Abbild eines dreidimensionalen Körpers selbst wieder als zweidimensionales Bild gelesen wird, um Ausgangspunkt der nächsten geometrischen Proj ektion zu werden. Mit dem Titel Rectilinear Spiriculate - also eine geradlinige Spiral-Berechnung, wenn man Spiral-Calculate auflöst - versucht Cohen die Bedeutung der Geometrie als generativen Prozess zu unterstreichen, als ein Pr�j ekt, das sich nicht (nur) auf die repräsentative Funktion der Zeichnung beschränkt, sondern deren operative Wirklichkeit unter Beweis stellt. Cohen arbeitet sich mühsam mit den analogen Zeichengeräten Zirkel, Lineal, Winkeldreieck und Bleistift durch im Vorfeld abstrakt festgelegte proj ektive Scripts, die den j eweils vorherigen

1 0 Evans, Robin: The Proj ective Cast. Architecture and lts Three Geometries, Cambridge (MA) 1 995, hier: Chapter V: Drawn Stone, S. 1 79-23 9.

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Schritt zum Ausgangspunkt des nächsten machen, als Kalkül kontingenter Problemlagen, nicht etwa, um diese zu »lösen« oder zu »optimieren« , sondern um eine Offenheit und Instabilität architektonischen Entwerfens j enseits traditioneller Vorstellungen von Form und Intentionalität des Autors zu testen und zu überraschenden Ergebnissen zu kommen.

/

Abbildung 2: Preston Scott Cohen, Rectilinear Spiriculate, 1998 Im Falle von Rectilinear Spiriculate stellt die Geometrie nicht mehr eine angewandte (Hilfs-) Wissenschaft der Architektur dar, als Unterstützung der statischen Berechnung, der Konstruktion und als Übertragungsmedium von der Zeichnung in den Bau, sondern generiert selbst komplexe Formen, wobei Cohen Komplexität als Wert an sich versteht, als Zeichen ungelöster Kon­ flikte, die durch eine höhere Ordnung ausbalanciert werden, analog zur Anamorphose in der Malerei bzw. zur Ontogenese der Flunder. Beeinflusst von post-strukturalistischen Theorien kritisiert Cohen die angeblich fordis­ tische Logik der Einfachheit, Rationalität und Serialität der Modernen Ar­ chitektur zu Gunsten von Abweichung, Komplexität und Multitude, hin zu einer differenzierten Architektur des Außergewöhnlichen und Singulären,

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die gleichzeitig hochdeterminiert wie überraschend und einzigartig ist, wie sie auch unter dem Titel Architecture non-standard bekannt wurde nach der gleichnamigen Ausstellung am Centre George Pompidou in Paris 2003/04 . Gleichzeitig richtet sich Cohens Ansatz gegen eine »post-problematische Architektur« , 1 1 die nach oberflächlich-materieller Schönheit und formaler Einfachheit sucht, wie er sie exemplarisch im so genannten Minimalismus und neo-modernen Tendenzen der 1 990er Jahre erblickt. Vor diesem Hin­ tergrund sind seine zahlreichen Referenzen auf die mathematische Mor­ phologie von D' Arcy Thompson zu lesen: 12 Cohen ist nicht am harmoni­ schen Idealtyp, sondern an der Regelhaftigkeit der Übergänge interessieti, nicht an der Perfektion formaler Lösungen, sondern an den genealogischen Spuren früherer Entwicklungsstadien bzw. an den Anpassungs- und Ver­ formungsprozessen. Form versteht er nicht als platonisches Ideal, ebenso wenig wie Komplexität als geometrische Überlagerung einfacher Elemente, sondern vielmehr als eine Reaktion äußerer Kräfte, als Wechselwirkung zwischen Objekt und Kontext. Mit dem Wechsel von analoger zu digitaler Zeichentechnik in den 1 990er und 2000er Jahren stellt man nicht nur allgemein ein Wiedererstarken geometrischer Formtindung in der Architektur fest, sondern auch im Werk von Preston Scott Cohen. So intensiviert er seine Recherche nach ge­ ometrischer Komplexität j enseits der Abbildungsmöglichkeiten seiner ana­ logen prozesshaften Zeichnungen, wie beispielsweise das Torus-Hause ( 1 999), das auf einen Rotationstorus basieti und sich somit auf eine topalogische Manigfaltigkeit zwischen zweiter und dritter Dimensionen bezieht. Nicht nur erlaubt das vektorielle CAD präzise Konstruktion von gewichteten Kurven (Splines), sondern generiert eine neue Wahrnehmung der Geometrie und geometrischer Ereignisse, die Kontinuität und glatte, nahtlose Oberfläche (Envelope) anstelle von diskreten Brüchen, Collage und Faltung ermöglicht.

I I Cohen, Preston Scott: Contested Symmetries and other Predicaments in Architecture, New York 200 I, S. 1 2 . 1 2 Thompson, D ' Arcy Wentworth: O n Growth and Form, Cambridge 1 9 1 7 [Neu­ ausgabe Cambridge 1 942] .

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3. D I G I T A L B ox : KA L T E L O G I K U N D I N S Z E N I E RT E P RÄ S E N Z

Auf der anderen Seite des Spektrums und zeitgleich in den 1 980er und 90er Jahren entwickelt sich in der Deutschschweiz eine konzeptuelle Architek­ turhaltung, die theoretisch eine völlige Beherrschung des Proj ektes im Kopf eines einzelnen Architekten propagiert, der ausgehend von Ort, Materialität und Programm bis zum kleinsten Detail alles bestimmt, und so einer Vor­ stellung einer Autoren-Architektur zum Durchbruch verhilft, wie sie durch fortgeschrittene Arbeitsteilung und Trennung von Entwurf und Ausführung in der Nachkriegsarchitektur mehr und mehr verschwand. Doch trotz des Bekenntnisses zu einer handwerklichen Präzision des Entwurfes, der Details und der materiellen Ausführung, die sich gerade als Antithese zu Globa­ lisierung, Digitalisierung, Medialisierung in der postmodernen Architektur versteht, bedienen sich Architekten wie beispielsweise Peter Zumthor, Valerio Olgiati oder Christian Kerez modernster technischer Hilfsmittel im Entwurf� als auch in Konstruktion und Betrieb der Bauten. Dabei unter­ drücken sie die Spuren digitaler Medialisierung, haustechnischer Apparatur und komplexer Anforderungen, um gerade die Erscheinung des Gemachten ihrer »Digitalen Boxen« zum Verschwinden zu bringen - zu Gunsten einer inszenietien Präsenz des Dinges an sich. Beispielhaft verdeutlicht diesen Ansatz das Atelier Bardill in Scharans, Graubünden (2002-2007), das Valerio Olgiati für den Mundart-Musiker und Schriftsteller Linard Bardill in dessen Heimatdorf errichtet hat. Der Neubau füllt präzise die giebelständige Kubatur eines abgerissenen Stalls am selben Ort, was eine Auflage des Ensembleschutzes war (Hofstattbaurecht), aber entstanden ist ein Bau, der alles andere als konventionell und kontextuell ist: Das Atelier nutzt nur rund ein Drittel des Raumes (da der Künstler im historischen Bauernhaus nebenan wohnt), während es einen zum Himmel elliptisch geöffneten Innenhof frei gibt. Die absolute Reduktion auf das Material Beton - rotbraun durchfarbt und vor Ort gegossen mit ornamentaler Verfeinerung eines traditionellen Rosetten-Schnitzmotivs, das handwerklich als Relief in den Schalungsplatten eingestemmt wurde, gibt sich der Bau nach außen monolithisch, fast modellhaft abstrakt: kantige Betonstufen ohne Geländer, keine (sichtbaren) Fugen, die Öffnungen ohne Laibung oder andere Detailierung einfach in die Wand geschnitten, etc. Auch der Innenraum zeigt sich rigoros durch die Verwendung derselben rohen Beton-

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Oberflächen an Wand und Decke komplettiert durch einen fugenlos gegossenen Zementestrich und farblieh angepasste Fenster, Türen und Akustikpaneele. Doch trotz der monolithisch-rohen Erscheinung handelt es sich eigentlich um eine zweischalig, kerngedämmte Konstruktion, die wie ein Futter in eine Hülle hineingeschneidert wurde, was modernste Statik, Bau- und Haustechnik und präzise Bauausführung verlangt (Ingenieur Patrick Gartmann von Conzett, Bronzini, Gartmann AG, Chur), ebenso wie der monochrome Ortbeton eigens durch Pigmente und Steinmehl als Zu­ schlag im Labor experimentell für diesen Bau entwickelt und abgenommen wurde.

Abbildung 3: Valerio Olgiati, Atelier Bardill, Scharans, 2002-2007. Ansicht außen, Ansicht Hof, Detail Fassadenoberfläche, Schnitt

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Abbildung 4: Valerio Olgiati, Nationalparkzentrum_Zerne::, 2002-2008. Ansicht außen, Ansicht innen, Grundriss EG, Grundriss I. OG Die Thematisierung von Abstraktion und Geometrie kehrt in Olgiatis Besu­ cherzentrum Zernez, Engactin (2002-2008) zurück: Von außen wirkt der Neubau maßstabslos als massive Betonskulptur zweier sich überschneiden­ der Kuben, gegliedert einzig durch zentrische, liegende Öffnungen zu j eder Himmelsrichtung, die durch die Unterdrückung j eglicher Gliederung (selbst die Fensterrahmen sind unsichtbar) und tiefe Laibungen wie Löcher wirken. Die MaterialpalieHe ist aufweißen Ortbeton und Bronzedetails reduziert, das Objekt durch einen Sockel aus dem pittoresken Kontext des hochalpinen Dorfes herausgehoben. Der Zugang über eine quadratisch betonierte Fläche ist denkbar abstrakt, ebenso der Eingang durch eine der 24 Öffnungen des Doppel-Kubus, der einzig durch eine dreigeteilte Tür sich von den anderen unterscheidet. Im lnnern ist das Treppenhaus diagonal über dem Schnitt­ punkt der beiden Kuben eingestellt und gegabelt, was dem scheinbar ein­ fachen und repetitiven Bau eine ungeahnte Komplexität beschert - und so einen Rundgang durch sechs nahezu identische Ausstellungsräume vorgibt. Die Unterdrückung sämtlicher Details wie Fugen, Rahmen oder Auslässe und Steuerungen für Haustechnik ist nur möglich durch präzise Planung,

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Hightech Ausführung und explorative Materialforschung. Denn die massiven 55 cm starken monolithischen Wände sind aus fugenlosem, glat­ tem, scharfkantigem Leichtbeton mit Blähtonzuschlag gegossen, deren Ver­ arbeitung selbst zum einzigen » Schmuck« des Baus wird: die leichte Aus­ kragung der zwei Obergeschosse nimmt ein lokales Motiv der Bauernhäuser und Ställe auf, die »Faschen« um die riesigen liegenden Fensteraussparungen weisen als Spur auf den Prozesses des Schalens und Gießens, während die von innen angeschlagenen Bronzefenster die ganze Laibungstiefe freigeben und die Öffnungen als Leerstellen erscheinen, während im lnnern ein fugenloser, geschliffener Terrazzo zusammen mit der Decke sämtliche Haustechnik aufnimmt bzw. unterdrückt, um so einen Effekt wie aus einem Guss zu erzielen.

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Abbildung 5: Valerio Olgiati, Rolex Learning Center EPF Lausanne (Wettbewerb), 2004. Renderings, Grundriss und Schnitt Noch radikaler zeigt das Wettbewerbsproj ekt zum Rolex Learning Center der EPF Lausanne (2004) die Kombination aus Abstraktheit und Logik von Olgiatis Ansatz: Während die anderen beiden Projekte nach außen geschlos­ sen kubisch mit Komplexität im lnnern überraschen, steht das Leaming

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Center tlir eine transparente Haut-und-Knochen-Architektur von Stützen und Platten. Konstruktiv handelt es sich um ein Quadratraster mit 50 m Seiten­ länge, das geschossweise geschichtet und verschoben auf lediglich neun schrägen Stützen ruht, während im Zentrum eine Kreuzstütze die Struktur gegen Schubkräfte sichert, unterstützt von Spannseilen, überlagert von einem System in sich abgeschlossener Erschließungskanäle (Treppenhaus, Ram­ pen, Aufzüge), die als enge, geschlossene Schnorchel antithetisch zu den völlig offenen Geschossen entwickelt sind. Olgiati stellt das Proj ekt wiederum in dunkelrot durchgefarbtem Ortbeton vor, in diesem Fall ist das homogene Material vorgespannt wegen der extrem aufwendigen statischen Konstruktion, welche selbst zum primären Thema (oder zur intrinsischen Idee) der Architektur avanciert. Dabei versteht Olgiati seine Entwürfe gerade nicht als » expressiv» oder »persönlich«, sondern als Ausformulierung einer einzigen » architektoni­ schen Idee« , wenn sie konsequent und logisch bis zu Ende gedacht wird. Was er damit meint, wird deutlicher, wenn man den von ihm gewählten Vergleich zwischen der geplanten Hauptstadt Fatehpur Sikri, Uttar Pradesh, Indien ( 1 569-85) des Großmogul Akbar und dem Atelier Bardill betrachtet: so scheint Olgiati von der ochsenblut-roten Monachromie des aus lokalem Sandstein erbauten Herrschersitzes fasziniert zu sein, aber mehr noch von der Behandlung des Natursteines mit Techniken des Holzbaus, von der Struktur (Stützen-Balken-Systemen) bis hin zu den Details (Balkenköpfen, Schnitzereien, filigranen .Jali-Gittern und Einlegearbeiten) : Hier zeigt sich eine bewusste Übertragung einer älteren Technik auf ein anderes Material, einer Verfeinerung, die von dem Ringen zwischen Ideen, Techniken und Materialien spricht. Damit bezieht sich Olgiati indirekt auf Gottfried Semp­ ers Konzept des » Stoffwechsels« , bei dem das modernere Material das ur­ sprünglichere durch die Gestaltung der Oberfläche als technisches Ornament » erinnere« . 13 Olgiati sucht in seinen Entwürfen und Bauten weder nach einer eigenen Handschrift, noch nach lokaler Kontextualität oder nach Funk­ tionalität im Sinne der Moderne, sondern nach einer spezifischen Form architektonischer Autonomie, bei der das Entwerfen hauptsächlich aus

1 3 Semper,

Gottfried:

Die vier Elemente

der Baukunst.

Ein Beitrag zur

vergleichenden Baukunst, Braunschweig 1 85 1 . Reprint in: Quitzsch, Heinz (Hg.): Gottfried Semper: Praktische Ästhetik und politischer Kampf, Braunschweig 1 98 1 , S. 1 1 9-228, hier S. I 00.

