Medienästhetik des Schattens: Zur Neubestimmung des Mensch-Technik-Verhältnisses im digitalen Zeitalter 9783839439265

The human shadow in a digital world - the relation between mankind and technology explored anew on the basis of the visu

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German Pages 292 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
Bildbetrachtungen
Der Schatten – ein ästhetischer Sonderfall
Auswertung
Schlussbetrachtung und Ausblick
Abbildungsverzeichnis
Literatur
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Medienästhetik des Schattens: Zur Neubestimmung des Mensch-Technik-Verhältnisses im digitalen Zeitalter
 9783839439265

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Kathrin Tillmanns Medienästhetik des Schattens

medien·kultur·analyse | herausgegeben von Reinhold Görling | Band 10

Kathrin Tillmanns, geb. 1968, hat an der Hochschule Düsseldorf und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf studiert. Sie ist Designerin und promovierte Medien- und Kulturwissenschaftlerin. Seit 2015 ist sie als Wissenschaftlerin am »institut bild.medien« der Peter Behrens School of Arts an der Hochschule Düsseldorf tätig und lehrt im Bereich Interdisziplinäre Bildkonzepte.

Kathrin Tillmanns

Medienästhetik des Schattens Zur Neubestimmung des Mensch-Technik-Verhältnisses im digitalen Zeitalter

D61 Originaltitel der Dissertation: »Schatten Schatten – Untersuchung einer relationalen Erscheinung«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Jean Otth »Le mythe de la caverne« vidéo 23 minutes 1972 (Standbild) Quelle: Virginie Otth und Philémon Otth Korrektorat: Klaus Mackowiak Satz: Kathrin Tillmanns Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3926-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3926-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung  | 9 Bildbetrachtungen  | 27 Bildbetrachtung Fotografie | 29 Bildbetrachtung Video | 45 Bildbetrachtung Tanz | 77 Bildbetrachtung Relational Architecture | 97

Der Schatten – ein ästhetischer Sonderfall  | 115 Bestimmung einer phänomenologischen Erscheinung | 122 Schattengrenze | 147 Der Schatten – Figur des Übergangs | 153 Bestimmungsverhältnisse | 157 Kopräsenz – Mitsein | 161 Schatten – Raum | 180 Bewegung | 193

Auswertung  | 199 Schlussbetrachtung und Ausblick  | 229 Das Polyfokale | 237 Die Verbindung ausdrücken | 240 Selbstausleuchtung – Fremdausleuchtung | 265 Irreführung | 267 Tarnung | 268 Schatten ist nicht gleich Schatten | 269 Verlust | 271 Digitale Schatten – unklare Objekte | 272 Ausweitung der Bildzone | 274

Abbildungsverzeichnis  | 277 Literatur  | 281

Dank Während der Entstehung dieser Arbeit haben mich viele Kollegen und Freunde begleitet und damit zu ihrem Gelingen beigetragen. Es waren nicht nur Gespräche, Hinweise auf Literatur und Abbildungen, sondern auch der Glaube an mich und meine Arbeit, wofür ich an dieser Stelle aufrichtig danken möchte. Erwähnen möchte ich im besonderen Prof. Dr. Dieter Fuder und seine Frau Beihli Zou, die mich oft mit unfertigen Texten und zu jeder Zeit empfangen haben, Prof. Gerhard Vormwald mit dem ich im gemeinsamen Büro den Stand der Dinge stetig besprochen habe und Prof. Dr. Reiner Nachtwey der mir am institut bild.medien die Fertigstellung der Arbeit ermöglicht hat. Danken möchte ich Prof. Dr. Reinhold Görling für die Möglichkeit der Teilnahme an spannenden Forschungskolloquien und dafür, dass er mich und meine Arbeit als Betreuer angenommen hat. Herzlichen Dank auch an Prof.in Dr. Angela Krewani, die mir und meiner Arbeit sehr offen begegnet ist. Danken möchte ich desweiteren im Besonderen Virginie Otth und Philémon Otth für die unkomplizierte und schnelle Unterstützung und die Möglichkeit die Abbildungen von Jean Otth in dieser Arbeit zu verwenden.

Einleitung »In New York, legislation was introduced in the city council this spring that would create a task force scrutinizing shadows on public parks. Lawmakers in Boston in the last few years have repeatedly proposed to ban new shadows on parkland, though they haven’t succeeded. In San Francisco, the city has tightened guidance on a long-standing law regulating shadows in an era of increasingly contentious development fights. In Washington, where the conflict arises not from luxury skyscrapers but modest apartments and rowhouse pop-ups, the zoning commission voted in April on rules that would prohibit new shadows cast on neighboring solar panels.«1 »The San Francisco Recreation and Park Commission has rejected a condominium project that would cast a shadow on a SoMa park — the first time ever the body has voted down a proposal based on the 1984 Proposition K Sunlight Ordinance.« 2 »In Metropolen wie London oder New York gibt es immer mehr Wolkenkratzer. Sie werden immer höher und größer – und werfen viel Schatten. Selbst an einem sonnigen Tag im Hochsommer sehen viele Anwohner und Geschäftsleute nur wenig von der Sonne. Damit die Straßenschluchten aus der Dunkelheit kommen, wollen Architekten mit einem Trick das Sonnenlicht umleiten. Die Architektenfirma NBBJ in London haben das 1 | Badger, Emily »In the shadows of booming cities, a tension between sunlight and prosperity« in »Washington Post« vom 04.05.2015 www.washingtonpost.com/blogs/ wonkblog/wp/2015/05/04/in-the-shadows-of-booming-cities-a-tension-betweensunlight-and-prosperity vom 28.07.2015 »It mandated that no developmentover 40 feet in height could cast a shadow on a San Francisco park unless the Planning Department determined it’s insignificant, and, as a sad testament to the scope of direct democracy, has languished untouched for 30 years.« und Kane, Pete »Rec and Park Uses Sunlight Ordinance to Nix Development for the First Time« vom 21.01.2015 in SF Weekly San Francisco, CA 94103 www.sfweekly.com/thesnitch/2015/01/21/rec-and-park-usessunshine-ordinance-to-nix-development-for-the-first-time vom 04.08.2015. 2  |  Dineen, J.K. »S.F. parks commission squashes condos that would shadow SoMa park« in San Francisco Chronicle vom 17.01.2015 www.sfgate.com/bayarea/article/SF-parkscommission-squashes-building-that-would-6021079.php vom 28.07.2015.

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Medienästhetik des Schattens Konzept »No Shadows« entworfen, das ganz einfache Spiegelreflektion nutzt, um Schatten zu beleuchten. Hierfür ist ein Zusammenspiel von zwei Gebäuden nötig, die das Licht zerstreuen und brechen. Wenn eines der Gebäude einen Schatten wirft, wirkt das andere Gebäude wie ein gewölbter Spiegel, der das Sonnenlicht aufnimmt und auf den Schatten projiziert.« 3

Da ein Schatten im Allgemeinen ein Mehr an Potenzialität aufweist als seine zunächst sichtbare flüchtige Erscheinung, soll er hier zum Untersuchungsgegenstand erhoben werden. Der Schatten, im Besonderen der Schatten eines Menschen, soll exemplarisch als relationales Objekt in bestimmten Wechselbeziehungen untersucht werden. Er soll, um der Arbeit eine Beschränkung aufzuerlegen, nicht im erkenntnistheoretischen, nicht im diskursanalytischen Sinne, sondern im Sinne einer ästhetisch phänomenologischen Untersuchung betrachtet werden. Dies bedeutet zunächst eine Bestimmung des Untersuchungsfeldes, in dem Maße, dass die deskriptiven Aspekte der Wissenschaft gegenüber den experimentellen und theoretischen Methoden eine Positionierung erfahren. Das heißt jedoch nicht, dass andere Stimmen nicht zu Wort kommen werden, wenngleich ausschließlich, um die erwähnte Methode zu stützen. Das Interesse am Untersuchungsgegenstand wird durch zwei maßgebliche Richtungen bestimmt. In erster Linie ist es das Interesse, sich einer im Alltag zunächst banal anmutenden Erscheinung, der des Schattens, zu nähern. Der Mensch setzt sich seit Urzeiten mit ihm als Motiv auf vielfältige Art und Weise auseinander, gedanklich wie gestalterisch, poetisch wie analytisch. Der Schatten beansprucht, wenn er als Sichtbares erscheint, einen erheblichen Teil an visueller Aufmerksamkeit und bietet sich an – in Form einer Mitteilung, eines Gegenüber. Der Mensch kommt nicht umhin, ihn wahrzunehmen, ihn anzuschauen. Er ist ein ihm Ausgesetzter wie Gefangener. Aufgrund seiner physikalischen Erscheinung, seiner Sichtbarkeit im Alltäglichen schafft der Schatten durch seine konzeptuelle4 und konnotative Offenheit eine besondere Präsenz. Gleich den Besonderheiten seiner physikalischen 3 | Lachmann, Anne »Diese Wolkenkratzer bringen die Stadt zum Leuchten« am 08.05.15 in »DIE WELT« www.welt.de/finanzen/immobilien/article140695690/DieseWolkenkratzer-bringen-die-Stadt-zum-Leuchten.html vom 28.07.2015. 4 | Im Sinne von Begriffsbildung »Ein Begriff ist weder gegeben noch wird er produziert, er wird im Akt der Verbegrifflichung performiert und präsentiert. Die Verbegrifflichung, dieses Spiel mit dem Begriff, produziert und entdeckt ihn zugleich, lässt ihn zugleich erscheinen und gibt ihm seine Existenz; sie verwischt also gerade die Differenz zwischen dem, was gegeben ist und enthüllt wird, und dem, was erfunden und produziert wird.« Ophir, Adi in »Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte« [Hrsg.] Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin 2012; Ophir, Adi »Concept« in »Political Concepts – A critical Lexicon« www.politicalconcepts.org vom 20.6.2012.

Einleitung

Erscheinung werden dem Schatten diese als metaphorische Eigenheiten und Bestimmungsmöglichkeiten zugewiesen. Der Schatten wird als physikalische Erscheinung zunächst durch seine grundlegenden Eigenschaften bestimmt. Diese sind sein Ephemeres, seine Nichtstofflichkeit, seine Dunkelheit – und im Besonderen seine Abhängigkeit wie seine Form als relational bestimmbares Objekt. Der Begriff des Schattens erfährt durch die semantische Übertragung seiner physikalischen Qualitäten eine Erweiterung und bietet als sprachliche wie auch als bildliche Möglichkeit eine Art offenen Ort, der in Relation zu seinen Bedingungen steht. Es sind dies demnach nicht nur die physikalischen Gegebenheiten, die ihn hervorbringen, sondern mit ihnen die Formen seiner Deutungsmuster wie seiner Interpretationsgefüge. Dieses sind keine festgeschriebenen unverrückbaren Gegebenheiten, sondern sie werden bestimmt und liegen eingebettet in einem historisch kulturell und gesellschaftlich sich stets im Wandel befindenden Gefüge. Diesem Interesse steht in gleichrangiger Weise das Interesse, den Schatten in unterschiedlichen, technologischen medialen Bestimmungen zu untersuchen, zur Seite. Dies rührt zum einen von der künstlerisch angewandten Arbeitsweise der Verfasserin wie vom sichtbaren, sich zeigenden Wandel des Schattens in den bildgebenden Verfahren her. Aus diesem Grunde erfolgte in der vorliegenden Untersuchung nicht nur eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Schatten, sondern zudem eine Gegenüberstellung ihrer differenzierten technologisch bestimmten medialen Erscheinungsformen. Die durch alltägliche Begegnung geprägte Erfahrung mit dem Schatten als einer sichtbaren Erscheinung bot über verschiedene Zeiten hinweg, aus unterschiedlichsten Beweggründen, mehrfach eine Quelle der Inspiration. In fast allen Kultur- und Religionskreisen der Erde wird der Schatten – poetisch wie gedanklich – in zunächst unterschiedlich anmutenden Besetzungen thematisiert. Eine Einordnung der vorliegenden Untersuchung im kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungsgebiet schien daher angemessen und soll im Folgenden als Maßstab gelten. Von Beginn an wurde der Schwerpunkt der Untersuchung auf den Schatten als ein ästhetisches Phänomen gelegt, der unter besonderen Umständen Betrachtung erfahren sollte. Schnell ergab sich die Erkenntnis, dass diese Untersuchung nicht eine Archäologie des Schattens, eine Kulturgeschichte des Schattens, werden kann, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Dieser Weg soll damit jedoch angedeutet und als notwendig zu gehender geöffnet werden.5 Das zentrale Thema der Arbeit ist, den Schatten als relationales Objekt in vorher festgelegten Bezugsverhältnissen zu untersuchen. Da er durch eine ihn besonders prägende spezifische Eigenschaft, die der Abhängigkeit, massgeblich Bestimmung erfährt und diese so 5 | Vergl. Haubl, Rolf »Unter lauter Spiegelbildern – Zur Kulturgeschichte des Spiegels« Frankfurt/M: Nexus 1991.

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Medienästhetik des Schattens

noch nicht in einer Arbeit thematisiert wurde, soll sie Dreh- und Angelpunkt dieser Untersuchung sein. Um eine weitere Differenzierung vorzunehmen, werden als zentrale Verhältnisbestimmungen der menschliche Körper, der Raum sowie die Zeit als Matrix des Relationalen bestimmt. In dieser Matrix richtet sich der Fokus auf künstlerische Ausdrucksformen aus den Bereichen Fotografie, Video, Tanz sowie Installation (hier im Besonderen auf »Relational Architecture«). Bei der Auswahl der künstlerischen Arbeiten wurde versucht, eine Ausgewogenheit im Bezug zum aktuellen Genderdiskurs zu berücksichtigen. Die der Untersuchung zugrunde liegenden künstlerischen Arbeiten enthalten Schatten von Frauen (Rotschenko, Keersmakers), Schatten von Männern (Otth), Schatten von Frauen und Männern (Hemmer). Was hier zunächst ungewöhnlich klingen mag, entfaltet sich bei näherer Betrachtung. Der Schatten eines Körpers war im künstlerischen Werk lange Zeit fast ausschließlich immer der eines männlichen Körpers. Die Autorschaft der für die vorliegende Arbeit herangezogenen Werke wird überwiegend von männlichen Protagonisten wie von einer Frau, der Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker, bestimmt. Visuelle Wegmarken an den Arbeiten verweisen jedoch auch auf andere Protagonistinnen. Im Theoriezugriff ergab sich, wie so oft, das Bild der über Jahrhunderte gepflegten kanonischen Wissenschaften – eine Ausgewogenheit einzuhalten war diesbezüglich nicht möglich. Um es vorwegzunehmen, es hat eine Verschiebung zugunsten weiblicher Schatten6 wie auch Autorinnen und Protagonistinnen stattgefunden. Um eine Nachvollziehbarkeit der Arbeit zu ermöglichen sowie die unterschiedlichen Fragestellungen angemessen und systematisch zu bearbeiten, erfolgte eine Gliederung in unterschiedliche Arbeitsabschnitte, die von einem kurzen Zwischenresümee begleitet werden. Zu Beginn der Arbeit wird ein kurzer Überblick über forschungsrelevante Bereiche gegeben, die Arbeitsmethode festgelegt und anschließend der Untersuchungsstrang bestimmt. Hierbei deutet sich ein Feld der Schatten an, das kulturell begründet in künstlerischen Ausdrucksformen immer wieder als gestaltgebendes und metaphorisches erscheint. Eine aktuelle Untersuchung zum Wandel des Schattens in seinen heutigen medialen Erscheinungsformen fehlt bisher. Die vorläufige These lautet, dass der Schatten noch nie in seiner Präsenz so deutlich und vordergründig auftrat wie heutzutage, gleichzeitig darin jedoch ein Verdecken seiner 6 | Die Frage, ob der Schatten die gleiche geschlechtliche Bestimmung wie der Körper zu welchem er gehört besitzt, kann hier nicht hinreichend verfolgt werden. Eine Annahme ergibt sich anhand der Auswertung. Wenn der Körper nicht an seinen Grenzen endet sondern der Schatten ihm zugehörig, in Form eines erweiterten Körperbildes ist, so erfährt er dessen Bestimmung – eher jedoch bleibt er Neutrum, im Sinne einer unbestimmten noch zu bestimmbaren Neutralität.

Einleitung

stattfindet. Er ist nicht mehr gemaltes, fixiertes Motiv, sondern Relation selbst, die technologischen Bestimmungen unterworfen ist, diese jedoch ebenso rekursiv und massgeblich bestimmt. Da in dieser Arbeit keine allumfassende, jegliche Schatten berücksichtigende Leistung erbracht werden kann, wird im zweiten Kapitel eine Materialgrundlage zur Untersuchung festgelegt, vorgestellt und spezifiziert. Dies folgt der Arbeitsmethode, die den Untersuchungsgegenstand auf seine ihm eigene ästhetisch-phänomenologische Wirksamkeit hin untersucht. Sie beinhaltet die Vorstellung der Künstler/Künstlerinnen sowie die deskriptive Bearbeitung der Kunstwerke aus den Bereichen Fotografie, Video, Tanz, Installation sowie die Herausarbeitung ihrer besonderen medialen Präsenz. Die Werke wurden aufgrund von vorher festgelegten Bedingungen bestimmt. Dies war in erster Linie das Motiv einer Verschiedenheit voneinander bezüglich ihrer technologischen medialen Bedingungen. Dabei wurde ersichtlich, dass der Schatten auch in seiner besonderen Rolle in bildgebenden Verfahren Berücksichtigung finden muss. Es war zunächst nicht der metaphorische Gehalt, der sich immer wieder in den Vordergrund zu drängen scheint, was den Schatten zwar deshalb auch eine besondere Präsenz verleiht, sondern es war das Bestimmungsverhältnis, das den Schatten erst als Schatten und nicht als Abstraktion eines Schattens, wie beispielsweise in der Fotografie Rodtschenkos, erscheinen lässt. Dieser Schatten besitzt gegenüber den Bewegtbildern von Otth ein Defizit an Bewegung, was ihn in seiner Besonderheit als fotografisches Standbild bestimmt, jedoch in einem anderen Qualitätsverhältnis. Dies erfährt in den Arbeiten von De Keersmaekers und Hemmers eine nochmalige Steigerung, die ich hier nicht vorwegnehmen werde. Ein weiteres Auswahlkriterium, das Berücksichtigung fand, ist die Verschiedenheit der Autorschaft, sowie die zeitliche und topografische Entstehungsgeschichte der Arbeit. Was sich im Schatten zeigt, ist nicht nur der Stand der medialen Beschreibungsformen zu einer gewissen Zeit, sondern ebenso der Stand des Künstlers/ der Künstlerin in einem besonderen kulturellen, gesellschaftlichen Gefüge.Verbindende Elemente der ausgewählten Arbeiten sind ihre medialen Erscheinungsformen, die auf einen Technologiezugriff angewiesen sind, sowie der Schatten eines Menschen, der im Werk sichtbares und bestimmendes Element ist. Alle Arbeiten liegen nicht als Originale vor, was auf ihre Besonderheit, ihre technische Reproduzierbarkeit verweist. Somit sind es Schatten von Schatten, mit den hier umgegangen werden muss – eine Eigenheit, die diesen von Beginn an inhärent, in ihnen angelegt ist. Die ausgewählten Kunstwerke stehen im Kontext »Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks«. Als Ausnahme erscheinen die Dokumentationen der Arbeiten von Keersmaeker und Hemmer, denen die Möglichkeit einer Begegnung, in Form einer Inszenierung, einer Installation heutzutage noch gegeben ist. Sie sind hierdurch in einem besonderen und ständigen Prozess des Werdens verortet und stehen den Arbeiten von Otth und Rotschenko diametral gegenüber.

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Medienästhetik des Schattens

Im dritten Kapitel wird der Untersuchungsgegenstand in unterschiedliche Verhältnisbestimmungen gesetzt, um zu prüfen, inwiefern der Schatten seine relationale Bestimmung durch anderes erfährt, welche existenzielle Bedingung für ihn zählt, wie das Gefüge, das ihn bestimmt, in das er unhintergehbar eingebunden ist. Als zentraler Aspekt, der sich durch die gesamte Arbeit zieht, ist hier seine besondere Nähe zum Menschen, körperlich wie gedanklich, als schattengebendem wie schattenerkennendem Subjekt herausgearbeitet. Während mit Merlau-Ponty zunächst ein Zugang zum visuell Erscheinenden entfaltet wird, so schließt sich diesem eine Zuwendung zum erweiterten Leibbegriff an, der in Anlehnung an den Blick eine Zuwendung zur Welt möglich werden lässt, ihn als Sensorisches für eine Erfassung dieser offenlegt. »Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend.« 7 Folglich stellt sich die Frage, in welcher Beziehung der Körperschatten zum menschlichen Empfinden steht, wie er sich zu ihm verhält und wie sich dies rekursiv bemerkbar macht bzw. ob er als eine Erweiterung dieses Empfinden gelten kann oder eher als eine Form des Dazwischen. Um diese Fragestellung einer Fokussierung zu unterwerfen, wurde der Untersuchungsgegenstand in ausgewählte Bestimmungsverhältnisse gesetzt, die ihn als sichtbares wie als theoretisches Objekt näher bestimmen sollen. Während des Versuchs einer Grenzziehung, einer Trennung, einer Isolation des Schattens aus seinem Bestimmungsgefüge traten weitere Verhältnisbestimmungen hervor. Es folgt die Betrachtung seiner Grenzbereiche, seines Binnenraumes, seines Außenraumes wie die Betrachtung eines Dazwischen, eines Sowohl-alsauch, eines Noch-nicht – eines Im-Vollzug-Seins, eines unklaren Objekts des Übergangs. Während der Schatten als alltäglich im Sonnenlicht erscheinendes naturgegebenes Objekt zunächst keine Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit zulässt, ist dies im Kontext einer technologisch bedingten Erscheinung eine Frage, die durchaus auf den Glauben von Bildlichkeit wie den Glauben an das, was wir sehen, verweisen muss. So, wie der Schatten nicht singulär, als Einzelheit ohne ein anderes, sein kann, so erzeugen heutzutage technologisch bedingte fixierte Schatten die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit. Dies klingt ebenso im Schatten mit an, wenn wir ihn als kontextlose visuelle Beschreibung einer Betrachtung unterziehen. Ein Schatten evoziert einen gedanklichen Abruf eines möglichen Bildes, jedoch ohne Kontextualisierung, bildlich oder textlich, ist dieser nicht einordenbar, beurteilbar – ähnlich, wie es bei einem technischen Abbild einer Fotografie, eines Films, eines Fotogramms ist.

7 | Merleau-Ponty, Maurice »Phänomenologie der Wahrnehmung« München: de Gruyter 1974 S. 239.

Einleitung

Im Sehen erscheint ein Mitsehen, das als offener Ort gefüllt wird, durch die eigenen Erfahrungsbilder oder durch intermediale Zuweisungen, die dem Bild, dem Schatten, mitgegeben sind. Daran schließt an, den Schatten als Raum im Raum zu denken. Für die Untersuchung wurde als Raummodell ein topisches gewählt, das im asiatischen Kulturkreis viel etablierter ist als im europäischen, jedoch dem Schatten hier als angemesseneres zur Seite gestellt wurde.Raum erscheint dabei als Feld, das aus unterschiedlichen Raumpunkten, als gespanntes Feld konstituierbar, beschreibbar wird. So wurde der Begriff des Schattenfeldes als ein zutreffenderer gegenüber dem Schattenraum bestimmt. Raum ist hier nicht relationales Gefüge, sondern Relation selbst. Als weiterer existenzieller Begriff zum Schatten wurden die Verhältnisbestimmungen Bewegung und Zeit gewählt. Diese bilden eine Klammer zum Beginn der Arbeit, wo der Begriff der Bewegung in dem des Schattens erscheint. »Es scheinet, daß in diesem Worte zwey verschiedene Hauptbegriffe liegen, die aber doch aus Einer gemeinschaftlichen Quellen fließen, der Begriff eines Bildes, und der Begriff der Dunkelheit; jener ist eine Figur des Lichtes, dieser aber des hohlen Raumes, beyde aber stammen von dem Begriffe der Bewegung und ihrer Richtung her.« 8

Schatten als bewegte, ständige Änderung seiner Form wahrzunehmen, als multiple Möglichkeiten eines Objektes, beschreibt eine deutlich andere Qualität als der einzelne fixierte Schatten einer Fotografie. Im vierten Kapitel erfolgt eine systematische Auswertung des bisherigen Untersuchungsverlaufs. Es kann hier kurz zusammenfassend gesagt werden, dass der Schatten in den heutzutage anwendbaren technologischen Möglichkeiten innerhalb künstlerischer Interventionen zu einer besonderen Präsenz erhoben wurde. Schatten wie auch Licht sind maßgeblich gestaltgebende Materialien geworden. Während dem Schatten eine unendlich scheinende plurale Möglichkeit innewohnt, ist das Licht Hilfsobjekt. Licht wird erst sichtbar, erfährt erst Bestimmung, wenn sich ihm etwas in den Weg stellt, es abgemildert, gebremst, gebrochen, abgelenkt, verschattet wird. Hierdurch erst erscheinen die Dinge. »In Wahrheit aber ist der Schatten die offenbare, jedoch undurchdringliche Bezeugung des verborgenen Leuchtens. Nach diesem Begriff des Schattens erfahren wir das Unberechenbare als jenes, was, der Vorstellung entzogen, doch im Seienden offenkundig ist und das verborgene Sein anzeigt.« 9

8 | Adelung, Johann Christoph »Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart« Th. 3. M-Scr. 2. Ausgabe Leipzig: Breitkopf 1798 S. 1370-1372. 9 | Heidegger, Martin »Die Zeit des Weltbildes« in Heidegger, Martin »Holzwege« in »Martin Heidegger Gesamtausgabe« Bd. 5 Frankfurt/M: Klostermann 1977 S. 112.

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Medienästhetik des Schattens

Im fünften Kapitel erfolgt eine reflexive Betrachtung der bisherigen Ergebnisse im Bezug zu aktuellen Denkfiguren, wie zu Massumis medientechnologischer Ästhetisierung der Macht, wie zu Hans10 Problematiken der Selbst/ Fremdausleuchtung. Massumi thematisiert die Arbeiten Hemmers in seinen Texten, hier besonders in »Die Verbindung ausdrücken Relationale Architektur«11, und spricht aufgrund dessen dem Körper jegliche Form im Sinne einer Kontur, einer klar definierbaren Oberfläche, Grenze, ab. »Das Limit des Körpers ist wie das Limit des visuellen Feldes – eine ungenaue Grenze ohne Demarkationslinie.«12 Massumi bezeichnet den Körper als »kinästhetische Amöbe« – einen arbiträr sich verändernden, erweiterten Körper, der ständig im Werden und ständig »in Beziehung zu« etwas ist. Eine Brücke zu den neurowissenschaftlichen Untersuchungen von Francesco Pavani und Umberto Castiello13, die im ersten Kapitel eingeführt werden, in denen der Schatten als Erweiterung des eigenen Körperbildes Bedeutung erfährt, ergibt sich erneut. Am Ende der Arbeit steht die Frage nach heutigen Formen von Bilderzeugung, Bestimmung von Bildlichkeit und inwieweit das Recht am eigenen Bild sowie die Bestimmung des eigenen Bildes noch möglich ist oder ob sie längst durch etwas anderes eine Besetzung, eine Fremdausleuchtung, erfahren hat. Es soll in diesem Sinne keine Wertung erfolgen, sondern ein Verweis entstehen, der den Schatten im Wandel seiner technischen Erzeugbarkeit als Mögliches in einem prozesshaften Werden von Sinnstiftung erscheinen lässt. Eine Okupation dessen war noch nie so einfach wie heutzutage. Im bewussten Wahrnehmen muss der Mensch, indem er Gesten des Handelns, des Tarnens, des Täuschens, des Verdeckens ausführt, indem er also eine multifokale Perspektivität einnimmt, sich zu ihm verhalten. Es steht nicht der Verlust des Schattens, der Verlust des eigenen, auf dem Spiel, sondern der Schatten bietet sich an, ihn als unklares Objekt im Werden zu bestimmen und sich eben nicht bestimmen zu lassen. 10 | Han, Byung-Chul »Im Schwarm. Ansichten des Digitalen« Berlin: Matthes & Seitz 2013 S. 93. 11 | Massumi, Brian »Ontomacht Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen« Berlin Merve 2010 S. 191. 12 | Ebd. S. 197 Verweis auf Michotte, Albert »La perception de la causalité« in Michotte, Albert »La Perception de la Causalite« Louvain: Institut Superieur de Philosophie wie Michotte, Albert »Gesammelte Werke« Bd. 1. »Die phänomenale Kausalität« Bern; Stuttgart; Wien: Huber 1982 Diese Denkfigur erscheint ebenso in Lozano-Hemmer, Rafael »Vectorial elevation Relational Architecture No. 4« Conaculta 2000 S. 188. 13 | Pavani, Francesco / Castiello, Umberto »Binding personal and extrapersonal space through body shadows« in »Nature Neuroscience 7«, 2003 S. 14-16 Published online: 14 December 2003 doi:10.1038/nn1167.

Einleitung

In der Gegenüberstellung der medial zunächst unterschiedlichen, jedoch verwandten Arbeiten zeigte sich zudem, dass technologiebestimmt eine Kompexitätssteigerung des Schattens möglich wurde. Die Relation, die hier im Schatten Untersuchung erfuhr, steht in untrennbarer Weise zum Menschen, zum Individuum als solchem. Sie steht in Analogie zu seiner Verortung in kulturell gesellschaftlich technologischen Bestimmungen wie zu seiner Erfahrung, Erzeugung und Bestimmung von Welt.

Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes In jedem Kulturkreis, zu jeder Zeit stand der Begriff wie auch die sichtbare Erscheinung des Schattens zunächst für etwas anderes. Oft unterlag dieser Begriff dem Zeitenwandel und wechselte seine konnotativen Bedeutungszusammenhänge, im Sinne und nach Stand der Aufklärung. Roberto Casati hat in seinem Buch »Die Entdeckung des Schattens«14 eine umfassende Sammlung geschaffen, die oft über die vielseitige Verwendung eines einzigen Begriffes staunen lässt. Und am Ende des Buches fragt man sich wahrhaftig was denn eigentlich kein Schatten sei bzw. was nicht die Eigenheiten eines Schattens besitzt. Man kann ungehindert sagen, die Metapher ist eine Form des Schattens. Sie verwendet einen Begriff nicht in seiner wörtlichen, sondern in seiner übertragenen Bedeutungsweise und zwar so, dass zwischen der wörtlich bezeichneten Sache und der übertragen gemeinten eine Ähnlichkeitsbeziehung besteht. Der Schatten, als Übertragenes und Ähnliches im wörtlichen Sinne, etwas, das an etwas anderem hängt und sich einem anderen Bedeutungsgefüge in den Weg stellt, es verstellt. Der Schatten ist Metapher im ureigensten Sinne, und gerade deshalb ist es schwer, das metaphorische Potenzial des Schattens in seinem Aufscheinen in bestimmte Schranken zu weisen, die im Sinne der Untersuchung eine sinnvolle Einbettung in die Arbeit zulassen. Demzufolge wird diese Arbeit zunächst einen bestimmten Abstand zum Bereich des Metaphorischen versuchen einzuhalten, in dem der Schatten eine schier unerschöpfliche Potenz aufweist. Was in dieser Arbeit ebenso keinen zentralen Platz einnehmen kann, ist der Schatten als Motiv in der Literatur und in der Malerei. Dies würde den zeitlichen wie thematischen Rahmen sprengen. Hierzu existieren einige hervorragende Arbeiten, auf die ich verweisen möchte. Literarisch hat sich Peter Jackob15 mit dem Schatten als Metapher und ihrem Wandel in der europäischen Literatur auseinandergesetzt. Es ist nicht nur die Betrachtung und Verwen14 | Casati, Roberto »Die Entdeckung des Schattens: Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung« Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003. 15 | Jackob, Peter »Der Schatten — Wandel einer Metapher in der europäischen Literatur« Sulzbach: Kirsch 2001.

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dung von Schatten als Metapher, sondern gleichsam die Analyse des Schattens als Symbol der Ich-Betrachtung. Im Untersuchungsfeld der Malerei liegen zwei zentrale Texte von Ernst Gombrich16 und Victor Stoichita17 vor. Gombrichs Text entstand aus Anlass einer Einladung der London National Gallery 1996, eine Ausstellung zu konzipieren. Gombrich wählte als zentrales Element der Ausstellung das Motiv des Schattens. Der Text diente hierfür als Handreichung. Von einer metaphysischen Deutung der Schatten, insbesondere der Schlagschatten, hält sich Gombrich in diesem Text jedoch fern. Sein Hauptanliegen ist in diesem Text, das Sehen zu schulen, auf die Besonderheiten des Schattens als ein durch den Maler Wiedergegebenes und Thematisiertes aufmerksam zu machen. Er hält sich an das Offensichtliche, motiviert, Bilder eindringlicher zu betrachten, und verweist in seiner Einleitung auf die Kunstgeschichte, die den Schatten seiner Meinung nach vernachlässigt hat. Damit hat er vollkommen recht. Der Schatten als Motiv und als Schwierigkeit in der handwerklichen Erfassung taucht zwar immer wieder in Texten18 auf, jedoch als Thema einer monothematischen Arbeit wie auch als Untersuchungsgegenstand in den unterschiedlichen Genres oder Epochen der Malerei eben nicht. Victor Stoichita beschreitet einen umgekehrten Weg. Er veröffentlicht 1997 seinen umfangreichen Text »Eine kurze Geschichte des Schattens« und kuratiert daraufhin im Jahre 2009 die Ausstellung »Sombra« für das Thyssen-Bornemisza-Museum in Madrid. Sein Text ist im Bezug zum Titel ein Paradox, da er den Bogen thematisch weiter spannt, dies nicht nur inhaltlich, sondern auch medial. Er verlässt die Malerei bis zu einem gewissen Grade und bezieht exemplarische Werke der Literatur, der Illustration, des Films wie auch der Fotografie ein und stellt den Schatten nicht nur in kunstgeschichtlichen Bezug, sondern verweist auf seine mitklingende metaphysische Eigenheit. Was fehlt, sind im Grunde genommen aktuelle mediale Untersuchungen, etwa über den Schatten und seine Veränderung in Zeiten der Virtualitätssteigerung und der digitalen Netzkultur. Einen wiederum anderen Weg beschreitet Michael Baxandall19, der seiner kunsthistorischen Untersuchung eine Erweiterung im Bereich des gesellschaftshistorischen Feldes hinzufügt. Sein zentraler Blick trifft auf den Schatten im Wandel der Aufklärung. Die letzte Seite in seinem Buch kehrt jedoch zurück in die Renaissance mit dem Verweis auf den gro16 | Gombrich, Ernst H. »Schatten. Ihre Darstellung in der abendländischen Kunst.« Berlin: Wagenbach 2009. 17 | Stoichita, Victor »Eine kurze Geschichte des Schattens« München: Fink 1999. 18 | Vergl. Leonardo, da Vinci »Das Buch von der Malerei« Deutsche Ausgabe nach dem Codex Vaticanus 1270, übersetzt von Heinrich Ludwig. Wien 1882, Reprint, facsimile reprint von Kessinger Publishing LLC, Whitefish, USA. 19 | Baxandall, Michael »Löcher im Licht. Der Schatten und die Aufklärung« München: Fink 1998.

Einleitung

ßen Wissenschaftler und Künstler Leonardo Da Vinci, der in seinem »Buch von der Malerei« als einer der ersten das unheimliche Potenzial des Schattens erkannte und ihn auf 558 Seiten die Ehre von 290 Erwähnungen zukommen ließ. Diese zentralen Texte sind prägend für die Schattenforschung im ästhetischen Feld. Um diese herum existieren noch weitere Texte, auch von den erwähnten Autoren, die, einmal für den Schatten sensibilisiert, nicht umhinkommen, ihn immer wieder ins Licht zu rücken, das unsere Epoche bisher zu bestimmen scheint. In meinen Untersuchungen stellte ich fest, dass der Schatten immer wieder hereinbricht, gleichsam wie ein Lichtstrahl, und unerwartet mannigfaltige visuelle wie auch textliche Auseinandersetzungen mit ihm existieren – über die Zeit hinweg, durch alle medialen Formen der Ausdrucksmöglichkeiten hindurch. In einigen Bereichen scheint er zunächst als solcher zu verschwinden, wie im Bereich der Fotografie, durch den Verlust des analogen Negativs und ebenso im Ikonografischen der Kunstfotografie. In anderen Bereichen wie der Lichtkunst und Architektur scheint der Schatten sich erneut zu etablieren. Für die angewandten technischen Wissenschaften war er bisher uninteressant, scheinbar nicht nützlich, da er nicht das Potenzial des Lichts zur Übertragung von Informationen und Energie besitzt 20. Obwohl eine grundlegende Eigenschaft des Schattens in seiner Mitteilbarkeit, seiner visuellen Übertragungsmöglichkeit, im Plastischen wie im Räumlichen, manifestiert ist, scheint es, dass er erst langsam aus einem unbestimmten Dunkel herauszutreten vermag. Seit geraumer Zeit ist der Schatten Thema großer kuratierter Ausstellungen, wie »Schatten, Schatten« im Museum für Gestaltung Basel 2001 21, »Schattenspiel. Schatten und Licht in der zeitgenössischen Kunst« eine Hommage an Hans Christian Andersen in der Kunsthalle Kiel 2005,22 »D’ombra« im Palazzo delle Papessein Siena 2006,23 »La Sombra« im Museo Thyssen-Bor20 | Grundlage hierfür ist ein Gespräch mit Prof. Dr. Dieter Schumacher, geführt am 07.10.2009 in den Räumen der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 21 | Vergl. Museum für Gestaltung Basel / Götz, Matthias / Haldner, Bruno / Buschle, Matthias »Schatten, Schatten: der Schatten – das älteste Medium der Welt« Basel: Schwabe 2003. 22 | Vergl. Kunsthallen Brandts Klaedefabrik / Sadowsky, Thorsten »Shadow play – shadow and light in contemporary art; a homage to Hans Christian Andersen« in occasion of the Exhibition »Shadow Play. Shadow and Light in Contemporary Art« 28.05.200528.08.2005, Kunsthallen Brandts Klaedefabrik, Odense; 18.09.2005-27.11.2005, Kunsthalle zu Kiel, Kiel; 26.01.2006 - 01.05.2006, Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum, Linz; Heidelberg: Kehrer 2005. 23 | Vergl. Vergine, Lea »D’OMBRA« Palazzo delle Papesse di Siena e MAN di Nuoro hanno dedicato al tema dell’ombra. Milano: Silvana 2007.

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nemisza Fundación Caja in Madrid 2009.24 Den Schatten thematisch als roten Faden einer Ausstellung herauszustellen, verweist auf sein Konvolut an Möglichkeiten. Zum einen ist es der Blick auf eine Zeit, die sich im Verhältnis zum Dargestellten an einer Schwelle des Übergangs befindet. Schatten wird nicht mehr gemalt in einem intentionalen Akt der Empfindung, der Unmöglichkeit seiner als Kopie, sondern wird als Möglichkeit, als Link zum »Es ist so gewesen« abgebildet, archiviert und projiziert. Er ist selbst zum Malmittel geworden. Es ist dies der Verweis auf eine scheinbare Entmaterialisierung, wie exemplarisch der Verlust des Negativs in der Fotografie und im Film, aber auch der Verweis auf das Verschwinden des Schattens als Motiv in der bildlichen Darstellung. Der bildbestimmende, das Bild in hell und dunkel teilende Schatten weicht zurück, zugunsten einer diffusen Bestimmung, die alles in einem gleichwertigen unbestimmtem, akzentlosen Licht präsentiert.25 Trotz dieses offensichtlich erscheinenden Verlustes wird der Schatten andererseits wieder zum Thema selbst. In seinem Verschwinden taucht er in einem anderen Sinnund Bedeutungsgefüge erneut auf.

Zwischenresümee Der Begriff »Schatten« begegnet uns, wie eingeführt, in vielfältiger Art und Weise. Sein Gebrauch ist ein sehr offener und ambivalenter. Die einzelnen semantischen Bestimmungen lassen sich nicht immer streng voneinander trennen, da sie häufig in einander übergehen. Schatten meint zunächst die »hinter einem beleuchteten Körper entstehende dunkle Fläche, deren Umriß dem des Körpers entspricht, Dunkel, Dämmerung, visionäre Erscheinung, Geist« aber auch »Sorge, Kummer, Spur, Anzeichen«. Die teils auf einen maskulinen, teils auf einen femininen Wortstamm (germ. skaþwa- m., skaþwõ- f.) beruhenden germanischen Formen scato, scatawes, schate, schatewe, schetewe, skado, schāde, sc(e)adu, sceadewe, shadewe, shade, shadow, scāde, scāduwe, shaduw, skadus lassen sich mit dem griechischen skotós »Finsternis, Dunkel« und dem dehnstufigen altirischen scāth »Schatten, Schutz, Spiegel«

24 | Stoichita, Victor / Arburg, Hans-Georg von »La sombra« Museo Thyssen-Bornemisza Fundación Caja de Madrid 2009. 25 | Belege hierfür sind die seriellen fotografischen Arbeiten von Bernd und Hilla Becher, die damit einen neuen Weg in der Fotografie einschlugen und die gefolgt von Ruff, Höfer, Gursky und vielen anderen, maßgeblich die Fotografie als Kunstform etablierten. In ihren Arbeiten tritt das Licht in seiner besonderen Form des Diffusen in den Hintergrund und bestimmt als scheinbar abwesendes das Bild, bzw. lässt anderes im Bild hervortreten und dieses bestimmen.

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verbinden.26 Erwähnt ist das 8. Jahrhundert, in dem das Wort skato, scatawen, scatawes im Althochdeutschen zunächst auftauchte.27Weiterhin tauchen Bezüge zu anderen Sprachen auf wie »Bey dem Willeram Scade, bey dem Notker Scato, Scatue, bey dem Ulphilas Skadau, im Angels. Sceadu, im Engl. Shade, Shadow, im Holländ. Schaduwe, im Wallisischen Ysgod, im Bretagnischen Skeut«.28 Mehrfach wird darauf verwiesen, dass der Schatten nicht nur Schatten ist, sondern mehrere Wörter auf ein und denselben Wortstamm verweisen. »Es scheinet, daß in diesem Worte zwey verschiedene Hauptbegriffe liegen, die aber doch aus Einer gemeinschaftlichen Quellen fließen, der Begriff eines Bildes, und der Begriff der Dunkelheit; jener ist eine Figur des Lichtes, dieser aber des hohlen Raumes, beyde aber stammen von dem Begriffe der Bewegung und ihrer Richtung her.« 29

Das Motiv der Bewegung, das zunächst auf den ersten Blick nicht so präsent zu sein scheint, wird auch im Grimmschen Wörterbuch wieder aufgenommen »schatten als etwas bewegliches. die bewegungen des körpers übertragen sich auf den schatten«30. Den Schatten als etwas dem hohlen Raume Entsprechendes zu denken ist ungewöhnlich. Es kann jedoch eine Brücke zu den Untersuchungen von Baxandall geschlagen werden, der die Schatten als »Löcher im Licht« beschreibt. Jedoch selbst, wenn dieser in Form eines Hohlraumes gedacht werden kann, so meint Hohlraum nicht Leere oder nichts, sondern zunächst mögliches Volumen innerhalb einer Struktur, eines anderen Volumens. Im natürlichen Erscheinen verändert und bestimmt der Hohlraum die Struktur dessen, das ihn umgibt. Ein Hohlraum muss nicht zwangsläufig in sich geschlossen sein, sondern kann Eingänge und Ausgänge besitzen. Im Allgemeinen können hier exemplarisch natürliche Erscheinungen in Form von Höhlen, geologisch als Ort im Gestein, medizinisch als Ort im menschlichen Körper oder in Formen aufgrund chemischer Reaktionen oder gestalterischen Handelns auftreten. Der lateinische Wortstamm umbra deckt zudem noch andere Bereiche auf. Der Schatten als Eigentliches steht durch ihn im Zusammenhang mit dem Abend, poetisch für Dunkelheit und Finsternis; als Bildliches für Schutz, Schirm, Zuflucht, Muße, behagliche Ruhe, Schein (im Gegensatz zur Wirklichkeit), Spur, Abbild. In diesem Bereich der Bedeutung 26 | Vergl. Pfeifer, Wolfgang »Etymologisches Wörterbuch des Deutschen« München: Deutscher Taschenbuchverlag 1997. 27 | Vergl. Köbler, Gerhard »Althochdeutsches Wörterbuch« Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1993. 28 | Adelung, Johann Christoph »Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart« Th. 3. M-Scr. 2. Ausg. Leipzig: Breitkopf 1798 S. 1370-1372. 29 | Ebd. 30 | Dückert, Joachim [Hrsg.] »Das Grimmsche Wörterbuch« Leipzig: Hirzel 1987.

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des Wortes Schatten, weist dieser auf Begriffe hin, die eine neutrale oder eher positive Konnotation besitzen. Dies ändert sich, wenn wir in den Bereich der Übertragungen und des Metonymischen gelangen. Im übertragenem Sinne spricht der Georges31 den Schatten in der Malerei als Gegensatz zu Lumen und den Schatten als Begleiter, als uneingeladenen Gast, an. Er erscheint als »ein Tischgenoß bei römischen Gastmählern, der nicht von dem Gastgeber eingeladen, sondern von einem Gaste mitgebracht worden war.«32 Metonymisch verweist er auf das Schattige, die Schattengestalt, sowie das Schattenreich im Bezug zur Unterwelt. Der Schatten wird zu Spukbildern wie Gespenstern, Geistern, Schreckbildern, mit denen gleichermaßen die Seelen der Verstorbenen gemeint sind. Hier treten Schatten von Schatten auf. Der Schatten wird zum Bild der Vorstellung unserer selbst. Wir glauben etwas zu sehen, was nicht existent, aber als Bild vorhanden zu sein scheint. Es ist ein Verweis auf überlieferte Mythen, Sagen und Märchen, die in unserem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben sind. Im weiteren Umfeld von umbra liegen die Worte umbrabilis, umbraculum, umbraliter, umbraticola, umbraticus, umbratilis, umbratiliter, umbratio, umbrella, umbresco, umbrifer, umbro, umbrosus. Ihre Bestimmung kreist um ähnliche Bedeutungsräume wie Trugbilder, ein abgelegener, ruhiger Ort im Gegensatz zum öffentlichen Leben, Sonnenschirm, Schattenmensch, Faulenzer, Stubenhocker, jemand, der nur Truglehren gibt, behaglich lebend, im Schattenrisse, mit vorbildlichen (vorbedeutenden) Zeichen, durch den leeren Schein, zu Schatten werden, im Schatten stehen.33 Der Wortstamm umbra taucht im Bezug zum Schatten in negativen sowie in positiven Konnotationen auf. Sein Signifikantes ist, dass er vom Betrachter, vom Wahrnehmenden, bestimmt und klassifiziert wird. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass der Schatten als Personifikation, als Ort, als etwas Scheinbares, als Scheinbild gesehen wird. Er kann Schutz, Zuflucht und Ruhe bieten und ist zunächst ein neutrales, weder positiv noch negativ konnotiertes Objekt, in dem jedoch beides angelegt ist. Auf eine spezifische Eigenheit weist das Wort umbrosus hin, das in einem vereint, was Schatten sein kann. Zunächst meint es die Möglichkeit, Schatten zu geben, als aktive Form im Sinne von Schatten spenden – eine 31 | Georges, Karl Ernst »Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch« Bd 2 Nachdr. der Ausg. Hannover, Hahn, 1916/19 Darmstadt: Wiss. Buchges. 1995 Bd 2 Sp.3290 umbra. 32 | Pierer, Heinrich August [Hrsg.] »Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe« Altenburg: H.A. Pierer 1857 S. 147. 33 | Georges, Karl Ernst »Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch« Bd 2 Nachdr. der Ausg. Hannover, Hahn, 1916/19 Darmstadt: Wiss. Buchges. 1995 Bd 2 Sp. 3293 umbrosus.

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Gabe, eine Möglichkeit, etwas abgeben zu können, wie gleichermaßen, etwas zu geben an etwas anderes, an einen anderen. Des Weiteren liegt in der Bedeutung als mögliche passive Form das Beschattetwerden (Beschattetseinsein) von etwas anderem, durch etwas anderes. Es ist das ihm innewohnende Element des Sowohl-als-auch, das immer wieder hervortritt. Schatten kann beides sein, etwas Schatten Gebendes, aber auch auch etwas im Schatten von etwas anderem Liegendes, etwas nicht auf den ersten Blick zu Erkennendes. Es ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch, das dem Schatten als Phänomen gegeben ist. In den Begriffen adumbratio, adumbratus, adumbro klingen weitere Bestimmungen an, die nochmals auf eine bestimmte Form von Dualität verweisen, auf die Dualität von Bild und Wort. Es sind dies die Nähe zum Entwurf, zur Skizze, zur Andeutung – in Zeichnung wie in Worten. Als Andeutung, als Vergehendes, als Entschwindendes taucht er bei Adelung auf: »In einer andern Rücksicht ist der Schatten ein sehr gewöhnliches Bild einer entkräfteten äußern Gestalt. Er vergehet wie ein Schatten. Er siehet aus wie ein Schatten. Er ist einem Schatten ähnlicher als einem Menschen«.34 Kurz zuvor spricht er »Lauter Morgenländische, theils von der Vergänglichkeit, theils von der beständigen Bewegung des Schattens hergenommene Bilder« an, indem er Verweise auf ausgewählte Bibelstellen35 angibt. Zeit und Bewegung tauchen immer wieder als zentrale Begriffe, unabhängig davon auf, wie das Wort Schatten verwendet wird. Der Schatten bleibt nie der gleiche, er unterliegt ständiger Änderung und ständigem Wandel. Er wächst und schrumpft, er wird dunkler und heller, er flackert und steht still, seine Ränder verschwimmen und werden wieder messerscharf. All dies sind existentielle Bezüge zu Raum und Zeit, die ihn in seiner Erscheinung beschreibbar machen. Eine Variante davon taucht im Märchen »Der Schatten« von Hans Christian Andersen auf. »Eines Abends saß der Fremde auf seinem Altan; in der Stube, gerade hinter ihm brannte ein Licht, und so war es ganz natürlich, dass sein Schatten auf die Wand des gegenüberstehenden Hauses fiel; ja, da saß er gerade zwischen den Blumen auf dem Altan; und wenn der Fremde sich bewegte, dann bewegte sich auch der Schatten. — ›Ich glaube, daß mein Schatten das einzige Lebendige ist, was man da drüben sieht‹ sagte der gelehrte Mann. ›Siehe, wie hübsch er da zwischen den Blumen sitzt, die Thür steht nur angelehnt, nur sollte der Schatten so gescheidt sein und hineingehen, sich drinnen umsehen und dann zurückkommen und mir erzählen, was er da gesehen. Ja du würdest dich 34 | Adelung, Johann Christoph »Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen« 1806 / Th. 3. M-Scr. 2. Ausg. Leipzig: Breitkopf 1798 S. 1370-1372. 35  |  Vergl. Lutherbibel 1912 www.bibel-online.net/buch/luther_1912 vom 22.01.2016 Hiob 14 »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, gehet auf wie eine Blume und fällt ab, fleucht wie ein Schatten und bleibet nicht.«

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Medienästhetik des Schattens dadurch nützlich machen‹ sagte er wie im Scherz. ›Sei so gut und tritt hinein! Nun, wirst du gehn?‹ und dann nickte er dem Schatten zu und der Schatten nickte wieder. ›Nun, geh nur, aber bleibe nicht ganz weg!‹ und der Fremde erhob sich, und der Schatten auf dem Altan gegenüber erhob sich auch, und der Fremde kehrte sich um und der Schatten kehrte sich ebenfalls um; ja, wenn Jemand genau darauf Acht gegeben hätte, so hätte er es deutlich sehen können, wie der Schatten gerades Wegs durch die halbgeöffnete Atlanthür des gegenüberliegenden Hauses in demselben Augenblick hineinging, wo der Fremde in seine Stube zurückkehrte und den langen Vorhang herabfallen ließ.« 36

Was hier noch auftaucht, ist ein Bezug zu einer Individualisierung, zu einer Autonomie des Schattens. Der Schatten trennt sich auf Geheiß seines Schattengebers und führt ein eigenständiges Leben, autonom und unabhängig, so unabhängig, dass er am Ende zur lebensbedrohlichen Gefahr für seinen früheren Herrn wird. Der Schatten ist nicht nur durch seine offene Unbestimmtheit, sondernauch durch seine unbestimmte Erscheinung eine Metaphernquelle, die sich über die Zeit hin eher füllt, als dass sie versiegt. Die etymologische Weite des Wortes Schatten findet ihr Pendant in ganz unterschiedlichen Bereichen und Wissenschaften, in denen der Schatten thematisiert wird – stets eine autonome Position behauptend sowie durch seine Eigenschaften untereinander rhizomatisch verbunden. Er steht auf dem Gebiet der Psychologie für einen Teil der Theorie C.G. Jungs, in dem er ihn als Gegenstück zum Archetyp der Persona darstellt. Der Archetyp des Schattens steht für die negativen, sozial unerwünschten und unterdrückten Züge der Persönlichkeit, für jenen Teil des Ich, der wegen gesellschaftsfeindlicher Tendenzen in das Unbewusste abgeschoben wird, also für den Teil des Unbewussten im Sinne Freuds. Er ist nicht nur Ausdruck eines persönlichen Unbewussten, sondern es sind wie in allen archetypischen Bildern auch im Schattentypus kollektiv unbewusste Inhalte enthalten. Der Schatten ist ebenso Forschungsschwerpunkt in der Hirnforschung. Im Jahre 2003 wurde ein Forschungsbericht veröffentlicht, in dem nachgewiesen wurde, dass der Mensch den Schatten als Teil, als Erweiterung seines eigenen Köperbildes, seines eigenen Körpers empfindet.37 Bisher kannten Wis36 | Andersen, Hans Christian »Der Schatten« in »Gesammelte Märchen: Vollständige vom Verfasser besorgte Ausgabe« Leipzig: Carl B. Lorck 1850. 37 | Pavani, Francesco; Castiello, Umberto »Binding personal and extrapersonal space through body shadows« in »Nature Neuroscience 7« doi:10.1038/nn1167 »Shadows in visual scenes can have profound effects on visual perception. Here we have found that visual distracters distant from the body interfere with human spatial discrimination of tactile targets at a hand, particularly when the shadow of the stimulated hand stretches toward them in extrapersonal space. These findings suggest that shadows cast by a person’s own body parts can bridge the gap between personal and extrapersonal space.«

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senschaftler ein derartiges Phänomen in diesem Maße nur von Gegenständen und prothetischen Erweiterungen. Dass auch ein Schatten als Erweiterung des eigenen Körperbildes nachweislich wahrgenommen wird, ist neu. Aufgrund von Untersuchungen wurde belegt, dass das geistige Bild des eigenen Körpers den Schatten mit einschließt. Dieser Gedanke erschien schon sehr früh in den Religionen und Sitten der Völker und taucht in antropologischen Forschungen auf.38 Der Schatten wird hierbei oftmals als Form der Seele gedacht. Ihm darf nichts wiederfahren, zustoßen, er darf nicht betreten werden, er darf sich nicht über offene Gräber legen, da sonst seinem Menschen Unheil widerfährt. In den Anfängen der Fotografie als bildgebendes Verfahren manifestierte sich die These des Seelenklaus an Hand ihrer historischen Bezüge zu Sagen und Märchen, auf religiöse Mythen und Bestimmungen. Mit dem Entstehen einer neuen Technik wurden aufgrund ihrer Unerklärbarkeit die Mythen der Ahnen erneut befragt und als Antwort auf das Nichtwissen als gegeben angenommen. Wenn nun die wissenschaftliche Erkenntnis vorliegt, dass der Schatten eine Erweiterung des menschlichen Körperbildes darstellt, kann nun der Frage nachgegangen werden, ob dies über Zeit und Raumverhältnisse Bestimmung erfährt oder ob dies unabhängig davon gedacht werden muss. Als Grundlage dafür muss ein Erkennen und konnotatives Bestimmen des Schattens, des Bildes noch möglich sein. Ebenso müsste das Wortfeld eine erneute Untersuchung erfahren, um dies an die Gegebenheiten im 21. Jh. anzugleichen. D.h., der einstige Schatten, ursprünglich durch ein natürliches Licht, das der Sonne, des Mondes, des Feuers, erzeugt, wird heutzutage durch mannigfaltige Lichtquellen bestimmt. Das, was ihm nicht verloren gegangen zu sein scheint, sind seine existentiellen Bedingungen, die Beziehung zu einem Objekt, das sich dem Licht in den Weg stellt, wie eine Projektionsfläche, die den Schatten zu einer Sichtbarkeit erhebt.

38 | Frazer, James »Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker« Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2004.

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Bildbetrachtungen Vorweg muss auf die unterschiedlichen medialen Formen der Repräsentation der künstlerischen Arbeiten verwiesen werden. Keine Arbeit lag diesem Text im Original zugrunde, vielmehr wurden die künstlerischen Arbeiten anhand einer Übertragung, einer Reproduktion, einer Dokumentation, einer Interpretation, die in ihren medialen Erscheinungsformen begründet lagen, untersucht und beschrieben. Alle Arbeiten sind in Zeiten und mit Mitteln ihrer ihnen eigenen technischen Reproduzierbarkeit entstanden bzw. nutzen diese als Möglichkeiten ihrer Erscheinung. Während mit der Entdeckung der Fotografie ein Zeitalter des Kunstwerks der technischen Reproduzierbarkeit sich mit wachsender Intensität durchsetzte, hat sich dies heutzutage in gängiger Praxis, in Gesten, Handlungen und Ritualen des alltäglichen Gebrauchs eingeschrieben. Paul Valery beschrieb dies bereits im Jahr 1934 mit damaligem Blick in die Zukunft: »Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einem fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern und Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen, einstellen und uns ebenso wieder verlassen.«1

Das, was bei einer Übertragung in ein anderes technologisch bestimmtes Medium verloren geht, eine Umschreibung erfährt, gewinnt mit dieser ein Potenzial an Möglichkeitsbestimmungen. Die der Untersuchung zugrunde liegenden Arbeiten treten teilweise in medialen Bestimmungen auf, die zur Zeit ihrer Entstehung technisch noch undenkbar waren. Für die analoge Fotografie (vergl. Alexander Rodtschenko) war es bis dato in ihrer Rückbezüglichkeit zur Malerei und zu Techniken des Druckens ein erster Bruch, was die immer dringender werdende Frage nach Original und Kopie aufwarf. Demgegenüber standen Fragen, die zu dieser Zeit auch Rodtschenko umtrieben. 1 | Valery, Paul in Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« Frankfurt/M: Suhrkamp 1969 S. 13 mit einem Verweis auf das Original Valéry, Paul: Pièces sur l’art Paris [o. J], p. 105 »La conquête de l’ubiquité«.

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Für Alexander Rodtschenko sollte das Mittel der Fotografie ein gewisses Differenzverhältnis zur bisherigen Malerei einnehmen, nicht ihre Bilder, ihre Perspektiven, ihren Blick wiederholen, sondern: »Der neue, schnelle und reale Reflektor der Welt, die Fotografie, sollte sich möglichst mit dem Abbilden der Welt von allen Punkten aus befassen, sollte zur Fähigkeit erziehen, von allen Seiten zu sehen.«2

Das dies eine Verbindung zur Relational Art (vergl. Rafael-Lozano Hemmer) einnimmt, ist in der ausgewählten Arbeit »Under Scan« sehr gut nachvollziehbar. Es ist das Prinzip einer Multifokalität, eines Sehens in und aus unterschiedlichen Perspektiven. Hemmer bietet dem Betrachter unterschiedliche Formen der Wahrnehmung wie Anteilnahme, das hier in Praktiken des technologischen Erfassens und Archivierens wie Abrufens und Übertragens zur Sichtbarkeit erhoben wird. Bei den untersuchten künstlerischen Arbeiten steht nicht mehr ausschließlich die Frage nach dem Schatten als subjektgegebene wie subjektbestimmende Erscheinung im Raum, wie er diese eine Bestimmung erfährt, die Frage nach Original und Kopie, sondern ebenso etwas Grundlegenderes. Es ist die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Bildlichkeit in ihrer heutigen technologischen Form der Erscheinung und Bestimmung, wie nach der Erzeugung von Bildlichkeit und der ihr immanenten Differenz sowie nach der Verhältnisbestimmung des synthetischen wie realen Bildes.

2 | Rodtschenko, Alexander »Wege der zeitgenössischen Fotografie 1928« in Stiegler, Bernd [Hrsg.] »Texte zur Theorie der Fotografie« Stuttgart: Reclam 2010 S. 182.

B ildbe tr achtung F otogr afie »Untitled« [Nude and shadow] Alexander Rodtschenko I Fotografie I 1930

Abb. 01 Alexander Rodchenko »Untitled« 1930; gelatin silver print, 22.07cm x 29.21cm Collection SFMOMA, Purchase; Estate of Alexander Rodchenko / RAO, Moscow / VAGA, New York (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

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Vorstellung des Künstlers und der Arbeit Das erste Bild in der Kategorie der Bildbetrachtungen ist eine Fotografie des russischen Konstruktivisten Alexander Rodtschenko. Rodtschenko setzte sich maßgeblich mit europäischer Fotografie und der Zeit, in der er lebte, auseinander. Er suchte nach einem neuen Blick, nach einem neuen Sehen der Dinge des Alltäglichen. Rodtschenko fotografierte aus ungewöhnlichen Perspektiven und schuf Bildkompositionen, die durch eine besondere Strenge sowie grafische Bildelemente bestimmt wurden. Neben seiner Arbeit als Grafiker, Maler, Bildhauer und Architekt fertigte er Texte an, die über die alleinige Auseinandersetzung mit Fotografie hinausgingen. Seine Texte erzählen vom Leben, von der Bedeutung des Alltäglichen, von anderen Einstellungen zur Wirklichkeit. »Ihm ging es nicht nur um eine radikale Abkehr von tradierten Wahrnehmungsformen und Verhaltensweisen, sondern um die künstlerische und zugleich alltagsfähige Erschließung einer neuen Wirklichkeit.« 1

Besonders an seinen fotografischen Arbeiten ist dieses bestimmte Wollen sehr deutlich ablesbar. Rodtschenko wurde über einer Theaterbühne geboren, am Newski Prospekt in Sankt Petersburg. Dort verbrachte er die ersten zehn Jahre seines Lebens. Sein Vater arbeitete im Theater als Requisiteur. Dies hat Rodtschenko sein Leben lang geprägt. Er beschreibt das Theater, die Bühne, die Kulissen als das ihn treffende wirkliche Leben. »Ich habe meine erste Landschaft auf der Bühne gesehen, und meine ersten Blumen hat mein Vater gemacht. Mit einem Wort, ich sah all das Alltägliche, Wirkliche im Leben, unter dem Aspekt des falschen und künstlichen.« 2

Für Rodtschenko war das Theater die Welt, in die man über die Treppe aus dem vierten Stock der Dienstwohnung gelangte. Er hatte als Kind die Vorstellung, dass die Stadt nur aus Theatern bestand. Wenn er eine kleine Rolle auf der Bühne spielen durfte, so spielte er sie für die Kulissen und die Schauspieler. Das Publikum, im unbestimmten Dunkel des Theatersaales, war ihm gleich. Schaut man sich seine Fotografien unter diesem Aspekt genauer an, so begegnet einem der Blick des Kindes, das vom Schnürboden auf die Theaterbühne hinuntersieht. Mit diesem Blick sah er das, was normalerweise in dieser Sichtbarkeit vom Theaterbesucher nicht wahrgenommen werden kann. Es sind, die 1 | Rodtschenko, Alexandr / Schahadat, Schamma [Hrsg.] / Stiegler, Bernd [Hrsg.] »Schwarz und Weiß – Schriften zur Photographie« Paderborn: Fink 2011 S. 418 f. 2 | Rodtschenko, Alexander / Gallissaires, Pierre [Hrsg.] »Alles ist Experiment. Der Künstler-Ingenieur« Hamburg: Nautilus 1993 S. 14.

Bildbetrachtung Fotografie

auf ein Minimum zusammen geschrumpften Körper der Darsteller mit ihren übergroßen Schatten, die auf dem Bühnenboden abgebildet werden.3 Dies sind Merkmale, die auch in der ausgewählten Fotografie zu finden sind, als eine Art konnotativer Bestimmungen, die in der bisherigen kurzen Beschreibung eine Verbindung zum Urbild der Schattendarstellung, zu Platos Höhle, evozieren. Jedoch dazu später. Zunächst werde ich auf die sichtbaren Schatten im fotografischen Bild »Untitled [Nude and shadow]« von Alexander Rodtschenko eingehen, werde versuchen, ihnen anhand einer Beschreibung näherzukommen sowie den Schatten als Besonderheit im fotografischen Bild zu erfassen.

Bildbetrachtung Betrachtet man die vorliegende Fotografie von Alexander Rodtschenko, ist ihr Bildinhalt aus unterschiedlichen Gründen auffällig. Es existieren offenbar zwei bildbestimmende Ebenen. Dies sind die stark grafische Bildkomposition sowie das ungewöhnliche Bildmotiv. Beginnen wir mit dem Motiv, der Standortbestimmung der Fotografie und sehen uns anschließend die Komposition des Bildes unter dem Aspekt unseres Untersuchungsgegenstandes, des Schattens, der hier unhintergehbares gestalterisches Merkmal ist, an. Das Motiv des Bildes stellt eine weibliche Person, die am Boden sitzt, dar. Ihr Körper und ihr Gesicht sind vom Betrachter abgewandt. Ihr Gesicht ist nicht erkennbar. Ihr Körper ist durch die extreme Draufsicht bis auf ein Minimum verkürzt, auf einen Klumpen Fleisch unförmig zusammengeschrumpft. Das Bild ist stark gekennzeichnet durch die extreme Perspektive der Aufnahme sowie durch seinen hohen Hell-Dunkel-Kontrast. Herausragendes und bildbestimmendes Element ist der Schlagschatten der abgebildeten Person. Er nimmt im Bild die Rolle des Hauptdarstellers ein. Die Person, die ihn wirft, fällt hinter ihm zurück. Sie tritt metaphorisch gesehen in seinen Schatten und wird zum Schatten des Schattens. Die Interpretationsgefüge kehren sich um. Das Motiv fällt ebenso auf – durch seine besondere Form der Banalität. Es steht für eine Alltäglichkeit, für ein allgemein Bekanntes und daher als ein der Betrachtung nicht wert zu sein Scheinendes. Der Name der abgebildeten Person taucht nicht einmal im Titel des Bildes auf – annehmen kann man, es ist Warwara, die Frau Rodtchenkos. Rodtschenkos Anliegen war, wie mehrfach in seinen fotografischen Arbeiten, genau dieses Alltägliche zu sehen und neu abzubilden, mithilfe seiner ihm eigenen Möglichkeiten. Die Gesten und Riten des Alltags, mit dem ihm innewohnenden Zauber, stellten für ihn einen besonderen Wert dar. Das Be3 | Ob es nun die Bühne der Straße ist, auf der Personen sich auf eine Demonstration vorbereiten, oder der Blick von oben auf die Theaterbühne, von wo aus die Schatten der Darsteller sichtbar sind oder Illustrationen zu Tretjakows Kinderbuch »Samoswer«.

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sondere war für ihn nicht die Herausgehobenheit des Anlasses, wie dies im Allgemeinen den sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie zu dieser Zeit inhärent war4, sondern das fotografische Bild nicht seinem Anlass, seinem Auftrag unterzuordnen, dass zunächst offenbar wertlose Motiv dem Alltag zu entreißen. In diesem Anliegen zeigt sich der Wille Rodtschenkos, die Besonderheit des Augenblicks zu heben und darzustellen. Diese Besonderheit liegt in der Bewegung, kommt aus dem Leben heraus, in das der Augenblick eingebettet ist – und sie liegt nicht in dem davor in welchem er als Zuschauer, als Voyeur, als Fotograf zu stehen kommt. Das Motiv des Alltäglichen erfährt in dem vorliegenden Bild eine besondere Form der Vertiefung, indem wir zwei weitere Bilder hinzuziehen können, die am gleichen Ort, unter ähnlichen Umständen entstanden sind.

Der Ort Der Ort muss für Rodtschenko ein besonderer Ort der Inspiration gewesen sein. Anders ließe sich seine fast eindeutige Verwendung in mindestens drei Fotografien nicht erklären. Im Grunde genommen ist es nur ein Ausschnitt eines Ortes, der im Bild zur Sichtbarkeit gelangt. Dieser Ausschnitt ist offenbar Teil der Wohnung Rodtschenko, ein enger Einblick, der nicht durch die Gegebenheiten der Einrichtung, die Umstände des Wohnens, sondern durch seine Möglichkeiten bestimmt wird. Da ist zunächst der Holzfußboden eines Zim mers, die Bühne der Alltäglichkeit. Dieser Holzboden zeigt Spuren der Benutzung, teilweise blättert Farbe ab. Er ist alt und zeigt Blessuren, die über einen längeren Zeitraum entstanden sein müssen. Die Bretter, die ihn bestimmen, sind in zwei Richtungen verlegt. Sie stoßen in einem Winkel von 90 Grad aneinander und lassen in der Mitte des oberen Bildrandes einen Teil einer Wand, ein Türfutter erkennen. Der Boden ist der Boden eines einfachen Zimmers, der Boden einfacher Leute. Auf ihm vollzog sich das alltägliche Leben, auf ihm fanden die Dinge statt. In der Art, wie sich die Holzdielen im Bild zeigen, verweisen sie auf einen Übergang, auf eine Schwelle, eine Türöffnung. Diese führt auf einen Balkon hinaus. Der Schwellenraum verbindet einen Innenraum mit einem Außenraum, ebenso wie er diesen von jenem trennt. Dieser Ort ist gekennzeichnet durch seine Möglichkeit der Offenheit, durch seine Möglichkeit das Sonnenlicht hereintreten zu lassen und diesem, gleichsam auf einer Bühne, etwas in den Weg zu stellen. Blicken wir auf die beiden eben schon angesprochenen auch an diesem Ort entstandenen Bilder, so erfährt dieser Eindruck eine Verstärkung.

4 | Vergl. Bourdieu, Pierre / Boltanski, Luc »Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie« Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006.

Bildbetrachtung Fotografie

Abb. 02 Alexander Rodchenko »In der Wanne« 1932; Abb. 03 Alexander Rodchenko »Rodchenko in der Balkontür stehend« 1932; (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

Das linke Bild (siehe Abbildung 2) zeigt ein unbekleidetes Kind, mit hoher Wahrscheinlichkeit Rodtschenkos Tochter. Sie sitzt in einer mit Wasser gefüllten Waschschüssel und blickt den Betrachter an. Im Blicken verdeckt es mit beiden Händen ihr rechtes Auge. Es scheint, als wiederhole es die Geste Rodtchenkos, dessen eine Gesichtshälfte beim Akt des Fotografierens von der Kamera verdeckt wird. Beide begegnen sich als einäugig Sehende. Die Waschschüssel steht auf dem Boden des Zimmers an der Schwelle der Tür, genau genommen vor der Schwelle, jedoch im Inneren des Zimmers. Das Sonnenlicht scheint fast über den gesamten Körper des Kindes. Einzig der Schatten des Türrahmens und des fotografierenden Rodtschenkos berühren es. Das Kind ist eingebettet in das Licht des Dazwischen, zwischen den Schatten der Bildränder sowie im Dazwischen von innen und außen. Rodtschenko steht in der Türöffnung, mit dem Rücken zur Sonne, zum Außen. Er nimmt dabei analog den Blick der Sonne ein, den er an uns, an den Betrachter der Fotografie, weiterreicht. Seine Blickrichtung und die Richtung des einfallenden Lichtes gleichen einander, auch in der Möglichkeit und Form ihrer Berührung. Auf dem rechten Bild (siehe Abbildung 3) steht eine männliche Person – dem Titel nach Rodtschenko selbst – im Rahmen der geöffneten Tür. Er steht wiederum mit dem Rücken der Sonne zugewandt, allerdings mit dem Unterschied, dass er in Richtung Kamera zu blicken scheint. Rodtschenko hat im Moment der Aufnahme nicht gesehen, was er im fotografischem Akt festhielt. Erst nachdem der Film entwickelt war, offenbarte sich ihm das Bild seiner Annahme. Der Künstler und die Kamera, die immer die Rezeptionsperspektive beschreibt, stehen sich mit gesenktem Haupt gegenüber. Als einziger Körperteil sind Rotdschenkos Füße im Bild abgebildet und sichtbar. Oberhalb davon erfuhr der Körper durch den Rand des Bildes einen Schnitt. Es ist ungewöhnlich, dass zugunsten des Schattens, der Mensch, der diesen wirft, außerhalb des Bildes, als Verweis, als Andeutung verbleibt. Rodtschenkos Schatten fällt in das Zim-

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mer hinein und trifft auf den Holzboden, der sich als Projektionsfläche anbietet. Der Schatten verharrt im Verweis und der Ankündigung auf etwas, was kommen wird oder im Begriff ist zu verschwinden. Dieser Schatten entblößt die Figur, indem er sie als Silhouette zeichnet. Die Füße im Bild sind nicht der Verweis auf eine Unachtsamkeit, auf einen Fehler in der Aufnahme, sondern es ist dies die bewusste Andeutung einer bestimmten Körperlichkeit, einer bestimmten Form von Anwesenheit wie auch Abwesenheit im Bild.