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logischem Denken und Schließen innerhalb eines immanenten Systems der Architektur besteht. Trotz der scheinbaren Einfachheit, Abstraktion und Materialpräsenz - und damit Nähe zum sogenannten deutsch-schweizeri­ schen Minimalismus - sind Olgiatis Projekte gerade nicht » einfach« , sondern komplexe Gebilde durchdrungen von aufwendigster Technik: Angefangen bei einer computergestützten Statik, zu CAD und Simulationsprogrammen, über innovative Haustechnik und Gebäudesteuerung bis hin zu experi­ menteller Materialforschung und Bauausführung werden alle Bereiche des Bauens durch zeitgenössische Techniken durchdrungen. Doch bleibt bei den Projekten von Olgiati diese technische Revolution im Bauwesen im Hintergrund, dient als Werkzeug der logisch entwickelten abstrakten »Idee« , die dem Entwerfer bei der Realisierung einer stringenten Architektur auf allen Ebenen hilft, diese zu bauen erst ermöglicht, j edoch gerade nicht den Aspekt des Entwerfens selbst determiniert oder hinterfragt.

4 . C O D A : E N D G A M E S ? D E R T RA U M VO M A U T O R E N L O S E N E N TW E R F E N . O D E R : E I N V E RS U C H Ü B E R DAS S C H E I T E R N . . .

Im Herbst 2008 fand ein privates Gespräch zwischen Scott Cohen und Va­ lerio Olgiati in Flims statt 14 zur Überraschung glaubten sich beide Archi­ tekten trotz offensichtlicher Unterschiede im j eweils anderen wieder­ zuerkennen. Seide sehen Architektur als eine Form der difficoltii, wie der italienische Manierismus das virtuose Lösen einer schier unlösbaren künst­ lerischen Komposition nannte, doch mit einer tragischen Wendung. Wenn Cohen und Olgiati es sich mit ihren Entwürfen künstlich schwer machen, dann im Hinblick darauf, dass das Schwierige immer nur eine Annäherung erlaube, und somit per Definition von Scheitern gekennzeichnet sei. Zudem unterstrichen beide Architekten die Bedeutung sowohl der Materialität als auch der Geometrie für ihre Entwürfe, doch während Olgiati auf seiner Autorität als Architekt beharrte, einen Entwurf erst abstrakt zu denken, als logisches Konzept im Kopf zu entwickeln, und erst im zweiten Schritt

14 Gespräch Preston Scott Cohen mit Oie W. Fischer und Valerio & Tarnara Olgiati in deren Haus in Flims, 1 4. 1 1 .2008.

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zeichnerisch bzw. als Modell zu repräsentieren, propagierte Cohen einen Rückzug des Autors und eine Mitwirkung der Repräsentationsform (Perspektivkonstruktionen bzw. Scripting im Computer), um eine Vielzahl von Einflüssen und widerstreitende Logik zu formalisieren, die Widersprü­ che und Ungereimtheiten als solche nebeneinander bestehen zu lassen, und zu einer Form zu finden, die Spuren dieser Konflikte verinnerlicht hat und so j enseits der Vorstellungswelt (und Vorstellungskraft) des Architekten liege. 1 5 Seide kokettierten auch mit einer anonymen Architektur, einem Verschwinden des autorativen Architekten, was aber im Nachhinein eher als Phänomen einer melancholischen Praxis erschien, als ein Schwanengesang von zwei selbstbewussten Autoren-Architekten, als ein spielerisch-schmerz­ voller Versuch, sich über politische Marginalisierung und den Schwund sozialer Relevanz des Architektenmetiers hinwegzutrösten. Denn anders als die morphologischen Beispiele aus der Biologie (Flun­ der) oder der Architekturgeschichte (Palazzo Gambara) stellen sowohl Olgiati wie auch Cohen die Komplexität ihrer Entwürfe selbst her, betreiben Architektur als ein Es-Sich-Selbst-Schwermachen und ein vorprogram­ miertes Scheitern an der selbst auferlegten Aufgabe, 16 weil weder eine Vorstellung von einer grammatikalischen Ordnung (wie die repräsentative Funktion der Fassade in der klassisch-vitruvianischen Architektur) noch von deren Differenzierung durch innerarchitektonische Probleme (wie die nachträglich hinzugefügte Treppe im Palazzo Gambara) ausreichend »Material« für eine sichtbare Spur dieser Konflikte bieten. Cohen adressiert Kontingenz allein als formales Problem (Grammatik der klassischen Architektur vs. funktionalen oder kontextuellen Anforderungen), entweder als ungewollten Nebeneffekt (autorlos) oder als gesuchte Komplexität (virtuos), analog zur Anamorphose in der Malerei des Manierismus und Barock. Er scheint wie blind gegenüber der eigentlichen Kontingenz der Architektur, die als kulturelle Praxis zwischen freier Kunst, Dienstleistung und Real Estate angesiedelt ist, und notwendigerweise funktionale, technische wie auch politische, ökonomische und soziale Problematiken verhandelt. So betrachtet verbleibt die logische Praxis von Olgiati ebenso

15 Gespräch Preston Scott Cohen mit Oie W. Fischer und Valerio & Tarnara Olgiati in deren Haus in Flims, 1 4 . 1 1 .2008. 16 P.S. Cohen: Contested Symmetries, S . 1 3 .

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wie das digitale Scripting von Cohen im Boudoir der Architektur - wo formaler Rigorismus eine politische Radikalität längst ersetzt hat. 17

1 7 V gl. Tafuri, Manfredo : L' Architecture dans 1e Boudoir: The 1anguage of criticism and the criticism of1anguage, in: Oppositions 3 (Mai 1 974), S. 3 8-62.

Standardisierung 4 . 0 in der Architektur?

GERNOT WECKHERLTN

Gut und viel muss man vorher nachsinnen und überlegen und mit Maßstäben, Tabel­ len, allen möglichen anderen Sachen und Modellen den ganzen Bau und die einzel­ nen Teile desselben vorher durcharbeiten, weil man hierbei noch ohne Nachteil etwas hinzufügen oder weglassen oder sehen kann, welcher Art wie beschaffen und wie groß das Haus werden wird. Damit es dich nicht am Ende, wenn alles fertig ist, gereue und du sagst: Das hätte ich nicht wollen und 1 das hätte ich lieber wollen. LEON BA TTISTA ALB ERT!

S TA N D A R D U N D A R C H I T E KTO N I S C H E F O R M E N I N D I V I D U A L I TÄT

Der Titel » Standardisierung 4.0« als Beitrag zum prognostizierten Ver­ schwinden des Architekten fordert wohl zunächst eine Erklärung. Zeigt sich denn nicht gerade in der wuchernden Formenindividualität und -variabilität

Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst (De re aedificatoria), Theuer, Max (Hg.), Darmstadt 1 99 1 [zuerst 1 9 1 2], 2. Buch: Über die Baustoffe, S. 67.

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zeitgenössischer Architektur, dass das nicht-standardisierte Unikat der Stan­ dard im Gebauten ist? Es soll hier nicht um die Fortschreibung einer Bauge­ schichte früherer Standardisierung etwa in j enen Gropius' schen Träumen von der Hausbaufabrik bis hin zum industrialisierten Wohnungsbau gehen. Zunächst soll versucht werden das Thema der Standardisierung aus der Beobachtung des aktuellen Baugeschehens an einem Beispiel zu beleuchten. Im Kern geht es darum ob und falls ja auf welchen Feldern wir heute sogar von einer viel stärker standardisietien Architektur sprechen können als dies in den kühnsten Visionen des industrialisierten Bauens des letzten .Jahrhun­ derts denkbar schien. An welchen Objekten und Prozessen, so ist zu ti·agen, wäre dies zu belegen, und wie wäre zuletzt darüber zu spekulieren, welche Konsequenzen diese Standardisierung in praxi wie in theoriam für die Architekten und Architektinnen haben mag und wie dies zu ihrem Bleiben oder ihrem Verschwinden beitrüge?

S TA N D A R D I S I E R U N G U N D B E T R I E B SW I RT S C H A F T

Standardisierung ist eng mit der Industrialisierung i m frühen 20 . .Jahrhundert verbunden. Als ein Teilbereich der Gestaltung von industriell hergestellten Produkten umfasst sie in der Produktstandardisierung » . . . die Vereinheitli­ chung von Größen, Abmessungen und Eigenschaften, aber auch von Formen oder Einzelteilen (Normung) bzw. von kompletten Produktvarianten (Ty­ pung) .« 2 Jeder Blick auf einen Containerterminal oder unter die Karosserie eines beliebigen Kraftfahrzeugs eines Herstellers, der mit Baukastensyste­ men operiert, macht also Standardisierung und ihre Wirkungsweise sichtbar. Die Vorteile von Standards liegen in Rationalisierungseffekten durch verrin­ gerte Lagerhaltung, Austauschbarkeit von Teilen, oder betriebswirtschaftlich betrachtet, in der Verringerung von » intra- und innerbetrieblichen Prozess­ kosten.« 3 Während gleichzeitig der Absatz standardisierter Produkte flexib­ ler wird, sinken }> Beschaffungsaufwand und das Beschaffungsrisiko .« 4

2

http : //wirts chaftsl exikon. gab I er. de/Defi n ition/pro duktstandardi sierung . htm I

3

Ebd. , Rubrum » Standardisierung« .

4

Ebd.

(3 0. 1 2 .20 1 5), Rubrum »Produktstandardisierung«.

S TA N D AR D I S I E R U N G 4 . 0 I N D E R A RC H I T E K T U R ?

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Darin lag und liegt ein Versprechen auf erzielbare Rationalisierungsge­ winne. Umgekehrt aber liegt das Prognoserisiko für das Management der Hersteller in der Einschätzung, inwieweit die Kundinnen und Kunden standardisierte (also meist gleiche) Teile in ihrer Kombination als Endpro­ dukt noch akzeptieren, ohne dass sich die Markenbindung auflöst. Schlichter gesagt, das Management muss prognostizieren, ob und bis zu welcher Schmerzgrenze der Kunde den Preisunterschied etwa zwischen » SEAT« und >> VW « bei annähernd gleichen Teilen noch akzeptiert. Normen gehen über die Standardisierung noch hinaus, sie schaffen erst die Voraussetzung der wechselseitigen Austauschbarkeit von Teilen oder von Informationen. Eine Strategie unternehmensinterner Standardisierung etwa in der Autoindustrie ist also, oft kaum existente Markenunterschiede, durch »höherwertige« Gestaltung des teureren Fahrzeugmodells, also einer optischen, akustischen und haptischen Dissimulation, zu verschleiern. Ähnliche Strategien der Dissimulation von wirksamen Standards gibt es gerade auch in der Architek­ tur. Dies kann trotz des je einzigatiigen Ortbezugs eines Bauwerks behauptet werden. Man braucht nur den Bezugsrahmen zu Standardtypen von Gebäudekonfigurationen zu verschieben. Der Architekt, die Architektin wer­ den hier nicht selten - in den Worten Gottfried Sempers - zum »unmass­ geblichen Geschmacksrath.« 5 Dies braucht j edoch - anders als bei Semper ­ keineswegs negativ konnotiert zu sein, insofern dessen gute Gestaltung keinen »unmassgeblichen« , sondern die Realisierung eines Baues erst ermöglichenden, ökonomischen »Mehrwert« eben in der Dissimulation der Standards eines nicht selten standardisierten Produkts zu erzeugen mag. Allerdings ist Gestaltung nur ein Mittel zur Erzeugung ökonomischen Mehr­ werts unter vielen und die meisten Standards treten nicht unvermittelt in Erscheinung. Gestaltung ist zudem selten ihr Anfangspunkt Vielmehr hat sie meist bereits getroffenen Entscheidungen, die nicht immer auf ihrem engeren professionellen Gebiet liegen, produktiv zu machen. Zu fragen wäre folglich weiter, inwiefern Kriterien für die ästhetisch wie ethisch fundierte Kritik der Architektur überhaupt im Formalen I iegen können.

5

Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ä sthetik: Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Band I: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt a.M. 1 860, S. Xlll.

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G E RNOT WECKH E R L I N

S T A N D A R D S IM B A U E N

Im Bauwesen nimmt die Zahl von Qualitäts-, Rechnungs-, Produkt- und Kommunikationsstandards (und den damit zusammenhängenden, aber nicht identischen technischen Normen) in der Entwurfs- wie in der Baupraxis ste­ tig zu. Schon ein grober Vergleich macht dies deutlich: Zur Zeit eines ersten Höhepunkts der Normungseuphorie im Bauwesen im Jahr 1 93 1 , gab es 426 Fachnormen fiir das Bauwesen. 6 Im Jahr 20 1 6 bietet der Beuth-Verlag 26.963 thematisch relevante Artikel an. 7 Diese umfassen nicht nur »Teilpro­ dukte« , also Bauteile, sondern gerade auch für den der Kommunikation, etwa durch Proj ektierungs- Berechnungs-, Ausschreibungs- und Vergabeverfah­ ren, und seit einigen Jahren auch digitale Gebäudedatenmodelle (BIM) . Dazu kommen, lange vor der architektonischen Entwurfsphase und lange vor der »Anwendung« von standardisierten Planungsinstrumenten und -sprachen, noch j ene besonders schwer zugänglichen quantitativen und qualitativen »Filterungen« dessen, was gebaut und auch bezahlt wird, durch »obj ekt­ immanente« Standardisierungen, die als Standards in einem weiteren Sinn verstanden werden so11en. Damit sind standardisierte Bautypen gemeint, wie Shopping Malls, Krankenhäuser oder Hotels. Hier sind eher branchen- oder unternehmensinterne Standards der Projektentwicklung involviert. Den weiteren Rahmen der Standardisierung beschreiben allerdings vor allem Qualitätsanforderungen an Bauten sei bst, die Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, technische Regelwerke, Vorschriften und in jüngerer Zeit auch Zertitizierungen umfassen. 8 Bildlich gesprochen scheint Standardisierung so wie der unter Wasser gelegene größere Teil eines Eisbergs von Standardisierungsdiskursen, an dessen (Bau-)form gewordenem sichtbaren Tei I über Wasser Architekten

6

Gehler, Willy: »Die Bedeutung der Normung fur die Volks- und Bauwirtschaft« , in: Deutscher Normungsausschuß (Hg.): DIN Baunormung 1 93 1 , Berlin 1 93 1 , S. 9-14.

7 8

http ://www.beuth. de/de/bauwesen/BVFROOO/alle ( 1 0 . 0 1 . 20 1 6) . Vusatiuk, Nina: Immobilienentwicklung in Osteuropa, untersucht am Beispiel von Hotels in Deutschland und der Ukraine, unveröff. Dissertation, BTU Cottbus­ Senftenberg, Tag der Verteidigung: 09.07.20 1 5 . Hier ein umfassender Überblick fur den Hotelbau, Anhang 8: Qualitätserfordernisse bei Planung und Realisierung von Hotelgebäuden in Deutschland, S . 52-5 8 .

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1 1 79

und Architektinnen inbrünstig und zur Freude des Feuilletons werken, wäh­ rend an dessen Basis der unmittelbaren Anschauung und Kritik meist entzo­ gene weitere wirksame Standardisierungen angelageti sind. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen:

FALLB E I S P I E L HOTEL

Abbildung 1 : Architekturbüro Oikios, Hotel in der Stilli Davos mit parametrischer Fassade Die Wahl dieses Bauwerks war dem Zufall geschuldet, dass am gleichen Tag der Ankündigung dieser Konferenz das Fachnachrichtenportal Baunetz von der Fertigstellung des neuen Hotel lntercontinental in Davos im schweizeri­ schen Kanton Graubünden berichtete. 9 Obwohl es sich lohnen würde, dar­ über zu diskutieren, ob es sich dabei um eine architektonische Ente oder ei­ nen dekorierten Schuppen im Sinne Robert Venturis, oder gar um ein neuere Interpretation einer Ledoux'schen »architecture parlante« handeln mag, ist das Beispiel doch schlicht deswegen gewählt, weil das Proj ekt - laut Baunetz

9

http : 1/www. baunetz . de/meldungen/Meldungen-Hotel_in_Davos _m it_parame trischer_Fassade_3 50328 l .html ( 24 . 0 3 . 20 1 4 ) .

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G E RNOT WECKH E R L I N

- als »nicht baubar« galt und deswegen j eglicher architektonischer Stan­ dardisierung zunächst unverdächtig scheint. 10 Das im Dezember 20 1 3 eröffnete Hotel bietet 2 1 6 Zimmer und 3 8 lu­ xuriöse Eigentumswohnungen auf einer Gesamtfläche (Hotel) von ca. 3 1 .000 qm. Es steht auf dem Gelände einer 1 985 geschlossenen Tuberkulose-Heil­ stätte für Minderbemittelte der Basler Klinik in Davos. Entworfen wurde die­ ser Neubau, so berichtete Baunetz, von dem München er Architekturbüro Oi­ kios (Oliver Hofmeister) . Das Gebäude hat eine längere Vor- und Planungsgeschichte. 1 1 Diese war Teil einer lokalen Diskussion in dem vor allem durch Kongresse wie dem World Economic Forum bekannten Ferienort, dem ein Entwurf des Baseler Architekturbüros Herzog und de Meuron für ein Hochhaus auf der Davoser Schatzalp (2004) vorausging. Für dieses Proj ekt des Baseler Büros hatte der gemeindliche Volksentscheid das Baurecht gesichert. Die »großen« Hotel­ projekte mit einer typischen Kombination aus Ferienwohnungen und Hotelbetrieb j edoch gerieten durch eine 2007 zugelassene und 20 1 2 erfolgreiche Volksinitiative zur Beschränkung des Baus von Zweitwohnsit­ zen in der Schweiz in schwieriges Fahrwasser. 12 Davon und von der Finanz­ krise des Jahres 2008 war auch der Planungsfortschritt des hier beschriebe­ nen »goldenen Eies« und ähnlicher Projekte verlangsamt oder zum vorläufi­ gen Scheitern ( Schatzalp) gebracht. Dennoch blieb seither ein Ar­ gumentationsstrang fi.ir neue große Hotelbauten in den Alpen, der seit dem Schatzalp-Pr�j ekt immer wieder von Architekten und Investoren bemüht wird: Verringerung des Flächenverbrauchs durch architektonisch spektaku­ läre, zugleich aber ökologisch wie ökonomisch zweckmäßig erscheinende zeichenhafte Groß formen. In diese Phase fiel auch das hier genannte Proj ekt, das ursprünglich von dem Mailänder Büro Matteo Thun 2006 für ein weite­ res großes Hotel in Davos entwickelt wurde. Hier ist der Vorplanungsvor-

10 Ebd. II Ein Interview mit dem Architekten Oliver Hofmeister schien notwendig, um die­ sen Prozess von einer »unbaubaren« Idee zu einem realen Gebäude nachzuvoll­ ziehen, dies fand in München, 1 2 . März 2 0 1 5 statt. 1 2 https ://www. admin. ch/ch/d/pore/vi/vis345.html ( 3 0 . 1 2. 20 1 5 ) . Die Volksinitiati­ ve » Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen« wnrde angenommen und in ein Bundesgesetz überführt.

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schlag tlir die große Dimension zunächst eine originelle Neuerung im Hotel­ bau. Im vorliegenden Fall ging es um ein dreizehngeschossiges, wie ein hal­ bes perforiertes goldenes Ei in der Landschaft gelageties Hotel des 4- 1 /2Sterne-Standards. Dass es nicht fünf Sterne geworden sind, hatte, so konnte man der kantonalen Presse später entnehmen, damit zu tun, dass es der Pharmaindustrie in Zeiten der Wirtschaftskrise ab 2008 im Konferenztouris­ mus nicht mehr opportun erschien, diese Kongresse in 5-Sterne-Hotels abzuhalten. Das Gebäude sei in seiner äußeren Erscheinung » inspiriert von einem »Fichtenzapfen mit seinen glatten Samenschuppen aus dem angren­ zenden Wald,« so las man später darüber im Baunetz. 13 Die Baukosten für den Credit Suisse Real Estate Fund Hospitality bzw. die Betreiber-Gesell­ schaft Still i-Park AG, deren Aktionär wiederum das Bankhaus Credit Suisse ist, beliefen sich auf ca. 1 55 Millionen SFR. 14

N o N - S TA N D A R D -A R C H I T E KT U R ?

D i e zunächst »nicht baubare« Fassade des Hotelprojekts wurde später durch die Beteiligung verschiedener Fachleute möglich. Dazu gehörten die auf sol­ che komplizierten Fälle spezialisierte Firma » designtoproduction« (Stutt­ gart) tlir die digitale Modeliierung der Hüllflächen und die Parametrisierung der Fassadengeometrie, sowie das Statikbüro Wilhelm + Partner (Stuttgart) und in der Austlihrung die Fassadenbaufirma Seele (Pilsen) . Auf Letztere ging später der Vorschlag zurück, die Fassadenelemente nicht in Aluminium, sondern in Stahl auszuführen. Dieses Team entwickelte eine Unterkonstruk­ tion aus per Laser geschnittenen Primär- und Sekundärrippen. Dieser Träger­ rost bildet die geforderten räumlichen Krümmungen aus. Die Unterkonstruk­ tion wurde anschließend allseitig mit drei Millimeter starken Dünnblechen elastisch bespannt, die » [ . . . ] mit ihrer champagnerfarbenen metallischen Beschichtung die sichtbare Oberfläche der Fassade bilden.« 1 5

1 3 http : //www. baunetz . de/me1dungen/Meldungen-Hote1_in_Davos _m it_parame trischer_Fassade_3 50328 1 .htm1 ( 24.03 . 2 0 1 4 ) . 1 4 http ://www.nzz. ch/wirtschaft/das-goldene-ei-hat-an-glanz-verloren- 1 . 1 83 1 4464

( 1 9 . 12.20 1 5).

1 S http : //www. baunetz . de/me1dungen/Meldungen-Hote1_in_Davos_mit_parame trischer_Fassade_3 50328 1 .htm1 ( 24.03 . 2 0 1 4 ) .

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Die Besonderheit bei Herstellung und Montage der Elemente lag darin, 7 9 1 unterschiedliche Brüstungselemente, die aus über 62.000 Einzelteilen aufgebaut sind, zu fertigen, zu liefern und zu montieren. Diese Aufgabe konnte nur über eine digitalisierte Konstruktion und Fertigung gelingen. Je­ des Fassadenelement musste per Lkw in insgesamt 200 Fahrten vom Pro­ duktionsstandoft im tschechischen Pilsen nach Davos gebracht werden.

Abbildung 2: Architekturbüro Oikios, Fassadenstudie Hotel in der Stilli, Davos. Tonmodell (2007) Dieses Beispiel scheint geradezu der Gegenbeweis zu der aufgestellten Behauptung zu sein, dass wir es bei diesem spektakulären Beispiel mit einer standardisierten Architektur zu tun haben könnten. Gerade dieser neuartige Prozess, den Hofmeister und die Fachingenieure und Firmen gemeistert ha­ ben, zeigt die Spielräume der Architekten und Architektinnen: Hier wurde lange experimentie1i. Die ersten Versuche fanden dabei noch an Ton- und Holzmodellen statt, bei denen es darum ging, durch das »wellenförmige und diagonale Aufsteigen der Brüstungstlächen [ . . . 1 die dimensionserzeugenden Horizontalen und Vertikalen [aufzuheben] .« Es entsteht, so ein »alternieren­ des Spiel von Vor- und Rücksprung, das durch die Einziehung der Brüs­ tungsvorsprünge von unten einen erhöhten Lichteinfall ermöglicht... r iR wieder II• Iein. Das nennt m�m den Fa· mili.nzyktus

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Abbildung 4: frene und Hermann Henselmann: Das große Buch vom Bauen, 19 76. 3-Raum Wohnungstypen im Wohnungsbauprogramm der DDR

1 7 Ebd.

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1 1 85

In der räumlichen Wirkung des beschriebenen Bauwerks ist nun j ede Ähn­ lichkeit mit den von den Akrobaten des parametrischen Entwerfens stets gebrandmarkten repetitiven und auf strengen Orthogonalrastern aufbauen­ den standardisierten Industriebauten der siebziger Jahre des letzten Jahrhun­ derts verschwunden. Hier gibt es kein repetitives triviales, also vorhersehba­ res und berechenbares, etwa auf ein Proportionsverhältnis zwei er natürlicher Zahlen beruhendes »Achsraster« , das die Hüllflächen durch austauschbare Fassadenelemente strukturiert. Das typische Merkmal j eglicher Vorfertigung in den schlichten Industrierastern der Vergangenheit, in denen stets das Ras­ ter das Detail bestimmen sollte, taucht bei dem Davoser Hotel in der Fassade nicht auf. Und doch sind solche Non-Standard Bauten zunächst einmal Pro­ dukte einer weit reichenden Standardisierung, die schon ehe die digitale Maschinerie zu arbeiten begonnen hat, wirksam ist. Dies zeigen sogar einige kritische Kommentare der mit solchen visuellen Manipulationen selbst meist vertrauten Architektinnen und Architekten im Baunetz, die auf eine kleine Ungereimtheit hinweisen: Balkonseitig bietet sich den Hotelgästen auf dem malerischen Foto eben nicht j enes kleine blecherne Dreieck, das offenbar herausretuschiert oder fürs Foto herausgenommen wurde.

Abbildung 5: Architekturbüro Oikios, Hotel in der Stilli Davos. Balkon und Balkonbrüstung

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G E RNOT WECKH E R L I N

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SIA 358

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Der Binärcode als Standard der Gegenwart ermöglicht und betreibt die digitalen Entwurfs- und Produktionsapparaturen zugleich. Dieser Standard ist kein außerhalb des Architektonischen nur in Werkzeugen des Entwerfens und Konstruierens liegendes Oberflächenphänomen. So schrieb treffend ei­ ner der avanciertesten Vertreter der Schweizer Szene, Ludger Hovestadt: »Heute stellen Codes den Rahmen und den Boden bereit, auf dem die Kommunikation, das Planen, die Finanzierungen und das Konstruieren ablaufen.« 20 Diese Codes durchdringen den Prozess des Entwerfens zugleich radikaler und unmerklicher als die beschriebenen juridisch- politischen, ökonomischen und technischen Normen und Standards. Dieser Standard j eglicher elektronischer Kommunikation, wozu auch dieses Spezialfeld zählt, wirkt, so schrieb Friedrich Kittler in einem 1 99 8 erschienenen Text über »Normen und Standards der elektronischen Kom­ munikation« als »gleichschaltender, im Kleingedruckten verborgener, dem Benutzerzugriffunterhalb der Interface-Obertlächen weit gehend entzogener Standard.« 21 Verhängnisvoll ist dabei weniger, dass dieser Code den entwerfenden Architekten in der Regel genauso wie anderen Endanwendern nicht zugäng­ lich ist, und damit alte Abhängigkeiten durch neue ersetzt, sondern dass sie als »Medienstandards« in den Worten Kittlers » . . . ihrem Charakter nach » strategische Maßnahmen [darstellen] , deren Sieg über unbewaffnete Sinne von vornherein eingeplant oder gar garantiert ist.« 22 Nicht minder bemerkenswert sind j edoch auch j ene sich rasant professio­ nalisierenden, neo-funktionalistischen »Anwendungen« dieses Standards, die von den Protagonisten der Szene mit der ihnen eigenen Fortschrittsrhe­ torik angepriesen werden. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind ohne Zweifel beachtenswert und es gibt keinen Grund, sie nicht zu verfolgen. Allerdings löst eine genauere Sicht auf sie ein gewisses Unbehagen aus, folgen die gesetzten Parameter des neuen Entwerfens doch genauso j enen (meist) ökonomisch motivierten Bedingungen wie der Verringerung von Risiken in

20 Hovestadt, Ludger: Jenseits des Rasters - Architektur und lnformationstechnolo­ gie. Anwendungen einer digitalen Architektonik. Basei/Boston/Berlin 20 1 0, S. 1 6 . 2 1 Kittler, Friedrich A. : Gleichschaltungen. Über Nomen und Standards der elektro­ nischen Kommunikation, in: Faßler, Manfred/Ha1bach, WulfR. (Hg.): Geschichte der Medien. München, 1 998, S. 255-268. 22 Ebd. S . 256.

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1 191

der Modellbildung oder schlichter Optimierung. Die inzwischen neu ent­ stehenden und j ederzeit anpassbaren virtuellen Modeliierungen passen sich nun subtiler als j edes funktionalistische Schema besonders » smart« den alten Zwängen und Standards an.

FAZ I T

Dies alles höti sich i n der Theorie gut an. Für die Praxis einer noch zu leis­ tenden Erforschung der Produktionsbedingungen und damit der Frage nach der Wirksamkeit von Standards auf den skizzierten Ebenen in der Architek­ tur bedeutet dies allerdings, dass das Problem der Beschreibung ihrer Ef­ fekte, also ihrer Wirkung und ihrer Erscheinung, ernst genommen werden müssen. Wie wirken solche Standards - etwa im Sinne einer sozialen/ technischen Normalisierung ihrer Orientierung am »Normalen« oder an Grenzwerten etwa in die Entwurfsprozesse selbst hinein? Wann und wo än­ dern sich die Standards und warum treten neue (von Standards und Rah­ menbedingungen abweichende) Prozesse aut� z. B. als Innovation, oder wo­ ran scheitern diese, kurz gesagt, was bestimmt ihre historische Dimension? Warum und wie wären etwa im Planungsprozess noch vorgängigere Stadien von technischen, aber auch planungsökonomischen Standards, die die Siche­ rung des eingesetzten Fremdkapitals eines solchen Großbauwerks beträfen, methodisch in die Beschreibung und (Architektur- )kritik zu integrieren? Und in welchem Beschreibungskontext müssen wir das für eine kompetente ästhetische Kritik der entstandenen Architektur auch tatsächlich genauer berücksichtigen?