An der Schwelle Dieser Ort hat Rodtschenko inspiriert, jedes Mal von Neuem, wenn das Sonnenlicht über die Schwelle der Tür in das Zimmer getreten ist und dazu aufgefordert hat, ihm etwas in den Weg zu stellen. Kehren wir zurück zum Bild »Untitled [Nude and shadow]«, das offenbar auch an diesem besonderen Ort entstanden ist. Die Türschwelle markiert Eingang und Ausgang des Zimmers gleichermaßen. An ihr steht gedanklich der Betrachter, der Rezipient der Fotografie, an ihr stand Rodtschenko als Fotograf. Über diese Schwelle, durch diesen Gang treten Dinge in das Zimmer ein oder treten aus dem Zimmer heraus, verlassen es. Am Ort der Schwelle sind die Möglichkeiten noch unbestimmt. Das Mögliche zeigt sich hier als eine in beide Richtungen annehmbare Offenheit. Hier, im Innehalten an der Schwelle, kann diesem eine neue Bestimmung, eine neue Wendung, Richtung zugewiesen werden. An dieser Stelle zeigt sich die Janusköpfigkeit, dem das Mögliche des Zurück genauso wie das Mögliche des Voran inhärent ist. Die Schwelle liegt im Jetzt der Zeit und verbindet Vergangenes und Zukünftiges, wie sie eines vom anderen trennt. Im Standbild, in einer Fotografie, ist eine eindeutige Zuweisung dieser Möglichkeit nicht sichtbar. Als Rätsel bleibt der Ausschnitt aus der Zeit, die hier ausschließlich den Moment des Innehaltens zeigen kann. Es ist der Moment, der durch eine bewusste Herausgehobenheit aus dem Alltäglichen zur Sichtbarkeit gelangt. Außerhalb davon verflüchtigt er sich unaufhaltsam. In der Fotografie »Untitled [Nude and shadow]« wendet sich die abgebildete Person in die Richtung außerhalb des Zimmers sowie in die Richtung außerhalb des Bildes. In der Andeutung ihrer Bewegung liegt die Möglichkeit einer Absicht, sich vom Boden zu erheben, sich vom Inneren des Zimmers abzukehren und durch die Türöffnung in ein Außen zu entschwinden. Gleichermaßen beinhaltet, anders betrachtet, das Motiv die Möglichkeit einer Bewegung in Richtung Zimmerboden. Es ist demnach nicht eindeutig bestimmbar, ob im Anschluss an die fotografische Aufnahme sich die Person auf den Boden des Zimmers in ihren Schatten gelegt hat oder ob sie im Begriff war, nach rechts aus dem Bild zu verschwinden. Genau in diesem Schwellenraum des Dazwischen befindet sich die abgebildete schattengebende Person im Bild. Es ist nicht nur die Stelle des Dazwischen an der Schwelle der Tür, an der

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Schwelle der Zeit, sondern es ist ebenso das Dazwische, zwischen Licht und Schatten. Mit ihrer Körperlichkeit bildet sie einen Damm gegenüber dem hereinbrechendem Licht und hält dieses partiell zurück. Ein Teil des Lichtes bleibt im Außerhalb, gehemmt durch den Körper, der sich dem Licht in den Weg gestellt hat. Er bildet nicht nur Damm, sondern ebenso Grenze und Mauer, durch die das Licht unhintergehbar aufgehalten wird. Das tritt in einer bestimmten Form der Sichtbarkeit am Körper hervor. Der Körper erfährt dadurch eine Teilung in einen beleuchteten, dem Licht zugewandten, und in einen verschatteten, dem Licht abgewandten Bereich. Da Vinci beschrieb dies anschaulich in seinem Traktat über die Malerei, in dem er dem Schatten die Möglichkeit absprach, jemals das Licht zu sehen, das ihn hervorbringt. Es ist weder dem Schatten, der am Boden liegt, noch dem Schatten, der auf der dem Licht abgewandten Seite des Körpers liegt, gegeben, in das ihn hervorbringende Licht der Sonne zu blicken. Der Ursprung des Lichts wird aus der Position des Schattens immer verdeckt sein. Zwischen Schatten und Licht steht unweigerlich der Körper. In diesem Bereich des Dazwischen tritt er als eine weitere Form eines Schwellenraumes auf. Er liegt zwischen Licht und Schatten. Es ist der Körper, der eingekeilt zwischen beiden Extremen besteht. Was an seiner sichtbaren Grenze, auf seiner Haut, erscheint, ist zunächst die Beschreibung einer Licht-Schatten-Grenze. Es ist der Bereich zwischen beleuchtetem und verschattetem Teil. Deutlich im Bild erkennbar ist dies an der Stelle des linken Oberarmes. Es zeigt sich die Zuordnung im eigentlichen Sinne, in zwei Kategorien – hell und dunkel, Licht und Schatten. Beim näheren Betrachten, beim Herantreten ans Bild, entfaltet sich an der Licht-Schatten-Grenze ein drittes, ein Dazwischen – ein Noch-nicht, ein Sowohl-als auch. Demnach ist hierbei aus einer bestimmten Entfernung betrachtet, eine Grenze eine Trennung. Im Bewegen zur Grenze hin erscheint sie als Übergang. Licht und Schatten diffundieren oder verbleiben in einem Verhältnis, in dem letztendlich eines von beiden überwiegt. Im Schatten ist demnach immer Licht als Mögliches enthalten, wie im Licht Verschattung möglich ist. Selbst im tiefsten Dunkel wird ein Mögliches an Licht enthalten sein und wenn nur als Information und nicht unbedingt als Sichtbares. Der Schatten ist sowohl in seiner Entstehung als auch in seiner Bestimmbarkeit vom Licht abhängiger. Erst indem dem Licht etwas in dem Weg gestellt wird, zeigt es sich an sich, gleichsam wie in seiner Möglichkeit, einen Schatten sichtbar werden zu lassen. Licht und Schatten zeigen sich an den Dingen, eben so, wie sie sie zeigen und zur Sichtbarkeit erheben. Rotschenko hat bewusst die Wahl eines erhöhten Aufnahmestandpunktes eingenommen. Es ist nicht nur eine Erhöhung, eine Hebung des Blickens, sondern eine Anlehnung an den göttlichen Blick, den er auf diese Weise zitiert. Für ihn war das alles entscheidende Moment, das Punctum, das ihn traf, der Schatten, der plötzlich am Boden des Zimmers aus dem menschlichen Körper

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hervorbricht. Er ist der Hauptdarsteller, um ihn geht es, um seine ihm eigene Qualität, um sein mehr an visueller Kraft. Hierfür ist der menschliche Körper zwar notwendig, jedoch in seiner Ganzheit fällt er hinter diesem zurück. Das Licht lässt in diesem Moment etwas hervortreten, was fasziniert, was die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im gleichen Augenblick entzieht dieses Hervortreten anderen Stellen im Bild wiederum diese Aufmerksamkeit. Der Moment der Aufmerksamkeit liegt im Schatten, der aus der Person herauszufließen scheint. Im Bild ist nicht eindeutig sichtbar, welche Bewegung der Schatten vollzieht. Sichtbar ist seine große Präsenz gegenüber dem Körper, der ihn erzeugt. Der Betrachter beginnt unweigerlich, das Schattenbild mit dem Körper der abgebildeten Person zu vergleichen, es nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden sowie Eigenheiten und subjektiven Zuschreibungen visuell und gedanklich abzutasten. Es beginnt der Versuch, dies als dialogische Beschreibung zwischen dem Körper und seinem auf ihn verweisenden Schatten zu lesen. Dieser zunächst als ein Gegenüber, als dialogisch Erscheinendes, ist jedoch auch Teil ebendieses Körpers. Der Schatten des Körpers, der ihn erzeugt, ist eine Erweiterung seiner und nicht etwa eine Abspaltung. Vergleichbar ist er mit Gegebenheiten, die an einem vitalen Körper haften, wie beispielsweise sein Geruch oder seine Stimme. Der Schatten scheint aus dem Körper heraus zu treten. Der menschliche Körper ist sein Ursprung. In diesem Ursprung liegt eine bestimmte Dualität, die mit dem Körper und dem Licht verknüpft ist, die durch ihn bestimmt wird. »Ursprung bedeutet hier jenes von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist.«5 Es taucht die Frage nach einem Bestimmungsverhältnis im Sinne von Herrschaft und Knechtschaft, nach Form und Richtung der Abhängigkeitsbestimmung sowie dem Moment der Anerkennung des Anderen im Anderen auf. Es ist die Entfaltung eines Bestimmungsverhältnisses unter Einbeziehung der Größenverhältnisse sowie des Körperbildes. Wie verhält sich ein Teil zum anderen? Wer ist Begleiter und wer Begleiteter? Wer folgt wem? Wird der Schatten vom Körper bestimmt oder der Körper vom Schatten? Die Situation im vorliegenden fotografischen Bild ist auf mannigfaltige Weise offen. Es ist nicht mit Gewissheit zu sagen, ob die Person sich vom Boden abzudrücken versucht, um aufzustehen, sich zu erheben, oder ob sie sich ihrem Schatten annähern, sich in Richtung Projektionsfläche bewegen wird. Beide Bewegungen potenzieren sich im Bild des Schattens um ein Vielfaches. Ist es bei der Aufwärtsbewegung, vom Boden weg, ein Wachsen des Schattenvolumens, ein Mehr an Größe, so tritt in der entgegengesetzten Bewegung, der Fall einer Verdeckung, einer Minimierung, ein. Indem sich der Körper auf den Boden legt, füllt er den Schattenriss mit einer unmerklichen Verzerrung, die durch den schrägen Lichteinfall zustande kommen wird, aus. Indem der Körper seinem Schatten so nah 5 | Heidegger, Martin »Der Ursprung des Kunstwerkes« Stuttgart: Reclam 1986 S. 7.

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wie möglich kommt, er auf ein Distanzminimum sich zu ihm verhält, ihn an so vielen Stellen wie möglich berührt, tritt offenbar eine Verschmelzung mit ihm ein. Körper und Schatten sind einander so nah wie nur möglich. Dieses Näherkommen, diese Möglichkeit einer Berührung, ist jedoch nur durch ein Drittes gegeben, durch die Projektionsfläche (hier durch den Fussboden), die dem Schatten Halt und Sichtbarkeit bietet. Der Schatten bleibt im Allgemeinen immer mit dem Körper verbunden. Er trifft und berührt ihn an mindestens einer Stelle. Im vorliegenden Bild ist er mit dem Körper an dessen Hüfte und an dessen Händen verbunden. Diese Verbindung zeigt sich nicht nur an den Stellen des Kontaktes, sondern ebenso im Schatten, der keinen Unterschied zwischen Körper und Schlagschatten zu machen scheint. Er geht ineinander über, scheinbar ohne Grenze und liegt in beidem. (Siehe Abbildung 4.)

Abb. 04 Extrahierung der Schatten aus Alexander Rodchenko »Untitled« 1930.

Im Blick von oben herab auf die am Boden sitzende Person wird zunächst der Eindruck von Unterordnung evoziert. Es ist nicht nur der Eindruck einer Nichtidentität, sondern der Eindruck eines entsubjektivierten Menschen, der hier gezeichnet wird. Es ist die Gesichtslosigkeit, die Bewegungsunfähigkeit, das Zusammengepresste einer komplexen Körperlichkeit, die dem Schattenbild als Extrem diametral gegenübersteht. Im Schatten erscheint etwas völlig anderes. Es ist der sich aufrichtende Schatten, der sehr deutlich ein Profil, eine erkennbare Silhouette präsentiert. Er ist zwar an den Rändern noch verschwommen, abgeschwächt von dem in ihn eindringenden Licht, jedoch präsentiert er eine tiefe dunkle Innerlichkeit, die eine besondere potenzielle Dichte beschreibt. Im Gegensatz zum menschlichen, unentschlossen erscheinenden Körper mit den geschunden kleinen, dicken Arbeiterfrauenhänden zeigt sich im Schlagschatten eine ungeheure Bestimmheit und Eleganz. Mit erhobenem Blick, in den Nacken gelegtem Kopf, mit hochgezogener Schulter und der Andeutung einer in die Hüften gestemmten Armhaltung kann man förmlich das auffordernde Kinnwippen sehen. Im Bild des Schattens erscheint eine unglaubliche Spannung und Energie, auf die der fast schon am Boden liegende Körper so überhaupt nicht in der Lage ist zu verweisen. Eine weitere Besonderheit im Bild ist die zusätzliche Rahmung durch einen Schatten, der durch den Türausschnitt erzeugt wird. Diese zusätzliche Rahmung erzeugt im Bild eine Verdichtung, eine Engung des Raumes, in dem Körper und Körperschatten eingebettet sind. Sie berühren sich nicht. Ein Vergleich

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mit der mittleren Abbildung zeigt deutlich, dass ein erhöhtes Spannungsverhältnis entsteht, der Lichtraum nicht nur eine Begrenzung, sondern ebenso eine Verdichtung erfährt. Durch den Türausschnitt ist es dem Licht möglich, in den Raum einzudringen. An dieser schmalen Öffnung der Wand stellt sich ihm im Allgemeinen kein Hindernis in den Weg. Der Schatten ist Verweis auf eine bestimmte Materialität, die Licht undurchlässig ist. In Bezug auf diese Materialität sind sich der menschliche Körper und die Wand des Zimmers gleich. Sie bieten dem Licht ein unüberwindliches Hindernis. Indem es einem Etwas gegeben ist, einen Schattenwurf hervorzubringen, ist es die Vergewisserung seiner Präsenz, seiner bestimmten Materialität. Etwas, was im Licht steht und keinen Schatten erzeugt, stellt seine Existenz in Frage, hat ein unüberwindbares Defizit. Bei Chamisso kann der Mensch, der keinen Schatten mehr besitzt, kein normales Leben mehr führen. Etwas, was keinen Schatten werfen kann, ist im Allgemeinen unbelebt, nicht existent oder in besonderer Form existent. Eine Spiegelung (ein Spiegelbild) kann keinen Schatten werfen, da sie ohne materielle Existenz dem Schatten ähnlich ist, der keine sichtbaren Schatten erzeugen kann. Schatten von Schatten sind unmögliche Möglichkeit. Nicht alles, was im Eindruck des hell und dunkel in Licht und Schatten erscheint, in einen Kontrast zueinander tritt, beschreibt Licht und Schatten. In Rotdschenkos Fotografie erscheinen dunkle Bereiche, die nicht im Sinne von geworfenen Schatten auf eine ihn erzeugende Körperlichkeit verweisen. Es sind Bereiche, wie die fleckigen Stellen des Holzbodens, die auf Spuren eines Gebrauchs verweisen, wie die dunklen Stellen im Haar der abgebildeten Person. In diesen Fällen tritt eine besondere Beschreibung von Schatten, Verschattung auf. Es ist zum einen die Erzeugung von Farbigkeit durch Verschattung im Licht, hier im besonderen medialen Fall die Umschreibung von Farbigkeit durch den fotosensibilisierten zur Aufnahme benutzten Schwarz-Weiß Silberhalogenidfilm. Indem das reale Bild als Graustufenbild Abstraktion erfährt, weist das fotografische Material jedem Kontrastwert und jedem Farbwert einen Schattenwert zu. Betrachten wir zwei solcher Bildstellen isoliert und ohne ihren konnotativen Zusammenhang, so erweitert sich der Interpretationspielraum um ein Mannigfaltiges. (Siehe Abbildung 5.)

Abb. 05 Bildausschnitte aus Alexander Rodchenko »Untitled« 1930.

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In der Isolierung der Bildausschnitte ist es nicht möglich, diesen eigene Farbwerte zuzuweisen. Der konnotative Interpretationszusammenhang ist dem Betrachter verloren gegangen. Ist es bei dem rechten Bildausschnitt noch ein Mögliches, die Materialqualität, den Bildausschnitt zu bestimmen, ihn zuzuordnen, so ist dies im linken Bildausschnitt nicht mehr möglich. Es ist weder zuordenbar, welche Materialität hier erscheint, noch, wie die Dunkelheit zustande gekommen ist. Das Dunkle (Siehe Abbildung 5 links.) verweist isoliert betrachtet zunächst nur auf sich selbst wie auf eine bestimmte Farbigkeit an sich. In dieser Form ist noch nicht einmal ersichtlich, dass es sich um einen Ausschnitt aus einem fotografischen Bild handelt, und was um eine weiteres entfernt liegt, ist die Annahme, dass es ein Ausschnitt aus einem Schatten im Bild ist. Der Schatten zeigt sich nur durch das Licht, in dem es sich neben ihn stellt. Isoliert, als Fragment eines Schattens, verweist er ohne bestimmten Formvollzug wie die Möglichkeit einer Silhouette einzig auf sich selbst.Indem dieses besondere Spannungsverhältnis zwischen Licht und Schatten erscheint, wird nicht nur das in ihm Liegende in eine Kategorie verschoben, sondern es tritt eine besondere Aufmerksamkeit ihm gegenüber hervor. So, wie im Allgemeinen das Helle, das im Licht Stehende, eine Aufmerksamkeitssteigerung erfährt, sich in den Vordergrund zu drängen scheint, so kann dies durch eine dramatische Schattenprojektion umgekehrt werden. Es geht um eine Verminderung der Helle, um die Präsenz des Schattens und wie er dadurch das Bild zu bestimmen beginnt. Da in der vorliegenden Fotografie der Moment des Innehaltens in Form eines Standbildes sichtbar und festgehalten wurde, ist es auf dieser Grundlage möglich, den Schatten eingehender zu betrachten, ihn zu befragen. Die Form, in der er sich zeigt, beinhaltet ein Mannigfaltiges. Zunächst ist ihm inhärent, dass so, wie er im Bild sichtbar ist, zwar ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit, aber auch ein Ausschnitt eines Prozesses sichtbar wird. Dieser ist durch zwei maßgebliche Dinge bestimmt: zum einen durch das Sonnenlicht, das in den Raum eintritt und auf den Körper trifft. In diesem Erscheinen des Lichts ist viel mehr Beschreibung, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Mit dem Eintreten des Lichts ist ein Prozess der Bewegung, des Erscheinens erkennbar. Es ist Naturgegebenheit, dass der Lauf der Sonne, der diesen Lichteinfall bestimmt, durch den sichtbaren Bildausschnitt über den Tag hin gewandert sein muss. Angenommen, der am Boden liegende Körper bliebe einen Tag in dieser Position, an dieser Stelle verhaftet, so zeigt er über seinen Schatten hinaus den Stand der Sonne an. Würden seine Positionen am Boden zu einer gewissen Zeit, sagen wir stündlich, fixiert, wäre es ein Leichtes, damit am kommenden Tag die Stunde zu bestimmen, zu der dieser festgehalten wurde. Der mit dem Boden verbundene Körper wirkt als Gnomon (griech. Schattenzeiger), als Polstab, als Zeiger einer Sonnenuhr. Sein Schattenwurf beschreibt nicht nur seine relationale Bestimmung, sondern gleichsam seine Relation zum

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Sonnensystem, zum Universum. Diese Verbindung zeigt ganz eindringlich die Verbindung des Alltäglichen mit dem Ursprung und den Bedingungen, unter denen Leben erst sein kann. Das Bild des Schattens, das sich auf dem Holzboden niederlässt, ist auch Verweis auf den Ursprung, auf die Eingebundenheit in unser Sonnensystem, wie auf das ihn erzeugende Subjekt selbst. Es zeigt die direkte Verbindung, in der der menschliche Körper sich befindet und wie er durch diese bestimmt wird. Dies in der Beschreibung sich Zeigende verweist auf eine denotative Bestimmung sowie auf das, was wir über den Schatten als solchen wissen. Das, was wirklich im Bild sichtbar ist, ist etwas anderes. Es sind Formen, die auf gewesene, vergangene Dinge verweisen. Es stellt sich im ersten Moment nicht die Frage, ob das Schattenbild eine Malerei auf dem Holzboden, ob es ein gemalter, ein vorgetäuschter falscher Schatten ist. Der Betrachter der Fotografie glaubt ihr noch, dass das, was sie zeigt, so gewesen sein muss. Es ist eine Reminiszenz an die Zeit, an die Anfänge der Fotografie und an den Künstler Rodtschenko. Das, was in der Fotografie sichtbar ist, ist ebenso der Glaube an sie. Dies ändert sich, und in der aktuellen digitalen Fotografie, wie in der zukünftigen, wird diese andere Frage sich in den Vordergrund drängen und das fotografische Bild in seiner Bestimmung und Wahrnehmung verändern. Es ist unhintergehbar, dass das Motiv des Schattens als metaphorisches Moment sich aufdrängt, ob es nun im medialen Kontext oder im Kontext der historischen Gegebenheiten und Entstehungsgeschichte des Bildes präsent ist. Es ist beim Beschreiben der Entstehung der Aufnahme, mit Blick auf den Autor, der Blick nicht ablösbar von dem symbolischen Gehalt des aufgezeichneten Schattens: seine Form des Sichauf bäumens, des Sichemporhebens vom Boden einfacher Leute, vom Körper einer einfachen Frau und des Sichabhebens vom entsubjektivierten, depersonalisierten Körper als eines selbstbewussten Moments. Es ist das symbolische Sichzuwenden zu einer neuen Zeit, weg vom zurückliegenden – politischen wie kulturellen Gegebenheiten.6 Das Bild entstand in Russland im Jahre 1930, an einer Schwelle der Wandlungen, an einer Zeitenwende in jeglicher Hinsicht. Ein anderer Blick auf den Schatten des Körpers erscheint, wenn wir ihn im Sinne der Erweiterung des eigenen Körperbildes denken. Sowohl das individuelle als auch das kollektiv angelegte Erinnerungsbild des Schattens tritt mit dem sichtbaren in eine Kontiguitätsoperation ein. In diesem Gegenüber entsteht eine Bedeutungsaussage unter Prägung des subjektiven Selbst. Eine Potenzierung dessen erscheint mit dem eigenen zugehörigen Bild, wenn auch hier nur Schattenbild.

6 | Vergl. Rodtschenko, Alexander / Schahadat, Schamma / Stiegler, Bernd »Schwarz und Weiß – Schriften zur Photographie« Fink 2011 Rodtschenko, Alexander /Gallissaires, Pierre »Alles ist Experiment. Der Künstler-Ingenieur« Hamburg: Nautilus 1993 S. 14.

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Die Naturvölker maßen dem Schatten eine besondere Bedeutung zu. So gibt es in ihrem Glauben feste Positionen und Umgangsformen, wie mit einem Körperschatten zu verfahren sei und was ihm auf keinen Fall zustoßen dürfe. Es gibt zwei Ansätze. Zum einen: Man muss für den eigenen Schatten sorgen. Roberto Cassati hat eine Auflistung solcher exemplarischen Geschehnisse vorgenommen. Es kann passieren, dass, wenn dem eigenen Schatten ein Schlag versetzt wird, der zugehörige Mensch erkrankt. Er darf auch nicht auf bestimmte Unglückssteine fallen, genauso wenig, wie er in ein offenes Grab oder einen offenen Sarg fallen darf. Casati vergleicht den Schatten mit einem lebenswichtigen Körperteil und scheut selbst nicht den Vergleich mit dem Herzen. Des Weiteren wird der Schatten als psychisches Phänomen beschrieben und bei den Ewe 7 heißt es: »Bei der Geburt würden verschiedene Prinzipien miteinander vereinigt und bildeten gemeinsam die Seele: luovo (Seele), gbogbo (Geist) und vovoli (Schatten).«8 In aktuellen Untersuchungen auf dem Gebiet der Neurowissenschaften taucht eine Ahnung davon wieder auf. Der Schatten zeigt sich als Erweiterung des eigenen Körperbildes.9 In Rotschenkos Fotografie wird sichtbar, wie der Schatten eine Weitung und eine Bewegung aus der Enge des Körpers heraus beschreibt und ihm eine erweiterte Beschreibung zuteilwerden lässt. Das, was der Schatten abbildet, ist das, was ihn auslöst. Schattenbild und schattenwerfender Körper sind jedoch nie deckungsgleich und bestehen immer aus einer multifokalen Perspektive. Zusätzlich tritt eine gewisse Umformung auf, die mal mehr oder weniger ausgeprägte anamorphotische Eigenschaften aufweist. Es sind Bilder, die nur aus einem bestimmten Blickwinkel erkennbar sin, oder aber durch diesen eine Steigerung erfahren. Rotschenkos extreme Draufsichten trugen dazu bei. Die Form der Verzerrung durch das Verhältnis des Sonnenstandes zu Körper und Projektionsfläche erzeugt eine Dramatisierung des Schattenverlaufs, indem es ihn in seiner Höhe streckt, gleich einem variablen Gummituch. Dies zeigt nicht nur die Verbindung zum Sonnenstand, zur Tageszeit, zum Sonnensystem, sondern gibt ihm eine gewisse Dynamik und den Eindruck von Autonomie. 7 |  Westafrikan. Ethnie die heute entlang der Küste im Osten Ghanas und in Togo lebt 8 | Casati, Roberto »Die Entdeckung des Schattens: Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung« Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003 S. 37. 9 | Die Ergebnisse zeigen nach Ansicht der Forscher, dass der Schatten als eine Art Erweiterung des eigenen Körpers wahrgenommen wird. Das Körperschema könne folglich über die physische Begrenzung – die Haut – hinausgehen. Francesco Paviani und Umberto Castiello vom Dipartimento di Scienze della Cognizione e della Formazione (DiSCoF) der Universität in Rovereto »Binding personal and extrapersonal space through body shadows« ist als Online-Vorabpublikation am 14. Dezember 2003 in »Nature Neuroscience« erschienen (doi: 10.1038/nn1167). www.nature.com/neuro/journal/ v7/n1/full/nn1167.html.

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Unweigerlich werden wir dabei an Texte und Mythen wie an Hans Christian Andersens Märchen »Der Schatten« erinnert, die die Autonomie und den Verlust des Schattens thematisiert haben. Der Schatten wächst bei ihm über seinen Menschen hinaus und führt irgendwann ein Eigenleben – dramatischer kann der Bezug zu sich selbst nicht sein.

Ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit und ein Ausschnitt aus der Zeit Im offensichtlichen Nebeneinander von Licht und Schatten ist der prozesshafte Moment des Nacheinander zwar inhärent, jedoch nicht sichtbar. Im Bild scheint die Sonne ewig zu scheinen, der Schatten unbeweglich am reglosen Körper zu kleben. Das, was im Bild sichtbar ist, ist mehr als ein geronnener Moment, ein Innehalten. Es ist das Aufeinandertreffen von mannigfaltigen Momenten, Beziehungen, die in diesem Bild vereint werden. Es ist der Moment des heraustretenden Sonnenlichts, der Moment des Umwendens der Person, die, am Boden sitzend, ein Sonnenbad an der Schwelle des Balkons nahm, gestürzt war, der Moment des richtigen Augenblicks, das Auslösens des Fotoapparates, mit dem Glück einer richtig belichteten Aufnahme. Was sich im Bild zeigt, ist ein alltäglicher, oft zur Erscheinung kommender Dialog, in dem sich der Mensch mit seinem Schatten befindet. In diesem Moment hat er sich in seiner schönsten und bestimmtesten Individualität gezeigt. Er beinhaltet die Mythen, Sagen, Glauben, die ihm zugewiesen werden. Er ist bei jeder Person gleich, nur die Form, seine Silhouette und die perspektivischen Gegebenheiten bestimmen ihn. Kein Mensch kann sich von seinem Schatten lösen, ihn abgeben. Er ist manchmal nicht sichtbar, was auf einen temporären Verlust zu verweisen scheint, aber im Grunde genommen ist er eher dadurch mehr oder weniger bestimmt. Wenn der Schatten verloren zu sein scheint, ist dies immer der Verweis auf das Licht, das ungerichtet oder abwesend ist, wie in den dunklen Räumen des Künstlers Gregor Schneider.10 Indem alles Licht eliminiert, von schwarzem Molton geschluckt wird, bleibt dem Menschen zunächst keine Form der Orientierung und er wird sich seiner in anderer Form bewusst. Als eine Weiterführung Rodtschenkos Arbeit mutet die Arbeit von Francesca Woodmann an. Hier stellt sich zum einen die Frage nach der Ablösbarkeit des Schattens, seiner Zuweisung im Bild, wie auch seiner Irritation im medialen Kontext. Im ersten Moment und im Dialog mit Rodtschenkos Werk tritt der Moment des offenbar abgelösten Schattens ins Bild. (Siehe Abbildung 6.) Es scheint, als habe die im linken Bild zum Teil anwesende weibliche Person die Bewegung im Bild Rotschenkos fortgesetzt, in dem sie sich vom Boden erhob. Der Schatten blieb am Boden zurück, nur die Ränder weisen auf eine bestimmte Form von Abstand und Bewegung, von Unentschlossenheit hin. 10 | Vergl. Gregor Schneider »End« Museum Abteiberg Mönchengladbach 2008.

Bildbetrachtung Fotografie

Der offenbare Schatten im Bild von Francesca Woodmann ist im eigentlichen Sinne kein Schatten, nicht erzeugt durch hereinbrechendes Licht, sondern ein Körperabdruck auf dem Boden. Es scheint, als komme der Moment der Verschattung hier zunächst nicht vor. Er stellt sich jedoch beim genaueren Betrachten auf besondere Art und Weise ein. Besonders, wenn wir ein zweites Bild (rechtes Bild) der Serie heranziehen, wird das dunkle Körperbild am Boden vom Begriff des Schattens abgelöst. Heller Staub, Mehl oder Puder rahmen das dunkle Körperabbild, das nur durch seine äußere Form auf die Form eines menschlichen Körpers verweist, ein. Es löscht Stellen des Holzfußbodens aus. Das Körperbild am Boden kann zunächst nur durch eine Verschattung des Bodens mithilfe des Körpers entstanden sein. Verschattung meint hier im ureigensten Sinne, etwas abhalten, etwas verdecken. Die Stelle am Boden wurde durch etwas, eine Person verdeckt, mit Puder bestäubt. Durch das teilweise Verdecken des Bodens zeigt sich auf diesem eine Form, ähnlich einer Silhouette, einem Körperumriss.

Abb. 06 Francesca Woodman »Untitled« P.059; »Untitled« P.068 Providence, Rhode Island, gelatin silver print, 1976; Courtesy George and Betty Woodman.

Annehmbar ist, dass der fotografische Prozess betont wurde, indem er in der Dunkelkammer, wie wahrscheinlich auch im Bild Rodtschenkos, eine zusätzliche Steigerung, eine zusätzliche Verdunklung erfuhr. Hierbei kann im eigentlichen Sinne nicht von Schatten gesprochen werden, eher symbolisch wie metaphorisch, wozu der Schatten sich immer wieder und permanent aufdrängt. Das Ablösen des Schattens ist ein Unmögliches, er ist immer verknüpft mit dem Körper der ihn erzeugt und mit dem Licht, das ihn hervorbringt. Die Frage drängt sich auf, was ist mit dem Schatten, wenn er sich nicht zeigt? Wie in den Bildern von Francesca Woodman. Es ist kein direktes Licht, nur diffuses erkennbar, das durch das halb verhangene Fenster bewusst inszeniert zu sein scheint. Es besteht keine Möglichkeit, wie im Bild Rotschenkos, einen starken Schlagschatten zu erkennen, den Raum in Kategorien von hell und dunkel zu ordnen. Und doch erfährt der Schatten eine Andeutung und ver-

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weist auf seine ständige Präsenz. Wie im Bild Rotschenkos zeigt er sich am Körper, an den Stellen der Oberarme. Am linken Oberarm erscheint auch hier ein Verweis auf eine Licht-Schatten-Grenze. Bei weitem nicht so stark wie im Bild Rotschenkos, aber in der Andeutung, die seine Anwesenheit im Bild noch erahnen lässt. Es ist ihm nicht gegeben, durch den Raum zu fließen, hereinzubrechen, durch die Öffnung der Wand. Das heißt jedoch nicht, dass er verloren gegangen scheint. Er besitzt hier nur nicht die eindeutige vordergründige Deutlichkeit, um die Aufmerksamkeit im Bild an sich zu reißen, das Bild maßgeblich zu bestimmen. Das bildbestimmende Motiv erscheint als Form, die den Schatten verwandt ist, die jedoch keine sichtbare, eher eine gedankliche Verknüpfung zur im Bild anwesenden Person beschreibt. In dieser Beschreibung drängt sich der Begriff des Schattens als eines bezeichneten Moments auf. Der Begriff der Malerei, des Abdrucks folgt erst später. Im ersten Moment, in dem wir das Bild erfassen, ist es der Schatten einer Person, der vor ihr am Boden liegt – zurückgelassen, festgehalten in einer Fotografie. Er verweist auf den Schatten in seinen Besonderheiten wie ebenso auf die Besonderheit des abgelösten, des verlorenen, des verkauften, des sich autonomisierenden Schattens, wie es in vielen literarischen und filmischen Problematiken zum Tragen kommt. Unweigerlich entsteht die Verbindung zu Peter Pan, dem sein Schatten am Fensterkreuz hängengeblieben ist, zu Chamisso, der den Schatten verkauft hat, oder zu Hans-Christian Andersen, der über einen Mann schreibt, der seinen Schatten in den heißen Ländern verloren hat. Auffallend ist, dass es nur männliche Schatten sind, die verloren gegangen scheinen.11

11 | Außer Hofmannsthal, Hugo von / Kiermeier-Debre, Joseph »Die Frau ohne Schatten« Nachdr. der Erstausg. von 1919 München: Dt. Taschenbuch-Verlag 2006.

B ildbe tr achtung V ideo »Le mythe de la caverne« Jean Otth Video I vidéo 23 minutes I 1972

Abb. 07 Jean Otth »Le mythe de la caverne« vidéo 23 minutes 1972 (Standbild) Quelle: Virginie Otth und Philémon Otth sowie DVD - ROM »Jean Otth …autour du Concile de Nicée – Videos 1972-2007« Auteur et directeur artistique: Jean Otth, Direction éditoriale et scientifique: Anne-Marie Duguet, Paris Programmation Electronlibre, Lausanne et Adrien Cater. Paris Anarchive n°4 2007.

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Vorstellung des Künstlers und des Bildes Das zweite Bild in der Kategorie Bildbetrachtungen ist ein Bewegtbild des schweizer Videokünstlers Jean Otth. Otth setzt sich in seinen Arbeiten vorrangig mit Themen der Kunstgeschichte im medienreflexiven Kontext auseinander, als auch damit, wie Bilder wahrgenommen werden und wie Bilder entstehen. Sind seine Arbeiten zu Beginn seines künstlerischen Schaffens noch vorwiegend von abstrakter Malerei geprägt, so tritt Ende der 1960er Jahre ein radikaler Wandel ein. Otth führt die Malerei von da an in seiner ihm eigenen Art mit anderen Mitteln fort. Er bleibt nicht am zweidimensionalen Malgrund haften, sondern überträgt diesen in den Raum, zeitlich wie auch örtlich. Seine Malmittel sind nicht mehr ausschließlich Lacke und Farben, sondern deren existentielle Bedingungen, Licht und Schatten, Raum und Zeit. Zusammenfassend kann auf eine Beschreibung der Arbeit Jean Otths von Edmond Charriere im Dictionnaire de l’art suisse hingewiesen werden: »Fascinated by new technologies of image production, Jean Otth often makes reference in his work to the history of art, to philosophy, and even to the language and concepts of science, such as astrophysics. But it is the Platonic myth of the cave and its perceptive and aesthetic implications, which have, since his paintings on mirrors (1966), driven his way of working up to this day. His works are both experimental and critical, and are essentially concerned with the reality of the image and the uncertain relationship it has to its object and its receptacle.«1

Otth benutzt für seine künstlerischen Arbeiten für die damalige Zeit ungewöhnliche Materialien, indem er Spiegel, transparente Materialien und Diapositive einbringt und diese als Reflexions- und Malgründe benutzt. Die Collage, die Installation und die Projektion werden prägende Stilelemente seiner Arbeiten. Ab den 1970er Jahren erweitert Otth dieses Feld, indem er das Video als Möglichkeit der Bilderzeugung für sich entdeckt. Er arbeitet mit Bildstörungen, Bildmanipulationen, Überlagerungen von Projektion und realem Objekt sowie Closed-Circuit-Videoinstallationen2 . Während seine Arbeiten der 1980 Jahren erneut stark von Malerei geprägt sind, entstehen ab 1985 erste 1 | Charrière, Edmond »Otth, Jean« in »SIKART – Lexikon zur Kunst in der Schweiz, Dictionnaire de l’art suisse« ISEA, Lausanne; Zurich« www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4000055 vom 23.11.2012. 2 | Closed Circuit – Geschlossene Abbildungssituation, bei der das Aufnahmemedium (die Video-Kamera) direkt im Live-Modus mit dem Abbildungsmedium (z.B. Monitor) verbunden ist. Der Betrachter macht dabei die Erfahrung der Synchronität seiner Handlung mit seinem Abbild, ähnlich wie dies im Spiegelbild der Fall ist, oder beim Schattenspiel, jedoch nicht wie gewohnt seitenverkehrt.

Bildbetrachtung Video

Computerarbeiten und ab 1990 arbeitet er verstärkt mit Videoprojektionen und -installationen. Seine immateriellen Videoprojektionen mischen sich oftmals mit der materiellen Realität und untersuchen deren Interaktio, sowie die Formen ihrer eigenen Repräsentation. Otth stellt Fragen an den Betrachter, auch an das Bildmedium selbst. In seinen Arbeiten existiert eine Pendelbewegung zwischen Autor, Darsteller und Werk an sich wie auch deren medialen Gegebenheiten.

Vorstellung der Arbeit Es entsteht hier zunächst die Frage nach dem Begriff des Bildes : Was kann als Bild Beschreibung finden? Warum ist etwas Bild, wenn es, wie in der vorliegenden Arbeit, in ephemerer Bewegung verbleibt, das heißt ständig in Veränderung und im Verschwinden begriffen ist? Der Bildbegriff ist vielschichtig und kann in diesem Text nicht zu einer vollständigen Entfaltung gebracht werden. Er ist in seiner Bestimmung, im Bezug zur Videoarbeit von Jean Otth anwendbar, in dem Maße, in dem Bild hier zunächst ein Kunstwerk als visuelles, sichtbares beschreibt. Das dies viel zu kurz greift, ist unumgänglich.3 Ein Bild, welcher Art auch immer, ist nie immer EIN Bild, sondern eine Vielheit und erscheint immer als Relationales in der Bedingung seiner Lesbarkeit. Es ist eingebunden in kulturelle, gesellschaftliche und historische Gegebenheiten, die mit ihm in einem untrennbaren ständigen Dialog stehen. Warum sich die Bildfrage zunächst gestellt hat, ist auch die Frage nach der Dauer des vorliegenden Werkes. Es ist ein Video, das aus 34521 Einzelbildern besteht. Es ist somit unmöglich, eines dieser Einzelbilder beim Ansehen der Arbeit zu erfassen, da diese im Prozess des ephemeren einen ständigen Wechsel, 25-mal in der Sekunde, erfahren. Die Gesamtdauer des Videos beschreibt einen Zeitraum von 23 min, was der zunächst einmal formale Bedingung für die visuelle Erfassung der Arbeit ist. Es ist nicht möglich, wie beim Einzelbild, beispielsweise wie bei einer Fotografie, sich als Gegenüber zu sehen und den Blick in einer selbstbestimmten Zeitlichkeit, in einer Eigenzeit, über das Bild gleiten zu lassen, sondern der Betrachter wird gezwungen, den Blick der sich stetig ändernden Bildfläche folgen zu lassen. Das Zurückblicken auf eine Bildstelle, die dem Blick begegnet ist, ist nicht mehr möglich, es sei denn, das Video beginnt erneut, wird angehalten oder zurückgespult. Der Prozess des Abwendens vom, des Zuwendens zum Bild, der in der Sichtbarkeit des Bildes inhärent ist, erfährt hierdurch eine neue Dimension. Das Bild erscheint in der Möglichkeit 3 | Vergl. Sachs-Hombach, Klaus [Hrsg.] »Bildwissenschaft – Disziplinen, Themen, Methoden« Frankfurt/M: Suhrkamp 2005 wie Busch, Kathrin [Hrsg.] / Därmann, Iris [Hrsg.] »Bildtheorien aus Frankreich« [Eikones, NFS Bildkritik] Paderborn: Fink 2011.

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des Abwendens, des Bildentzugs. Es wendet sich vom Betrachter in einer vorher bestimmten Dauer ab. Einem Bild begegnen, es wahrnehmen, bedingt gleichzeitig eine Hinwendung, eine Bewegung zum Bild, ein Berühren des Bildes, wie genauso ein Durch-das-Bild-berührt-Werden. Diese Bewegung ist eine andere als die Bewegung, die innerhalb des Bildes, hier des Videobildes, stattfindet, jedoch eine ihm verwandte. Das Erblicken eines Bildes meint zwar zunächst im Überblicksverhalten, das Bild erblicken, was jedoch noch nicht das Erfassen des Bildes einschließt. Es ist immer ein Ausschnittsehen, das beiden Bewegungen inhärent ist. Ist dies beim Tafelbild das Sehen eines Bildausschnitts, ein Detailsehen, das Fokussieren eines Bildfragments, so ist es beim Video ein Nacheinandersehen. Die Gleichzeitigkeit des Bildinhaltes ist beim Video eine Unmöglichkeit, da Bildteile im linearen Ablauf eine Verdeckung erfahren. Ein Bild folgt auf das andere und nur durch die kurze Dauer seiner Sichtbarkeit sowie den inhaltlichen Ablauf zieht der Betrachter die Einzelbilder zu einem Bewegtbild zusammen. Im Ablauf des Videos lösen die Einzelbilder einander ab, Bild 1 wird von Bild 2 überschrieben usw. Diese Überschreibung findet nicht als Auslöschung statt, sondern im Sinne einer Durchdringung der Bilder, um erneut den Vergleich mit Freuds Wunderblock4 zu bemühen. Im Wahrnehmen des Folgebildes bleibt ein Teil des vorangegangenen Bildes präsent und wird sein Teil, indem dieses jenes mitbestimmt. Liegen im Tafelbild Bildstellen zunächst nebeneinander, in einer Ebene der Gleichzeitigkeit, so ist dies beim Video anders. Zum einen trägt das Videoband die Erinnerung an den Prozess, an das Beschreiben eines Filmes sowie die Erinnerung an die Fotografie in sich, zum anderen ist das Videoband ein Lineares, das nicht redigierbar ist. Es läuft so ab, wie es aufgenommen worden ist. Es wiederholt die Geschichte, des Was, das aufgenommen wurde, in einer bestimmten zeitlichen Linearität, die mit der des Schreibens vergleichbar ist. Die Ereignisse im Video geschehen nacheinander, es zeigt sich ein Davor und ein Danach. Der Betrachter steht an der Schwelle des Dazwischen, mit einem Blick in das Vergangene und einem Blick auf das, was folgen wird. Das Videoband ist eine Linie mit einem Anfangs- und einem Endpunkt – und mit einem Punkt, an dem sich der Betrachter befindet. Im Unterschied zum fotografischen Film ist dieser Punkt kein sichtbares Einzelbild, das sich aus den anderen erhebt, sondern eine Ortsbeschreibung, eine zeitliche Beschreibung, die den Ort auf einem Magnetband markiert, indem sie ihn in Relation zu seinem Anfangsund Endpunkt sowie in Relation zur Aufnahme und zur Rezeption bringt.

4 | Freud, Sigmund »Notiz über den Wunderblock« (1925 [1924]) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 10 (1), 1924, S. 1-5. und Freud, Sigmund »Gesammelte Werke« Bd. 13. »Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das Ich und das Es« Frankfurt/M: S. Fischer 1987 S. 387-91.

Bildbetrachtung Video

Die Videoarbeit ist Bild, Prozess, Werden. Es ist dies eine besondere Form von Ähnlichkeit, die zum Bild gehört, in der sie sichtbar wird, die das Bild werden lässt und es bestimmt. Gleichsam wird das Bild zum Bild durch seine Relation zu Raum und Zeit sowie durch seine Relation zum Ort und zum Betrachter, auf den es trifft. Dem Bild ist der Prozess der Sichtbarmachung, des Erscheinens wie auch der Prozess der Veränderung, der Vergänglichkeit und des Verschwindens inhärent. Das Videobild ist kein Standbild eines zeitbasierten Prozesses wie das fotografische Bild, sondern das Videobild beschreibt ein zeitlich Veränderbares und zeigt diese Veränderbarkeit im vorliegenden Fall als prozessualen Akt. Im Auftreffen des Videobildes auf den Betrachter ist dieser verdammt, sich diesem auszusetzen, seine Eigenzeit dem des Videos anzupassen oder sich ihm zu entziehen. Im Innehalten, im Sich-Abgeben an das bewegte Bild, ist es dem Betrachter erst möglich, sich diesem Prozess bewusst auszusetzen. Indem er seine Verhältnisbestimmung zur Zeit beschränkt, wendet er sich der Zeitlichkeit des ablaufenden Videos zu und tritt ein, in einen Prozess der Simultanität, in einen Prozess der Immersion5. Es entsteht ein Zeit-Raum, in dem beide aufeinandertreffen und in Form einer Begegnung, eines Nebeneinanders, eine Schnittmenge in Raum und Zeit gemein haben. Es unterliegt der Bestimmung des Bildautors, was innerhalb des Bildrahmens wie auch des zeitlichen Rahmens erscheint, welche Bestimmung, welche Dauer, welchen Raum dies einnimmt. »εἰκών ist zunächst das Stand-B. und das Gemälde, weiterhin eine jede bildliche Darstellung, insbesondere auch das Präge-B. eines Siegels. Ferner bezeichnet das Wort ebenfalls das Schatten- und Spiegel-B., die beide als «natürliche B.» (φύσει εἰκών) von den «künstlichen» (τέχνῃ εἰκών) unterschieden werden. [...] Andere Bedeutungen von εἰκών sind das Vorstellungs-B. in der Seele und die anschauliche Ausführung einer Rede. Schließlich kann vom Sohn als εἰκών seines Vaters gesprochen werden.« 6 5 | Immersion (hier im Film) bedeutet das Eintauchen in die filmisch erzeugte Welt durch Auflösung der räumlichen Grenzen und steht dem klassischen Theater als Erweiterung gegenüber. Das Konzept geht auf einen Text von Béla Balázs zurück und bezeichnete dort den Eingang in einen anderen Raum: »Die bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewußtsein, mit: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein. Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe.« Balázs, Béla »Zur Kunstphilosophie des Films« in Albersmeier, Franz-Josef [Hrsg.] »Texte zur Theorie des Films« Stuttgart: Reclam 1995, S. 215. 6 | Vergl. Bildbegriff in Ritter, Joachim »Historisches Wörterbuch der Philosophie« Basel: Schwabe 2010 Bd. 1, S. 913.

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Der Begriff Bild ist kein singulärer, sondern eine pluraler, im Sinne von Prozess, Zeitlichkeit und Interpikturalität sowie ein gedanklicher im Sinne einer Vorstellung, eines Denkens des Mitseins. Dieses prozessuale Werden schreibt Otth mit den technologischen Möglichkeiten der Bildgebung fort, indem er Projektionen und reale Objekte verknüpft und diese in Beziehung zueinander treten lässt. »Le mythe de la caverne« ist eine Videoarbeit, die für die Präsentation auf einem Monitor, zur damaligen Zeit für einen Fernsehbildschirm im Zeilensprungverfahren, angefertigt wurde. Sie unterscheidet sich von der Fotografie maßgeblich durch ihre Realzeit sowie vom Film durch ihre Realpräsenz. Während beim nichtdigitalen Film Bild für Bild blind aufgenommen wird, ähnlich der analogen Fotografie, um in einem zeitlichem und örtlichen Abstand nach dem Prozess der Sichtbarmachung des latenten Bildes seine Entwicklung, eine Sichtung und Beurteilung zu ermöglichen, ist dies bei Otths Video anders. Das Video fungiert hier in Form eines Spiegels, in dem der Betrachter im Kontrollmonitor sich selbst beobachten kann, während er die Kamera auf sich richtet und den Kontrollmonitor im Blick hat. Der Monitor gibt wieder, was die Kamera aufnimmt und zwar analog zum realen Geschehen vor der Kamera, in Realzeit. Für Otth ist diese Arbeitsweise und dieser Auf bau im Studio ideal, um das Monitorbild als Referenzobjekt, als Kontrollinstanz zu nutzen, um direkt agieren und in sein Werk eingreifen zu können. Aus dem Monitor ist bei Otth ein Kolloborateur geworden, der ihm über seine eigene Position vor der Kamera Auskunft gibt und seine Handlung bestimmt. Dieser Auf bau erschließt sich erst nach eingehender Betrachtung der Arbeit und entbirgt sich als grundlegende Bedingung, dass diese so erst entstehen konnte. Die Gleichzeitigkeit der Aufnahme und das Sichten des Materials während der Aufnahme sowie die zeitnahe Reaktion auf das Sichtbare, das im Monitor erscheint, ist diesem Medium zur Zeit der Entstehung der Arbeit neu und greift in die Arbeit entscheidend ein.

Abb. 08 Atelieraufbau: Wand – Ablage mit Malwerkzeugen – Podest mit Protagonist – Kontrollmonitor verbunden mit der Videokamera – Licht; Skizze: Kathrin Tillmanns.

Bildbetrachtung Video

Die vorliegende Arbeit ist eine Atelierarbeit – wie die meisten der Videoarbeiten, die Otth geschaffen hat. Das Besondere daran ist, dass der Auf bau im Atelier einer eher konservativen, klassischen Methode folgt und vergleichbar ist mit den Auf bauten in den Maler- und Fotoateliers des 18. und 19. Jahrhunderts. Es gibt eine Wand (den Malgrund), eine Ablage für das Malwerkzeug, eine Lichtquelle, ein Podest, auf den der Bildschaffende steigt, bevor er Hand an den Malgrund, der parallel zu seinem Gesicht aufgestellt ist, legt. Neu ist die Videokamera, die das Geschehen aufnimmt und dies zeitgleich dem Künstler sichtbar zur Verfügung stellt.

Bildbetrachtung Das Video beginnt mit einem Bild der Unbestimmtheit. Es erscheint zunächst einen heller Fleck, der das Bildformat fast vollständig einnimmt. Dieser Fleck scheint über das Format, über die rechte obere Bildecke, hinauszugehen. Im digitalisierten Standbild zeigt sich, dass am Bildrand eine weitere Begrenzung vorhanden ist. Eine dünne umlaufende schwarze Linie fasst den Bildinhalt erneut ein. Diese Form der Fassung, der Rahmung, ist nicht grundsätzlich sichtbares Element, sondern erfährt eine Verstellung durch die Gegebenheiten der Repräsentation. Im TV-Monitor, der für die ursprüngliche Präsentation der Arbeit vorgesehen war, ist diese Linie ein nicht sichtbares Element. Nicht sichtbar ist ebenso, ob diese Linie im Originalmaterial vorhanden war oder erst im Prozess der Digitalisierung entstanden ist, wobei noch andere Fragen an den Prozess der Reproduktion gestellt werden können, diese jedoch nicht Untersuchungsgegenstand der Arbeit sein sollen. Im Vergleich mit anderen Videoarbeiten Otths taucht diese dunkle lineare Begrenzung, bis auf wenige Ausnahmen, in unterschiedlichen Formen, jedoch als generelles Element auf. Es ist Rahmen im Rahmen, eine Verschachtelung, die sich im Außen wiederholt. Während die beschriebene Rahmung innerhalb des Bildes liegt, somit zum Bild gehört, trennt der Bildrahmen in Form einer Grenze zwei Räume voneinander – den des Bildraumes und den des Rezeptionsraumes.

Abb. 09 Bild 00000; aus Jean Otth »Le mythe de la caverne« 1972.

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Eine weitere Rahmung erscheint nicht nur durch den Bildrahmen, den Ausschnitt im Sehen, sondern eine Rahmung tritt zudem im bildinhaltlichen Sehen auf. Es ist die Rahmung einer unbestimmten Helle, eines hellen Flecks, durch eine unbestimmte Dunkelheit, die in sie einzudringen scheint. (Siehe Abbildung 9.) Erst durch die Nebeneinanderstellung beider wird das eine zur Helle, das andere zur Dunkelheit, das eine zur Lichtung, das andere zur Verschattung. Beide stehen nicht nur in Relation zueinander, sondern gleichsam in Relation zum Betrachter. Die Betrachterperspektive bestimmt, welches von welchem Bestimmung erfährt, welches in welches diffundiert. Noch ist offen, ob es sich um eine gelichtete Dunkelheit oder um eine verschattete Helle handelt. Der Begriff des Flecks ist nur ein Näherungsbegriff, ein Versuch, der das, was sich zeigt, zu beschreiben. Es wäre ebenso die Beschreibung durch ähnlicher Begriffe möglich, wie den Begriff der Wolke oder den des Loches. Es ist im Grunde genommen unmöglich, das erste Bild des Videos eindeutig zu erfassen, es zu bestimmen, außer durch seine Hell-dunkel-Verteilung im Bild und durch die Begriffsbrücken, die sich daraus ergeben. Die Frage stellt sich, ob ein Bild eindeutig beschrieben werden kann und wenn ja wie. Es bestehen die Möglichkeiten der normativen Beschreibung in methodischer Anwendung, ebenso im Rahmen der Grundlagendiziplinen wie auch in der Anwendung von historisch orientierten, sozialwissenschaftlichen oder anwendungsorientierten Bildwissenschaften. Aber das, was das Bild zeigt, ist an dieser Stelle arbiträr und subjektiv bestimmt. Im Anschluss daran drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob ein Bild im Grunde genommen sprachlich erfassbar sein kann. Ein Bild kann nur durch anderes, Bilder, Texte, Erfahrungen erfassbar gemacht werden und muss in ständiger Relation, im Sinne eines Zurücktragens, eines Austauschs, in einem Bildgeflecht be- und entstehen, wobei dieses als mögliche Bedingtheit mitgesehen werden muss. In der Wolke der Helle erscheint ein dunkler Riss – ein kleiner, zittrig anmutender Riss, der aus dem Dunkel des linken Bildteils sich horizontal in die Helle gräbt und sich kurz bevor er das Bildende, den rechten Bildrand errreicht, in dieser verliert. Er stoppt nicht abrupt, sondern verschwindet in einer Region der Unschärfe. Die ungleichförmigen Ränder der wolkigen Helle wie auch die Ungleichmäßigkeit des Risses erzeugen einen Eindruck von Tiefe und Materialität. Dies ist ein Verweis auf den Begriff der Wolke und der Verweis auf einen bestimmten Eindruck der Objekthaftigkeit dessen, was sich zeigt. Durch die verschiedenen unregelmäßigen Ränder entsteht der Eindruck eines unregelmäßigen Körpers mit Tiefen und Höhen, mit Verdichtungen und Transparenzen. Ein Eindruck, der ebenso entsteht, ist der Eindruck einer flächigen Abbildung, eines Aquarells oder eines Objektes, wie eben das der Fotografie einer Wolke. Das erste Bild im Video ist nicht eindeutig zuordenbar, es verharrt als Einzelnes in seiner Offenheit. Vergleicht man die ersten 7 Bilder miteinander, (siehe Abbildung 10)

Bildbetrachtung Video

scheint sich innerhalb derer zunächst nichts zu ändern. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass die unbestimmte Wolke der Helle, sich von Bild zu Bild auszuweiten beginnt. Sie dehnt sich aus, ihr Volumen wächst. Sie wird gefüllt mit Helle, wobei dies referenzlogisch im Verborgenen bleibt. Es ist nicht der Binnenraum, der sich grundlegend erhellt, sondern die Ränder weiten sich und beanspruchen einen größeren Bildraum. Sie bewegen sich in Richtung des Bildrahmens und drücken das Dunkel über diesen hinaus. Der Eindruck einer Bewegung, des Aus-sich-heraus, lässt sich nicht abwehren. Die Wolke scheint zu atmen.

Abb. 10 Bild 0000 - Bild 00007 Ebd.

Nach dem 7. Bild ändert sich über einen relativ langen Zeitraum nichts. 113 Bilder lang entsteht der Eindruck, das Bild 7 in einer Schleife der Wiederholung verharrt. Sieht man einmal vom Ton des Videos ab, auf den in dieser Bildbetrachtung aus Gründen des Umfanges der Arbeit nicht eingegangen werden kann, kündigt zunächst nichts eine Änderung im Bild an – außer der Ton, der einen Raum, eine Bewegung im Raum beschreibt und ähnlich wie der Schatten eine Ankündigung von etwas sein kann. Im Ton kündigt sich an, dass außerhalb der Sichtbarkeit des Bildes etwas geschieht. Der Ton nimmt die darauf folgende Aktion, ein Mögliches, das im Bild auftaucht, vorweg. Die folgende plötzliche Änderung im Bild kehrt das Geschehen um. Vom linken unteren Bildrand beginnt das Dunkel sich auszubreiten, in das Bild einzudringen. Es bewegt sich in Richtung Bildmitte und zeigt sich in Form einer menschlichen Silhouette. (Siehe Abbildung 11.)

Abb. 11 Bild 00131; Bild 00140; Bild 00144; Bild 00149 Ebd.

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Für einen kurzen Moment ist noch unbestimmt, ob dies eine menschliche Silhouette, eine Pappfigur oder eine Projektion ist. Im Fortschreiten des Videos erscheint das Abbild eines Menschen, das anfangs nur im Gegenlicht ohne Binnenstruktur und ohne Plastizität erkennbar war. Erkennbar ist die Person erst, wenn sie ins Licht tritt, das Licht sie zumindest berührt, sie zu einem Volumen, zu einem erkennbaren Subjekt werden lässt. Der anfängliche Schatten war kein Schatten, sondern Subjekt im Gegenlicht, das durch den Belichtungsspielraum der Kamera zu einem Schattenbild reduziert wurde. In der tatsächlichen Wahrnehmung, ohne die prothetische Erweiterung des Sehens mithilfe der Kamera, wäre dies anders. Das menschliche Auge hätte das Subjekt nicht auf etwas Dunkles reduziert, sondern es mit all seinen Bildinformationen zur Sichtbarkeit gebracht. Die Apparatur der Aufnahme, hier die Videokamera, wird durch ihre technische Einstellungsgröße bestimmt, was widerum das sichtbare, archivierbare Bild bestimmt.

Abb. 12 Bild 00167; Bild 00199 Ebd.

Was bisher noch nicht im Bild aufgetaucht ist, ist der Schatten des Protagonisten, der hier als zentraler Untersuchungsgegenstand dienen soll. Der Schatten taucht erst auf, nachdem der Protagonist in den Bereich des Lichts eingetreten, er von diesem erfasst und somit von ihm bestimmt wird. Zunächst erscheint der Schatten, analog zum Licht, an den Dingen, an der Person Jean Otth selbst. Über sein Eintreten in den Bildraum erschließt sich dieser neu. Das, was bisher für eine Wolke, für einen Fleck stand, entbirgt sich als Beschreibung einer Wandfläche, als Raumobjekt, als Malgrund. Zwischen Kamera und diesem existiert ein bestimmter Abstand, der bisher nicht erkennbar, jedoch sichtbar gewesen ist. Erst als Otth zwischen Kamera und Wandfläche tritt, erschließt sich dieser Abstand, der Graben des Dazwischen, der zwischen Aufnahme-Apparatur, die Vertreter des Betrachters ist, und zuhandenem Grund liegt. Nachdem die Person, der Künstler Jean Otth selbst, in den Bereich des Lichts eingetreten und in eine bestimmte Nähe zum Malgrund gelangt ist, bildet sich auf diesem allmählich der Schatten seines Körpers ab. (Siehe Abbildung 12.) Erst, indem diese beiden Bedingungen Erfüllung finden, Nähe und bestimmte Helle, kann das Dunkle auf einen bestimmbaren Grund fallen, wenn dieser gegeben ist. Langsam kriecht der Schatten an ihm hoch, aus der linken

Bildbetrachtung Video

unteren Ecke der Dunkelheit, um im Schutze des Körpers sich an der Wand zu etablieren. Tritt anfangs noch der Eindruck einer Abspaltung, einer Eigenheit auf, so bestätigt sich im Fortschreiten der Bewegung, dass der Schatten und der Körper, der ihn erzeugt, unhintergehbares Miteinander sind. Je näher der Körper an den Malgrund gelangt, desto mehr verschmilzt der Schatten mit dem Körper, der jetzt vollständig vom Licht ergriffen worden ist. Am Kopf erscheint dies sehr deutlich. Die dunklen Haare Otths und die Dunkelheit des Schattens scheinen eins zu werden, ineinander überzugehen. Eines ist nicht mehr vom anderen trennbar, unterscheidbar, es ist eines im anderen, wie anderes in einem. Die Frage taucht auf, wo das eine, der Schatten ist, während kein Grund, keine Möglichkeit zur Aufnahme des Schattenbildes gegeben ist. Die Verknüpfung des Schattenbildes mit dem Körperbild erfährt im Video eine besondere Aufmerksamkeit. Otth versucht die Bestimmungsverhältnisse zwischen beiden und einem Dritten zu prüfen. »In this experiment, I intervene on the outline of my own shadow, cast on a black board. By using a chalk, a sponge and an eraser, I try to capture this image that is both static and furtive. The interest in this video track lies in documentation of action through the video recorder. It concerns a questioning of the various modalities of one reality, through the use of the video image (in this case my shadow, the graphic trace of my shadow, and my ›real‹ image).« 7

Abb. 13 Bild 00235; Bild 01046 Ebd.

Es geht ihm im eigentlichen Sinne nicht um die Belegbarkeit der Unmöglichkeit, seinen eigenen Schatten mit einer Linie festzuhalten, sondern, wie er schreibt, um die Frage, wie verschiedene Formen einer Realität sich konstituieren und in der Verhältnisbestimmung sie zueinander stehen. Die Videoaufzeichnung setzt er hierbei als dokumentarisches Werkzeug der Untersuchung ein. Sie ermöglicht ihm im Nachhinein eine reflexives Sehen auf sich selbst, das als Schatten, als grafische Intervention, wie auch als Abbild seiner Person in der Videoaufnahme sichtbar wird. Nachdem Otth sich bis auf ein Minimum 7 | Vergl. Kurzbeschreibung seines Videos unter »office for videoart« www.videoart.ch vom 07.05.2014.

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an Distanz der vor ihm stehenden Wand genähert hat, prüft er zum ersten Mal die Verbindung zum Kontrollmonitor wie zur ihm im Rücken stehenden aufzeichnenden Kamera, indem er mit einem verdeckten Blick in die rechte untere Bildecke schaut. (Siehe Abbildung 13.) Damit versichert er sich nicht nur der Funktion der Apparatur, des Versuchsauf baus, sondern gleichsam seiner selbst, er versichert sich der Art, wie sich sein Körper in Relation zum Raum, zur Wand, zur Kamera, zum Licht verhält. Gleichsam ist es die Überprüfung, wie sich das Licht zu seinem Körper verhält, wie der Schatten im Bild erscheint und einen ihm eigenen Raum beansprucht. Es ist unvorstellbar, wenn er in diesem Moment das leere Bild des Anfangs ohne sein Abbild im Monitor gesehen hätte. Otth stellt die Kamera nicht in Frage, sie präsentiert ihm das, was er erwartet hat. Otths Körper und sein Schatten scheinen laut Kontrollmonitor in Wartestellung und bereit zu sein, untrennbar miteinander verbunden, gespannt auf das, was folgen wird. In diesem Moment zeigt sich der Schatten an der Wand als passives Element. Es ist dies nicht die Figur des Doppelgängers, des übermächtigen Schattens, die hier auftaucht, sondern die des Nobodys, des Schattens, der im Schatten steht. Er verdient im Grunde genommen keine Beachtung, er ist einfach da, weil er muss, weil ihn das Licht zwingt aufzutauchen, teilweise verdeckt von dem Körper, der ihn erzeugt. Der Schatten ist hier Zerrbild und Mitläufer in besonderer bestimmter Weise. Dies ändert sich schlagartig, wenn Otth den Schatten als Motiv herausstellt, ihn in den Vordergrund der Wahrnehmung bringt. Nicht nur der Körper richtet sich auf, sondern sein Schatten tut es ihm gleich. Er scheint eine besondere Form von Vitalität zu erlangen. Im Fortschreiten der Arbeit erscheint er nicht mehr als Anhängsel, als Mitsein, sondern als Dialogisches, als Objekt einer Befragung gleichsam des Monitors, der Otth als Gegenüber dient. Im Sinne eines erweiterten Schattenbegriffes kann dieses Monitorbild als Schattenbild bezeichnet werden. Es ist nicht nur Aufzeichnung einer aktuellen Handlung, sondern Übertragung eines Bildes aus Licht und Schatten in Licht und Schatten. Otth beginnt den Versuch, seinen eigenen Schatten mithilfe einer weißen Kreidelinie zu fassen. Es ist der Versuch einer Fixierung, einer Spurensuche, einer Materialisierung, einer Begreif barmachung. Unweigerlich fällt die weiße Linie zurück, als Spur wie als zeitliche Nichterreichbarkeit, während Otth zeichnet und der Schatten sich der Zeichnung schon längst wieder entzogen hat. Die Kreidelinie kann, dem in Bewegung geratenen Schatten an der Wand nicht folgen und bleibt Verweis auf ein Wie-es-gewesen-war. Es ist für Otth unmöglich, dem eigenen Schatten zu folgen, ihn zu fixieren. Die Beschreibung kehrt sich um. Der Schatten ist dem Körper voraus, indem er sich dem Körper schon entzogen hat, bevor dieser ihn zu erfassen bereit ist. Der Schatten war in seiner Sichtbarkeit zeitlich zuvor an der Stelle, an der Otth im Nachhinein mit der Kreidelinie versuchte, ihm zu folgen. Der Eindruck entsteht, dass nicht

Bildbetrachtung Video

der Schatten, sondern der Körper Nachrangiges, Abhängiges, in Relation zum Schatten Stehendes, Mögliches ist. Am deutlichsten wird dieser Moment, als Otth versucht mit der zeichnenden Hand den Schatten der zeichnenden Hand zur erreichen, ihn zu beschreiben, seine Form festzuhalten. Im Wahrnehmen, im Erfassen mithilfe des Blickes, ist dieses viel eher möglich als in der Aktualität des Handelns. Die Umzeichnung des Schattens der Hand findet gedanklich vor der Ausführung statt, wobei dies in gedanklicher Handlung gelingt, in realer Handlung misslingt und somit ins Leere zu laufen scheint. Die Linie, die Otth versucht, zeigt alles andere als die Silhouette einer zeichnenden Hand. Ihre Form lässt sich konnotativ nicht mehr mit ihr verbinden, sie könnte vieles sein und bleibt zurück als misslungener Versuch eines Abbildes, jedoch auch als gelungener Versuch einer Interpretation. In dieser liegt die Möglichkeit einer Hand viel offener als in einem starren Abbild von ihr. Die Möglichkeiten ihrer Bewegungen sind viel präsenter und ihre mannigfaltigen Möglichkeiten an Formbarem sind dieser Form in besonderem Maße inhärent.8

Abb. 14 Bild 01494; Bild 02767 Ebd.

Betrachtet man dieses im Ganzen, so wird ersichtlich: Den eigenen Schatten festzuhalten ist möglich, wenn der Abstand zu ihm am größten ist. Es ist das Zurückweichen auf Armlänge, das hierbei notwendige Bedingung war. Nur dadurch ist die Möglichkeit entstanden, den Schattenwurf an der Wand näherungsweise zu fixieren, mit einer weißen Linie einzukreisen, die in ihrem ureigensten Sinne das Negativ seiner beschreibt. Hier trifft Hell auf Dunkel, Weiß auf Schwarz – auf einer Fläche des dazwischen liegenden Graues. Otth wendet sich daran anschließend dem Kontrollmonitor zu, um sich ein Überblicksbild, einen Fernblick, im Zurücktreten zu schaffen. (Siehe Abbildung 14.) Anschließend beginnt er erneut zu zeichnen, wobei er die Linienstärke und mit ihr seine Handschrift verändert. Im Erfassen taucht jetzt der Wille auf, zwischen Binnenraum und Außenraum des Schattens zu differenzieren und beide stärker voneinander abzusetzen, nicht nur, indem die Grenzlinie 8 | Vergleichbar ist dies mit einem Auftragsporträt, welches Man Ray machte. Eine Dame lies sich von ihm fotografieren. Die Fotografie war unscharf. Die Auftraggeberin merkte an, das sie noch nie so gut getroffen worden wäre. (Marquise Casati 1922).

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zur Sichtbarkeit gebracht wird, sondern auch, indem die dazu gehörige Fläche mit einer Schraffur gefüllt wird. Es entsteht der Eindruck eines anderen Schattens. Im Innehalten Otths sieht der Betrachter Otth als originales Bild, sein Schattenbild sowie das Kreidebild. Auf dem Malgrund verbinden sich plötzlich Schattenbild und Kreidezeichnung zu einer Einheit. Es entsteht der Eindruck, Otth stehe vor einem Bild, das eine dunkle Figur mit einem hellen Schatten zeigt, die Otth in seiner Figürlichkeit verwandt ist. Der Protagonist steht zwar immer noch im Bild, aber außerhalb des Motivs. Diesen Moment sieht die Kamera und der Betrachter deutlicher als Otth selbst. Er ist zu nah am Malgrund, um dies erfassen zu können, und zu sehr Teil des Bildes, um von ihm zurücktreten zu können. Er erblickt es, vergisst jedoch, sich im Bild als Teil des Bildes zu sehen, in den Monitor zu blicken. Er greift zu einem trockenen Schwamm und löscht die Kreideschraffur außerhalb seines Schattens sowie fast alle anderen Kreidespuren aus. Was bleibt, ist ein Rest von Spuren, die an die Zeichnung erinnern, sowie der Schatten an der Wand. Dieser scheint als alleiniger nicht auslöschbar zu sein Otth beginnt erneut wieder mit Kreide, jetzt detaillierter. In der Linie ist er bewusster, er nimmt Falten der Kleidung in die Zeichnung auf, die an den Rändern seines Körpers und an den Rändern seines Schattens entstehen. Er prüft mehrfach seine Position mithilfe des Monitors und wechselt seine Zeichenwerkzeuge. Zu der entstandenen zarten weißen Kreidelinie fügt er einen dunklen dicken Strich hinzu, der nicht auf Farbigkeit, sondern auf Vergänglichkeit angelegt ist. Otth versucht den Schattenrand mit einem in Wasser getränkten Farbroller zu fixieren. Hierbei tritt erneut der Faktor Zeit in den Vordergrund. Es entsteht eine bestimmte Form der Langsamkeit und der Eindruck, dass diese Einfluss auf das Gelingen haben wird. Kann Otth so langsam sein, dass der Schatten innehält und er ihm folgen kann? Wohl kaum. Der Einzige, der dazu in der Lage wäre, wäre Lucky Luke9, der schneller als sein Schatten schießt und diesen trifft, bevor jener ihn trifft. Der Schatten liegt immer in einem nachrangigen Feld, da zunächst das Licht, unter dessen direkter Abhängigkeit er steht, zuerst auf den Körper trifft, bevor er ihn auf der Projektionsfläche erscheinen lässt. Somit kann der Schatten nie schneller sein als der, der ihn wirft. Im Video erscheint eine dunkle kräftige Linie im Bild. Diese Linie ist ein direkter Verweis auf den Schatten selbst, indem sie ihn in seiner Dunkelheit zitiert, in ihrer eigenen Besonderheit als Spur in einem begrenzten zeitlichen Rahmen, sowie als Ephemeres in ihrer eigenen Sichtbarkeit verbleibt. Diese Spur ist hier mit dem Schatten über eine Form von Dunkelheit verbunden, in der beide ineinander übergehen und eins werden. Es ist nicht 9 | Bévère, Maurice de (Morris) »Lucky Luke« eine seit 1946 erscheinenden belgische Comic-Serie. Lucky Lukes größte Begabung ist es, den Colt »schneller als sein eigener Schatten« ziehen zu können.

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mehr klar unterscheidbar, welches in welches übergeht, wie sich das eine vom anderen trennt und wie sich eins zum anderen verhält. Otths Interesse wird hier geprägt durch zwei Schwerpunkte – durch die Randlinie der Silhouette sowie durch den Binnenraum, den sie erzeugt. Otth versucht den Binnenraum mit einer Schrägschraffur zu beschreiben. An dieser Stelle im Video verzichtet Otth auf die Referenz seines zeichnenden Armes. Er lässt ihn zunächst einfach aus, wobei in der Auslassung eine besondere Form der Aufmerksamkeit liegt und er darüber erneut eingebracht wird. (Siehe Abbildung 15.)

Abb. 15 Bild 06739; Bild 07298 Ebd.

Die Fehlstelle, die Öffnung, kennzeichnet eine Unbestimmtheit, eine mögliche Vielheit. Zum einen kennzeichnet sie das Fehlen von etwas, wie den Verweis auf die Mannigfaltigkeit, der innerhalb derer das Fehlende möglich ist. Es ist ein Verweis auf die Unmöglichkeit einer Repräsentation. Im Weglassen liegt hier das Unvermögen, das Weggelassene auf bestimmte Weise festzuhalten, es abbilden zu können. In der Ausklammerung liegt nicht seine Abwesenheit, sondern die nichtmögliche Einklammerung, die Abbildbarkeit. In seiner Nichtsichtbarkeit ist er trotzdem anwesend, was auch von der Unabgeschlossenheit der einfassenden Linie zeugt. Die Umrisslinie erfährt an der Stelle des rechten Armes eine Unterbrechung, eine Öffnung, keine Schließung. Es ist die Bestimmung einer nicht bestimmbaren, unendlichen Qualität, wobei sich die Frage stellt, warum dies nicht ebenso für den gesamten Körper gelten soll. Das, was die Zeichnung hier mit bestimmt, der rechte zeichnende Arm, ist ein als unfassbare Fehlstelle im Bild in einer denkbaren Offenheit Vorhandenes. Otth wechselt im Erfassen des Schattens ständig seine Malwerkzeuge. An der Wand erscheinen Überlagerungen von Kreidelinien und Wasserspuren, von filigraner und flächiger Malerei. Der Wechsel zwischen weißer Kreidelinie und dunkler Wasserspur tritt ebenso als Analoges auf wie der Wechsel zwischen Absenz und Präsenz. Ist es dem Schatten gegeben anwesend zu sein, im Sichtbaren wie im Unsichtbaren, so ist dies analog zum Verschwinden, zum Auftrocknen der Linie, die den allmählichen Prozess des Verschwindens beschreibt. Was der Auftrag des Wassers, das im Grunde genommen nicht sichtbar ist, zeigt, entsteht als Kollaboration mit dem Grund, auf den es aufgetragen wird. Indem es diesem möglich ist, es aufzunehmen, tritt seine Sicht-

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barkeit zu Tage. Diese Sichtbarkeit hängt in entscheidendem Maße vom Grund der Dinge, die es berührt, ab. Im Beziehungsgeflecht, in das es hier eingebettet ist, kann erst seine Sichtbarkeit entstehen wie auch sein semantischer Bezug. Hierbei tritt es zum Schatten in eine Ähnlichkeitsbeziehung ein. Der Projektionsgrund, auf den dieser fällt, muss bestimmte Eigenheiten besitzen, um ihn zur Sichtbarkeit gelangen zu lassen. Zum ersten Mal entsteht an dieser Stelle im Video durch den flächigen Auftrag des Wassers der Eindruck, Otth arbeite an seinem Schatten, er malt Schatten. (Siehe Abbildung 16.)

Abb. 16 Bild 09421; Bild 10452; Bild 10228 Ebd.

Es ist dies nicht nur der Verweis auf eine Bestimmtheit, sondern gleichsam der Verweis auf die unmögliche Zeichnung. Das Wasser und die Flächigkeit seines Auftrages sind gegenüber der Kreidelinie ein angemesseneres Mittel, um Schatten zu malen. Indem Otth sich neben den dunklen Tafelauftrag positioniert, ist nicht mehr klar erkennbar, ob sein Schatten vom hinter ihm stehenden Licht erzeugt wird oder ob das dunkle Bild an der Wand ein gemalter Wasserschatten ist, der nach einer Zeit verschwunden, aufgetrocknet sein wird. Der reale Schatten ist im Dunkel des Tafelbildes nicht mehr sichtbares Element. Er ist temporär verloren, verborgen in einer ihm verwandten Fläche. Die Videokamera verhindert die Möglichkeit einer konnotativen Bestimmung und Unterscheidung zwischen gemaltem und projizierten Schatten. Dies weist auf ein Weiteres hin, den Glauben an die bildliche Repräsentation. Der Schatten ist, wie in der Fotografie Rotschenkos, etwas, was wir zu kennen, zu erkennen glauben, was aber durchaus eine Täuschung sein kann. Im Bewegtbild erschließt sich dies oftmals eher, als im Standbild.10 In Otths Videoarbeit erscheinen oft Prozesse des Wandels, der Uneindeutigkeit. Während in einem Standbild der Schatten eindeutig der Form der Person entspricht, sich mit ihr in Ganzheit zu vereinen scheint, tauchen im folgenden Standbild Brüche auf. Das Schattenbild scheint an der Wand kleben zu bleiben, während Otth sich abwendet, sich seinem 10 | Es gibt Ausnahmen siehe den Film »Letztes Jahr in Marienbad« von Alain Resnais. Die eingezeichneten Schatten der Personen im Park, sind sichtbar, während alle anderen Objekte schattenlos erscheinen. Es besteht die Erwartungshaltung, das was sich zeigt, auch einen Wahrheitsanspruch erfüllt.

Bildbetrachtung Video

Kontrollmonitor zuwendet. Es ist nicht nur der Moment der Differenz, der irritiert, sondern die Frage, die Otth im Eingangszitat gestellt hat – es ist die Befragung der Relation zwischen Originalbild, Schattenbild und grafischem Bild, die weit offener gehalten werden muss, als Otth sie beschreibt. Otth reicht die dunkle Linie des Wassers als Möglichkeit der Erfassung nicht aus. Er erweitert sie durch eine Kreidelinie, wischt diese aus, zeichnet sie neu. Hell und dunkel begegnen sich. Nach dem ersten zeitlichen Drittel des Videos verlässt er den sichtbaren Bildraum in Richtung Licht.

Abb. 17 Bild 12317; Bild 12386; Bild 12408 Ebd.

Im Akt des Verlassens erscheint für eine kurze Dauer sein Schattenwurf ohne seinen dazugehörigen Körper im Bild. Der Schatten ist in diesem Moment nicht mehr bestimmte Form, die auf ihr Referenzobjekt in einer Eindeutigkeit verweisen kann, sondern Verschattung des Lichts, die mit der Dunkelheit im Bild kollaboriert und mit ihr zu verschmelzen beginnt. Otths Schatten verlässt das Bild erst, nachdem der Körper es schon längst verlassen hat. Der Körper ist hierbei schneller als der Schatten, den er erzeugt, er ist Verfolgter seines eigenen Schattens. Der Schatten tritt hier auf als Unbestimmtes, Unscharfes, an den Rändern Zerfasertes. In der Zunahme des Abstandes des Körpers zur Projektionsfläche erfuhr der Schatten eine Unbestimmtheitssteigerung. Ein Verweis auf Otths Körperlichkeit ist nicht mehr erkennbar, nur noch erahnbar, gegebenenfalls konnotativ bestimmbar. Die Relation zwischen Projektionsfläche, Körper und Lichtgebendem hat sich verschoben und mündet in eine Unschärferelation, im visuellem wie im gedanklichem Sinn. Mit dem Entzug des Körpers sowie des realen Schattens aus dem Bild entblößt sich das gezeichnete Schattenbild an der Wand. Es trägt eine mannigfaltige Offenheit und bleibt als Spur, als Versuch einer grafischen Geste, als ephemerer Versuch der Erfassung, der Archivierung. Was noch bleibt, ist die Frage nach der Repräsentanz. So scheint es, dass sich plötzlich die Bestimmungsverhältnisse umkehren und das Dunkle der nassen Malerei zum Körper und das Helle der Kreidelinie zum Schatten wird. Beide scheinen in einem Dialog zu stehen und verbunden zu sein wie Körper und Schatten. Das Dunkle des ehemaligen Schattens tritt als Andeutung einer Körperlichkeit hervor und steht in einem bestimmten Abstand zur Kreidezeichnung. Gesteigert wird

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dies in einem Moment des Glanzes, der durch die Reflektion des Lichts in der Nässe erscheint. Hier zeigt sich das Licht erstmalig im Bild, wenn auch als Instanz des Scheinwerfers, der außerhalb des Bildraumes steht. Indem der Glanz im Dunkel auftaucht, entblößt er es als flächiges, trennt es vom Schatten und macht es zum Licht, in Form einer reflexiven Helle. (Siehe Abbildung 18.)

Abb. 18 Bild 12706 Ebd.

Indem Otth den Bildraum verlassen hat, existiert im Bild kein Körper mehr, dem es gegeben ist, einen Schatten zu erzeugen. Das was sichtbar ist, erscheint ähnlich wie zu Beginn der Arbeit als Zweidimensionales, als Malerei, als noch nicht getrocknetes Aquarell. Es ist nicht mehr erkennbar, das eine nicht unerhebliche Distanz zwischen Bildträger und Kamera, die für das Auge des Betrachters steht, zu überbrücken ist. Es erscheint eine andere Tiefe, nicht im voräumlichen, sondern immer im innenräumlichen Sinn sowie im Denken. Es zeigen sich Schichtungen und Überlagerungen auf dem zweidimensionalen Bildträger, die den Blick in eine unbestimmte Tiefe ziehen. Vergleichbar ist dies mit dem Blick in den Spiegel, nicht im Sinne des Abbildens, des Erkennens, sondern vielmehr mit dem Blicken hinter den Spiegel, mit dem Blicken in einen erweiterten Bildraum. Das Dunkle im Bild scheint, ähnlich wie Otth zu Beginn der Arbeit, vor dem Bild zu stehen, halb verdeckt durch ein schräges Element, eine Schärpe, ein verhüllendes Tuch, einen Schleier, gleichzeitig die Kreidezeichnung verdeckend, was durch ihre Unvollendetheit zusätzlich evoziert wird. Es ist dieses Unvollendete, in der Schwebe Bleibende, das den Schatten als ästhetisches Objekt hervorhebt und ihm eine besondere Qualität verleiht. Indem Otth aus dem Bild gegangen ist, ist er zum Licht gegangen. Dies ist der Verweis auf den Werktitel und die Intention der Befragung, der Otth nachgeht. Erst in der Abkehr vom Schatten, in der Umwendung zum Licht setzt der Prozess des Erkennens bei den Höhlenbewohnern in Platons Höhlengeichnis ein. Es ist die Umwendung vom Urbild, vom Trugbild zum lichtgebendem Element, bei Platon der Sonne, dem Licht der Erkenntnis. Diese Umwendung, im körperlichem wie im geistigen Sinne, zieht den Gang ins Licht des Wissenwollens, des autonomen Handelns nach sich. Otth wendete sich beim Verlassen des Bildes nicht zur lichtabseitigen Seite, sondern zu der

Bildbetrachtung Video

Seite aus der das bestimmende Licht zu kommt. Für einen Moment ist Otths Gesicht im Bild erkennbar. Ein Moment, der ablenkt, ein Stich, ein Punctum im bewegten Bild. Es ist Otths Abwendung vom Bild, vom Betrachter, von seiner Rückenansicht, die sein Gesicht verdeckt, die dadurch dem Bild die Möglichkeit gibt, seinen Raum um ein Weiteres zu öffnen. Der Glanz, der an der nassen Stelle der Tafel erscheint, ist ein wichtiger Verweis auf das Licht, das für den Schatten existentielle Bedingung ist. Tauchte es zunächst als unbestimmtes, erahnbares auf, sichtbar an den Dingen, so beschreibt es den Malgrund in seiner eigenen Dinglichkeit, wenn dieser es reflektiert. Es ist nicht mehr nur die Möglichkeit einer Sichtbarmachung, eines Zeigens, das dem Licht inhärent ist, sondern es ist abhängig von der Beschaffenheit der Dinge und wird durch diese gelenkt. Der helle Lichtreflex, der auf dem Malgrund erscheint, das Dunkle auslöscht, lenkt ebenso den Blick des Betrachters. Er zieht ihn mit der Fülle seiner Aufmerksamkeit auf sich. Die anderen Elemente des Bildes fallen zurück und es entsteht eine andere Bedeutungsebene. Der Lichtreflex ist die Steigerung des im Lichtseins. Es ist der Glanz, den etwas zurückgeben kann, wenn es vom Licht getroffen wird. Es scheint als Form des Eigenlichtes der Verweis auf das göttliche Licht zu sein und ist ebenso Umlenkung des Lichts, das den Betrachter trifft und medial eine Fehlstelle im Videoband erzeugt. Auf dieses Helle geht Otth zu, wenn er eneut ins Bild tritt, von rechts kommend, zunächst als dunkle Silhouette. Er löscht die dünne Kreidelinie und zeichnet eine neue breitere, kräftigere mit Teilen der Auslassung. Das Dunkle im Bild nimmt er nicht in die Zeichnung auf. Es ist im Prozess des Verschwindens begriffen. Otth löscht das Tafelbild komplett, indem er es großflächig mit einem nassen Schwamm verwischt und hierdurch ein neues Bild entstehen lässt bzw. den Grund für eine neues schafft. In dem Moment, in dem die Tafel fast vollständig nass ist, tritt sie ein in ein unbestimmtes Dunkel, das den Schatten Otths aufnimmt und verbirgt. Er scheint mit dem Dunkel der Nässe eins zu werden. Es ist der Abstand des Betrachters, der dies evoziiert. Für Otth scheint dies nicht der Fall zu sein. Er beginnt erneut mit der Kreide seinen Schatten einzukreisen, mehrfach und mit unterschiedlichen Linienstärken. Diese treten in Korrespondenz zu den dunklen Spuren des Auslöschens, des trocknenden Wassers. Es entsteht ein Bild der Bewegung, des in der Schwebeseins, des Ephemeren. Der Schatten ist nicht durch eine Linie festzuhalten, sondern in einer besonderen Vielheit begründet. Als wichtiges Moment der Erfassung taucht die Differenzierung zwischen Binnen- und Umraum auf. Otth arbeitet am Binnenraum, indem er ihn mit einem trocknen Tuch auswischt. Dieses Wischen weitet sich über die ganze Tafel aus und löscht das Motiv erneut, bis zu einem bestimmten Rest. Otth beginnt immer wieder erneut. Er versucht nicht mehr die Außenlinie, die Grenze des Schattens festzuhalten, sondern beschreibt seinen Inhalt, indem er ihn mit tupfenden Bewegungen

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des nassen Schwammes füllt. Es ist eine flächige Bestimmung, die an einigen Stellen Unterbrechungen aufweist, mit der der Betrachter eine direkte Aufforderung im Sehen erhält. Es ist nicht mehr das Führen des Blickes an einer weißen Linie entlang, sondern es ist das flanierende Gleiten des Blicks, der im Bild, in der dunklen Figur mäandern kann. (Siehe Abbildung 19.)

Abb. 19 Bild 24577; Bild 25488; Bild 25611 Ebd.

Otth wiederholt den Prozess an anderer Stelle, etwas versetzt. Plötzlich scheint es, als tauchten zwei Personen im Schatten auf. Es ist erneut der Moment eines Davor und eines Dahinter, einer Staffelung, die eine Raumtiefe im Tafelbild erscheinen lässt. Dieser Moment ist vergleichbar mit einem Moment, der zuvor schon einmal aufgetaucht ist, in dem die weiße Umrisslinie das Dunkle der Wasserzeichnung und Otth als Abbild seines Körpers in ein Beziehungsverhältnis gesetzt hatte. Otth fügt diesem ein Drittes, eine absichtlich aus der Mitte des Bildes gerückte weiße Umrandung seines Schattens, hinzu. Er zeichnet grob und betont in der Kreidezeichnung die Partie seines Kopfes. Er zeichnet nicht mehr nur dessen Umrandung, sondern vollzieht an seiner Stelle das unendliche Rund eines Kreises, indem er es wiederholt mit mehreren Linien beschreibt. Es ist Verweis auf die Unendlichkeit und Unmöglichkeit des Versuchs, seinen eigenen Schatten festzuhalten. Otth geht aus dem Bild, nach links, weg vom Licht, hinein ins Dunkel. Was bleibt, ist ein Versuch der Verzweiflung und der Verweis auf ein Nichterfassenkönnen.Er tritt erneut, aus dem Dunkel des Raumes kommend, als Silhouettenhaftes ins Bild und setzt die Kreide beidhändig über seinem Kopf an, hält inne, und bevor er beginnt, löscht er mit einem trockenen Schwamm die Spuren des Davor aus. Danach beginnt er beidhändig zu zeichnen. Jede Hand versucht, die ihr zugehörige Seite des Körperschattens einzufangen. Otth kommt wieder an eine Grenze der Erfassung. Er kann nicht gleichzeitig beide Hände beim Zeichnen mit seinem Blick verfolgen. Die zeichnende Hand hält inne, gerät ins Stocken, solange er nicht in Blickkontakt mit ihr sein kann. Erst wenn er diesen Kontakt wieder aufnehmen kann, ist es ihm Möglich, die Geste des Zeichnens fortzusetzen. Otth füllt anschließend den Binnenraum mit weißer Kreide aus. Nach einem langen letzten Blick auf den Kontrollmonitor entscheidet er sich für das Auslöschen der Zeichnung, er be-

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nutzt den trockenen Schwamm, der alles ineinander übergehen lässt, Spuren der Kreidezeichnung, Spuren der Wasserzeichnung, Helles in Dunkles und Dunkles in Helles, wobei wir wissen, dass die Spuren des Wassers nach einer geraumen Zeit verschwunden sein werden. (Siehe Abbildung 20.)

Abb. 20 Bild 29513; Bild 30060; Bild 31875; Bild 32501; Bild 34187; Bild 34295; Bild 34441; Bild 34490 Ebd.

Eine besondere Geste, die beim flüchtigen Betrachten untergeht, entsteht danach. Otth berührt mit seiner linken Hand die Tafel und mit ihr seinen Schatten, zweimal. Indem er ihn berührt, er ihm so nah wie möglich kommt, verliert er im Schatten die Hand, die ihn berührt. Sie liegt im Körperschatten und wird durch diesen verdeckt. Im Schatten an der Wand erscheint der Arm als Stumpf, als Deformation, als Bild einer Behinderung. Otth berührt hier nicht seinen Schatten, sondern im Grunde genommen einen Teil der Fläche, auf den er fällt. Nur diese Zuhandenheit als Materialität ermöglicht dem Schatten seine Sichtbarkeit und schafft für Otth die Illusion der Möglichkeit einer Berührung. Für Otth ist es eine Geste des Abschieds wie auch eine Geste der Anerkennung in gleichem Maße, bevor er letztmalig mit seinem Schatten vom Podest steigt und das Bild verlässt. Er geht nach links aus dem Bild, in die gleiche Richtung, aus der er zu Beginn des Videos gekommen ist. Sein Schatten geht voran, er folgt ihm, sich dessen bewusst, dass der Versuch, seinen eigenen Schatten mithilfe der Zeichnung festzuhalten, unmöglich ist. Das letzte Bild des Videos ist ein dunkles Bild, auf dem nichts zu sein scheint. Der Blick ins unbestimmte Dunkel ist nicht der Blick in den lichtlosen Raum des Ateliers, sondern der Blick auf ein technisches Bild. (Siehe Abbildung 21.) Seine Erzeugung fand nicht im Raum der bisherigen Aufnahme, im Atelier, statt, sondern im Raum davor, in der Kamera selbst. Dieses Bild ist ein direkter Verweis auf die Form des Mediums selbst. Hierbei scheint nicht notwendige Bedingung für die Bilderzeugung zu sein, dass eine Referenz zur Beschreibung eines Abbildverhältnisses gegeben sein muss, sondern Licht wie auch die Abwesenheit von Licht erzeugen auf dem Videoband Spuren einer

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Sichtbarkeit wie auch einer Nichtsichtbarkeit. Das Bild erscheint als Bild einer Nichtbeschreibung durch Licht im Licht des Monitorbildes, das es letztendlich beschreibt, Zeile für Zeile.11 Eine bewusste Setzung dieses Bildes am Ende des Videos ist nicht das Ende, sondern, um es mit dem schwarzen Quadrat von Malewitsch zu beschreiben, die Summe aller Bilder. Im Videobild, im Lichtbild, erscheint es in Form einer Dunkelheit. Es ist hier jedoch die Umkehrung davon. Was im Schwarzbild sichtbar wird, ist die Summe der möglichen Bilder.

Abb. 21 Linkes Bild: Bild 34520 Ebd.; mittleres Bild: Malewitsch, Kasimir »Schwarzes Quadrat« 1915; rechtes Bild: Sugimoto, Hiroshi »La Paloma, Encinitas« 1993.

In der Addition der Videobilder entsteht eine Helle, der Blick geht ins Licht. Es wäre eher eine Langzeitbelichtung, eine Überbelichtung, wie in den Fotografien von Hiroshi Sugimoto, die einen Kinofilm in einem einzigen Bild zeigen und gerade deshalb eben nicht zeigen. (Siehe Abbildung 21.) Das Dunkle ist im Video wie im Film und in der Fotografie eine Unterbelichtung, eine Fläche, die darauf wartet, dass das Licht an den Dingen sichtbar wird. Es ist bei Otth das unbeschriebene Videosignal, Videobild, das sich zeigt und gleichsam wie zu Beginn als erstes Bild präsentiert wird. Es bietet sich an – als Möglichkeit, als Bühne. Das letzte Bild hat in sofern etwas mit dem Schatten zu tun, als dass ihm das Licht abhanden gekommen wie auch als dass es als Grund, als Projektionsfläche zuhanden ist. Ohne ein relationales Gefüge, ohne ein Verwobensein in einem Dinggeflecht, bleibt dieser Grund unbestimmte Leere und lässt den Betrachter allein. Der Schatten ist Form und bildgebendes Element, das Otth im Video versucht mit den Mitteln der Zeichnung zu untersuchen, zu beschreiben und in eine Verhältnisbestimmung zum eigenen Körper, als originärem Bild, dem Bild seiner Zeichnung und dem Bild der Videoaufnahme zu bringen. Für Otth ist die Dokumentation der Handlung durch die Möglichkeit der Aufzeichnung auf Video maßgeblicher Untersuchungsgegenstand.

11 | Es wird davon ausgegangen, dass die digitalisierte Version dem Original entspricht und keine Schwarzbilder beim digitalisieren hinzugefügt wurden. Otths Arbeiten, die in dieser Zeit entstanden sind, waren für die Präsentation mit Hilfe eines Röhrenmonitors bestimmt. Andere Werke von ihm enthalten überwiegend kein Schwarzbild am Ende.

Bildbetrachtung Video »The interest in this video track lies in documentation of action through the video recorder. It concerns a questioning of the various modalities of one reality, through the use of the video image (in this case my shadow, the graphic trace of my shadow, and my real image).«12

Körperschatten Vergleicht man die Videoarbeit mit der Fotografie von Rodschenko, ist zunächst einmal festzustellen, dasst in beiden der Schatten als Element im Bild auftaucht. Er steht darin jeweils mit dem Projektionsgrund im Dialog, jedoch nicht ausschließlich. Da die Position der Kamera und somit die des Betrachters nahezu mit der Position der Lichtquelle übereinstimmt, ist es nur bedingt möglich, den Körperschatten, den Schatten, der am Körper auf der abgewandten Seite des Lichts entsteht, zu erkennen. Nur in bestimmten Momenten wird er für den Betrachter an Otths Körper sichtbar, wenn er sich abwendet, um aus dem Bild zu gehen, oder wenn er zu einem neuen Werkzeug greift. Die verschattete Seite des Protagonisten bleibt abgewandt und im Verborgenen. Was erscheint und ihn dadurch näher bestimmt, ist das Heraustreten eines Körperfragments aus dem Schatten. Es entsteht der Eindruck eines abgelösten Teils, das durch das Dunkle des Körpers eine Unterbrechung erfahren hat. Konnotativ ist die rechte Hand mit dem Arm, die Schulter mit der Person verbunden. Sichtbar ist dies jedoch nicht. Der Schatten verbirgt diese Verbindung. Der Schatten am Körper erfährt eine Erweiterung. Am Rücken, den Otth zum Licht gewandt hat, treten dunkle Linien, Faltungen im Stoff auf, die dem Schatten einen Zufluchtsort im Licht bieten. In diese Vertiefungen kann das Licht nicht vollends eindringen. Es entstehen linienhafte Zeichen, die sich über die Dauer des Videos in steter Veränderung befinden und eine ephemere Zeichnung auf Otths Rücken entstehen lässt. Es ist eine ephemere Zeichnung, die allein durch die Möglichkeit der Aufzeichnung als Bewegtbild bewahrt werden kann. Es ist eine Zeichnung aus Licht und Schatten, möglich durch die Stofflichkeit des Materials und möglich durch den Körper, der in Bewegung bleibt, der Einfaltungen und Ausfaltungen erzeugt. (Siehe Abbildung 22.)

Abb. 22 Bild 04744; Bild 10928; Bild 10979 aus Jean Otth »Le mythe de la caverne«. 12 | Otth, Jean in »office for videoart« Zofingen www.videoart.ch vom 22.10.2015.

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Was wurde ausgeblendet? Auf das Geräusch oder, um mit dem Vokabular der Filmanalyse zu antworten, auf den Ton, die Atmo kann hier zwar nicht in angemessener, jedoch immerhin in fragmentarischer Weise eingegangen werden, obwohl das ein wichtiges Element im Video ist. Otth hat bewusst die Tonspur parallel zur Handlung aufgenommen. Es existiert weder ein zeitlicher Versatz noch eine räumliche Verschiebung. Der Ton wurde wie das Bild am Ort der Erzeugung, zur Zeit der Erzeugung aufgezeichnet. Das, was wir hören, sind jedoch unterschiedliche Räume, die sich erst in der Möglicheit der Aufnahme zu einem ganzen verbinden. Es sind dies ein unbestimmtes Rauschen, das der Apparat der Aufzeichnung, die Kamera erzeugt. Für einen kurzen Moment ist dieses Geräusch das akustisch bestimmende und alles andere auslöschende Fragment. Im Rauschen kann der Ort des Rauschens nicht lokalisiert werden. Was gleichsam nicht lokalisiert werden kann ist, ob in diesem Rauschen andere Geräusche verborgen sind. Zu diesem fügt sich der Geräuschraum im Raum der Aufnahme, dem Atelier hinzu. Hierzu gehören Geräusche, die Otth während seines Handelns erzeugt. Es sind seine zu Beginn hörbaren Schritte im Raum. Sie verweisen, ähnlich wie ein Schatten, auf eine Person, die nicht sichtbar, jedoch anwesend erscheint, wie auf den Raum, der sie akustisch reflektiert. Es ist ein bestimmter Hall zu hören, der auf die Qualität des Raumes, seine Größe, seine Ausstattung wie auch auf die Person, die ihn erzeugt verweist. Dieses Geräusch evoziert den Eindruck eines Innenraumes, eines Zimmers, das mit einem Holzboden ausgelegt ist. Otth trägt Schuhe während er harten, bestimmten Schrittes über ihn geht und ins Sichtbare des Bildrahmens gelangt. Das Geräusch, das er dabei erzeugt, ist vor ihm im Bild, nicht als etwa Sichtbares, sondern als etwas Hörbares. Es ist Anwesendes, während Otth im Bild noch abwesend, nicht sichtbar, ist. Zu diesem Geräuschraum gehört auch das Telefon, das plötzlich schrill klingelt und genauso plötzlich im Klingeln verstummt. Hinzu kommen die Geräusche des Zeichnens, das Abreiben der Kreide an der Tafel, das Aufsetzen der Kreide auf die Tafel, das schrille Quitschen der Kreide kurz vor Schluss, das Wischen des Schwammes, das Abrollen des Wassers, das Aufnehmen von Wasser, das Wischen des nassen Schwammes, das harte Auftreffen der Malwerkzeuge auf der Ablage, das Abschaben der Zeichnung mit dem trocknen Schwamm gegen Ende. Diesem fügen sich die Eigengeräusche von Otth, sein Stöhnen, sein Schlucken, sein Atmen, an. Da sie durch den Akt des Zeichnens hervorgerufen werden, finden sie die Zuordnung zu den Geräuschen des Zeichnens, die beim Zeichnen entstehen. Ein weiterer Geräuschraum ist der Außenraum, der Verweis auf eine Straße, die am Haus vorbeiführt, Autogeräusche, Motorenlärm. Der Verweis auf ein relationales urbanes Gefüge, in dem jeder verortet ist. Der Verweis auf ein Nicht-allein-Sein, auf andere Menschen, auf ein Dorf, auf eine Stadt, auf

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ein politisches, gesellschaftliches wie auch kulturelles und ethnisches Gefüge, auf Bedingungen des Lebens. Hinzu kommt der Raum des Nichtsprechens. Otth vermeidet während der Performance eine sprachliche Äußerung sowie die Aufnahme eines sprachlichen Kontaktes. Er verweigert sich der Anfrage danach, indem er sich vom Klingeln des Telefons eben nicht stören lässt. Otth ist dem Prozess des Zeichnens ganz verhaftet, ist im inneren Dialog, der in der Beziehung zum Außen eingebettet ist. Das Nichtsprechen erzeugt einen besonderen Raum der Spannung und ebenso wie das Abwenden des Gesichtes lenkt es den Blick des Betrachters. Der Protagonist tritt hinter seine Identität so weit als möglich zurück, indem er sein Gesicht und seine Stimme verbirgt. Einzig die Geräusche, die auf einen belebten Körper hinweisen, die Atmung, die Geräusche beim Gehen, beschreiben ihn außerbildlich als anwesendes Lebewesen. Die Stille, die am Ende des Videos plötzlich einsetzt, erzeugt einen Geräuschraum, der nachklingt, obwohl Stille vorherrscht. Es ist der Verlust des Tons, der 23 min anwesend war und als verlässliches Moment nicht ausgeblendet wird, langsam leiser werdend, sondern von einem zum anderen Bild geendet ist. In dieser Form des Endens erscheint sein Verlust um so deutlicher. Obwohl er endet, hört man ihn gedanklich noch einen Moment. Die Stille erscheint gewaltiger, nachdem der monotone repetitive Ton verschwunden ist. Einzig in dem er anwesend war, kann er in seiner Abwesenheit verdichten. Da die Beschreibung der Arbeit sich auf den Schatten konzentieren soll, muss alles andere zunächst zurücktreten, obwohl es Mannigfaltigkeiten an möglichen Anknüpfungen des Denkens gibt. Hier klingt der Verweis auf eine Analogie zum Schatten an. Er kann nicht als alleiniges im Bild stehen wie auch nicht aus sich heraus entstanden sein. Es ist notwendige Bedingung, dass er Nebendarsteller hat, die ihn erst zu einer bestimmten Form der Sichtbarkeit gelangen lassen. Es sind im vorliegenden Fall der Protagonist Jean Otth, der einen Schatten erzeugt, der ihn auf der Wand erscheinen lässt. Ohne ihn als Darsteller, die Wand als Grund, auf die er sich niederlassen kann, und dem Licht wäre der Schatten nicht sichtbares, nicht wahrnehmbares wie auch nicht fixierbares Element. Grundlegende und minimale Bedingung, dass Schatten entstehen kann, ist, dass sich dem Licht etwas in den Weg stellen kann, also ein Objekt und eine Lichtquelle. Das, was ihn zur Sichtbarkeit erhebt, ist ein Grund, auf dem er sich zeigen kann. Sind diese Bedingungen gegeben, so erscheint seine Fixierbarkeit in Anhängigkeit vom Vermögen eines bildgebenden Verfahrens zu sein. Das Maß der Fixierbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit auf zweierlei Möglichkeiten hin geprüft. Zum einen, indem Otth versucht, seinen eigenen Schatten zu erfassen, als grafische Linie, als Bild, wie aber auch zu erfassen in einer Verhältnisbestimmung zu seiner eigenen Person, indem er den Versuch und dessen Misslingen als dokumentarische Videoarbeit beschreibt. Es ist einerseits die Unmöglichkeit, den eigenen Schatten in der eigenen Bewegung festzuhalten,

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jedoch gleichzeitig der Nachvollzug dieser Unmöglichkeit mithilfe der Videokamera. Otth lässt sich im Grunde genommen von der Kamera beim Scheitern des Versuchs der Fixierung seines Schattenbildes filmen. Mit jedem Versuch sein Schattenbild einzukreisen und an den Malgrund als Form abzugeben, stellt er fest, dass es ihm nicht gelingen kann. Es ist der repetitive Versuch und die Suche nach der Möglichkeit der Fixierung eines sich bewegenden Objekts mit der erweiterten Schwierigkeit, dass das Objekt der Bewegung mit dem Objekt des Fixateurs eins sind. Philippe Dubois schreibt zu Otths Arbeit, dass der eigene Schatten nicht selbst darstellbar sei und »die ganze Geschichte der Repräsentation nur eine Geschichte der Versuche, diesen ursprünglichen Mangel und Defekt zu beheben, zu travestieren, zu umgehen, trickreich zu überwinden oder Ersatzlösungen zu finden« sei.13 Der Schluss, der sich darin aufdrängt, ist, dass Zeichnung und Malerei als Vorstufe der bildgebenden Medien gedacht werden können sowie als prozesshafter Weg der Abbilderfassung, die Wegmarken komplexen künstlerischen Ausdrucks erzeugt und hinterlassen hat. Mit dem Wollen, etwas so gut wie möglich zu erfassen, abbilden zu können, ist ebenso das Wollen eines Abstraktionsverhältnisses, das einer Übertragungsleistung im freien künstlerischen Sinne erst möglich geworden. Mit Blick auf die Kunstgeschichte entstehen unterschiedliche Anknüpfungsmöglichkeiten zu Otths Arbeit. Was als Bild erscheint, ist eine Wandmalerei, in der Vasari sich zeichnend beim Festhalten seines eigenen Schattens malt (Siehe Abbildung 23.) Er ist als kniender Jüngling dargestellt, der beim Schein einer Lampe die Konturen seines Schattens an der Wand versucht festzuhalten. Vasari selbst liefert den Schlüssel zur Deutung dieser Szene in seiner Vorrede zu den »Lebensbeschreibungen«, in der eine lange Passage der Frage nach dem Ursprung der Kunst gewidmet ist. Mit Bezug auf den antiken Autor Plinius

Abb. 23 Linkes Bild: Giorgio Vasari »Der Ursprung der Kunst« Wandmalerei Florenz um 1572 Foto: Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max-Planck-Institut; rechtes Bild: Joseph Wright »The Corinthian Maid« 1782-1784. 13 | Dubois, Philippe »Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv« Amsterdam; Dresden: Verlag der Kunst Philo Fine Arts 1998.

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und dessen »Naturalis historiae« berichtet er von dem Lydier Gyges14, der am Feuer sitzend seinen eigenen Schatten betrachtet und diesen dann, einer inneren Regung folgend, mit einem Stück Kohle auf der Wand festgehalten habe. Somit steht für Vasari, der Gyges in seiner Interpretation des Plinius-Textes zum ersten Künstler stilisiert, am Anfang der Kunst, ein narzisstisch motiviertes Selbstporträt, das aus einer spontanen Neigung zur künstlerischen Arbeit heraus geschaffen wurde. Jedoch betrachtet Vasari die zeichnerische Tätigkeit des Lydiers nicht nur als Ausgangspunkt der Malerei, sondern als gemeinsame Grundlage aller Künste. Vasari bezieht sich auf die Stelle des Gyges und nicht auf die ebenso in Plinius Texten zu findende Stelle, in dem Plinius den Enstehungsmythos der Malerei in die Hände eines Mädchens aus Korinth legt, die beim Abschied ihres Liebsten seinen Schattenriss an der Wand festhält. Worauf ebenso ein Verweis erfolgt, ist Platons Höhlengleichnis, an das Otth sich im Titel seiner Arbeit anlehnt. Es ist die Frage nach der Wahrnehmung von Bildern, nach dem, was sich zeigt, was präsentiert wird, nach dem Bild als solchem und die Frage nach seiner Bedeutung innerhalb der Rezeptionsgeschichte bzw. nach seiner Rezeptionsmöglichkeit. Es ist die Frage nach der Möglichkeit, wie der Referent ein Bild von sich schaffen und es gleichzeitig wiedergeben kann, nach der Wiederholung des Aufzeichnens und Wiedergebens, nach dem Versuch der Fixierung wie auch nach dessen Scheitern. Indem Otth versucht, seinen eigenen Schatten in der Bewegung des Zeichnens durch Zeichnen festzuhalten, entsteht ein Liniengewirr. Phillip Dubois nennt es die Geschichte eines unmöglichen Bildes. »Der Schatten muss vom Blitz getroffen werden«, schreibt er, dies ist in der Handzeichnung nicht möglich, in der fotografischen Aufnahme jedoch wohl. Klar erkennbar ist die Differenz, die sich im medialen Kontext zeigt, und wozu die Zeichnung nicht im Stande gewesen ist, jedoch auch, welche Besonderheit in ihr liegt. Im Video bleibt der Schatten unwiederbringlich verknüpft mit der Person, die ihn erzeugt. Die Verbindung ist in den Möglichkeiten einer Zeichnung unterbrochen. Der Titel des Videos »Le Mythe de la Caverne« ist eine Referenz an Platons Höhlengleichnis. Otth geht in einem Text darauf ein. Es ist die Frage an das, was wir sehen, wie wir etwas sehen und wie wir erkennen. »The myth of the cave illustrated, condensed, imploded[...] When an image is projected on it, an object becomes a screen, a medium. It is the object which drives everything, by conferring it all a stable, ontological status. This form of ›collage‹ tips the work over into the field of visual art, rather than that of audio-visual ›fiction‹. A dialogue between matter and light[...] the constituents of Plato’s myth of the cave, where one navigates between the object, the idea of that object, the image of the object, and the shadow of 14 | Caius Plinius Secundus d. Ä. / König, Roderich / Winkler, Gerhard [Hrsg.] »Naturalis Historia« Berlin: Akademie Verlag Berlin 1979.

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Medienästhetik des Schattens the object – and moreover of light, and the source of that light questioning this idealism which I can’t quite totally dismiss[...] especially today, when only the ›real‹ seems to fascinate the ›fetishists of the object‹ that we’ve all become.«15

Diesem ist hinzuzufügen, dass es sich hier im Besonderen um eine Form eines Selbstbildnisses handelt, dass es um die Unmöglichkeit geht, es in besonderer Form festzuhalten. Es ist nicht das andere, was sich in Form einer Projektion an der Wand zeigt, sondern es ist der eigene Schatten und somit er selbst, dem Otth so nah wie möglich zu kommen versucht. Es ist die Unmöglichkeit des Versuchs, sich selbst zu erfassen und sich selbst zu begreifen. Dies kann nur durch ein anderes, durch andere geschehen. Erst im Moment des Zurücktretens, im Moment der größten Distanz zum eigenen Schatten, bietet sich die Möglichkeit seiner Erfassung. Der Schatten ist etwas, was an sich immer in der Schwebe bleibt, immer in Relation zu etwas anderem Beschreibung und Wahrnehmung erfährt. Er ist bedingungslos auf ein anderes angewiesen. Seine Existenz hängt davon ab. Den Schatten einzufangen, ihn zu archivieren gelingt nicht, indem man den eigenen Schatten versucht einzufangen, sondern benötigt wird immer ein Drittes, ein Medium, eine Apparatur, oder ein anderer. Die Erfassung durch einen anderen ist in Plinius Text sehr schön angelegt und in unterschiedlichen Malereien, wie im Bild von Joseh Wright, dargestellt. Das Selbstporträt war immer schon Kategorie der Malerei, der Zeichnung und wurde oft mithilfe eines Spiegels praktiziert. Fraglich ist der Grund dieser inneren Regung. Es ist nicht eindeutig, aus welcher Intention diese entstanden sein mag. Mögliche Gründe hierfür wären Versuche der Representation, der Archivierung oder der Selbsterfassung. Der Moment des fertigen Selbstporträts, des Sichgegenüberstehens, muss überwältigend gewesen sein, bevor dies mithilfe eines bildgebenden Verfahrens möglich wurde.

Die Kategorie des Außerhalb Ein entscheidender Teil der Arbeit liegt im Raum der Nichtsichtbarkeit. Es ist der Bereich außerhalb der Kadrierung. Diese ist als Rahmung, als nicht veränderbares, starres, verlässliches Moment, als sich in den Hintergrund drängendes, im Bild präsent. Sie ändert sich während der gesamten Dauer der Arbeit nicht, sondern tritt durch ihre Stetigkeit zurück und wird zunächst nicht thematisiert. Während der gesamten Dauer kommt es zu keiner Änderung einer filmischen Einstellgröße, die durch einen Zoom, eine Kamerafahrt, eine Schärfeverlagerung, einen Schnitt hervorgerufen würde. Die Kamera verbleibt an ihrem einmal festgelegten Ort. Mit ihr verbleibt gleichsam der Betrachter in 15 | Vergl. DVD »Jean Otth …autour du Concile de Nicée« Direction éditoriale et scientifique: Anne-Marie Duguet – Electronlibre, Lausanne, et Adrien Cater. Anarchive n°4.

Bildbetrachtung Video

einer Erstarrung, einem Innehalten, in einer physischen Unbeweglichkeit. Er nimmt den Platz der Kamera gegenüber der Darstellung ein. Beide Blickachsen verschmelzen ineinander. Indem die Kameraposition in eine Face-to-Face-Position gegenüber der Szene in Augenhöhe besetzt wurde, ist diese dem formalen Gegebenheiten des Blickes angepasst. Die Aufnahmeposition der Kamera beschreibt den möglichen Blick eines möglichen Betrachters. Die Kamera ist passiver Zeuge sowie Kollaborateur des Akteurs im Bild. Durch ihre Möglichkeit des Aufnehmens präsentiert sie dem Akteur in seinem Kontrollmonitor das, was dieser zu dieser Zeit so nie zu Gesicht bekommen würde. Sie fungiert in diesem Moment als Erweiterung, als Prothese des Blickes. Sie ermöglicht es ihm, hinter sich selbst zu blicken, seine Position im Raum wie im Bild zu prüfen. Der Bildrahmen bleibt einziges verlässliches Kontinuum, während die Ereignisse darin ihren bestimmten Lauf nehmen. Das, was erscheint, kommt von außerhalb des Rahmens, tritt unweigerlich als Ganzes oder als Fragment in ihn ein, während sein Bildinhalt dadurch einer Veränderung unterworfen wird. Die Dinge treten über den Rahmen ins Bild und verlassen ihn wieder darüber hinaus. Es existiert nicht die Möglichkeit, in der Tiefe des Bildes zu verschwinden, wie es bei Landschaftsaufnahmen in Richtung der Horizontlinie oder über eine Öffnung in der Wand möglich wäre. Der Raum zwischen Kamera und Wandtafel ist ein eng begrenzter Ausschnitt der Wirklichkeit, mit einer Tiefe, die an der Wand zu enden scheint. Die Wandtafel, der Malgrund, ist offensichtlich das Einzige, das im Bild von Anbeginn anwesend ist und nicht über die Bildränder ins Bild ein tritt. Beim Vertiefen des Blickes und der Wahrnehmung stellt sich jedoch heraus, dass dies nicht Alleiniges sein kann. Die Bedingung, die im Bild ebenso zuhanden ist, ist das Licht. Ohne die Möglichkeit der Beleuchtung wäre die Wandtafel nicht sichtbares, erkennbares Element. Indem das Licht anwesend im Bild ist, verweist es als indexikalisches auf ein anderes, auf die Lichtquelle, die es hervorbringt. Das Licht in seiner Entstehung außerhalb des Bildes, hinter der Kamera, breitetet sich von daher aus, ergreift den Raum und zeigt sich an den Dingen, so, wie es die Dinge erst zur Sichtbarkeit hebt. Alle anderen Darsteller werden von außerhalb ins Bild eingebracht, treten ein in den Bühnenraum des Bildes. Otths Ateliersituation hat mit der Bühnensituation im Theater einiges Grundlegendes gemein. Das Bild, das durch die Kamera aufgenommen wird, präsentiert diese Bühne. Dies wird durch das Podest, auf den Otth tritt, unterstrichen. Er tritt auf, geht auf die Bühne, sammelt sich und beginnt. Es ist ein Einpersonenstück, in dem Otth auftritt und in einen Dialog zu den Dingen wie zu seinem eigenen Schatten tritt, wie er es in dem Eingangszitat beschreibt: »in this case my shadow, the graphic trace of my shadow, and my ›real‹ image.« Für ihn ist dies, das Hauptinteresse, das er bei seinem performativen Akt verfolgt, die Bedingungen für die Wahrnehmung dessen sind für ihn gegebene Notwendigkeit.

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Medienästhetik des Schattens

Die Kategorie der Zeitlichkeit Die Arbeit bewegt sich in einem bestimmten Raum von Dauer, Zeitlichkeit. Sie präsentiert nicht ein Bild, wie es bei der Fotografie von Rodschenko der Fall war, sondern beschreibt einen Bildwechsel, der 34520-mal vollzogen wird. Die Arbeit besteht aus 34521 Bildern, die in einer bestimmten Form nacheinander für den Bruchteil einer 25stel Sekunde erscheinen. Das Moment des Ephemeren ist eine grundlegende Eigenheit des Schattens, der im Bild ebenso nie zum Stillstand gebracht werden kann, sondern einer ständigen Änderung unterworfen ist. Das Video beginnt zunächst ohne ihn und endet offensichtlich auch ohne ihn, mit einer schwarzen Fläche. Setzt man Anfangs- und Endbild nebeneinander, so können sie ohne Weiteres als Bildpaar, als Dialogisches einander gegenüberstehen. Der Bereich des Dazwischen besteht zwar, ist aber so nicht sichtbar. Es ist unmöglich erkennbar, was zwischen diesen beiden Bildern über eine Dauer von 23 Minuten passiert ist. Beide beschreiben einen unschuldigen Zustand der Gelassenheit und verweisen zunächst auf sich selbst. Auf was sie noch verweisen, ist der Prozess des Verschwindens, des Verdeckens, des Ausblendens. Fraglich ist, warum Otth nicht mit einem Bild der Atelierwand endet, sondern bewusst zwei Schwarzbilder an das Ende der Arbeit setzt. Es sind zwei Schwarzbilder, die nicht den Zustand der unbeleuchteten Wand, im Sinne von Lichtlöschen zeigen, sondern ein technisches Bild beendet die Arbeit. Otths andere Arbeiten enden nicht bedingungslos mit einem Schwarzbild, sondern das Ende seiner Videoarbeiten variieren. Gerade hier jedoch beschreibt es nicht nur das Ende der Arbeit, sondern auch das inhaltliche Ende. Es vollzieht sich nicht als weiche Überblendung ins Dunkel, ins Schwarz, sondern endet mit einem harten Bildwechsel ins Schwarze. Es ist nicht nachvollziehbar, ob dieses Schwarzbild im Originalmaterial vorhandenes war oder ob es erst beim Umkopieren, beim Digitalisieren, eingefügt worden ist. Nachvollziehbar auf der DVD seiner Werksammlung ist, dass er ungefähr die Waage hält, wie er seine Arbeiten beendet. Ungefähr die Hälfte enden mit einem Schwarzbild, die anderen wiederum mit einem Freezeframe, einem letzten Bild, das stehen bleibt, sich einbrennt. Es bleibt als Standbild so lange stehen, wie es von den technischen Bedingungen erlaubt wird. Gerade im digitalen Clip, im mpg-File in seiner Projektion ist es etwas gänzlich anderes, ob ein Bild einem schwarzen Loch gleich ein den Raum verdunkelndes bleibt oder ob das letzte Bild im Raum in bestimmter Helle erstarrt. Für Otth waren diese Fragen bestimmendes Element. Jedoch zu Zeiten, in denen seine Arbeiten vorwiegend auf TV-Bildschirmen16 präsentiert wurden, ergab sich eine andere Form der Wahrnehmung als heutzutage, wenn wir in einer übergroßen wandfüllenden 16 | Ebd.

Bildbetrachtung Video

Beamerpräsentation stehen. Betrachten wir den Schluss der Arbeit etwas genauer. (Siehe Abbildung 24.) Zwei Bilder zuvor erschien ein letztes Bild des Malgrundes, des Hintergrundes, der Bühne, auf der alles stattgefunden hat. Erstaunlich ist, dass trotz enormer Bearbeitung und Änderung der Beleuchtung die beiden Bilder sehr nah sind. Einzig auf dem letzten Bild der Szene offenbaren sich Spuren einer Beschreibung, einer Einschreibung, einer Erinnerung. Es ist anhand dieser beiden Bilder nicht nachvollziehbar, was hier geschah. War es noch möglich, das erste Bild als isoliertes mit einer arbiträren Offenheit wahrzunehmen, so ergibt sich aus der Platzierung des benachbarten Schlussbildes ein Verweis auf seine Flächigkeit. Das Tiefe, der Verweis auf räumliche Distanz, auf eine Wolke der Sichtbarkeit, ist im rechten Bild verloren gegangen. Es offenbart sich als Grund, als Unterlage, als dazwischen liegende Fläche, als Fläche der Einschreibung ohne Verweis auf eine Örtlichkeit und auf seine Dimensionalität. Es ist menschenleer, ohne den Darsteller, den Akteur, der es bestimmte. Die Möglichkeit der kontemplativen Betrachtung, das Wandern des Blickes durch das Bild, ist wie hier im Standbild im Video nicht möglich. Der Betrachter erfährt dies nur, indem er sich der Arbeit erneut aussetzt, sie von Neuem beginnen lässt.

Abb. 24 Bild 00000; Bild 34518; aus »Le mythe de la caverne« Jean Otth 1972.

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B ildbe tr achtung Tanz »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich – Piano Phase« Anne Teresa De Keersmaeker I Choreography I 1982

Abb. 25 »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich« Teil 1 »Piano Phase« Choreography: Anne Teresa De Keersmaeker Danced by: Anne Teresa De Keersmaeker, Michele Anne de Mey Music: Steve Reich / Light design: Remon Fromont Costumes: Martine André, Anne Teresa De Keersmaeker Production: 1982 Schaamte 1993 Rosas & De Munt Premiere: 18/03/1982, Beursschouwburg (Brussel); Fotografie: (c) Herman Sorgeloos.

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Vorstellung der Künstlerin und der Arbeit Anne Teresa De Keersmaeker ist eine belgische Tänzerin und Choreographin und gilt als eine der einflussreichsten Choreographinnen und Erneuerinnen des zeitgenössischen Tanzes. Sie studierte 1978-1980 Tanz an Maurice-Béjarts-Mudra-Schule in Brüssel sowie 1981 an der Tisch School of the Arts in New York. Zentraler Aspekt ihrer Arbeit ist, Musik visuell erfahrbar zu machen, nicht zu illustrieren, zu begleiten, sondern auf eine andere Ebene der Wahrnehmung zu heben. Anne Teresa De Keersmaeker gründete 1995 in Brüssel mit den Performing Arts Research and Training Studios, kurz P.A.R.T.S., eines der wichtigsten europäischen Ausbildungszentren für Tanz und Performance, dessen Leiterin sie bis heute ist. Die hier vorliegende Arbeit entstand 1982 zu Beginn ihrer Lauf bahn und machte sie mit einem Schlag international bekannt. In dieser Arbeit erscheint schon damals ein bestimmendes Element, das sich signifikant durch ihre weiteren Arbeiten zieht: die besondere Relation zwischen Tanz und Musik. In der Entwicklung ihrer Arbeiten erfuhr diese Relation im Laufe der Zeit eine Erweiterung, indem Keersmaekers Sprache und Text als bestimmende Elemente hinzufügte. Die Musik, die Keersmakers für die vorliegende vierteilige Choreographie ausgewählt hat, sind Musikstücke des amerikanischen Komponisten Steve Reich, die in den Jahren 1966 bis 1972 entstanden sind. Reich gilt als einer der Pioniere der Minimal Music, die in der hier zugrunde liegenden Arbeit prägendes Element ist. Reich ermöglicht Tönen, sich allmählich in Rhythmus und Melodie und zwischen den Instrumenten zu verschieben. Es tritt eine sogenannte Phasenverschiebung auf, die in Keersmakers Choreographie als Prinzip erscheint. In Keersmakers Arbeit geschieht dies mit Mitteln der Bewegung, der Raumbeschreibung durch Tanz. Die rein abstrakten Bewegungen sind so perfekt, dass sie fast mechanisch und gerade deshalb auf den Betrachter in einer seltsamen Weise wirken. In dieser Perfektheit tritt über die Zeit eine Verschiebung, eine Diskontinuität hervor, auf die ich im Anschluss näher eingehen werde. 1981 oder 1982, so schrieb Steve Reich, hat ihn ein Brief von Keersmaekers erreicht. Sie bat um die Erlaubnis, vier seiner Stücke für eine Choreographie verwenden zu dürfen. Er willigte ein. Sie wurde 1982 uraufgeführt. Reich sah die Aufführung erstmalig 1998 und schrieb darüber: »I had never seen such a revelatory choreography done to my music. She knew precisely what my early pieces were about. […] The carefully detailed use of lightning right in the start in Piano Phase creats overlapping shadows that accentuate the repititive motions that slowly move in and out of phase.«1

1 | »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich« Film by Thierry De Mey 2002.

Bildbetrachtung Tanz

Reich verweist auf die exellente Übertragung seines akustischen Prinzips auf ein visuelles Prinzip. Zu Beginn der Choreographie zu Piano Phase erscheinen bereits visuelle Überlagerungen, die über die Zeit ihre eigene Formensprache bilden. Der Schatten als Addition zweier fremder Schatten, die eine gewisse Formähnlichkeit aufweisen und in ihrer Überlagerung neue Formen entstehen lassen, verblüffen jedes Mal erneut. Sie erscheinen mal mehr oder minder dem Ausgangsschatten gleichend wie ebenso in einer besonderen Form, die ihn als dekonstruktives Element beschreiben. Im Grunde genommen sind die sich überlagernden Schatten fast gleich und nur durch ihre Verschiebung zueinander, räumlich wie zeitlich, erzeugen sie einen Moment des Neuen, des Unverhofften, und verbleiben stets in einer offenen Form. Dieses Unverhoffte verhält sich zum Raum wie zu den Tänzerinnen und bestimmt den Focus der Aufmerksamkeit wie die sichtbaren und hörbaren Dinge. Sie verhalten sich zueinander, erhalten eine neue Ordnung, Raum entsteht ständig neu. Der Schatten in metaphorischer Übertragung entsteht in Reichs Musik an der Stelle einer Überlagerung, an der eine Phasenverschiebung in der Musik entsteht. An dieser Stelle treffen plötzlich Töne aufeinander, die sich so normalerweise nicht hätten treffen können, da sie im Allgemeinen simultan zueinander abliefen. Dies tritt in Analogie zur visuellen Darstellung auf der Bühne an den Stellen auf, an dem die Schatten der Tänzerinnen sich addieren und eine Verdichtung, eine partielle Verdunklung erzeugen. (Siehe Abbildung 26.)

Abb. 26 Bild 00:01:16:22; Bild 00:01:16:22; aus »Piano Phase«.

»Piano Phase«, auf das hier einzig eingegangen werden soll, ist der erste Teil der vierteiligen Arbeit »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich«. Die komplette Arbeit setzt sich zusammen aus den Teilen »Piano Phase«, »Come Out«, »Violin Phase« und »Clapping Music«. Die einzelnen Teile sind subautonom, sie sind zwar Teil des Werkes »Fase«, können jedoch als eigenständige Aufführung bestehen. Unterstrichen wird dies durch die im Film zu sehenden unterschiedlichen Aufführungsorte. Dies sind zwar Bühnen im allgemeinen Sinn, jedoch nicht mit der konventionellen Theaterbühne vergleichbar. Die Bühnen im Film sind für den Film geschaffen wurden. Sie stützen wie die Möglichkeiten der filmischen Einstellgrößen die jeweilige Choreographie.

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»Piano Phase« besteht demnach aus der Musik von Steve Reich, der Choreographie von Anne Teresa De Keersmaeker, zwei Tänzerinnen (Anne Teresa De Keersmaeker und Michele Anne de Mey), einer Bühne, Licht und Schatten. Die diesem Text zugrunde liegende Version ist die filmische Adaption des belgischen Musikers und Filmers Thierry De Mey fürs Fernsehen aus dem Jahre 2002. Dies muss unweigerlich bei der Untersuchung berücksichtigt werden, da im Vergleich mit fotografischen, filmischen Dokumentationen der Aufführungen im Theater ein völlig anderer Bühneneindruck entsteht. Im Theater bestimmt Reduktion das Bühnenbild, genauso wie die Rezeptionsmöglichkeit. (Siehe Abbildung 26.) Der Betrachter hat nur eine bestimmte Blickmöglichkeit und kann sich dem Geschehen auf der Bühne nur darüber annähern. Er ist in seiner Unbeweglichkeit an den Theaterstuhl gebunden, wobei er jedoch durch Bestimmung seiner Aufmerksamkeit seine Wahrnehmung auf selbst bestimmbare Fragmente und Dinge auf der Bühne lenken kann. Bei der Betrachtung der filmischen Adaption fällt auf, das im Gegensatz zu anderen Arbeiten von Anne Teresa De Keersmaeker, die ausdrücklich den Außenraum einbeziehen, »Piano Phase« sich ausschließlich im Innenraum bewegt. Hierbei wird jedoch sichergestellt, dass dieser ein bestimmter, inszenierter Bühnenraum ist, er nicht mit der Gegebenheit einer Alltagswelt verwechselt werden darf. Es ist ein Eingriff in einen Raum, einen Ort, der eine vorhandene Bestimmung vorweist, eine andere Prägung besitzt als der konventionelle Theaterraum an sich. Das Werk thematisiert wie viele ihrer Arbeiten gesellschaftlich-soziale, kulturelle, funktionale, räumliche und materielle Aspekte des sich Verändernden und des Veränderbaren. Spezifisches und Bestimmendes ist hierbei das Ephemere, das es auf verschiedenen Ebenen durchdringt. Zum einen als bestimmendes und formgebendes Element der Aufführung selbst, zum anderen durch den Einsatz seiner bestimmten und bestimmenden Materialität. Das Ephemere beschreibt einen chronologischen Topos, indem es ihm eine zeitliche Setzung zukommen lässt. Es beschreibt eine Rahmung, die einen Ausschnitt der Zeit bestimmt und durch diese Bestimmung ein Innen, ein Außen sowie ein osmotischen Raum des Dazwischen in der Zeit möglich werden lässt. Der bestimmte Ausschnitt ist ein Fragment der Zeit, in der das Werk seine Aufführung erfährt. Es gibt ein Davor, ein Währendessen, ein Danach und einen Raum des Erinnerens daran, an das, wie es gewesen ist, an das, wie es gewesen sein könnte. Das Werk ist Form und Medium2 zugleich. Als Form erfährt es eine Festlegung durch den Text, die Notation, in der es manifestiert ist, sowie durch die Choreografie, die es bestimmt. Als Medium ist es gleichermaßen ein in der Mitte befindliches wie auch ein dazwischen liegendes. Es tritt als Mittler subjektiver Entitäten als raumfüllendes mit bestimmten 2 | Vergl. den Begriff des Mediums in Luhmann, Niklas »Die Kunst der Gesellschaft« Frankfurt/M: Suhrkamp 1997.

Bildbetrachtung Tanz

Eigenschaften auf, das als vermittelndes, übertragendes, da Stoff gebundenes, besteht und gleichsam das zu Vermittelnde mit bestimmt. »Auch kann ein Medium – etwa das Material, aus dem das Kunstwerk gemacht ist, oder das Licht, zu dessen Brechung es dient, oder die Weiße des Papiers, von der sich die Figuren oder Buchstaben abheben – seinerseits als Form benutzt werden, wenn es gelingt, dieser Form im Kunstwerk selbst eine Differenzfunktion zu geben. Anders als bei Naturdingen wird das Material, aus dem das Kunstwerk besteht, zur Mitwirkung am Formenspiel aufgerufen und so selbst als Form anerkannt. Es darf selbst erscheinen, ist also nicht nur Widerstand beim Aufprägen der Form. Was immer als Medium dient, wird Form, sobald es einen Unterschied macht, sobald es einen Informationswert gewinnt, den es nur dem Kunstwerk verdankt.« 3

Der Schatten tritt im Werk zunächst einmal als großes Ganzes, als räumliche Gegebenheit, als dunkle Raumbestimmung des Aufführungsortes hervor. Ein Erkennen ist nur als Mögliches vorhanden.4 Der Seinszusammenhang der Dinge zeigt sich in seiner ganzen Form der Unbestimmtheit und als Fragliches. Am Anfang der Arbeit scheint es, als zeige sich nichts, fast nichts. Es ist immer ein Anwesendes vorhanden und wenn es das Nichts als solches, das Nichts einer tiefen Dunkelheit ist, der alles inhärent zu sein scheint. Auch diese Dunkelheit besitzt in ihrer besonderen Stofflichkeit die Möglichkeit mitzuteilen. Es ist eben nicht nichts, sondern etwas, dem die Möglichkeit gegeben ist, sich, wie auch etwas mitzuteilen. Es ist ein mögliches Bild der Wirklichkeit, dass sich zeigt, das sich noch im Unwirklichen, im Dazwischen im prozessualen Werden befindet. Es artikuliert sich im Noch-nicht seiner Anwesenheit, die den Verweis der Abwesenheit in sich trägt. Zu Beginn des Stückes erscheint im dunklen Bildraum am unteren Bildrand eine schmale horizontale Fläche, die als Halt zweier Figurinen, als Standfläche, als eine Art Podium, dient. Diese Beschreibung zeigt, das sich dem gegenüber noch etwas anderes zeigen muss, eine dunkle blaue Verschattung des Licht, die im mittleren Bildraum bei längerem Hinsehen sich etablieren kann. Es zeigt sich das Fehlen einer Helle, die nachrangig zur Erscheinung kommen wird. Es ist somit eher der Glaube an ein nicht Vorhandenes, was in der Unmöglichkeit des Sehens, der Un-Wahrnehmbarkeit begründet liegt. Der Anfang des Stückes ist, nachdem das Auge des Betrachters sich an das Dunkle gewöhnt und versichert hat, im tief blauen Dunkel der Nacht, wenn man so will. Der Betrachter erwartet förmlich den Aufgang einer Sonne, eines Lichtes, den Beginn des Tages, die Artikulation des Raumes, die Bestimmung der Formen und ihrer Gegebenheiten. Er erwartet eine Positionierung, eine Identifikation der Darstellenden wie auch die Möglichkeit einer 3 | Ebd. S. 176 4 | Dies war bei Otth änlich, nur dass eine Raumtiefe so nicht wahrnehmbar war.

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Positionierung seines Selbst. Er erwartet eine Ansprache, die ihm die Möglichkeit einer Zuordnung zuteilwerden lässt. Das Dunkel wird durch das allmähliche Erscheinen der Figuren zu einer Artikulation, einer optischen Energie, zu einem Licht-Bild. Liegt zuvor noch alles in einer Atmosphäre des Zwielichtes verborgen, in einer vorreflexiven Dämmerung, die eine Übergangssituation beschreibt, so ändert sich dies schlagartig mit zunehmender Helle, mit zunehmendem Verlust der Dunkelheit. Die atmosphärische Verschiebung, die fließend den Übergang zwischen Nacht und Tag, also den Zeitpunkt vor Tagesbeginn, analog zur Morgendämmerung, kennzeichnet, ist der primäre Gegenstand der Wahrnehmung. Es ist zunächst nicht die Anwesenheit von etwas, was auf der Bühne präsentiert wird, sondern die Stimmung, die Atmosphäre des Ortes, den der Betrachter ebenso betreten hat, dem er temporär, wenngleich zunächst noch diffus, als Teilhaber zugehörig ist. An dieser Stelle drängt sich der Verweis auf den Begriff der Aura auf, wie Walter Benjamin ihn beschreibt: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«5 Es ist ein Verweis auf die leibliche Erfahrung, die Benjamin beschreibt, im Geschehen sein, die Aura atmen, sich von ihr treffen lassen, sie in sich aufnehmen. Für die vorliegende Choreographie kann das nur bedeuten, von der Atmosphäre dieser Präsenz im Raum der Aufführung umschlungen zu werden, sie atmen zu können. Es ist nicht die Betrachterrolle, die der einer Gegenüberstellung mit einem Bild en face entspricht, die wir einnehmen, um das Kunstwerk in seiner vollständigen Erschließbarkeit zu erfassen, sondern das Sich-in-das-Werk-Hineinbegeben, das Mit-ihm-Sein. Es leiblich zu erfassen, die Atmosphäre zu atmen, den Schwingungen von Licht- und Tonwellen in seiner Ausgesetztheit als Mensch zu begegnen und mit dieser Erfahrung den Menschen der Geworfenheit, seinem Alltäglichen zu entreißen. »Die Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst werden, die für das lebendige Publikum um den Schauspieler ist, der ihn spielt. Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier aber besteht darin, dass sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt. So muss die Aura, die um den Darstellenden ist, fortfallen – und damit zugleich die um den Dargestellten.« 6

Es ist, wie Benjamin beschreibt, eine Annäherung. Was fehlt ist die kollektiv erlebbare, raumeinnehmende Qualität einer Aufführung, die durch Mannigfaltigkeit bestimmt wird. 5 | Benjamin, Walter »Fragmente gemischten Inhalts. Autobiographische Schriften« in Gesammelte Schriften Bd 6, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985 S. 588. 6 | Ebd. S. 14

Bildbetrachtung Tanz

Bildbetrachtung Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die filmische Adaption einer Choreografie, die für die Bühne, für ein direktes, einmaliges Erleben geschaffen wurde, und die für die filmische Aufzeichnung mit den Möglichkeiten der ihr eigenen Gestaltungsmittel entstanden ist. Es erscheint in der filmischen Adaption eine andere Form des Werkes, die eine veränderte Wahrnehmung des Werkes zur Möglichkeit gelangen lässt. Diese wird beeinflusst durch die kompositorischen Bestimmungen der Aufnahme, wie den filmischen Einstellgrößen, Großaufnahme, Zoom, Aufnahmeperspektive, Filmmontage, aber auch durch die Präsentation und ihre Rezeptionsmöglichkeit. Um es mit Benjamins Auraverlust zu beschreiben: »Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura. Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie das Aufgenommene vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.« 7

Es ist jedoch nicht nur dieses, die inflationäre Vervielfältigung des Aufgenommenen, sondern die Verrückung in eine ander Form, in eine andere Rahmung – von der Bühne, vom Aufführungsraum zum Computer-Monitor, zum Flachbildschirm, zur Projektion an einem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit. Das kollektive Erleben in einem besonderen Raum der Aufführung erfährt eine Umwendung und erscheint als Ansprache an ein einzelnes Subjekt und erfährt Bestimmung durch seine Rahmung und die Bedingungen der Wiedergabe. Anhand der inhaltlichen Betrachtung des Werkes und in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand taucht nach der anfänglichen Dunkelheit des Beginns, nach dem Unbestimmten des Raumes, der Situation, der Übergang in eine bestimmte Helle auf. »Zwischen hell und dunkel, d.h. zwischen Licht und Schatten befindet sich etwas mitten inne, das man weder hell noch dunkel nennen kann, sondern das in gleichem Maße des Hellen wie des Dunklen teilhaftig wird.«8 Es ist Teil des Erscheinens, eines Aktes, der fortwährend 7 | Benjamin, Walter »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,« deutsche Fassung 1939; in: »Gesammelte Schriften« Band I, Frankfurt/M: Suhrkamp 1972 S. 471-50. 8 | Seidlitz, Woldemar von / Leonardo, da Vinci [Ill.] »Leonardo da Vinci: der Wendepunkt der Renaissance« Berlin, Julius Bard, 1909 Band 1 Seite 345 sowie Schöne, Wolfgang »Über das Licht in der Malerei« Berlin: Mann 1979. S. 110.

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währt, der in einer Art Wellenbewegung auf und ab ebben wird. Der Vorgang des Wahrnehmens des Erscheinens impliziert den Akt des Schauens, des Anschauens, des Erkennens, des Bezeichnenwollens von dem, was auf der Bühne präsent ist. Der Rezipient steht unter dem Zwang des Erkennenwollens, um dem Gesehenen einen Sinn zukommen zu lassen, um es bedeutsam werden zu lassen. Die Choreographie »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich« ist aufs Engste mit der Kategorie der Zeitlichkeit verwoben, es passiert etwas in einem bestimmten Zeitrahmen sowie über ihn hinaus. Es öffnen sich ständig neue Zeitfenster, die gleich einer Partitur im Raum stehen, den Raum bestimmen, die Protagonistinnen eine sich in stetiger Änderung befindliche Verhältnisbestimmung vollziehen lassen. Sie verhalten sich zum Raum wie zueinander. Der Raum erfährt durch ihre Intervention eine Neuordnung, die im ständigen Wandel, im ständigen Werden begriffen ist. Gleiches wie für die Tänzerinnen, die körperlich Anwesenden, gilt für die Artikulation von Schatten und Licht. Es entstehen Plätze der Aufmerksamkeit und Plätze der Zurückgezogenheit, Plätze des Lichts wie Plätze des Schattens. Das Entdecken und Verdecken wird zum bestimmenden Element wie das Erscheinen und Verschwinden der Silhouetten der Tänzerinnen. Es entsteht der Eindruck, dass die Silhouetten im Gegensatz zu den Tänzerinnen eine offensichtlich größere Wegstrecke zurücklegen, mehr im Prozess der Bewegung sind als die Körper, die sie erzeugen. Ihre Bewegung wird nicht ausschließlich durch die Bewegung der Körper bestimmt, sondern durch ihre Abstände, durch ihr Verhältnis zum Licht. Das Spezifische des Werkes ist erst allmählich und nach vollständigem Erscheinen der ersten Szene auf der Bühne erkennbar. Der Rezipient nimmt nicht nur den erhellten und partiell blau eingefärbten Bühnenraum, die Tänzerinnen in ihrer kompletten figürlichen Anmutung, sondern gleichermaßen die durch eine bestimmte Form der Beleuchtung hervorgebrachten Schatten war. Es sind auf den ersten Blick drei, die den Hintergrund der Bühne belegen. Sie erscheinen in unterschiedlich bestimmten Helligkeiten, Dunkelheiten. Es sind die Schatten der Tänzerinnen, die sich mit ihren Körpern dem Licht in den Weg gestellt haben, die an der Wand leicht vergrößert und leicht verzerrt sich abbilden. Sie stehen aufgereiht nebeneinander, immer im Wechsel, ein Schatten, eine Person, ein doppelter Schatten, eine Person, ein Schatten. Allen gemein ist ihre besondere Verbindung zum Boden. Während dies bei den Tänzerinnen über den Kontakt ihrer Fußsohlen geschieht, so erscheint dies bei den Schatten, wie später in der Draufsicht erkennbar sein wird, um einiges mehr. Die Schatten stehen nicht nur an der Grenze, zwischen Wand und Boden, sondern beschreiben einen sichtbaren Raum des Dazwischen, der, von den Füßen der Tänzerinnen ausgehend, diese mit dem Schatten an der

Bildbetrachtung Tanz

Wand verknüpft. Im Grunde genommen kann man von mehreren Instanzen9 sprechen, wenn man im medialen Raum des Videos verbleibt. Denn, was im Video zur Sichtbarkeit gelangt, ist zunächst nur Licht und Schatten – zwei Abbildungen von zwei Tänzerinnen und vier Abbildungen von Schatten der Tänzerinnen, die sich partiell in der Bildmitte überlagern. Diese Abbildungen treten im Video gleichsam als Schatten auf, Schatten von Schatten und Schatten von Personen sowie Schatten in einer besonderen Form einer halbtransparenten Überlagerung, die sich partiell verdichtet, verdunkelt. Roberto Casati fragt nicht ohne Grund10, was passiert, wenn ein Schatten einen Schatten trifft, wenn beide sich partiell am gleichem Ort bewegen, den gleichen Ort besetzen. Was erscheint, ist die Möglichkeit einer Potenzierung, einer Addition im Visuellen. Der Schatten besteht nicht nur als Form einer Vielheit, eines Unendlichen an Möglichem, sondern dies betrifft ebenso die Qualität seiner Farbigkeit wie seiner Potenz. Er steht in seiner Dunkelheit nicht ausschließlich in direkter Abhängigkeit zu einer bestimmten Materialität des ihn bestimmenden Körpers, sondern er ist gleichsam durch andere Schatten Bestimmbares, Erweiterbares. Dies trifft somit nicht nur die Veränderbarkeit seiner Form, seiner Grenze, seiner Helle, sondern ebenso die Veränderbarkeit seiner Farbigkeit, seiner Dunkelheit. Seine Binnenstruktur sowie seine Grenze stehen im ständigen Prozess der Veränderung, in einem ständigen Prozess des Werdens. Auf Keersmaekers Bühne wird der Schatten sowohl als dunkles, schweres wie auch als leichtes, transparentes Element präsentiert. Er erscheint an bestimmten Stellen der Choreographie transparent, fast flüchtig in einer pastelligen Farbigkeit, an anderen Stellen dunkel und schwer in unterschiedlichen Formen als Summe einer Addition. Ähnlich wie das Bezugsverhältnis hell-dunkel, Licht-Schatten besteht die Relation zwischen dem Empfinden eines Gewichtes, einer Zuordnung von Schwere zum Dunkel und einer Zuordnung von Helle zur Leichtigkeit. Der Schatten steht in einer Beziehung zu sich selbst in Helle und Dunkelheit sowie in einer Beziehung zu dem Körper der ihn erzeugt. Ihm gegenüber wird er immer als Leichtes, als Ablösung von der Schwere des Körpers erscheinen. »Siehe, wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die Paare / Drehen, den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß. / Seh ich flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes? Schlingen im Mondlicht dort Elfen den luftigen Reihn?«11 9 | Gemeint sind Schatten im Sinne von temporären Kopien, Kopien im unvollendeten Werden. Der Schatten als Erinnerung und Unfertiges, als Instanz eines Gewesenen. 10 | Vergl. Casati, Roberto »Die Entdeckung des Schattens: Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung« Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003 S. 64 11 | Schiller, Friedrich / Alt, Peter-André [Hrsg.] Fricke, Gerhard [Hrsg.] »Sämtliche Werke« auf Grundlage der Originaldrucke hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert,

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Gewicht erscheint hierbei ähnlich wie der Schatten als relationale Bestimmung. Beides tritt ein in Relation zum leiblichen Körper, zu seiner Materialität wie auch zu einer ihn bestimmenden Dunkelheit in Relation zur Helle seines ihn umgebenden wie auch zu anderen Schatten, die auf der Bühne, hier im Standbild, sichtbar sind. Zu Beginn der Choreographie lassen die äußeren, helleren Schatten in ihrem Binnenraum deutlich erkennen, dass die Projektionswand, durch die sie zur Sichtbarkeit gelangen, eine bestimmte Materialität, eine bestimmte Struktur besitzt. Außerhalb der Schatten wird diese Struktur vom Licht fast ausgelöscht. Der dunkle Schatten in der Mitte des Bildes lässt in reziproker Weise die Materialität der Projektionswand ebenso zurücktreten. Die Strukturen auf ihr verschwinden in ähnlicher Weise, wie dies an Stellen des Lichts entsteht. Mit Zunahme der Intensität der Bedingungen entzieht sich das in ihr Sichtbare. Die Struktur des Hintergrundes wird in der Unterbelichtung wie in der Überbelichtung zum nicht mehr klar Erkennbaren. Unklar hierbei ist seine Bestimmung durch einen erhöhten Kontrast, der Gegenüberliegendes mit bestimmt. Gemeint ist die Reproduktion einer gleißenden Helle neben einer bestimmten Dunkelheit, sie belässt beide in Unklarheit. Im Kontrast entsteht eine Aufmerksamkeitsdissonanz, die ein gleichzeitiges Wahrnehmen erschwert. Im Aufführungsraum des Theaters sowie im Bühnenraum ist diese Möglichkeit beim Rezipienten eine um Längen autonomere. Der Fokus einer Wahrnehmung von Bereichen im Schatten, im Licht, entsteht als subjektive Bestimmung. Der Schatten beansprucht als Dunkles, schwer anmutendes, massives Element einen Großteil der Aufmerksamkeit des Betrachters. Diese wird im Bild durch seine zentrale Rolle in der Bildmitte, in vertikaler wie in horizontaler Bestimmtheit gerahmt. An den Rändern treten Unregelmäßigkeiten auf. Der Rand erfährt hierbei nicht eine eindeutige Begrenzungslinie, sondern setzt sich aus hellen und dunklen Bereichen zusammen, die dadurch eine gewisse Unruhe, eine gewisse Prozesshaftigkeit und Bewegung evozieren. Diese visuelle Erscheinung würde durch ein Multiples an Überlagerungen eine weitere Steigerung erfahren und ist in den fotografischen Arbeiten von Idris Khan als Vergleichbares nachvollziehbar (siehe Abbildung 27). Indem an den Rändern einer Figur im Bild eine bestimmte Uneindeutigkeit herrscht, hat der Betrachter den Eindruck eines In-Bewegung-Seins, einer Bewegungsunschärfe. Diese tritt häufig als Verwacklung in fotografischen Aufnahmen durch die Bewegung der Kamera auf oder durch die Bewegung des zu fotografierenden Objektes. Die Arbeiten von Idris Kahn scheinen diese Bewegung, dieses In-der-Unbestimmtheit-Sein, durch eine Art Rauschen zu transportieren. Ihnen ist die Atmosphäre einer Bewegung eingeschrieben, obwohl dies nicht dessen Grund ist. Der Eindruck entsteht ausschließlich durch ÜberlaMünchen: Hanser 1987 Band 1, S. 237.