1 1 1 . Ausbli c k

N otation und Autorenschaft Zur wechselvollen Beziehung von Architekt und Architektur JöRG H . GLEITER

Von Anfang an werden die digitalen Entwurfsverfahren vom Unbehagen begleitet, dass mit ihnen eine gut 500-j ährige Periode der Architektur zu Ende gehen könnte. Leon Battista Alberti ( 1 404-72) hatte erstmals in der Mitte des 1 5 . Jahrhunderts gefordert, was das Mittelalter nicht gekannt hatte: Die verbindliche Notation von architektonischen Ideen in maßstäblichen Grundrissen, Aufrissen und Schnitten. Durch die Notation in maßstäblichen Zeichnungen gab es erstmals die Möglichkeit, historische Bauten in exakten Zeichnungen zu dokumentieren und im Entwurf auf sie Bezug zu nehmen. Es wandelte sich damit das Entwerfen zu einem experimentellen Verfahren über architektonische Motive. Die Architektur wurde zu einer künstlerischen wie intellektuellen Tätigkeit und der Architekt zum Autor und, wie es im Exposee zu dieser Publikation heißt, » autonomen Schöpfer von Entwürfen« . Befürchtet wird heute, dass sich mit den digitalen und generativen Ent­ wurfsverfahren die Notationssysteme verselbständigen könnten, dass die schöpferische Initiative, die zuvor beim Architekten lag, sich in die digitalen Technologien und generativen Verfahren verlagern und sich so dem Einfluss des Architekten entziehen könnte. Mit dem Eigensinn der neuen Technola­ gien und der Automatisierung der Entwurfsverfahren scheint vom Verschwinden bedroht, was Albertis Neuerung erst ermöglicht hatte: Der Architekt als Autor.

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GLEITER

Die historische Analyse kann j edoch zeigen, dass der Architekt als Autor keineswegs Folge eines einzigartigen Emanzipationsprozesses des Architek­ ten ist, hinter den es kein Zurück geben kann. Im Gegenteil, der Architekt wurde zum Autor in einer Folge historischer Momente, in denen er sich neuen Formen der Notationen und damit der Visualisierung und Abstraktion unterordnete, um gerade dadurch neue Freiheitsgrade für eine erweiterte Vorstellungsbildung und Ausdruckstahigkeit als Künstler und Intellektueller zu gewinnen. Es stellt sich die Frage, ob mit den digitalen Technologien und der mit ihnen einhergehenden Unterordnung des Architekten unter neue generative Entwurfsverfahren die Konzeption des Architekten als Autor nicht wieder einem Wandlungsprozess unterliegt, dessen künstlerische wie intellektuelle Potentiale noch nicht hinreichend erkannt sind.

D I E E R F I N D U N G D E S A R C H I T E KT E N A L S K ü N S T L E R U N D I N T E L L E KT U E L L E R

Der Architekt als Autor entsteht im 1 5 . Jahrhundert i m Kontext der Her­ ausbildung des humanistischen Gelehrten und Künstlers. Eine der wesentli­ chen Grundlagen dafür ist die Einführung eines neuen Notationssystems. Der Architekt als Autor erscheint am Übergang von den diagrammatischen Notationsverfahren des Mittelalters zu den bildhatl-maßstäbl ichen Notati­ onsverfahren der Renaissance, wie dies Alberti in seinen Zehn Bücher über die Baukunst erstmals verbindlich für die Architektur eingefordert hatte. Die kodierte Darstellung von Material und Form in präzisen Linienzeichnungen, was von Alberti mit dem Begriff der lineamenta bezeichnet wurde, öffnete das Entwerfen der versuchsweisen Variation von architektonischen Motiven und ermöglichte die präzise Bezugnahme auf historische wie auch zeit­ genössische Vorbilder. Vor Alberti, als der Architekt noch hauptsächlich an­ hand von diagrammatischen Darstellungen vor Ort und ad hoc Anweisungen an die Arbeiter gab, war dies nicht in diesem Maße und in der entsprechenden Präzision möglich. Wo mit den zeichnerischen Verfahren die spielerisch experimentelle Bezugnahme auf Abwesendes und Historisches ermöglicht wurde, wurde das Entwerfen zur Tätigkeit intellektueller wie künstlerischer Reflexion über Architektur und der Architekt zum Künstler und Gelehrten. Mit der maßstäblichen Zeichnung wandelte sich die Architektur von ei­ ner autographischen zu einer allographischen Kunst. Das bezeichnet nach

N OTAT I O N U N D A U TO R E N S C HAFT

1 1 97

Nelson Goodman den Übergang von einer Kunstpraxis, die an die konkrete Ausführung durch den Künstler gebunden ist, zu einer Kunstpraxis, die in einer verbindlichen, vom Künstler autorisierten Form notiert und deren Ausführung daher vom Schöpfer oder Autor unabhängig ist. Als allogra­ phisch bezeichnet Goodman j ene Künste, die eine von Ort und Zeit, das heißt »von der Entstehungsgeschichte völlig losgelöste Identifikation von Wer­ ken« 1 zulässt. Ein exemplarisches Beispiel für eine allographische Kunst ist die Musik. Denn die Notierung in Notensystemen macht eine Aufführung unabhängig vom Komponisten möglich. Die Arbeit des Komponisten ist beendet, wenn er seine Komposition niedergeschrieben und durch seine Unterschrift autorisiert hat. Es ist die Originalpartitur oder das Autograph, die die Authentizität des Werks und die Autorenschaft des Künstlers fest­ schreiben, während das Werk selbst von anderen ausgeführt werden kann. Bis zur Erfindung des Notensystems war die Musik eine autographische Kunst, es sei denn, dass sie auf der Grundlage von verschiedenen Formen der Mnemotechnik ins allgemeine kulturelle Gedächtnis eingegangen war, wobei der Autor, wie bei Volksliedern, mehr oder weniger anonym blieb. In der Malerei dagegen kann nur das vom Künstler selbst hergestellte Werk Anspruch auf Authentizität erheben, weshalb sie eine in ihren Grundprinzi­ pien autographische Kunst ist. Der Übergang von einer autographischen zu einer allographischen Kunst fand in der Architektur relativ spät statt. Erst durch Albertis Einführung eines verbindlichen Aufzeichnungssystems von maßstäblichen Zeichnungen wurde die Architektur zu einer allographischen Kunst, die an einem anderen Ort als dem, an dem sie entworfen wurde, von anderen Personen als dem Architekten, aber entsprechend dem Willen des Architekten, ausgeführt wer­ den konnte. Die eigentliche, tUr die Architektur revolutionäre Neuerung ging aber weit darüber hinaus. Alberti war sich dessen bewusst, wenn er am An­ fang seines Buches schreibt: Die Zeichnungen sind »nicht an die Materie gebunden« 2 • Wo die »Risse« oder »lineamenta« , das heißt die Zeichnungen, die »Formen ganz allein nach Belieben vorzeichnen ohne Rücksicht auf das Material« , zeichnet sich nun der Entwurfsprozess durch einen gewissen Grad

Goodman,

Nelson:

Sprachen der Kunst Entwurf einer Symboltheorie,

Frankfurt/M. 1 997, S. 1 2 1 . 2

A1berti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst (Oe re aedificatoria), Theuer, Max (Hg.), Darmstadt 1 975 [zuerst 1 9 1 2] , S. 1 9 .

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GLEITER

der Abstraktion aus. Die architektonischen Ideen werden im Entwurfspro­ zess weitgehend losgelöst vom Material »im Geiste konzipiert, mittels Linien und Winkel aufgetragen [ . . . ], ausgeführt von einem an Herz und Geist gebildeten Menschen« 3 • Durch die zeichnerische Abstraktion mittels linea­ menta wird das Entwerfen zu einer künstlerischen wie auch intellektuellen Tätigkeit, für das Erste steht das »Herz« , tlir das Zweite der » Geist« . Der Veränderung gegenüber der Architekturpraxis des Mittelalters zeigt sich darin, dass das Mittelalter » sehr wenig Übung in der Anwendung des Maßstabes« hatte und »daher auf eine andere Art, die Größen zu bestimmen (nämlich durch figurale Proportionierung) angewiesen war« 4 , wie Felix Durach schreibt. Das Mittelalter kannte keine maßstäbliche Zeichnung. Die Denkweise des mittelalterlichen Baukünstlers war von der Methode der Triangulation bestimmt. Das Quadrat mit einem eingeschriebenen Dreieck gab die »Norm gotischer Bauproportionen« 5 vor. Wegen des FehJens von Werkplänen mit präzisen Maßangaben bedienten sich die Arbeiter auf der Baustelle der Methode proportionaler Maßübertragung. Da die Längenver­ hältnisse in den Plänen durch Abmessen nicht ermittelt werden konnten, war die Darstellungsform der Pläne weniger bildhaft-anschaulich als diagram­ matisch -abstrakt. Mit der Zeichnung forcierte Alberti die j eder Architekturdarstellung immanente Dialektik zwischen Abstraktion und Bildhaftigkeit. Mit der Maßstäblichkeil stärkt er einerseits die Anschaulichkeit der Darstellung, das heißt die Abbildhaftigkeit oder die Ikonizität. Für das Erkennen der Formen bedarf es j etzt keines mathematischen Übertragungsprozesses abstrakter Diagramme in bildhafte Form. In der maßstäblichen Zeichnung ist alles so­ fort anschaulich präsent, die Figur der Architektur entsteht unmittelbar vor dem Auge. Es werden j etzt die Gesetze der menschlichen Wahrnehmung zur Grundlage des entwerferischen Kalküls. Anders formuliert heißt das, dass die Indexikalität der diagrammartigen Darstellungen des Mittelalters in Rich­ tung der Ikonizität oder Bildhaftigkeit der maßstäblichen Zeichnung der Renaissance verschoben werden.

3

Ebd. , S. 20.

4

Durach, Felix: Mittelalterliche Bauhütten und Geometrie, Stuttgart 1 929, S. 1 6 .

5

Dehio, Georg/Bezold, Gustav von: Die kirchliche Baukunst des Abendlandes, Stuttgart 1 90 I, Bd. 2, S . 567.

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Indem die Strichzeichnung, die lineamenta, auf die Form zielt und von allen anderen Qualitäten wie Materialität, Farbigkeit, Oberflächenstruktur oder Textur absieht, stellt dies andererseits auch einen Schritt hin zur Abs­ traktion dar. Die Linie in der Architekturdarstellung wird äquivalent zum Be­ griff oder Wort. Damit wird in der Baukunst »die Zeichnung das Wesentli­ che, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form getallt« 6 , wie man mit Immanuel Kant sagen kann. Kants formalistische Ästhetik steht im Kontext des Klassizismus und als solche in der Tradition der Renaissance, die die Zeichnung als Medium der Reflexion und damit des Erkenntnisvermögens favorisie1i unter weitgehender Zurück­ stellung der wirkungsästhetischen Gehalte und, in der Begriftlichkeit Kants, des Begehrungsvermögens. »Die Zeichnung [ . . . ] und die Komposition [ . . . ] machen den eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils aus« 7 , wie Kant feststellte, wobei im Gebäude selbst die Farben und Oberflächen­ qualitäten in der Architektur » durch ihren Reiz die Vorstellung beleben, indem sie die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand selbst erwecken und erhalten« 8 , und, wie wir in Überschreitung des Kantschen Formalismus ergänzen können, auch in spannungsreichem Kontrast zur Form stehen und zu einem eigenen Thema werden können. Es zeichnet die Renaissance aus, dass das Entwerfen zu einem >> Spiel der Gestalten« wird. Die Bedeutung der maßstäblichen Architekturzeichnung lässt sich an Michelangelos Entwurf für das Vestibü.l und den Treppenauf:. gang der Bibi ioteca Laurenziana zeigen. Für seinen Entwurf griff M ichelan­ gelo auf das lange Zeit nicht mehr praktizierte antike Thema des Ricetto zu­ rück. Ricetto bezeichnet eine in eine Nische zurückgesetzte Säule. Mithilfe einer Vielzahl von Skizzen und Zeichnungen machte Michelangelo den Ent­ wurf des Vestibüls zu einem souveränen, variantenreichen und nicht minder intellektuellen Spiel über das Ricetto-Motiv. Das war aber nur möglich durch die Entwicklung einer Zeichentechnik, die darauf ausgerichtet war, »ein Höchstmaß an normativer Richtigkeit und Exaktheit zu erreichen.« Wie Goi Mauer in seinem Buch Michelangelo - Die Architektur::eichnungen. Entwurfsprozeß und Planungspraxis hervorhebt, war die Entfaltung freier künstlerischer Fantasie nicht das Ziel sondern allein das Mittel, Ziel war das

6

Ebd. , Analytik des Schönen, §. 1 4 .

7

Ebd.

8

Ebd.

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»obj ektivierbare Ergebnis und nicht der schöpferisch spontane Gedanken­ gang der Studie« 9 • Wobei unter dem objektivierbaren Ergebnis die klar kalkulietie und daher obj ektive sinnliche AusdrucksHihigkeit der Architektur verstanden wurde. Voraussetzung dafür war die Fokussierung und Diszi­ plinierung und damit aber auch Steigerung der Kreativität des Architekten durch dessen Unterordnung unter das neue Verfahren der maßstäblichen Notation. Es gehört zur Dialektik der Moderne, dass der Architekt als Autor gerade in j enem historischen Moment auftritt, als sich neue Standards für die Nota­ tion von architektonischen Ideen durchsetzten. Du.rch Unterordnung unter sie wandelte sich der Architekt vom Erbauer eines Gebäudes, der auf der Bau­ stelle autographisch Entscheidungen triftl, Anweisungen an die Arbeiter gibt und selbst Hand anlegt, zum Autor eines allographischen Architekturent­ wurfs, der an einem anderen Ort als der Baustelle, am Zeichentisch, entsteht. Der Architekt als Autor tritt hervor, indem er hinter die standardisietien Verfahren der Notation zu.rü.cktritt und sich deren Methoden im Bewusstsein der daraus sich ergebenden Freiheitsgrade für den architektonischen Aus­ druck unterordnet. Das Entwerfen in unterschiedlichen Maßstäben und abstrakten Linienzeichnungen und die daraus resultierende Übersichtlichkeit verändern das Denken der Architektur. Dabei können die lineamenta, also die Linienzeichnungen, Unterschiedliches konnotieren wie zum Beispiel äu­ ßere Formenbegrenzungen, Schnittflächen, selbst unterschiedliche Materia­ lien, je nach Maßstab und Kodierung. Die Aufnahme der neuen Technik des maßstäblichen Zeichnens - und in Folge unmittelbar auch der perspektivi­ schen Zeichnung - in den Gehalt der Architektur war Voraussetzung für die Freisetzung von neuen Potenzialen künstlerischen wie intellektuellen Aus­ drucks. Erst die in der Renaissance sich herausbildenden neuen Darstel­ lungsmethoden und die daraus resultierenden standardisierten Entwurfs­ verfahren schufen den Architekten als Künstler und Intellektuellen und in der Kombination von beidem den Architekten als Autor mit individueller Handschrift.