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gerungen von unterschiedlichen Fotografien ähnlicher Motive, durch Stellen der Verdichtung und Offenheit. Die Annahme drängt sich auf, dass je schärfer die Ränder eines Schattens, um so starrer sind sie. Nicht auf Bewegung Verweisendes lässt sich dieser in Relation dazu denken. Der Bewegung ist der Moment des Flüchtigen wie auch der Moment der Unfassbarkeit einer Bewegung in einem Bild inhärent.

Abb. 27 Idris Khan »Every... Bernd And Hilla Becher Spherical Type Gasholders« 2004; Idris Khan »Every... Bernd And Hilla Becher Prison Type Gasholders« 2004; Bernd und Hilla Becher »Gasbehälter, Wesseling, Nähe Köln« 1989; Bernd und Hilla Becher »Gasbehälter, Grube Anna bei Aachen« 1965 (c) Estate Bernd & Hilla Becher, 2017.

Zu Beginn der Choreografie von Keersmaekers fällt ebenso auf, dass die Protagonistinnen im Begriff der inneren Einkehr, des nach Innen blickens verharren, während die beiden außen liegenden Schatten nach rechts und links aus dem Bild zu blicken scheinen. Es ist der Verweis auf ein außerhalb des Bildraum Liegendes, auf ein Über-das-Bild-Hinaussehen, ein Aus-dem-Bild-Heraussehen. Eine Verbindung zum Raum außerhalb des Bildes wird hergestellt, auf ein Außen, das dem Innen inhärent ist, wie gleichermaßen ein Innen, in dem ein Außen vorhanden ist. Dies weist auf eine Begrenztheit, auf eine Rahmung hin, die nicht als Ausschlusssehen, sondern als Mit-sehen erscheint. Genauso, wie der spätere Anschnitt der Darstellung der Tänzerinnen in der Großaufnahme auf einen Raum außerhalb des sichtbaren Bildraumes verweist, so weist das scheinbare Zuwenden der Schatten nach außen auf ein Außen, wie auch der Schatten an sich auf ein Außen verweist, da sich in diesem die Lichtquelle befindet, die ihn bestimmt. Das Bild ist Fragment einer Wahrnehmung, nach außen, wie nach innen, und das nicht nur im subjektiven Sinne. Das, was wir sehen, blickt uns an,12 es ist eine Form der Selbstreferentialität, die hier erscheint. Durch das Erkennen des anderen erkennt sich das Subjekt gleichermaßen selbst. Wenn das Bild, das Bewegtbild als Aufgezeichnetes eines Abbildverhältnisses, als ein Systemisches betrachtet werden kann wie 12 | Vergl. Didi-Huberman, Georges »Was wir sehen, blickt uns an – Zur Metapsychologie des Bildes« München: Fink 1999.

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auch das Verhältnis des betrachtenden Betrachters (des beobachtenden Beobachters) zu ihm, dass er sowohl vor wie im Bild ist, so erscheint eine System-Umwelt-Differenz. Der Betrachter wird sich seiner eigenen Stellung, seiner eigenen Grenzen und Differenzen bewusst. Er »verfügt, wie alle sozialen Systeme, über rudimentäre Verfahren der Selbstbeobachtung.«13 Ist diese Form in Verbindung des Schattens als Form des Selbstreferentiellen ein direktes, eine Bezugnahme erster Ordnung, so rückt dies im Sinne des Abbildens, des Aufzeichnens und Beobachtens in eine nachrangige Form. Es besteht ein Bruch, der dadurch bestimmt wird, dass es sich bei der Aufzeichnung nicht um den Betrachter, sondern einen fremden Protagonisten, der als Modell für den Betrachter erscheint, handelt. Es ist nicht der Blick in den Spiegel, sondern der Blick hinter den Spiegel, der sich mit dieser Repräsentation öffnet. Es ist im Medium der Aufzeichnung wie auch im Wahrnehmen die Möglichkeit einer Differenz gegeben, die durch ihre operative Geschlossenheit und kognitive Offenheit bestimmt wird. Es besteht nicht der direkte Weg der Möglichkeit einer Interaktion, einer Kommunikation im Sinne von Eingreifen, von Bestimmen der Performance. Der Betrachter ist nicht am Ort des Geschehens, nicht Teil der Performance, wie er es auch als Form des projizierten Schattens selber sein kann, sondern er kann die Form der Aufzeichnung, der tänzerischen Intervention, nur im Sinne eines Lichtbildes, das als Tafelbild als ein Gegenüber, als ein »in front of«, das für eine gewisse Zeit in einer vorherbestimmten Form gezeigt wird, wahrnehmen. Die einzige Möglichkeit einzugreifen bleibt ihm dahingehend erhalten, dass er das Abspielgerät und somit auch die Aufzeichnung anhält oder der Nichtsichtbarkeit preisgibt, indem er es ausschaltet und somit zum visuellen Verschwinden bringen kann. Nach diesem Akt besteht für ihn, im Gegensatz zu den Zuschauern im Theaterraum, die Möglichkeit eines erneuten und beliebig wiederholbaren Anschauens. Der Begriff des Wiederholbaren prägt dies bezüglich des Mediums der Aufzeichnung, ob als Datensatz oder als Filmmaterial, es besteht die Möglichkeit der Wiederholung, der gleichen Aufführung, des gleichen Filmes, wovon bei einer Aufführung im Theater nicht gesprochen werden kann. Die Wiederholung bezeichnet dabei etwas grundlegend anderes. Der Verlust der Benjaminschen Aura ist immer noch gegeben, der Gewinn eines Neuen steht jedoch ebenso im Raum. Die Möglichkeit der repititiven Form des erneuten Abspielens findet sich im Werk wieder. Es ist das ständige derwischartige Drehen der Tänzerinnen, die durch diese Form des Ausdrucks ihr Ureigenstes, ihre Identität preisgeben und zum Funktional, zu einer Größe, zu einem Datenträger werden. Verstärkt wird dies durch die Doppelung ihrer Erscheinung, die sich von der gleichen neutralen, uniformen, weiblichen Kleidung über die Farbe ihrer Haut bis hin 13 | Luhmann, Niklas »Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie« Frankfurt/M Suhrkamp 1984 S. 618.

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zu der Form ihrer Haare erstreckt. Das Subjekt, die Tänzerin tritt zurück, hinter das Stück und verkörpert die Musik auf das Essenziellste, das möglich ist. Geht es im Musikalischen um den Versatz, um Phasenverschiebung als Kompositionstechnik, so tritt diese auf der Bühne visuell an den Betrachter heran. Ist es der Dialog zweier Pianos im Musikalischen, so ist es im Sichtbaren das Sich-einander-Annähern der Tänzerinnen und das Entfernen der Tänzerinnen voneinander, zum anderen die Anpassung an die repetitiven Bewegungen der Anderen. Nicht nur als Mittel der Choreographie erscheint das Mittel der Wiederholung, indem sich Bewegungen wiederholen, sondern diese werden von der zweiten Tänzerin ebenso ausgeführt. Sie ist die Wiederholung der ersten. Was bei dieser Form des Zusammenspiels erscheint, ist die Spannung durch Differenz der Bewegungen wie auch Differenz in der Musik. Hierdurch kommt es zu einer besonderen Spannung, die die Einmaligkeit des Werkes bestimmt. Es ist nicht die Chorusline von Tänzerinnen, die im Gleichtakt die Beine nach oben reißen, sondern die bestimmte Dissonanz, der vermeintliche Fehler im Simultanen, der zwischen den Tänzerinnen besteht. Die Form der Differenz, die zum einen eine Dekonstruktion, ein Wundern im Blicken erzeugt, zum anderen eine Form der leiblichen Erfahrung hervorruft, wie diese sonst kaum möglich ist. Es ist das Pendeln im Blick, das Nicht-innehalten-Können. Mal erfassen wir die eine, mal die andere Tänzerin, mal sind wir hinterher und mal sind wir in der Bewegung im Ankommen zu schnell und mal sind wir beim Schatten, der uns hier in seiner Bandbreite an Möglichkeiten entgegenkommt und die Situation in Form einer Komplexitätssteigerung erfahren lässt. Der Schatten erscheint in seiner ganzen Spezifität. Er ist transparente Blickdurchlässigkeit wie eine Schrift des Lichts. Im Schatten ist Licht als Mögliches vorhanden. Schatten ist nicht Abwesenheit von Licht, sondern bestimmte Abwesenheit der Sichtbarkeit des Lichtes. So, wie in der Schrift die Sprache inhärent ist, besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Licht und Schatten. Der Schatten zeigt etwas, was sich im Allgemeinen unserer Wahrnehmung entzieht. Er legt sich mit seiner ganzen Schwere verzerrt über eine Fläche, die ihm die Möglichkeit einer Sichtbarkeit bietet. Es öffnet sich eine räumliche Perspektive, der eine bestimmte Ordnung widerfährt. Dunkle Flächen und die Schatten der Tänzerinnen gehen ein kollektives Bündnis ein, eine Bedingtheit für eine Weile, für eine Dauer, die das Licht bestimmt. Das Licht als Initiatordieser Beziehung besitzt die Macht, in einem Bruchteil einer Sekunde diese Beziehung zu beenden, sie zu vertiefen, zu verblassen oder alles zu Schatten werden zu lassen. Ein weitere grundlegende Bestimmung des Schattens ist die Möglichkeit und Potenz seiner Farbigkeit. Sie erscheint zu Beginn der Choreografie in tiefstem dunklem Blau, das an das Blau eines Yves Klein erinnern mag. Sie hat die Anmutung eines Energie schluckenden Raumes, eines dunklen Loches im Blau, vergleichbar einem Schwamm, der alle Energie in sich aufgesogen hat. Aus dieser anfänglichen dichten atmo-

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sphärischen Grundstimmung bewegt sich die Farbe in ihrer Potenzialität unmerklich fort, wird im Laufe der Zeit scheinbar unmerklich entfärbt, neutralisiert, und taucht mit einem tiefen Marineblau, gesetzt neben ein blendendes Licht, im Stück erneut auf. Das Hell und Dunkel, die unzähligen Facetten der farblichen Differenz, sind ebenso Darsteller des Stückes. Sie öffnen Räume, indem sie Lichtschleusen erscheinen lassen, sie verschließen Räume, indem sie in eine diffuse Grundstimmung mit verdunkelten Raumecken verfallen. Das Gesichtsfeld erfährt, durch den Wandel von Licht und Schatten bestimmt, eine neue Ordnung. Die Bühne als solche fällt hinter der Lichtinszenierung zurück. Sie bietet sich als reflexives Objekt dem Licht in seiner ganzen Möglichkeit an. Aus der Perspektive des betrachtenden Betrachters – der hier der Betrachter einer filmischen Adaption eines Tanztheaterstückes ist, der Betrachter einer Interpretation einer Interpretation des Musikstückes »Phase« von Steve Reich zeigt sich eine komplett andere System-Umwelt-Differenz, als sie im System selbst verwendet wird, als sie der Betrachter im Theater erfährt.

Abb. 28 Bild 00:09:43:04; Bild 00:11:58:01 aus »Piano Phase«.

Geht der Blick von den Protagonistinnen auf der Bühne aus, die diesem System inhärent sind als bestimmendes Element, Teil dieses Ganzen sind, lässt sich eine andere Rahmung beschreiben und mitsehen. Als Teil des Systems besteht ein differentes Wahrnehmungsverhältnis zum Außen wie zum Innen an sich. Der Blick über das Außen auf das Innen ist verstellt durch das Ihm-inhärent-Sein. Es ist nicht der komplexe, umfassende Blick, sondern ein fragmentarischer, der im Zu-nah-dran die Verhältnisbestimmung von Raum und Zeit verschoben hat. Der Blick orientiert sich an Licht- und Schattenflecken, die an den Grenzen des Bühnenraumes auftauchen, wie am Gegenüber, das hier ein Doppel des Selbst zu sein vorgibt. Es taucht die Frage nach der Bestimmbarkeit von Original, Doppelgänger und Kopie auf. Was ist Original, was die Kopie des Originals und wie bildet sich diese Kopie in Zeiten digitaler Erzeugung von Bilddaten? Die Frage nach dem Ursprung, die dem Begriff inhärent ist, stellt sich auf ganz neue Weise. Es tritt gleichermaßen die Frage nach Identität und Einzigartigkeit des Menschen in den Vordergrund, die im Bild des Doppelgängers angelegt ist, jedoch auf dessen Wiederholungscharakter verweist. In

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diesem Sinne ist es die Eingrenzung des Begriffes Doppelgänger, die diesen näher bestimmt, sowie der Begriff der Identität, der diesem verloren gegangen zu sein scheint. Der Mensch an sich erfährt in seinem biologischen wie auch sozialen Programm stetige Formen der Wiederholung, Zeugung, Geburt, Leben, Tod, die sich anhand ihrer Differenz zueinander bestimmen lassen. Im Werk ist die Zuordnung zwischen Kopie und Original eine nicht festgelegte. Es entsteht der Eindruck, dass keine der Protagonistinnen der anderen folgt, sondern beide in ihrer eigenen bestimmten Autonomie das Werk schreiben. Es ist nicht eine von Starrheit besetzte, gedrillte, identitätsferne Umsetzung von Tanz und Musik, sondern die Freiheit der performativen Interpretation durch die Darstellenden anhand einer Choreographie. Gerade die scheinbare Form der Unperfektheit, die auch Steve Reich als Phasenverschiebung in seinen Kompositionen als kreativen Impuls weiterentwickelt hat, macht den Reiz der Dopplung aus. Es ist nicht das tänzerische Paar, das an Exaktheit und Parallelität fehlerlos ist, sondern die Möglichkeit einer Autonomie in der Darstellung wie im Dialog. Im Werk ist die Zuordnung zwischen Kopie und Original eine nicht festgelegte. Es entsteht der Eindruck, dass keine der Protagonistinnen der anderen folgt, sondern beide in ihrer eigenen bestimmten Autonomie das Werk schreiben. Es ist nicht eine von Starrheit besetzte, gedrillte, identitätsferne Umsetzung von Tanz und Musik, sondern die Freiheit der performativen Interpretation durch die Darstellenden anhand einer Choreographie. Gerade die scheinbare Form der Unperfektheit, die auch Steve Reich als Phasenverschiebung in seinen Kompositionen als kreativen Impuls weiterentwickelt hat, macht den Reiz der Dopplung aus. Es ist nicht das tänzerische Paar, das an Exaktheit und Parallelität fehlerlos ist, sondern die Möglichkeit einer Autonomie in der Darstellung wie im Dialog. Eine Besonderheit tritt hier jedoch auf. Anne Teresa De Keersmaeker ist eine der Tänzerinnen und muss somit nicht nur den Blick von außen, sondern auch von innen aushalten. Indem sie sich ins Werk begibt, wird sie nicht von da an erst sein Teil, sondern dies geschieht schon sehr viel eher, inder seiner Erarbeitung. Sie begibt sich mit einer anderen Tänzerin, von der sie visuell kaum unterscheidbar ist, auf eine Bühne, ins Licht und vollzieht die von ihr geplanten Bewegungen. Keersmaeker kann hier die Rolle des bloßen Betrachters nicht einnehmen. Dies gelingt erst mithilfe eines bildgebenden Verfahrens, einer fotografischen, filmischen Aufzeichnung, die ihr die Möglichkeit zuteilwerden lässt, das Geschehen auf der Bühne im Nachhinein, als Ganzheit zu sehen. Im Betrachten erscheint sie als Abstraktion ihrer selbst. Sie erscheint sich als Abbild, als Teil ihrer selbst wie ein Schatten im medialen wie konnotativen Zusammenhang. Etwas anderes zeigt sich im Sichtbarwerden der Projektionsschatten der Tänzerinnen am Boden und an der Wand. Hier erscheint der Schatten in Form eines Doppelgängers, der nie autonom sein kann, da er unweigerlich die Formen der Tänzerinnen beschreibt, sich ihnen

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unterordnen muss. Es ist ihm nicht gegeben, getrennt von den Protagonistinnen in zeitlicher Verzögerung über die Bühne zu gleiten. Er taucht hier als identitätststiftende Möglichkeit auf und beschreibt diese in einem Differenzverhältnis zum Körper, zu seiner Form, seiner Größe wie zu seiner Farbigkeit, wobei er als Multiples erscheint. Es entsteht eine Dissonanz in Bezug auf den Körper, die ihm die Möglichkeit der Eigenständigkeit, einer scheinbar selbst stiftenden Identität, bietet. Es ist die plötzliche Zunahme in der Erscheinung, die sich dem Betrachter offenbart, wenn der Schatten der Tänzerinnen über diese hinauszuwachsen beginnt, diese gar zu verlassen droht. Auffallend und signifikant ist, dass jede Tänzerin mit zwei Schatten in Verbindung steht. Dies ist im Allgemeinen eine Unmöglichkeit und spricht für mindestens eine nicht natürliche Lichtquelle. Es sei denn, es existieren zwei Sonnen, die gleichzeitig auf der Bühne scheinen. Die zwei Sonnen im Stück sind zwei Scheinwerfer, die der Bühnensituation eine bestimmte Beleuchtung, den Tänzerinnen eine bestimmte Form ihrer Schatten übertragen. Die Tänzerinnen bewegen nicht ausschließlich ihren eigenen Körper, sondern gleichermaßen den eines anderen. Sie sind unsichtbar an ihn gebunden, mit ihm verknüpft. Verweilt der Blick am bewegten Schatten, so entsteht der Eindruck, dass dieser Original ist. Der menschliche Körper tritt demnach auf als Kopie seines Schattens, der sich bemüht ihm zu folgen, versucht seine Drehungen einzuholen, der Teil des Schattens ist, um die Untersuchungen von Francesco Paviani und Umberto Castiello14 rekursiv zu denken. Der Körper ist der Schatten eines Originals, das als Schatten erscheint. Ein über alles herrschender Schatten ist der dunkle mittige, zentral im Bild sich bewegende. Durch seine tiefe Dunkelheit nimmt er eine unüberblickbare und unverrückbare Dominanz im Bild ein. Seine Form ändert sich durch Überlagerungen zweier Schatten. Er kommt sozusagen aus zwei Richtungen und ist Addition wie Schnittmenge. Im Schatten berühren sie sich, kommen zueinander, überlagern und potenzieren sich in besonderer Präsenz. Ihr Schnittbild zieht die Aufmerksamkeit magisch an und transportiert sie, zum einen als dunkle Bestimmung, zum anderen als scheinbare Unbestimmtheit seiner offenen Form. Im Prozess des Ephemeren liegt eine große Stärke der ästhetischen Bedingtheit des Schattens. Ein stetiges Anwesendsein, eine vorhandene Verlässlichkeit im Verfügbarsein, erfährt eine andere Aufmerksamkeitsbestimmung als etwas, was droht zu verschwinden. Es ist der Verweis auf das Sein an sich, das wahrgenommen als Endliches eine Wertschätzung erfährt. Nicht Zeit ist endlich, sondern das Sein in der Zeit. Es impliziert ein Davor, ein Währenddessen und ein Danach. Die Zeit bleibt bestehendes Kontinuum, Verhältnisbestimmung zu etwas Anwesendem wie zu etwas Abwesendem. 14 | Pavani, Francesco und Castiello, Umberto »Binding personal and extrapersonal space through body shadows« in »Nature Neuroscience 7« 2003 doi:10.1038/nn1167.

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Bei der Betrachtung des gesamten Werkes ist schwerpunktmäßig auf die anfänglichen durch Steve Reich konzeptionelle Musik erzeugten Schatten eingegangen worden. Innerhalb des Werkes treten jedoch noch andere Formen auf, die sich sowohl den Tänzerinnen unterzuordnen scheinen als auch den Raum als Bezugsraum vorrangig einer Neuordnung unterziehen. Es sind dies der Wandel der Bestimmungsverhältnisse der Schatten, wenn er durch eine Änderung der Beleuchtung an der Projektionswand verschwindet und kurz darauf plötzlich am Boden erscheint. Hierbei tritt er ein in einen anderen Dialog, wobei eine Addition nicht statt finden kann, da das Licht gerichtet aus einer Richtung zu fallen scheint. Bestimmendes Element in dieser Untersuchung ist die Verdopplung des Schattens der Tänzerinnen, seine Überlagerungen und seine Verschiebungen an sich. In seiner Verhältnisbestimmung zur Musik nimmt der Schatten eine Sonderstellung ein. Es ist möglich, dass die Bewegung im Bild der Musik folgt, jedoch ebenso möglich ist die Umkehrung. Seine klare Bestimmung kann nur als Annahme im Raum stehen bleiben, wobei der Schatten in dieser Hinsicht ein viel größeres Potenzial besitzt und ein Umschreibung, eine Übertragung in Ton, eine Weiterführung der Untersuchung anregen soll.

Schatten Schatten Im Allgemeinen hat jedes Ding einen Schatten, wenn es von einer natürlichen Lichtquelle, der Sonne, getroffen wird. Wirft etwas jedoch mehrere Schatten, so ist dies ein Verweis auf mehrere Lichtquellen oder auf die Verdoppelung einer Lichtquelle, wie es mithilfe einer Reflexionsfläche, eines Spiegels oder eines spiegelähnlichen Objektes geschehen kann. Das bedeutet, über die Umlenkung der Lichtquelle entsteht eine zweite Instanz, die ebenso die Möglichkeit besitzt, einen Schatten zu werfen und zwar vom gleichen Objekt, das sich der primären Lichtquelle in den Weg gestellt hat. Im vorliegenden Werk ist dies so nicht der Fall. Die Choreografie wird bestimmt durch die Verwendung künstlichen Lichts, durch die Verwendung mehrerer unterschiedlicher Lichtquellen, unterschiedlich in Qualität und Quantität. Es existiert im Grunde genommen eine zweite Choreografie, die von Licht und Schatten bestimmt wird. Die Aufgabe der Beleuchtung besteht nicht nur vordergründig darin, eine atmosphärische Stimmung zu erzeugen, sondern Licht und Schatten werden als Darsteller bewusst in das Werk gesetzt. Diese Arbeit lebt davon, dass die Protagonistinnen zu Beginn mehr als einen Schlagschatten besitzen. So tritt eine Irritation im Sehen, ein ungewohntes Bild, direkt zu Beginn auf und reißt die Aufmerksamkeit des Betrachters direkt und in vollem Umfang an sich. Die doppelten Schatten besitzen einen Ursprung, den Körper der Tänzerin, von wo aus sie mit Richtung des Lichts fallen. Das Licht bestimmt ihre Richtung, ihre Dunkelheit, ihre Ränder sowie ihre Größe zu einem erheblichen Teil.

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Ein anderer Teil der Bestimmung liegt bei der Projektionsfläche, auf die der Schatten als Sichtbares fällt. Sie ist für die Größe, Form, Sichtbarkeit und Verzerrung des Schattens bestimmendes Element. Die Irritation des Doppelschattens wird durch zwei konträr gerichtete Lichtquellen erzeugt. Die Körper der Tänzerinnen werden von rechts und von links aus Richtung der Kamera beschienen. Die Lichtquelle ist etwas erhöht, fast auf Augenhöhe positioniert. Sie bildet die Schatten leicht vergrößert und unmerklich verzerrt auf der Projektionswand ab, die parallel zum Licht wie auch zu den Tänzerinnen und zur Kamera steht. Nähern sich die Tänzerinnen auf ein gewisses Maß, so überlagern sich deren Schatten. Dies wird als Sichtbares an der Projektionswand sowie im Raum zwischen ihnen abgebildet. Es entsteht eine unerwartete Verstärkung, eine Addition der Schatten. Ein Unterschied tritt auf, wenn die Tänzerinnen aus dem Lichtkegel eines Scheinwerfers heraustreten. Das Licht, das für die Aufhellung der äußeren Schatten bestimmt war, erreicht den Ort des äußeren Schattens nicht mehr. Er nimmt eine ähnliche Dunkelheit wie der Schatten in der Addition an, mit dem Unterschied, dass seine Figur vollständig und seine Ränder eindeutig bestimmt zu sein scheinen. Eine gerichtete Lichtquelle bedingt es, etwas zu beleuchten und einen Schatten zu erzeugen. »Es ist gerichtet und richtend. So weist es Wege. Das Medium der Transparenz ist die lichtlose Strahlung.«15 In diesem besonderen Fall hellt die Lichtquelle den jeweils anderen Schatten auf, schwächt ihn bis zu einer bestimmten Transparenz. Er erscheint als Opakes und entzieht sich durch seine Blassheit der Aufmerksamkeit des Betrachters (siehe Abbildung 29).

Abb. 29 Bild 00:10:44:05; Bild 00:10:44:12; Bild 00:10:44:22 Ebd.

Eindeutiger erkennbar wäre dieses Bestimmungsverhältnis, wenn unterschiedlich farbiges Licht eingesetzt würde, angedeutet wird es in der Bläue der Dunkelheit in den Schatten. In ihnen wird die Grundstimmung der Atmosphäre erhalten, d.h., es gibt zunächst eine blaue diffuse Grundhelle, in die zwei neutrale Lichtquellen gerichtet sind. Das Blaue des Schattens rührt von dem Grundlicht her, das nur noch im Schatten gegeben ist, als sichtbarer Rest eines Ganzen. Außerhalb davon wird es vom gerichteten neutralen Licht der Scheinwerfer ausgelöscht. Das Motiv des Doppelgängers ist dem Schatten 15 | Han, Byung-Chul »Im Schwarm. Ansichten des Digitalen« Berlin: Matthes & Seitz 2013 S. 69.

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inhärent, wenn auch in anderer Art und Weise. So ist normalerweise der Doppelgänger eine Instanz des Originals, ein Zweites, ein So-wie, ein Als-auch. Indem der Schatten seinen Rückbezug auf das Original nicht leugnen kann und seine Abhängigkeit vom Objekt ersichtlich ist, tritt der Bezug zwischen den Schatten untereinander erst später auf. Jede Tänzerin hat zu Beginn der Arbeit zwei Schatten oder einen doppelten Schatten. Er ähnelt dem jeweils anderen und verhält sich wie der andere, und trotzdem klingt darin der Eindruck mit, dass die Schatten ein Eigenleben haben, das hier durch die schräg einsetzende Beleuchtung Verstärkung findet. Der Schatten ist immer auch Zerrbild in Größe, Form sowie in semantischer Bestimmung. Dies zeigt sich an den Stellen im Werk, an denen die Addition der mittleren Schatten verloren geht. Es gibt bewusst eingesetzte Bewegungen, die dies provozieren. Zum einen sind dies Bewegungen, in denen die Tänzerinnen sich auf die Kamera zubewegen, nicht mehr als komplette Figur sichtbar sind, sich von der Projektionswand entfernen. Mit ihnen werden ihre Schatten größer, erheben sich über sie, um dann aus dem Bild nach rechts oder links zu entschwinden, je nachdem, von welcher Lichtquelle sie weiter entfernt sind. Die Möglichkeit der Schatten fangenden Projektionswand ist darüber hinaus nicht mehr gegeben. Der Abstand hat sich zu einer nicht mehr zu erreichenden Größe ausgedehnt. Der Schatten als solcher ist vorhanden, es existiert jedoch keine Möglichkeit mehr. ihn als Sichtbares abzubilden. Er existiert im offenen Raum, unfähig sich zu zeigen. Was sich zeigt: Im Moment des Davor entsteht eine gewisse Unruhe, ein Durcheinander der Schatten an der Wand.

Abb. 30 Bild 00:10:45:16; Bild 00:10:46:05; Bild 00:10:47:06 Ebd.

Nicht nur die Abstände zur Projektionswand, sondern die Abstände zueinander ändern sich, und das scheinbar unlogisch und unerwartbar. Es ähnelt einem Besinnen, einem Umschalten von einem abhängigen zu einem unabhängigen Handeln, das so nicht sein kann, das beim Betrachter jedoch den Gedanken daran evoziert. Die Schatten scheinen sich jetzt zu autonomisieren, abzuspalten. Nach einem kurzen, letztmaligem Berühren scheinen sich alle voneinander zu trennen, zu lösen, um in das Außerhalb des Bildrahmens zu entschwinden. Was bleibt, sind angeschnittene Körper, die nur noch die Möglichkeit eines Dialogs untereinander besitzen, einer fragmentarischen Kommunikation, die Haltlosigkeit vermittelt. Der verlorene Schatten ist immer

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noch präsent, jetzt in seiner Absenz, als Fehlstelle, als Leere (siehe Abbildung 30 rechtes Bild). Obwohl der Schatten eine so elementare Rolle im Werk spielt, endet es mit einem Bild des Mangels. Die Schatten sind verblasst, aufgelöst bis auf einen kleinen Rest, die Richtung des Lichts hat sich gewendet. Am Ende der Arbeit hat die Beleuchtung ihre Richtung parallel zur Projektionswand von oben nach unten geändert. Übrig geblieben ist ein kleiner Schatten, der unterhalb der Tänzerinnen am Boden liegt, jeder für sich, bei dem Körper der Person, der ihn erzeugt. Er ändert sich nur in Form seiner Ausbreitung, indem er im Drehen der Tänzerin sich ausweitet, analog zur Kleidung, die die Tänzerin umgibt. An den Körpern der Tänzerinnen hat sich etwas verändert. Die sonst so reine Helle des weißen Kleides ist verdeckt durch den eigenen Schatten, den Körperschatten, der sich auf dem hellen Kleid abbildet, das nun verschattet zu einem Grau geworden ist. Gleichsam mit ihm hat sich das Gesicht verschattet und seine Erkennbarkeit geändert. Der eigene Körper ist nun Projektionsfläche. Auf ihm bilden sich Formen von ihm ab. Im letzten Bild, einem Bild des Innehaltens, in dem die Körper synchron in ihrer Handlung stoppen, ist ihr Schatten auf ein Minimum reduziert, fast unscheinbar klein, auf der hellen Fläche, die ihn umschließt, die ihn droht zu überstrahlen. Die Helle ist hier notwendige Bedingtheit, um ihn sichtbar werden zu lassen. Außerhalb dieser Helle ist die Dunkelheit ihm gleich, und würde er dorthinein fallen, würde er als Unsichtbares untergehen.

B ildbe tr achtung R el ational A rchitecture »Under Scan – Relational Achitecture 11« Rafael Lozano-Hemmer I 2005

Abb. 31 Rafael Lozano-Hemmer »Under Scan – Relational Achitecture 11« 2005 Variable dimensions, Robotic projectors, media servers, Pani 12kW projectors, scissor lifts, computerized surveillance system, custom software, DVD Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

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Vorstellung des Künstlers Die letzte Arbeit, die ich beschreiben möchte, ist eine Arbeit des mexikanisch-kanadischen Künstlers Rafael Lozano-Hemmer. Hemmer wurde 1967 in Mexiko-Stadt geboren. Im Jahr 1989 erhielt er einen B. Sc. in physikalischer Chemie an der Concordia University in Montréal, Kanada. Seine künstlerischen Arbeiten sind bestimmt durch die elektronischen Medien und ihren besonderen bildgebenden Möglichkeiten. Sie entstehen im Bereich der Performancekunst, des technologischen Theaters1 und der Relational Architectur. Sie knüpfen an verschiedene künstlerische Positionen an, die direkt in enger Verbindung zu gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen stehen. Hemmer schreibt über sich und seine künstlerischen Ausdrucksmittel: »Wie die meisten Menschen lebe ich gerne stellvertretend durch die Technologie. Verstärkung, Simulation, Telematik und Dinge, die abstürzen, haben etwas Verführerisches für mich. Ich arbeite mit Technologie, weil das unvermeidlich ist. Technologie ist eine der Sprachen der Globalisierung. Ich nenne sie gern eine Sprache, weil damit zwei signifikante Attribute verbunden sind: Erstens, dass Technologie nicht zu trennen ist von zeitgenössischer Identität – dass es nichts gibt, das wir «vor aller Technologie lieben» – und zweitens, dass Technologie nichts Erfundenes oder Produziertes ist, sondern vielmehr etwas, das sich durch ständig wandelnde soziale, ökonomische, physische und politische Kräfte entwickelt hat.« 2

Hemmer geht es nicht nur um einen ästhetischen, sondern auch um einen kritischen Gebrauch von Kunst. Sein Ansatz, dass es nichts gibt, was wir vor aller 1 | vergl. Endo Nano »Die Welt von innen« Band 01 Ars Electronica 1992 PoMo CoMo »IMmediaCY ein technologisches Theater, ist eine integrierte Medienperformance, in der die Bühne ein riesiger Computer und das Publikum sein Benutzer ist. Es handelt sich um eine Mischung aus speziell angefertigter Technologie, Drama, Tanz und Musik, die eine kollektive virtuelle Realität ergeben. Die ganze Erzählung hindurch werden die Computer gleichzeitig idealisiert und unterminiert, sie nehmen Persönlichkeit an, sie brechen zusammen.« Drehbuch: Andreas Kitzmann und Rafael Lozano-Hemmer Musik: Steve Gibson und Marc Beil Choreographie: Kelly Hargraves Computertechnik: Will Bauer und Bruce Foss Sprachadaptionen: Marc Boucher Bühnenbild: Rafael Lozano-Hemmer und Geoffrey Bendz Darsteller: Marc Boucher, Kelly Hargraves, Will Bauer, Rafael Lozano-Hemmer und Geoffrey Bendz Steckanschlüsse: Robert Lepage, Marcel Achard, Nei Tenhaaf, Kim Sawchuk, Agustin Luviano-Cordero, Elizabeth Littlejohn und Chris Migone Regie und Produktion: Rafael Lozano-Hemmer. 2 | Ranzenbacher, Heimo / Lozano-Hemmer Rafael »Metaphern der Partizipation« in Stocker, Gerfried [Hrsg.] / Schöpf, Christine [Hrsg.] »TAKEOVER: who’s doing the art of tomorrow.« Ars Electronica 2001 Wien; New York: Springer 2001.

Bildbetrachtung Relational Architecture

Technologie lieben, ist ein enger und zunächst unkritisch erscheinender, jedoch gerade deshalb kann er als provokant kritisch gelesen werden. Technologie ist zunächst etwas, was künstlich erschaffen und durch einen künstlichen Bedarf erzeugt wird. Hemmer hat einen anderen Technologiebegriff. Wahr ist, dass der moderne Mensch ihr unhintergehbar ausgesetzt ist, sich ihr im alltäglichen nicht entziehen kann, sie jedoch nicht generell lieben muss. Das Wort Liebe ist in dieser Beschreibung unangemessen und als Überhöhung, eben als provokant zu verstehen. Indem die Arbeiten von Hemmer immer wieder auf Themen wie Identität, Kontrolle, Überwachung, Enthüllung, öffentlich, privat, Speicher, Erinnerung, Archiv, Inividuum, Kollektiv, Gesellschaft rekurieren, ist der Technologiebegriff in Anlehnung an Karl Marx ein näherer. »Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozess seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen.«3 Hemmer entwickelt interaktive Installationen an der Schnittstelle von Architektur und Performancekunst. Häufiges Element seiner Arbeiten sind Möglichkeiten, über die sich eine Partizipation der Öffentlichkeit herstellen lässt. Zu den Techniken, die er dafür einsetzt, gehören Systeme der Robotik wie der Computerüberwachung und Telematik-Netzwerktechnik. Parallel zu einer bestimmten Virtualität stellt er immer wieder Bezüge zu Theorien des Medialen sowie zu kunsthistorischen Positionen her. Nicht nur, dass er vom historischen Kontext ausgeht und diesen auf neue Weise zu einer anderen Sichtbarkeit gelangen lässt, arbeitet Hemmer im Bereich gesellschaftlicher Phänomene zum Public Space. Es sind dies Themen wie Handlungen des kollektiven Protestes, die oftmals in Form von Besetzungen öffentlicher Plätze und in engem Bezug zur Hippie-, Friedens- und Studentenbewegung stehen. Dies verweist auf die Zeit der 1960er Jahre, in denen Protest eine andere Form der Alltäglichkeit besaß, als heutzutage. Hemmer rekuriert auf die Friedensbewegung und auf Straßenkundgebungen, die zur freien Meinungsäußerung und Vertretung eines kollektiven Interesses wichtiges Element waren. Grundlegendes Thema seiner Arbeiten sind die Besetzung sowie die Sichtbarmachung von öffentlichem Raum wie auch die Einbettung des Menschen als eines Individuums und eines kollektives Fragments. Oftmals ist es das Aufeinandertreffen analoger und technischer Systeme, die im Sinne einer neuen Verbindung über chronologische wie topologische Abstände eine besondere Form der Entäußerung entstehen lassen. Indem Hemmer den Betrachter immer als aktives relationales Objekt in seine Arbeiten einbezieht, können diese hierdurch erst zur Entstehung gelangen. 3 | Marx, Karl »Das Kapital« Bd. 1 »Der Produktionsprozeß des Kapitals« Berlin: Dietz 1962 S. 393, Fn. 89.

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Hemmer ist darauf angewiesen, dass der Betrachter zum aktiven Element in seinen Arbeiten wird, sich einbringt und somit ihr Teil wird. Dieser Teil ist auch das, was das Werk maßgeblich bestimmt. Interaktivtät wird bei Hemmer als gesellschaftskritische und politische Dimension sichtbar und bestimmbar. Nur indem der Betrachter aktiv in die Arbeit eintritt, entsteht die Möglichkeit eines Response wie die Möglichkeit einer bestimmten Änderung. Die technischen Gegebenheiten, die technischen Rahmenbedingungen und das System stellt Hemmer zur Verfügung. Dieses zu gestalten, legt er in die Hände des Betrachters, der vom Betrachter zum handelnden Akteur wird. In seinen Arbeiten stellt er nicht nur das System zur Verfügung, sondern enblößt dieses, wie beispielsweise in der vorliegenden Arbeit. Hemmers Arbeiten bewegen sich nicht nur im architektonischen Bereich, der zunächst mit dem Begriff der Baukunst beschrieben werden kann, sondern beziehen sich auf einen erweiterten Architekturbegriff, der sich mit Architekturen von Beziehungen auseinandersetzt und diese nicht als geschlossenes System, sondern als Open Space, als Ansprache, als Aufforderung an den Betrachter beschreibt. Benutzt wird in diesem Zusammenhang der Begriff der »Relational Architecture«, auf den ich später detailliert eingehen werde. Zu Hemmers weiteren Einflüssen zählen Künstler, die er in der Dokumentation zu »Under Scan« mit ausgewählten Arbeiten vorgestellt hat. Dies sind elektronisch arbeitende Künstler wie Luc Courchesne mit seiner Arbeit »Portrait no. 1«, 1990, Gary Hill mit »Tall Ships«, 1992, Paul Sermon mit »Telematic Dreaming«, 1992, und Daniel Canogar mit der Arbeit »Leap of Faith II«, 2004. Für Hemmer beschränkt sich der Einfluss nicht nur auf aktuelle Positionen der Kunst und ebenso nicht auf aktuelle mediale Positionen, sondern gleichsam verweist er auf für ihn im Kontext zur Arbeit »Under Scan« stehende wichtige Werke der Malerei, wie van Eycks »Arnolfini-Hochzeit«, 1434, Parmiganinos »Selbstporträt im konvexen Spiegel«, 1524, Diego Velazquez »La Meninas«, 1656, aber auch auf den amerikanischen Maler Leon Golub, der in seinen Arbeiten oft politische Fragen kritisch artikuliert, wie mit seiner Arbeit »Interrogation I« von 1981.

Vorstellung der Arbeit Under Scan ist eine interaktive Video-Installation für den öffentlichen Raum. In der Arbeit werden Passanten mithilfe eines computergesteuerten Tracking-Systems erkannt und verfolgt. Am Boden des von ihnen betretenen öffentlichen Platzes erscheinen aufgrund einer bestimmten Beleuchtungschoreografie die Schatten ihrer Körper als silhouettenhafte, dunkle Flecken, die an ihren Füßen zu kleben scheinen. Das Computersystem hält für vorausbestimmte Orte ein Video-Porträt bereit, das in den Schatten der vorübergehenden Passanten projiziert wird. Der Passant hält überrascht inne und blickt in ein Bewegtbild, in ein Abbild eines anderen menschlichen Gegenübers, das

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für diese Arbeit im Vorfeld aufgezeichnet wurde. Das Videoporträt ist eines von über tausend Porträts von Freiwilligen, die von lokalen Filmemachern aufgenommen wurden. Der Bezug zum lokalen Umfeld ist in dieser Arbeit für Hemmer ein wichtiger Aspekt, und dies nicht nur in der Einbezugnahme von Filmenden, sondern auch von abgebildeten Personen. Sie kommen alle aus der näheren Umgebung des Aufführungsortes und werden in die Arbeit mit ihrem Abbild sowie einer Geste ihres spontanen Handelns eingebunden. Ein weiterer Teil der Arbeit ist die Offenlegung einer Metaebene, der technologischen Bestimmungen, die im Allgemeinen als nicht sichtbares Element erscheint und in ihrer Nachvollziehbarkeit im Verborgenen besteht. Nach einer bestimmten Dauer wird die platzumspannende Matrix des Trackingsystems in Form eines Licht-Grid sichtbar gemacht, indem sie die bis dahin harmlos erscheinenden Projektion überschreibt.

Abb. 32 Rafael Lozano-Hemmer »Under Scan« Relational Architecture 11, 2005; Leicester, UK, 2006; Photo: Antimodular Research. (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

Es entsteht beim Betrachter, der sich durch die Arbeit bewegt, ihr Teil ist, zunächst eine besondere Form der Irritation. Er wird zum Innehalten gezwungen, seine Aufmerksamkeitsperspektive ändert sich. Er registriert seine Position im Grid sowie die Form der Überwachung und Aufzeichnung. Er registriert, dass er Figur in einer Szene ist, Figur auf einer Bühne des Lichts. Die Form des kindlichen Spiels, in dem er den Schattenprojektionen zu Beginn begegnet ist, kippt in das reflexive Erkennen, dass er nicht Beobachter, sondern Beobachtetes ist. Dieser Moment erscheint in dem kurzen Auf blitzen der Metaebene, der Projektion des Grid auf den Boden des öffentlichen Raumes. Die anfängliche Situation der Schattenprojektionen kehrt nach einer gewissen Dauer erneut zurück. Die Lichtstimmung des Platzes wird wieder hergestellt, die Atmosphäre der Unbedenklichkeit, des scheinbar heiteren Spiels, bestimmen diesen erneut. Jedoch für die Passanten, die das Netz der Beobachter, das Trackingsystem einmal gesehen haben, für die gibt es, ähnlich wie für die Enfesselten in Platons Höhle, kein Zurück. Das Einblenden des Grid in Relation zur technologischen Bestimmung, das Erkennen der Situation, der Lage der im Grunde Gefesselten, Unwissenden, verwehrt den Weg zurück zum unvoreingenommenen Flanieren über den Platz.

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Der Betrachter Diese Arbeit von Rafael Lozano-Hemmer fordert, wie einige seiner anderen Arbeiten auch, den Betrachter auf, ihr Teil zu werden. Er ist unter diesen Bedingungen relationales Objekt und teilnehmendes Subjekt zugleich. Als beobachtendes Gegenüber kommt er hier zunächst nicht vor. Um die Arbeit wahrnehmen zu können, muss sich der Betrachter in sie hineinbegeben. Der Rezeptionsabstand ist kein messbarer mehr, sondern schrumpft auf ein Minimum. Ein Zurücktreten und Erfassen der Arbeit, wie dies im konservativen musealen Rahmen möglich ist, kann hierbei nicht mehr gelingen. Außerhalb der Begrenzung des Lichtfeldes wie auch des sensiblen Feldes des Trackingsystems ist sie weder erfassbar noch erkennbar. Dies gilt ebenso für den Betrachter der Dokumentation der Arbeit, von der hier als Grundlage ausgegangen werden muss. Dieser Betrachter steht nicht nur körperlich außerhalb der Dokumentation, sondern gleichsam außerhalb ihres Zeitkontinuums. Er blickt auf sie zurück, mit dem Blick, der nicht sein eigener ist, sondern der Blick eines anderen, der ihm sagt, was er erkennen soll. Die Dokumentation der Arbeit ist hier lediglich ein Versuch der Bewahrung, der Versuch eines Beweises, von einem Es-ist-so-gewesen. Die Arbeit an sich ist als solche verschwunden und existiert in Form einer Andersheit, als Konzept und Dokumentation. Dies ließe eine Verknüpfung zu ephemeren Arbeiten der Landartbewegung zu, jedoch ausschließlich im konzeptuellen Teil des Ephemeren. Die Arbeit Hemmers ist für einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit angelegt. Er arbeitet im Kontrast zur Landart im urbanen Raum und bedient sich hierbei seiner grundlegenden Bestimmungen: Architektur, Mensch, Technologie. Was sich in der Arbeit zeigt, ist die membrane Offenheit des Werks. Es ist nicht auf eine Materialität begrenzt, ähnlich der Arbeit von de Keersmakers, sondern nutzt zuhandene Entitäten, wie es andere einbringt und diese als Bildmatrix zugrunde legt. Indem der Betrachter in das Lichtfeld tritt, konstituiert sich die Arbeit erst. Ohne die Personen, die zufällig vorübergehenden, wäre es eine Lichtinstallation im öffentlichen Raum, der es nicht möglich ist, eine Interaktivität zu erzeugen. Der Mensch, der sich in sie hineinbegibt, an ihr teilnimmt, erweckt das System. Erst dann besteht die systemimmanente Möglichkeit zur Aktivität, zur Interaktion. Der handelnde Betrachter ist aktives Element und Aktivator, er ist derjenige, dem es möglich ist, eine Reaktion und eine belebte Helle zu erzeugen. Es drängt sich hier die Frage auf, ob die menschliche Silhouette hier Auslöser ist oder ob jedes beliebige kinetische Objekt, das in das Feld der Erfassung gerollt werden würde, ebenso eine systemische Reaktion hervorrufen würde. Wenn dem nicht so ist, schließt sich die Frage nach Tarnung an. D.h.: Wann erkennt das Trackingssystem einen menschlichen Körper und wann nicht? Ist der Auslöser die Bewegung oder die äußere Bestimmung einer Form? Begegnet der Betrachter der Arbeit

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erstmalig, findet er einen hell erleuchteten öffentlichen Platz vor, der zunächst nicht erkennen lässt, in welchem Beziehungsgeflecht diese Helle steht. Die technischen Bedingungen befinden sich an den Rändern, in einer bestimmten Höhe, auf einem Gerüst und liegen im Dunkel, außerhalb des allgemeinen Blickfeldes. Was der Betrachter auf den ersten Blick zu sehen bekommt, ist ein Platz bestimmter Helle, der seinen Blick und somit auch seine Bewegung lenkt. Der Platz erscheint als Bühne, als Arena und bietet sich dem Vorübereilenden an. Der Unterschied zur Bühne im Allgemeinen ist, dass sie hier auf gleicher Ebene mit dem Zuschauer liegt und nicht das erheben, den Gang über die Treppe, nach oben auf die Bühne vom Darsteller verlangt. Es ist nur ein Schritt, der notwendig ist, um in das Lichtfeld zu treten, um vom Zuschauer zum Darsteller, zum Akteur, zu werden. Die Hemmschwelle der Überschreitung ist auf ein Minimum reduziert, ihre Überschreitung kaum wahrnehmbar. Der Passant wird von der Helle des Platzes angesprochen und kann sich dieser Ansprache nicht entziehen. Sobald er die Lichtung betritt, ist er Gefangener des Systems. Einmal in das Lichtfeld getreten, gibt es zunächst kein Zurück in das schützende, verborgene Dunkel. Im Licht stehend wird er von ihm berührt, affiziert und verharrt in einem Moment der Regungslosigkeit. Das im Licht stehende Subjekt wird in seiner Bewegung erfasst. In seinem Schattenbild erscheint das Bewegtbild eines anderen Menschen, der Kontakt zu ihm aufzunehmen scheint. Nach sieben Minuten wird das System dahinter, die Gridstruktur des MotionTracking, als sichtbares auf dem Platz projiziert. Es entlarvt das System der Observierung. Dies ist für Hemmer ein wichtiger Moment. Er arbeitet bewusst mit Fragen zu Öffentlichkeit und Privatheit: »What would happen if every single camera in public space became a projector? What if instead of taking images of us, and assume we are suspicious, tracking systems offered as images? How can we construct exceptions to trends of globalising urban homogenesation?« 4

Die Einblendung des Grids ist der Blick ins Licht, hinaus aus Platons Höhle. Dies visualisiert und entbirgt die Matrix hinter dem scheinbar unschuldigen Spiel der Schatten. Sie lässt die computergesteuerte Überwachung anhand einer Metaebene zur Sichtbarkeit gelangen und legt die Möglichkeit einer Vorausberechnung der jeweiligen Wege der zufällig in die Matrix geratenen Personen offen. Dieser Moment der Offenlegung ist wichtiger Teil der Arbeit. Sie lädt zum reflexiven Verhalten zu ihr und zum Alltäglichen ein. Dies provoziert ein Innehalten des Betrachters, körperlich wie geistig. Nach einer bestimmten Dauer wird das gesamte Projekt gestoppt, zurückgesetzt und es beginnt erneut.

4 | Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007 S. 11.

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Relational Architecture Die Arbeit gehört zu einer Werkreihe die den Untertitel »Relational Architecture« plus die fortlaufende Nummerierung und das Jahr der Veröffentlichung/ Uraufführung trägt. Allen Arbeiten gemein ist der Bezug zum öffentlichen Raum, zum Menschen und die Möglichkeit, in die Arbeit aktiv einzugreifen, in einen aktiven Dialog mit ihr treten zu können, sowie einen Responce, eine Antwort zu bekommen. Der Betrachter wird nicht nur zum Partizipienten, indem er vor der Arbeit steht, sondern indem er in sie eingreift, ihr Teil wird. Hemmer hat für die Werkreihe den Begriff »Relational Architecture« schon 1997, das Jahr der Arbeit mit der Nummer 2, eine Begriffsdefinition festgelegt: »(Definition:) Relational Architecture can be defined as the technological actualisation of buildings and public spaces with alien memory. Relational Architecture disorganizes the master narratives of a building by adding and subtracting audiovisual elements to affect it, effect it and re-contextualize it. Relational buildings have audience-activated hyperlinks to predetermined spatiotemporal settings that may include other buildings, other political or aesthetic contexts,other histories, or other physics.« 5

Anschließend grenzt er den Begriff »Relational Architectur« von »Virtual Architecture« ab, indem er auf Unterschiede wie auf Gemeinsamkeiten eingeht. »Relational buildings, [...], are real buildings pretending to be something other than themselves, masquerading as that which they might become, asking participants to suspend faith and probe, interact and experiment with the false construct. [...] In this sense, virtual architecture tends to dematerialize the body, while Relational Architecture tends to dematerialize the environment.« 6 »They are similar in that both are largely participant-centered, computer generated, and less expensive, permanent, sheltering and territorial than physical architecture. They are also fundamentally perspectivist (in Ortega’s connotation of indeterminacy and interconnection, not in the Renaissance sense of priviledged vantage point): there is always a self-acknowledged point of view (POV) which underlines the partiality and 5 | Lozano-Hemmer, Raphael in Stocker, Gerfried [Hrsg.] »Fleshfactor: Informationsmaschine Mensch / [Ars Electronica 97]« Wien; New York: Springer 1997 p. 336-337. sowie Lozano-Hemmer, Raphael in RELATIONAL ARCHITECTURE GENERAL CONCEPT Januar 1998 www.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-9801/msg00056.html vom 24.03.2013 In diesem Text geht Hemmer auf die Arbeiten Relational Architecture 2 und Relational Architecture 3 ein. In Arbeit 3 verwendet er den menschlichen Körperschatten schon als Bildmatrix, als Projektionsfläche für anderes, in diesem Fall für Texte. 6 | Ebd.

Bildbetrachtung Relational Architecture performativity of the construction. In both virtual and Relational Architecture, the increasingly irrelevant notion of the «site specific», which becomes an oxymoron in our age of non-location, is replaced by the notion of the relationship specific.« 7

Wichtige Elemente sind für ihn die Beziehungen zum Public Space sowie zum Menschen und ihrem Beziehungsgeflecht untereinander. Eine für diese Untersuchung zentrale Beschreibung ist die Bedeutung des Menschen, des Passanten, der als relationales Objekt mitgedacht werden muss, ohne den die Arbeit nicht funktionieren kann. Indem er mit dieser zusammentrifft, verhält er sich zu ihr wie zu sich selbst. »But apart from special effects, beyond plasticity, the real motivation behind Relational Architecture is the modification of existing behaviour: the artist creates a situation where the building, the urban context and the participants relate in new, alien ways. The piece can be considered successful if the artist’s intervention actively modifies the point of dynamic equilibrium between the public’s actions and the building’s reactions, and vice versa. There can be a variety of causal, chaotic, telepresent, predetermined, or emergent behaviours programmed into the piece and the uncertainty of the outcome is one of the main motivations for doing such a piece.« 8

Hier kündigt sich die kritische Auseinandersetzung mit dem Public Space und die Rolle des Menschen im Verhältnis zur Öffentlichkeit und zur technologischen Möglichkeit, sein Bild zu speichern und es zu benutzen, an. Die Werkreihe »Relational Architecture« besteht bisher aus 19 Einzelarbeiten, wovon siebzehn auf Hemmers offizieller Website9 präsent sind. Es sind Projekte, in denen das Publikum zum bestimmenden Teil der Arbeit wird bzw. die Arbeit von der Teilnahme des Betrachters abhängig ist. Sie ist abhängig davon, dass der Betrachter sich in sie hineinbegibt, zeitlich wie topologisch. Hemmers Arbeiten sind Kunst im öffentlichem Raum, in dem der Betrachter sich unter anderen Umständen alltäglichen Handlungen unterworfen sieht. Indem Hemmer diesen Raum in eine Bühne, in einen bestimmten Raum aus Licht und Schatten erhebt, ändert er dessen Bedeutungsebene und somit auch die Handlungen, die in diesem vollzogen werden. Der Betrachter reagiert auf den modifizierten Raum und der Raum reagiert auf den Betrachter. Es verlangt den Betrachter zunächst ein gewisses Maß an Überwindung ab, Teil der Arbeit zu werden, ins Licht zu treten, etwas Sichtbares zeitnah durch sein Handeln auszulösen, gleichsam abgebildet und berechenbar zu werden. Das Eintreten in den bestimmten Raum, in die Arbeiten aus der Serie »Relational Architecture«, 7 | Ebd. 8 | Ebd. 9 | Vergl. www.lozano-hemmer.com.

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entspricht weder der Rezeption von Kunst noch dem Umgang mit öffentlichem Raum. Im Allgemeinen existiert immer noch ein Abstand zwischen Kunst und Betrachter, nach dem der vor dem Kunstwerk in Reglosigkeit und eventuellem Nichtverstehen verharrt. Es existiert eine unsichtbare Grenze, eine Mauer zwischen beiden, die lange maßgebliches Element in der Rezeption von Kunstwerken war und auch immer noch ist. Diese Mauer ist eine Form des Abstandes, die der Betrachter nicht nur körperlich, sondern auch gedanklich zum Werk einnimmt. Dies ist bei den Arbeiten von Hemmer nicht so. Der Betrachter wird ausdrücklich aufgefordert, eingeladen, sich einzubringen, über seine individuelle Körperlichkeit mithilfe seines Körperschattens, seiner Stimme, seines Herzschlages und über seine Erfahrungen. Es ist hier das Spiel mit den Schatten, das der Mensch aus Kindertagen kennt, dem er sich auch weiterhin nicht entziehen kann. Er muss seinen Körper ins Licht stellen, eine Bewegung machen, um zu sehen, wie der Schatten diese wiedergibt. Der Betrachter tritt aus sich heraus und wandert gedanklich zum Schatten hinüber, der mit ihm ist. Timothy Druckrey bestimmt den Begriff der Relational Architecture noch genauer, indem er schreibt: »Relationale Architektur versucht weder Einvernehmen ›herzustellen‹ noch das Post-Cinema heraufzubeschwören. Sie evoziert jene Art sozialen Raum, in dem die aktive Teilnahme kein Nebenprodukt ist, sondern die treibende Kraft bei der Schaffung einer dynamischen Agora, bei der jede Position in einem offenen System etabliert wird, das Hierarchien zerbricht und die Idee entkleidet, dass die Öffentlichkeit eine undifferenzierte Masse ist, die Medien nicht der Vorbote eines utopischen globalen Dorfes und Interaktivität nicht das Opium der Konsumenten sind.«10

Nachtschatten Grundlegende Bedingung für die Arbeit »Under Scan – Relational Achitecture 11« ist ein dunkler Raum. Diesen beschreibt der Schatten der Nacht, der große Eigenschatten der Erde, der auf ihrer Sonnen abgewandten Seite entsteht und hier als existentielle Grundbedingung besteht. Die Nacht ist jedoch nicht nur dunkle Masse, dunkler Raum, sondern gleichsam Schatten und Projektion eines Hindernisses. Dies ermöglicht erst die Arbeit zur Sichtbarkeit zu erheben. Durch das Dunkle, den Eigenschatten der Erde, entsteht ein »gestimmter Raum«, der visuell und atmosphärisch erfahrbar ist. Es handelt sich nicht ausschließlich um eine Verdunklung des Public Space und eine Veränderung 10 | Druckrey, Timothy »Relational Architecture: The Work of Rafael Lozano-Hemmer« in Goryucheva, Tatiana / Kluitenberg, Eric [Hrsg.] »Debates & Credits Media / Art / Public Domain« De Balie 2004. und www. medienkunstnetz.de/themen/public_sphere_s/ public_sphere_s/scroll/ vom 22.04.2013.

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in seiner sensorischer Erfahrbarkeit, sondern, gleichermaßen um eine Umlenkung des Blickes.11 In dem der Raum eine Abschattung erfährt, sind die Sinne geschärft. Es findet eine besondere Form der Wahrnehmung statt, die der Mensch von Anbeginn seiner Existenz besitzt und nie ganz verloren hat. Die Wahrnehmung bewegt sich zwischen erhöhter und verschwindender Aufmerksamkeit, die nächtens letztendlich in den Schlaf münden wird. Der große Schatten der Nacht ist in der Arbeit Basis wie die Grundierung der Leinwand in der Malerei. Diese bietet Raum und Bestimmung für etwas durch etwas. Der mehrdimensionale Raum wird hier zu einem bestimmten Raum aus Schatten, Licht und Zeit. Hemmers Arbeit gehört zu den Dingen, die im Dunkel Licht erzeugen. »Die europäische Malerei, das europäische Theater, die Elektrizität, die Photographie, das Kino sind Techniken der Nachterzeugung und Nachtgestaltung – auch dann, wenn sie angeblich oder wirklich die Nacht abschaffen wollen.«12 Hemmer möchte die Nacht nicht abschaffen, sondern diese als Bedingung einer bestimmten Sichtbarkeit zugrunde legen. Wahrscheinlich wäre seine Arbeit ebenso möglich, wenn er diese an einem sonnigen Tag im Süden, auf einem öffentlichen Platz entstehen liese. Was dabei jedoch eine Änderung im Blick, eine Nichtsichtbarkeit der Matrix erzeugen würde. Hemmer benötigt den dunklen Raum als Rahmung, als Beschreibung eines zu beschreibenden möglichen Ortes. Ein anderes kann hier die Verlegung in einen bestimmbaren Innenraum, wie dies bei der Präsentation seiner Arbeit zur 52. Bienale di Venezia 2007 geschehen war, erzeugen. (Siehe Abbildung 33.)

Abb. 33 Raphael Lozano-Hemmer, Biennale Vendig, 2007 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. 11 | Ströker, Elisabeth »Philosophische Untersuchungen zum Raum« Frankfurt/M: Klostermann 1965 Bd. 25 S. 50 »Der dargestellte begehbare Raum ist gestimmter Raum, abhängig vom wahrnehmenden erlebenden Subjekt. Er kann anziehend oder abstoßend, beglückend oder erschreckend empfunden werden, weil er das in ihm stattfindende Leben enthält und atmosphärisch erhält. Er kann sowohl Spiegel für die erlebende Figur, Seismograph ihrer Stimmung sein, wie auch als Katalysator bestimmte Stimmungen hervorrufen, und als Filter bestimmte Dinge von ihr abschirmen.« 12 | Seitter, Walter »Geschichte der Nacht« Berlin; Bodenheim bei Mainz: Philo 1999.

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Unklar hierbei ist die Unentschlossenheit der Präsentationsform, die in erheblicher Form von jener im öffentlichen Raum auf einem öffentlichen Platz abweicht. Bestimmung erfährt die Installation nicht unerheblich durch die räumlichen Bedingtheiten, die hier den Eindruck einer Vernachlässigung erzeugen. Indem Hemmer den nächtlichen öffentlichen Platz mit einem sehr hellen, gerichteten Licht flutet, werden alle anderen Lichtorte der Umgebung in der Wahrnehmung zurückgedrängt. Die Beleuchtung von Straßen und Fassaden ist deutlich dunkler und liegt in einer diffusen Farbigkeit. Hemmers Grundlicht ist, anders als bei Keersmaker, neutral und grell gegenüber dem Dunkel der Nacht und gegenüber den anderen Lichtern, die in den Fenstern der Gebäude und um den Platz herum leuchten. Gerade in der Dokumentation der Arbeit zeigt sich dies als Überhöhung der Beleuchtung, die ohnehin anwesend ist. Um es mit einer Lichtmetapher zu beschreiben: Hemmers Licht erinnert an das allsehende göttliche Licht, das auf die Erde zu blicken scheint, dem sich nichts und keiner entziehen kann. Welchem Gott dies zugehörig ist, bleibt offen. Das Außerhalb des beleuchteten Platzes fällt an den Rand des Wahrnehmbaren zurück. Es entzieht sich dem Blick des Betrachters und wird durch die gleißende Helle verdeckt. Die Aufmerksamkeitsdifferenz erscheint als eine um ein Vielfaches erhöhte. Das, was sich zeigt, ist eine Auslöschung, eine Umschreibung des Schattens der Nacht in eine lesbare Helle. Wenn man dies im Kontext von Lichtverschmutzung denkt, so stellt es einen ökologisch motivierten Verweis auf einen bestimmten Umgang mit künstlichem Licht wie gleichsam die Entleerung, die Entzauberung der Nacht durch stetig verfügbares künstliches Licht dar. Der öffentliche Platz präsentiert sich in einer Gänze, die alles klar erkennen lässt und zunächst kein Geheimnis mehr birgt. Diesem wird erst widersprochen, indem dem Licht ein Hindernis in den Weg gestellt, ein Schattenraum erzeugt wird. Um im metaphorischen Denken zu bleiben: Die Nähe, besonders die des künstlichen Lichts zum Fließendem, zum Wasser, erscheint in Form einer Analogie. Licht ergießt sich, entspringt einer Lichtquelle und mündet im Flutlicht einer abendlichen Sportveranstaltung. Im Fluss des Lichts ist der menschliche Körper, der in den Lichtkegel tritt, das Hindernis, der Stein im Wasser, mit dem Unterschied, dass ihm die Möglichkeit einer Eigenbewegung gegeben ist. Sein Schatten ist der Verweis auf ihn, auf ein Hindernis, eine Unterbrechung im Fluss des Lichts. So wie hinter einem Stein im Wasser eine Verwirbelung entsteht, erscheint der Schatten hinter der Person, die sich dem Licht entgegenstellt, der Schatten wäre somit ein Wirbel des Lichts. »Worin besteht der Unterschied, ob wir uns in einem hellen oder dunklem Raum befinden? Die Dunkelheit, die uns umgibt, ist wie ein dichter Stoff, der uns einhüllt, gleichzeitig auch einengt.«13 schreibt Reinhard 13 | Olschanski, Reinhard [Hrsg.] »Licht-Ortungen Zur Reflexion des Sichtbaren« Berlin: Philo 1998 S. 35.

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Olschanski. Es ist der Bezug auf eine Stofflichkeit, auf ein atmosphärisches Empfinden wie auch der Verweis auf eine Erfahrung. Er schreibt weiter: »Dagegen ist der helle Raum das, was man oft eigentlich Raum nennt, Spatium, d.h., er wird in Abständen und Distanzen erfahren. Die eigene Anwesenheit im Raum ist deshalb nicht nur das absolute Hier, das sich im Dunklen beängstigend aufdrängen kann, sondern das Sichbefinden an einer Stelle.«14

Was hier aufscheint, ist die Relation der Dinge zueinander und die Relation zur Zeitlichkeit und zur Qualität des natürlichen Lichts in Form des Sonnenlichts wie des Feuers. Jedoch gleichermaßen die Relation zu einem Ort, einer Stelle, die Relation zu einer bestimmten Umgebung. In Hemmers Dokumentation ist ohne die Sichtbarkeit der Umgebung nicht mehr eindeutig erkennbar, durch welche Lichtquelle der Schatten der Personen am Boden Bestimmung erfährt. Es entsteht der Zweifel an seiner Echtheit, an seiner Abbildung. Im Bildausschnitt der Installation, ohne die Möglichkeit einer Rückbezüglichkeit zum Ort, erscheint der Schatten am Boden als dunkler Fleck und kann nicht mehr eindeutig einer Lichtquelle zugeordnet werden. Dies erscheint als potenzielle Steigerung im Visuellen. Als Gegebenes vor Ort, am öffentlichen Platz, im Lichtkegel stehend, würde dieses Infragestellen so zunächst nicht auftauchen. Der Glauben an das, was körperlich erfahrbar ist, hat noch keine Unterbrechung gefunden, wie dies in der bildlichen Erfassbarkeit geschieht. Die Dokumentation im Fotografischen, Filmischen, lässt die Möglichkeit einer Uneindeutigkeit zu, die Erfahrbarkeit vor Ort jedoch noch nicht. Was hierbei mitklingt, ist die Möglichkeit des Uneindeutigen d.h., wir stehen an einer Grenze des Nicht-mehr-glauben-Könnens. Was im bildlichen begann, wird sich im virtuellen Raum fortschreiben.15

Menschenschatten Tritt der Passant in das Feld des Lichts, so zeigt sich mit ihm der Schatten seines Körpers. Er erscheint in einer bestimmten Deutlichkeit, die unweigerlich den Blick auf sich zieht. Das gleißende Licht wird aufgehalten. An seiner Stelle erscheint am Boden ein Schatten, der die Silhouette des lichtundurchlässigen Körpers beschreibt. Er ist Referenz des Lichts, er berichtet vom Licht.16 Das Licht kann sich ausschließlich an den Dingen zeigen, indem es die Dinge 14 | Ebd. 15 | Gemeint ist hier die Wahrnehmung durch und mithilfe technologischer Systeme, die Räumlichkeit und haptische Erfahrung simulieren. 16 | Referenz im ureigensten Sinne vom lateinischen referre für ›auf etwas zurückführen‹, ›sich auf etwas beziehen‹, ›berichten‹.

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zeigt. Licht ist eine existenzielle Unabdingbarkeit, eine Bedingung von Sichtbarkeit. Ohne Dinge, die sich dem Licht in den Weg stellen, ist dies nicht sichtbar – ohne Licht sind die Dinge nicht sichtbar. Etwas, was im Licht steht und keinen Schatten wirft, kann auch nicht wirklich sein. Somit ist die Existenz des Schattens, der von einem abfällt, nicht nur eine alltägliche Erscheinung, sondern ein Motiv der Selbstvergewisserung. Es wäre eine Schock, wenn ein Mensch beim Betreten des Lichtfeldes keinen Schatten werfen würde. Ihm fehlt nicht nur die Referenz für seine Existenz, sondern er verliert den Bezug zum Boden, auf welchem er normalerweise steht, mit dem er eine Nähe, eine Verbindung eingegangen ist (siehe Abbildung 34). Der Körper scheint ohne verbindenden Schatten zu schweben, losgelöst vom Grund, auf dem er steht, zu dem er eine körperliche Verbindung besitzt. Er erscheint als Collagiertes, als auf dem Bild Liegendes und nicht als im Bild Seiendes. Er ist Nachträglichkeit, an der zwar die Richtung des Lichts ablesbar ist, jedoch in einer anderen Ebene. Der Körper ist hier zweidimensionale Folie einer Unkörperlichkeit.

Abb. 34 Linkes Bild: Ausschnitt aus Rafael Lozano-Hemmer »Under Scan, Relational Architecture 11« 2005; Photo: Antimodular Research; rechtes Bild retuschiert.

Hemmer nutzt den Schatten des Menschen sowohl in seiner visuellen Präsenz als auch in seiner visuellen Absenz. Es ist für den Passanten ein kleiner Schock, ein Stich, eine Verletzung, wenn plötzlich in seinem Schatten ein Bewegtbild einer anderen Person zur Sichtbarkeit gelangt. Hemmer benutzt die Schatten der in die Arbeit eintretenden Personen, indem er in ihre Schatten das aufgezeichnete Bewegtbild eines anderen projiziert. Dies ist beim erstmaligen Erleben ein Schock. Der Mensch geht davon aus, dass der Schatten sein Schatten, er dessen Besitzender ist, er Verfügungsgewalt über ihn besitzt. Er empfindet ihn als Erweiterung seines eigenen Körperbildes und geht davon aus, dass er ihn bestimmt, dass er zu ihm gehörig ist. Der Mensch ist es gewohnt, dass sich sein Schatten verändert, mit ihm geht, dass er verschwindet, sich verzerrt und deformiert, dass er an einer gegenüberliegenden Mauer erscheint und diese erklimmt. Der Mensch ist gewohnt, dass der Schatten als Karikatur eine innerliche Beschreibung darstellen soll wie bei Grandville der Zeichner. (Siehe

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Abb. 35 Linkes Bild: Jean-Ignace Gerard Grandville »Die Schatten – Das französische Kabinett« 1830; rechtes Bild: Tim Noble und Sue Webster »He and She«.

Abbildung 35 linkes Bild.) Was der Mensch nicht gewohnt ist, was ihm fremd ist, ist, dass sein Schatten von etwas anderem, einem anderen Bild besetzt wird. Dies deutet sich in der Arbeit von Granville und in den Arbeiten von Tim Noble und Sue Webster an, in denen es zu einer Differenz zwischen dem schattengebenden Objekt und dem Schatten kommt. Was bei der Zeichnung noch ohne Weiteres als Imagination, als Interpretation und kritische Überhöhung gesehen werden kann, ändert sich bei Noble und Webster in eine Unmöglichkeit der Abbildung. Der Schatten kann unmöglich von der offenen Form im Vordergrund geworfen worden sein. Dem ist jedoch so. Bei Hemmer werden diese Überhöhungen weitergeführt. Was zunächst die äußere Form, die Silhouette betraf, erscheint bei Hemmer im Binneraum der Silhouette. Der Schatten zeigt sich als Fläche, in die ein Bild eines anderen Menschen projiziert wird. Er dient als Projektionsfläche, als Leinwand. Damit nicht genug. Der andere scheint mit ihm Kontakt aufnehmen zu wollen. Im Schatten des Betrachters, der bis dahin noch nicht wahrgenommen hat, dass er Fragment einer künstlerischen Arbeit ist, erscheint etwas Ungewohntes, etwas Unerwartetes. Es sind die Videoporträts, die Hemmer aufnehmen ließ, von Menschen aus der Umgebung. Es ist eine Form der Ansprache, die geschieht, angesprochen aus der Tiefe, der Dunkelheit des eigenen Schattens. Durch die besondere Aufzeichnung der Videoporträts entsteht eine Bewegung, die aus dem Raum hinter dem Raum des Schattens ihren Ursprung zu finden scheint. Es ähnelt dem Bild im Spiegel, das hinter dem Spiegel einen weiteren Raum, einen Raum, der betretbar zu sein scheint, zur Sichtbarkeit kommen lässt. Das Bewegtbild scheint räumlich in einem Raum zu sein, zu dem der Schatten die Öffnung, der Eingang ist. Die Betrachter sind zunächst erstaunt, überrascht, erfreut. Dies stellt sich jedoch ausschließlich bei harmlosen Bildern ein. Würde Hemmer Schockbilder, wie negativ konnotierte Personen in die Schatten projizieren, wären die Reaktionen andere. So stellt sich dem Betrachter zunächst nicht die Frage, ob der Schatten der eigene ist und ob die Projektion mit ihm etwas gemein hat. Er sieht es zunächst als eine Form von Leinwand, Projektionsfläche, die mit ihrem Dunkel dem Licht die Möglichkeit gibt, etwas anderes darin zu zeichnen.

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Die kritische Frage nach der Auflösung des Rätsels scheint nachrangig zu sein, das, was sich zeigt, ist »funny«17 und trifft den Betrachter nicht wirklich, sondern tritt auf mit einem Eventcharakter, der an Vergnügungsparks oder andere Zeitvertreibe erinnert. Es ist nichts, was den Betrachter wirklich erschüttern kann. Er ist von der Harmlosigkeit, von dem Charakter eines Spiels überzeugt. Er sieht zunächst nicht die Analogie, die Hemmer erzeugt und ist auch nicht in seinem kritischen Denken zu Hause. Diese Möglichkeit erscheint erst mit dem zweiten Teil der Arbeit in einer anderen Form. Diese andere Form des Schattens wird im Hintergrund der Arbeit erzeugt und bestimmt diese entscheidend. Es ist das Trackingsystem18, das den Menschen als Bewegungsschatten ortet, verfolgt und seinen möglichen Weg, den er einschlagen wird, vorausberechnet. Der Schatten wird hier als dunkles in Bewegung Seiendes interpretiert und fungiert als Referenzobjekt zum Subjekt. Dieses Metasystem wird dem Betrachter am Rande des beleuchteten Platzes über einen kleinen Kontrollmonitor einsehbar gemacht (siehe Abbildung 36) und verweist auf den zugrunde liegenden Aspekt der Arbeit, den Hemmer mit ihr thematisiert. Der Kontrollmonitor ist ein zweiter Lichtort, der auf andere Weise wahrgenommen werden kann. Es ist der Verweis auf den medial bestimmten Raum des öffentlichen Platzes, der Verweis auf eine Metaebene, die so im Allgemeinen nicht zur Sichtbarkeit gelangt, jedoch vorhanden ist. »Relational Architecture reminds us that our social spaces are never neutral, that they are inhabited by memories of all sorts, that ephemerality is not inconsequential, that interactivity is not merily a catchphrase for media art. it also proposees a social «architecture» that should, in virilios wonderful phrase, take place.«19

Abb. 36 Bilder des Kontrollmonitors aus Rafael Lozano-Hemmer »Under Scan, Relational Architecture 11« (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. 17 | Reaktion eines Passanten in Lozano-Hemmer, Raphael »Under Scan« DVD. 18 | Motiontracking meint hier die Verfolgung und Auswertung von bewegten Subjekten. Ziel dieser Verfolgung ist das abbilden, vorausberechnen einer zukünftigen Bewegung zur technischen Verwendung. Diese führt das getrackte Subjket mit dem nachfolgenden Videoporträt zusammen. Es wird ein Bewegungsmuster erzeugt, um den einzuschlagenden Weg des Subjekts/Objekts vorauszuberechnen, um ihm etwas in den Weg zu legen. 19 | Druckrey, Timothy »take Place« in Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« S. 47.

Bildbetrachtung Relational Architecture

Damit einhergehend entsteht eine Verknüpfung zum Prinzip der Überwachung des öffentlichen Raumes und zu kritischen Fragestellungen wie: Was wäre, wenn jede einzelne Kamera an einem öffentlichem Ort zu einem Projektor würde?20 Was ist möglich, wie sind Bewegungsströme berechenbar und steuerbar? Welche Rückführungen sind im Prinzip der Alltäglichkeit machbar und wer wird wie dadurch bestimmbar? Es ist die Frage nach den Relationalitätsprinzipien, wie die Frage der Einflussnahme auf kulturelle, gesellschaftliche, politische und subjektive Prozesse, wie auch die Frage nach dem Recht aufs eigene Bild und wie der Bildbegriff diesbezüglich heutzutage gefasst werden muss. Anschließend daran entsteht die dringende Frage nach einer erweiterten Begrifflichkeit und nach einer erweiterten Subjketbestimmung, im politisch rechtlichen wie im kulturell gesellschaftlichem Raum. Der Mensch taucht im technologischen Prozess der Erfassung als Abbild, als Schatten, als Verweis, als Referenz auf. Er ist Datenmenge und Figur in einem scheinbaren Spiel. Das, was der Betrachter am Rande des Platzes sieht, ist zunächst ein Monitor mit Spielfiguren, Figuren eines Films, der hier jedoch in Echtzeit läuft. Die Verbindung zum realen Subjekt erscheint schwierig, da die Personen des öffentlichen Platzes im Monitor als Stellvertreterfiguren stehen. Diese tragen keine Kennzeichen von Subjektivität und Individualität. Die Verbindung zum Menschen auf dem Platz ist empathisch wie kognitiv unterbrochen. Seine grafische Darstellung, die Übertragung in ein Abstraktionsverhältnis, lässt ihn zum Objekt werden. Unweigerlich stellen sich Fragen, wie der Betrachter reagieren würde, wenn auf diesem Monitor etwas Unvorhergesehens passierte, und wann er sich vom Monitor abwenden, unter welchen Umständen er in das Geschehen auf dem Platz eingreifen würde. Zunächst einmal sieht er nur Bewegungsschatten, entsubjektiviert, gleich einem Avatar in einem Computerspiel. In diesem Spiel sieht er erst allmählich die Rolle, die er als Betrachter eingenommen hat, sowie die Rolle, die er zugewiesen bekommt, wenn er sich in die Matrix des Platzes hineinbegibt. Eine Aufmerksamkeitsteigerung geschieht in dem Moment, in dem das Koordinatensystem, das Netz, das für die Erfassung der Bewegungsdaten und Positionen sowie für die Berechnung des Weges und der planbaren Projektionen, die in diesen Weg gelegt werden, zur Sichtbarkeit gebracht wird. Hemmer enttarnt es alle 7 Minuten, indem er die Atmosphäre des Platzes vollkommen ändert. Er schaltet die künstliche Sonne aus und taucht den Platz in ein Dunkel der Nacht, in das ausschließlich das Gitter des Erfassungssystems projiziert wird. In diesem Moment hat auch der letzte Passant, der die Installation bisher als »funy thing« wahrgenommen hat, einen Bruch im Denken. Es ist die Offenlegung der Matrix und das Sichtbarmachen der unmöglichen Arbitrarität. Es ist eben nicht die Atmosphäre der Zerstreuung in einem Vergnügungspark, sondern eine 20 | Ebd. S. 11.

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Überhöhung der alltäglichen Gegebenheiten, der Frage nach dem Betrachter und dem Betrachtenden, aber auch die Frage nach dem Bestimungsverhältnis und seiner referenzlogischen Bestimmung. Der Mensch wirft nicht nur auf dem Platz einen Schatten, sondern wird auch als Schatten, als bewegter Schatten aufgezeichnet und als Grundlage einer Vorausberechung seines Weges benutzt. Er wird zum Datensatz. Aus Blickrichtung der Kamera scheint es keinen signifikanten Unterschied zwischen Mensch und Schatten zu geben. Was hier zählt, ist seine Positionsänderung, die auf eine Richtung schließen lässt, auf einen Weg, den er beschreiten wird. In diesem Weg werden für ihn bestimmte Dinge platziert, hier Videoporträts. Beim Beschreiben der Arbeit taucht unweigerlich eine Analogie zur Alltäglichkeit auf und es stellt sich die Frage, inwieweit es in diesem Erleben Zufall gibt bzw. der Mensch zufällig auf bestimmte Dinge und Situationen in seiner Umwelt trifft. Um im Alltäglichem zu bleiben: Der Gang ins Internet, der Eintritt in diesen Raum über einen PC, wird mit einem unmerklichen Schritt – mit nicht mehr wahrnehmbarer Schwelle des Übertritts – zu einem Gang in einen öffentlichen Raum, auf eine Bühne, auf der der User getrackt, sein Gang vorausberechnet wird und ihm Dinge beiläufig in den Weg gelegt werden. Der Schritt vom Privaten ins Öffentliche vollzieht sich oftmals unbewusst, da der Körper an seinem privaten Ort verbleibt, jedoch die Daten, durch die er beschrieben wird, die Bilder, die er ablegt, mit einem Mausklick auf einer unbeschreiblich großen Bühne erscheinen und sich seinem Ursprung wie auch der Bestimmung durch seinen Verursacher entziehen. Es ist nicht nachvollziehbar, was mit ihnen geschieht, wo sie benutzt werden. Sieht man das als Schattenmotiv, so hat sich dieser Schatten vom Original gelöst, wird zum anderen und beginnt ein Eigenleben, das noch einmal auftauchen könnte, gleichsam wie in Andersens Märchen der Schatten, der in den heißen Ländern verschwunden ist und später noch einmal an die Tür klopfen wird.

Der Schatten – ein ästhetischer Sonderfall Wahrscheinlich muss man den Schatten zu jenen geheimnisvollen, seltsamen Phänomenen zählen, die sich ausschließlich durch ihr Relationales bestimmen lassen. Er gehört somit als solcher zu jenen, die sich dem Betrachter nicht nur in einer Richtung entziehen. Er gehört ebenso wenig zu dem Unbestimmten, das sich mithilfe der Möglichkeit der Unterscheidung charakterisieren lässt, aber sich gerade deshalb einer Einordnung verweigert. Der Schatten ist eine Art Halbzeug, eine Art des Dazwischen. Er ist Ding und Unding zugleich. Begegnet man ihm in Form einer ästhetischen Erscheinung, so erregt er ein besonderes Potenzial an Aufmerksamkeit, Irritation und Beachtung. Schon in den überlieferten Texten aus Platons Politeia (370 v. Chr.), ist Licht und Schatten ein zentrales Problem. Das im Licht der Sonne Seiende erfährt eine andere Sichtbarkeit wie auch eine andere Bedeutungszuweisung als das im Schatten Liegende. Es kommt zu einer differenzierten Unterscheidung in der Wahrnehmung und zu einer Unterscheidung im Seinsrang. In Platons Sonnengleichnis steht die Sonne, das Licht, als Sinnbild für das Gute – mehr noch, sie ist Abbild, Kopie des Guten. Das Licht ist die Implifikation des Guten. Es ist unabdingbar, um sehen und erkennen zu können, des Gleichen auch, um selbst gesehen zu werden, um sichtbar zu sein. Es ist der Bezug der sinnlich wahrnehmbaren Welt und der Möglichkeit, durch den Gesichtssinn wahrgenommen zu werden. Es besteht eine direkte Beziehung zwischen Gesicht und Sichtbarkeit. Was sich im Licht der Sonne befindet, ist sichtbar. Was sich im Schatten befindet, ist bedingt sichtbar, schwer erkennbar – unter bestimmten Bedingungen nicht mehr sichtbar. In der Analogie für eine Idee des Guten bedeutet dies: Was im Licht liegt, an dem glänzt Wahrheit und Seiendes. Der Bereich, der von der Idee des Guten nicht erhellt wird, ist der Bereich des Entstehenden, Werdenden und Vergehenden. Platon spricht von dem mit Finsternis Gemischten, dem Schatten. Licht steht hier für Wahrheit und für Sein. Platon spricht im Höhlengleichnis von Verhältnissen des Denkbaren und Sichtbaren, vom Undeutlichem und Deutlichem, und benennt es: »Ich nenne aber Bilder zuerst die Schatten, dann die Erscheinungen im Wasser und die sich auf allen dichten, glatten und glänzenden Flächen finden, und alles dergleichen, wenn du es

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verstehst«.1 Es sind die undeutlichen Bilder, die nicht realen Objekte, die Ideen. Die von uns wahrgenommenen materiellen Dinge gleichen bloßen Schatten, denen kein wahres Sein zukommt. Sie sind bloße Abbilder der Ideen. Ideen sind Formen, Strukturen, Gattungen, Allgemeinheiten des bloßen Seins. Nur ihnen kommt wahre Identität zu. Die konkreten Körper vergehen, aber die Ideen bleiben als ewige Urbilder erhalten. Als gestaltgebende Zusammenhänge, deren Formen im losen Verbund und flüchtig sind, stellt der Schatten einen ästhetischen Sonderfall dar, der mit seinen Eigenheiten gleichermaßen die Systematik der Medien berührt. Schatten ist in diesem Betrachtungszusammenhang Ding und Medium zugleich. Er ist das eine durch das andere, das andere im einen. Weil sich das Ding einem Wahrgenommenwerden verdankt, das nur durch ein Medium dieser Möglichkeit zuteilwird, kann kein Ding außerhalb eines Mediums sein. »Ein Ding [...] ist nur wahrnehmbar in einem diese Wahrnehmung vermittelnden Medium.«2 Dies ist grundlegend für die menschliche Wahrnehmung von Dingen. Es meint nicht, dass durch das Medium seine Bestimmung geändert wird, sondern dass durch jenes Bestimmung erst möglich ist. Wahrnehmung hört nicht an der Grenze des wahrnehmenden Körpers auf, sondern vollzieht sich auch ohne unmittelbaren Kontakt durch die Möglichkeiten der sinnlichen Gegebenheiten. In Bezug auf die Beleuchtung schreibt Fritz Heider »Das Aufhören der Beleuchtung besagt nichts über den Gegenstand.«3 Das Aufhören der Beleuchtung besagt jedoch wohl etwas über die Wahrnehmung desselben. Der Schatten als Ding und Medium zugleich steht in der Differenz zu beiden. Er ist gleichermaßen Vermittelndes wie auch Mittelbares. Ein Medium ist immer Mittleres, etwas das als Kleinstes eine Zweiheit bedingt, um ihr Zwischen zu sein. Es ist etwas, dass unentwegt einen kinetischen Akt des Dialogs vollziehen und zulassen muss. Einen Dialog zwischen den Dingen und mit den Dingen. Es ist Multiples, das stetigen Veränderungen unterworfen wird. Der Schatten ist ihm verwandt. Er ist Heteronomes, Teil des einen, wie Teil im anderen sowie Teil durch anderes. Er vollzieht einen gewissen Akt der Teilhabe an Ding und Sein. Er ist Wert und Unwert, vorher und nachher, Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Inhalt und Form. Er ist nicht nur eins, sondern Vielheit – Ding und Medium zugleich. Die darin liegende Einheit der Differenz ist maßgeblich für die Bestimmung des Einzelnen. Diese Einheit der Differenz taucht bei Fritz Heider auf und wird bei Niklas Luhmann fortgeschrieben. Für Heider ist Medium lediglich etwas, was Dinge ungetrübt 1 | Platon / Eigler, Gunther [Hrsg.] »Platon Werke« Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, (kritische Edition; bearbeitet von Dietrich Kurz, griechischer Text von Émile Chambry, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher) 510 a. 2 | Heider, Fritz »Ding und Medium« Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005. 3 | Ebd. S. 73.

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wahrnehmen lässt. Allerdings erkennt er, dass Dinge durch ein Medium erst wahrgenommen und auch durch es beeinflusst werden können. »Wir erkennen nicht nur Dinge, die unsere Epidermis berühren, sondern wir erkennen auch oft ein Ding durch etwas Anderes. [...] wir erkennen aus Schriftzügen Gedanken.«4 Heider führt hierin eine aristotelische Denkweise weiter, die in dem Text »De Anima« als Betrachtung von Wahrnehmung der Dinge durch unsere Sinnesorgane besteht. Nach Aristoteles bedarf es eines Dritten, um Sehen vollziehen zu können. Dieses Dritte ist Vermittler, Mittler, das sich zwischen Auge und Ding befindet. Im Kontext des Untersuchungsgegenstands kommt als Verdichtung der Luft unweigerlich die Idee des Trüben in den Sinn. Der vollständige Schattenwurf eines Dinges ist im Licht des Dazwischen nur wahrnehmbar, wenn eine Trübung wie Rauch oder Nebel dieses bestimmt. Das Dazwischen wird durch die Lufttrübung zu einem Sichtbaren und Bestimmbaren, das seine Ausdehnung und die des Schattenraumes auf diese Weise offenbart. Es entsteht eine Wahrnehmung einer eigenen Körperlichkeit im Raum. Das zuvor nicht Greifbare erhält eine Form, eine Gestalt, einen eigenen sichtbaren Raum. Dieser zeigt sich zwischen Objekt und Projektionsfläche, auf die der Schatten letztendlich fällt, auf der er einfach liegen bleibt. Die er dadurch bestimmt, die ihn bestimmt. Der Schattenraum ist ein Dazwischen, Beschreibung von Raum und Medium zugleich. Niklas Luhmann bezieht sich auf die Heider-Medien, indem er sich zwar an diesen orientiert, diese jedoch als Grundlage seiner Überlegungen umdeutet. Ein Medium ist ihm zufolge ein Verhältnis von lose gekoppelten homogenen Elementen in Differenz zu einer strikten Kopplung derselben Elemente. Es entsteht hierdurch die Form, sie ist die Beschreibung des enger gekoppelten. Diese Kopplungen in Form einer Form kann man beobachten, Medien jedoch nicht. Eines ohne das andere wäre nicht da. Luhmann spricht vom medialen Substrat – gleichsam mit Verweis auf Aristoteles. Für ihn liegt die Unterscheidung von Medium und Form darin, dass Medien unabdingbar sind, damit Form als Vollzug5 sich ereignen kann. Luhmann vollzieht hier einen Perspektivwechsel. Form kann nur aus Beobachtung heraus entstehen, und je nach Blickrichtung kann etwas, was Medium ist, zur Form werden und anders herum. Es stellt sich die Fragen: Unter welchen Bedingungen ist der Schatten Medium, was macht ein Medium aus und unter welchen Bedingungen ist der Schatten Form und was macht sein Formsein aus? In welchem Verhältnis steht er zum Sein und zum Subjekt des ihn Wahrneh4 | Ebd. S. 23. 5 | Krämer, Sybille »Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form?« in: Dieter Siemon [Hrsg.], Rechtshistorisches Journal 17, Frankfurt/M: Löwenklau Gesellschaft 1998, 558-573.

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menden, ändert er es oder ändert sein Wahrgenommenwerden sein Selbst? In welchem Verhältnis steht er zu seinem ihn gebenden Objekt, dem Ding, das ihm seine Existenz beschert, es ermöglicht, dass er eine Anwesenheit erhält? Festzuhalten ist, der Schatten wirft den Betrachtenden und den Gebenden immer wieder auf sich selbst zurück. Er ist nicht nur Verwandter der Medien im semantischen Sinne, sondern auch Verwandter des Trüben, der Unschärfe, des Rauschens im phänomenologischem Sinne. Dies alles sind gleichsam Partikelsysteme, von denen eine gewisse Vorstellung und metaphorische Zuweisung in jedem von uns besteht. Diese jedoch greif bar beschreiben zu können, scheint nur in besonderer Form möglich zu sein. Das eine kann immer nur mithilfe eines anderen beschrieben werden, mit dem Nicht, mit dessen Verneinung. Es ist erst sichtbar im dialektischen Zusammenhang. Im allgemeinen Sinne ist der Schatten eine Verneinung des Lichts und entsteht, wenn sich dem Licht etwas in den Weg stellt. Licht wird über die Beschreibung seines Schattenwurfes erst zuordenbar, durch die Art des Schattens bestimmbar und beschreibbar. »Hartes« Licht erzeugt »harte« Schatten mit einer scheinbar klar definierbaren Grenze, mit einem Übergang zwischen hell und dunkel. Genauer betrachtet weist der Schatten auf seinen Ursprung, die Quelle seiner Erzeugung, sowie deren Eigenschaften hin. Licht zeigt Schatten, Schatten zeigt Licht. Eine Geschichte des Schattens rührt jedoch vielmehr außerhalb seiner optischen Gegebenheiten an seine symbolischen, ästhetischen, epistemologischen und semiotischen Möglichkeiten, die unweigerlich ineinander verwoben sind. Während die griechischen Götter den Schatten eher als einen Verweis auf den Hades, auf das Reich der Finsternis ansahen, wohin die Toten geleitet wurden, die man sich als Schatten ihres einstigen irdischen Wesens vorstellte, ist dies im christlichen Glauben eher der Verweis auf eine Vielheit. Der Schatten taucht zum einen als Dunkles, Unbestimmtes, als Vorüberziehendes auf, zum anderen gleichsam als Schutzgebendes und Verweis auf die Anwesenheit des Göttlichen. Er erfährt sowohl eine Negativierung wie auch eine Positivierung. Der Schatten ist größtenteils Zeichen und Verweis auf eine immer anwesende, leitende, wachende Gottheit. Der Mensch ist demnach einerseits Schutzbefohlener, andererseits im Schatten Gottes Lebender, mit dem Verweis auf die Endlichkeit seines Seins. Sein Besuch auf Erden ist wie die Berührung eines Schattens, flüchtig und darauf angelegt, eine ephemere Erscheinung zu sein. »Denn wir sind Fremdlinge und Gäste vor dir wie unsre Väter alle. Unser Leben auf Erden ist wie ein Schatten und ist kein Aufhalten.«6 Der Schatten ist Signatur für etwas noch Anwesendes, wie auch Signatur für etwas schon Vergehendes. Dem einen ist das andere inhärent.

6 | Vergl. 29.15 Lutherbibel 1912.

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Der Schatten ist Licht und Schatten zugleich, beide sind im anderen als Form des Möglichen immer Anwesendes und Mitgedachtes. Verfolgt man den Schatten durch die Jahrhunderte, ist es möglich ihn aufgrund der Veränderung seiner ästhetischen Darstellung als Analogon der Entwicklungsgeschichte der Malerei, aber auch der Geschichte der Aufklärung zu erkennen.7 Der Schatten in der Malerei ist nie alleiniges Motiv, immer Beiwerk oder übergroßes Zeichen, Emblem, Symbol, Mittel der Erkenntnis wie Mittel zum Formvollzug. Er wird, wie eingangs erwähnt, in Lehrbüchern der Malerei in verhältnismäßig häufig erwähnt. In Leonardo da Vincis Buch von der Malerei8 finden sich im ersten Teil allein bis zu 290 Erwähnungen auf 558 Seiten. Der Schatten ist auch hier immer etwas dem Motiv, der Szene Untergeordnetes – wie allerdings auch potenziell etwas nicht zu Unterschätzendes in seiner Ausführung und Präsenz. Gehen wir historisch gesehen noch weiter zurück, in die Höhlen von Lascaux und Altamira, so erscheint der Schatten im Bild in den Höhlenmalereien zunächst einmal nicht. Georges Bataille schreibt über die Höhlenmalereien in Lascaux: » [...] die Botschaft, die Lascaux uns gibt, ist uns zunächst dunkel oder doch nur halb verständlich. Es ist die früheste, die erste Botschaft, und in der Nacht der Zeiten, aus der sie kommt, kündigt nur ein schwacher Schein am Horizonte an, dass es Tag wird. Was wissen wir denn von diesen Menschen, die uns nur diese ungreifbaren Schatten, diese Zeichen ohne Hintergrund überliefert haben? Fast nichts, außer, dass sie schön sind, in unseren Augen ebenso schön, wie die Meisterwerke in den Museen [...].« 9

Der Schatten kommt in den Höhlenmalereien, in ihrem überlieferten Bild, auf den ersten Blick zunächst nicht vor – wohl aber als Abwesendes im Anwesenden des Bildes wie auch im intentionalen Akt der Malerei. Grundlage dafür ist der Prozess ihrer Entstehung. Es ist etwas grundlegend anderes, ein Bild bei Tageslicht entstehen zu lassen oder unter Tage, außerhalb des Tageslichtes, auf einem unebenen Felsgrund, mit der flackernden Beleuchtung einer brutzelnden Fettlampe. Es treten Fragen auf danach, wo diese Beleuchtung angebracht war, ob sie jemand gehalten hat, wie der eigene Schatten an die Wand fiel und warum er nicht wie Jahrhunderte später selbst als Silhouette zum Teil des Bildes und somit festgehalten wurde.

7 | Baxandall, Michael »Löcher im Licht. Der Schatten und die Aufklärung« München: Fink 1998. 8 | Leonardo, da Vinci »Das Buch von der Malerei« nach Codex Vaticanus 1270, übers. von Heinrich Ludwig. Wien 1882, Reprint von Kessinger Publishing LLC, Whitefish, USA. 9 | Bataille, Georges »Lascaux oder Die Geburt der Kunst: Die vorgeschichtliche Malerei« Genf: Skira 1955 S. 12.

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Ein Verweis in diese Richtung stellt die Kategorie der Handabbildungen dar. Es handelt sich dabei um die Darstellungen eines abwesenden Körpers, um den Verweis auf einen Autor, um eine Signatur, um ein Zeichen im Peircschen Sinne als triadische Beziehung zwischen einem Repräsentamen, einem Interpretanten und einem Objekt. Diese Handnegative waren die ersten reflexiven Äußerungen des Menschen, der die Höhlenmalereien angefertigt hat. Er tat den Schritt aus seinem Inneren heraus und brachte sich mithilfe seines Körperabdrucks in die Zeichnungen ein. Das Rätsel des Warum bleibt bestehen, es ist zum einen der Verweis auf die Autorschaft, die hier beschworen wird, gleichzeitig auch der Verweis auf den menschlichen Autor, der nie im Bild als Abbild auftaucht. Der Autor ist abwesend, während die Malereien und der Verweis auf ihn anwesend sind. Legen wir die Hand in dieses Negativ seines Handabdrucks, in diese Lücke der Zeit, so sind wir gedanklich beim Autor, der ebenfalls an genau dieser Stelle seine Hand platziert haben muss. Es entsteht eine Wahrnehmung, die nicht nur durch den kalten Stein als Grundlegendes bestimmt wird, sondern auch durch den Kontakt zu einer anderen, entfernt liegenden Zeit. Es entsteht eine Verbindung mit Vergangenem, mit dem Schatten der Zeit, die nicht mehr anwesend, sondern nur noch als Verweis dieses Abdrucks existent ist. Das Davor und das Jetzt sind an dem gleichen Ort, die Hände des einen sind in den Händen des anderen. Es findet eine gedankliche Verbindung statt und mehr noch. Es ist ein Beleg einer dagewesenen Anwesenheit, mit einem bestimmten Verweis auf das Zukünftige, auf das, was kommen wird. Erstmalig tritt hier der bestimmte Äußerungswille, ja sogar der Wille zur Kommunikation des Zeichners auf. Er hinterlässt etwas, was neben der Malerei direkt auf seine Person verweist, auf sein Gewesensein. Der Handabdruck ist Bild und Text, Signatur und Verweis auf das »Es ist so gewesen«.10 Er spricht von der Anwesenheit und der Möglichkeit, die dem Autor gegeben war, über die Möglichkeit, dass ihm die Gabe oblag mit den Mitteln seines Ausdrucks, durch seine Hand etwas zu hinterlassen. Im gegenwärtigen Repräsentationskontext findet der Schatten vordergründig nicht mehr in Form einer Nachahmung statt, wie es ursprünglich bei den Malern erfolgte, sondern er kann über den Umweg der Abstraktion sein, was er ist, und wächst darüber hinaus. Mithilfe von Lichtprojektionen, Installationen und filmischen Environments ist Schatten Schatten, wie auch aktiv erscheinender Darsteller in Zeit und Raum. Losgelöst von einer zweidimensionalen Grafik/Malerei, kann er sich frei im und durch den Raum bewegen, nimmt nicht nur visuell, sondern auch körperlich Kontakt mit dem Betrachter auf, wird aufgezeichnet, gespeichert und als scheinbar autonom Handelndes vorgeführt. Der Betrachter wird Teil der Schattenaufführung im Kino, wenn 10 | Barthes, Roland »Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie« Frankfurt/M: Suhrkamp 1989 S. 90.

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er durch den Projektionstrahl zu seinem Platz geht, Teil der Installation von Christian Boltanski,11 indem er als Formenspiel an der Projektionswand erscheint sowie als Datensatz Grundlage einer MotionTracking Berechnung, wie bei Rafael Lozano-Hemmer.12 Der Sprung des Schattens vom Nicht-vorhanden-sein in der Repräsentation als solcher, über das Nachahmen des Schattens in der Malerei, zur fotografischen Speicherung und Umwandlung in eine Art Malmittel scheint im Jetzt gesehen ein kleiner zu sein. Diese Annahme ist trügerisch, bedurfte es doch erst der technologischen Gegebenheiten, um dies vollziehen zu können. Dazu stellt sich die Frage nach dieser plötzlich neu erworbenen Aufmerksamkeit, nach diesen neuen Schatten, die als Existenzialität in einer gewissen Abspaltung von ihrem Referenzobjekt den Blick auf sich ziehen. Ist es eine Wiederbelebung des Theaters der Schatten, wie sie durch einige Kulturkreise übergreifend bis zur Geburt des Films an öffentlichen Plätzen zu Aufführung kamen, oder ist es eher eine Frage an das Sinnliche und das Sein, wie auch eine Frage an den Betrachter selbst? Die Geschichte des Schattens ist nicht nur die Geschichte des Schattens, sondern ebenso die Geschichte der Repräsentationsmedien, ihrer technischen Entwicklung, ihrer Darstellungsweisen und davon, wie sie den Wahrnehmungsraum sowie den Blick des Betrachters strukturieren. Letztendlich ergibt sich heutzutage wiederum die Frage, wie ein Schatten visualisiert werden kann, beispielsweise in einem CAD-Programm. Es taucht der Anschein auf, als ob in einer rekursiven Schleife die Wiederholung des Versuchs stattfindet, den Schatten so wahrheitsgemäß, so reell erscheinen zu lassen, wie ihn die Malerei über Jahrhunderte versuchte darzustellen. Der Schatten, der bislang für die Wissenschaft im Verborgenen lag, erreicht eine Bedeutung und Präsenz, die ihn nicht wieder verschwinden lässt. Galt lange Zeit das Licht als Energie und Informationsträger, als Quelle des Lebens, so hat der Mensch über die Zeit hinweg dem Schatten eine Autonomie verwehrt. Der Schatten als solcher ist phänomenologische wie epistemologische Leistung im Besonderen. Seine Präsenz im Bereich der Literatur war immer schon eine um ein vielfaches höhere, seine Präsenz im Bereich des Bildlichen lag bisher in seinem Schatten und tritt nun aus ihm heraus. Die Frage stellt sich nach dem Warum: Warum jetzt und warum in dieser Form? Ist es in erster Ordnung die Frage nach dem Schatten, so steht in zweiter Ordnung die Frage seines Umgebenden, die Frage nach der Ordnung, in die er eingewoben ist. Es ist nicht nur die Frage nach einer Schattigkeit, nach einer Unbestimmtheit in der Form, sondern auch nach seiner Verortung und Relation zu dem, was ihn umgibt, in das er eingewoben ist, zu kulturellen Konnotationen, in der die Bestimmung des menschlichen Selbst zur 11 | Boltanski, Christian »Le Théâtre d’ombres« Installation (1984-1997). 12 | Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« Relational Architecture (2005-2008).

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Schwierigkeit geworden ist. Hier wird nicht so sehr der Frage nachgegangen, was war der Schatten bisher, sondern wie der Schatten sich als ästhetische Erscheinung momentan präsentiert und in welchem Raum des Möglichen er zunehmend seine Präsenz erfährt. Kann man in diesem Zusammenhang von Präsenz sprechen oder ist es nicht die Absenz des Schattens, die sich unmerklich in die Ordnung von Sichtbarkeit drängt? Und was wäre, wenn es keinen Schatten gäbe (wie beispielsweise in den fotografischen Arbeiten von Bernd und Hilla Becher)? Oder ist dort die Qualität des Schattens eine andere, und was stellt sie uns vor bzw. was verstellt sie im Bild? Es bahnt sich an, dass man den Schatten auch als Motiv der Selbstinterpretation zeitgenössischer Kultur begreifen muss. Dies betrifft sowohl wissenschaftliche wie künstlerische Bereiche zugleich.

B estimmung einer phänomenologischen E rscheinung Die Frage steht im Raum: Wie kann man sich dem Schatten nähern? Es lässt sich nicht umgehen, den Versuch zu unternehmen, ihn mit Worten einzufangen, zu bestimmen, zu beschreiben, zu erkennen. Sind Wörter Abschattungen von Gedanken, von Vorstellungen, von inneren Bildern, inneren Regungen, die eine Korrespondenz, eine Analogie im äußeren, im realen Bild suchen? Der Schattenbegriff ist ein Begriff der Beschreibung, der Zuschreibung. Worte bezeichnen Dinge, Dinge werden von Worten bezeichnet und sind, weil sie bezeichenbar sind, existent. Worte sind arbiträr gegenüber ihrem Gegenüber, d.h., Schatten ist nicht gleich Schatten und Schatten meint nicht gleich Schatten – sondern die Bedeutung der Begrifflichkeit wird durch seinen Referenten, den Bezeichner und den Topos seiner Gegebenheiten bestimmt. Der Begriff des Schattens ist mannigfaltig wie inflationär. Wie kann Sprache funktionieren, wenn das Wort für eine Mannigfaltigkeit von Dingen das gleiche ist? Sprache kann nur im Zusammenhang funktionieren, d.h., ein Wort sagt gar nichts und gleichermaßen alles – der Begriff des Schattens ist ein Metonym, dass mithilfe einer Kontiguitätsbeziehung näher bestimmt werden muss. Der Begriff wird von seinem Beziehungsgefüge, in dem er unhintergehbar erscheint, bestimmt. Das Hören eines gesprochenen, das Lesen eines geschriebenen Wortes, sagt noch nichts darüber aus, ob dieses Wort verstanden worden ist, ob das, was das Wort bedeuten soll, auch bei dem Referenten angekommen ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Schatten, zum einen als Wort zum anderen als ästhetische Präsenz. Ist es jedoch nicht diese konzeptuelle Offenheit eines Begriffes, die ihn ausmacht? Ist nicht gerade dieses Unbestimmte, dieses Unbestimmbare der Reiz, der vom Schatten ausgeht? Im Grunde genommen ist der Schatten unbekannt, aber im Grunde genommen möchte man mehr über ihn wissen, möchte wissen, wer er ist, woher er kommt, ob er allein ist

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oder eine Vielheit, wie alt er ist, wo er sonst noch auftaucht und ob das alles ist, was wir von ihm zu sehen bekommen, oder ob es einen Schatten hinter dem Schatten gibt. Zudem misstraut man ihm in gewisser Weise. Er ist bisher nicht einordenbar, nicht zuordenbar und es ist auch nicht sicher, ob er immer der gleiche ist und ob man sich auf ihn verlassen kann. Er verlangt danach benannt und beschrieben zu werden, damit er sich konstituieren, platzieren kann. Nachdem die Benennung vollzogen ist, wird versucht, ihm bestimmte Eigenschaften zuzuweisen. »Erkenntnistheoretisch fällt der Sprache immer eine doppelte Aufgabe zu: Sie verweist sowohl auf die außersprachlichen Geschehenszusammenhänge wie auch – in dem sie das tut – auf sich selbst. Sie ist so, geschichtlich verstanden, immer selbstreflexiv.«13Aufallend ist, dass eine bewusste Entscheidung, ein Dafür oder ein Dagegen, auf den ersten Blick schnell gefallen zu sein scheint. Zwischen den mannigfaltigen Möglichkeiten der Wahl zwischen Doppelgänger, Reflexion, Licht oder Schatten muss sich der Referent in seiner Beschreibung bekennen. Bezeichnen ist gleichsam eine Standortbestimmung, ein Bekennen, eine Setzung, wie ein Ablehnen, Ausgrenzen. Schatten meint nun mal eben nicht Doppelgänger, kann aber auch Licht meinen, wenn es im Falle von Nichtlicht beschrieben wird. Meint Schatten Doppelgänger, so spricht man von der Eigenschaft der dualen Präsenz – beide setzen voraus, dass es ein anderes gibt, das ihnen beiseite steht – analog zu ihnen handelt. Fällt das Wort Schatten, so ist das eine Positionierung, eine Fokussierung, ein Ausblenden des Lichts im vorrangigen Sinne. In welcherer Beziehung steht der Schatten zu seinem Referenten? Wer bestimmt wen und wer wird von wem bestimmt? Welche Bedeutungszuweisung ist die bestimmende? Für Jochen Hörisch ist Bedeutsamkeit keine klar konturierte Größe, sondern ein Medium.14 Ein Medium, dass Mittler und Vermittler ist – das zwischen Dingen ist und eine endlose Verbindung im Sinne eines ontologischen Bandes, in Form eines Möbiusbandes herstellen kann. Ein Medium, in dem sich eine oszillierende Bewegung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem vollzieht, unsichtbar miteinander verbunden in Causa efficiens und Causa finalis. Die Bestimmung kann nur von einer im Vorhinein vollzogenen Standortbestimmung ausgehen. Je nachdem, von welcher Stelle der Blick ausgeht, in welche Richtung er sich orientiert, wird er ein anderer werden. Es ist etwas anderes, ob er vom Schattenraum in Richtung Licht gerichtet ist, in das gleißende Hell der Sonne – oder ob er das Licht hinter sich lassend in Richtung des Schattens eine Wendung erfährt. Im Blicken erscheint zwangsläufig sowohl ein Ausblenden eines anderen als auch eine Zuordnung eines Bedeu13 | Koselleck, Reinhart »Begriffsgeschichten: Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache« Frankfurt/M: Suhrkamp 2010 S. 21. 14 | Hörisch, Jochen »Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien.« München: Hanser 2009 S. 16.

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tungsranges.Es ist ein anderes, ob die Lichtstrahlen der erhellenden Sonne in Erscheinung treten oder der Schatten als Wirkursache Bestimmung erfährt. »Wo sich keine Schatten von großer Dunkelheit bilden, da können auch keine Lichter von großer Helligkeit entstehen.«15 Die Causa efficiens, das Woher, der erste Anlass von Bewegung und Ruhe, das Moment, von dem eine Wirkung ausgeht, wird im Sinne eines äußeren Anstoßes der Bewegung verstanden. Licht macht Schatten – die Strahlen der Sonne treffen auf ein Objekt, das sich ihnen in den Weg stellt. Auf der sonnenabgewandten Seite entsteht Schatten, zum einen der Körperschatten auf dem Objekt und zum anderen der Schlagschatten auf dem Grund, der hinter oder unter dem Objekt zur Sichtbarkeit gelangt. Licht, Objekt, Schatten und Projektionsebene sind in einer perspektivischen Reihe miteinander verbunden und bedingen eine bestimmte Reihenfolge, um den Schattenwurf zur Sichtbarkeit gelangen zu lassen. Geht der Blick vom Schatten kommend in Richtung Licht, wird gleichsam das Objekt dasjenige sein, was sich dem Licht in den Weg gestellt hat. Der Blick eines Schattens wird nie die ihn erzeugende Sonne sehen können,16 da zwischen beiden das sich dem Licht in dem Weg stellende Objekt steht. Erkennbar ist unter diesen Bedingungen einzig das Licht an den Dingen, nicht jedoch ihr Ursprung. Die Sonne bleibt für den Schatten nicht direkt sichtbar sowie auch der Schatten als solcher von der Sonne nicht zu sehen, nicht erkennbar ist. Es bedarf eines Dritten, der als Außenstehendes die Gegebenheiten wahrnehmen kann und ihnen durch seinen gerichteten Blick eine Bedeutung zu kommen lassen kann. »Steht die Sonne im Osten und du blickst gegen Westen hin, so wirst du alle beleuchteten Dinge des Schattens gänzlich bar sehen, denn du siehst just, was die Sonne sieht. Schaust du gegen Mittag oder Norden, so siehst du alle Körper inmitten von Schatten und Lichtern, denn du siehst, was die Sonne sieht und was sie nicht sieht. Und blickst du der Bahn der Sonne entgegen, so werden dir alle Körper ihre Schattenseite zeigen, denn die Seite, die du siehst, kann nicht von der Sonne gesehen werden.«17

Indem der Mensch zwischen den Bedingungen in beide Richtung blickend steht, ist es ihm möglich, beides zu erfassen, aus Richtung der Schatten wie aus Richtung des Lichts blicken zu können. Licht macht Schatten, Schatten macht Licht. Beide bedingen einander, setzen sich voraus und bestimmen einander. Es besteht ein Dualismus, der schon seit Urzeiten nicht nur die menschliche 15 | Leonardo, da Vinci »Das Buch von der Malerei« Deutsche Ausgabe nach dem Codex Vaticanus 1270, übersetzt von Heinrich Ludwig. Wien 1882, Reprint, facsimile reprint von Kessinger Publishing LLC, Whitefish, USA S. 85 679. 16 | Ebd. 17 | Ebd. S. 123.

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Wahrnehmung, sondern die allen Lebens beeinflusst hat. Ist es im Bereich der Flora eher das Streben zum Licht oder die Assimilation eines Lebensraumes, so ist im Bereich der Fauna im Bezug zur Evolution eine erweiterte Reaktion auf die Erscheinung des Schattens zu beobachten. Tiere schrecken bei einem vorbeiziehenden Schatten zusammen, wie dies auch noch Kinder am Beginn ihres Daseins tun. Es entsteht der Eindruck, dass für sie kein Unterschied zwischen Realem, Objekt und Schattenbild besteht. Der Schatten steht hierbei für ein Mögliches, das noch nicht näher bestimmbar ist. Er steht in erster Linie für etwas, das sich ankündigt, sich nähert. Im besonderen Fall steht er für eine noch zu bestimmende Gefahr. Die Folge davon ist eine Sensibilisierung der Wahrnehmung, ein Rückzug als Reaktion, oder das Kleinkind, das in Unsicherheit zu Schreien beginnt.18 Ein Schatten ist ein indexikalischer Verweis auf etwas Anwesendes, gleichermaßen auf etwas, das zeitlich und auch örtlich vergangen sein kann. Es ist der Link zum Es-ist-so-gewesen.19 Es war – hier an diesem Ort. Es ist geschehen, es ist jedoch die Gleichzeitigkeit eines Nicht-mehr, eines Vergangen. Es ist eine Spur, mit der etwas bleibt. Ein entkoppelter archivierter Schatten im Sinne einer Abbildung ist ein Teil des Objektes, ein Teil der Anwesenheit in seiner Abwesenheit als reales Objekt. Ein Fragmentarisches einer Entität, die verloren gegangen, vorübergegangen scheint. Die Spur als Erinnerung, als Beweis des anwesend gewesenen Seienden. »Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.«20 Der Schatten, Spur eines Vergangenen, Spur einer Erinnerung, zunächst einmal nur, Erinnerungsspur des Lichts. Der Schatten beschreibt eine Verbindung über Raum und Zeit hinweg. Legen wir die Hand in einen der Handabdrücke der Höhlenzeichnungen von Lascaux, können wir davon ausgehen, dass zu einer anderen Zeit am gleichen Ort eine Hand als Schablone dort gelegen haben muss. Es ist eine Berührung über die Zeit, die so vollzogen wird – eine Berührung, bei der die Felswand und die Zeit als Medium diese bestimmen. Hinzu kommen Spuren der Nichtsichtbarkeit. Eine Gedankenspur, eine Spur der Erinnerung – als Eigenschaft des Dings. Das Wissen um etwas, die Beschreibung eines Vorganges, das an einem Objekt haftende Ereignis ist sein Teil geworden. Es ist nicht ausschließlich Hinzugefügtes, Apendix, sondern Bestimmendes gleich einer Bildunterschrift. 18 | Zur Wahrnehmung von Schatten bei Kindern siehe Piaget, Jean »Das Weltbild des Kindes« Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein 1980 S. 51, 99, 123, 126, 134. 19 | Barthes, Roland »Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie« Frankfurt/M: Suhrkamp 1989 S. 87. 20 | Benjamin, Walter »Das Passagen-Werk« in: »Gesammelte Schriften« Band V, Frankfurt/M: Suhrkamp 1982 S. 560 (M 16 a, 4).

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Es ist etwas, was zur Identität des Objektes beitragen und seine Bestimmung erweitern oder eingrenzen wird. Ähnlich wie der Schatten ist die Spur ein stets Gebundenes, in einer Kausalitätsbeziehung Stehendes, nicht Abtrennbares von etwas. Beide stehen in einer ständig neu auszuhandelnden Beziehung zu ihrem Objekt. Diese beschreibt einen sich ständig aktualisierenden rekursiven Akt der Performanz. Bei jedem Gebrauch wird der Begriff des Schattens neu geordnet. Er konstituiert sich über seine Verwendung und deren Kontext stetig neu. Er bedeutete zu Zeiten Aristoteles etwas anderes als heutzutage und wird im Zukünftigen wiederum etwas anderes sein. Das meint nicht, das es Bereiche gibt, die eine gewisse Transparenz zulassen, die Überschneidungen seiner Bedeutung akzeptieren. So sind die grundlegensten Eigenschaften wie das Dunkle, die Doppelgängerqualität, der Verfolger, das Abbildhafte Bereiche, die dem Schatten existenziell inhärent sind, ihn über die Zeit hin immer begleitet und bestimmt haben.21 Hinzu kommen Bezeichnungen, die sich mit dem Topos auseinandersetzen, wie etwa der Schatten als Schrift, der Schatten als Indikator, als Vorübergehendes, als Flüchtiges. Der Schatten ist Präsenz in bestimmten Medienformen, die bestimmt werden durch ihre Technologien und ihre Zeit, die die Zeit bestimmen sowie ihr Verhältnis zum Schatten. Es drängt sich die Frage auf, ob der Schatten nicht stetig als Nichtsichtbarkeit im Sichtbaren vorhanden ist und nur durch einen bestimmten Akt zur möglichen Wahrnehmung gelangt – der Schatten, angelegt im Alltäglichen, der durch einen Akt der Bestimmung, durch einen Lichtakt, mit Derrida durch einen Schreibakt, erst zur Sichtbarkeit gelangen kann. Fotografie heißt begriffslogisch mit Licht schreiben,22 etwas mit Licht aufzeichnen, beschreiben, nicht nur, ihm eine Bedeutung zuweisen, sondern gleichsam etwas auswählen, etwas eine Bedeutsamkeit zu weisen, etwas als aufzeichenswert bestimmen. Es ist es wert, aus dem Strom der Zeit gerissen zu werden und es aus seiner Flüchtigkeit in ein Beständiges zu übertragen. Fotografie ist ein Akt des Innehaltens. Dies geschieht mit den Mitteln der bildgebenden Verfahren, mithilfe eines fotosensiblen Materials. Das Sichtbare erfährt eine Umschreibung in seiner Materialität. Ob dies auf Fotopapier oder Glasnegativen wie zu Anbeginn der Fotografie ist oder ob dies heutzutage als Datenmenge auf einem Chip geschieht, der die Daten wiederum in Licht und Schatten erscheinen lässt. Dies ist das, was bleibt. Die Form der Übertragung und der Repräsentation hat sich geändert und das Bild analog zu den Möglichkeiten dieser Formen der Übertragung, analog zu den bildgebenden Verfahren, die es erst 21 | Vergl. Platons Höhlengleichnis in Platon / Eigler, Gunther [Hrsg.] »Platon Werke« Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, (bearb. von Dietrich Kurz, griechischer Text: Émile Chambry, deutsche Übersetzung: Friedrich Schleiermacher) 510a. 22 | Fotografie: Ursprung griech. φῶς phōs, Genitiv: φωτός photós, »Licht« γράφειν, graphein »um zu schreiben«.

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in seiner Besonderheit erscheinen lassen. Es ist die Sichtbarmachung des ewig Anwesenden in seiner visuellen Abwesenheit. Derrida führte Freuds Analogie des Wachsblocks mithilfe einer Konzeptualisierung des Unbewussten fort, als etwas durch die Schrift (Urschrift) im Gehirn Konstituiertes, das sowohl vor jedem Schreib- als auch vor jedem Sprechakt schon vorhanden ist. Ist der Schatten das Unbewusste des Tages, das Dunkle, das jedem Ding inhärent ist, es ebenso mitbestimmt, jedoch nur durch einen bestimmten Akt Sichtbarkeit widerfährt? Der Schatten ist ein Stück Nacht im Tag. Er ist einerseits Verbindung zum Welten-/Sonnensystem an sich – im Erkennen, dass der Mensch ein Teil davon ist sowie von ihm bestimmt wird. Zum anderen steht er für die Immanenz seines Seins im Licht. Der Begriff der Spur bei Derrida beschreibt jedoch noch mehr, mehr als das Geschriebene und den Text: »Das, was ich Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung einer Spur auf die andere [...] der Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im Gegensatz zur Rede [...]. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung.« 23

Um den Schatten mit Derrida zu denken, ist der Schatten nicht nur Spur, sondern Text des Lichts. Dies weitergedacht, wäre der Schatten nicht nur Text des Lichts, sondern alles Sichtbare im Licht Liegende, dies Abschattende, wäre Text des Lichts. Also: Das, was sich zeigt, ist Text. Und das, was sich nicht zeigt? »Die Schrift ergänzt die Wahrnehmung, noch bevor diese sich selbst erscheint. Das ›Gedächtnis‹ oder die Schrift sind die Eröffnung dieses Erscheinens selbst. Das ›Wahrgenommene‹ lässt sich nur als Vergangenes, unter der Wahrnehmung und nach ihr lesen.«24 Wahrnehmung ist somit immer schon ein Wahrnehmen von Vergangenem, ein Zuordnen, ein Vergleichen, ein Kategorisieren. Schatten ist immer schon vor seiner Wahrnehmung anwesend. Im einmal Bekannten ist er abgelegt und wartet darauf, aufgerufen zu werden, harrt gleichsam eines Auftritts auf einer Bühne. Er ist immer schon im Tag enthalten, der Tag ist ein Lichtblock, in dem der Schatten immer mit vorhanden ist. Es ist nicht der Akt der Initiation, sondern das Es-ist-gewesen. Die Form der Wahrnehmung muss in unserem psychischen Apparat eine Spur hinterlassen. Nicht nur auf dem fotosensibilisierten Untergrund, nicht nur auf den Gebäudewänden nach dem 23 | Derrida, Jacques im Gespräch mit Peter Engelmann in »Jaques Derridas Randgänge der Philosophie« in Bernard, Jeff [Hrsg.] »Semiotica Austriaca« Österr. Ges. für Semiotik; Inst. für Romanistik, Univ. Wien: Wien 1987. 24 | Derrida, Jacques »Die différance« in Engelmann, Peter »Postmoderne und Dekonstruktion – Texte franz. Philosophen der Gegenwart« Stuttgart: Reclam 1990 S. 107.

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Atombombenabwurf in Hiroshima, sondern auf jeglicher Art Grund, der für das Aufnehmen einer Spur geeignet ist. »Da die Spur kein Anwesen ist, sondern das Simulacrum eines Anwesens, das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet, gehört das Erlöschen zu ihrer Struktur.«25 Und dies nicht nur auf alternden Fotopapier und LFP-Drucken, sondern gleichsam im Verschwinden einer digitalen Struktur, die nicht mehr lesbar sein wird, wenn sie nicht immer wieder in neue Dateiformate übertragen wird. Was im Negaiv als Materielles, als Master noch vorlag, ist im digitalen Datensatz abhängig von der steten Transkription der Umschreibung. Innerhalb dieser Transkription ändert sich ihr Inhalt, nicht sofort als Sichtbares, jedoch stetig über die Zeit und die Anzahl ihrer Wiederholung. So ist nicht nur jede Kopie ein Berlst, nicht nur der Aura, sondern gleichsam ihres Originals. Im Umkopieren erscheint sie als Reproduktion, wie als Reproduktion der Reproduktion. Im erneuten Beschreiben entsteht ein Verlust, der ein Neues entstehen lässt. Dem Umschreiben ist das Neuschreiben inhärent und Licht und Schatten belegen hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Schatten – Leib Mein Leib steht nicht vor mir, sondern ich bin in meinem Leib oder vielmehr ich bin mein Leib.26 »Der Begriff ›Leib‹ (L.) ist eine der deutschen Sprache eigentümliche Unterscheidung, die einen Körper (K.), in sofern er als beseelt gedacht wird, durch ein besonderes Wort aus der Menge der übrigen K. heraus hebt.«27 Diese sprachlich signifikante Trennung des Begriffes in Körper und Leib existiert so im erweiterten europäischen Sprachraum nicht. Der Ausdruck Leib ist eine differenzierte Aussage über eine körperliche Eigenheit, etwas dem Körper Mitgegebenes, Anhaftendes, eine Erweiterung. Dieser so als Leib beschriebene Körper erfährt eine Bedeutungssteigerung und eine kontextuelle Beschreibung im Besonderen – Leib Christi, Mutterleib, Leibhaftigkeit. Der Begriff Leib impliziert als Bestimmendes das Leib-Seele-Verhältnis, während der Begriff Körper im Allgemeinen für eine materielle Gestalt eines Lebewesens oder eines Objektes, das Raum einnimmt und Masse hat, steht. Er ist Ausdehnung im Raum, Raumbesetzung, die nicht mit einer Vereinigung seiner Seele daherkommen muss. Im Bereich der Philosophie beziehen sich Leiblichkeitskonzepte vor allem auf den Zusammenhang von Körper und Bewusstsein und sind wichtiger Gegenstand der Untersuchungen im Bereich der 25 | Ebd. 26 | Merleau-Ponty, Maurice »Phänomenologie der Wahrnehmung.« München: de Gruyter 1974 S. 175. 27 | Leib, Körper in Ritter, Joachim »Historisches Wörterbuch der Philosophie« Basel: Schwabe 2010 Bd. 5, S. 174.

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Phänomenologie. Hier steht der Leib als solcher für den körperlichen Wirklichkeitsbezug des Subjektes. Explizit ausgearbeitet, in Relation gesetzt zur Naturwissenschaft und als Grundlegendes definiert wurde der Leibbegriff mit der Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty. »Der L(eib) sei die Art und Weise unseres ›Seins zur Welt‹ und zugleich der Bereich, in dem Sprache, Wahrnehmung, Weltorientierung und Handlung geschieht.«28 Merleau-Ponty blickt aus einer anderen Ebene auf das, was wir wahrnehmen. Er sieht Welt aus einem unverstellten Blick. Ihm geht es darum, das, was vor dem Subjekt liegt wahrzunehmen, zu erkennen und nicht durch die abstrahierenden Konstruktionen der Wissenschaften das Subjekt meinen zu lassen. Es geht ihm nicht darum, größere Klarheit ins Bewusstsein zu bringen, sondern um die Möglichkeit des Erkennenkönnens dessen, was offen vor Augen liegt. Und er stellt zudem die Frage: »Wo bleibt der Unterschied zwischen Sehen und Zu-sehen-glauben?«29 Merleau-Ponty begreift den Leib als Möglichkeit der Zuwendung zur Welt wie auch zu sich selbst und fragt sich davon ausgehend, wie unsere Wahrnehmung wirklich beschaffen ist und wie sie sich gegenüber den konventionellen Vorstellungen und Konstruktionen von Wahrnehmung verhält. Wahrnehmung erfolgt nicht als kontextloser Akt im Empfinden, sondern wird durch den Kontext des Empfindens zuerst einmal bestimmt. Um diesem Akt des Empfindens näherzukommen, beschreibt Merleau-Ponty den Menschen in Anlehnung an Herder als sensorium commune.30 Der Mensch ist in sich eine Vielheit, eine intersensorische Einheit, der nicht in der Abspaltung der Sinne eine Empfindung vollzieht, sondern in medialer Vermittlung durch seine Leiblichkeit ein verwobenes Netz hervorbringen kann. Zur Wahrnehmung gehört wie der Wahrnehmende selbst ebenso der lebensweltliche Kontext, in dem Wahrnehmung erst zur Möglichkeit wird. Die Bedeutung der wahrzunehmenden Dinge wird erst durch unsere Leiblichkeit empfindbar, wie auch unser Wahrnehmungshorizont erst durch unsere Leiblichkeit eine Prägung erfahren kann. Unser Leib ist die Bedingung für Empfinden und Bedeutungszuweisung gleichermaßen wie auch »Empfinden die lebendige Kommunikation mit der Welt, in der diese uns als vertrauter Aufenthaltsort unseres Lebens gegenwärtig ist.«31 Leib ist für Merleau-Ponty kein unbeteiligtes mechanisches Gefüge, sondern für ihn ist nicht die zentrale Intention als Grundphänomen das »ich denke«, sondern das »ich kann«. Er beschreibt ein motorisches Prinzip im Sinne von Bewegung, sich bewegen zur Welt, sich verhalten, sich verändern, sich 28 | Ebd. S. 184. 29 | Merleau-Ponty, Maurice »Phänomenologie der Wahrnehmung.« München: de Gruyter 197 S. 57. 30 | Ebd. S. 274. 31 | Ebd. S. 76.

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bemühen um Welt. Dies scheint als Anknüpfungspunkt zu Roland Barthes Begriffs des Studiums32 auf. Das sich Bewegenkönnen ist impliziert durch das Mittel des Leibes und nicht ausschließlich durch eine bestimmte Körperlichkeit. »Verstehen heißt die Übereinstimmung erfahren zwischen Intention und Vollzug, zwischen dem, worauf wir abzielen, und dem, was gegeben ist; und der Leib ist unsere Verankerung in der Welt.«33 Der Leib ist letztendlich: Durchgangsmedium der Wahrnehmung von Welt und »Teilhabe an der Welt«.34 Der Leib ist unser Mittel, um überhaupt Welt zu haben, sich zur Welt verhalten zu können. Er bietet sich als Gefüge, als Grundlage des Empfindenkönnens, des In-der-Welt-sein-Könnens an, und nimmt Extensionen35 als Mittel der Erweiterung als solches auf. Unser Verhalten ist Weltvermittlung und Welterstellung gleichermaßen. »Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus.«36 Auf dieser Grundlage stellen sich hier folgende Fragen: Wie verhält sich das Wahrgenommene, hier im Besonderen der Schatten, zum Leib und wie empfinde ich ihn als Wahrgenommenes? Ist er Leiberweiterung bzw. wo hört der Leib als solcher auf? Existieren hierbei Unterschiede zwischen sichtbarer Wahrnehmung und dem Wissen um Wahrzunehmendes? Gibt es eine rekursive Eigenheit der Erscheinung des Schattens im Ihnwahrnehmen und wie kann diese eine Öffnung erfahren?

Schatten berühren Schatten ästhetisch wahrnehmen bedingt mehrerer Akte der Bewegung. Ästhetische Wahrnehmung ist keine reine Empfindung, sondern ein vollziehbarer prozessualer Akt der Aufmerksamkeit auf ein Objekt oder auf eine Umgebung. Im Wahrnehmungsakt ist das Subjekt als Wahrnehmendes tätig sowie sich seiner als Wahrnehmendes gegenwärtig. Indem ich etwas wahrnehme, nehme ich gleichermaßen mich war. Das Subjekt ist Wahrnehmendes und Wahrgenommenes zugleich. Es vollzieht stetig einen aktiven Akt der Bewegung – zum einen zum Objekt der Aufmerksamkeit hin, zum anderen zu sei32 | Lat. studere (nach etwas) streben, sich (um etwas) bemühen – Roland Barthes hat den Begriff im Bezug zur Fotografie massgeblich geprägt. Studium steht hier zum Begriff des punctum als Indifferentes, welches dessen Differtialität erst in Abgrenzung dazu sichtbar werden lässt. 33 | Merleau-Ponty, Maurice »Phänomenologie der Wahrnehmung.« München: de Gruyter 197 S. 174 ff. 34 | Ebd. S. 449. 35 | Ebd. S. 173, S. 175 Merleau-Ponty führt hier den Blinden und den Organisten auf. Ein Blindenstock ist so für den Blinden nicht Vermittler zwischen ihm und der Welt, sondern wird durch Integration des Stocks in sein Körperschema zum Zugang zu ihr. 36 | Ebd. S. 239.

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nem Selbst hin, im Sinne Merlau Pontys – zu seinem leiblichen Selbst, hin. Unser Leib, unsere Sinne als Durchgangsort bilden die Grundlage der Möglichkeit von Wahrnehmung. Das wahrnehmende Subjekt wird als sehendes und berührendes, wie auch als gesehenes und berührtes gleichermaßen tätig. Es verwandelt sich vom Subjekt (Sein für sich) zum Objekt (Sein für mich). Wahrnehmung ist bei Maurice Merleau-Ponty eine Gleichzeitigkeit von aktiver Hervorbringung und passivem Ergriffensein. »Empfindender und empfundenes Sinnliches sind nicht zwei äußerlich gegenüberstehende Terme und die Empfindung nicht die Invasion des Sinnlichen in den Empfindenden.«37 Wahrnehmung ist ein Akt der Erregung von Aufmerksamkeit, von Sinnlichkeit – die Hingabe an das Erleben durch die Sinne. Wahrnehmung ist ein Akt der Hingabe. Indem ich sehe, gebe ich mich dem Gesehenen hin. Durch die geöffneten Sinne kann Welt erfahren, die außer uns befindlichen Dinge, ihre Eigenschaften und Veränderungen können differenziert werden. »Ich bin zu mir, indem ich zur Welt bin.«38 Es ist einerseits eine Bewegung in Richtung Welt, in Richtung des Außer-mir-Seins wie gleichermaßen eine Bewegung zum Selbst hin. Indem Wahrnehmung nach außen geschieht, findet gleichermaßen Wahrnehmung nach innen statt. Was wir sehen, blickt uns an. Gleichzeitig ist das, was wir sehen unser Selbst sowie das, was wir in ihm sehen. Es ist immer ein Mitsehen eines eigenen anderen, das als alleiniges nicht gesehen werden kann. Sehen ist immer ein Referenzsehen sowie Form eines stillen Dialoges mit dem, was sich zeigt, und mit dem, was wir kennen. Als passives Element im Wahrnehmen tritt der Moment des Ergriffenseins auf. Es ist eine Form der Heimsuchung, des Durch-etwas-ergriffen-Werdens, des Von-etwas-berührt-Werdens, und zwar in einem Maße, in dem kein leiblicher Entzug mehr möglich ist. Es ist ein Prozess, der einmal in Gang gekommen, kaum zu stoppen ist. Er bricht über das Subjekt gleich einem Schock herein. Es gibt kein Entfliehen, kein Sichentziehen. Der Moment tritt so schlagartig ein, dass ein Reagieren im diesem Akt nicht mehr möglich ist. Ergriffen sein meint von etwas berührt, angerührt, getroffen worden, affiziert sein. Das Subjekt steht diesem in seiner völligen Ausgesetztheit, in der Gänze seiner Verletzbarkeit unvorbereitet gegenüber. Es ist ein Akt, mit dem jedesmal eine Wunde beim Wahrnehmendem entsteht oder zum wiederholten Male geöffnet wird. Ergriffen werden heißt auch verwundet werden. Bei diesem Werden kommt es zu einer Form der Markierung, der Zeichnung im Sinne von »gezeichnet werden durch etwas«. Es entsteht ein irreversibel bleibendes Zeichen. Das Mal, das Stigma des Ergriffenseins ist die Wunde. Sie ist Passage, transitorischer Ort, Verbindung zwischen außen und innen. Sie öffnet den Leib an bestimmter Stelle und erschafft einen zusätzlichen sensiblen Zugang, einen 37 | Ebd. S. 251. 38 | Ebd. S. 463 hier verweist er auf Heideggers Text »Sein und Zeit«.

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neuralgischen Punkt. Einmalig angelegt, ist dieser immer wieder verwendbar. Indem eine Einbringung, eine Öffnung geschehen ist, ist eine Zuweisung, ein Durchgang, Zugang jeder Zeit möglich. Es ist eine in der Empfindsamkeit hoch sensibilisierte Wunde entstanden, die verheilen, jedoch nicht wieder verschwinden kann. Das leibliche Selbst trägt diese fortan in Form einer Erinnerung mit sich – einer Erinnerung, die offenliegend präsent oder verdeckt, aber existent ist und Bestand hat. Vergleichbar ist dies mit dem Roland Barthes Begriff des Punctums in der Fotografie. Ist die Fotografie nun eine Analogie des Realen, der vor uns stehenden Welt, so können wir seine beiden Begriffe, das Studium und das Punctum, auf diese uns vorstehende Welt anwenden. Das Studium ist das generelle Interesse an dieser Welt, das Sich-Bemühen-um-sie. Aus Studium interessiere ich mich für die Welt und das in ihr Seiende, sei es um mein Fortbestehen zu sichern oder um Teil an ihr zu haben, Teil ihrer zu sein. Studium meint in diesem Sinne Welt wahrnehmen, als existent hinnehmen, jedoch nicht von ihr getroffen sein. Das Studium ist eine Art »allgemeine Beteiligung«.39 Wir nehmen Welt war, als Grundlegendes, als Gegebenes – eine Berührung durch sie ist unerlässlich und findet unausweichlich statt. Roland Barthes spricht bei dem Begriff des Studiums noch von einer weiteren Eigenschaft, die er ihm im Bezug auf die Fotografie zuweist. »Das Studium anerkennen heißt, unausweichlich den Fotografen begegnen, in Harmonie mit ihnen eintreten, sie billigen oder sie mißbilligen, doch stets sie verstehen, sich mit ihnen beschäftigen.«40 Das Subjekt nimmt visuelle Reize auf, es muss sich gewissermaßen um das Wahrgenommene scheren. Es ist jedoch ein allgemeines Interesse, eben gerade so viel, um durch die Welt zu kommen. In diesem Durch-die-WeltKommen existieren zugleich Momente des Punctums. Während im Studium das Subjekt sich der Welt zuwendet, ist es beim Punctum ein Gegenläufiges. Das Element des Punctums trifft das Subjekt, es schießt in seiner Plötzlichkeit hervor wie ein Pfeil und verwundet es. Es ist das Punctum, das als Störung und Heimsuchung hereinbricht. Im Punctum erlangt das Wahrgenommene Handlungsmacht. Es ändern sich die Aufmerksamkeitsbestimmungen, eine Kanalisierung und Beschränkung von Wahrnehmung findet statt. Der Schatten kann als Pfeil der Aufmerksamkeitsänderung in seiner Plötzlichkeit gesehen werden. Er ist sowohl Befleckung des gleißenden Sonnenlichts als auch Loch im Licht. Die Erfahrung des Ergriffenwerdens ist das erste Element, das man sich phänomenologisch vor Augen führen muss, wenn man über Werte, Wertebildung und Werteentstehung nachdenkt. Das Wahrgenommene, hier die ästhetische Erscheinung eines Schattens, das Verschattete eines Blickfel39 | Barthes, Roland »Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie« Frankfurt/M: Suhrkamp 1989 S. 35. 40 | Ebd. S. 37.

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des, tritt in den Vordergrund der Wahrnehmung. Es erfährt eine Wertzuweisung, vergleichbar mit einem Ordnungssystem, in dem Fragmente zugewiesen werden. Die Fragmente erster Ordnung treten so stark in ihrer Präsenz hervor, dass die Fragmente zweiter und dritter Ordnung zurücktreten bzw. nicht oder nur bedingt wahrgenommen werden. Grundlegend dafür ist eine Sensibilisierung des Selbst für die Objekte der Erscheinung. Schatten sind im Allgemeinen keine Erscheinungen, die sich in den Vordergrund der Wahrnehmung, an die erste Stelle eines Wahrgenommenwerdens drängen. Außerhalb des Schattens existieren andere Eigenschaften einer Erscheinung, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten ergreifen können, wie beispielsweise Größe, Farbigkeit oder eine semantische Bedeutsamkeit. Vielleicht kann man hier von einer Wahrnehmung nachrangiger Ordnung, einer Wahrnehmung auf den zweiten Blick sprechen. Der Schatten als solcher wird auf dem ersten Blick bewusst nur dann wahrgenommen, wenn er bildbestimmend, übergroß oder in einer Kontextverschiebung zum Objekt wie auch zum Bildinhalt steht. Ein Weiteres, welches das Wahrnehmungsverhältnis beeinflusst, ist der Unterschied, ob es sich bei dem zu Wahrnehmenden um eine Repräsentation eines Schattens handelt, beispielsweise im Film, auf einer Fotografie, einer Malerei, als Erwähnung und beschreibende Metapher in einem Text,41 oder um eine Erscheinung in einer Welt, in der sich das Subjekt bewegt. In dieser Untersuchung wird als Schwerpunkt der Schatten im bildgebenden Verfahren zum grundlegenden Element, wobei Analogien zu anderen Erscheinungsformen nicht unumgänglich sind. Schatten als solche haben etwas Relationales, etwas Ordnendes wie auch etwas Bestimmendes. Der relationale Ansatz schafft erweiterte Handlungsmöglichkeiten durch ein grundsätzlich anderes Denken. Anstatt wie gewohnt wahrzunehmen, dass die Dinge rund um uns herum »passieren«, gehen wir im relationalen Ansatz davon aus, dass wir die Welt um uns herum erzeugen – und daher alles beeinflussen können –, wofür wir verantwortlich sind. Die Wahrnehmung einer ästhetischen Erscheinung namens Schatten hängt zum einen von seiner ästhetischen Präsenz, zum anderen von dem wahrnehmenden Subjekt ab. Dies meint nicht nur das ästhetische Wahrnehmen, sondern auch das In-Relationen-Wahrnehmen. Das wahrnehmende Subjekt ist in der Welt und Welt ist zu ihm, Welt wird durch das Subjekt bestimmt. Blicken wir zum Begriff des Berührens zurück. Dass wir täglich Dinge berühren, ist so selbstverständlich, dass wir uns dessen gar nicht bewusst sind. Neben dem Sehen ist der Tastsinn einer der wichtigsten Sinne des Menschen. Im Unterschied zum Sehsinn, der einen nur als Zuseher, als passiven Teil des 41 | Hierbei kann wiederum zwischen bildgebenden Verfahren und einer Übertragungsleistung wie bei Malerei unterschieden werden. Es wird nicht der Schatten abgebildet, eingefangen, sondern die Idee von einem Schatten.

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Geschehens, als Beobachter zurücklässt, zieht uns der Tastsinn unmittelbar in die Wirklichkeit hinein. Durch ihn treten wir in direkten körperlichen Kontakt mit der Welt. Mit Merlau-Ponty ist sehen auch tasten. Unser Blick tastet sich voran, ähnlich wie sich unsere Hand vorantastet, indem sie ein ihr unbekanntes bekanntes Erfassen will. Durch das Sehen berühren uns die Dinge und wir berühren sie. »Der Blick [...] hüllt die sichtbaren Dinge ein, er tastet sie ab und vermählt sich mit ihnen. [...] so als wüßte er von ihnen, noch bevor er sie kennt.«42 Der Blick – nicht ein automatisiertes Scannen und Auswerten der Daten, nicht ein lebloses, leibloses Zuweisen und In-Verhältnisbestimmungen-Setzen, sondern ein Blicken ohne Grenzen. Es existiert keine Trennung von Leib und Welt, es existiert ein Kontakt, eben eine Berührung, wie eine Tangente, die unweigerlich ein Kreissegment berührt. Leib und Welt haben etwas gemeinsam, so wie Blick und Erblicktes. Es entsteht ein gemeinsamer Raum, der dem einen wie dem anderen zugehörig ist, der in seiner Eigenschaft als Transitorisches besteht. Der Blick ist für Merlau-Ponty ein Einhüllen der sichtbaren Dinge. Nicht ein Durchdringen, Durchblicken, sondern ein Umfassen. Eine mäandernde Bewegung wird vollzogen, eine zeitliches und räumliches Bewegen im Blicken findet statt, wie er auch im Nachhinein dies als tasten beschreibt. Es ist jedoch nicht ein nur flüchtiges Antasten, sondern über das Tasten macht er sich die Dinge zu eigen, nähert sich ihnen und macht sich mit ihnen bekannt. Es ist eine Art des Vertrauens und Erkennens, eine Art des Erahnens, des Schon-einmal. Es ist wissen von etwas, noch bevor es bekannt ist – es ist eine Art Ahnung und Verweis auf sein Wesen. »Auf diese Weise steht der Leib aufrecht vor der Welt und die Welt aufrecht vor ihm, und zwischen beiden besteht ein Verhältnis der Umarmung. Und zwischen diesen beiden vertikalen Seienden gibt es keine Grenze, sondern eine Kontaktfläche.«43 Eine Fläche, an der das eine das andere lassen kann, an der eine Art Übereinkunft entsteht. Es findet keine Trennung in Begrenztes und Unbegrenztes statt, es existiert kein Trennendes. Das eine ist dem anderen inhärent. Grenze und Begrenztes gibt es in dem Sinne nicht, eins geht in das andere über, in Form einer Einhüllung, Vermählung, Umarmung. Es ist einhüllen, nicht erdrücken, nicht durchblicken. Welt und Körper kommunizieren miteinander über das Blicken. Ihre Einheit zeigt sich »als die nie vollendete Integration der Sinne in einem einzigem Erkennungsorganismus«.44 Beide Entitäten, Welt und Körper, sind gleichermaßen Berührter und Berührtes als auch Berührender und Berührendes. Berührung meint hier die Geste, die Zugang zum anderen gibt. Der Blick 42 | Merleau-Ponty, Maurice »Das Sichtbare und das Unsichtbare« München: Fink 1994 S. 175. 43 | Ebd. S. 339. 44 | Ebd. S. 273.

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schafft diesen Zugang. Er existiert als entzweigeschnittener, als zum anderen gehender wie auch zum Selbst kommender, ankommend durch das Auge ins Denken hineintreffend. Berührung ist gewissermaßen dafür gemacht, zu ertasten, zu ersehen. Berühren bedingt etwas, das existent in der Welt ist. Berühren heißt auch sehen so wie sehen berühren heißt. (Siehe Abbildung 37.)

Abb. 37 Evgen Bavcar »A Close Up View«; »Masks in Venice«.

Jedoch: Wie kann man etwas berühren, das keine Körperlichkeit besitzt? Wie kann man einen Schatten berühren, der eine Art von Entkörperlichung oder ein Noch-nicht-Seiendes ist? Einen Schatten zu berühren ist nur möglich über das Erblicken, über das Sehen, über das Ihnansehen. Ein Nichthinsehen, ein Wegsehen, ein Schließen der Augen, verschließt die Berührung und verweist auf das dunkle Formlose, das als Opposition des Hellen in Fragmenten aus einer Ferne, so nah sie auch sein mag, scheint. Es ist möglich, in einem Schatten von etwas zu sein; der Schatten an sich bleibt jedoch ungreif bar, unstofflich, mit dem Verweis auf eine Körperlichkeit, auf den Verweis eines Noch-nicht-Daseins. Der Schatten, ein Noch-nicht-Körper, ein leerer Begriff eines Körpers, ein Noumenon. »Das Nichts des Da-seins ist freilich ein ganz besonderer Schatten, eine exeptionelle Kälte signalisierend. Der Mensch, der mit Pindar ›Traum von einem Schatten‹ ist, ist als Da-sein sein eigenes nihil privativum.«45 Berührung meint aber auch, ich bleibe mit der Berührung immer an der Oberfläche. Das Rätsel, das Geheimnis unter der Oberfläche, wird so nie aufgedeckt. Passiert es doch, so ist es nur noch Form. Durch das Sehen berühren uns die Dinge und wir berühren sie. Sehen meint, Anteil zu haben an der Welt, auf die ich stoße, die ich berühre, unweigerlich, ob ich es will oder nicht. Dem sich zu entziehen gelingt nur im Abwenden, im Sich-dem-BlickEntziehen – eigentlich in dem bewussten Nichtansehen, dem Verweigern einer Berührung.

45 | Ebeling,Hans [Hrsg.] »Vom Ursprung der Philosophie: der Tod, das Nichts, und das Eine« Würzburg: Königshausen und Neumann 1997 S. 31.