9

Mauer, Golo : Michelangelo - Die Architekturzeichnungen. Entwurfsprozeß und Planungspraxis, Regensburg 2004, S. 4 1 .

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D E R » T O D D E S A U T O R S « U N D DAS N AC H W I R K E N D E R POSTM O D E RN E

Das Verschwinden des Autors ist keine Idee, die im digitalen Zeitalter erst­ mals aufgekommen ist. Seine Vorgeschichte besitzt es in der Postmoderne. Das Verstörende an den Debatten heute ist, dass im Verschwinden des Au­ tors das Postulat des >>Tods des Autors« , wie es von Roland Barthes als »le mort de l' auteur« 10 für die Postmoderne postuliert worden war, nachzuwir­ ken scheint. Mit .Jean-Frant;:ois Lyotards ( 1 924-98) »Ende der großen Er­ zählungen« 1 1 gehörte spätestens seit Ende der 1 970er Jahre auch der Autor, zusammen mit dem Subjekt als Einheit von Wissen und Erkenntnis, zu j enen kulturellen Institutionen, deren Relativierung ein zentrales Anliegen der Postmoderne war. Das Unbehagen heute richtet sich gegen den Determinis­ mus, der hier am Werk zu sein scheint, dass nämlich das, was in der Postmoderne mehr kritische Provokation und intellektuelles Spiel war, unter den Bedingungen der digitalen Entwurfsverfahren fait compli und erschre­ ckende Realität zu werden droht. Mit der Etablierung der strukturalistischen Semiotik, der Wissenschaft von den Zeichen, als Grundlagentheorie für die Geisteswissenschatten wurde das Verschwinden des Autors in den 1 960er Jahren zu einem zentralen Thema. In ihrer Funktion als wissenschaftliche Analysemethode aller gesellschaftlichen Tatsachen und Prozesse löste die strukturale Semiotik den Marxismus ab. Auf der Grundlage des strukturalistischen und später poststrukturalistischen Denkens war es die Postmoderne dann mit ihrer umgekehrten Endzeitstimmung oder ihrem »verkehrten Chiliasmus« 12 , die mit dem Ende der Geschichte, dem Ende der Metaphysik und überhaupt mit dem Ende der großen Erzählungen eben auch das Ende des Autors und der Autorenschaft postuliert hatte. In der Postmoderne werden die überlieferten, herkömmlichen »Untergangs- und Erlösungsvisionen [ . . . ] immer mehr von

1 0 Barthes, Roland: La Mort de L 'Auteur, in: Ders . : Essais Critiques IV, Le Bruissement de Ia Langue, Paris 1 984, S. 6 1 -67. I I Lyotard, .lean-Franyois: Das postmoderne Wissen, Wien 1 993, S . 1 3 . 1 2 .lameson, Fredric: Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturel­ len Wandels, Reinbek bei Harnburg 1 986, S. 45-1 02, hier S. 45.

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einzelnen Endzeitgetlihlen abgelöst« , 1 3 so Fredric .Jameson ( * 1 934). Die dramatischen Veränderungen der Postmoderne zeigten sich nach .Jameson besonders deutlich in der Architektur, da es die Architektur als zentrale kulturelle Instanz in besonderer Weise ist, die im Schnittpunkt der großen Erzählungen steht. Die Obsession der Postmoderne mit dem Ende der Dinge lässt sich von dem von .Jacques Derrida ( 1 93 0-2004) geprägten Begriff der Supplementa­ rität der Zeichen her erklären. Alternativ spricht man auch vom tloating signitier oder fluktuierenden Signifikanten. Tatsache ist aber auch, dass das damit charakterisierte Grundphänomen schon zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts von Charles S . Peirce ( 1 83 9- 1 9 1 4) als Prozess der Semiose, d. h. als Zeichenprozess thematisiert worden war. Die Besonderheit der Peirce' schen Semiotik besteht darin, dass sie weniger in einem Modell des Zeichenver­ stehens, wie es zum Beispiel der Semiotik von Ferdinand de Saussure ( 1 8 5 71 9 1 3) oder Umberto Eco ( 1 932-20 1 6) zugrunde liegt, als auf den Prozessen der Formation und Transformation der Zeichenbedeutungen grü.ndet. Nach Peirce sind Zeichenbedeutungen in der Regel nur temporär und lokal stabil. Sie existieren nur als Teil einer Kette von Assoziationen und zeichnen sich dadurch aus, dass j ede dominante Bedeutung durch andere Dominanten ersetzt werden kann. Es kann so zu keinem Stillstand und zu keiner abschlie­ ßenden Fixierung von Bedeutungsinhalten kommen. Aufgrund der Eigen­ schaft von Zeichen, dass sie immer in einer Art Kettenreaktion von anderen Zeichenbedeutungen ersetzt werden können, spricht man vom tloating signi­ fier oder fluktuierenden Signifikanten oder wie im Falle Derridas eben von der Supplementarität der Zeichen. Die Postmoderne ist also beherrscht oder gar besessen von der Idee von Zeichen ohne eindeutige und damit mit wechselnde Bezugnahme. Wo die Zeichen bindungslos sind und ständig Bezüge zu anderen Dingen herstellen können, werden sie unscharf, die Inhalte lösen sich auf. Die Aussagen wer­ den vielbezüglich. Klarheit, Eindeutigkeit und Unmissverständlichkeit, wie gemeinhin als Ideal der Moderne angenommen, sind so ftir die Postmoderne nichts Erstrebenswertes mehr. Am Ende steht die Desintegration der Disziplinen. Die Stringenz der großen Erzählungen, wie die vom Fortschritt der Gesellschaft, von der Emanzipation des Menschen, von der wissen­ schaftlichen Erkenntnis etc. lösen sich in viele einzelne Erzählungen auf. Das

13 Ebd.

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ist mit dem Ende der großen Erzählungen gemeint. Sie lassen sich j etzt nur noch perspektivisch erzählen, mit j e eigenem Schwerpunkt und wechselnder Narrative. Perspektivisch heißt, dass alles nur noch aus wechselnden Rela­ tionen besteht, hierarchielos, gleichzeitig und nebeneinander existiert. Einzelne Bedeutungen existieren nur noch als flüchtige Spur und Index eines Denkprozesses. In diesem Kontext steht auch der Tod des Autors. Mit der umfassenden Semiotisierung der Lebenswelt seit den 1 960er Jahren, wo j ede Geschichte sich in viele Geschichten autlöst, wo j eder Inhalt von anderen, supplementä­ ren Inhalten unterwandert wird, tritt die Autorität des Autors hinter dem Pluralismus der Bedeutungen und Stile zurück. Die Rede vom Tod des Au­ tors heißt aber nicht, dass es keinen Autor mehr geben könnte oder sollte. Das Missverständnis besteht in der Verabsolutierung des Postulats des Tods des Autors. Gemeint war immer nur, dass der Autor mit seiner auetorilas als Setzer von verbindlichen Inhalten an Bedeutung verliert, insofern er einer­ seits als Subjekt und Autor hinter die Zeichenprozesse zurücktritt, dass ihm damit aber andererseits die Rolle desj enigen zufällt, der die Bedingungen schafft tlir die Transtormationsprozesse, der die Bedeutung weniger tixiert, wie es klassischerweise als die Aufgabe des Autors angesehen wird, als viel­ mehr den Prozess der Transtorrnationen orchestriert. Es zeichnet sich hier nach dem großen Einschnitt in der Renaissance ein abermaliger Funk­ tionswandel der Autorenschan ab. Mit Postmoderne und Dekonstruktivismus ist der historische Hinter­ grund der Rede vom Verschwinden des Autors und von dessen Nachleben heute im Kontext der digitalen Entwurfsverfahren aufgezeigt. Dass in den heutigen Debatten noch die Konzepte der Postmoderne und des Dekon­ struktivismus nachwirken, liegt auch daran, dass in den 1 990er Jahren die ersten Versuche zur theoretischen Fassung des neuen digitalen Mediums von den Protagonisten des Dekonstruktivismus unternommen wurden. Es waren die Dekonstruktivisten vor allem um Peter Eisenman, die früh erkannten, dass sich im virtuellen, digitalen Raum formale Möglichkeitspotenziale eröffneten, die ihren theoretisch-konzeptuellen Interessen insofern entgegen­ kamen, als sich im virtuellen Raum gewisse Probleme der Dekonstruktion, die sich ihm in der analogen Welt entgegenstellten, überwunden werden konnten. Gleichzeitig erkannte man, dass mit den theoretischen Grundlagen der Dekonstruktion das neue digitale Medium beschrieben und begrifflich fassbar gemacht werden konnte.

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Die Dekonstruktivisten erkannten, dass der virtuelle Raum ein Raum der unendlichen Semiose ist, ein idealer Raum von Zeichen ohne materielle Bin­ dung, gerade auch in Bezug auf die architektonischen Zeichen. Im virtuellen Raum haben die architektonischen Elemente wie Wand, Stütze, Dach, Tür­ griff etc. keine Materialität. Sie sind die Sache selbst nicht, sondern nur Zei­ chen ohne materielle Substanz und kommen den Zeichen in der Sprache sehr nahe. So haben die sprachlichen Zeichen nur eine sehr lose Bindung, wenn überhaupt, zum Zeichenträger in seiner Materialität. In der geschriebenen oder gesprochenen Sprache spielt der Zeichenträger, also die materielle Sub­ stanz des Zeichens, fUr die Kommunikation in der Regel eine untergeordnete Rolle. 14 Man kann eben ein Wort in roter oder schwarzer Tusche schreiben, mit Bleistift von Hand oder am Computer. Das hat auf die Bedeutung der Zeichen keinen oder nur geringen Einfluss. Dasselbe gilt auch für die architektonischen Zeichen im virtuellen Raum, die im Gegensatz zum analo­ gen Raum nicht an Material und Ort gebunden sind. Unbelastet durch Materialbindungen sind sie frei kombinierbar, sie können sich auch gegen­ seitig leicht ersetzen wie die tloating signifiers der strukturalistischen Semio­ tik und die supplementären Zeichen des Dekonstruktivismus. Dazu kommt, dass im virtuellen Raum eine weitere Beschränkung aufgehoben ist: Das ist die Schwerkratt Der virtuelle Raum ist also ein Raum von Formen ohne materielle Bindung und ohne Bindung an die Schwerkraft. Damit schien in den Worten von Eisenman die »Metaphysik der Architektur« 1 5 überwunden. Es schien möglich, dass sich nun endlich die Architektur widerstands- und bedingungslos der Dekonstruktion öffnete 16 - wenn auch nur unter den Bedingungen der Virtualität.

14 Die Materialität der Zeichen, der geschriebenen wie auch gesprochenen oder gesungenen, spielt dann im Design und in der Kunst eine erheblich bedeutendere Rolle. Geht es gerade hier darum, über die Materialität neue Bedeutungsebenen zu erschließen, wie das im Gesang evident ist oder im Gebiet der Typographie. 15 Eisenman, Peter: Die Architektur und das Problem der rhetorischen Figur, in: Ders . : Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, Schwarz, Ullrich (Hg.), Wien 1 995, S. 99- 1 08, hier S . 99. 16 Die Probleme bei der Rückübertragung der virtuellen, deswegen materielosen architektonischen Formen bzw. Zeichen in den realen Raum blieben anfänglich ausgeblendet. Dass auch die Überwindung der Metaphysik der Architektur virtu-

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Z U R G E N EA L O G I E D E R A RC H I T E KT O N I S C H E N N OTAT I O N S S YS T E M E

Die verbindliche Notation in maßstäblichen Zeichnungen brachte es mit sich, dass sich das Entwerfen in verschiedenen Entwurfsschritten in präzis festgelegten Maßstabsbereichen vollzog, idealerweise vom städtebaulichen Maßstab I : 2000 über die Gebäudemaßstäbe I : 5 00, I : I 00, 1 : 50 bis zu den Detailmaßstäben 1 : I 0 oder I : 5 . Jeder Maßstabsbereich hat dabei den Status eines eigenen Modellbereichs für das Denken der Architektur, insofern jeder Maßstabsbereich die Möglichkeit zur Darstellung bestimmter Inhalte erötf. net, während anderes nicht darstellbar ist und damit auch nicht gedanklich fassbar ist. So können zum Beispiel in einem städtebaulichen Plan keine Aussagen über den Autbau von Wänden, Materialien oder Details gemacht werden, dafür eignet sich dieser Maßstab nicht. Dazu bedarf es zum Beispiel der Maßstäbe 1 :50 oder 1 : 1 0 , in denen aber der größere städtebauliche Zusammenhang aus dem Auge gerät, er ist nicht Thema, weil er nicht darge­ stellt werden und so nicht Teil der Reflexion über die Architektur sein kann. Für die Entwicklung der Architektur ist von Bedeutung, dass erst die Formalisierung des Entwurfsprozesses mithilfe von maßstäblichen Zeich­ nungen es ermöglichte, dass das Entwerfen überhaupt zu einer die Architek­ tur im größeren kulturellen und historischen Rahmen reflektierenden Tätigkeit wurde. Notwendig war dazu, »die Risse in ein einfach nachzu­ vollziehendes Verhältnis zum Bau« 17 zu stellen, d. h. die ursprünglich prakti­ zierte Darstellungstorm, die diagrammatisch und damit indexikalisch war, ins Ikonische und damit Bildhafte zu überführen. Der Begriff »nach­ zuvollziehendes Verhältnis« bedeutet soviel wie Darstellung in anschauli­ cher, bildhafter Weise. Mit der bildhaften, zeichnerischen Darstellung ent­ stand die Möglichkeit, Varianten durchzuspielen, zu verwerfen und neu zu

eil blieb, dass bei der Rückübertragung in die gebaute Realität die architektoni­ schen Zeichen wieder an die spezifischen Bedingungen des Materials und Ortes gebunden waren, wurde ausgeblendet, führte aber letztendlich zum S cheitern des architektonischen Dekonstruktivismus . Was erst nach einem Triumph aussah, führte um so schneller zum Abklingen der Euphorie für die Architektur der virtuel­ len Welten und den Dekonstruktivismus . 1 7 Jung, Wo1fgang: Über szenographisches Entwerfen. Raffael und die Villa Madama, Braunschweig/Wiesbaden 1 997, S. 29.

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konzipieren und dabei Bezug zu nehmen auf historische oder aktuelle Vor­ bilder, die selbst nur mittels präziser, maßstäblicher Zeichnungen gegenwär­ tig sind. Albertis EintUhrung der lineamenta, der von j eglicher Materialität abs­ trahierenden, maßstäblichen Zeichnungen, war aber kein singuläres, histori­ sches Ereignis. Es war vielmehr Teil einer Entwicklungslinie, die sich als genealogische Reihe architektonischer Notationssysteme darstellen lässt. Denn Notationssysteme sind im Sinne Friedrich Kittlers keineswegs nur zeichnerische oder alphabetische Aufschreibesysteme 1 8 , die lediglich dem Speichern oder der Kommunikation von Daten dienten. Zu den Notations­ systemen der Architektur gehören alle Verfahren modellhatter Vergegen­ wärtigung architektonischer Ideen, nicht nur die lineamenta der Renaissance, sondern auch die diagrammatischen Darstellungsformen der Triangulation der Baumeister oder die Schablonen der Steinmetze des Mittelalters. Deren vordefinierte Krümmungsradien setzten bestimmte Standards für die Bear­ beitung des Steins, was auch das Möglichkeitspotential tUr die tormale Gestalt der Architektur festlegte. Denn Notationssysteme sind nicht neutral gegenüber dem Wissen der Architektur. Sie definieren Modellbereiche, innerhalb deren formalen Codes das Denken der Architektur überhaupt erst möglich ist. Sie strukturieren das Wissen der Architektur vor und präfi­ gurieren deren Gestalt. Triangulation und Schablone wurden mit Beginn der Renaissance nur einerseits von A lbertis lineamenta abgelöst, andererseits vollzog sich parallel dazu die Entwicklung von Verfahren der perspektivischen Darstellung. Die Perspektive öffnete den Architekturprozess der Subjektivität der menschli­ chen Wahrnehmungsweisen, indem sie die Objektivität der lineamenta erweitetie um den Aspekt des je subj ektiven Anteils an der Wahrnehmung. Das lässt sich am szenographischen Entwerfen bei Raffaello Sanzio da Urbino ( 1 48 3 - 1 520) zeigen. Nach Wolfgang Jung praktizierte Raftael eine neue Methode des Entwerfens, indem er versuchte, den Raum einerseits nach den obj ektiven Regeln der Orthogonalproj ektion zu konstruieren, zugleich aber auch ihn »nach der subj ektiven Wahrnehmung des Betrachters zu for­ men.« 19 Durch die Kombination der auf Objektivität zielenden Orthogonal-

1 8 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1 800/1 900, München 2003 . 1 9 W. Jung: Szenographisches Entwerfen, S. I.

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proj ektion mit der auf die subj ektive Wahrnehmung fokussierenden Perspek­ tive entstand eine neue Konzeption von Innenräumen. Die Verfahren dazu wurden dem malerischen Verfahren der prospettiva pingendi10 entlehnt und schrittweise in der Ergänzung durch die Grundrissproj ektion in eine prospet­ tiva aed{ficanti überführt, mit den für die Architektur charakteristischen Besonderheiten. Die prospettiva aedificanti fand eine ihrer eindrückliebsten Ausformu­ lierung in den Gartenanlagen von Andre Le Nötre, besonders im Garten von Vaux-le-Vicomte ( 1 65 3 - 6 1 ). Le Nötre kombinierte die O�j ektivität der geometrischen Grundrisstigur, die auf der Orthogonalproj ektion gründete, mit der subj ektiven Wahrnehmung, die auf den Gesetzen des räumlich-per­ spektivischen Sehens basiert. Die konzeptuelle Beschränkung der Architek­ tur auf die zwei Verfahren und gleichzeitig die Unterwerfung des Architek­ ten unter deren Regeln ermöglichte Le Nötre umgekehrt, die Ausdrucksta­ higkeit der Architektur weit über das bisher Bekannte zu erweitern. Ständig werden beim Spaziergang durch den Garten die vermeintlich festen Ord­ nungen in Frage gestellt. So glaubt man in Vaux le Vicomte schnell, die Regeln, nach denen der Garten entworfen ist, zu erkennen. Aus der Ferne scheinen die Dinge in einer präzisen Ordnung und damit in einer bestimmten Kausalität zueinander zu stehen. Bei Annäherung erweist sich das jedoch als Täuschung, aufgrund des Effekts der perspektivischen Verkürzung - man spricht auch von der perspective ralentie oder von der erzwungenen, anamorphotischen Perspektive. Was anfanglieh von einem bestimmten Standpunkt aus als nah erscheint und in einem räumlichen Kontinuum zu stehen scheint, rückt, wenn man darauf zuschreitet, aufgrund der räumlichen und perspektivischen Disposition der Elemente auseinander und offenbart eine räumliche Diskontinuität. Was ein Bild war, zerfallt in einzelne, distan­ zierte Elemente, wobei sich eine neue Kontinuität zwischen den neu in die Sichtbarkeit tretenden Elementen ergibt. Ständig wird so die Ordnung der Dinge aufgehoben und rekonfiguriert, um nur wenig später erneut aufgeho­ ben zu werden. Es ist die Verbindung zweier Notationssysteme, der euklidi­ schen Geometrie im Grundriss und der Perspektive im Aufriss, die ein verblüffendes Spiel von Täuschung und Enttäuschung initiieren. Le Nötre inszeniert dabei weniger ein optisches Spiel als ein Spiel mit der Vernunft in

20 Siehe hierzu ebd. , S. 2 3 .

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den Sinnen, wovon die stark emotionalisierende Wirkung ausgeht, der man sich schwer entziehen kann. ln die Genealogie der Notationssysteme gehören aber auch die mit der Maschinentechnologie und den neuen Materialien wie Stahl und Stahlbeton sich etablierenden mathematischen Modelle für die statische Berechnung für Fachwerk- oder Dreigelenkträger, Stabtragwerke oder räumliche Trags­ trukturen. So beherrschten in einer gewissen Phase der Entwicklung des ln­ genieursbaus die Dreigelenkträger die Architektur. Der Grund daflir ist, dass man sie berechnen konnte, dass Tragwerke möglich wurden, auf die man sich verlassen konnte. Es waren also die Notationsverfahren, das heißt in diesem Beispiel die konkreten Berechnungsmöglichkeiten und die daraus resul­ tierenden formalen Möglichkeiten, die die Gestalt der Architektur prägten. Beispiele dafür sind die Galeries des Machirres der Pariser Weltausstellungen 1 878 und 1 889 und die vielen Brückenbauwerke und Bahnhofsüberdachun­ gen des 1 9 . Jahrhunderts. Die spezifischen Berechnungs- und daher Notati­ onsverfahren ermöglichten neue Gebäudetypologien und so die gestalte­ rische Neuausrichtung der Architektur. Mit dem Computer wurde dann seit Beginn der 1 990er Jahre ein neues Notationsverfahren in die Architektur eingeführt. Wie die Triangulation, die Schablonen der Steinmetze, die maßstäblichen Zeichnungen, die Perspektive und die statischen Berechnungsmodelle ist auch das computational design ein Notationssystem, das mittels algorithmischer Codes die Architektur mit seinem spezifischen Wissen informiert. Ein untrügliches Merkmal dafür sind die gekrümmten, kugelfcirmigen und organisch anmutenden Formen, in de­ nen sich das angewandte Notationssystem bzw. die benutzte Software abbildeten. Beispiele dafür sind Zaha Hadids Opernhaus in Quangzhou oder das Heydar Aliyev Center in Azerbeij an, ebenso wie Jürgen Meyer H.s Grenzübergang in Sarpi in Georgien. Es verbinden sich j eweils zwei Notationssysteme, ein auf dem Parametrizismus gründendes mathematisches Rechenmodell und eine neue, digital informierte Darstellungsform. Ähnlich wie die Kombination von Orthogonalproj ektion und Perspektive bei Raffael, Michelangelo oder später bei Le Nötre führt dies zu neuen Möglichkeiten des architektonischen Ausdrucks.

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Das Unbehagen, das sich heute an die digitalen Entwurfsverfahren knüpft, resultiert daraus, dass man nur die Unterordnung des Architekten unter das digitale Notationssystem sieht, aber noch nicht hinreichend erfasst hat, wel­ ches die neuen Freiheitsgrade sind, die aus der Kombination der neuen ob­ j ektiven Darstellungs- und subj ektiven Ausdrucksmöglichkeiten resultieren. Das Missverständnis besteht j edoch auch darin, dass gerade nicht die Ar­ chitekten als Autoren es sind, sondern die Notationssysteme, die die Grund­ lage für die Veränderungen in der Architektur legen. Es ist eben nicht so, dass der Architekt aufgrund der » abnormen Kraft und der Beziehung auf das Allgemeine« 21 der Architektur seinen individuellen Stil aufzwingt und damit Geschichte schreibt. Die Größe der herausragenden Persönlichkeiten der Architektur besteht im Gegenteil darin, dass sie sich den neuesten No­ tationssystemen unterordnen und so erst die Voraussetzung schaffen, deren architektonische Potenziale aufzuspüren und visionär für die Architektur fruchtbar zu machen. Die großen Persönlichkeiten sind zurecht das große Thema der Kunst­ und Architekturgeschichte, sie sind es aber in einer anderen als der üblichen Lesart. Die »piü eccellenti pittori, scultori, e architettori« 22 oder die »großen Männer« 23 bei Giorgio Vasari oder Jacob Burckhardt zeichnen sich dadurch aus, wie Burckhardt formuliert, dass es ihnen gelingt, » den innern Gehalt der Zeit und Welt ideal zur Anschauung zu bringen« 24 • Nach Burckhardt besteht die Größe in der »Persönlichkeit« 25 , darin, dass der Genius der großen Män­ ner das » Weltganze von all seinen Seiten, den Menschen nota bene mit inbegriffen,« 2 6 zur Darstellung bringen kann. Bei Burckhardt bleibt aber of­ fen, was da genau geschieht und welchen Prinzipien dies folgt. Zwischen den Zeilen gibt Burckhardt j edoch zu erkennen, was die Voraussetzungen dazu

2 1 Burckhardt, .Jacob : Die historische Grösse, in: Ders. , Historische Grösse, Weinheim 1 994, S . 1 5-67, hier S . 2 5 . 22 Vasari, Giorgio : Le Vite de ' piu eccellenti pittori, scu1tori, e architettori da Cimabue insino a' tempi nostri, 1 55 0 . 23 .1. Burckhardt: Historische Grösse, S . 1 5 . 24 Ebd., S . 2 2 . 25 Ebd. , S . 6 3 . 26 Ebd., S . 25.

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sind. So schreibt er mit Bezug auf das, was man die kopernikanische Wende in der Kulturgeschichte nennt, dass das Denken erst frei geworden sei, seit »Kopernikus die Erde aus dem Zentrum der Welt in eine untergeordnete [Hervorhebung v. J.G.) Bahn eines einzelnen Sonnensystems verwiesen« 2 7 hat. Voraussetzung für Erkenntnis ist, dass sich das Denken einem Modellbe­ reich oder einer Matrix unterordnet, das die Strukturen bereitstellt, in denen sich das Denken im eigentlichen Sinne erst vollziehen kann. Daran knüpft Burckhardt indirekt an, wenn er zwei Architekten zu den » Grossen« der Geschichte rechnet, Erwin von Steinbach und Michelangelo . Ohne dass dies bei Burckhardt zum Thema wird, zeigen die Beispiele, wie im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance einerseits das architektonische Notationssystem, andererseits auch die Position und Funktion des Architek­ ten relativ zum Architekturprozess sich änderten. Das Straßburger Münster sei unter dem großen Einfluss von Steinbachs, aber gerade nicht nach Plänen von ihm, zur » allerschönsten, durchsichtig gewordenen Gotik« 28 geworden, während Michelangelo mit der Kuppel von St. Peter in Rom den » schönsten Außenumriß und den herrlichsten Innenraum auf Erden« 2 9 geschaffen habe, wovon Skizzen und maßstäbliche Zeichnungen überliefeti sind. Anschaulich wird hier, wie der Architekt, der im Mittelalter ohne maßstäbliche Zeichnun­ gen auf der Baustelle den Bauprozess leitete, sich in der Renaissance zum entwerfenden Architekten wandelte, der am Zeichentisch zum Souverän des Entwurfsprozesse wird, dem der Bauprozess nachgeordnet ist. Damit ist die Tendenz vorgegeben, nach der in den folgenden Jahrhunderte die zuneh­ mende Tendenz zur Konzeptualisierung der Architektur dazu führt, dass die Position des Architekten stetig sich in Richtung des Beginns des Architekturprozesses verschiebt, ja dass der Architekturprozess selbst zum Anfang hin seine Weiterung findet. Die stetige Konzeptualisierung der Architektur und damit die Verände­ rungen der Position des Architekten relativ zum Architekturprozess lassen sich über Gian Lorenzo Bernini ( 1 598- 1 680), Claude-Nicolas Ledoux ( 1 7361 806), Kari-Friedrich Schinkel ( 1 78 1 - 1 84 1 ) , Mies van der Rohe ( 1 8861 969), Le Corbusier ( 1 887- 1 965) bis in unsere Zeit mit Peter Eisenman und den Protagonisten des parametrischen Entwerfens beobachten. Mit den

27 Ebd., S. 25. 28 Ebd. , S . 3 7 . 29 Ebd.

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genannten Architekten verbindet sich j eweils die Aufnahme einer Modifika­ tion des bestehenden architektonischen Notationssystems, was j eweils zur Transformation des Denkens der Architektur und zur Neupositionierung des Architekten relativ zum Prozess der Architektur führte. Zu nennen sind hier die Gegenreformation und die maniera moderna des Barock, das Zeitalter der Vernunft und der Klassizismus und das Zeitalter der Maschine und der Konstruktivismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Ähnlich einschneidend in die Praxis der Architektur wie Albertis linea­ menta waren letztendlich nur die Verfahren des computational designs und des parametrischen Entwerfens seit 1 990, wie auch die noch analogen Vor­ stufen des diagrammatischen Entwerfens, für das Eisenmans Hausserie von House I ( 1 967) bis House I I ( 1 9 80) beispielhaft steht. Für die hier aufge­ worfene Fragestellung nach dem Verschwinden des Architekten als Autor ist von Bedeutung, dass der Entwurfsprozess bei Eisenman nicht mehr wie bei Michelangelo in skizzen- und bildhaften Vorstudien in künstlerisch-in­ tellektueller Auseinandersetzung mit der Tradition stattfindet, sondern in ei­ nem diagrammatischen Prozess, dem die Prinzipien der generativen Grammatik von Noam Chomsky zugrunde liegen. Das architektonische Ob­ j ekt steht in langen Serien von Diagrammen, in denen die j eweilige resultie­ rende Figur repetitiv einem einmal definierten Transformationsverfahren unterzogen wird. Die Diagrammatizität zeigt sich darin, dass der Entwurf über lange Stre­ cken ohne Maßstab ist. Damit scheint Eisenman im Wissen um die Iinea­ menta gerade einen Schritt hinter Alberti zurückzugehen auf die dia­ grammatische Grundkonzeption der Architektur, wie sie bis ins Mittelalter praktiziert wurde. Entscheidend ist, dass der Architekt sich hinter die dia­ grammatische Regelhaftigkeit der Entwurfsverfahren zurückzieht, um umso mehr als derj enige wieder hervorzutreten, der über die Festlegung der Pa­ rameter den Prozess steuert. Der Architekt definiert sich damit, ähnlich den Verfahren der Triangulation, weniger als Autor des architektonischen Ob­ j ekts denn als Autor des parametrisch determinierten Formfindungsprozes­ ses. Mit dem parametrischen Notationssystem verändert sich damit erneut, nach der Rekonzeptualisierung der Baukunst in der Renaissance und im Zeitalter der Moderne, die Konzeption des Künstlerischen und Intellektu­ ellen in der Architektur und damit auch die Konzeption des Architekten als Autor und »autonomer Schöpfer von Entwürfen« .