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Der eigene Schatten In der Bezeichnung »eigener Schatten« erscheint der Verweis auf zwei Dinge: zum einen der Bezug zu einer Zugehörigkeit, einer besonderen Zuordnung, einem Besitzverhältnis, zum anderen eine Besonderheit im Wahrnehmen. Der eigene Schatten, der Schatten der mir zugehörig ist, gleichsam die eigene Stimme, der eigene Geruch, das eigene Bild. »Man hat zeigen können, dass wir die eigene Hand auf einer Photographie nicht erkennen, dass sogar viele nur zögernd ihre Handschrift aus anderen heraus erkennen, dass hingegen jeder seine eigene Silhouette oder seinen Gang im Film erkennt.«46 Die eigene Silhouette, der eigene Schattenriss, die äußere Linie, die die eigene Körperform beschreibt, besitzt somit eine qualitativ andere Bedeutungsebene. Zur Sichtbarkeit gelangt sie im eigentlichen Sinne nur mithilfe des Lichts, das hinter dem Körper scheint. Er steht im Licht und ihm als Widerständiges entgegen. Es besteht die Möglichkeit der Aufzeichnung und des Erkennens in der Repräsentation, wie gleichsam im Schattenwurf, der sich in Form einer eigenen Silhouette auf etwas anderem niederlässt. Wie verhält sich der Schatten zum Eigenen und wir zu ihm? Er ist Teil unseres Leibes, um den rekursiven Bezug zu Merlau Ponty wiederaufzunehmen. Der eigene Schatten gehört gleichermaßen ihm an wie andere mögliche Beschreibungen. Er hängt dem Subjekt als solchem, gleich seinem Geruchs, seiner Stimme, an. Durch ihn ist ein Verhalten zur Welt, ein Erkennen von Welt um ein Mögliches erweitert. Er ist Extension, Möglichkeit sich in der Welt zu orientieren, sich zu positionieren. Er verhält sich gleichermaßen zur Welt wie auch zum Subjekt selbst. Er vollzieht gleichsam seine motorischen Prozesse und bindet diese als vor ihm Liegendes in die ihm sich zeigende Welt ein. Der eigene Schatten verhält sich zu mir wie auch zur Welt, wie ich mich zu ihm und zu Welt verhalte. Er ist keine bloße Spiegelung, bloße Reflexion, sondern erfährt eine abstrahierte Möglichkeit im Sein.

Abb. 38 Antanas Sutkus »J. P. Sartre in Lithuania. Nida« 1965; (c) Antanas Sutkus, 2017. 46 | Merleau-Ponty, Maurice »Phänomenologie der Wahrnehmung.« München: de Gruyter 1974 S. 179.

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Er ist abhängiger, einer Person zugehöriger und erscheint doch in gewisser Weise als semiautonomes Objekt. Sehen wir uns diese Einstellung aus der Richtung des Schattens an, so lässt sich annehmen, dem Schatten als solchem sind unendlich mehr Möglichkeiten einer Erscheinung in seiner Form gegeben als dem schattenwerfenden Subjekt. Der eigene Schlagschatten ist somit nicht nur eine leibliche Erweiterung im Wahrnehmen, sondern erscheint als ein um so freies Objekt, wie es das Subjekt niemals sein kann – und wenn es die Freiheit ist, sich seiner Sichtbarkeit zu entziehen. Er erscheint als Vorangehendes wie als Folgendes, als Übergroßes wie Kleines, als Offenes wie Geschlossenes. (Siehe Abbildung 38.) Was das Eigene beschreibt, ist in erster Instanz seine Verhältnisbestimmung zum Nichteigenen, zum Fremden. Wie muss ein Schatten sein, damit er als Eigenes wahrgenommen werden kann? Wie muss der eigene Schatten sein, um als solcher erkannt zu werden? In erster Instanz erfährt er ein Wahrgenommenwerden durch den Sehsinn des Betrachters. »Das gewöhnliche Sehen ist schon Einleibung. Wenn sich eine wuchtige Masse – etwa ein Auto, ein Stein, eine schlagbereite Faust – drohend nähert, bringt man sich unter günstigen Umständen in Sicherheit, indem man geschickt zur Seite springt oder den Kopf wegdreht. Das gelingt nur, weil man im Sehen mehr wahrnimmt, als man sieht, nämlich auch den eigenen, mit dem eigenen Körper, den man dann gewöhnlich nicht sieht, lokal zusammengehörigen Leib.« 47

In der Möglichkeit des Wahrnehmens liegt die Möglichkeit des Einleibens, des Annehmens, des In-Relation-zum-Eigenleib-Sehens, indem dem Sehen ein erweitertes, ein Voraussehen abverlangt wird. Es ist ein Unmögliches, im Sehen nicht weiterzusehen, nur den Schatten als solchen, als Verdunklung zu sehen. Unmittelbar im Sehen tritt ein kognitiver Prozess ein, der den Sehenden zu Weiterem veranlasst. Es ist ein Unausweichliches, die Form des Schattens in Bezug zum eigenen körperlichen Ausdruck zu sehen – es ist ein vergleichendes Sehen, das als Intention eine Versicherung seiner Selbst nach sich zieht. Es ist das Bedürfnis einer Zuweisung, einer Klärung im Blick. »Das Eigene tendiert dahin, Fremdes als bloßes Derivat des Eigenen zu behandeln. Das Gemeinsame, das sich als Allgemeines über das Besondere erhebt, beansprucht dagegen, den Spalt zwischen Eigenem und Fremdem zu überbrücken durch Teilhabe an einem Ganzen oder durch die Unterwerfung unter universale Gesetze.« 48 47 | Schmitz, Hermann »Der gespürte Leib und der vorgestellte Körper« in Großheim, Michael [Hrsg.] »Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion« Berlin: Akad.-Verlag 1994 S. 75-91. [S-DgL] S. 86. 48 | Waldenfels, Bernhard »Das Fremde denken« in: »Zeithistorische Forschungen« 2007 online in www.zeithistorische-forschungen.de/3-2007/id=4743 vom 12.08.2015.

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Waldenfels führt den Begriff des Allgemeinen als Relat ein. In unserem Fall ist ein Verweis auf das Allen-gemein-Sein die Möglichkeit auf die allgemeine Instanz des Schattens als Gegebenes. Er ist Erscheinung im Allgemeinen wie im Besonderen. Der Schatten ist allem gemein, allem Sichtbaren ist die Möglichkeit gegeben, einen Schatten zu werfen, einen eigenen Schatten zu besitzen. Besitz meint im Allgemeinen etwas, über das jemand eine tatsächliche Herrschaft innehat. Es meint im Besonderen aber auch, dass der Besitzer vom Eigentümer unterschieden werden kann, der Besitzer muss somit nicht Eigentümer sein. Besitz bedeutet im eigentlichen Sinne, dass jemand über etwas verfügt, es in seiner Gewalt hat, dem Willen nachgeht, diese Sache für sich zu behalten, es in seinem Besitz belassen zu wollen. Es ist auch der Wille, es zu bestimmen, ihm seine Herrschaft aufzuzwingen. Das Phänomen des Schatten lässt dies nur in einer Bedingtheit zu, die im Grunde genommen auf zwei Verhältnisse verweist, das des schattenwerfenden Subjektes wie das zum Lichte. Eines wäre ohne die Existenz des anderen nicht möglich. Das Subjekt ist Eigentümer und Besitzer seines Schattens, wie es im Allgemeinen bezeichnet wird, jedoch verweist der Begriff Besitz auf eine Nutzung eines anderen. »Es ist der eigene Schatten«, meint etwas anderes als: »Er besitzt einen Schatten.« Dies würde auf eine globale Entität wie beispielsweise das Licht, das ihn erzeugt verweisen und auf ein doppeltes Verhältnis zum Schatten. Wendet man den Blick und schaut vom Schatten aus, so kommt es zu einer Umkehrung dieser Annahme. Die Bestimmungs- und Besitzverhältnisse kehren sich um. Jeder Schatten als solcher besitzt ein Objekt, das ihm zugehörig ist, über das er verfügt. Es tritt ein Denken vom Schatten her ein. Meine Hand bewegt sich, weil sich ihr Schatten bewegt. Es ist ein Verweis auf eine abhängige Verbindung wie ein Verweis auf die Perspektive der Wahrnehmung. »Jedes sieht das Andre dasselbe tun, was es tut; jedes tut Selbst, was es an das Andre fordert; und tut darum, was es tut, auch nur insofern, als das Andre dasselbe tut; das einseitige Tun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beide zustande kommen kann.«49 Schatten und Objekt bedingen einander, sie gehören einander, das Eigene ist eine Definition, das durch eine Grenze Bestimmung erfährt, das anderes im Eigenen einverleibt. Jedem Objekt ist die Möglichkeit gegeben, mindestens einen Schatten zu werfen, wie jedem Schatten die Möglichkeit gegeben ist, ein Objekt zu besitzen. Dies ist ein allgemeines, verbindendes Element. Es ist Universalie, Bedingung einer Sichtbarkeit, einer Versicherung, die das Eigene über den Schatten vollziehen kann. Ich sehe meinen Schatten, also bin ich ein existierendes Subjekt. Zu mir, zu meinem Leib gehört der eigene Schatten in seiner Sicht- wie auch in seiner Unsichtbarkeit, wie der Herzschlag in mir, wie die Möglichkeit, mich zur Welt zu verhalten, in der Welt zu sein. 49 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich »Phänomenologie des Geistes« Frankfurt/M: Suhrkamp 1986 S. 146.

Der Schatten – ein ästhetischer Sonder fall

Das Fremde im eigenen Schatten Das Fremde wird dem Eigenen normalerweise untergeordnet, nachgestellt. Der Blick erfolgt vom Bekannten, vom Ich heraus, in Richtung des anderen. Im Unbekannten, im Unvertrauten, im Andersartigen tritt das Fremde als vorerst unbestimmtes Bestimmtes hervor. Im Schatten als ästhetischer Erscheinung findet sich dies wieder. Er ist an sich etwas Berührendes, das durch seine Andersartigkeit, durch seine Fremdheit, die Aufmerksamkeit fängt. Dadurch, dass er sich einer Dinglichkeit entzieht, wird er zum nicht Greif barem, zum Rätselhaften. Verschiedene Mythen und literarische Verwendungen ranken sich um diese Rätselhaftigkeit und lassen den Schatten als etwas Metaphorisches mit einer unerreichbaren konzeptuellen Offenheit erscheinen.50 Er muss herhalten für unendlich viele Formen der semantischen Zuschreibung, mal in Form einer Positivierung, mal in Form einer Negativierung – im Allgemeinen steht er für das nicht Erklärbare, das Dunkle, das nicht Sichtbare, im Besonderen für den Hades wie für einen Zustand der Seele.51 Bernhard Waldenfels trennt in seinen Untersuchungen zwischen Stufen der Fremdheit, in eine radikale und eine relative Form von Fremdheit. Unter relativer Fremdheit versteht er eine direkte Abhängigkeit zum Unvermögen, zum Unwissen, jedoch mit der Möglichkeit, die Fremdheit zu überbrücken, diese in erster Instanz als Fremdheit mit der Möglichkeit einer Integration von Fremdem zu sehen. Sein Begriff von radikaler Fremdeit beschreibt indes etwas anderes. Es ist das der Sache Innewohnende, ihr Mitgegebene, sie Mitbestimmende. »Die radikale Form der Fremdheit lässt sich nur auf paradoxe Weise fassen, als gelebte Unmöglichkeit, die unsere eigenen Möglichkeiten übersteigt. Symmetrieforderungen wären verfrüht; das Verhältnis zwischen fremdem Anspruch und eigener Antwort ist strikt asymmetrisch, da es jedem Vergleich voraus eilt. Ich sehe dich nie, wie du mich siehst, und nie dort, von wo aus du mich siehst; denn vom fremden Blick bin ich getroffen, bevor ich sehe, wer mich sieht. Für die fremde Stimme gilt das nämliche.« 52

Fremdes ist notwendig, indem es Eigenes bestimmbar macht. Es tritt als Form der Möglichkeit einer Abgrenzung und Bestimmung auf. Es ist existenzielles Gegenüber, ein Relat, das dem eigenen Leib bietet, ihn in eine Verhältnisbestimmung zu bringen, ihn gleichsam in seiner Positionierung wahrnehmen 50 | Vergl. Casati, Roberto »Die Entdeckung des Schattens: Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung« Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003. 51 | Jung, C.G. Schatten als Teil des Unbewußten vergl. Jung, Carl Gustav »Archetypen« München: Dt. Taschenbuch-Verlag 2014. 52 | Waldenfels, Bernhard »Das Fremde denken« in: »Zeithistorische Forschungen« 2007 online in www.zeithistorische-forschungen.de/3-2007/id=4743 vom 12.08.2015.

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zu können. Es ist ein Notwendiges, den Schatten als Differenz zur Leiblichkeit zu sehen, ihn gleichsam in seiner Form der Mitbestimmung als dialogisches Moment hervorzubringen. Waldenfels spricht von Verflechtung des einen mit dem anderen, des Eigenen mit dem Fremden, die Anerkennung des Fremden im Eigenen und des Eigenen im Fremden. Fremdheit ist zunächst einmal eine wertfreie Bestimmung und ist notwendig zur Konstitution des Selbst. Das Fragen nach dem vorerst unbekannten im Schatten ist die Frage an uns selbst. Der Blick zum Schatten ist nicht der Blick in den Spiegel, sondern der Blick hinter den Spiegel, der Blick des Erkennenwollens. Es ist notwendige Bedingung, den Schatten als ästhetische Erscheinung, gleich einem Metatext zur Welt zu bringen, denn er wirft uns auf uns selbst zurück und bietet die Möglichkeit eines Heraustretens aus uns selbst. Der eigene Schatten ist Eigenes und Fremdes zugleich, im Eigenen ist Fremdheit existent, die nicht zur Aneignung, zur Umwandlung in Eigenes bestimmt ist, sondern dessen Potenzial im Fremdsein liegt. Es ist notwendige Bedingung und nicht Mittel der Ausschließung oder Vertreibung. Fremdes ist existenzielle Bedingtheit: »[...] mit dem Fremden würden wir auch das Eigene abschaffen.«53

Partizipation: Aporien des Wir Der seit geraumer Zeit sichtbare Paradigmenwechsel in der Kunst von einer Beziehung zwischen Objekten zu einer Beziehung zwischen Subjekten ist ein prägender unserer Zeit geworden. Es ist keinesfalls so, dass es bis dahin keine künstlerischen Interventionen in diesen Bereichen gab, es ist eher so, das diese heutzutage in einer besonderen Qualität und Quantität erscheinen. In Hemmers Arbeit nimmt der Rezipient einen besonderen Stellenwert ein. Er ist maßgeblich bestimmender Teil der Arbeit. Er bedingt sie gleichermaßen wie auch der öffentliche Raum und die Technologie, die die Arbeit erst sichtbar werden lässt. Er ist Auslöser der Arbeit. Das Werk kann durch sein Ins-WerkTreten erst zu dem werden, was es sein soll. Der Betrachter ist nicht außerhalb Stehender, allein Gelassener, in einer Position eines Gegenüber, sondern ist integriertes Element. Mit ihm muss gerechnet werden. Er ist konzeptueller Teil der Arbeit, bestimmendes Element, Malmittel, wenn man so will. Ausschließlich durch seine Präsenz und Motivation, durch seine Aktion, wird die künstlerische Arbeit, zu dem, was sie ist. Sie ist nicht bloße Installation, sondern eingreifende, sich einschaltende Intervention. Signifikanter Unterschied zur Installation ist hierbei die Absicht, Eingriffe in die öffentliche Wahrnehmung, Ordnung, Eingriffe in bestehende Zusammenhänge zu vollziehen. Es ist nicht der einmalige performative Akt, der hier erscheint, vielmehr tritt 53 | Waldenfels, Bernhard »Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft« in »Information Philosophie« Claudia Moser Verlag.

Der Schatten – ein ästhetischer Sonder fall

der integrative Teil sozialer und topologischer Gegebenheiten in den Vordergrund. Es ist einerseits der Moment der Verblüffung, des Erkennenwollens, des Wie, andererseits der spielerische Moment, des Sicheinbringens, des Sichins-Bild-Setzens. Es sind nicht bloße Spuren statischer Abdrücke auf Papier, die bleiben, sondern Spuren des Erfahren-worden-Seins im Wachsblock des öffentlichen Raumes wie im elektronischen Speicher der Technologie. Es sind Spuren der Erinnerung der Passanten, die zunächst unabsichtlich Teil eines Kunstwerks geworden sind. Ohne die Dokumentation der Arbeit wären sie bloße Erinnerung der Teilhabenden, des öffentlichen Raumes, wie der technologischen Erfassungssysteme, die nicht zur Aufzeichnung, sondern als Mittler zuhanden waren. Der Schatten des Betrachters ist in der Arbeit »Under Scan – Relational Architecture 11« von Rafael Lozano-Hemmer ein zentraler Aspekt, um den herum sich vieles, im wahrsten Sinne des Wortes, bewegt. Durch das Betreten des lichtüberfluteten Platzes wird jeder Betrachter zunächst einmal Teil der Intervention. Er ist bestimmendes Fragment, jedoch auch Gleicher unter Gleichen. Jede Person, die den Platz betritt, erscheint zunächst einmal als sichtbares Doppel: zum einen in seiner Person als materielles Ich, zum anderen in Form seines auf den Boden fallenden Schattens. Der Betrachter tritt ein in eine Matrix und wird ihr Teil, sobald er den durch das künstliche Licht bestimmten Platz betritt. Es sind die ureigensten Gaben Vertrauen und Staunen, die den Passanten, den Vorbeikommenden, Teil des Kunstwerkes werden lassen. Es ist der Moment des Zufälligen, des Zufällig-anwesend-Seins im öffentlichen Raum. Es ist nicht der Moment des Besuches einer Ausstellungshalle, eines geschlossenen bestimmten Raumes, sondern die Herausgerissenheit, die Entstellung des Ortes. Herausgerissen aus der alltäglichen Bestimmung, einer Erweiterung, einer Umnutzung zugeführt – eine Insel im Alltäglichen, die durch Licht und Schatten begrenzt wird, wie auch eine besondere Bestimmung und Hervorhebung erfährt. Eine Entstellung im Sinne von Aufhebung der Verstellung durch den alltäglichen Gebrauch, den alltäglichen Blick. Der Platz ist der gleiche, jedoch nicht derselbe. Er hat eine andere Bedeutung, ein anderes Gesicht, im Sinne von Fassade54 erhalten. Ebenso ein Moment der Zufälligkeit wird bestimmt durch die Projektion von Bewegtbildaufnahmen in die Schatten der Anwesenden, der über den Platz Gehenden. Es ist ein Herausblicken eines Fremden aus dem eigenen Schatten, was dem Betrachter plötzlich widerfährt. Etwas Fremdes, das Abbild einer fremden Person, erscheint im eigenen Schatten und vollzieht dessen ikonische Besetzung. 54 | Fassade: »Vorderseite« Seite eines Gebäudes, äußeres (trügerisches) Erscheinungsbild. Der Bauterminus ital. facciata »Vorderseite«, eigentl. »Gesichtsseite«, abgeleitet von ital. faccia »Gesicht«, beruhend auf gleichbed. lat. faci’s, erscheint bereits im 17. und 18. Jh. als Facciade, Facciate in dt. Texten. Pfeifer, Wolfgang »Etymologisches Wörterbuch des Deutschen« München: Dt. Taschenbuchverlag 1997.

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Das im Schatten erscheinende Lichtbild ist zunächst einmal Fremdheit. Es ist eine Abbildung einer unbekannten Person, die durch eine Geste den Betrachter anspricht. Unklar im Moment des Wahrnehmens ist, ob es sich um eine Aufzeichnung, um eine Bildspeicherung oder um einen Liveact handelt. In diesem ersten Wahrnehmungsmoment entzieht sich dies einer Zuordenbarkeit. Erst im zeitlichen wie im dialogischen Verlauf löst sich dies auf.56 Eine Fremdheit entsteht ebenso in der Besetzung des Schattens mit Licht, durch die Umschreibung zu einer Projektionsfläche. Der Fremde im Projektionsbild der Aufzeichnung bleibt in dieser Arbeit fremd, da ein aktiver Dialog, eine Interaktion mit dem anderen nicht durchführbar ist. Die Projektion des Fremden ist Teil eines Bildspeichers und gibt nur die vorher bestimmte Geste preis, nicht die aufgezeichnete Person selbst. »Er (der Fremde) ist innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises – oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist – fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, dass er nicht von Vornherein in ihn gehört, dass er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt. Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass der Ferne nah ist.« 57

Was erscheint, ist der Schatten als Fehlstelle, als mögliche Besetzung, wie auch als Möglichkeit der Sichtbarkeit einer abwesenden Anwesenheit. Im Zeigen ist etwas da, indem es nicht da ist und es sich uns darüber hinaus entzieht. Dem Zeigen liegt gleichsam ein Zeigen eines anderen in mir zugrunde. Indem ich einen anderen in meinem Schatten erfahre, trete ich aus mir heraus und nehme mich als Fremdes war. 55 | Waldenfels, Bernhard »Topographie des Fremden« in »Studien zur Phänomenologie des Fremden« Frankfurt/M: Suhrkamp 1997 S. 28. 56 | Im Gegensatz dazu steht Hemmers Arbeit »Sandbox« in welcher eine Live-Reaktion erzeugt wird. vergl. www.lozano-hemmer.com/sandbox.php vom 15.01.2016. 57 | Simmel, Georg »Exkurs über den Fremden« in »Kapitel IX: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft« in »Soziologie Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung« Berlin: Duncker & Humblot 1908 S. 685.

Der Schatten – ein ästhetischer Sonder fall

Zwischenresümee Der Schatten ist Mitleib. Indem er erscheint, erscheint er als Erweiterung im Sehen und als Leiberweiterung. Er tritt auf im Sinne einer Davorsetzung, ist Ausweitung und Anbindung im Leiblichen wie im Körperlichen. Er ist Mittel der Orientierung, Mittel zur Positionsbestimmung – topografisch wie mental. Der menschliche Schatten ist Mittel zur Orientierung in der Welt wie zur Ausweitung des eigenen geistigen Körperbildes58 und einer Verhältnisbestimmung zur Welt. Er ist Teil einer Leibkonzeption – Fremdes im Eigenen, Äußeres im Inneren. Er ist Form des Mitseins, des Ebenso, des Sowohl-als-auch und dies nicht allein in seiner Sichtbarkeit, sondern gleichsam in seiner Nichtsichtbarkeit. Er ist Abwesendes im Anwesendem, d.h., er wird ebenso in der Möglichkeit seiner Nichtsichtbarkeit mitgesehen. Zwischen Subjekt und Schatten findet zudem etwas Besonderes statt. Es ist eine Form von doppelter Berührung, an einer Grenze, an der beide untrennbar miteinander verbunden sind. Im Aufeinandertreffen geschieht eine Form der Annäherung, der Berührung. Diese Berührung findet auf zwei Ebenen statt. Zum einen in der Distanz des Betrachtens, des Schauens. Dass ich den eigenen Schatten wahrnehme, ihn ansehe, geht die Bedingung des Sich-ihm-Zuwendens voraus. Es ist dies eine Bewegung, die der Geste des Auf-etwas-Zugehens entspricht. Indem ich mich dem Schatten zuwende, mein Gesicht in seine Richtung drehe, ihn ansehe, entsteht eine Form von Bewegung zu ihm hin, physisch wie mental. Ich erkenne ihn an. Indem ich ihn ansehe, entsteht zum einen eine Berührung im Sehen – zum anderen eine Bewegung auf der möglichen Ebene des körperlichen Berührtwerdens. Der eigene Schatten erscheint nicht nur als Gegenüber, als Silhouette auf einer Projektionsfläche vor mir, sondern gleichermaßen an mir, auf mir. Berührung im Sinne Merlau Pontys, als Geste, die mir Zugang zum anderen gibt, ist gleichsam ein Zugang zu mir selbst. Es ist die Berührung eines sinnlichen Ausdrucks des In-derWelt-Seins als besonderer existenzieller Erfahrung, bei der der Zugang über eine Andersheit hergestellt wird. »Der [...] ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend.«59 Geht man von Merlau-Pontys Leibbegriff aus, so 58 | Vergl. Im Versuch der italienischen Kognitionswissenschaftler Pavani und Castiello wurde dies bestätigt. »Pavani and Castiello (2004 ) have shown that body shadows may represent a special class of cast shadows, in that they seem to be able to strongly affect perception of spatial relationships between our own body and the stimuli around us, bridging the gap between personal and extrapersonal space.« Received: 29 July 2004 / Accepted: 13.12.2004 / Published online: 19 July 2005 Springer-Verlag 2005. 59 | Merleau-Ponty, Maurice »Phänomenologie der Wahrnehmung.« München: de Gruyter 1974 S. 239.

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ist der Leib eine Einheit, die sich in Verrichtungen und Handlungen selber herstellt. Leib ist für ihn die Art, wie das Subjekt sich selbst und gleichsam Welt erfährt. Er ist Medium zur Welt und Verankerung in der Welt. Er ist erweiterbar, wandelbar. Der Schatten ist im Allgemeinen an die Präsenz eines Objektes, eines Subjekts gebunden. Wird er abgetrennt, archiviert, so wird er zum eigenständigen ikonischen Zeichen, das den Verweis auf eine Ähnlichkeit mit einem anwesend Gewesenen in sich trägt. Den eigenen Schatten festhalten kann immer nur ein anderes, in dem es eine Form der Aufzeichnung vollzieht. Der gestische Akt der Aufzeichnung des eigenen Schattens muss fehlschlagen. Das Festhalten, das Nachvollziehen der eigenen Umrisslinie (vergl. die Arbeit von Otth), bedingt immer ein In-Bewegung-Sein, das im Bewegen die eigene Schattenlinie negiert und verschiebt. Ein mögliches Festhalten ist dies Abgeben, dies Sich-an-einen-anderen-, Sich-an-etwas-anderes-Übergeben – das nur von Licht und Schatten Beschreibung erfahren kann. Indem ich mich an eine sensibilisierte Schicht, ein lichtempfindliches Material abgebe, gebe ich einen Teil von mir ab (siehe Abbildung 39). Es ist eine Instanz meines Schattens, meines Leibes, die mit dem Mittel der fotografische Zeichnung fixierbar wird. Der eigene Schatten erfährt dadurch keine Reduktion, sondern eine Erweiterung. Er schöpft aus einem unversiegbarem Konvolut an Dunkelheit, solange er in einem gerichteten, bestimmten Licht besteht. Der Verlust, die Abspaltung des Schattens kann im Grunde genommen nie vollständig vollzogen werden. Es ist einzig Versuch und Wiederholung, repetitiver Prozess – eine Form von Häutung, die auf die Materialität im Prozess der Aufzeichnung verweist.60

Abb. 39 Floris Neusüss »Körperbilder« (KOR B27) 1963 in T. O. Immisch / Neusüss, Floris »Körperbilder: Fotogramme der sechziger Jahre« Galerie Moritzburg Halle 2001.

60 | Vergl. Stiegler, Bernd »Bilder der Photographie – ein Album photographischer Metaphern« Frankfurt/M: Suhrkamp 2006 worin er unter dem Kapitel Haut, Häutung auf den antiken Mythos von Marsyas und Apoll eingeht und ihn analog zur Fotografie beschreibt, Apoll als Gott der Musik und des Lichts.

Der Schatten – ein ästhetischer Sonder fall »Nach Balzac besteht jeder lebende Körper aus unendlich vielen ›Spektren‹, die in winzig kleinen Schuppen oder Blättchen schichtförmig übereinander liegen und ihn von allen Seiten einhüllen. Da es dem Menschen immer unmöglich sein wird, etwas zu erschaffen – das heißt, aus der bloßen Erscheinung, dem Ungreifbaren, einen festen Körper zu bilden, aus nichts etwas zu machen – muss bei der Daguerreschen Photographie eine Schicht des abzubildenden Körpers erfasst, abgelöst und auf die Platte gebannt werden. Daraus folgte, dass jeder Körper bei jeder photographischen Aufnahme eine seiner Spektralschichten, das heißt einen Teil seines elementaren Wesens einbüßte.« 61

Ableitend aus den vorangegangenen Kapiteln zum Bezugssystem Schatten – Leib, kann die Aussage gemacht werden, dass der Schatten zum einen ein subjektives Sich-zur-Welt-Verhalten wie auch ein Sich-in-der-Welt-Verhalten um ein Mannigfaltiges erweitert. Es ist nicht nur die Verhältnisbestimung zum »extrapersonal space«, sondern ebenso zum »personal space«62 wie zum »mental space«.63 Im Fehlen, im nicht Sichtbaren des Körperschattens, entsteht der Verlust einer Wahrnehmungskonstante. Pavani und Castielleo verweisen auf den Begriff des Körperschemas64, dem der Schatten als solcher zuordenbar ist. »Binding of personal and extrapersonal space has been described in relation to artificial body parts (such as sham arms) that alter the perceived position of the body in space or after repeated tool use. This has been taken to show that the internal representation of the body’s spatial extent (the so-called ›body schema‹) can extend beyond the physical limit of the skin. Our findings indicate that body schema can also extend to incorporate shadows cast by an individual’s body parts. Thus, inaddition to their effects on visual perception, cast shadows could provide additional cues about body position in relation to objects in the world, enhancing the ability to interact with objects in real as well as virtual environments. Body shadows may thus represent a new means for investigating the relationship between dynamic coding of peripersonal space and the control of action.« 65

61 | Zitat Nadar in »Als ich Photograph war« in Krauss, Rosalind »Das Photographische – Eine Theorie der Abstände« München: Fink 2009 S. 24. 62 | Hall, Edward T. »Die Sprache des Raumes« Düsseldorf: Schwann 1976. 63 | Vergl. Fauconnier, Gilles »Mental Spaces: Aspects of Meaning Construction in Natural Language« New York: Cambridge University Press 1994 wie Fauconnier, Gilles / Mark Turner »Conceptual Projection and Middle Spaces«. San Diego: UCSD Cognitive Science Technical Report 1994 (auch www.infopath.ucsd.edu). 64 | Körperschema: neuropsychologische Korrelation der Wahrnehmung von realem Körper mit der Vorstellung vom eigenen Körper in Jaspers, Karl »Allgemeine Psychopathologie« Berlin, New York: Springer 1973, S. 74 Leibbewußtsein und Körperschema. 65 | Pavani, Francesco / Castiello, Umberto »Binding personal and extrapersonal space through body shadows« in »Nature Neuroscience 7«2003 doi:10.1038/nn1167.

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Das eigene Schattenbild liefert wichtige Hinweise, um die Körperposition zu bestimmen und auf umgebende Objekte zu reagieren. Indem ich mich in meinem Schlagschatten wahrnehme, sehe ich mich von außen her. Das introspektive Innen erfährt durch den Schlagschatten, des zunächst eigenen Körpers, eine Ausdehnung und kann, gleich einer sensorischen Eigenheit, wie Geruch oder Stimme gesehen werden. Der eigene Schlagschatten wird als Teil des Körpers, als Körperteil, angesehen und erfährt eine Erweiterung durch die Relation zum Begriff des Leiblichen, indem er sich nicht nur als abbildendes Gegenüber, sondern auch als erweitertes Dialogisches erscheint. Indem das Schattige, das durch den eigenen Körper Verschattete, in Form einer Abstraktion sich zeigt, liegt dessen Wahrnehmung auf einer anderen Bewusstseinsebene. Im Sehen der dunklen Stelle, der Fehlstelle im Hellen, ist es Verweis auf ein Rätselhaftes, nie ganz Erkennbares wie auf vorübergehende ephemere Präsenz. Denkt man Farbe als Verschattung des Lichts lässt sich eine Brücke zu Merlau Pontys Gedanken zum Eigenleib schlagen. »Farben sehen lernen heißt einen gewissen Stil des Sehens, einen neuen Gebrauch des eigenen Leibes sich zu eigen machen, das Körperschema bereichern und neu organisieren. Unser Leib, ein System von Bewegungs- und Wahmehmungsvermögen, ist kein Gegenstand für ein ›Ich denke‹: er ist ein sein Gleichgewicht suchendes Ganzes erlebt – gelebter Bedeutungen. Bisweilen bildet sich eine neue Bedeutungsverknüpfung: unsere Bewegungen verleiben sich einer neuen motorischen Seinsweise ein. Unsere ersten Sichtgegebenheiten einer neuen sinnlichen Seinsgestalt, unsere natürlichen Vermögen erlangen plötzlich eine umfassendere Bedeutung, die zuvor in unserem perzeptiven und praktischen Feld lediglich angedeutet war, sich in unserer Erfahrung nur meldete in Gestalt eines unbestimmten Mangels, deren Zutagetreten nunmehr aber plötzlich unser Sein in ein neues Gleichgewicht bringt, eine blinde Erwartung erfüllend.« 66

Der Schlagschatten des eigenen Körpers ist nicht nur Selbsvergewisserung, sondern gleichsam Möglichkeit eines Verhaltens zu etwas – zu sich und zu anderem. Indem die Ränder dieser Möglichkeit eine gewisse Unschärfe besitzen, ist eine klare Abgrenzung nicht immer gegeben, d.h., die Grenzen des Körperschattens besitzen immer eine visuelle wie semantische Offenheit zu sich selbst und zu anderen. Indem der Schatten als Absenz auftritt, ist diese Möglichkeit vergeben. Die visuellen Grenzen des Körpers werden durch eine Grenze an der Haut des Körpers bestimmt, durch Formen der Körpererweiterung, wie eben die eines Blindenstocks oder durch eine Art Zwischenraum, den jeder Mensch als ertragbaren Abstand zu etwas anderem, zu einem anderen, selbst bestimmt. 66 | Merleau-Ponty, Maurice »Phänomenologie der Wahrnehmung.« München de Gruyter 1974 S. 184 »Die Synthese des Eigenleibes«.

Der Schatten – ein ästhetischer Sonder fall

S chat tengrenze Der Begriff der Grenze erscheint im Feld der Untersuchung zunächst einmal als der einer visuell wahrgenommene Grenze. Eine Grenze wird zunächst einmal bestimmt. Es ist die Bestimmung einer Differenz, einer Trennung, eines Hier und eines Da, eines Innen und eines Außen. Sie konkretisiert sich im Besonderen nur, indem sie in Bezug gestellt wird zu etwas anderem, und wenn es nur der Verweis auf die Überschreitbarkeit ist, den eine Grenze bedingt.67 Im Grenzbereich tritt eine Zuspitzung auf. Die Abstände werden dichter, das eine liegt dem anderen so nah wie nie zuvor. Wie verhält es sich mit der Grenze, ist sie Wirklichkeit oder bloße Illusion? Sind es die Abstandsverhältnisse, die die Grenze als solche bestimmen? Im Grenzbegriff liegt der Begriff des Unbegrenzten wie der Begriff des Begrenzten verborgen. Beim Annähern an die Grenze verschwimmt die Grenze, ähnlich wie dies mit dem Gegenstand der Untersuchung geschieht. Beim Sich-ihm-Annähern scheint er sich immer mehr zu entziehen. Wie wird unsere Wahrnehmung von etwas bestimmt, was im Grunde genommen eine Konstruktion unseres Denkens ist? Es ist eher eine gedankliche Grenze, die den Bereich des Schattens vom dem des Lichts trennt. Was passiert an der Stelle des Übergangs? Ist es eher das Dazwischen, eine Art Niemandsland, eine neutrale Zone, eine Zone des Sowohl-als-auch, die weder zur einen noch zur anderen Seite zugehörig ist, oder ist es eher eine Frage der Richtung des Blickens? Die Grenze zeigt sich als solche nicht, wenn man sich unmittelbar auf ihr befindet. Sie zeigt sich erst im Überschreiten wie auch im Abstandsverhältnis zu ihr. Es stehen mehrere Fragen im Raum. Um einen Fokus zu setzen, muss hier nicht nach der Grenze im Allgemeinen, sondern nach der Schattengrenze im Besonderen gefragt werden. Der Schatten zieht eine Grenze in einer Welt des bestimmbar Sichtbaren. Tritt er als visuelles ästhetisches Moment nicht auf, so zeigt sich Grenzenlosigkeit im Blicken. Dies kann durch eine Verschattung des Lichts, durch eine Kontrastierung, durch ein Farbiges, gebrochen werden. Der Schatten als Bestimmung der Sichtbarkeit bewegt sich an der Grenze der Ausdrückbarkeit. Er zieht eine Grenze, sichtbar am Licht. Er weist dem Licht eine Grenze wie das Licht, das den Schatten begrenzt. Der Schatten stellt sich, wie der Körper, der ihn wirft, dem Licht in den Weg und wird vom Ausgangsort des Blickes bestimmt als Relation einer Begrenzung. »Etwas also ist unmittelbares sich auf sich beziehendes Dasein und hat eine Grenze zunächst als gegen Anderes: sie ist das Nichtsein des Anderen, nicht des Etwas selbst; es begrenzt in ihr sein Anderes. – Aber das Andere ist selbst ein Etwas überhaupt; die 67 | Vergl. Foucault, Michel »Vorrede zur Überschreitung« in Foucault, Michel / Walter Seitter [Hrsg.] »Von der Subversion des Wissens« München: Hanser 1974 S. 32-53, 37.

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Medienästhetik des Schattens Grenze also, welche das Etwas gegen das Andere hat, ist auch Grenze des Anderen als Etwas, Grenze desselben, wodurch es das erste Etwas als sein Anderes von sich abhält, oder ist ein Nichtsein jenes Etwas; so ist sie nicht nur Nichtsein des Anderen, sondern des einen wie des anderen Etwas, somit des Etwas überhaupt.« 68

Es ist die Untrennbarkeit und Unablösbarkeit des einen vom anderen, mit anderen sowie die Bestimmung des einen durch anderes, das in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zueinander steht. Die Grenzlinie, die sich als Offensichtliches zunächst als Trennung zwischen hell und dunkel, zwischen Lichtund Schattenflächen zeigt, ist kein autonomes, sondern ein relationales Gebilde. Die Grenze ist hier Übergang, der Licht und Schatten als Verknüpfung in ihrer Differenz beschreibt, ein Übergang, ein Verlauf, der sich von hell nach dunkel, von dunkel nach hell offenbart. Die Beschreibung der Richtung ist die Beschreibung des Blickes wie die Beschreibung der Haltung des Beschreibenden zum Sichtbaren. Er beschreibt den Grenzverlauf von einem Ort aus, der in Verhältnisbestimmungen zu hell und dunkel, zu Welt an sich und zu dem Blickenden selbst in untrennbarer Weise besteht. Der Wahrnehmende steht im Hellen, im Dunklen oder an der Schwelle des Dazwischen.

Innen Im Allgemeinen scheint der Schlagschatten aus der ihn werfenden Person, aus dem ihm werfenden Körper, Objekt, herauszutreten. Dies geschieht sowohl plötzlich als auch zaghaft, jedoch immer analog mit Richtung des Lichts, abgewandt von seinem Ursprung, seiner Quelle. Er nimmt seine Position immer vom Licht aus gesehen hinter einer materiellen Form ein. Der Schatten wird nie das Licht sehen, das ihn erzeugt.69 Er fällt immer in einer Richtung mit ihm. Jedoch trennt wie verbindet beide das im Dazwischen stehende Subjekt. Selbst in dessen Umwenden birgt es eine Gefahr in sich, die Gefahr der vorübergehenden Blindheit, die nach dem Blick ins Licht zunächst kurzfristig auftritt. Der Schatten steht in einer besonderen Relation zum Licht. Er wird durch das Licht bestimmt, in dem es sich ihm gegenüber positioniert. Der Schatten, sowie die ihn erzeugende Lichtquelle stehen sich in einer besonderen Form der Indirektheit gegenüber. Es steht immer etwas zwischen ihnen, was für den Schatten existenzielle Bedingung ist. Das Subjekt im Dazwischen ist zentrales Element der Licht-Schatten-Relation. Es ist das, um das sich Schatten und Licht, verknüpft in einer unsichtbaren Gebundenheit, bewegen. Mehr 68 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich »Die Lehre vom Sein« Erstes Buch Erster Abschnitt in »Wissenschaft der Logik« Hamburg: Meiner 2015 S. 134. 69 | Vergl. Leonardo, da Vinci »Das Buch von der Malerei« Ausgabe nach Codex Vaticanus 1270, Heinrich Ludwig. Wien 1882, reprint Kessinger Publishing LLC, Whitefish

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noch, die Bewegung des Schattens wird durch die zusätzliche Bewegung des Lichts bestimmt. Er ist ihm untergeordnet, er folgt dem Licht wie dem Objekt, das ihn bestimmt. Der Schatten ist Verfolger des Subjekts wie Verfolger und Verfolgter des Lichts. Er hat seinen Ursprung am Körper. Er geht von ihm aus. Er gehört eben so zu ihm, wie zum Leib desjenigen, der ihn wirft. Er ist unweigerlich mit ihm verknüpft, verbunden, vernäht.70 Der Schatten erfährt eine Mannigfaltigkeit an Grenzsetzungen wie an Grenzbeziehungen. Es ist dies zunächst einmal die Begrenzung, seine Umgrenzung, als Form wie auch die Grenze zum Körper, die ihn bestimmt. Seine Binnenstruktur, scheint es, wird durch seine Randform gehalten. Der unbegrenzten Möglichkeiten des sich Ausdehnens ist dadurch Einhalt geboten. Geht der Blick vom Schatten aus, so beschreibt die Grenze eine Bedingung der Formfindung, der Formhaltung. Der Rand des Schattens bestimmt die Form, indem er sie auf den ihn bestimmenden Körper zurückträgt. Die Form wird durch diesen bestimmt und bestimmt ihn gleichermaßen. »Denn das Individuum ist ein nach allen Rücksichten Beschränktes, es ist individuelle Beziehung auf sich nur dadurch, dass es allem anderen Grenzen setzt; aber diese Grenzen sind damit auch Grenzen seiner selbst, Beziehungen auf Anderes; es hat sein Dasein nicht in ihm selbst.« 71 Das Individuum, das Subjekt, erfährt, konstituiert sich erst durch anderes, durch Äußeres, indem es bestimmte Grenzen erfährt. Der Schatten ist eine Setzung, die sich zeigt und eine Verhältnismäßigkeit zu anderen beschreibt. Innerhalb der Form des Schattens, gerahmt durch ein helles Außen, durch die Grenze, die beide verbindet, wie trennt, existiert nicht nur monochromes Dunkles, sondern eine Vielzahl von Differenzen und Randerscheinungen. Das Helle des Außerhalb dringt an bestimmten Stellen durch die Grenze in das Gebiet des Schattens ein. Es scheint eine Art Eingang, eine Öffnung machbar, der sich ausschließlich im Inneren, im Dunklen der Form als Mögliches zeigt. An den Rändern treten Reflexionen und Brechungen des Lichts auf, die bis zu einer Verschleierung der Grenze, bis zur Uneindeutigkeit ihrer Bestimmung führen können. Gerade darin liegt die Spannung begründet. Es existiert nicht die Schattengrenze, gleich einer bestimmbaren Linie, einer scharfen harten Trennung, sondern die Schattengrenze ist in ihrer Möglichkeit der Beschreibung, eine Offenheit, abhängig von der Abstandsrelation zu ihr. Sie entwickelt sich und erfährt ihre Bestimmung durch ein Mannigfaltiges, durch den Abstand des Körpers zum Grund, durch den Grund, durch die Qualität des Lichts sowie durch andere Körper, die sich dem Licht als Reflexives anbieten. Die Grenze des Schattens ist eine durch70 | Barrie, James Matthew / Peter Hollindale [Hrsg.] »Peter Pan in Kensington Gardens – Peter and Wendy« Oxford: Oxford Press 2008. 71 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich »Wissenschaft der Logik I. Die objektive Logik, 1, Das Sein (1812)« Hamburg: Meiner 1999 S. 88.

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lässige, relative, dynamische, die gleichsam wie ihr Bestimmendes ständig einer Veränderung unterworfen ist. Die Grenzlinie, der Rahmen des Schattens, zeigt sich als Vages, dem die Möglichkeit einer Übertretung sowie einer Öffnung und einer relativen Bestimmbarkeit inhärent ist. Zunächst einmal wird die Ausdehnung seines Übergangs, gleichsam eines Schwellenraumes, wahrnehmbar. In Annäherung des Blickes, erscheint nur noch ein Helligkeitswert als vorhandener. Er steht stets in Relation zu anderen. »Bezogen heißt Etwas, wenn es als das, was es ist, als an einem andern seiend, ausgesagt wird oder sonst wie in Bezug auf ein anderes.« 72 Innerhalb der Grenzen des Schattens bewegt sich gleichermaßen das Begreifen, das sich bis zu seiner Grenze bewegt, indem »sein vollendetes Sichbegreifen« »eben das Begreifen dieser Grenze« ist.73 Es ist die Bestimmung eines Innerhalb als Teil der Form und Teil des Selbst, das sich außerhalb zeigt. Im Innerhalb tritt uns das bestimmte Unbestimmte des Schattens gegenüber – als Loch, Fehlstelle oder als Verdichtung im Sichzeigen. Es ist einerseits das dunkle verschattete Bild, die Summe aller Bilder,74 andererseits ist es Loch im Licht.75 Seine Bestimmung erfährt es durch sein Beziehungsgeflecht und durch die Richtung des Blickens. Es ist Leerstelle und Potenzierung in einem und bietet sich als Bühne wie als Interpretationsraum dar. Der Schatten ist Abstraktion der Leere und Fülle zugleich.

Außen »Das Begrenzte entsteht aus dem Eintreten der Grenzen ins Grenzenlose. Mit dem Grenzenlosen schwindet aber auch das Übermaß, und Harmonie stellt sich ein.« 76 So wie die Grenze als Unbedingtes Beschreibung erfährt, so trifft dies gleichsam für die Existenz des Schattens zu. Er ist Unbedingtes, um Licht einen Raum zu geben, um ihm gleichsam diesen wieder zu nehmen. Er ist existenzielle, notwendige Erscheinung. Durch Schatten wird Licht erst wahrnehmbar und beschreibbar. Er ist Relation, die sich in einem unauflösbaren Dualismus mit ihm verbunden zeigt. Die Grenze verweist aus sich heraus auf 72 | Aristoteles »Organon« Berlin: Holzinger 2013. Leipzig 1876, S. 15-21 Kapitel 7. 73 | Fichte, Johann G. Bd 2 »Quellen der Philosophie Texte und Probleme Wissenschaftslehre« Vittorio Klostermann 1966 S. 59. 74 | Vergl. Kasimir Malewitsch »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund« 1915 in Fludd, Robert »Metaphysik und Natur- und Kunstgeschichte beider Welten, nämlich des Makro- und des Mikrokosmos«1617 Fludd, Robert / Müller, Ulrich [Hrsg.] »Joseph Beuys. Parallelprozesse. Archäologe einer künstlerischen Praxis.« München: Hirmer 2012, S. 28. 75 | Vergl. Baxandall, Michael »Löcher im Licht. Der Schatten und die Aufklärung« München: Fink 1998. 76 | Konersmann, Ralf »Wörterbuch der philosophischen Metaphern« Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2007 S. 137.

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dasjenige, was jenseits ihrer liegt. Das von ihr eingeschlossene Dunkel verweist auf ein ausgeschlossenes Helles. In vorliegenden Fall zeigt sich die Grenze als Begrenzung, als Abgrenzung, als Einschließendes im Ausgeschlossenen. Sie verweist auf eine mögliche Durchlässigkeit, die es auszuhandeln gilt. Im Blick bleibt die Innen-außen-Grenze als Öffnung zur Welt wie zu Aspekten einer Andersheit. Gleichsam einer Erfassung des Innerhalb, des Schattens, wird das Außen erfasst, das die Subjekt bestimmten Innengrenzen in Außengrenzen überführen kann. Die Grenze ist nicht mehr die Selbstbegrenzung des Ich, sondern wird zu einer qualitativen Beziehung zur Außenwelt. Außerhalb des Schattens, außerhalb seiner Grenze, wird zum Innerhalb, gleichsam wie zum Außerhalb. Das Außen tritt als Innen auf und beschreibt das vormals Innere als Außen. Es wird bestimmt durch eine Position der Wahrnehmung wie auch durch eine Position im Innen wie im Außen, gleichsam einer Position des Davor. In dem Davor ist die Position des Außen, des Nicht-innerhalb als Teil eines Beziehungsgeflechts angelegt. Es ist nicht die Position des Im-Licht-Stehens oder des Im-Schatten-Seins, sondern die Position des Davor, des Außerhalbseins. Es ist eine Unentschiedenheit, die eine andere Beschreibung vollziehen muss. Der Randbereich des Schattens ist eine Verhältnisbestimmung zum Körper hin, in der Bestimmung seines Erlebens, eine Bestimmung vom Körper weg. Die Schattengrenze bestimmt durch ihr Außen, durch ihre beleuchtete Fläche, das Innen wie die Grenze als solche auf eine spezifische Art und Weise. Im Außen existiert nicht nur das Helle, sondern gleichsam im hellen Außen existiert der Körper, der den Schatten erst entstehen lässt. Er ist Teil des Außen wie auch Teil des Innen, indem er als außen liegender in den Raum des Schattens unweigerlich hineinragt. Der Körper wird zur Grenze, da er Teil des einen wie des anderen, Teil im einen wie Teil im anderen, ist. Er erfährt eine Teilung in Licht- und Schattenbereiche. Festzustellen ist, dass ohne dieses Außen kein Innen möglich wäre, dass der Schattenbereich als solcher nur existent ist gegenüber seinem Außen, das hier als Betrachtung im Licht vollzogen wird.

Dazwischen Die Grenze des Schattens ist, wie sich zeigt, an sich keine Grenze, sondern eine Form des Übergangs, ein Schwellenraum. Das, was zunächst als Trennung von Licht und Schatten erschien, qualifiziert sich beim Annähern durch Dehnbarkeit wie Durchlässigkeit. Im Sich-auf-die-Grenze-Zubewegen verliert diese ihre Begrenztheit und wird zu einem Dazwischen, zu einem Übergang, zu einem Verlauf von – nach. Es zeigt sich der Zustand einer permanenten Möglichkeit des Übergangs, wobei unerheblich ist, was in was überzugehen scheint. Es ist eine Durchdringung des einen durch anderes, eine Verschlingung von Licht, gleichsam eine Verschlingung von Schatten und Welt. Licht geht in Schatten über wie Schatten in Licht. Es ist der Vollzug des einen im

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anderen, eine Kopplung von Licht und Schatten an einem Übergang, der auf ein Entweder-oder verweisen will. Im Nichtkönnen, in dessen Nichtbestimmen, erscheint der Übergang als transitorischer Ort. Er ist bestimmt durch seine Unbestimmtheit, durch sein ephemeres, durch sein multiples Werden. Dieser Übergang beschreibt einen Ort des transitorischen wie einen Ort des Etwas-unter-sich-, des Etwas-hinter-sich-Lassens. Übergang meint, etwas überschreiten – etwas anderes übergehen, vernachlässigen. Sich in einem Prozess des Übergangs befinden heißt losgegangen und noch nicht angekommen sein. Eine Position nicht nur des topologischen, sondern auch eine Position eines chronologischen Dazwischen – eines Schwebezustandes, der immer noch im Werden, im Sichkonstituieren, im Zur-Form-Werden, in seiner Bildung begriffen ist. Der Prozess des Übergangs ist immer etwas in Bewegung Seiendes, mit dem Charakter eines Noch-nicht. Er ist noch nicht Festgelegtes, was ihm als Bedingung eingeschrieben ist. Der Rand des Schattens ist gleichsam wie er selbst eine Form des Werdens. Er ist ständige Veränderung und kann nie Gleiches sein, da er in einem Beziehungsgeflecht von mannigfaltigen Bestimmbarkeiten eingewoben ist. Seine Existenz aktualisiert sich stetig im Prozess des Werdens, durch unstete Bewegungen wie unstete Bestimungsverhältnisse des Lichts. Die Qualität des Schattens liegt darin begründet, sowohl eine Instanz des Lichts als auch eine Instanz des Schattens zu sein. Im Schatten trifft das Ich auf sich selbst. Die Grenze, die zwischen ihnen verläuft, ist eine Grenze des Übergangs, der Differenz zwischen Innen und Außen. Der Schatten ist sowohl eine Instanz des Ich als auch eine Form des Übergangs. Er beschreibt einen Übergang vom Materiellen zum Nichtmateriellen, vom Körper zum Leib. Er ist eine Struktur, die als Individuelles und zugleich Kollektives erscheint, die jede Körperlichkeit bestimmt. Er ist im bestimmten Sinne Übergangsfigur. Er ist etwas, was sich zeigt, auf einen Körper verweist und als Ephemeres angelegt ist. Das Ich stellt sich an dieser Stelle in Frage. Es ist ihm an dieser Stelle gegeben, sich als anderes zu begreifen. Die Schattengrenze ist wie ein Innen und Außen immer nur ein Mögliches in Bezug zu etwas. »Es gibt die absolute Gewissheit der Welt überhaupt, doch nicht für irgend etwas in Sonderheit.« 77 Es gibt den Schatten an sich nicht, denn der muss immer schon bedeutungsbeladen und an eine Orientierung geknüpft sein. Er ist als solcher immer mitbestimmt von Interpretations mustern, von der Beziehung zu etwas, wie hier seinen Rändern, seinem Innen wie seinem Außen, wie von dem, was an seine Ränder stößt, ihn mitbestimmt, auf ihn verweist. So, wie er auf etwas verweist, wird auf ihn verwiesen. Er ist nur erkennbar und existent in einem Beziehungsgeflecht, das Welt konstruiert. Die Grenze am Rande des Schattens verweist immer auf etwas außerhalb ihr Liegendes, auf das Licht, auf eine Körperlichkeit. 77 | Merleau-Ponty, Maurice »Phänomenologie der Wahrnehmung.« München: de Gruyter 1974 S. 346.

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Es gibt nicht die Schattengrenze an sich. Eine Grenze verweist immer auf die Möglichkeit einer Differenz, einer Veränderung, eines Wandels, eines Bruchs. Im Abstand zur Grenze ändert sich diese als Wahrnehmbares. Indem wir auf die Schattengrenze zugehen, verläuft sie sich. Sie zeigt sich als Übergang, als Dazwischen, als zwischen Licht und Schatten Liegendes – sie ist verbindendes Dazwischen. Sie ist Licht und Schatten, Teilhabe des einen wie des anderen. Im Sichentfernen, im Zurücktreten von ihr scheint sie sich zu konkretisieren. Der Unterschied von Licht und Schatten scheint bestimmter zu werden, sich bestimmter zu artikulieren. Zusammenfassend kann hier also gesagt werden: Eine Grenze am Rande des Schattens existiert nicht. Sie erscheint nur als solche, indem wir sie aus einem angemessenem Abstand als solche wahrnehmen, sie erwarten. Diese Grenze ist ein Übergang, der auf Licht und Schatten wie auch auf uns als Wahrnehmende und Schattengebende verweist. Sie wird enger und weiter, analog zur Qualität des Lichts, das sie bestimmt, wie auch enger und weiter, in Analogie zum Abstand, den das Subjekt und die Projektionsfläche zu ihm einnimmt. So, wie ein Schatten nicht ohne Bezug zu etwas sein kann, so verhält sich die Grenze als solche ebenso. Die Grenze des Schattens ist vordergründig eine bestimmte, festgelegte. Bei Annäherung wird sie zur möglichen Setzung, die von der Position des Wahrnehmenden seine Bestimmung erfährt. Sie kann als ästhetisches Moment verschiedene Formen einnehmen: Übergang, Schwelle, Rahmung, Randerscheinung. Sie wird durch ihr Beziehungsgeflecht, in das sie unhintergehbar eingebunden ist, bestimmt. Sie beschreibt nicht den Modus der Unüberschreitbarkeit, sondern den Modus der Verbundenheit, Trennung und Verbindung fallen hier in eins.

D er S chat ten – F igur des Ü bergangs »Das Auge registriert Neues, wenn der Begriff noch im Raster des Alten versteht.« 78 Der Begriff Übergang steht für Grenzübertrittstelle, Brücke, Furt, Gebirgspass, Passage, Schwelle, Wechsel, Straßenquerung, Veränderung, Wandlung, Transition, Transitstrecke, Zwischenspiel, Überführung. Was sich in der Nennung zeigt, ist die enge Korrespondenz zu den Begriffen Raum und Zeit. Der Begriff Übergang steht als beschreibendes Element für transitorische Orte. Dies sind Orte, die ausschließlich als temporärer Aufenthalt, als Orte des Durchgangs, der Veränderung und des Wandels Bestimmung erfahren. Übergänge sind Verhältnisbestimmungen zwischen Raum, Zeit und Subjekt. Nur mit einer bestimmten Dauer kann der Übergang als solcher von einem Raum in einen anderen vollzogen werden. Dauer meint hier im eigentlichen Sinne 78 | Zitathinweis auf Hans-Thies Lehmann in Fuder, Dieter »Janus Jetzt« in »Der Architekt« Heft 5/1987 Stuttgart: Forum-Verlag 1987 S. 257 Mai 1987.

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einen gewissen Zeitraum, in dem der Übergang Vollzug erfahren kann. Dieser Zeitraum ist vorerst ein unbestimmter. Es ist der Ausgangspunkt im Raum und in der Zeit, den wir als Ursprungsort des Handelns ausmachen können. Der Übergang als solcher ist ein Mannigfaltiges. Er kommt als Sprung über den Graben daher, wie ihn Lessing und Kirkegaard thematisieren. »Ganz nahe an etwas gewesen zu sein hat schon seine komische Seite, aber ganz nahe daran gewesen zu sein, den Sprung zu machen, ist überhaupt nichts, gerade weil der Sprung die Kategorie der Entscheidung ist.« 79 Was hier als Bestimmungsverhältnis beschrieben wird, ist nicht nur der Übergang als solcher, sondern sind seine grundlegenden Gegebenheiten. Für Kirkegaard ist ein zentrales Moment der Moment des Zögerns, beim Sprung über den Graben – das Zögern, bevor der Übergang Vollzug erfahren kann. Es ist ebenso die Distanz einer Nähe zu etwas, was die Form des Übergangs als Mögliches beschreibt – das Ganz-nah-dran-gewesen-Sein. Den Übergang wahrgenommen zu haben und ihn aber trotzdem nicht wahrgenommen zu haben, indem er nicht vollzogen worden ist. Beim Sprung über den Graben, wie Kirkegaard sich auf eine Passage von Lessing80 bezieht, scheinen einzelne Passagen des Übergangs auf, die diesen grundlegend beschreiben. Zu der räumlichen und zeitlichen Nähe und dem Zögern stellt sich die Frage nach dem Übergehen von etwas. Übergang meint eben auch immer, etwas zu übergehen, etwas unter sich zu lassen, es im Transit zu berühren, jedoch nicht in ihm zu verharren. Etwas als Querungshilfe zu benutzen oder etwas zu überschreiten. Was bei Lessing der »garstige breite Graben«81 ist, ist bei Walter Benjamin der Begriff der Schwelle. Es ist der Ort des Übertritts, der Ort des Dazwischen, der zukünftigen Vergangenheiten. Auch bei ihm tritt als Signifikation das Dazwischen im räumlichen und im zeitlichen Sinne auf. Diesem inhärent ist ein Davor und ein Danach als Gegenwart des Vergangenen und als Gegenwart des Zukünftigen. Gegenwart und Zukunft als solche sind so nicht existent, nur unter der Bedingung, Vergangenes und Zukünftiges dem Gegenwärtigen als Koexistenzielles gegenüberzustellen. Der Ort des Übergangs beschert eine Öffnung für Neues, in dem das Zurückliegende gleichermaßen eingeschrieben bleibt. Im Neuen bleibt Altes als Anwesendes erhalten, es ist nicht absent, sondern erfährt eine Maskierung. Würde ein Verharren an dem Ort des Übergangs geschehen, so wäre dies die Möglichkeit, seine Janusköpfigkeit wahrzunehmen, im Gegenwärtigen das Vergangene wie auch das Zukünftige zu erblicken, gleichermaßen eine lineare Bewegung von Zeit und Raum wahrnehmen zu können, indem der Moment des Verharrens auf einer Tangente von Raum und Zeit geschieht. 79 | Kierkegaard, Søren »Gesammelte Werke« Teil 1 Düsseldorf: Diederichs 1957 S. 91. 80 | Lessing, Gotthold Ephraim »Gotthold Ephraim Lessings Sämmtliche Schriften. Neue rechtmässige Ausgabe« Band 10 Berlin: Vossische Buchhdlg. 1839 S. 4, 6. 81 | Ebd.

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Janus tritt auf als mythischer Gott der Antike, als Gott der Tore, Durchgänge und Brücken, als Gott der Zeitschwelle, immer mit Blick auf das Vergangene und mit Blick auf das Zukünftige. Dieses Blicken, dieses Im-Übergang-Sein, dieses Den-Übergang-Vollziehen, ist etwas, was nach Walter Benjamin bedroht und mit dem Verlust von Schwellen beschreibbar ist. »Rites de passage – so heißen in der Folklore die Zeremonien, die sich an Tod, Geburt, an Hochzeit, an Mannbarwerden etc. anschließen. Im modernen Leben sind diese Übergänge immer unkenntlicher und unerlebter geworden. Wir sind sehr arm an Schwellen erfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist. (Aber damit auch das Erwachen.) Und schließlich wogt wie der Gestaltenwandel des Traums über Schwellen auch das Auf und Nieder der Unterhaltung und der Geschlechter wandel der Liebe [...] Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ [...]« 82

Die »Rites de passage«, die Übergangsriten, sind die Zeremonien, die die »Schwellenangst« nehmen, die einen Ritus für den Übergang schaffen und diesen kulturell konstituieren. Das Zögern Lessings vor dem Sprung erfährt eine Rahmung in einer Zeremonie, mit der der Übergang weltlich, bestimmbar und kalkulierbar wird. Laut Arnold van Gennep haben diese Riten die Funktion die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens zu kontrollieren, abzuschwächen und die Ordnung einer klar strukturalisierten Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Rituale sind für van Gennep soziale Notwendigkeiten.83 Walter Benjamins Übergangsfigur der Schwelle haftet dies als etwas Festgefügtes ebenso an, festgefügt an einem bestimmten Topos, architektonisch wie auch kulturell gesehen. »Anderseits ist notwendig, den unmittelbaren tektonischen zeremonialen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht.«84 Um im kulturellen Rahmen zu bleiben, ist der Akt des Zeremoniellen etwas, was im Verschwinden begriffen ist, was jedoch das Zukünftige bestimmt, weil es immer noch in der zukünftigen Gegenwart mitschwingen wird und um mit Arnold van Gennep zu antworten, sind Zeremonien soziale Notwendigkeiten, die für die Ordnung einer strukturalistischen Gesellschaft unabdingbar sind. Es wird einmal gewesen sein, wird immer aus einer Ferne, so nah sie auch scheinen mag die zukünftige Gegenwart mitbestimmen. Der Übergang ist eine Form des Dazwischen, ein 82 | Benjamin, Walter »Das Passagen-Werk« in: »Gesammelte Schriften« Band V, Frankfurt/M: Suhrkamp 1982 S. 617f. 83 | Van Gennep, Arnold »Übergangsriten« Frankfurt/M; New York: Campus-Verlag; Paris: Edition de la Maison des Sciences de l’Homme 2005. 84 | Benjamin, Walter »Das Passagen-Werk« in: »Gesammelte Schriften« Band V, Frankfurt/M: Suhrkamp 1982 S. 617f.

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transitorischer Ort der zwischen Verlassen und Ankommen liegt. Es ist ein Ort der Bewegung, des Unsteten, des Unbestimmten. Es ist ein Ort der Wagnis, der einen Riss im Jetzt als Mögliches erscheinen lässt. »Der Übergang ist mithin auch der transitorische Ort, an dem sich das Unverhoffte, Ungewöhnliche ereignen kann.«85 Dieser Riss bietet sich als Furt, als Möglichkeit einer Veränderung und ist gleichermaßen Veränderung. Diese Furt zu beschreiten ist sowohl ein möglicher Akt subjektiver Selbstbestimmung, als auch Akt passiven Handelns. Übergänge werden als solche bestimmt und größtenteils als Gegebenheiten passiv erfahren. Es passiert. Im Übergang sein findet innerhalb davon als Prozess der Selbstwahrnehmung an sich nicht statt. Es ist das Im-Übergang-gewesen-Sein, was sich im Danach als reflexives Moment zeigen kann. Der Übergang als Ort des Dazwischen beschreibt gleichermaßen ein Mögliches an Unsicherheit wie Verletzbarkeit. Im Übergang sein, ist ein Wagen, ein Sich-auf-unsicherem-Gebiet-Bewegen, es heißt, seine Position preiszugeben, an der man sich bisher befand. Es ist das bewusste wie auch unbewusste Verlassen eines sicheren Bekannten, um sich etwas Unbekannten zuzuwenden, das sich in einer unbestimmten Ferne als Schemenhaftes zu zeigen beginnt. Im Übergang sein bedeutet keine feste Position eingenommen haben, nicht situiert, nicht festgelegt sein. Es ist eine Form der Bewegung. Es ist ein Fluidum, dessen Resultat das Werden und nicht das Ankommen ist. Im Übergang sein heißt einen prozessualen Akt der Bewegung im Inneren wie im Äußeren vollziehen. Im Übergang sein meint, in einem prozessualen Werden verhaftet sein und durch dieses bestimmt werden. Der Übergang an sich beschreibt zu allererst das Hinübergehen, das Dazwischen und nicht das Ankommen. Der Schatten als Figur des Übergangs beschreibt dieses Werden, dieses unstete sich nicht Konstituierende, dieses Suchende und Findende. Und nicht nur das. Der Schatten ist gleichermaßen der Übergang zwischen Tag und Nacht, zwischen gestern und morgen, zwischen hier und da, zwischen Materialität und Transzendenz. Er ist weder das eine noch das andere, eher das eine im anderen. Er ist Dunkelheit und Licht. Verfolgt man diesen Gedanken, den Schatten als ein Dazwischen weiterzudenken, denkt man unweigerlich an etwas dazwischen Stehendes. Er ist derjenige, der zwischen mindestens zwei Dingen steht, deren interdinglichen Kontakt hemmt – das eine kommt nicht zum anderen, da der Schatten zwischen ihnen steht. Er ist ebenso eine Figur der Hemmung und des Verwehrens. Letztendlich und in seiner grundlegendsten Beschreibung ist der Schatten die existenzielle Beschreibung von Werden und Vergehen. Er ist Übergang zum Leben wie auch Übergang zum Tod. Er kommt zur Welt, wie er auch wiederum die Welt verlässt.

85 | Görner, Rüdiger »Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen« Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2001 S. 9.

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B estimmungsverhältnisse Im Miteinander von Schatten – Objekt – Subjekt gibt es außerhalb einer Bewegung des Zueinander eine Bewegung des Füreinander, des Miteinander sowie Positionen der Aktiva und Passiva. Der Schatten wird sowohl als aktive wie auch passive Entität beschrieben. Er legt sich auf etwas, er fällt auf etwas, er erscheint, er zeigt sich, er bewegt sich, er spendet Kühle, er gibt Schutz. Es scheint, als ob ihm eine Intention gegeben sei, als ob er Entscheidungen treffen, einen Akt des Wollens vollbringen kann. Er evoziert dies in Form einer Subjektivierung, und das nicht nur im grammatikalischen Gebrauch. Die Form der Subjektivierung impliziert im Akt des Prozesshaften den grundständigen Charakter des Werdens. Dieses Werden ist der eigentliche Kern, die zentrale Bewegung. Es ist nicht das Produkt, das Ergebnis, das an Bedeutung überwiegen muss, sondern das mannigfaltige, sich stetig im Wandel befindende Dazwischen. Das Noch-nicht sowie die Möglichkeit des Seins stehen hier als zentrale Begriffe im Raum. Es ist scheinbare Subjektwerdung als für ein aus sich selbst heraus entwickelndes Geschehen, wovon ausgehend Prozesshaftigkeit und Veränderlichkeit zu deuten möglich sind. Dem Werden inhärent ist der Vollzug von: »Bewegung, Entwicklung, Veränderung über die Kategorien von Ruhe oder Diskontinuität. Das als Werden bezeichnete Leben, das intuitiv als Wesen und als reine, innere Dauer der Dinge verstanden wird, ist die höchste Form des Erkennens und des Erkennbaren. Es gibt nur werdende, sich verändernde Dinge, d.h. Materie und Geist existieren nie als fertig Gewordene.« 86

Der Schatten unterliegt analogen Prozessen. Er konstituiert sich nicht aus einem Nichts in ein Etwas, sondern im prozesshaften Erscheinen in ein bestimmtes Unbestimmtes. Er steht nicht für ein aus sich heraus entwickeltes Geschehen, er ist nicht Subjekt, sondern erscheint als Form eines solchen. Er tritt als scheinbar Autonomes auf, was seine Bedingtheit als nachrangiges in den Hintergrund fallen lässt. Es ist für den Schatten spezifisch, dass dieser mithilfe von Zwischenräumen zu einer Entität der Aufmerksamkeit gelangt. Der prozesshafte Charakter des Werdens ist für ihn ein schwerwiegender als sein Sein als solches. Im Erscheinen, im Schatten-Werden, liegt eine tiefere Bedeutsamkeit als im Schatten-Sein. Es ist nicht die Frage nach der Materialität des Schattens, nach seiner Form, nach seiner Wirkursache, die sich hier stellt, sondern nach dem Ding an sich, das die Sinne und Empfindungen des Betrachters als wahrnehmendes Wesen erscheinen lässt und ihn zu einem 86 | Ritter, Joachim »Historisches Wörterbuch der Philosophie« Basel: Schwabe 2010 Bd. 12, 547 mit einem Verweis auf Bergson, Henri »L’évolution créatrice« Paris 1907 272f.298-314; La pensée et le mouvant Paris 1934 30f. 138f.

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Akt des Bestimmens nötigt. Es geht um das Bestimmen der Erscheinung und gleichermaßen um das Bestimmen des Selbst. Wenn wir die Frage nach dem Sein stellen, so liegt neben dieser unmittelbar die Frage nach dem Sinn, nicht die Frage als solche, sondern die nach der Sinnhaftigkeit, in unserem Sinne nach der des Schattens. Welcher Sinn ist diesem gegeben? Welche existenzielle Grundlage bietet sich ihm? Um es mit Jochen Hörisch87 zu sagen:, Wir stellen die Frage nach der Ontosemiologie, zum einen nach dem Sein und dem Warum-nicht-sein, zum anderen nach der Bedeutung des Sinnes. Es ist etwas Menschliches, nach Bedeutungen zu suchen, nach einem Warum, nach einem Wofür, nach einem Sinn, nach einer Rechtfertigung von Existenz sowie nach einem Warum-nicht. Warum gibt es einen Schatten und warum nicht nicht? Welche Bedeutung, welchen Sinn stellt der Schatten dar? Ist er indexikalischer Verweis auf ein Noch-nicht, auf ein Werden, das uns als Andeutung erscheint, oder ist er Irritierung, Fehler im System? Ist er eine Zuhandenheit, die für uns noch nicht geklärt werden kann, oder ist er eine natürliche, künstlerische Intervention, die den Tag als solchen von der Nacht trennen und uns diffus erleuchtete Tage einer melancholischen Mittelmäßigkeit ersparen will. Das Tier hat den Schatten als Nützliches, als Sinn gebendes antizipiert. Die Honigbiene interpretiert ihn auf ihre eigene Art und Weise, indem sie ihn zur Hilfsmarke macht, die für sie zu einer bedeutenderen Orientierungshilfe wird als die Marke selbst.3 Sie benutzt den Schatten, ordnet ihm eine Bedeutung zu, die unweigerlich an Platons Höhlengleichnis erinnern mag. Der Blick nach dem Schatten, zum Schatten hin, verstellt den Blick aufs Wahre, das Erkennen einer Sache an sich wird ausgeblendet. Der Schatten einer Marke erfährt hierbei größere Bedeutung als die Marke selbst. Sie wird zur Orientierungshilfe. Die Marke88 selbst ist nur Gebendes und steht im Bedeutungsrang nicht mehr an erster Position, sie ist zwar Bedingtheit, aber ohne die Möglichkeit eines erscheinenden Schattens ist sie nicht lesbar. Wem blicken wir nach, wenn wir in den Schatten sehen, unserem Schattenbild gegenüberstehen? Ist es ein Phantom, eine Luftspiegelung, gleich einer Fatamorgana, oder ein Geist, den der eigene Geist hervorruft? Ein Simulakrum als wirkliches oder vorgestelltes Etwas, das mit einem oder etwas anderem verwandt oder ihm ähnlich ist. Ähnlich dem anderen sowie ähnlich dem Selbst. Das Verwandschaftsverhältnis gilt es zu bestimmen. Es entbirgt ein Mögliches, wenn wir über den lateinischen Ausdruck »simulacrum«89 blicken. In diesem finden sich Bedeutungen eines 87 | Vergl. Ontosemiologie in: Hörisch, Jochen »Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien.« München: Hanser 2009. 88 | Hoefer, Inge / Lindauer, Martin »Der Schatten als Hilfsmarke bei der Orientierung der Honigbiene« Journal of Comparative Physiology doi:10.1007/BF00612673. 89 | Vergl simulācrum: Ebenbild, Abbild, Bildnis, Spiegelbild, Schattenbild, Traumbild, Gespenst, Vorstellung, Nachbildung, Trugbild, Phantom, Schein, mit dem Nbbgr. des

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Dualismus, der dem Schatten spezifisch ist. Zum einen existiert der Verweis auf die Bedeutung im Sinne eines trügerischen Scheins, eines Täuschenden, eines Vortäuschenden, eines Als-ob. Zum anderen enthält er einen Verweis, der im Rahmen eines Konzepts produktiver Phantasie verstanden werden kann und auf Bereiche des künstlerischen Schaffens verweist, in denen die Abbildfrage Thematisierung findet. Es existiert der Bezug zum Abbilden wie zum Vorbilden. Enthalten sind ebenso die Begriffe des Phantoms, des Traumbilds, des Charakterbilds. Der Schatten bewegt sich in beiden Bereichen, in dem des Abbildhaften wie in dem des Bildes einer Vorstellungskraft. Er ist kein Absolutes, sondern ein Sowohl-als-auch. Er bewegt sich zwischen sozialer Konstruktion und objekthaft scheinender Welt. Der Schatten steht in einem Bestimmungsverhältnis der strikten Interdependenz mit beiden. Dinglichkeit erfährt durch die Möglichkeit des abfallenden Schattens eine Form von Anwesenheit – sprich: ein Ding, das einen Schatten wirft, muss in der Welt, muss real materiell existent sein. Der Schatten als Mittel einer Beweiskraft, im Sinne von etwas ist anwesend im Hier und Jetzt. Der Mensch in seinem Dasein ist aufeinander eingestellt und angewiesen, was den Begriff der sozialen Interdependenz ausmacht. Er ist jedoch gleichermaßen auf die Welt an sich eingestellt und angewiesen, welches den Begriff der globalen Interdependenz füllt. Wenn dies zutrifft, trifft die wechselseitige Abhängigkeit und Bedingtheit von Wirklichkeit und Mensch zu sowie die Frage nach einer oder mehreren Wirklichkeiten. Zum einen ist es die Wirklichkeit der uns umgebenden Dinge und naturwissenschaftlichen Sachverhalte, wozu der Schatten als physikalische Erscheinung unweigerlich zählt. Es geschieht etwas Offensichtliches, wenn unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Beobachtungssituationen den Schatten als sichtbare Erscheinung beschreiben. Die Beschreibungen werden einander in ihrer Ähnlichkeit sehr nahe sein. Grundlegend anders verhält es sich, wenn zwei Menschen über den Begriff des Schattens sprechen und seine Erscheinung abwesend ist. In diesem Fall gibt es verschiedenartige Sichtweisen und unterschiedliche Bedeutungszuweisungen im Seinsrang. Das Vorstellungsbild prägt diese Beschreibungen erheblich und verweist auf den Schatten als offenen Interpretationsraum. Das Verhältnis des Menschen zum Schatten ist ein existenzielles. Der Mensch nimmt seinen eigenen Schatten wahr, er nimmt dadurch sich, seine Existenz, seine Anwesenheit in der Welt wahr. Ein Mensch ohne Schatten in einer Welt erzeugender Schatten kann nicht als existent beschrieben werden. Menschen, die blind geboren worden, können diese Erscheinung nicht oder bedingt wahrnehmen. Sie können ihren eigenen Schatten, sich nie sehen und sind auf Beschreibungen angewiesen. Dieses Sich-nicht-sehen-Können erWesenlosen = der Schatten Georges, Karl Ernst »Ausführliches lat.-dt. Handwörterbuch« Darmstadt: Wiss. Buchges. 1995 Band 2, Sp. 2677-2678.