Design Paradigm - Konzept und Zeitlichkeit in der modernen Architektur

ANGELIKA S CHNEL L

VO R B E M E R K U N G

Die derzeit gestiegene Aufmerksamkeit hinsichtlich des Entwurfs und seiner Methoden, ganz besonders des so genannten Design-based Research, der Erforschung des epistemologischen Gehalts des architektonischen Entwer­ fens, 1 scheint die Folge einer augenscheinlich widersprüchlichen Entwick-

U.a. seien hier aus jüngerer Zeit genannt: Ammon, S abine/Froschauer, Eva Maria (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfs­ forschung der Architektur, München 20 1 3 ; Gänshirt, Christian: Werkzeuge für Ideen, Basel/Berlin/Boston 2007; Cross, Nigel : Designerly Ways of Knowing, Basel/Berlin/Boston 2007; Allen, Stan: Practice. Architecture, Technique

+

Representation, New York 2008; Sonne, Wolfgang: Die Medien der Architektur, Berlin/München 2 0 1 1 ; Fraser, Murray, Design Research in Architecture, Surrey 20 1 3 ; P1owright, Philip : Revealing Architectural Design. Methods, Frameworks and Too1s, London 2 0 1 4 ; Terstiege, Gerrit (Hg.): The Making of Design. Vom Modell zum fertigen Produkt, Basel/Berlin/Boston 2009; Gethmann, Daniel/ Hauser, Susanne (Hg.): Kulturtechnik Entwerfen, Bielefeld 2009; Mareis, Clau­ dia/.Joost, Gesche/Kimpel, Kora (Hg.): Entwerfen, Wissen, Produzieren, Biele­ fe1d 20 1 0 ; Buchert, Margitta (Hg.): Reflexives Entwerfen. Entwerfen und For­ schen in der Architektur, Berlin 2 0 1 4 . Zudem gibt es an der TU De1ft ein

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Jung. Auf der einen Seite ist im 20. und 2 1 . Jahrhundert eine enorme Erweite­ rung und Ausdifferenzierung der architektonischen Entwurfsmethoden und -mittel zu beobachten, so dass kaum noch von gemeinsamen Grundlagen mehr gesprochen werden kann, ganz gleich, ob diese Fragen die Proportion, die Form, das Material oder die Konstruktion betreffen. Zunehmend scheint j eder Architekt, j ede Architektin eine eigene Handschrift oder Technik des Entwerfens zu haben. Auf der anderen Seite machen maschinelle Prozesse, darunter besonders die aktuellen digitalen Möglichkeiten, die individuellen Merkmale anscheinend zunichte. Eine solche Betrachtung deutet den architektonischen Entwurf aber stets nur vom Ergebnis her, der Architektur und ihrer Geschichte. Wechselt man die Perspektive und schaut auf den Vorgang des Entwerfens selbst, dann erscheinen dieselben Widersprüche als Teil einer gemeinsamen Geschichte der Entwurfsmethoden seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Es tallt aut� dass in der Architekturmoderne der Entwurfsprozess selbstreferentiell wird, da zunehmend nicht nur Strukturen und Formen entworfen werden, sondern auch die Prozesse, die diese hervorbringen sollen. Maschinelle und digitale Etwurfsprozesse sind demzufolge keine gegenläufige Praxis zu den künstlerischen, sondern gehören derselben facettenreichen Entwicklung an, die wir den performative turn des architektonischen Entwerfens nennen, um die Aufmerksamkeit auf dessen zeitliche Strukturierung seiner Hand­ lungsereignisse zu lenken. 2 Seit 20 1 3 haben wir deshalb ein Forschungspro­ j ekt Design Paradigm 3 etabliert, das die Aufmerksamkeit weniger auf die äußeren Erscheinungsformen des Entwerfens und auch nicht auf dessen allgemeine Beschreibung als rationalisierbares Handlungsmodell lenken will. Wir gehen davon aus, dass die Praxis des architektonischen Entwerfens als performativer Akt bisher wenig erforscht ist, weil er mit tradierten historischen Methoden der Form- und Stilanalyse nicht ausreichend erfasst

internationales Forschungsproj ect The Tacit Dimension, das sich mit dem implizi­ ten Wissen des architektonischen Entwerfens beschäftigt. 2

Zum »performative turn« und anderen kulturwissenschaftlichen Neuorientie­ rungen vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Tums. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Harnburg 2006, bes. S. I 04- 1 4 3 .

3

Design Paradigm wurde 20 1 3 von Angelika S chnell, Eva Sommeregger und Waltraud lndrist gestartet. http ://www.designparadigm.net/portfolio/building­ the-design/

D E S I G N PARAD I G M

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werden kann. Wir forschen deshalb nicht nur über den konzeptuellen Architekturentwurf und seine Methoden, sondern auch mit ihm. Das heißt, die untersuchten ästhetischen Praktiken können (oder sollen) selbst dazu dienen, sowohl Aussagen über den Status des Entwurfs selbst als auch über seine möglichen Anwendungen in einem Forschungskontext zu tretlen. Die Methode, mit der wir solche Untersuchungen anstellen wollen, nennen wir entsprechend die performative Methode. Da sich das Proj ekt noch im Stadium der Entwicklung befindet, kann hier nur ein thesenhafter Zwischenstand wiedergegeben werden, der durch einige wenige Einzelprojekte belegt wird. Der vorliegende Text besteht deshalb aus zwei Teilen, einer thesenhaften Einschätzung der Geschichte des architekto­ nischen Entwerfens seit etwa Beginn des 20. Jahrhunderts und einer Erläu­ terung der performativen Methode anhand von Beispielen.

T E I L 1 : D I E G E S C H I C H T E D E R E N TW U R F S M E T H O D E N S E I T B E G I N N D E S 2 0 . J A H R H U N D E RTS

Zunächst muss festgehalten werden, dass die Praxis des architektonischen Entwerfens eine eigenständige Historiographie hat, die mit der lange Zeit üblichen, linear erzählten Stil- und Formgeschichte der Architektur zwar zusammenhängt, gleichwohl ihr nicht einfach untergeordnet werden kann. Seit der Renaissance scheint die kontrovers diskutierte Hauptfrage zu sein, ob das disegno das entweder a priori oder a posteriori proj izierende Abbil­ den einer mentalen Vorstellung eines Gebäudes oder Objektes meint. 4 In bei­ den Fällen wird das Entwerfen als zeitlose Tätigkeit verstanden, mit deren Hilfe rationale Welterkenntnis und Weltkontrolle möglich ist. Das gilt bis zu den Publikationen aus den 1 960er und 1 970er Jahren von Horst Ritte!, .lohn Chris .Iones, Christopher Alexander, die sogar die irrationalen »wicked prob­ lems« (Horst Rittel) des Entwerfens nicht ignorierten, sondern als komplex und »bösartig« (so die deutsche Übersetzung von »wicked«) innerhalb der aufgestellten Taxonomien rationalisierten. 5 Dabei trennten sie zwangsläufig

4

Ygl. Panofsky, Erwin: ldea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunst­ theorie, Berlin 1 993, bes. S. 23-3 8 .

5

.Iones, .lohn Chris: Design Methods, New York/Chichester/Weinheim/Brisbane/ u. a. 1 992 ( 1 970); Ritte!, Horst Ritte! mit Webber, Melvin M. : Dilemmas in a

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zwischen wissenschaftlichen und intuitiven bzw. künstlerischen Anteilen des Entwerfens, was sich auch nicht änderte, als ab den 1 970er Jahren die »Überrationalisierung« 6 zunehmend kritisiert und der Künstler-Architekt wieder eingefordert wurde (darunter auch Christopher Alexander selbst\ Nur wenige Autoren haben versucht, die besondere Praxis des Entwer­ fens weniger rationalistisch als vielmehr pragmatisch und materialistisch bzw. ausgehend von ihren heterogenen Techniken und Medien und deren spezifischer Geschichte zu erforschen. Zunächst hat der von John Dewey beeinflusste Philosoph Donald Schön mit seinem Buch The Re.flective Practitioner einen wichtigen Schritt zur Erforschung der » Tiefenschicht des allgemeinen Entwurfsprozess>Palimpsest der Erinnerungen«, Theater für Aldo Rossis analoge Entwurfsmethode, fußend aufder Repetition und Neuzusammenstellung derselben Elemente, Vorder- und Rückseite

Abbildung 5: Avin Fathulla und David Rasner, 3D-Rekonstruktion von »Moderne Gebäude« von Kasimir Malewitsch, 1923, welche die tatsächliche Zweidimensionalität der Zeichnung offenbart

Natürlich ist ein Problem der »performativen« Forschung, dass sie an den Moment gebunden ist. Sie erfordert die Präsenz und Einbezogenheit des Publikums, das während der Aufführung die Ergebnisse der entwurfsbasier­ ten Forschung sieht und hört, weil so das Prozessuale des Entwurfs, das sinnliche Denken selbst besser erkennbar wird. Wir beziehen uns mit dieser Methode teilweise auf neuere kulturwissenschaftliche Forschung, die sich mit Performanz beschäftigt, und die ebenfalls andere Formen einer »prakti­ schen Ästhetik« erprobt, dezidiert auch als Kritik an der Narrnativität einer » streng logozentrisch orientierten Weltauffassung« . 28 Gleichwohl sind wir nicht gegen tradierte Formen der Forschung, wir betonen im Moment vor allem das Experiment mit neuen Formen. Damit befinden wir uns noch am Anfang, weshalb wir uns in unserer ersten Publikation mit dem Titel Entwer­ fen Erforschen29 zunächst daraufbeschränkt haben, den Einzelheiten der drei Entwurfsstudios Raum zu geben, diese aber auch durch Gastbeiträge rahmen

28 Ziemer, Gesa: Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ä sthetik, Zürich/ Ber­ lin 2008, S. 1 2 . 29 Schnell, Ange1ika/Sommeregger, Eva/1ndrist, Waltraud (Hg.): Entwerfen Er­ forschen. Der performative turn im Architekturstudium, Base1/Berlin 20 1 6 .

D E S I G N PARAD I G M

1 229

zu lassen, die diese performative Forschung in ihrem kulturwissenschaftli­ chen Kontext diskutiert. Da zu Design Paradigm auch Einzeldissertationen gehören, hoffen wir, sehr bald schon weitere Ergebnisse präsentieren zu kön­ nen.

Abbildung 6: Luana Cortis und Nikolaus Rach, durch Animationen und einen zusät:::lichen Layer aus Holz wird Eisenmans Entwurffür die !BA Berlin 1980 in der Friedrichstraße als Logik des Dekonstruktivismus unmittelbar erkenntlich

Abbildung 7: Shun Sean Lam und Yujing Cui, das 1969 entstandene »II monumento continuo« von Superstudio, übe rset:::t in eine zeitgenössische Stadtlandschaft

A b bildungen

E i nfü h ru n g

Abb. 1 : Andrea Palladio : I Quattro libri dell'Architettura, Venedig 1 570, Buch IV, Kapitel 20, Tafel 112/7 Abb. 2: Jacopo Barozzi da Vignola: Le due regale della prospettiva pratica, Rom 1 5 8 3 , S. 65 Abb. 3 : Peter Eisenman: Die formale Grundlegung der modernen Archi­ tektur, Werner Oechslin (Hg.), Berlin/Zürich 2005, S. 129 Abb. 4 : Le Corbusier: Vers une architecture ( 1 923) Abb. 5: Hungerburgbahn-Bergstation: By Hafelekar (Own work) [CC BY­ SA 3 .0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3 .0)], via Wildmedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AHungerburg­ bahn-Bergstation.JPG ( 1 0.06.20 1 6)

D i e Syste m at i s i eru n g d e r S e n sati o n des Rau m e s . Rap h a e l s a rc h ite kto n i s c h e Re präsentat i o n s methode u n d d i e M e c h a n i s i e ru n g des Ru i n e n ze i c h n e n s i n d e r Re n a i ss a n ce

Abb. 112/3 : BaidassatTe Peruzzi : Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz, UA 3 95r/ UA 3 86r/ UA 63 1 r ( +478v) Abb. 4/5 : Antonio da Sangallo der Jüngere : Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz, UA 1 5 5 5r/ UA 1 5 5 5v

232 I

DAS V E R S C H W I N D E N D E S A RC H I T E K T E N

D i e Ze i c h n u n g als E ntwu rfswe rkze u g . S k izze n u n d » M od e l l e « i n M i c h e l a n g e l os Arc h itekt u rze i c h n u n g e n

Abb. 1/3/4/511 0/ 1 1 / 1 2/ 1 7/ 1 8/ 1 9b-f: Zeichnung : Gunnar Schulz Abb. 2/ 1 9a: Michelangelo Buonarroti : Casa Buonarroti, Florenz, CB 48 Ar/CB 61 A Abb. 6/7/ 1 3 : Apollonj Ghetti, Bruno Maria: Opere architettoniche di Michel­ angelo a Firenze. Prospetto di S. Lorenzo (dal modello). Biblioteca laurenziana. Cappella medicea. Roma 1 93 4, Tafel 20/Tafel 6-7/Tafel 3 Abb. 8/9 : Rossi, Giuseppe Ignazio: La Libreria Mediceo-Laurenziana. Architettura di Michelagnolo Buonarruoti. Firenze 1 739, Tafel 1 2/Tafel 14 Abb. 1 4/ 1 5 : Michelangelo Buonarroti : British Museum, London, B M 1 8599- 1 5-5 1 4 recto/verso Abb. 1 6 : Foto Gunnar Schulz

Vom Werk z u r I d e e . N otize n z u m E rste l l e n u n d Ve rste h e n e i n e r (j ede n ) Arc h itekt u r

Abb. 1 : Leonardo d a Vinci : Biblioteca Ambrosiana, Mailand, Codex Atlanticus 3 1 0 v.a. Abb. 2 : Leon Krier, Wettbewerbsentwurf ( 1 982) Abb. 3: Coop Himmelb(l)au (200 1 -20 1 4) Abb. 4 : Frank!, Paul : Entwicklungsphasen der neueren Baukunst, Leipzig 1914 Abb. 5 : Norberg-Schulz, Christian: Kilian Ignaz Dientzenhafer e il barocco boemo, Rom 1 968 Abb. 6 : Andrea Palladio, Quattro libri dell' architettura, Venedig 1 570, Buch li, Kapitel 3, Tafel 50 Abb. 7/8/9/ 1 0/ 1 61 1 71 1 9 : Zeichnung: Harmen H. Thies Abb. 1 1 : Giovanbattist Nolli ( 1 748), Kunsthistorisches Institut Florenz und Luftaufnahme, Alinari, Florenz Abb. 1 2 : Arata Isozaki ( 1 980- 1 983) Abb. 1 3 : Faleti-Stich ( 1 5 67): Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom

ABBILDUNGEN

1 23 3

Abb. 1 4 : Etienne Duperac ( 1 568): Staatliche Graphische Sammlung, München Abb. 1 5 : Bauaufnahme: Harmen H. Thies Abb. 1 8 : Foto : Leonard von Matt, Buchs Abb. 20 Le Corbusier: Fünf Punkte einer neuen Architektur ( 1 927) Abb. 21 Le Corbusier: 4 Arten der Komposition ( 1 930)

I n i t i ator, G e b u rts h e l fer, Reg isse u r. Trad i e rte Autors c h afts m ode l l e i m C o m p utat i o n a l Des i g n

Abb. 1 : Eisenman, Peter u . a. : Five Architects. Eisenman, Graves, Gwathmey, Hejduk, Meier, New York 1 975, S . 3 3-34, Abb. 7-9, 1 3-1 8 (montiert von Carotin Hötler) Abb. 2: Design Quarterly 78/79 ( 1 970), S. I Abb. 3 : Baume, Nicholas (Hg.): Sol LeWitt: lncomplete Open Cubes, Ausst.­ Kat. (Harttord/CT, Wadsworth Atheneum Museum of Art, 200 1 ), Cambridge, MA/London, 200 I, S . 1 3 , Kat. Nr. 65 Abb. 4 : Davidson, Cynthia C . (Hg.): Auf den Spuren von Eisenman - Peter Eisenman. Sämtliche Arbeiten, Sulgen/Zürich 2006, S. 90 Abb. 5 : Leonardo Music Journal 42 (2009/3), S. 260, Abb. 1 Abb. 6 : Jenny, Hans: Kymatik. Wellenphänomene und Schwingungen. Neu­ ausgabe des zweibändigen Werks von 1 967 und 1 972, Baden/ München 2009, S. 1 32-1 3 3 , Bild 3 und 4 Abb. 7: Glaeser, Ludwig (Hg.): The Work of Frei Otto, Ausst.Kat. (New York, Museum of Modern Art, 1 97 1 ), New York 1 972, S . 40 Abb. 8: Hygro Scope - Metem·osensitive Morphology : http ://www.grass­ hopper3 d.com/photo/hygroscope-front-side ( 1 5 .04.20 1 5) Abb. 9 : Silk Pavilion: https://syntheticru.files.wordpress.com/20 1 4/0 1 /5 _ silkpavilion_ 1 200_800.jpg ( 1 5 .04.20 1 5)

234 I

DAS V E R S C H W I N D E N D E S A RC H I T E K T E N

D i e Ap p l i kati o n des C o m p uters als » De n kze u g « i n parametri s c h e n E n twu rfs p rozess e n , bas i e re n d a u f H o rst Ritte i s Des i g n M e t h o d o l o g i e n . Ü be r d e n Verg l e i c h a n a l og e r u n d d i g ita l e r E ntwu rfs m e t h o d e n

Abb. 1: Horst W . .1 . Ritte! : The Reasoning of Designers (Schriftenreihe des Instituts tur Grundlagen der Planung, Universität Stuttgart), Stuttgart 1 987 Abb. 2/6 : lrlwek, Manuela/Menges, Achim: Variant generation and convergence in computational design processes based on Horst Rittel ' s design methodology, in: Carrara, Gianfranco/Fioravanti, Antonio/ Trento, Armando (Hg.): Connecting Brains Shaping the World. Collaborative Design Spaces, Rom 20 1 1 , S. 1 3 9- 1 5 8 Abb. 3/4 : Horst W.J. Ritte! : Der Planungsprozess als iterativer Vorgang von Varietätserzeugung und Varietätseinschränkung, Stuttgart 1 982 Abb.5 : Mit freundlicher Genehmigung : David Rutten: Data Tree, in: Grasshopper Primer 2006 Abb.7/8/9/1 0 : Manuela lrlwek: Entwurfsseminar an der Hochschule Biberach 20 1 5

A n a l og e r B l o b vs. D i g ita l e B ox? P resto n Scott C o h e n , Va l e r i o O l g iati u n d das S c h e itern in d e r Arc h ite kt u r

Abb. 1/2: Zeichnung: Preston Scott Cohen Abb. 3/4/5 : Plan, Bild und Renderings : Valerio Olgiati

Sta n d a rd i s i eru n g

4.0

i n d e r Arc h itektu r?

Abb. 1 /3/5 : Mit freundlicher Genehmigung: Architekturbüro Oikios, München, Foto : Rene Müller Abb. 2: Mit freundlicher Genehmigung : Architekturbüro Oikios, München, Modell: Oliver Hofmeister Abb. 4: Henselmann, Irene/Henselmann, Hermann: Das große Buch vom Bauen, Berlin2 1 976, S. 1 67.

ABBILDUNGEN

1 23 5

Abb. 6 : bfu Beratungsstelle für Unfallverhütung, Bern: Fachbroschüre Ge­ länder und Brüstungen, 20 1 2, S. 5 . Abb. 7 : Mit tl·eundlicher Genehmigung : Hotellerie Suisse, Bern: Kriterien­ katalog der Hotellerie Suisse 20 1 0-20 1 4, S. 3 .

Des i g n P a rad i g m - Ko nzept u n d Ze itl i c h ke i t i n d e r m o d e r n e n Arc h itekt u r

Abb. Abb. Abb. Abb.

1 /3 : Foto : Romana Prokop 2: Foto : Eva Sommeregger 4/5/8 : Foto : Angelika Schnell 6: Foto : Luana Cortis I Nikolaus Rach

Autorinnen und Autoren

Ekkehard Drach ist Architekt und Architekturtheoretiker. Er studierte Architektur an der Georg-Simon-Ohm Hochschule in Nürnberg und der TU Graz. 20 1 1 promovierte er an der HCU Harnburg bei Ullrich Schwarz mit einer Arbeit über Die Histori=ität formaler Ordnungssysteme. Er unter­ richtete an der TU Graz, der Hochschule Nürnberg und der Universität Innsbruck. Zurzeit arbeitet er an der Fachakademie für Raum- und Obj ektdesign in Cham. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Feld der Theorie, Praxis und Geschichte architektonischen Entwerfens.

ist Architekturtheoretiker und -historiker. Seit 20 1 0 ist er an der University of Utah in Salt Lake City berufen, nachdem er an der ETH Zürich, der Harvard GSD, MIT, RISD und der TU Wien unterrichtet hat. Seine Essays zu Architektur, Kunst und Städtebau sind erschienen in: Archithese, Werk, Archplus, AnArchitektur, GAM, Beyond, West 86th, log, etc. Er hat zahlreiche Buchbeiträge verfasst, wie zum Handbook of Architectural Theory (London: Sage, 20 1 2), und The Other Architect (Montreal : CCA, Spector, 20 1 6) . Er ist Mitherausgeber der Zeitschritt Dialectic und hat Nietzsches Schatten (Berlin: Gebr. Mann, 20 1 2) verfasst. Zurzeit forscht er zur Geschichte der kritischen Theorie in der Architektur. Oie W. Fischer

Jörg H. Gleiter ist Professor flir Architekturtheorie und geschäftsführender Direktor des Instituts flir Architektur der TU Berlin. Studium in Tübingen, Berlin, Venedig und New York, anschließend Mitarbeit in Eisenman Architects (New York) . 2002 Promotion, 2007 Habilitation (venia Iegendi in Architekturphilosophie) . Gastprofessuren in Venedig, Tokio, Weimar und Professur flir Ästhetik an der Libera Universita di Bozen-Bolzano (2005-

238 I

DAS V E R S C H W I N D E N D E S A RC H I T E K T E N

20 1 2) . Er ist Herausgeber der Reihe ArchitekturDenken (Transcript Verlag Bielefeld) und Mitherausgeber der Internetzeitschrift Wolkenkuckucksheim . seit 20 1 3 Professorin für Designtheorie und -forschung an der Köln International School of Design der TH Köln; von 2003 bis 20 1 3 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut tlir Mediales Entwerfen der TU Braunschweig, ab 2009 Akademische Rätin; Studium der Kunstgeschichte, Neueren Deutschen Literatur und Theaterwissenschaft (Magister) sowie der Architektur (TU Diplom) in Köln, Wien und Berlin; 2 0 1 1 Promotion bei Horst Bredekamp an der Humboldt-Universität zu. Berlin; Forschungsinte­ ressen: Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design, digitale Form, Materialsysteme, mediale Durchdringung des öffentlichen Raumes. C arolin Höfler

Manuela Irlwek ist Architektin und Stadtplanerin. Derzeit arbeitet sie als Doktorandin am Institut for Computational Design (ICD) der Universität Stuttgart und der University of California in Berkeley. Sie forscht zu parametrischen Entwurfsprozessen und methodischen Yorgehensweisen insbesondere untersucht sie Entwurfsmethodologien nach Horst Ritte!. Nach einem Masterstudium an der Architectural Association in London und der Georg-Simon-Ohm Hochschule in Nürnberg folgten Lehrtätigkeiten an der ETH in Zürich, der Sei-Are in Los Angeles sowie der Hochschulen in Biberach und Rosenheim. Rikke Lyngsa Christensen studierte Kunstgeschichte in Aat·hus, Leicester und Kopenhagen. 20 1 1 promovierte sie an der Universität Kopenhagen mit einer Arbeit über kreative Prozesse in der italienischen Renaissancearchi­ tektur. Zuletzt war sie an der Architekturschule der Königlichen Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen mit dem wissenschaftshistorischen Postdoc­ Proj ekt » Writing Italian Renaissance Architecture« angestellt. Ihre For­ schungsschwerpunkte sind die Entwurfsverfahren der Renaissance in Zeichnungen und Traktaten, Antikenrezeption und Mechanismen der Architekturgeschichtsschreibung im 1 9 . und 20. Jh.

ist Professorin ftir Architekturtheorie, Architekturge­ schichte und Entwurf an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie studierte Theaterwissenschaften und Architektur in München, Berlin und Delft. Von 1 993 bis 200 1 war sie Redakteurin der Architektur- und Städte-

Angelika Schnell

A U TO R I N N E N U N D A U T O R E N

1 239

bauzeitschritt ARCH+ , Berlin. Zuvor lehrte sie an der TU Berlin, an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, an der Universität Groningen und an der Universität lnnsbruck. Zahlreiche Publikationen im In- und Ausland zu Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts, mit be­ sonderem Schwerpunkt auf Architekturtheorie, Medien und Entwurfs­ methoden der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut fllr Bau­ geschichte der Technischen Universität Braunschweig und an der Ostfalia Hochschule Woltenbüttel. Nach dem Architekturstudium in Weimar, Braunschweig und Florenz Mitarbeit an den Instituten fllr Baugestaltung und für Entwerten und Gebäudelehre (Braunschweig) sowie im Forschungs­ proj ekt »Lineamenta« der Bibliotheca Hertziana (Rom) . Forschungsschwer­ punkte : Entwurfssysteme bei Michelange1o und Architekturzeichnungen im 1 5 ./ 1 6 . .Jh. Darüber hinaus Mitarbeit in Ingenieurbüro bei der Sanierung von Denkmalen und erhaltenswerter Bausubstanz.

Gunnar Schulz

ist Professor a.D. Er studierte Architektur und Kunst­ geschichte in Braunschweig und promovierte dort 1 976 bei Martin Gosebruch mit einer Arbeit zum Thema Michelange/os Entww:f =ur Architektur des Kapitolsplat=es. 1 977 bis 1 9 8 1 assistierte er am Kunst­ historischen Institut in Florenz. 1 983 wurde er als Professor an das Institut für Baugeschichte der Technischen Universität Braunschweig berufen und lehrte dort bis 2007. 2003 war Barmen Thies Mitgründer der Bet Tfila Forschungsstelle ftir jüdische Architektur in Europa, ftir die er, gemeinsam mit Aliza Cohen-Mushlin, Autor und Herausgeber der Schriftenreihen der Bet T.fila-Forschungsstel/e ist. Harrneu H. Thies

ist Autor und Architekt. Er studierte Architektur in München, London und Briey en Foret. 20 1 4 verteidigte er seine Dissertation zum Thema »BEL . Zur Systematik des architektonischen Wissens am Beispiel von Ernst Neufetts Bauentwurfslehre« . Er lehrte an der TU Dresden, der Bauhaus-Universität Weimar, der Universität der Künste, der Beuth­ Hochschule Berlin und an der FU Berlin. Seit 20 1 5 ist er Gastprofessor für Architekturtheorie an der BTU Cottbus-Senftenberg. Er forscht und veröffentlicht zu Geschichte und Theorie der Architektur, etwa zur Entwurfs­ forschung und zum Strukturalismus. Gernot Weckhertin

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u n d Vo l ks h o c h s c h u l e n p rä g e n a l s B a u w e r k e d a s Sta d tb i l d . S i e s i n d M oto r e n d e r Sta d t e n tw i c k l u n g s ow i e d es Ku l t u rto u r i s m u s u n d b e rge n e i n I n vestiti o n sv o l u m e n i n M i l l i a rd e n h ö h e . N i c h t n u r d a s P l a n e n u n d B a u e n n e u e r H ä u s e r, s o n d e r n a u c h d i e R e n ov i e r u n g a l t e r Ku l tu r i m m o ­ b i l i e n s o w i e d i e U m n u tz u n g v o n B a u d e n km ä l e r n s i n d h e ra u sfo rd e r n d e A u fga b e n . D i e B e i träge d i e s e s B a n d e s s i n d d e n S p e z i f i ka d e r e i n z e l n e n S p a rt e n (Th e a te r n , M u s e e n etc . ) gew i d m et u n d v o n A kte u r i n n e n u n d A kte u re n ve rfa sst, d i e i n d a s P l a n e n , B a u e n u n d B etre i b e n v o n K u l t u r i m m o b i ­ l i e n i n vo l v i e rt s i n d . S i e p rä s e n t i e r e n e rstm a l i g ga n z h e i tl i c h e Lö s u n ge n fü r •• K u l t u r i m m o b i l i e n « i n d e n S p a n n u n gsfe l d e r n v o n Sta dte n tw i c k l u n g u n d Ku l tu r b e t r i e b , I n vestiti o n e n u n d Fo l ge k o ste n , ö ffe ntl i c h e r H a n d u n d P r i va tw i rts c h a ft .

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