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weitert das Wahrnehmungsbewusstsein auf eine andere Art und Weise. Was passiert mit einer menschlichen Entität, die sich ihrer nicht bewusst werden kann, in dem es ihr nicht gegeben ist, sich wahrzunehmen, in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Welt treten zu können? Das Erkennen von Welt, von sich, das Wahrnehmen einer Realität, einer Wirklichkeit, ist von der Möglichkeit des Erkennens der Wahrnehmbarkeit von Welt abhängig. Ist das nicht der Fall, so ist es eine Möglichkeit einer Innerlichkeit einer anderen Wirklichkeit, die gegeben ist. Es besteht die Möglichkeit, dass Wahrnehmung nicht die einer Simulation von Wirklichkeit und die Wirklichkeit an sich eine große Leere ist, die in Form von Wahrnehmungsmustern gefüllt wird. Das Bild der Welt mit ihren optischen Gegebenheiten wird erzeugt an der Rückseite des Augapfels, interpretiert im Gehirn und kommt als Vergleich zu uns. Wir erkennen etwas, indem wir etwas wiedererkennen, was als Bild, als Erfahrung in einem Speicher, einem Archiv, einer Datenbank abgelegt worden ist und auf ein Resaerch wartet. Wenn wir die Augen schließen, sie zur Welt hin schließen, öffnen wir sie zu uns hin. Wie nehmen wir Welt war, wenn sie uns nicht berühren kann, wenn sie nicht erfassbar ist? Den Körper als Eigenes, als autopoetisches System, wahrzunehmen, bedingt die Möglichkeit des Erfühlens, des Ertastens, des Aussendens von Informationen vom eigenen Körper aus. Der Schatten tritt als Teil des eigenen Körpers in einigen ethnografischen Beschreibungen auf. »In diesen Geschichten verhält sich der Schatten wie ein wichtiger Körperteil, etwa das Herz, und muss folglich geschützt werden.«90 Bei der Klärung der Frage, ob der Schatten eine Art Körperteil oder eine Instanz des Körpers ist, können wir auf Befragungen zurückgreifen. Bei Piaget91 erscheint der Schatten als subtiles und fantasievolles Gebilde, das sich über die Zeit der Kindheit verändert. Das rationale, pragmatische Denken und Bestimmen übernimmt die Oberhand und drängt den Schatten als theoretisches Objekt zurück. Er taucht in dieser Form erst wieder als künstlerische und poetische Intervention sowohl in Werken der darstellenden Kunst als auch in Werken der Literatur und angrenzender Bereiche auf. Als grundlegendste Intervention und Bezugsquelle ist »Peter Pan«92 zu nennen. Ein Junge, der nicht erwachsen werden will und kann, mit einem Schatten, den er von einem Hund abgebissen bekommen hat, der ihn in einer Schublade wiederfindet und der ihm von einem bezauberten Mädchen namens Wendy wieder angenäht werden kann. Die Positionen des Füreinander und die des Miteinander sind 90 | Casati, Roberto »Die Entdeckung des Schattens: Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung« Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003. 91 | Piaget, Jean »The Child’s Conception of the World: A 20th Century Classic of Child Psychology« Rowman & Littlefield; New edition 1975. 92 | Vergl. Barrie, James Matthew / Peter Hollindale [Hrsg.] »Peter Pan in Kensington Gardens / Peter and Wendy« Oxford: Oxford Press 2008.

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um Potenzen spannender. Das Füreinander bedingt die Vorhandenheit von mindestens zwei Entitäten, es beschreibt ein Einer-für-den-anderen-Sein, ein Dasein, ein Mitsein. Es ist die gegenteilige Entsprechung eines egoistischen Einzelnen, für ein In-Wechselwirkung-Treten, für ein Mitsein, ein Miteinander, die Sorge an sich und für sich.

K opr äsenz – M itsein »Das Sein kann nur als Mit-einander-seiend sein, wobei es im Mit und als das Mit dieser singulär- pluralalen Ko-Existenz zirkuliert.«93 Der Schatten ist eine Form des Mitseins und kann im Grunde genommen nicht Singuläres sein, sondern ist stets an ein Beziehungsgeflecht, an ein anderes gebunden. »Es gibt kein für sich existierendes Einzelnes«94, dies gilt nicht nur für den Begriff des singulären Nicht-sein-Könnens, wie in Nancys Beschreibung von Gemeinschaft, sondern ebenso für den hier zu untersuchenden Begriff des Schattens. Er ist nicht das Gegenüber, das sich außerhalb des Subjektes positioniert, sondern er erzeugt eine besondere Subjekt-Welt-Figuration, indem er als Präsenz und Absenz erscheint. In dieser ihm besonderen Gegebenheit ist er Teil eines Verflechtungszusammenhangs und steht in wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehungen. Der Schatten ist stets eine Form von Dependenz und verhält sich zu etwas. In erster Instanz ist dies sein Verhalten zum Subjekt.95 Dies ist keine einseitige Verhältnisbestimmung, sondern eine interdependente Beziehung. So, wie der Schatten sich mit dem ihm wahrnehmenden Subjekt in einer Wechselwirkung befindet, geschieht dies in einer rekursiven Bewegung. Das Subjekt erfährt durch den Schatten eine Bejahung, eine Vergewisserung im Sein. Indem ich meinen Schatten an der Wand sehen, verfolgen kann, versichere ich mich meiner. Bewege ich mich, so folgt mir mein Schatten. Indem ich meinen Schatten sehe, sehe ich eine Instanz des Mich. Blicke ich aus der Position, dieser Instanz, so stellt sich die Frage, wer Verfolgter und wer Verfolgender ist. Ich verfolge meinen Schatten, mit dem Auge, dem Blick, aber auch im Sinne von ihm körperlich und gedanklich folgen, ihm nachgehen. Es entsteht der Eindruck eines verfolgenden Verfolgtwerdens. Es ist eine Position des Mitgegebenseins, die der Schatten einnimmt. In diesem Mitgegebensein liegt der Verweis auf dem Mit, auf dem Außerhalb des Schattens, auf dem im ständigen Austausch mit ihm Stehenden. Der Begriff der Mit-Teilung wäre hier ein 93 | Nancy, Jean-Luc »Singulär plural sein« Berlin: Diaphanes 2004 S. 21. 94 | Nancy, Jean-Luc »Das gemeinsame Erscheinen« in Vogl, Joseph »Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen« Frankfurt/M: Suhrkamp 1994 S. 169. 95 | Das Verhältnis Schatten-Objekt soll aus Gründen der Komplexität hier zu gunsten des Subjektes zurückgestellt werden.

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angemessener. Indem etwas mit-anwesend ist, wird etwas mit-bestimmt, wie auch mit-geteilt. Jean Luc Nancy führt den Begriff der Mit-Teilung in Korrespondenz zum Begriff der Kommunikation wie folgt aus: »Ich benütze den Terminus «Kommunikation» im Sinne Batailles, das heißt, dass diesem Wort ständig Gewalt angetan wird, und zwar insofern es Subjektivität oder Intersubjektivität bezeichnet, als auch insofern es die Übertragung einer Botschaft oder eines Sinns denotiert. Letztendlich ist dieses Wort unhaltbar. Ich behalte es jedoch bei, weil es auch im Wort «Gemeinschaft» (commun auté) anklingt, verwende jedoch darüber hinaus das Wort «partage» (Mit-Teilung); gelegentlich wird auch Kommunikation durch Mitteilung ersetzt.« 96

Indem etwas zusammen mit etwas anwesend ist, teilt etwas etwas mit. Für den hier zu untersuchenden Schatten sind es die Gegebenheiten, die zu seiner Erscheinung beitragen, wie die Form, die ihn bestimmt, das Licht, das ihn erscheinen lässt, wie der ikonische Gehalt seiner Form, die nicht nur auf seine indexikalische Potenz, sondern auch auf die Möglichkeit seiner als symbolische Form verweist. Indem der Schatten als Mitteilendes, als eine Form von Ansprache, von Schrift verstanden wird, ist eine logische Schlussfolgerung daraus, diese Mitteilung festzuhalten, zu archivieren. Zu dieser Form der Mitteilung besteht eine weitere. Es ist der Fokus auf die Teilung mit etwas, wie beispielsweise die Mit-Teilung von Raum. Indem der Schatten erscheint, geschieht unweigerlich eine Neuordnung eines Raumes. Er erfährt eine erneute Aufteilung sowie eine neue Zuweisung im Besonderen. Der Schatten ist unweigerlich Anteil, Mitteil von etwas geworden. Er ist flüchtiger Teil des Raumes. Kopräsenz meint zunächst immer auch Mitteilung, Anteilnahme. Im Prozess des Teilens kommt es zu einer Form von Gemeinschaft, der beide gleichermaßen angehören. Dies ist die Beschreibung der Form einer Relation, die hier entsteht. Im besonderen Fall des Schattens treten unterschiedliche Möglichkeitsbeziehungen auf. Exemplarisch zu nennen ist hier die Relation auf eine Körperlichkeit, auf eine Materialität hin, die sich mit dem Schatten als Anwesendes zeigt. Außerhalb davon existieren weitere Bezugsverhältnisse, wie die Kopräsenz von anwesendem Körper – abwesenden Schatten, abwesendem Körper – anwesenden Schatten, anwesenden Körper – anwesenden Schatten. Erweitern lässt sich dies im Bezug zur Sichtbarkeit: sichtbarer Körper – unsichtbarer Schatten, unsichtbarer Körper – sichtbarer Schatten, sichtbarer Körper – sichtbarer Schatten. Was sich in dieser Betrachtungsweise offenbart, ist die Dissonanz von Sichtbarkeit und Anwesenheit. Indem eine Sichtbarkeit nicht gegeben scheint, beschreibt dies noch keine Abwesenheit. In der Sichtbarkeit ist somit nicht die Anwesenheit immanent, sondern im nicht Sichtba96 | Nancy, Jean-Luc »Die undarstellbare Gemeinschaft« Stuttgart: Ed. Schwarz 1988 S. 25 in der Fußnote.

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ren liegen Ab- und Anwesenheit als solche verborgen. Dies ist gleichzeitig der Verweis auf eine Besonderheit. Es ist der Bezug zum Betrachter. Der Betrachter besitzt die Gabe, den Schatten sowohl als eigene Instanz und Teil seiner eigenen Körperlichkeit wahrzunehmen, wie gleichzeitig ihn als Voyeur zu betrachten. Im Folgenden gehe ich auf besondere Subjekt-Schatten-Verhältnisse ein, die in ihrer Qualität die allgemeinen Bezugsverhältnisse in Form einer Überhöhung beschreiben.

Der abgegebene Schatten – Archiv und Erinnerung Am 6. August 1945 um 8 Uhr 15 Minuten und 17 Sekunden Ortszeit wurde die Atombombe »Little Boy« in 580 Metern Höhe über der Stadt Hiroshima von dem B-29-Flugzeug »Enola Gay« abgeworfen. Die Explosionskraft der Atombombe entsprach 13,4 Kilotonnen TNT. In einem Umkreis von 0,5 Km um den »Ground Zero« waren 90 Prozent der Menschen sofort tot. Die Temperatur am Hypozentrum betrug für etwa eine Sekunde ca. 3000-4000 Grad Celsius. An dieser Stelle verdampfte alles. Menschen, die sich im Explosionszentrum aufhielten, verbrannten vollständig und hinterließen in einigen Fällen ihre Schatten an stehen gebliebenen Hauswänden, die sie für einen Moment von der Hitzestrahlung abgeschirmt hatten.97 (Siehe Abbildung 40.) Was bleibt, wenn der Schatten bleibt, wenn er als indexikalischer Verweis, archiviert, eingebrannt, fixiert, als Nachlass auf ein So-ist-es-gewesen in einer Begegnung auftaucht, den Sehenden anspricht?

Abb. 40 Linkes Bild: Matsumoto Eiichi »Shadow of a soldier remaining on the wooden wall of the Nagasaki military headquarters« 1945; rechtes BIld: Yoshito Matsushige »Human Shadow Etched In Stone« 1946 97 | Vergl. Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) »Hiroshima, Nagasaki«, Broschüre, Juli 2002 sowie www.atomwaffena-z.info/atomwaffen-geschichte/einsatz-von-atomwaffen/hiroshima/index.html vom 01.01.2016 Trägerkreis Atomwaffen abschaffen c/o IPPNW.

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Zunächst einmal stellt sich die Frage nach dem was, das wir sehen, und nach dem was, das wir nicht sehen. Der bloße aufgezeichnete festgehaltene Schatten an sich erscheint auf einem Träger als verschattete Stelle, als dunkler Fleck, als Schattenriss. Als Riss im Sehen und als Riss in der Zeit. Sein Um-Riss bestimmt ihn, trennt ihn in ein Innen und ein Außen, ein Davor und ein Danach. Das, was zur Sichtbarkeit gelangt, wurde von einem Körper bestimmt, der sich dem Licht, der Strahlung in den Weg gestellt hat. Er ist Beweisfigur von etwas anwesend Gewesenen. Diese gewesene Anwesenheit hat sich in eine Abwesenheit und eine Anwesenheit geteilt. In dem, was bleibt, ist gleichsam der Verweis auf Abwesendes wie auf etwas immer noch Anwesendes eingebrannt. Anwesend bleibt der zurückgebliebene aufgezeichnete Schatten, der eine Verbindung im topologischen wie im chronologischen Sinne zu seinem Verursacher und den mit ihm verbundenen Gegebenheiten bewahrt. Der Schattengebende, der Verursacher der Form, stand zu einer bestimmten Zeit im Kontakt mit genau dieser Fläche, die seinen Schatten aufgenommen und bewahrt hat. Der Körper war das Original, das als Bedingung einer Kontaktkopie, eines Fotogramms, vorhanden gewesen sein muss. Die Möglichkeit von Kontakt wurde hier zur gestischen existenziellen Bedingung. Im fixierten Schatten treffen Präsenz und Absenz unweigerlich aufeinander. Das eine ist dem anderen inhärent und gleich der Form eines Möbiusbandes verweist eins auf das andere und ist anderes in einem. Was diese Form der Kopräsenz beschreibt, ist zunächst einmal ein nicht vollständig visuell Erfassbares, sondern, gedanklich wird das Bild des Schattens zu seiner ursprünglichen Form der Dualität von Körper und Schatten als im Allgemeinen untrennbare Gegebenheit ergänzt. Der bloße fixierte Körperschatten tritt unweigerlich in Beziehung zu einem Erinnerungsbild, das ihm als Korrespondenz, als Ergänzung, ein Gegenüber stellt. Hierbei entsteht, ähnlich wie im Zeit-Bild,98 eine Bewegung in die Zeit und das Gedächtnis, die Erinnerung hinein. Die abgelegten Bilder erfahren durch das momentane Sehen eine Aktualisierung. Im Sehen des einen taucht das andere auf und stellt sich ihm als Korrespondierendes zur Seite, mit der Gabe, das Gesehene zu vervollständigen. Es liegt im Sehen, im Erkennen eines aufgezeichneten Schattens ein weiterer Schatten verdeckt, der eines gedanklichen Bildes, nach dem wir unweigerlich suchen, um es mit dem realem sichtbaren Schattenbild in Verbindung zu sehen. Die unbestimmte Binnenstruktur, wie der Schattenriss, schreien förmlich nach einer inhaltlichen Beschreibung durch den Betrachter. Im Wahrnehmen der Schattenform tritt ein Mögliches an Zuordnung, ein Vergleich an Vorhandenem auf und bildet sich neu. Es tritt ein Wahrnehmen von etwas anderem im Wahrnehmendem auf. Indem der Betrachter gedanklich noch auf der Suche nach einem Bild der Korrespondenz ist, fühlt er sich in die Situation, in die 98 | Vergl. Deleuze, Gilles »Das Zeit-Bild: Kino 2« Frankfurt/M: Suhrkamp 1991.

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Gegebenheit, so weit als möglich hinein. Er unternimmt den Versuch, etwas nachzuvollziehen, was ihm nicht geschehen ist, wessen Teil er bisher nicht wahr. Der Moment des Wahrnehmens lässt ihn zu einem Teil dessen werden. Es entsteht mit der Berührung des Blickes eine Form von Mit-Teilung, im Sinne von Gemeinsamen, von sich gemein, zu eigen Machenden. Das Mitsein bemüht sich nicht um eine Verschmelzung, sondern erkennt die Teile und die Trennung von ihnen als konstitutive Elemente an. Jeglicher Subtext bestimmt dies näher und grenzt sein Arbiträres enger ein, gleich, ob es die Bildunterschrift, die Form der Präsentation oder die Gegebenheit des Ortes ist, die uns das Gesehene verrät. Im Wahrnehmen schließen wir das Wahrgenommene ein wie auch anderes aus. »So beginnt sich ein Umriss von ›uns‹, von unserem gemeinsamen Erscheinen, abzuzeichnen, der keine Figur annehmen kann und der doch weder abstrakt noch fiktiv ist. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu lernen, seine Ränder nachzuziehen.«99 Es tritt ein gemeinsames Erscheinen auf. Im zugrunde liegenden Bild (siehe Abbildung 40) setzt es sich aus dem visuell wahrnehmbarem Bild des aufgezeichneten Schattens, wie aus einem inneren Bild, das in uns abgelegt ist, zusammen. Dieses innere Bild wird bestimmt durch eine nicht vorhersehbare Komplexität sowie durch eine temporäre Bestimmung, die sich durch eine stete Aktualisierung neu schreibt. Dieses Gefüge stellt sich stetig als Arbiträres dar, worauf im nachfolgenden Kapitel näher eingegangen werden wird. Beim Betrachten des Bildes stellt sich direkt die Frage nach dem Schattenbildproduzenten, nach der Schatten gebenden Figur, konkret: nach dem Menschen, der den Schatten in Hiroshima/ Nagasaki hinterlassen hat. Welche Position nimmt dieser ein? Grundlegend kann gesagt werden, der Schatten ist nicht ohne ihn zu denken. Er wird durch seine Kopräsenz in besonderem Maße bestimmt, obwohl er als solcher in seiner Sichtbarkeit nicht mehr erscheint. Seine Abwesenheit wird in einem bestimmten Maße zurückgestellt sowie durch die direkte Frage nach ihm, dringlicher den je, wieder hergestellt. Durch sein Entscheinen, durch sein Abwesendsein, ist die Frage und seine Bestimmung um so intensiver denn je. Durch ihre bestimmte Unbestimmtheit sucht das Gedächtnis nach einem korrespondieren Bild, nach einem Bild einer Person, die den Schatten hinterlassen haben kann. Es ist die Suche nach einer bestimmten Subjektivierung, die hier erscheinen will, die jedoch als Fehlstelle und Stellvertreter für ein kollektives Bewusstsein erscheint. In diesem abgegebenen Schatten als Folge des Atombombenabwurfes ist der Mensch einerseits ausgelöscht, andererseits aber auch in gewisser Weise festgehalten. Es ist der Schattenwurf, der nicht nur für eine bestimmte Person 99 | Nancy, Jean-Luc »Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des Kommunismus zur Gemeinschaftlichkeit der Existenz« in: Vogl, Joseph »Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen« Frankfurt/M: Suhrkamp 1994 S. 196.

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steht, nämlich für die, die zu dem Zeitpunkt an diesem Ort sich befand, sondern es ist das Bild, in dem alle Bilder enthalten sind, gleich dem schwarzen Quadrat von Malewitsch. Hier steht der zurückgelassene Schatten eines Menschen für den Menschen an sich. Im Schatten dieses einen Menschen sind alle anderen enthalten. Er ist die Summe aller – er kann jeder sein und ist alle. Dieser abgegebene Schatten ist gleichermaßen Archiv wie Erinnerung, er ist die Ausweitung der Körpergrenzen des einzelnen Subjekts und wiederum die Reduktion auf den Menschen selbst. Notwendig ist, den hinterlassenen Schatten nicht vergehen zu lassen, wie dies im Original geschieht. Der atomare Schatten auf den Stufen der japanischen Bank vergeht über die Jahre und wird blasser, einzig in seiner Fotografie wird das, was im Verschwinden begriffen ist, auf besondere Weise bewahrt.

Falsche Schatten I Im Schatten zeigt sich im Allgemeinen die Form als ein Doppeltes, als ein zwar mit einer gewissen perspektivischen Deformation Bestimmtes, jedoch auch als ein durch den Umriss, der die Schattenform bestimmt, auf seinen Schattengeber schließen Lassendes. Tritt dies als kognitives Element in eine Dissonanz, d.h., sind Schatten und Schattengebender offensichtlich nicht miteinander in Verbindung zu bringen, tritt ein Bruch im Sehen wie im Wahrnehmen auf. Der Link der offensichtlichen Verbindung ist gebrochen. Der Blick pulsiert zwischen dem immateriellen Schatten und seinem ihn erzeugenden materiellen Körper/Objekt, immer auf der Suche nach einer Aussöhnung. Diese ist vorerst nicht erfüllbar und unweigerlich stellt sich erneut die Frage nach dem Was, das den Schatten bestimmt. Eine grundlegende Annahme ist der Verweis auf sein Mögliches im Sinne eines Doppelgängers. Der Schattenriss, die Silhouette, folgt dem Körper, der ihn wirft. Er weist einen gewissen Verwandtschaftsgrad auf, in dem er dessen Form wiederholt. Der Begriff der Wiederholung steht hierbei für »noch einmal aufrufen«, »wieder holen«, »hervorholen«, »wiederholt zeigen«. Aber auch für »zeigen an sich«, für »etwas noch einmal ansehen«, für das Sehen auf den zweiten Blick, das Sehen von etwas bisher Verborgenen, das bis dahin ausgeblendet war. Der Betrachter war bis dahin im kognitiven Zuweisen verloren, das ein bewusstes Sehen verhindert hat. Das würde bedeuten, dass jedem Objekt ausschließlich ein Schatten zugeteilt ist bzw. das jedes Objekt nur einen bestimmten Schatten besitzt – was nicht wahr ist und im Folgenden eine Betrachtung erfährt. Der Schatten besteht als besondere Form von Reduktion und Abstraktion. Er ist Komplexitätsreduktion des auf ihn Weisenden, des in Relation mit ihm Stehenden. Im diesemProzess gehen zunächst Informationen verloren und der Fokus der Sichtbarkeit bewegt sich von der semantischen und ästhetischen Wahrnehmung, der allgemeinen Erscheinung des Körpers, von einer mehrdimensionalen Erscheinung auf zu-

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nächst nur eine sichtbare Betrachtungsbene. Die Gemeinsamkeiten der äußeren Form sind Bedingtheiten und werden vom ikonischen Gehalt des Körpers mitbestimmt. Im Wahrnehmen beider erfüllt sich eine Erwartungshaltung. Körperform und Schattenform gleichen einander, jeder kann durch den anderen eine gewisse Form der Zuordnung erfahren. Es gilt, die Form als solche wiederzuerkennen. Hierbei entsteht eine erweiterte Wiederholung im Sinne eines Doppelgängerstatus, nicht nur zwischen Körper und Schatten, sondern ebenso zwischen den gedanklichen Abschattungen von Erinnerungsbildern. Was passiert jedoch, wenn zwischen der Erwartungshaltung des Betrachters und der ihm dargebotenen Dualität Körper – Schatten eine unüberwindbare Dissonanz in ihrer Sichtbarkeit erscheint und unter welchen Bedingungen kann dies überhaupt auftreten? Betrachtet man diese Situationen genauer, so zeigt sich schnell ihre Besonderheit als grundlegendes Element. Die Bedingung der Uneindeutigkeit des zugehörigen Schattens liegt in dem Körper, der ihn erzeugt. Je komplexer und fragmentarischer dieser Körper ist, desto größer ist die Unmöglichkeit einer eindeutigen Bestimmung seines Schattens, je offener in seinen Möglichkeiten ist die Form die ihn evoziert. Die Wahrnehmung wird zunächst durch den ikonischen und semantischen Gehalt des Schatten gebenden Körpers in Besitz genommen. In der Arbeit von Tim Noble und Su Webster zeigt sich dies exemplarisch. (Siehe Abbildung 41.) Wir sehen eine Abbildung, eine Fotografie einer Raumsituation. Es ist ein Teil eines Innenraumes erkennbar. Wahrnehmbar ist ein Raumeindruck, ein Fußboden, eine Raumecke, ein Durchgang zu einem anderen Raum, eine Skulptur, die auf dem Boden steht, eine Darstellung an der Wand hinter ihr, hell und dunkel, Licht und Schatten. Die Fotografie ist nicht das Kunstwerk, sondern dient hier als dokumentarisches Mittel, als Abbild der Ausstellungsansicht, als Versuch ihrer Reproduktion. Das Werk an sich ist nicht an diesen Ort gebunden, sondern in »variable dimensions« angelegt, anpassbar auf die jeweiligen räumlichen Gegebenheiten, die die Arbeit unweigerlich mit bestimmen. Es ist der weiß lackierte Holzboden, der in Dunkelheit liegende Durchgang zum

Abb. 41 Linkes Bild: Tim Noble and Sue Webster »Dirty white trash (with gulls)« 1998; rechtes Bild: Ausschnitt »Dirty white trash (with gulls)« (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

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Nachbarraum sowie die Abstände zum Betrachter und zur Wand hin, die in Korrespondenz zur Arbeit treten und eine eigene Aussage schaffen. Es geht zunächst um eine Raumsituation, die Erfahrung derer bleibt jedoch Leerstelle. Wir können nicht durch den abgebildeten Raum gehen, nehmen jedoch an, dass dieser einmal existent gewesen war und nicht mehr in dieser Form gegeben ist. Es könnte sich ebenso um eine Simulation einer Raumsituation, ein Modell, eine CAD-Datei handeln. Wir wissen jedoch etwas über die beiden Künstler, und wir wissen, dass das Werk, das wir als Interpretation der Installation sehen, existiert, in »variable dimensions«, wie es im Subtext zum Bild heißt, wir können es erwerben, es auf bauen lassen oder aber in dem Flightcase, in dem es angeliefert wird, verpackt in unser Archiv stellen lassen und davon ausgehen, dass das drin ist, was aussen als Bezeichnung vermerkt ist. Welche Funktion nimmt der Schatten in der gezeigten Arbeit ein? Es stellt sich die Frage nach seiner Entstehung. Ist es ein Trompe-l’œil, ein Schnappschuss entstanden beim Auf bau der Arbeit, gehört die Silhouette zu einer anderen Arbeit, woher ist sie entliehen? Der Schatten ist keine Rückprojektion an einer transluzenten Wand, keine Wandmalerei, sondern durch eine gerichtete Lichtquelle, die die Skulptur, einen Haufen Haushaltsmüll im Vordergrund, anstrahlt und sein Schattenbild an die Wand projiziert. Nachdem wir diese Information verarbeitet haben, erschließt sich die Arbeit neu. Das Bild an der Wand ist nicht losgelöst, sondern steht in direkter Verbindung zu dem Haufen davor. Unser Blick oszilliert zwischen dem Schatten an der Wand und dem Haufen Müll am Boden. Wir vergleichen, stellen in Frage und zweifeln doch. Die Skulptur in ihrer Zerrissenheit, Offenheit, Farbigkeit drängt gegen das zweidimensionale Bild der Silhouette, die ihr Produkt sein soll. Wir erleben eine Referenzverschiebung. Schattenbild und Schattengeber scheinen offensichtlich nicht zusammengehören zu wollen. Das Bild des Doppelgängers ist aufgebrochen. Der Schatten stellt etwas anderes dar. Er verweist auf eine Art Metabild, ein Bild hinter dem Bild, das Schatten wie Schattengeber sein kann.Es entsteht eine inhaltliche Brücke. Auf dem Gang über diese stellen wir die Abhängigkeit Bild – Objekt in Frage. Der Schatten hat offensichtlich ein Eigenleben bekommen. Er besteht aus mehreren kleinen Schatten von Scheuerpulverdosen, Klopapierrollen, alten Handsägen, Coladosen, Haushaltsmüll, Wohlstandsmüll eben. Diese kleinen Schatten sind zu einem Bild gewachsen, das im Schattenwurf zwei mit dem Rücken aneinandergelehnte konsumierende Personen zeigt. Es entsteht ein Bruch zwischen Form und Inhalt. Das Erwartete bleibt aus und bietet die Chance für etwas Neues. Der Schatten und sein Schattengeber sind demnach nur teilweise durch eine Ähnlichkeitsbeziehung motiviert bzw. die Ähnlichkeitsbeziehung ist nicht vordergründig erkennbar, zuordenbar. Der Schatten ist eine Form des Arbiträren. Dies ist ein Schein, der durch Wissen verstärkt wird. Wir sehen nicht, sondern interpretieren das, was wir zu sehen glauben. Auf weitere Fragen, die die Arbeit stellt, gehe ich zunächst in

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diesem Text nicht ein, werde im letzten Kapitel jedoch noch einmal in anderer Form darauf zurückkommen. Als zentrales Moment wäre hier die Frage nach dem semantischen Bezug zwischen Inhalt/Figur und Schatten zu stellen. Der Hausmüll stammt aus dem Künstlerhaushalt der beiden im Schatten erkennbaren Figuren und stellt einen direkten Bedeutungszusammenhang her, in dem er an Positionen des »Was ist der Mensch?«, »Was prägt den Menschen?« und »Was bleibt nach dem Menschen?« rührt wie auch an Positionen von Nachhaltigkeit und Wertigkeit. Was in der Beschreibung Essentielles ist, ist das Arbiträre des Schattens. Es zeigt, das eine Erwartungshaltung diesbezüglich keine Versicherung sein kann. Das, was wir sehen, wird in Frage gestellt und das, was wir wissen, ebenso. Es ist ein Verweis auf ein konkretes Sehen. Es ist das ungläubige Sehen, das Sehen auf den zweiten Blick, das hier erscheint. Es ist das Infragestellen dessen, was sichtbar ist, was sich zeigt, es ist Verweis auf das grundlegendste Erkenntnismodell, auf Platons Höhlengleichnis. »Weil das Bild jener Schein ist, der behauptet, er sei das, was den Schein gibt, steht Platon auf gegen die Malerei als eine Aktivität, die mit der seinen rivalisiert. Dieses andere ist das ›klein a‹, um das ein Kampf geführt wird, dessen Seele die Augentäuschung ist.«100 Diese Täuschung ist zunächst eine bedingte Erscheinung. Im Heraus-Treten aus der Subjekt-Objekt-Beziehung des logischen Denkens stellt sich die Möglichkeit eines wahren Sehens ein. Um es mit Lacan zu sagen: »Das Subjekt ist, wenn man so sagen kann, in innerem Ausschluss seinem Objekt eingeschlossen.«101 Dies gilt für das Gesehene wie den Sehenden gleichermaßen. Indem nicht die körperliche Gestalt, sondern der Schattenfleck das Sehfeld regiert, das Subjekt von seiner Vorstellung trennt, knüpft sich das Bild an ein Wollen, das sich seiner Ursache gegenüber sieht. Es gibt hierbei keine vorgegebene Zuordnung von Signifikant und Signifikat und entsprechend keine feststehende Bedeutung. Je nach Bedeutungszuweisung im Blicken erscheint das eine im anderen, das eine durch das andere. Der Schatten scheint das ihn hervorbringende Objekt zu bestimmen, in dem er das Auge auffordert, sich auf die Suche zu begeben, auf die Suche nach der im Schatten erscheinenden Figur. Dieses gleicht einem Vexierbild, das vom Moment des Umschlagens bestimmt wird. »Das fremde Wesen muss dann in mir so deutlich und unsichtbar sein, wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte, dass es drin steckt.«102 Der Schatten in den Arbeiten von Tim Noble und Sue Webster ist ein 100 | Lacan, Jacques »Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse« in »Das Seminar Buch XI« Weinheim-Berlin: Quadriga 1987 S. 119. 101 | Lacan, Jacques »Die Wissenschaft und die Wahrheit« in »Schriften II« Freiburg: Walter 1975, S. 231-257 wie »Die Ethik der Psychoanalyse« Berlin: Quadriga 1996, S. 171. 102 | Kafka, Franz / Brod, Max [Hrsg.] »Tagebücher« Frankfurt/M: S. Fischer 1967 Eintrag vom 30/9/1911-1910-1923 Kapitel 3 S. 40.

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bestimmendes Moment. Würde er fehlen, würde dem Betrachter nur ein Haufen Wohlstandsmüll präsentiert. Im Dazu des Schattens, mit dem Hinzufügen der Lichtprojektion und des sich herausbildenden Schattens, entsteht etwas Neues, Zusätzliches. Aus dem Chaotischen des Haufens Müll wird eine bestimmte und bestimmende Form, die im Schatten eine weiteres Bild offenbart – eine Neuordnung des Raumes und des Sehens provoziert. Plötzlich muss sich der Betrachter entscheiden, der Bildgegenstand einen Vorrang bekommt, es ist ein Streit im Blick, der unweigerlich als Sprung von einem zum anderen changiert. Zusätzlich beherrscht noch eine andere Möglichkeit dieses Werk. Es ist die Möglichkeit, sich der zentralperspektivischen Betrachtungsposition zu entziehen. Im Bewegen des Betrachters liegt die Ergänzung des Sichtbaren. Um einiges deutlicher wird dies in anderen Arbeiten. (Siehe Abbildung 42.)

Abb. 42 Tim Noble and Sue Webster HE/SHE 2004 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

Das gerichtete Licht des Projektors wie der Blick des Betrachters entscheiden über die Glaubhaftigkeit des Schattens. Es existiert nur ein bestimmter, zuvor festgelegter Platz für die Lichtprojektion, um die Mitteilung des Schattens zu entbergen. Ist diese eine leicht verschobene, so ist die Form des Schattens eine chaotische wie die des Objektes, das aus unterschiedlichen Fragmenten, gleich einer Collage, zusammengefügt ist. Einzig in einer bestimmten Ordnung zueinander, zum Licht sowie zum Betrachter ergibt sich eine lesbare Schattenfigur, die offensichtlich und unerwartet aus dem Licht erschienen ist. Die Form einer menschliche Figur, die hier erscheint, ist Verweis auf einen Teil des Künstlerpaares. Sie ist zusammengesetzt aus mannigfaltigen Fragmenten, die in einer

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bestimmten Ordnung zueinander stehen und deren einziger Zweck es ist, die im Schatten erscheinende Figur zu schaffen. Jedes einzelne Fragment steht in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis, in einer zuvor zugeordneten Position zueinander, intraskulpturell wie auch in Relation zum Licht, zur Projektionswand und zum Betrachter. Es existieren unterschiedliche Ebenen von Abhängigkeiten, intra- wie extraskulpturell. Im Zusammenspiel aller Fragmente erfolgt eine Umkehrung von Defragmentierung – mit dem einzigen Sinngehalt, eine gemeinsame Form zu schaffen, im Sinne von gemeinschaftlichen Ereignis. Jedes Fragment trägt durch sein Anwesendsein und seine Position zum Gelingen des eindeutig lesbaren Schattenbildes bei. Wie der Blick zum Schatten hingeführt wird, kann der Blick den Weg des Zurück vollziehen und trifft auf die materielle Ursache des Schattens. Die Form des Materiellen wird hier bestimmt durch eine Verknüpfung in sich bedeutungsloser Zeichen (verschweißter Metallschrott), die jedoch an sich als eine Ordnung bestehen kann. Es zeigt sich eine Form der offenen Hierarchie, Signifikant und Signifikat sind einander Unterstelltes, jedoch nicht als festgeschriebenes hierarchisches Modell, sondern als Sowohl-als-auch, als differenzielle Artikulation zu Begreifendes. Bedeutung erlangt der Signifikant erst durch das Subjekt, indem es ihn zunächst einmal für bedeutend erklärt, ihn mit ihm in Bezug stellt – die Dinge haben einen Bezug zueinander und auf uns.

Falsche Schatten II Im Alltäglichen tritt der Schatten als globale Erscheinung auf. Die sichtbaren materiellen Dinge erfahren eine Gleichbehandlung im Seinsrang, wenn sie vom Licht der Sonne berührt werden. Sie entbergen ihren Schatten und legen ihn auf einer Projektionsfläche ab, der die Möglichkeit gegeben ist, ihn aufzunehmen, ihn zur Sichtbarkeit zu erheben. Dies ist Verweis auf eine Anwesenheit, auf eine bestimmte Form von Materialität gegenüber einem Objekt wie gegenüber der Fläche, die bereit ist, ihn zu empfangen. Dinge, die im gerichteten Licht stehen, müssen unweigerlich einen Schatten werfen, sie können sich diesem Prozess nicht entziehen. Eine Irritation tritt auf, wenn dieser Seinszusammenhang gebrochen wird. In der Parkszene in Alain Resnais Film »Letztes Jahr in Marienbad« zeigt sich dies sehr deutlich. Es scheint, dass mehrere Ebenen zeitlich wie topologisch, gedanklich wie visuell miteinander verwoben sind. Zunächst ist da die Ebene des Grundes, der durch die Parklandschaft, durch die gestaltete, geordnete Natur, gleich einer Theaterbühne, dem Betrachter einen Schauplatz bietet. Eine Schneise, eine Lichtung wurde durch die Wildheit der Natur getrieben, die an den Rändern bereitsteht, um sich diese Lichtung wieder zu eigen zu machen, einzuverleiben. Eine weitere Ebene der Inszenierung wird durch die Darsteller und ihre unübersehbaren Schatten bestimmt. »Die Darsteller und die Dienerschar stehen immerhin auf

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der Gehaltsliste des Theaters, selbst die Statuen werden erfasst, wenn einmal Inventur gemacht wird. Die Schatten aber tauchen nirgendwo in der Zählung auf.«103 Hier tauchen sie auf, und dies nicht nur zufällig, sondern als bewusste Setzung, die schon im Drehbuch von Alain Robbe-Grillet angelegt wurde. (Siehe Abbildung 43.) Die Gestaltung, die Ausleuchtung einer Szene wird vom Licht her gedacht. Hier in der Parkszene, trifft dies allerdings nur bedingt zu. Nach längerem Verweilen des Blickes im Bild fällt auf, dass die Personen über einen langen Bild und Blick bestimmenden Schlagschatten verfügen, den Skulpturen und den geometrisch geschnittenen Hecken- und Solitärgewächsen (die nicht wirklich Gewächse sind, sondern Gestelle mit einer Verkleidung aus Tannenzweigen) dieser jedoch entzogen worden ist. Bestimmte Dinge weisen einen Schatten auf, andere wiederum nicht. Dies spricht für eine nicht real existierende Szene, für eine Künstlichkeit, die durch die geometrische Formgebung und Inszenierung der Natur eine Überhöhung erfährt. Etwas, das keinen Schatten werfen kann, existiert ausschließlich in Form eines Nichtmateriellen. Es fehlt ihm die Qualität, sich dem Licht in den Weg zu stellen, einen Entzug des Lichtes hervorzubringen. Es ist ihm nicht gegeben, sich in seiner Vitalität zu zeigen. Es weist im gesteigertem Maße auf eine Traumsequenz hin. »Resnais hat seinen Film unter Verzicht auf einschlägige Symbole eine Aura des Unwirklichen gegeben. Er zeigt nicht verschwimmende Visionen; er stimuliert die Ungewissheit des Zuschauers durch eine Folge von streng stilisierten Bildern. Nicht das Bemerkenswerteste, wohl aber das bekannteste Beispiel für eine Stilisierung ist die Szene im Park, in der die Menschen seltsam arrangiert sind, wobei ihre Schatten auf den weißen Boden aufgemalt wurden.«104

Der Blick des Betrachters lässt sich leicht täuschen. Dem oberflächlichen, ephemeren Sehen entzieht sich dieser Moment ganz, da er unerwartet hereinbricht und die Aufmerksamkeit von den Personen im Bild gefangen ist. Der Betrachter ordnet unweigerlich das Gesehene dem Wissen zu. Ist es unvollständig, so vervollständigt er dieses. Gedanklich entsteht ein Bild, das der realen möglichen Situation sehr nahe ist. Auf Grundlage einer Fotografie, eines Abbildes, entzieht sich ihm diese. Die mediale Form einer Zweidimensionalität steht diesem Erfassen diametral gegenüber und muss unvollständig bleiben. Es ist nicht der Blick aus einer Richtung, der das Bild entstehen lässt, sondern der Blick aus differenten Perspektiven. Es ist notwendige Bedingung, sich durch den Raum zu bewegen, im Licht, im Schatten zu stehen, um dies am eigenen Leib wahrnehmen zu können. Ein dunkler Fleck im Bild evoziert in einem 103 | Casati, Roberto »Die Entdeckung des Schattens: Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung« Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003 S. 12. 104 | Krusche, Dieter [Hrsg.] »Reclams Filmführer« Stuttgart: Reclam 2000 S. 51.

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bestimmten kausalen Zusammenhang, den Verweis zum Motiv des Schattens. Diesem unkritisch zu folgen und anzunehmen, dass jegliches Dunkles, an einem Objekt Haftendes, die Form dieses Objektes Nachvollziehendes ein Schatten sein muss, führt zu einem Trugschluss, wie Resnais es im Film beschreibt. Nicht alles Sichtbare, was einen Schatten vermuten lässt, muss unweigerlich einer sein. Es kann ebenso gut ein Fleck, eine Störung, eine Unterbrechung in der Materialität auf der Projektionsfläche sein. Ein Schatten in einem Bild kann mehr sein, etwas anderes sein als das, was er auf den ersten Blick erscheint. Es stellt sich im Umkehrschluss die Frage, ob ein Fleck eben so gut ein Schatten sein kann, bei Resnais sieht es so aus. Flecke werden unter bestimmten Bedingungen zu Schatten. Der aufgemalte Schatten in Resnais Film ist rätselhaft. Die Menschen werfen lange Schatten, ohne sich zu bewegen. Sie wirken in ihrer Unbeweglichkeit, in ihrer Erstarrung, wie Statuen, wie eingefroren. Die Irritation, die hierdurch im Film entsteht, ist eine verdeckte, nur für einen kurzen Moment sichtbare. Es ist im Film kein Freeze Frame, der hier Verwendung findet. Die Darsteller gleichen zwar den Skulpturen im Park in ihrer Eingefrorenheit, jedoch läuft der Film weiter. Im Filmbild bewegt sich kaum etwas, einzig, die im Wind wehenden Kleider der Frauen. Für den Betrachter stellt sich nicht die Frage nach den zu langen unwirklichen Schatten, die auf eine nicht zuordenbare Lichtquelle verweisen, sondern die Frage, warum den anderen Figuren und Objekten die Schatten abhandengekommen sind. Es ist eher eine Frage des Wegnehmens, des Fehlens, als die Frage nach einem hinzugefügten, aufgemalten Schatten. Das Bild bleibt ein Rätsel und verweist auf seinen metaphorischen Gehalt, auf den Inhalt des Filmes, auf die Frage, was Wahrheit, was Lüge, was real, was nicht real ist, was jetzt, was Vergangenheit ist. Es ist die Auflösung des Reellen im Bild. Die Figuren sind herausgelöst, scheinen wie von einer anderen Welt. Alle sind eingeschlossen in Lug und Trug, sie sind Teil einer Gemeinschaft, Teil einer Welt, die als Matrix im Film wie auch im Realen bestand hat oder Trugbild unserer eigenen Vorstellung,

Abb. 43 Still aus »Letztes Jahr in Marienbad« 1960 (c) STUDIOCANAL Argos Films – Cineriz

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Erinnerung ist. Die Frage nach einer Simulation, nach einem Trugbild taucht erst auf, wenn ein Ereignis zu den bekannten, erlebten, nicht passt. Was wäre, wenn das seltene, plötzliche Auftreten von scheinbar Unerklärlichem zur Welt gehören würde? Wenn es Dinge gäbe, die Schatten werfen und andere wiederum nicht? Wenn diese als Ereignisse hin und wieder auftreten, würden diese als normal hingenommen werden. Die Irritation erfolgt an den Rändern des Normalen, zu den Zeiten, wenn diese umgeschrieben werden. Diese Verbindung von Veränderung von Welt und Irritation ist etwas, was in Lacans Spiegelthematik erscheint. Sich selbst im Spiegel zu erkennen ist sowohl Irritation im gewohnten Dasein und gleichzeitig massive Veränderung im Selbst- und Weltbezug und damit gleichermaßen eine Veränderung unserer Weltsicht. Indem das einmal Gesehene ein-/umgeschrieben worden ist, ist dies als Mögliches präsent. Es ist eine Perspektivenverschiebung, die der Betrachter dem sichtbaren Bild entgegensetzen kann. Es ist ebenso eine Frage nach dem Blickwinkel, aus der der Betrachter Welt sowie sich in dieser wahrnimmt wie auch die Wahrnehmung seiner Positionierung und eine Vergewisserung des Selbst. Offen bleibt die Frage nach einer Sichtbarkeit, wie sie erfahrbar sein kann, und die Frage nach einer Sichtbarkeit, die wir nicht in der Lage sind zu erfahren. Es ist bisher ungeklärt, ob es möglich ist, die Schatten, die auf keine Projektionsfläche treffen, sehen zu können, aus welcher Position auch immer. Ungeklärt ist somit, ob das, was offensichtlich nicht sichtbar scheint, auch nicht sichtbar ist. Technisch ist es möglich bestimmte Wellenlängen des Lichts sichtbar zu machen, die mit dem menschlichen Auge nicht sichtbar und erfassbar sind. Einige Lebewesen können sich in diesem Wellenbereich des Lichts orientieren, der Mensch nicht. Den Schattenwurf im Raum sichtbar werden zu lassen ist möglich, indem dieser gefüllt wird mit einem Partikelsystem wie Rauch, Staub oder Nebel. Darin zeigen sich Schatten- und Lichtanteile, die im Allgemeinen im Verborgenen liegen, was jedoch nicht gleichermaßen einen Widerspruch zu Wahrnehmung bedeuten muss, das Mitsehen jedoch nicht eindeutig begrenzen kann.

Der Schatten des Falschen Alain Resnais’ »Letztes Jahr in Marienbad« ist ein Film, der eine große Zahl von Fragen aufwirft, die er nicht beantwortet. Radikal wie kein Film zuvor brach Resnais’ filmische Übertragung des avantgardistischen Nouveau Roman von Alain Robbe-Grillet mit traditionellen Strukturen von Zeit, Ort und Kausalität. Für Deleuze ein Grund mehr ihn in seiner Besonderheit der filmischen Erzählstruktur wie seiner visuellen Praktiken hervorzuheben.105 Den Film bestimmen Raum-Zeit-Verunsicherungen, die überwiegend anhand visueller 105 | Deleuze, Gilles »Das Bewegungs-Bild: Kino 1« Frankfurt/M: Suhrkamp 1991.

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Erscheinungen ablesbar sind. In diese Kategorie fallen die simulierten, gemalten Schatten der Protagonisten im Park.106 »Schwarze Schatten wurden den im Park Nymphenburg kunstvoll aufgestellten Darstellern ›angemalt‹, was umso aufregender wirkte, als keine Sonne schien und alle anderen Gegenstände, Statuen und Bäume, schattenlos wie Schlemihl waren.«107 Die Schattenlosigkeit des Peter Schlemihl108 wird hier durch Schlöndorf in einer Verkehrung beschrieben. Schlemihl hatte seinen Schatten für nicht endenden Reichtum verkauft, was für ihn den Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft bedeutete. Ein Ringen um seinen Wiedererhalt, um den Preis seiner Seele, ging Schlemihl nicht ein, sondern wählte die Einsamkeit als Naturforscher. Im Park Nymphenburg wirft im Film die Natur keine Schatten, die menschlichen Figuren jedoch wohl. Dies war kein Kunstgriff Resnais, sondern er handelte nach den konkreten Anweisungen im Drehbuch von Alain Robbe-Grillet. »Doch der Park ist nicht mehr leer, hier und da stehen Personen, einzeln oder zu zweit, starr wie Statuen (jedoch gerade, mit herabhängenden Armen und nicht in exzentrischen Posen). Wenn möglich herrscht Sonnenschein, und die Schatten der Figuren sind deutlich sichtbar. (Wenn nicht, könnte man künstliche Schatten auf den Boden retuschieren?).«109

Im Film entstehen, basierend auf den Texten Alain Robbe-Grillets, uneindeutige Ebenen-, Raum- und Zeitenwechsel, die ineinander verwoben und nicht mehr in eindeutiger Abgrenzung bestehen. Aufgrund dieser wird jeder ultimative Wahrheitsanspruch verhindert und ein erweiterter Reflexionsraum im Film wie mit dem Film erscheint als Möglichkeitsform. Die falschen, aufgemalten Schatten stehen in einer synchronen Asynchronität zu den Objekten, mit denen sie auf den ersten Blick offensichtlich verbunden scheinen. Sie stehen in einer unterbrochenen Verhältnisbestimmung des Nichtkorrespondierens von Gezeigtem mit Erzähltem sowie in einer gebrochenen Bestimmung zu den sichtbaren Personen, die sie zu dieser Zeit offensichtlich nicht erzeugen. Im Standbild wird dies in einer Dehnung der Wahrnehmungsdauer sehr deutlich. Diese steht in Analogie zum gesprochen Wort wie zum Ton im Film. Eine Stimme aus dem Off erzählt von etwas, das erst später zu sehen sein wird, dass 106 | Vergl. Setfotografien zu Szene 205 und 206 in Grunenberg, Christoph und Fischer-Hausdorf, Eva »Letztes Jahr in Marienbad: Ein Film als Kunstwerk« Wienand 2015 107 | Volker Schlöndorf Text über Alain Resnais und seine Verbindung zum Film »Letztes Jahr in Marienbad« bei dem er als Regieassistent mitarbeiten durfte vergl. www. volkerschloendorff.com/personen/alain-resnais/ vom 18.12.2015. 108 | Chamisso, Adelbert von »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« Stuttgart: Reclam 2003. 109 | Robbe-Grillet, Alain »Letztes Jahr in Marienbad« München: Hanser 1961 S. 81.

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schon zu sehen war, das Wunsch des Erzählenden ist wie sich etwas ereignen möge. Geräusche sind zu hören, die zu Szenen, die vorüber, schon vergangen sind, gehören, so wie der Schatten am Boden, der als aufgezeichneter bleiben wird, obwohl die Personen selbst nicht mehr im Bild anwesend sein werden. Sie sind anwesend in ihrer Abwesenheit und verweisen gleichzeitig auf ein besonderes Raum-Zeit-Verhältnis wie auf eine ihnen eigene Bedeutsamkeit der Personen, welchen sie aufgrund ihrer Formensprache zugehörig sind. In dieser Szene fällt als Irritation, wie als herausgehobenes bestimmendes Element, auf, dass einzig den Darstellern die Möglichkeit, einen Schatten zu erzeugen, gegeben ist. Die Statuen an der Begrenzung des Weges und die geformte Natur sind von dieser Möglichkeit ausgeschlossen. Sie stehen in einer Nachrangigkeit im Seinsrang bzw. bilden diesen als Signifikantes ab. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheinen gleichzeitig in ein und demselben Bild. Dies zeigt sich nicht nur im Schatten, sondern ebenso in einem Abbildverhältnis, das die Dialogizität zwischen Natur (Landschaft außerhalb des Parks) und simulierter Natur (künstliche Parklandschaft, falsche Hecken) wie belebte und unbelebte Natur (Statuen am Wegesrand und menschliche Statuen auf dem Kiesweg). »Durch die Erhebung des Falschen zur Macht befreite sich das Leben vom Schein wie von der Wahrheit: weder wahr noch falsch – als unentscheidbare Alternative – , sondern Macht des Falschen, entscheidender Wille.«110 Die simulierten Schatten im Bild sind abgelöst von einer chronologischen Unumkehrbarkeit und führen die Verzweigung der Zeit fort. Der gemalte Schatten ist ein Verweis auf virtuelle Biografien, auf Wege, die noch nicht gegangen sind, und auf Wege, die schon beschritten wurden. Er ist verknüpft mit den möglichen Körpern, die ihn erzeugen, und mit der Erinnerung an sie. »Die Vergangenheit ist darum für Bergson überraschender Weise nicht in erster Linie das, wovon wir unwiederuflich Abschied genommen haben, sondern etwas, was uns wie unser Schatten ständig folgt und begleitet.«111 Die Schatten im Park bei Resnais sind vergangene und zukünftige Möglichkeitsformen in einem. Was ihnen durch ihre Fixierung verloren gegangen ist, ist die Gabe einer Veränderung, einer Deformation, einer Umformbarkeit. »Der Schatten ist Verlängerung ins Unendliche. Er determiniert so die virtuellen Verbindungen, die nicht mit den Umständen oder der Stellung der Person zusammenfallen, die ihn werfen.«112 Das, was im Schatten sichtbar wird, muss nicht unweigerlich einen Realitätsanspruch implizieren und nicht in einer chronologischen Ebene des Jetzt verortet sein. Eine virtuelle Verbindung steht bei Resnais in einem scheinbaren realen Zusammenhang, der sich letztendlich nicht als wahr, sondern als 110 | Ebd. S. 191. 111 | Oger, Erik in Bergson, Henri »Materie und Gedächtnis – eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist« Hamburg: Meiner 1991 S. XVII. 112 | Deleuze, Gilles »Das Zeit-Bild: Kino 2« Frankfurt/M: Suhrkamp 1991 S. 156.

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mögliche vergangene wie zukünftige Realität offenbart. Eine Konstruktion von Raum entsteht für Deleuze mit dem ersten einfachsten Mittel, um diesen zu erzeugen. »Wie gewinnt man einen beliebigen Raum aus einem vorgegebenen Zustand, aus einem bestimmten Raum? Das erste Mittel war der Schatten, waren die Schatten: ein mit Schatten gefüllter oder mit Schatten bedeckter wird beliebiger Raum.« Deleuze zitiert daran anschließend den Expressionismus, in dem Schatten und Licht einander umschlangen. »Gespenstische gotische Welt, die die Umrisse überflutet oder bricht, den Dingen ein nicht organisches Leben verleiht und ihnen ihre Individualität nimmt; eine Welt, die den Raum potenziert und ihn dabei zu etwas Unbegrenztem macht.«113 Schatten ist nicht nur potenzierter Raum, mögliche Verdichtung und Verlängerung ins Unendliche, sondern er »[...] führt den Affekt einer Drohung im Reinzustand vor [...]«114 Im Park von Nymphenburg erscheint diese Drohung so nicht. Die Schatten im Bild sind präsent, während zu gleicher Zeit die Sonne absent, in Nichtsichtbarkeit verloren ist. Im Bild kündigen die Schatten eine mögliche Sonne an, sie sind Erinnerungen an diese. Die Schatten im Park verhalten sich in Analogie zur filmischen Erzählstruktur. Sie erscheinen in ihrer besonderen Sichtbarkeit als Fragment eines Schattens, der in einem widersprüchlichen kausalen Zusammenhang zu den Statuen und einer Natur steht, denen es nicht gegeben ist, Schatten zu werfen und somit ihren Wahrheitsanspruch infrage zu stellen. Sie evozieren virtuelle Objekte, die keiner Aktualisierung unterworfen sind, sondern imaginäre Vorstellung. Für Deleuze ist der Film »Letztes Jahr in Marienbad« ein Schlüsselfilm, wenn es um den Wendepunkt vom Bewegungs-Bild hin zum Zeit-Bild geht. Die filmischen Vergleichzeitigungen des Kinofilms werden aufgebrochen durch ästhetische Darstellungen und ermöglichen Simultanitäten, die sich jenseits von Handlungs- und Lokalzeit entfalten. Das nichtnarrative Zeit-Kino lässt sich nach Deleuze als Übergang von Zeit-Wahrnehmungen beschreiben, die sich an den Bewegungen von Körpern im Raum wie gleichermaßen an inneren Bewegung wie Reizen, Erregungen, Assoziationen, Erinnerungen und Vorstellungen im Körperinneren orientieren. Erinnerungen werden nicht mehr in erkennbare Rückblenden eingebunden, sondern stehen gleichberechtigt und autonom ununterscheidbar zwischen anderen Bildern. Hierarchische Strukturen diesbezüglich werden eingeebnet und es entstehen einander sich durchdringende Schichtungen, von Raum und Zeit. Es sind nicht mehr die einzelnen subjektiven Erinnerungen, die Resnais im Blick hat, sondern sie haben sich längst zu globalen Gebilden potenziert, die an ein Gedächtnis, an die Erinnerungen, an die Schatten der Welt erinnern lassen.115 113 | Ebd. S. 155. 114 | Ebd. S. 156 wobei Deleuze hier auf Nosferatu, Tartüff und Tabu verweist. 115 | Vergl. Resnais, Alain »Toute la mémoire du monde« Kurzfilm zur Bibliotheque National de France, den er unmittelbar vor »Letztes Jahr in Marienbad« gemacht hat.

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Während das Bewegungs-Bild ausschließlich in der Gegenwart116 ist, tritt in Deleuze Zeit-Bild eine simultane Präsenz von differenten Zeiten wie Gegenwart, Erinnerung, Traum und Vorstellungen auf. Die Schatten im Park beinhalten dies alles in einem Bild, in einer Bildsequenz. Raum und Zeit sind nicht mehr miteinander verknüpft, sondern erscheinen ineinander, in einem Bild, das verschiedene Zeiten impliziert und visuell sichtbar macht. Der Stillstand der Figuren im Bild evoziert einen Stillstand der Zeit, einzig ein leichter Windhauch bewegt fast unmerklich die Kleider der Frauen, woran Zeit ablesbar wird. Da aus Situationen nicht mehr zwangsläufig Handlungen folgen müssen, sondern sich ebenso Bilder aneinanderreihen, montiert werden können, entstehen andere Reflexionsräume. Es ist nicht das synchrone Ablaufen einer real erfahrenen Zeit, sondern das Bestimmen einer Eigenzeit. In ihr vollziehen sich Bedeutungsänderungen sozialer Ordnungen, Kontinuitäten gehen verloren und werden dadurch dispersiv. Die Situationen erscheinen sinnfragmentiert und häufig als rein optische Situationen, die als poetische Abstraktion fungieren. Dies setzt sich vom Gegensatzpaar Licht – Schatten des expressionistischen Films deutlich ab, wobei dies als Bild einer Affizierung in ihm enthalten bleibt. »Wohingegen für die Vertreter der poetischen Abstraktion das Eingreifen des Geistes kein Kampf, sondern eine Alternative ist, ein grundlegendes Entweder-oder. Von jetzt an ist der Schatten nicht mehr Verlängerung ins Unendliche oder Umkehr an der Grenze. Er ist nicht mehr die unendliche Verlängerung eines gegebenen Zustandes, er wird vielmehr Alternativen zwischen dem Zustand selbst und der Möglichkeit – der ihn übersteigenden Virtualität – zum Ausdruck bringen.«117

Die gemalten Schatten im Film bei Resnais sind in ihrem Kontrastverhältnis sehr deutlich und prägen das Absetzungsverhältnis zum Projektionsgrund in Form einer deutlichen Bestimmung des Bildinhaltes. Sie stehen im Prinzip des Wiederspruchs zum Licht, zur diffusen Helle, die den Park in eine unschuldig erscheinende Bühne verwandelt. Einzig die dunklen Bereiche, die Schatten und die dunkle Kleidung der männlichen Protagonisten deuten auf ein verborgenes Dunkel in allgemeiner Helle hin. Beides erscheint im Anderen wie erst durch dessen Andersheit. Der Schatten ist hier Motiv einer Zeitenwende zwischen Fluchtlininien eines Korridors, wie zwischen gesellschaftlichen Bedingungen. Er ist Vorbild wie Nachbild, Möglichkeitsbestimmung und Erinnerung, er ist Sprung in der Zeit. Er erscheint an den Darstellern, was auf ein Vitalitätskonzept verweist. Diesem unterliegen nicht alle Objekte in ihrer Sichtbarkeit. Etwas, was keinen Schatten werfen kann, ist nicht materiell an116 | Deleuze, Gilles »Das Zeit-Bild: Kino 2« Frankfurt/M: Suhrkamp 1991 S. 53. 117 | Ebd. S. 156 Cat-People »Ist die Frau zum Leoparden geworden (virtuelle Verbindung), oder ist es eben nur der Leopard der ausgebrochen ist (realer Zusammenhang)?«.

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wesend, nicht real. Es ist gedachte, vorgestellte Anwesenheit, eines »so muss, so kann es gewesen sein«. Licht und Schatten stehen nicht mehr in Analogie als Gegensatzpaar nebeneinander, sie »bilden keine abwechselnde Bewegung mehr, sondern gehen in eine intensive, mehrere Stadien umfassende Auseinandersetzung über.«118 Die Schatten im Park verweisen nicht nur auf die möglichen Personen, die sie erzeugen, auf eine Abwesenheit eines möglichen gerichteten Lichts, sondern gleichermaßen auf das Medium Film an sich. Die Potenz einer Auszeichnung steht in direkter Abhängigkeit von Sichtbarkeiten, von Licht und Schatten. In diesem grundlegenden Kategorien wurde Film zu dieser Zeit maßgeblich gedacht. Eine Manipulation im Bild erfuhr der Betrachter bis dato im Allgemeinen nicht als Störung, Verwirrung, absichtliche Verschiebung, sondern in Form einer Retusche sowie einer deutlichen Überhöhung (siehe expressionistischer Film). Resnais jedoch griff in Kausalitätsbestimmungen ein, indem er die Strategie des Films bis in jedes mögliche Detail übertrug. Es ist nicht nur eine Befragung der filmischen Erzählstruktur auf das hin, was sich zeigt in einem zeitlichen wie topologischen Zusammenhang, sondern ebenso darauf hin, was sich nicht zeigt, was im Medium Film durch seine ständigen Bildwechsel wie durch die Kadrierung verdeckt, ausgeschlossen wird. Im Standbild der Szene im Park fallen die Differenzen als visuelle Irritationen sofort in den Blick. Im Film werden sie verdeckt von den Bildern eines Davor, eines Danach sowie durch die Tonspur. Eine visuelle und gedankliche Erfassung ist auf ein Zeitfenster beschränkt. Das einzelne Bild als ephemeres verschwindet im Ablauf des Filmes, während ein anderes filmisches Bewegt-Bild entsteht, Beschreibung und Belichtung findet. »Die Beschreibung wird zu ihrem eigenen Gegenstand, während die Erzählhandlung temporal wird und gefälscht. Die Bildung des Kristalls, die Kraft der Zeit und die Macht des Falschen sind einander streng komplementär und setzen sich fortwährend als neue Bildkoordinaten voraus.«119 Die vermeintlichen Schatten scheinen an den Personen zu haften, wie um den Bezug zur Unterwelt, zum Hades, zum Ort des Totenreiches, an den ausschließlich die Figuren gelangen werden, zu evozieren. Die Ausstattung der Parklandschaft wird in einer unausweichlichen unhintergehbaren Erstarrung einer Unendlichkeit ausgeliefert sein, während den Personen die Möglichkeitsform des Zukünftigen wie des Vergangenen anhängt. Die Objekte im Park sind Vergangenheitsschichten, die im Film als Tablau vivant in Koexistenz sich verhalten, über Raum und Zeit hinaus. »Resnais hat des öfteren erklärt, dass ihn nicht die Figuren, sondern die Gefühle interessieren, die sie aus sich selbst, wie ihre Schatten, gewinnen können, entsprechend den Vergangenheitsregionen, in denen sie sich befinden. Die Figuren gehören der Ge118 | Ebd. S. 75 119 | Deleuze, Gilles »Das Zeit-Bild: Kino 2« Frankfurt/M: Suhrkamp 1991 S. 175.

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Medienästhetik des Schattens genwart an, doch die Gefühle steigen in die Tiefen der Vergangenheit hinab. Die Gefühle werden zu Personen, gleich den aufgemalten Schatten im wolkenverhangenen Park (L’Année dernière à Marienbad). [...] es setzt ein Bewusstwerden ein, dem zufolge die Schatten lebendige Wirklichkeiten eines mentalen Theaters sind, Gefühle und wahre Figuren eines äußerst konkreten zerebralen Spiels.«120

S chat ten – R aum »Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, dass keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendiger Weise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.«121

Raum ist im eigentlichen Sinne zunächst das nicht ausgefüllte Ausfüllbare, das leer Vorgestellte, und grundlegende Bedingung von Wirklichkeit. Kant bestimmt Raum als reine Form der Anschauung und vertieft diesen als existenzielles Apriori, als Unbedingtheit, in der Räume gedacht werden und zwar nicht im Sinne von Raumteilen, die den einen Raum zusammensetzen, sondern Raum kann »nur in ihm gedacht werden«. Raum ist für Kant kein Begriff, sondern Anschauung und impliziert unendliche Möglichkeiten. Raum wirft demzufolge immer die Frage auf, ob dieser unabhängig von Wahrnehmung und Vorstellung existiert oder lediglich eine Anschauungsform eines wahrnehmenden Subjektes, intersubjektiv gedacht, wie objektiv erfahrbar sein kann. Kant schreibt zum Raum weiter: »Er ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, beruht lediglich auf Einschränkungen.«122 Versteht man Einschränkung hier als Beschränkung, als Ausklammerung in einem besonderen Bestimmungsverhältnis, so kann Schatten als räumliche Mannigfaltigkeit gedacht werden. Im Schattenraum, der sich als dreidimensionales Gebilde mit Beschreibung einer vierten, nämlich zeitlichen Dimension zeigen kann, ist sowohl die Bedingung des Apriori als auch die des Im-Raum-Denkens gegeben. In Anlehnung an aktuelle Raumdiskurse, in denen sich unterschiedliche Raumtheorien entwickelt und manifestiert haben, bildet sich eine maßgebliche Position heraus, die für die gegenwärtige raumtheoretische Diskussion eine zentrale Position darstellt 120 | Deleuze, Gilles »Das Bewegungs-Bild: Kino 1« Frankfurt/M: Suhrkamp 199 S. 165. 121 | Kant, Immanuel I Schmidt, Raymund [Hrsg.] »Kritik der reinen Vernunft« Hamburg: Meiner 1991 Erster Theil. Transscendentale Ästhetik Meiner 1991 S. 98. 122 | Ebd. S. 99.

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und die sich für die vorliegende Untersuchung anbietet. Ihr Ansatz begründet sich darin, Raum als relationale Verortung zu denken. Kant nahm in seiner transzendentalen Ästhetik im Kapitel über dem Raum davon Abstand, wenn er schreibt: »Der Raum ist kein diskursiver, oder wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern reine Anschauung.«123 Weitet man den Begriff jedoch und bezieht östliches Raumverständnis mit ein, begegnet uns ein Raumbegriff, der sich vom westlichen entscheidend abhebt. Es ist der Begriff des topischen Raumverständnisses. Dieses möchte Raum grundlegend als feldhafte (An-)Ordnung begreif bar machen. Anhand dieses Raummodells auf den Untersuchungsgegenstand zu blicken bietet ein ihm angemesseneres Verhalten an. Dieses Raummodell wird im Folgenden zunächst eingeführt, um anschließend sein Verhältnis zum Schatten zu bestimmen.

Raumbegriff Im Bereich der Philosophie werden zunächst zwei grundlegende Raummodelle als Ausgangspunkt angenommen. Dies sind ein absolutes und ein relativistisches Verständnis von Raum. Das Verständnis von Raum als etwas Absoluten beruht zentral auf den Raumverständnissen von Claudius Ptolemäus (ca. 100175), Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Galileio Gallielei (1564-1642), Johannes Kepler (1571-1630) und Isaac Newton (1643-1727), wobei Newton sich durch einen erweiterten absolutistischen Raumbegriff von den vorangegangenen abgrenzt. Der absolute Raum existiert nach Newton unabhängig von allen sich darin befindlichen Dingen. Er wird als eine Form eines absoluten Behältnisses gedacht, in das etwas eingebracht werden kann. »Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgend etwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich.«124 Raum dient demnach als eine Art Container, der als absolut und statisch gegeben angesehen werden kann. Das absolutistische Raumverständnis geht davon aus, dass der Raum nur eine Bedingung eines Inhaltes ist, und basiert auf dem Dualismus von Raum und Körper bzw. von Raum und Materie (siehe Newton). Dieses Raumverständnis führt jedoch zur Ausgrenzung von bestimmten räumlichen Kategorien und ist für unseren Untersuchungsgegenstand nicht anwendbar. Einen weit offeneren Ansatz bietet ein relativistisches Verständnis von Raum, wie es beispielsweise Leibniz beschreibt, in dem er Raum als Ordnung, als Prinzip, das die Lagerelationen miteinander verbindet, bestimmt.

123 | Ebd. S. 99 es ist der Verweis auf ein absolutes Raumverständnis vergl. Newton. 124 | Newton, Isaac, »Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie = Philosophiae naturalis principia mathematica« Sankt Augustin: Academia-Verlag 2014 S. 44.

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Medienästhetik des Schattens »Der Raum ist nichts andres als die Existenzial-Ordnung der Inhalte, die zugleich bestehen können, sowie die Zeit die Existenzial-Ordnung der Inhalte, die sukzessiv bestehen können. Und wie sich der physische Körper zum Raume, so verhält sich der Zustand oder die Reihe der Dinge zur Zeit. Der Körper aber und die Reihe der Dinge fügen zu dem Raume und der Zeit die Bewegung, oder deren Prinzip, Tun und Leiden, hinzu. Denn, wie ich häufig erinnert habe – wenn gleich Sie es unberücksichtigt gelassen zu haben scheinen: die Ausdehnung ist das Abstraktum des Ausgedehnten und ist ebenso wenig eine Substanz, wie man die Zahl oder die Vielheit für eine Substanz halten kann. Sie drückt nichts andres aus als eine bestimmte, nicht (wie die Dauer) sukzessive, sondern gleichzeitige Ausbreitung oder Wiederholung einer bestimmten Wesenheit, oder, was auf dasselbe hinausläuft, eine Vielheit gleichartiger Dinge, die in einer bestimmten Ordnung nebeneinander bestehen.«125

Räume sind nicht unabhängig von Körpern und gegeben als solche, jedoch Bedingung für Wirklichkeit. Raum ist Ausdehnung, Feld und Relationsgefüge im Prozess eines Werdens. Dies bildet die Grundlage für ein modernes Raumverständnis, in dem Raum erst durch die Ausbildung und stetige Aktualisierung eines Relationsnetzes entsteht. Raum ist nicht absolut, sondern veränderbar zu denken. Raum aktualisiert und bildet sich stetig neu. Raum ist laut Leibniz »Inbegriff aller erfahrbaren relationalen Lagebeziehungen des gleichzeitigen Nebeneinanders möglicher materieller Stellen«.126 Diese Raumbeschreibung weist auf ein ployzentrisches, netzartiges Relationsgefüge, das einem zentralistischen, monoperspektivistischen absolutem Raumverständnis gegenübersteht. Eine Analogie öffnet sich an dieser Stelle zum rizhomatischen Denkmodell127, das aus verschiedenen nicht hierarchischen Zentren (Plataus) besteht, die durch variable Verbindungslinien untereinander in Beziehungen stehen. Raum besteht und entsteht hierbei in Form einer relationalen Ordnung. Er konstituiert sich aus Beziehungen sowie aus Markierungen und ist unabhängig von der Mannigfaltigkeit ihrer Richtungen und Ausdehnungen sowie unabhängig von der Qualität der Leerstellen des Dazwischen. Raum ergibt sich aus der Struktur der relativen Lage der Körper zueinander. Die Lage eines Objektes und seine Verhältnisbestimmungen sind nicht universell be125 | Leibniz, Gottfried Wilhelm I Cassirer, Ernst [Hrsg.] »Philosophische Werke Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie« Hamburg: Meiner 1996 Band 2 S. 521 Leibniz an Burchard de Volder und Martina Löw »Raumsoziologie« Suhrkamp, 2005. 126 | Latka, Thomas »Topisches Sozialsystem: Die Einführung der japanischen Lehre vom Ort in die Systemtheorie und deren Konsequenzen für eine Theorie sozialer Systeme« Heidelberg: Verl. für System. Forschung Carl-Auer-Systeme-Verl. 2003 S. 269-273. 127 | Vergl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix »Rhizom« Berlin: Merve 1977, Deleuze, Gilles / Guattari, Félix »Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie / Kapitalismus und Schizophrenie« Berlin: Merve 1993.

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hauptbar. Das zentrale Moment im relativistischen Raummodell ist die Fokussierung auf den Körper als Leib. Er allein wird mit seiner physischen Ausdehnung als Bedingung dafür angesehen, dass räumliche Erfahrungen überhaupt möglich sind. Vorne ist etwas, was sich vor mir, vor meiner Gesichtseite, zeigt, ausbreitet. Etwas ist vor meinem Körper. Wenn ich mich drehe, verändert sich dieses Davor zu einem Daneben und wandelt sich in ein Rechts oder Links neben meinem Körper, bis es zu einem Dahinter werden kann. Vorn ist im Allgemeinen etwas, auf dass sich der Mensch hinbewegt, auf dass er zugeht. Indem ich meine Aufmerksamkeit auf etwas vor mir richte und mich auf dieses zubewege, verhalte ich mich zu diesem und gebe dem zu durchmessenden Raum eine gewisse Form und Ordnung. Das was hinter mir liegt, ist das Zurückgelegte, die schon beschrittene Wegstrecke. Das vor mir Liegende ist die Strecke, die ich normalerweise noch beschreiten werde, es sei denn, ich kehre mich zu einer anderen Richtung hin um. Vor mir liegt das aktuell Sichtbare, hinter mir das, was gesehen worden ist, das, woher ich komme. An den Dingen rechts und links gehe ich vorbei und nehme sie nur als Fragmentarisches, als Band eines Vorüberziehens war, gleichsam als mögliche Ergänzung, als eine Entfaltung des Wahrnehmens in die Breite. Es ist ein Nebeneinander wie ein Umeinander, das hier aufscheint und das auf ein relationales Raumgeflecht weist, in welchem subjektives Empfinden erst möglich ist.

Topisches Raumverständnis Ein besonderes relativistisches Raummodell, das hier angewandt werden soll, ist das Modell des topischen Raumverständnisses.128 Dies ist in Asien, im Besonderen in Japan, historisch viel etablierter als in Europa. Raum wird hierbei nicht nur als relationales Gefüge gedacht, sondern als Feld, das durch Raumpunkte Markierungen erfährt und dadurch bezeichnet wird. In diesem Modell treten nicht nur die relationalen Beziehungen als bestimmendes Element in den Vordergrund, sondern gleichsam ihre subjektiven Wirkungen wie Bewegung, äußere Erscheinung und intersensorische Möglichkeiten, die beispielsweise als olfaktorische und akustische Beschreibungen erscheinen. Einen zusätzlichen bestimmenden Aspekt bei der Konstituierung von Raum bilden hierbei Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Kommunikationsprozesse, die in ihm stattfinden. Raum tritt als belebtes und soziales Feld wie auch als gestimmte Atmosphäre in eine zentrale Perspektive. 128 | Vergl. Nishida Kitaro / Elberfeld, Rolf [Hrsg.] »Logik des Ortes – der Anfang der modernen Philosophie in Japan« 1945 Darmstadt: Wiss. Buchges., 1999 wie Latka, Thomas »Topisches Sozialsystem: Die Einführung der japanischen Lehre vom Ort in die Systemtheorie und deren Konsequenzen für eine Theorie sozialer Systeme« Heidelberg: Verl. für Systemische Forschung im Carl-Auer-Systeme-Verl. 2003 S. 269-273.

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Raum findet als Verbindung und gleichermaßen als Durchdringung des Menschen statt. Das Verbindende ist zugleich das Durchdringende und im Durchdringen entstehen erneute Verbindungen. Raum konstituiert sich nicht nur im Außerhalb und verharrt darin. Er ist in einem ständigen Werden begriffen und unterliegt stetigen Änderungen. Es ist eben nicht das physikalische Modell eines dreidimensionalen Raumes, von dem die allgemeine Vorstellung kaum ablassen kann, sondern Raum kann im Grunde genommen nur als kinetisches, weiches Objekt in steter Veränderung und Bewegung gedacht werden. Er wird durch Lage- und Abstandsverhältnisse bestimmt und in Bewegung, in Schwingung gehalten. Raum ist nicht feststehend und endgültig bestimmt, sondern erfährt Bestimmung und das fortwährend neu. Der menschliche Körper verstellt nicht den Raum, sondern begegnet ihm, gleichsam einer haptischen Erfahrung von Wärme und Kälte oder einer akustischen Intervention, die ihn unweigerlich trifft, ihn in Schwingungen versetzt, ohne dass der sich dem entziehen kann. Der Körper ist Resonanzobjekt nicht nur im akustischen, sondern auch im räumlichen Sinne. Er ist ihm unweigerlich ausgesetzt und dies verweist auf den anfänglichen Begriff der beschrieb: Raum ist Bedingung der Wirklichkeit, aber auch existenzielle Erfahrung. In Analogie gedacht, ist das Besondere an einem Musikstück womöglich nicht das, was man hört, sondern das, was zwischen dem Hörbaren liegt, das Besondere an einem vorgetragenen Text nicht das, was man hört, sondern die Pausen zwischen den Wörtern und das Besondere am Licht sind womöglich ebenso seine Pausen, seine Unterbrechungen, seine Löcher – seine Schatten. Diese Beschreibungen verweisen auf einen Moment des Innehaltens, des Anhaltens, der Störung, des Fehlens. Im Fehlen füllt sich der Raum, der offenbar ungefüllt war. Der Wahrnehmende erfährt eine Wendung der Aufmerksamkeit wie die Wendung in der leiblichen Erfahrung.

Schattenfeld Zunächst einmal kann die Frage nach dem Blick in Richtung Asien gestellt werden und warum es überhaupt unterschiedliche Blicke auf Dinge, Objekte, Subjekte, Sachverhalte gibt. Der letzte Teil der Frage wird hier nicht zu klären sein, da dies Grundlagenforschung menschlichen Denkens, Handelns und In-der-Welt-Seins befragt und in ihrem Umfang ein an dieser Stelle nicht zu fassendes Maß andeutet. Wichtig an dieser Stelle ist zu betonen, dass es unterschiedliche Denkmodelle und Theorieansätze gibt und diese territoriale und kulturelle Bestimmungen erfahren. Spannend wird dies, wenn Korrespondenzen erzeugt werden und zu einem anderen Blick auf das Offensichtliche und im Allgemeinen Bekannte hin führt. Im asiatischen Kulturraum ist anders als in unserem westeuropäischen Verständnis das immer schon maßgeblich von den Begrifflichkeiten der Zeit bestimmt, die Ortsbezüglichkeit eine zentrale

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Möglichkeit in Sprache und Denken. Naheliegend ist, dass diese über andere konnotative Aufladungen verfügen und dadurch ihnen eigene Bestimmung erfahren. Begriffe, wie in Relation zu natürlichen Gegebenheiten stehen, wie Klima, Atmosphäre, Feld, Raum und Ort, haben eine differenziertere Bedeutung und die damit verbundenen Phänomene werden als viel unmittelbarer erlebt. Eine aktuelle Verbindung zu westlicher Forschung kann mit dem Begriff der Atmosphäre hergestellt werden, der beispielsweise in den Arbeiten von Gernot Böhme ein zentrales Element darstellt. »Atmosphären sind ja offenbar weder Zustände des Subjektes noch Eigenschaften des Objektes. Gleichwohl werden sie nur in aktueller Wahrnehmung eines Subjektes erfahren und sind durch die Subjektivität des Wahrnehmenden in ihrem Was-Sein, ihrem Charakter mit konstituiert. Und obgleich sie nicht Eigenschaften der Objekte sind, so werden sie doch offenbar durch die Eigenschaften der Objekte in deren Zusammenspiel erzeugt. Das heißt also, Atmosphären sind etwas zwischen Subjekt und Objekt. Sie sind nicht etwas Relationales, sondern die Relation selbst.«129

Betrachtet man den Schatten unter diesem Aspekt, so lässt sich dieser gleichsam als relationales Objekt wie auch als relationale Bestimmung von Raum denken. Der geworfene Schatten eines Subjektes wird in der Arbeit von Rafael Lozano Hemmer erzeugt, benutzt, vorhergesagt und überschrieben. Hemmer arbeitet mit einer Matrix, die Räume bestimmt und diese zunächst in ihrer Nichtsichtbarkeit belässt. Sie sind scheinbar abwesende in einer ganz bestimmten Anwesenheit. Dies ist hierbei Setzung und gleichsam Falle, welche auf die über den Platz gehenden Passanten zu warten scheint, um sie in ihrem Schlagschatten zu treffen. Wenn sich dieses Treffen an einer sensiblen Stelle, an einem vorher bestimmten Knoten der Matrix vollzieht, ändert sich diese und zeigt das bis dato nicht sichtbare, wartende Videoporträt. Es okkupiert den am Boden liegenden Schlagschatten der vorübergehenden Person und lässt ihn eine erweiterte Bestimmung zuteilwerden. In diesem Moment treffen Schlagschatten und archivierter Schatten in Form eines Videoporträts in einem bestimmten Raum-Zeit-Gefüge aufeinander. Beide Schatten begegnen einander, obwohl sie sich in Raum und Zeit nicht hätten begegnen können. Einzig mithilfe einer medialen Aufzeichnung, der Archivierung anhand eines bildgebenden Verfahrens, ist diese Möglichkeit der Begegnung und Durchdringung entstanden. Der Schatten der aktuell anwesenden Person, die sich durch einen öffentlichen Raum bewegt, und die Bildmatrix, die als über dem gesamten Platz liegendes Feld mit sensiblen Wegmarken aus Videoporträts bestückt ist, berühren sich, durchdringen einander und lösen in der Verbindung eine aktionelle Hand129 | Böhme, Gernot »Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre« München: Fink 2001 S. 54.

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lung des Rezipienten aus. Es ist nicht nur die visuelle Überlagerung, die an diesen Stellen geschieht, sondern es entsteht eine kommunikative Handlung des Response. Der Vorübergehende wird im Gehen gestoppt und erfährt eine Ansprache aus einem Bild seines Schattens. In diesem Augenblick tritt ein besonderer Moment des Dialogs zwischen Schatten gebender Person und projizierter Person ein. Hemmer hat die projizierten Videoporträts bewusst mit alltäglichen Personen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Hautfarbe und kulturellem Hintergrund sowie unterschiedlichen Geschlechts erstellt. Es gab keine Anweisung für eine emotionale Handlung, was den aufgezeichneten Personen in ihrem Tun eine bestimmte Freiheit in der Ansprache eines fiktiven Dialogpartners ermöglichte. Eine Steigerung wäre die Besetzung des Schattens mit einer negativ handelnden Person oder einer Persona non grata des historischen oder aktuellen Zeitgeschehens, die affektiv unweigerlich stärker eine Beziehung mit dem Betrachter eingehen würde. So, wie es bei Hemmer geschieht, taucht kein Unbehagen beim Betrachter auf, im Gegenteil. Es erscheint für viele der Vorübergehenden als »funny game«130, wobei allein in diesem Begriff sich mehr andeutet, als der Befragte in diesem Moment dazu zu sagen hat. Es erscheint der Moment des harmlosen Spiels im Sinne eines kindlichen Spiels. Die Tragweite der technologischen Möglichkeiten erscheint nur für einige Passanten sichtbar. Zu diesen kommen Passanten, die die Videoprojektionen versuchen zu attackieren und zu provozieren, auszuloten, in welcher Beziehung sie zu ihnen stehen. Im Schatten liegt der Verweis auf ein Bildkönnen. Der Schatten macht etwas präsent, was eigentlich an jener Stelle nicht präsent sein kann. Er ist nicht greif bare Materialität und verweist auf ein Original, das in einem bestimmten chronologischen und topologischen Abstand zugegen sein kann, aber auch als Abwesendes in archivierter Form einer Skiagraphie – was ohne Weiteres als mediale Aufzeichnung wie Fotografie oder Film einmal anwesend gewesen sein muss. Der Schatten verweist auf ein anderes, auf eine materielle Erscheinung, die nicht er ist und vollzieht gleichsam eine Besetzung und Neubestimmung von Raum. Indem er Schatten bei Hemmer bleibt, bestimmt er zunächst nicht nur durch seine dunkle Fleckigkeit den abendlich beleuchteten öffentlichen Platz, er unterwirft ihn gleichsam einer anderen räumlichen Bestimmung, einer anderen möglichen Ordnung. Würde man ausschließlich die Schlagschatten isolieren und erschiene dieses nicht regelmäßige Schattenraster an anderer Stelle, an einem anderen Ort, erführe dieser eine andere Bestimmung. Es wären somit die dunklen Stellen der Schlagschatten, die ausschließlich durch ihre Abstände und ihre Größenverhältnisse zueinander bestimmbar wären und einen Metaraum erzeugten, d.h. einen Raum, der auf 130 | Aussage einer Passantin in der Dokumentation auf DVD in Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007.

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den Raum verweist, in ihm ist, jedoch nochmals anders über ihn zu sprechen vermag. In der Dokumentation zu Hemmers Arbeit sind die Schlagschatten der Passanten eingewoben in eine Textur aus hell und dunkel, aus Figuren, Objekten und Grund. Sie kollaborieren mit der außerhalb des beleuchteten Platzes liegenden Dunkelheit auch weit über den Platz hinaus und unterbrechen ihn in seiner bestimmten Helle. Sie erscheinen als »Löcher im Licht«131, als Auslöschung, als Perforierung des Lichts. In der Differenz zu den Objekten, zu den Gegebenheiten, erscheint das Licht nicht an ihnen, sondern mit ihnen. Im Nebeneinander von Schatten und Licht ist dies in seiner Besonderheit erst erkennbar. Losgelöst, freigestellt, ohne scheinbar sichtbares Netz an Beziehungen zu Umgebendem erscheinen die Schlagschatten als Flecken, als Verhältnisbestimmung im Bildraum, als fliehend erscheinende zweidimensionale Formen. (Siehe Abbildung 44.)

Abb. 44 Linkes Bild: isolierte Schlagschatten aus der Standfotografie des rechten Bildes; Photo by: Antimodular Research Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

Einzig ihre gemeinsame Richtung ist als formbestimmendes Element und als Verweis auf das sie erzeugende Licht wahrnehmbar. Was jedoch noch erscheint, ist der Eindruck einer ansteigenden Bewegung sowie eine in die Tiefe eines vorgestellten Raumes gehende perspektivische Beschreibung. Die Flecken im linken Bild werden schmaler und verdichten den Bildraum. Dies ist so erst in ihrer Isolation deutlich erfassbar.

131 | Vergl. Baxandall, Michael »Löcher im Licht. Der Schatten und die Aufklärung« München: Fink 1998 – der Titel der deutschen Ausgabe »Löcher im Licht«, der auf LE CAT, Claude Nicolas. »Traité des sensations et des passions en général, et des sens en particulier« Vol II S. 367, 368 hinweist und die Erwähnung darin hervorhebt. Quelle: La BIU Santé est un service des universités 12, rue de l’Ecole de Médecine 75006 PARIS Contact: [email protected] www2.biusante.parisdescartes.fr/liva nc/?cote=70996x02&do=chapitre vom 10.08.2014.

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Ohne das Originalbild, die Fotografie, verbleiben die Schlagschatten kontextlos in sich und erzeugen die Möglichkeit einer anderen Bestimmung, einer anderen Form von Offenheit. Es scheint bis auf ein Schattenpaar in der Bildmitte zunächst nicht klar und eindeutig zu sein, dass es sich hierbei um Schlagschatten auf einer Projektionsfläche handelt. Erst bei näherem Hinsehen erschließt sich dies, anhand einzelner Fragmente, die im Bereich der Schatten noch sichtbar sind, wie Teile eines Körpers, Ausschnitte aus der Projektionsfläche. Die Formen der Schatten lassen zwar auf den menschlichen Körper als Ursprung schließen, es ist jedoch nicht mehr die Bedingung ihrer Entstehung erkennbar und die Frage drängt sich auf, ab wann der Verweis auf eine menschliche Figur noch wahr erscheint und wie stark dieser in seiner ikonischen Darstellung eine Abstraktion erfahren kann, um dies noch zu ermöglichen. Blickt man auf die Fotografie, der die Schatten entnommen wurden, so erscheinen die Schlagschatten auf einer anderen Bedeutungsebene. Sie sind im Nachhinein präsenter als je zuvor und verlangen nach einem Vergleich mit den freigestellten Schatten im linken Bild. Was noch erscheint, ist die Frage nach einer Glaubwürdigkeit, d.h., wenn es möglich ist, die Schatten zu isolieren, so ist es gleichsam möglich, sie zu potenzieren, zu simulieren, zu verstärken wie sie abzuschwächen. Das Schattenfeld scheint im gesamten Bildraum zu liegen: anzunehmen ist, dass dieses demnach im realen Bildraum gelegen haben muss. Die Schatten im originalen, realen, durchschreitbarem Raum waren kein opakes Davor, das vor eine Szene, gleich einem transparenten Theatervorhang, gestellt wurde, sondern sie sind mehrdimensionale Möglichkeit einer Raumdurchdringung. Diese Aussage kann heutzutage nicht mehr als Wahrheitsbeleg gelten, da das vorliegende Bild ebenso ein Composing sein kann, angefertigt aus Einzelbildern, die in mehreren Ebenen als Schichtung, als Überlagerung präsentiert werden. Führt man diesen Gedankengang weiter, so stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Fotografie als Dokument, wie auch die nach Glaubwürdigkeit von Bildern im Generellen, was jedoch wieder eine eigene Arbeit umfassen würde, dem kann daher hier nicht nachgegangen werden. Um die Glaubwürdigkeit des Schattens und seine Eingebundenheit in ein relationales Gefüge in Frage zu stellen, sehen wir uns im Folgenden Fotografien von Installationsansichten der Künstlerin Nan Hoover an (siehe Abbildung 45), die zunächst formal konkret erscheinen und die Frage nach der Möglichkeit des gefälschten Schattens zunächst einmal nicht entstehen lassen. Im Bild erscheint Raum zunächst als zweidimensionaler Bildraum, als kompositorisches Prinzip, das aus hellen und dunklen Bildbereichen besteht. Wie bei der Fotografie von Rotschenko sind diese Hell-/Dunkelbereiche relative Beschreibungen, da sie unweigerlich nur als Relationales existent und nachvollziehbar sind. Hell kann nur hell sein, wenn ihm etwas Dunkles anheimsteht und dunkel kann nur dunkel sein, wenn es in Relation zu etwas Hellem steht.

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Abb. 45 Nan Hoover, Performance Museum Abteiberg Mönchengladbach, 1986; rechtes Bild: digitale Retusche, die Schatten an den Wänden wurden entfernt.

Die Bestimmung als Schatten erfährt es zusätzlich über eine logische Verbindung, zu etwas was nicht unbedingt im Bild vorkommen muss, aber kann. In der linken Fotografie, dem Original der Installationsansicht, ist jedoch völlig unklar, wie der Bildinhalt sowie der Schatten ihre Bestimmung erfahren. Die dunklen Silhouetten könnten sowohl Wandmalereien als auch Wandöffnungen sein. Einzig durch unser Wissen über die Werke von Nan Hoover und Hoovers Beschreibungen erschließt sich, dass dies Projektionsschatten ihres eigenen Körpers sind, und wir müssen dies als Gegebenes hinnehmen. Um die Umschreibung und um die Neuordnung des Raumes anhand des Bildes von Nan Hoover zu beschreiben, wurden in diesem die Schlagschatten, ihre Silhouetten an den Wänden entfernt. Es entsteht ein maßgeblich anderer Eindruck vom Bildraum, der im realen Raum des performativen Aktes einen noch intensiveren Eindruck auf den Betrachter wie auf den Akteur erzeugen würde. Dies im zweidimensionalen Standbild nachzuempfinden ist unmöglich. Der mehrdimensionale Raum, den das rechte Bild zu zeigen versucht, scheint hier an Tiefe verloren zu haben. Es entsteht nicht mehr der Eindruck einer räumlichen Überlagerung von Wandplatten, gestaffelt in einer bestimmte Tiefe im Raum, sondern es zeigt sich eine gewisse Verflachung, Verdichtung von Raum. Hierfür sind hauptsächlich die unterschiedlichen Größenverhältnisse wie auch der hälftige Schatten in der Bildmitte verantwortlich. Gleichsam ändert sich die Blickführung des Betrachters sowie die Beschreibung des Raumes durch hell und dunkel, durch Licht und Schatten. Hier im Besonderen tritt eine starke Fokussierung, eine Sogwirkung des Blickes, auf die Person in der Bildmitte ein. Die Blickführung, die zuvor noch eine geteilte, eine sprunghafte war, erfährt hier eine Engführung. Was sich ebenso zeigt, ist, dass die Person keinerlei Auswirkungen auf die räumliche Verteilung von Licht und Schatten zu haben scheint, außer dass sie mit ihrer hellen Kleidung den Eindruck verstärkt, vor und nicht im Bild zu stehen. Der visuelle Dialog, der mit den Schattenfiguren an der Wand im Bild links unweigerlich heraufscheint, ist verloren, gleichsam wie die Person, die etwas mehr aus der Bildmitte gerückt

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zu sein scheint. Der Schattenwurf ist ein Dazwischen, er ist feldhafte atmosphärische Erscheinung, die nur an den Dingen zu Sichtbarkeit gelangen kann und im erweiterten Raumbegriff zu kulturellen und historischen Bestimmungen steht, von denen er nicht getrennt gesehen werden kann, die immer mitschwingen. Seine Geworfenheit als allgemein-sprachlicher Topos beschreibt sehr gut, was er nicht ist, was er jedoch oft evoziert: selbstbestimmte autonome Erscheinung. Er tritt auf als scheinbar Nebensächliches, als ein Dabei, ein Mitsein. Er ist Schattenraum, der als Sichtbares sich an den Dingen zeigt, jedoch seinen überwiegenden Teil in Nichtsichtbarkeit belässt. Vergleichbar ist dies mit einem akustischen Raum, der ihn als Analoges besser beschreibt – wenn beispielsweise unterschiedliche Helligkeiten unterschiedlichen Tönen zugeordnet werden. So wie sich die Schatten durch einen zunächst hellen Raum bewegen, diesen verändern, ihn besetzen, verschatten, so füllt der Ton einen akustischen Raum, nach und nach oder mit einem Schlag. So wie es im Bereich der Akustik Tonfragmente gibt, die anwesend sind, die das menschliche Ohr jedoch aufgrund seiner beschränkten Möglichkeiten nicht erfassen kann, so treten gleichsam Schatten auf, die mit dem menschlichen Auge so nicht wahrnehmbar sind. Schatten an Etwas sind demnach Fragmente des Schattens und verweisen gleichsam auf das Licht und den Körper, der sie erzeugt, wie auf den zunächst nicht sichtbaren Schattenraum des Dazwischen. Das was sich zeigt, ist zunächst seine Zweidimensionalität in Form einer Silhouette auf/ an einer Projektionsfläche. Wandert der Blick von da aus in Richtung Licht, in Richtung des Körpers, der sich dem Licht in Weg gestellt hat, so erscheinen an ihm, an seiner lichtabgewandten Seite Schattenbereiche. Diese beiden Erscheinungen, Schlagschatten und Körperschatten, sind die Ränder einer im Allgemeinen nicht sichtbaren Verbindung. Zwischen ihnen existiert ein Schattenraum, der sich erst zeigt, wenn in diesem Rauch, Nebel, Wasserdampf oder eine andere atmosphärische Störung, gleichsam ein Wolkengebilde, erscheint oder ihn ein anderer Körper durchschreitet (siehe Abbildung 46).

Abb. 46 Anthony McCall »You and I, Horizontal (III)« (2007). Installation view, Serpentine Gallery, London, 2007-08. Photograph by Sylvain Deleu; Anthony McCall »Leaving with 2-minute silence« 2009, Installation view, Galerie Thomas Zander.

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Grundlegend kann somit für den Schatten gesagt werden: Er ist anwesende feldhafte Beschreibung. Gemeint ist hiermit nicht nur seine pysikalische Ausdehnung, sondern seine Qualität, Raum neu zu ordnen, zu verändern, umzustimmen und dabei einen direkten Kontakt zum Menschen und seinem sinnlichen Erleben herzustellen. An dieser Stelle ist es offensichtlich, die Faszination des Menschen für Projektionen zu erklären und warum sich kaum jemand zurückhalten kann, in einen erreichbaren Projektorstrahl einzutreten, um sich übergroß an der Projektionswand wie auch im projizierten Bild anzuschauen, selbst zu begegnen. Schatten beschreibt und erzeugt Raum. Seine Sichtbarkeit steht in direkter Abhängigkeit zu einem Medium, auf das er trifft, sei es ein Objekt oder eine atmosphärische Erscheinung. Um den Feldbegriff anzuwenden: Der Schatten wird bestimmt und bestimmt Markierungen im Raum. Er schafft Setzungen, die in einem bestimmten Maße nur durch ihn möglich sind und erzeugt ein kinetisches Spannungsfeld, das sogar intersensorisch erfahrbar sein kann.132 In diesem Schattenfeld, das von der dem Licht abgewandten Seite eines Körpers und des Schattens der Projektion Begrenzung erfährt, werden nur zwei Möglichkeiten seines Feldes beschrieben. Hinzu kommt die Auflösung in ein Unbestimmtes, das Auftreffen auf eine Projektionsmöglichkeit, wobei nicht nur feste Körper, sondern gleichsam »weiche Displays«133 wie Rauch und Nebel den Schatten in seiner Ganzheit zur Sichtbarkeit gelangen lassen können. Die Frage drängt sich auf: Was wäre, wenn jeder Schatten in seiner vollständigen Sichtbarkeit jeder Zeit visuell erfassbar wäre? Wenn eine atmosphärische Störung wie Rauch oder Nebel nicht notwendig wäre und der sonst unsichtbare Schattenraum im Alltäglichen stets den Raum füllt? Es wäre eine Überforderung des Alltags, eine Überforderung im Sehen und Erfassen, eine Überforderung des Menschen. Die Schatten, die an den Dingen als dinghafte Illusion erscheinen, führten zu einer Überforderung des Blickes. Der Schatten drängte sich im wahrsten Sinne in den Vordergrund des Sehens und verdeckte die alltägliche Dingwelt. Durch das fragmentarische Ausgeblendetsein erhält der Schatten eine Andeutung im Sehen, mit dem Verweis auf ein Mehr, mit dem Verhaltenen eines dahinter Liegenden. Schatten liegen zu einem nicht unbedeutenden Teil in einer bestimmten Ebene der Nichtsichtbarkeit und erscheinen nur an ihren Rändern als Markierungen und als Andeutung eines Mehr. Man kann Schatten nicht nur im Schatten denken. Indem der menschliche Körper sich unweigerlich im Raum befindet, ihn durchschreitet, ihn durchmisst, ändert sich dieser, was ein reflexives Verhalten evoziert. Nicht nur in Form der Abstände zueinander, der Gespanntheit und Verteilung 132 | Wie z.B. die Kühle im Schatten an einem heißen Sommertag. 133 | Vergl. Schmidt, Gunnar »Weiche Displays Projektionen auf Rauch, Wolken und Nebel« Berlin: Wagenbach 2011.

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von Licht und Schatten, sondern ebenso in seiner Fülle verändert sich Raum und schreibt sich dadurch neu. Im Raum entstehen Schattenschneisen, welche diesen durchschneiden und einer neuen Ordnung unterwerfen. Treten andere Dinge hinzu, Objekte, Subjekte, so erweitert sich dieses und es erscheint ein Feld, das zunächst nur zweidimensional, jedoch auch immer multidimensional gedacht werden muss. Es entsteht eine Art Schattentextur, die als Matrix im Raum Verortung findet und ihn unhintergehbar mitbestimmt. Als oppositionelles Analogon kann Schattenlosigkeit gedacht werden, die bei diffusem Licht eintritt. Die Dinge treten hierbei ein in eine bestimmte Aufmerksamkeit sowie in eine bestimmte Form von Unwirklichtkeit, die ihre Schattenlosigkeit präsentiert. Etwas, was keinen Schatten werfen kann, ist nicht existent und etwas, was seinen Schatten verloren hat, ist unwirklich.134 Unweigerlich entsteht hierbei eine physische Atmosphäre, die nicht nur durch helle und dunkle Flecken im Raum visuell erzeugt wird, sondern auch eine fühlbare Veränderung hervorrufen kann. An dieser Stelle fällt der Glaube an einen den Körper durchdringenden Schattens nicht schwer. Indem dem heißen Licht der Sonne sich etwas in den Weg gestellt hat, schützend vor den menschlichen Körper, erfährt dieses eine Behinderung. Im Schatten liegen heißt auch unter seiner Schutzbefohlenheit stehen, Schutz vor zu viel Licht, zu viel Hitze. Beschattet werden heißt auch Abkühlung erfahren, zur Ruhe kommen. Diesem steht eine andere visuelle Lesbarkeit gegenüber. Befindet sich der Mensch im Schatten, im dunklen Teil eines Raumes, ist dies vergleichbar damit, dass er reduziert wahrgenommen wird, vergleichbar mit seiner Selbstauslöschung im Raum, im Eigenschaftsfeld, dass das Licht im Allgemeinen dominiert. »Denn die einen sind im Dunkeln. Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.«135 Indem sich etwas im Schattenraum befindet, wird es gleichermaßen unter Schutz gestellt und in seiner Sichtbarkeit, Wahrnehmbarkeit beeinflusst. Das im Lichte wird als vordergründige Präferenz wahrgenommen. Es sei denn, eine ungewöhnliche Farbigkeit spielt mit, welche die Aufmerksamkeit anders lenkt. Das im Schatten Liegende erscheint immer erst auf den zweiten Blick, als nachrangiges Element, das durchaus eine bestimmende Funktion einnehmen kann, jedoch immer als Nebendarsteller oder als Instanz der Dunkelheit fungieren muss.

134 | Vergl. Chamisso, Adelbert von »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« Stuttgart: Reclam 2003. 135 | Brecht, Bertolt »Die Dreigroschenoper« Berlin: Suhrkamp 2013 Für die geplante Verfilmung fügte Brecht 1930 u.a. diese Schlußstrophe hinzu.

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B e wegung »Es scheinet, daß in diesem Worte zwey verschiedene Hauptbegriffe liegen, die aber doch aus Einer gemeinschaftlichen Quellen fließen, der Begriff eines Bildes, und der Begriff der Dunkelheit; jener ist eine Figur des Lichtes, dieser aber des hohlen Raumes, beyde aber stammen von dem Begriffe der Bewegung und ihrer Richtung her.«136

Im Kapitel zum Wortfeld des Begriffes Schattens, tauchten wiederholt die Beschreibungen der Möglichkeit von Bewegung auf. Das Motiv der Bewegung, das zunächst auf den ersten Blick nicht so präsent zu sein scheint, wird auch im Grimmschen Wörterbuch im Begriff des Schattens aufgenommen »schatten als etwas bewegliches. die bewegungen des körpers übertragen sich auf den schatten«.137 Es ist dies die Andeutung einer Übertragungsleistung wie auch gleichsam die Beschreibung einer Abhängigkeitsbeziehung, die nicht in Erstarrung verbleibt, sondern steter Änderung unterworfen ist. Indem der Körper sich bewegt, bewegt sich analog dazu der ihm zugehörige Schatten. Er muss sich bewegen, es ist nicht möglich, dem Körper zu widerstehen. Was möglich ist, ist, dass sich der Schatten ohne den ihm zugehörigen Körper bewegt. Dies ist ein Ansatz, der auf die Idee des autonomen Schattens in Märchen und Sagen verweist, letztendlich jedoch nur auf das Bestimmungsverhältnis Schatten – Licht bzw. Schatten – Grund. Wenn dem Körper die Möglichkeit einer Bewegung nicht gegeben ist, so bedeutet dies für dessen Schatten keine Verdammung zur Unbeweglichkeit. Indem die Lichtquelle, die ihn bestimmt, am Körper vorüberzieht, gleich einem Autoscheinwerfer, oder die Leinwand, auf die er fällt, sich im Winde bewegt, ist es dem Schatten möglich das Motiv einer Autonomität zu produzieren. Er scheint unabhängig von seinem Körper zu wachsen und zu schwinden, zuzunehmen und abzunehmen, wenn sich die Abstandsbestimmungen zur Projektionswand verändern. Diese Möglichkeiten der unerwartenden Bewegungen sind es, die ihm abermals eine Besonderheit zuteilwerden lassen. Es ist somit nicht das alleinige Motiv des Doppelgängers, das hierbei spricht, sondern der Eindruck der Abspaltung, der Dominanz, und die mitschwingende Frage nach Herr und Knecht. Aber es ist auch die Frage nach der Erzeugung von Aufmerksamkeit. Im bewegten Bild liegt diese, gegenüber dem Standbild, ohnehin schon in erhöhter Form begründet, da die menschliche wie tierische Aufmerksamkeit aus Gründen des Überlebens auf Bewegungen fixiert ist und darüber zunächst eine existenzielle Bedrohung wahrnimmt. Etwas, was eine Bewegung vollzieht, wird aus dem Blickwinkel 136 | Adelung, Johann Christoph »Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen« 1806 Th. 3. M-Scr. 2. Ausg. Leipzig: Breitkopf 1798 S. 1370-1372. 137 | Dückert, Joachim [Hrsg.] »Das Grimmsche Wörterbuch« Leipzig: Hirzel 1987.

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schneller wahrgenommen. Es könnte die Ankündigung einer drohenden Gefahr sein. Der Mensch wie auch Tiere unterscheiden zunächst nicht, ob dies ein sich bewegendes Objekt oder ein sich bewegender Schatten ist. Eine Bewegung im Blickfeld zieht unhintergehbar die Aufmerksamkeit an sich. Innerhalb dieser Beziehung wird der Schatten mit den sich bewegenden Objekten gleichgestellt und tritt somit in die Kategorie des Objektes ein, obwohl er haptisch nicht greif bar ist. Was bei beiden Quellen Berücksichtigung finden muss, ist die Zeit, in der diese Texte geschrieben wurden. Zu dieser Zeit gab es etwas, in Bezug zum Schatten, was heutzutage in diesem Maße nicht mehr existent ist und eine Ergänzung nach sich ziehen muss. Das Licht war zu jener Zeit keine starre Konstante, sondern eine in steter Bewegung verhaftete Größe. Licht war zu dieser Zeit ausschließlich in Bewegung in sich oder folgte einer festen vorhersehbaren Bahn. Das Licht der Sonne, das mit den Tages- und Jahreszeiten sich veränderte, durch atmosphärische Störungen behindert wurde, war lange Zeit neben der Flamme des offenen Feuers die einzige Form von Licht, dem es gegeben war, Schatten hervorzurufen. Die elektrische, starre, unbeweglich erscheinende Beleuchtung kam erst sehr viel später auf. Mit ihr wurde die Beleuchtung der Großstadt entromantisiert und die Industrialisierung vorangetrieben, aber auch die Schatten eingefroren. Das offene Kaminfeuer, das am Abend oft einzige Lichtquelle war, das seine Schatten an die Zimmerwände warf, wurde ersetzt durch Heizkörper, das Licht der offenen Flamme durch den Glimmfaden der Glühlampe. Die Bewegung, durch die der Schatten über das Flackern der Lichtquelle bestimmt wurde, ging langsam und unmerksam fast völlig verloren. Licht wurde zu einer bestimmbaren Größe, die in einer bestimmbaren elektrischen Leistung und mit einer bestimmten Lichtausbeute zur Verfügung stand. Licht wurde kontrollierbar, bestimmbar und die Gefahr, die von ihm ausging, als es noch offenes Feuer war, wurde minimiert. Licht wurde zum inflationärem Gebrauch in den westlichen Industrie- und Postindustriegesellschaften, sogar so weit, dass es seit längerer Zeit Bewegungen gegen Lichtverschmutzung138 für einen bewussten Umgang mit Licht im öffentlichen und privatem Raum gibt. Im Rückblick auf die exemplarisch untersuchten Werke künstlerischen Schaffens gibt es grundlegende Unterschiede in Bezug darauf, wie die Bewegung der Schatten im Werk auftauchen und Wahrnehmung erfahren. Ist es in der Fotografie das dem Medium inhärente Zum-Standbild-, Zum-Stillstand138 | Vergl. Lichtsmog und verschiedene Organisationen wie Astronomy and World Heritage Thematic Initiative (whc.unesco.org/astronomy) IUCN Dark Skies Advisory Group (darkskyparks.org) darksky.org (International Dark-Sky Association) Dark Sky – Initiative gegen Lichtverschmutzung (lichtverschmutzung.de) Interdisziplinärer Forschungsverbund »Verlust der Nacht« (D) Loss of the Night Network (LONNE) Europäischer Forschungsnetzwerk COST Aktion ES1204 HelleNot.org (Österreich) Dark-Sky Switzerland

Der Schatten – ein ästhetischer Sonder fall

verdammt-Sein, zur Repräsentation im Einzelbild, so zeigt sich dies in den anderen Werken viel komplexer. Was unübersehbares entscheidendes Moment ist, ist ihr Angelegtsein auf Unbeweglichkeit bzw. Beweglichkeit. Während die Fotografie Rotschenkos den einen Moment im Bruchteil einer Sekunde zeigt, aufdeckt, was in einer fließenden Bewegung verloren gegangen wäre, ist dies im Bewegtbild ganz anders. In der Fotografie braucht der Schatten keine Bewegung, sondern evoziert sie. Es ist ein Innehalten der Person im Bild wie auch ein Innehalten des dazugehörigen Schattens, aber auch ein Verweis auf eine Möglichkeit der Bewegung, eines Davor und eines Danach. Der Betrachter muss sich gedanklich in die Situation hineinbewegen und folgt seinem konnotativem Denken. Bewegung findet hier allein vor dem Bild in der Rezeption, im Verhalten zu ihm, statt. Das Überblicken der Situation, das Wandern durch das Bild anhand des Blickes, wie das Erzeugen gedanklicher, eigener Bilder bewegt etwas anderes. Die einzelne Fotografie bleibt still im Innehalten und fordert einzig den Betrachter auf zu einer Bewegung, und wenn es ausschließlich die Bewegung auf das Bild zu sein soll, da es eine gwisse Wirkmacht in der Fernwirkung innehat und als Ansprache an das Staunen des Vorübergehenden appelliert. Es ist somit nicht nur einzig die Zeit, die im Bild zu sein scheint, sondern ihr Verhältnis zur Dauer der Rezeptionsmöglichkeit, die in diametraler Weise hervorscheint. Eine Fragment, ein Bruchteil der Zeit, wird hier zur unendlich erlebbaren Dauer. Ein Ausschnitt der Zeit einzig allein, um ihn immer wieder erneut zu betrachten, als verlässliches Moment der Rezipierbarkeit, für einen Flaneur des Blickens, der sich nicht körperlich, sondern sehend durch den Bildraum bewegt. In den Bewegtbildern ist die Lage ungleich komplexer. Bei Jean Otth ist ebenso wie in den anderen Werken der Schatten als bewegtes Element viel stärker und prägender für das Werk an sich. Er muss über eine gewisse zeitliche Distanz tragen, als gleichwertiger Akteur, wenn nicht als Hauptdarsteller herhalten. Er steht bei Otth zum einen in einem engen Dialog zu ihm selbst als Darsteller, als Akteur, gleichsam wiederum auch in einem gewissen Gefecht mit ihm. Der Schatten lässt sich zunächst offenbar nicht festhalten, entzieht und windet sich immer wieder erneut. Der Rezipient hat den Eindruck einer parallelen Bewegung in der Zeit wie auch den Eindruck, dass die Bewegung des Schattens im Bild einer nachvollziehbaren Logik Folge leistet. Er nimmt die Aufnahme zeitlich wie in Echtzeit war, was meint: zeitlich vor dem Monitor dem Geschehen zuzusehen unterscheidet sich im Allgemeinen nicht von einer Vorführung live im Atelier. Zeitlich existiert zwischen Betrachtungszeit und Performancezeit offensichtlich kein Unterschied. Das Video läuft offenbar analog zu seiner Aufzeichnungszeit ab, weder langsamer noch schneller. Die Zeit, die nicht sichtbar ist, ist der Versatz wie auch die Möglichkeit der wiederholbaren Zeit. Dem Video bleibt die Möglichkeit des erneuten Abspielens und dem Innhalten in Form einer Pause, des schnellen oder langsamen Vorspulens wie Zurücklaufens und wie allen ande-

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ren Werken der Sprung in der Zeit, die zwischen Aufzeichnung und Rezeption liegt. Im Tanz von de Keersmakers ist die Zeiterfahrung eine verwandte, jedoch zunächst vollkommen anders erscheinende. Es ist eher ein loser Dialog, in dem die Tänzerinnen mit ihren Schatten stehen, wie gleichsam die Schatten untereinander. Es ist ebenso möglich die Tänzerinnen auszublenden und nur auf die Bewegungen ihrer Schatten zu achten, wie sie sich aufeinander zubewegen, entfernen, überlagern, verdichten, aus einer Vielheit eine Einheit und aus einer Einheit eine Vielheit entstehen lassen. Die Formen verändern sich, indem sie sich aufeinander zubewegen, einander entfliehen, sich vergrößern, indem sie Abstand zum Hintergrund erlangen und blasser oder dunkler werden, je nach Überlagerung mit einem anderen oder einer Änderung der Beleuchtung. Der Tanz der Schatten hat als allein schon solch eine signifikante Präsenz, dass dies als Bild ausreichend wäre, wenn wir an die Schattentheater denken. Der Schatten an sich ist fähig zum bildgebenden Element; und in seiner teilweisen Unbestimmtheit, in seinem dunklen Binnenraum sowie in seiner uneindeutigen Eindeutigkeit verbirgt sich die Qualität, die ihn dazu macht. Im Keersmakers Werk ist es das ständige In-Bewegung-Sein, die repetitive von der Musik unterstützte Bewegung, die den Blick des Betrachters fesselt. Dieser Blick ist nicht nur Verfolger der Bewegungen im Bild, sondern bewegt sich gleichermaßen zwischen den Schatten und den Tänzerinnen hin und her. In der ständig wechselnden Bewegung, ihrer zunächst angenommenen Doppelgängerhaftigkeit, wird direkt zu Beginn der Arbeit der Blick irritiert, hinters Licht geführt, da zwei Tänzerinnen mit drei Schatten anwesend sind, wovon der mittlere als das Dunkelste unweigerlich den Blick auf sich zieht. Die einsetzende tänzerische Bewegung löst dieses Bild erst auf und verweist auf eine nicht natürliche bestimmte Beleuchtung aus zwei Richtungen, die gleichsam jeder Tänzerin einen Doppelschatten projiziert. Nur durch diese Bedingung ist die Möglichkeit einer Überlagerung der Schatten zwischen den Tänzerinnen möglich, diese bestimmen, wann und wie dies geschieht, indem sie das Abstandsverhalten zueinander wie zur Projektionsfläche bzw. zum Boden bestimmen. Was noch auffällig ist, ist nicht nur die Bewegung der Schatten analog zu den Tänzerinnen, sondern eine gewisse Autonomie der Schatten in ihrem Helligkeitsverhalten zueinander. Es entsteht nicht nur eine Bewegung über die Projektionsfläche, sondern auch eine Bewegung innerhalb der Projektionen, die sich verdunkeln oder an den Rand der Auslöschung und einer Verschmelzung mit der Projektionswand gelangen. Das Dunkle der Schatten besticht als dominante Form und lässt ebenso die hell gekleideten Tänzerinnen verschwinden. Einzig in dem Moment einer angenommenen Berührung, einer Überlagerung treten diese wieder in den Vordergrund der Wahrnehmung. Als Verstärkung der Bewegungsmodi kommt hier explizit die Bewegung anhand filmischer Mittel hinzu: die Bewegung der Kamera, die eine Bewegungssuggestion beim Betrachter hervorruft, und eine Bewegung im Perspektivwechsel,

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die eine noch größere Bewegung des Rezipienten suggeriert. Eine ganz andere Form von Bewegung findet bei Hemmer statt. Er berechnet den Schattenfall im Vorhinein, um ihm in den Weg zu treten, mit aufgezeichneten Schatten, mit einem Videoporträt. Die Schatten der Passanten erscheinen als bewegte Matrix, auf die an bestimmten Stellen erneut Schatten und Licht fallen. Es ist dies eine zusätzliche Bewegung innerhalb, eine Bewegung von Schatten und Licht im Schatten zum Schatten. Zunächst nehmen die Passanten ihren eigenen Schatten am Boden als alltäglich gegebene Erscheinung war. Er tritt in den Hintergrund der Wahrnehmung. Einzig der Moment des Belegens des eigenen Schattens mit etwas anderem, einer Projektion, ändert die Aufmerksamkeit. Etwas, was nicht sein kann, taucht plötzlich auf im eigenen Schatten der Person, die überrascht innehält. Das Videoporträt erweckt den Eindruck einer Ansprache. Es ist keine Fotografie, die als stilles Bild den Schatten überlagert, sondern ein Bewegtbild, das die Geste einer Kontaktaufnahme evoziert. Der Passant erwartet eine Handlung, einen Akt der Aufforderung, der Ansprache. Die Bewegung im Schatten ist hier eine mehrschichtige, intermedial wie intersubjektiv. Was bei allen diesen Beschreibungen mitklingt, ist der Moment des Innehaltens, des Im-Fluss-der-Zeit-Seins und die Zeit als zerlegbare unausweichbare Ordnung erfahren zu haben. In allen Arbeiten ist in der Gegenwart die Vergangenheit enthalten wie auch eine Spaltung der Aufmerksamkeit zugunsten der bewegten Objekte im Bild. Während dies für die Fotografie von Rotschenko nur bedingt zutrifft, während sie eine Zerlegung der Zeit als Bruchstück beschreibt, ist dies bei den Bewegtbildern nicht so offensichtlich. Bei 25 fps erscheint die Zerlegung der Zeit nicht mehr wahrnehmbar für das menschliche Auge und simuliert den Fluss der Zeit als ununterbrochen. Die Zeit ist hierbei Bedingung der Abbildbarkeit wie auch der Rezeption. Im Bild ist Zeit daran sichtbar, dass sich etwas in Relation zu etwas verändert. Dies kann so erst wahrgenommen werden, im Sinne einer bestimmten Vergleichbarkeit. Bei Betrachtung der Arbeiten zeigt sich, Schatten als Bewegliches, als Flüchtiges, als Unstetes nie Gleiches besitzt eine um Längen höhere Qualität in der Aufmerksamkeitsbestimmung und in der Glaubwürdigkeit. Steht beim Standbild noch die Frage nach einer Täuschung, nach einem Fleck im Raum, so kann dies im Allgemeinen beim Bewegtbild, in dem der Verursacher konnotativ bestimmbar ist, zumeist ausgeschlossen werden. Das Bewegtbild scheint somit auf einen höheren Wahrheitsgehalt hinzuweisen, das Standbild im Verglich dazu jedoch auf unterschiedliche Möglichkeiten. Dies liegt gleichsam in der Art ihrer Rezeption begründet. Während dem Standbild ein eingehendes Betrachten inhärent ist, so ist dies beim Flüchtigen des Bewegtbildes oft nicht möglich, es versendet sich und lässt dem Rezipienten nicht die Möglichkeit einer eingehenden Untersuchung und Prüfung auf Echtheit. Die Arbeiten leben nicht nur vom Schatten, sondern im Besonderen durch die Möglichkeit

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seiner Veränderbarkeit. In der Bewegung liegt immer noch der Moment einer gewissen Unbestimmtheit, einer Unsicherheit wie einer Offenheit für das, was folgen wird. Das nicht Statische macht ihn, analog zu seinem Beziehungsgefüge, als Besonderheit aus. Indem er sich dem Betrachter stets entzieht und nie mehr als Gleiches erscheinen kann, erhebt er den Anspruch einer bestimmten Originalität, die sich im Erleben einmalig (in der Aufzeichnung als Kopie Vorliegendes) zeigt. Deshalb ist der Vergleich mit der hier gegebenen Möglichkeit der Dokumentation der Arbeit von Keersmakers und Hemmer ein so schwieriger. Beide Arbeiten sind im Sinne eines Erlebens, eines Mitseins, angelegt und enthalten eine Erweiterung, die diesem innewohnt. Dieses Miterleben, dieses In-der-Arbeit-Sein, kann in der Dokumentation der Arbeit nicht empfunden werden. Sie kann nur im bewussten Mangel mit einer Fehlstelle Betrachtung erfahren. Der Bezug zum Original, der ausschließlich im öffentlichen Raum oder im Theaterraum zustande kommen kann, ist hier unvollständiges und verlorenes Element. Das einzig Mögliche der Rezeption der Dokumentation schließt Werte der Erfahrbarkeit in einem räumlich wie zeitlich anderem Gefüge aus. Was bleibt, ist die Dokumentation, mit einem Verweis auf ein Original, das im Grunde genommen eine eigene Arbeit darstellt. Die Erfahrbarkeit von Zeitlichkeit und Räumlichkeit wird durch etwas anderes vordergründig bestimmt: durch die Möglichkeit der Wiedergabe in einem bestimmten Medium, an einem bestimmten Ort, geprägt durch die Einstellungsgrößen einer filmischen Aufnahme, wie einer Adaption für ein andere Form der Präsentation.

Auswertung »Das alltägliche Meinen sieht im Schatten lediglich das Fehlen des Lichtes, wenn nicht gar seine Verneinung. In Wahrheit aber ist der Schatten die offenbare, jedoch undurchdringliche Bezeugung des verborgenen Leuchtens. Nach diesem Begriff des Schattens erfahren wir das Unberechenbare als jenes, was, der Vorstellung entzogen, doch im Seienden offenkundig ist und das verborgene Sein anzeigt.«1

So, wie Heidegger den Begriff des Schattens beschreibt, erscheint er in einer bestimmten Verbindung zur bisherigen Untersuchung. Es liegt im Begriff des Schattens ein Vielfaches mehr als ein offensichtlicher Mangel von etwas. Indem etwas zunächst zu fehlen scheint, im Sinne von Entzug des Lichts, ist dies nicht der Verweis auf ein Negatives, auf einen Verlust, sondern der Verweis auf ein Weiteres. Der Schatten nimmt an dieser Stelle eine Zeugenschaft für Verborgenes an. Dies macht seine ihm anhängende Möglichkeit des Entbergens deutlich, jedoch nicht ausschließlich die des Entbergens einer Form, einer Vorstellung oder einer Projektion, sondern die des Entbergens eines »verborgenen Leuchtens«, das den Schatten als Inhärentes bestimmt. Verborgen liegt im Schatten der Verweis auf Beziehungen, die auf ein Bestimmungsgeflecht, auf ein relationales Gefüge rekurieren. Der Schatten ist relationales Objekt einer multiplen Bestimmung. Er ist Erscheinung, relationales Phänomen, zunächst ohne materiellen Charakter. Indem der Schatten, gleich dem Licht, in einem rhizomatischen Beziehungsgeflecht auftaucht, ist er nicht Einzelnes, sondern Vielheit. Wie das Licht führt er auf ein Übergroßes, auf eine Urgestalt zurück. Ist es beim Licht, dem natürlichen Licht, der Körper der Sonne, der dieses sowie den Menschen in erster Linie bestimmt, so führt der Schatten in einen Raum der Dunkelheit, der im Unterschied zur Sonne nicht die Möglichkeit einer relationalen Bestimmung zum erzeugenden Objekt aufweisen kann. 1 | Heidegger, Martin »Die Zeit des Weltbildes« in »Holzwege« in »Martin Heidegger Gesamtausgabe« Bd. 5 Frankfurt/M: Klostermann 1977 S.112 vergl. auch Heidegger, Martin »Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung« Vittorio Klostermann 2012 S. 119, Heidegger, Martin »Hölderlins Hymne Andenken« in »Martin Heidegger Gesamtausgabe« Bd. 52 Frankfurt/M: Klostermann 1992 S. 149.

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Dunkelheit ist grundlegende Zuhandenheit, Raumbestimmung unseres Weltenraumes. Diese kann trotz ihres nichtmatriellen Charakters leiblich empfunden werden und lässt sich mit einer gewissen Form von Dichte, Undurchdringlichkeit, und Zähigkeit beschreiben. Ihr kann eine bestimmte leibliche Empfindung zugewiesen werden.2 An diesem Verweisstrang zeigt sich dies als existenzielle Lebensnotwendigkeit, indem mit Hermann Schmitz Leben als eine ständige Bewegung zwischen Enge und Weite Beschreibung erfährt. Im Begriff der Dunkelheit muss der Begriff der Helle mitgedacht werden. Helle ist mögliche Dunkelheit, sie ist Mitsein und nicht Andersheit. Erscheint Dunkelheit als Nacht, erfährt sie Bestimmung durch ein Weiteres. Nacht wird zunächst durch die Sonne bestimmt, indem sie mithilfe des Erdkörpers einen Eigenschatten auf ihm erzeugt. Der Nachtschatten ruht auf dem Körper der Erde. Sie ist Auslöser und Bedingtheit in einem. Die Nacht lässt die Natur in ihrem Dunkel zur Ruhe kommen. Sie ist nicht Gegenspieler des Tages, sondern ein Teil von ihm. Auf ihr Hereinbrechen zu einer bestimmten Zeit ist Verlass, genauso wie auf den Schatten, der erscheint, wenn das gerichtete Licht der Sonne die Erde erfasst. Ein Teil des Schattens, der Schlagschatten der Erde, verliert sich partiell in seiner Wahrnehmbarkeit in der Weite des Alls, es sei denn, etwas durchkreuzt diesen Schattenraum und bietet ihm einen Platz der Sichtbarkeit. In überbordender, gleißender Helle ist im Allgemeinen der Schattenplatz ein besonderer Platz des Innehaltens, des Zu-sich-Kommens. Im Schatten wird der Geist nicht von außen einwirkender, belebter Helle erdrückt, geblendet, überfahren, sondern kommt zur Ruhe und erfährt die Möglichkeit einer Eigenbewegung. Der Schatten ist demnach möglicher Rückzugsort im Sein und Rückführung auf den Betrachter selbst, was beim Erscheinen des eigenen Schattens zu einer Komplexitätssteigerung führt. Trifft der eigene Blick auf den sichtbaren Körperschatten, so ist dies der Moment des Innehaltens, des nicht nur visuellen Zu-Sich-Kommens, sondern des rekursiven Blickens, im Sinne eines eigenen Angeblicktwerdens. Diese Möglichkeit des Erkennens ist ähnlich dem Spiegelphänomen eine Entwicklungsleistung im Denken. Kinder nehmen diese Erscheinung zunächst bis zu einem bestimmten Entwicklungsstadium anders war, das zeigen die Unter2 | Vergl. Schmitz, Hermann »Der Leib, der Raum und die Gefühle« Bielefeld; Locarno: Ed. Sirius 2007 »Der Leib ist besetzt mit leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Atmung, Behagen, affektives Betroffensein von Gefühlen. Er ist unteilbar flächenlos ausgedehnt als prädimensionales (d.h. nicht bezifferbar dimensioniertes, z.B. nicht dreidimensionales) Volumen, das in Engung und Weitung Dynamik besitzt.« S.16 sowie Schmitz, Hermann »Der Leib« Berlin; Boston, Mass.: De Gruyter 2011 S.37 wo er Dunkelheit in Bezug zu Langsamkeit und Schnelle, sowie zum synästhetischen Empfinden von musikalischen Interventionen beschreibt.

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suchungen von Piaget und Rheta de Vries.3 Was in Heideggers Eingangszitat auf eine Besonderheit des Untersuchungsgegenstandes weist, ist seine Eigenheit der Undurchdringlichkeit. Diese schiebt sich, wie anhand der Werkuntersuchungen erkennbar wurde, immer wieder in den Vordergrund. So muss am Ende dieser Arbeit erkannt werden, dass der Schatten keine vollständige Durchdringung erfahren kann, sondern immer nur Möglichkeiten der Annäherung sowie Durchdringung zulässt. Diese, zunächst negativ anmutende Erkenntnis, wird sich im kommenden Kapitel als zentrales Moment festigen und auf eine besondere Qualität verweisen. Was gesagt werden kann ist, dass der Schatten notwendige Beschreibung und Bedingung ist, im Sinne von Mitsein und Verdecktsein. Dies vollzieht sich in einem relationalen Gefüge, dem er sich nicht entziehen kann, das ihn unhintergehbar bestimmt. Der Schatten ist Verweis auf eine objekthafte Materialität, auf eine reale Präsenz, sowie hier im besonderen Fall der Untersuchung des Schlagschattens des Menschen, Verweis auf sich selbst. Verweis auf ein menschliches Individuum im Allgemeinen und als Identität im Besonderen. Ein weiterer zentraler Aspekt, der sich in der Untersuchung immer wieder gezeigt hat, ist das Motiv der Schattenlosigkeit. Dies ist bisher überwiegend in literarischen Texten als Phänomen, als besonderes Element und zu bestimmten Zeiten ganz unterschiedlich aufgetaucht. Dabei werden relationale Verknüpfungen und Verhältnisbestimmungen zwischen menschlichem Subjekt und dem Schatten, den es erzeugen kann, metaphorisch thematisiert. Der überwiegende Teil der Erwähnungen bezieht sich auf männliche Subjekte, wobei die Schattenlosigkeit sich auf Maßlosigkeit, Gier und Besserung der gesellschaftlichen Stellung gründete und auf einen Pakt mit dem Teufel fußt.4 Ein Motiv der weiblichen Schattenlosigkeit tritt in der Oper »Frau ohne Schatten« in Form eines stereotypen Motivs, dem Motiv der Kinderlosigkeit auf. Sie ist hierbei sichtbarer Makel der Protagonistin, die der Unmöglichkeit, einen Schatten zu erzeugen, unterworfen ist.5 In den dieser Untersuchung zugrunde liegenden Werken trat Schattenlosigkeit sowie der Verlust des eigenen Schattens als Offensichtliches zunächst nicht auf. In der Arbeit von Keersmakers 3 | Vries, Rheta de »Children’s conceptions of shadow phenomena« in »Genetic psychology monographs« Vol 112(4), Nov 1986, Washington, DC: Heldref Publications 1986, 479-530. und Piaget Jean I Bärbel Inhelder »Die Entwicklung des inneren Bildes beim Kind« Frankfurt/M: Suhrkamp 1990 S. 232 Piaget und Inhelder untersuchten wie Kinder sich die Projektion eines Schattens vorstellen und was für sie einen Schatten ausmacht. 4 | Vergl. Chamisso, Adelbert von »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« Stuttgart: Reclam 2003, Andersen, Hans Christian »Der Schatten« in »Gesammelte Märchen« Leipzig: Carl B. Lorck 1850, eine Sammlung in Jackob, Peter »Der Schatten – Wandel einer Metapher in der europäischen Literatur« Sulzbach: Kirsch 2001. 5 | »Die Frau ohne Schatten« Oper von Richard Strauss, Text: Hugo von Hofmannsthal.

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deutet sich dies, in Form eines nicht mehr wahrnehmbaren, nicht mehr sichtbaren Schattens temporär jedoch an. Indem nach einer bestimmten Zeit eine Änderung des Lichtes eintritt, eine bestimmte Unbestimmtheit erzeugt wird, verlieren sich die Schatten der Tänzerinnen in diffuser Helle bzw. an anderer Stelle im Werk in diffuser Dunkelheit. Es ist ein Aufscheinen der Möglichkeit eines Schattenverlustes, so, wie ihn Schlemihl und andere erfahren haben. Hier ist es jedoch nicht das einzelne Subjekt, das vom Verlust betroffen scheint, sondern beide Tänzerinnen sind plötzlich schattenlos auf einer Bühne des Lichts und erscheinen in der filmischen Dokumentation im Sinne eines archivierten Schattens erneut. Der temporäre Verlust des Schattens der Tänzerinnen tritt auf als kollektiver Verlust, der im literarischen Feld so noch nie thematisiert wurde. Es ist in der Bildbbeschreibung erkennbar, dass dies nicht mehr ausschließlich eine subjektive Verhältnisbestimmung ist, sondern eine topologische Besonderheit. Was hier erscheint, ist ein Ort ohne Schatten, ein Ort, der Schatten nicht mehr wahrnehmbar werden lässt. Alles, was sich an diesem Ort befindet, alles, was sich in ihn hineinbegeben wird, erfährt diese Form der Umstimmung. In der Arbeit von Rafael Lozano-Hemmer vollzieht sich eine Steigerung dieser Besonderheit. Der Schatten der Akteure scheint nicht nur nicht mehr wahrnehmbar zu werden, verloren zu gehen, sondern beschreibt eine Neubesetzung, in dem er eine Umschreibung erfährt und in einem anderen Maß lesbar und beeinflussbar wird. Dem Individuum, scheint es, bleibt der eigene Schatten zunächst erhalten. Bei genauerer Betrachtung hat er sich jedoch zum Objekt einer Okkupierung, die verdeckt mit ihm in Beziehung steht, gewandelt. Während dem Akteur ein Spiel mit Licht und Schatten vorgegaukelt wird, erinnert Hemmer an die Funktionen und Wandlungen öffentlicher Orte und wie sich der Mensch zu ihnen verhält, welche Position er zu ihnen, in ihnen einnimmt und wie seine Bewegungen darin nicht mehr von ihm selbst bestimmt, wie sie zu verfolgbaren Daten in einem anderen Kontext werden. Während in den Arbeiten von Otth und Rotschenko der Körperschatten als einmalige Fixierung im Bild erscheint, gegebenenfalls als zu wieder holender in der erneuten Abspielung der Videoarbeit, ist dies bei Hemmer anders. Der Gebrauch des Schattens ist ein weitaus komplexerer und steht nicht nur in einem medialen, sondern gleichsam kulturell gesellschaftlichen Zusammenhang. Der Verlust des Schattens erscheint zunächst nicht als Sichtbares. Erst nachdem der Beobachter aus dem Lichtkreis heraustritt und über die prothetische Erweiterung des Kontrollmonitors am Rande des Platzes die Maschinerie begreift, wird ihm die Tragweite der Installation bewusst. »[...] it reminds me of tron6 [...] and you beeing a part of this big system [...] the cameras

6 | »Tron« US-amerik. Spielfilm der Disney-Studios von 1982. Regie: Steven Lisberger.

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tracking what you are doing.« 7 Es stellt sich zeitgleich die Frage, welche Form für das Trackingsystem als Subjekt wie als Schatten lesbar ist und in welcher Form diese eine Tarnung erfahren können. Was im Kontrollmonitor sichtbar wird, sind Bewegtbilder von Passanten, die mit ihren anhaftenden Schlagschatten über eine helle Fläche zu gehen scheinen. Das projizierte Videobild, das im Schatten auftaucht, scheint nicht erfasst zu werden bzw. erfassbar zu sein. Der Schatten erscheint in den der Untersuchung zugrunde liegenden Arbeiten als ganz unterschiedlich erfasster. Während er in den Arbeiten von Rotschenko und Otth eine statische Einzelheit abbildet, offenbart er in den Bewegt-Arbeiten sein um ein vielfaches Mögliches wie sein Unmögliches in seiner Erfassbarkeit. Er ist als Bildfolge sichtbar, bestehend aus Einzelbildern, welche jedoch als solche im Einzelnen nicht erkennbar sind.

Schatten – Bild Wenn als Beschränkung des Untersuchungsfeldes bildgebende Verfahren zur Festlegung gebracht wurden, wie dies hier der Fall war, muss das Motiv der Erfahrung, die physische Teilhabe im Sinne eines Gangs durch die Arbeit als Fehlstelle gesehen werden. Was wahrgenommen werden kann, ist das, was sich als Gegenüber zeigt und dessen Verknüpfung mit Werten der Erfahrung, die erlebten vergangenen Ereignisse anwesend werden lassen und konnotative Verknüpfungen hervorbringen. Es ist ein Sehen des Als-ob, die Vorstellung einer vergangenen Anwesenheit, eines Wie-es-gewesen-war oder eines Wie-esgewesen-sein-könnte. Es ist der Versuch eines Vergleichs mit einer ähnlichen Situation, an die der Betrachter sich schon einmal angenähert, in der er sich schon einmal befunden hat. Es ist eine Dopplung im subjektiven Gebrauch. Nicht nur der subjektive Eindruck des Erlebens, sondern die Erweiterung dessen, was der Vorstellung als diesem vorgelagert erscheint und dadurch Mitbestimmung erfährt. Der Betrachter stellt sich vor, welche Wirkkraft die Arbeit evoziert, wenn sie betreten worden wäre.8 Im Vorstellen geschieht gleichermaßen ein Verstellen von dem, was ist. Sehen ist gleichzeitig interpretierendes Sehen. Es entsteht der Eindruck, den Erfahrung und Wissen des Betrachters prägen und der eng mit der dokumentarischen Qualität der hier untersuchten Arbeiten verknüpft ist. Der Betrachter muss der Arbeit als Dokument, als Aufzeichnung, vertrauen, in dem Sinne, dass der Aufzeichnende das Wesen der Arbeit als zentrales Moment herauszuarbeiten fähig war und dieses die Arbeit stützt, sie nicht zu einer anderen werden lässt. Der Betrachter sieht die 7 | Passant in einer Befragung zum Projekt »Under Scan« Quelle: Dokumenation der DVD Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007. 8 | Vergl. die Arbeiten von Hemmer und Kaersmakers, wobei die Dokumentationen in enger Abstimmung mit den Künstlern entstanden.

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künstlerische Arbeit in der Dokumentation ihrer selbst. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, es sei denn, ihm gelingt es, die Fotografie von Rotschenko im Original zu sehen, was bei den Arbeiten von Otth, Keersmakers und Hemmer weitaus schwieriger ist. Jede Aufführung erzeugt ein anderes Bild, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Gleichzeitig ist diese Möglichkeit der Arbeit jedoch inhärent. Sie wäre sonst ausschließlich für eine einmalige Aufführung bewusst angelegt, als Original bestimmt, nicht das, was sie ist, im Sinne eines multiplen Werdens durch Differenz und Wiederholung in den Formen der Aufführung. Innerhalb dieses Prozesses wird bewusst Differenz und Bedingung der Aufführung/Installation als bestimmender Teil und Erweiterung, als Entwicklung der Arbeit akzeptiert. Es ist nicht die Reproduktion des Kunstwerkes, die hier Möglichkeit ist, sondern Annäherung an die Arbeit. Es ist Teil des konzeptuellen Ansatzes, der immer im Versuch der Näherung verbleibt und durch sein unbedingtes Misslingen einer Reproduktion9 eine besondere Spannung erzeugt. Dies ist bei der Videoarbeit von Jean Otth und der fotografischen Arbeit von Alexander Rotschenko nicht der Fall. Beide sind ausschließlich als Original10, und nicht in »variable dimensions« angelegt und wahrzunehmen. Unfraglich stehen jedoch bei der Rezeption dieser Arbeiten das Umfeld, die Korrespondenzen zu anderen im Ausstellungsraum befindlichen Arbeiten wie der Ausstellungsraum an sich zur Disposition. Was beim Betrachten einer Fotografie zunächst noch eine gewohnte Möglichkeit ist, das Vor-einem-Bild-Stehen wandelt sich im Rezipieren der anderen beschriebenen Werke. Der Betrachter weiß, dass er eine Dokumentation/ Interpretation der Arbeit zu Gesicht bekommt und nicht die Arbeit selbst. Bei der Arbeit von Rotschenko tritt dies nicht in den Vordergrund der Wahrnehmung. Obwohl diese nicht Original ist, sondern mediale Übertragung des Originals. Die uns zur Verfügung stehende Arbeit ist keineswegs vergleichbar mit dem Papierabzug, aus dem das Original, die Fotografie, besteht, sondern steht in Relation zum Mittel der Betrachtung, dem Monitor, dem Beamer, auf dem sie in einer unbestimmten Helligkeit in einer unbestimmten Größe, in einer unbestimmten Farbigkeit den Betrachter erreicht.11 Der Bildinhalt ist 9 | Reproduktion beschreibt hier die Übertragung in ein anderes Rezeptionsmedium, als Mittel der Verfielfältigung, Übertragung, auch im Sinne der lat. Wortherkunft »Wiederhervorbringung«. Es ist eine Bezeichnung für Nachbildung, Vervielfältigung unter Einsatz spezieller Verfahren. Im Abstand dazu stehen Nachahmungen in gleicher Technik, welche oft als Kopien bezeichnet werden. Diese Begriffstrennung muss im heutigen digitalen Zeitalter eine genauere Untersuchung erfahren, da der Begriff zwischen Kopie und Reproduktion eine gewisse Unschärferelation verbirgt. 10 | Original beschreibt hier die autorisierte Künstlerkopie, Abzug. 11 | Unbestimmt meint hier im Sinne: Nicht vom Autor festgelegt, der Qualität des Kurators ausgesetzt, bzw. seiner technischen Möglichkeiten und Kentnisse.

Auswer tung

nur grob erahnbar im Sinne eines Überblicksverhaltens, einer oberflächlichen Betrachtung. Es ist im Grunde genommen ein Schatten des Bildes, das als Papierbild existent ist. Es beschreibt nur ein Ungefähres, eine Silhouette, in dem es wichtige Informationen auslässt. Was fehlt, sind die Details der Binnenstruktur, der Abstufungen des Grau, der Zeichnungen des Lichts in den Licht- und Schattenbereichen, die Wahrnehmung des Filmkornes, die Spuren der fotochemischen Entwicklung, die Spuren der Alterung und letztendlich die Beschaffenheit des Fotopapiers, welche Dicke, wecher Glanz, welche Eigenfarbe es einbringt und die Fotografie so wesentlich mitbestimmt. Dazu gehört die Rückseite der Fotografie, die oftmals Jahresdaten und Signaturen des Künstlers, der Auflage sowie Spuren des chemischen Prozesses enthält. Ein großer Mangel in der Möglichkeit der Rezeption ist die Entmaterialisierung und die Ferne des Werkes, Ferne im Sinne von topografischer Einheit, jedoch auch Ferne zum Werk und Ferne zur Möglichkeit, sich zu ihm und seiner Größe verhalten zu können. In der medialen Übertragung ist dies als großer Verlust erkennbar wie als Verzerrung der Rezeption bedenkbar. In der Aufzählung der Dinge zeigt sich, das die Gegebenheiten des Werkes das Werk um eine Wesentliches mitbestimmen und es nicht als Unabhängiges gedacht werden kann. In Analogie dazu lässt sich der sichtbare Schatten in den Arbeiten betrachten. Zunächst nimmt der Betrachter an, dass das Dunkle, das an der abgebildeten Person hängt, ein Schatten, der Schatten dieser Person, sein muss. Die alltägliche Situation dessen, was passiert, wenn man auf einen sonnenbeschienenen Platz tritt, stellt sich als dialogisches Bild dem sichtbarem gegenüber. Man wirft einen Schatten. Es ist ohne Weiteres nachzuvollziehen, wie die Schlagschatten in den jeweiligen Arbeiten entstanden sein mögen. Mit Nachdruck manifestiert sich dies im bewegten Bild. Während sich die Frage nach der Echtheit des Schattens nur bedingt stellt, stellt sich die Frage nach einer Gewichtung und Autonomität weitaus dringlicher. Während der Schatten in der Fotografie Rodchenkos ein Mitsein beschreibt, in dem er die schattenwerfende Person physisch zu stützen vorgibt, so ist dies im Bewegtbild viel differenzierter. Der Betrachter erfährt eine andere Möglichkeit der Leitung des Blickes. Dieser beschreibt eine ständige Pendelbewegung zwischen Subjekt und Schatten, der in einer steten Aktualisierung verhaftet ist. Es entsteht eine uneindeutige Eindeutigkeit, in der der Schatten, als Darsteller eine bestimmte Rolle zu spielen beginnt.

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Schatten — Beziehungen Seit geraumer Zeit12 erscheint der Schatten in künstlerischen wie angewandten Bereichen zunehmend in Form einer besonderen ästhetischen Erscheinung sowie als Motiv in einem anderen Licht. Er ist nicht mehr ausschließlich Interpretation mithilfe der Zeichnung, der Malerei, in dem ein dunkler Fleck an einem Körper angeheftet als Schatten gedeutet werden kann. Es ist nicht mehr der Versuch einen Schatten zu malen, ihn in Malerei zu übertragen, sondern es ist vielmehr der Versuch, den Schatten selbst Mal-Mittel werden zu lassen. Mithilfe technologischer Erweiterungen ist es möglich, ihn zu erzeugen und ihn zu bestimmen. Es ist nicht mehr nur die Möglichkeit des fotosensiblen Papiers oder Films, die ihn materialisiert und archivierbar werden lässt, sondern ein Ungleiches mehr an Möglichkeiten. Die fotografische Aufnahme als grundlegende Praxis bleibt zunächst in ihrer Funktion erhalten, tritt jedoch in ihrer Präsenz in den Hintergrund. Das, was zur Sichtbarkeit gelangt, fragt zunächst nicht nach seiner technischen Bedingung. Es ist dies ein Ansatz, durch Verdeckung einer Erzeugung, durch das Kehren einer alltäglichen Erscheinung, etwas sichtbar werden zu lassen, was auf Heideggers »leuchten im Schatten« im Eingangszitat hinweist. Der Schatten ist so wie nie zuvor auf das ihm Umgebende angewiesen. Es zeigt sich anhand der Bedingungen sein existenzielles Beziehungsgeflecht, das in den untersuchten Arbeiten sehr unterschiedliche Anmutungen hervorbringt und diese daher miteinander in Verbindung treten lässt. Was den vorgestellten Arbeiten bezüglich des Schattens gemein ist, ist Folgendes: Alle Arbeiten thematisieren den Schlagschatten eines menschlichen Subjekts, wie das dazugehörige Subjekt in einer bestimmten Umgebung und anhand unterschiedlicher Bedingtheiten. Der Schatten, den ein Mensch erzeugt, ist diesem so nah, wie ihm nur etwas kommen kann. Es entsteht ein besonderes dialogisches Verhältnis wie auch ein Verhältnis zu seinen relationalen Bestimmungen, ohne die der Schatten nicht zur Sichtbarkeit gelangt, nicht existent ist. Was allen Arbeiten gemein ist, ist die enge Verbindung zum Licht, was das Werk nicht erst sichtbar und eine seine Rezeption erst möglich werden lässt, und zwar nicht im Sinne von Erhebung aus dem Dunkel eines Raumes, sondern Erhebung aus dem Grund eines Bildraumes. Ist dies für die Fotografie noch die Erstarrung innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde, ein kurzer Ausschnitt der Zeit, der sich im Einzelbild präsentiert, als Form des Blickes in einem Zeit- und Blicktunnel begrenzt, so erscheint im Bewegtbild eine Entfaltung dieser Möglichkeit.

12 | Als zeitliche Bestimmung muss hier auf die Digitalisierung in den bildgebenden Verfahren hingewiesen werden. Mit ihrem Auftauchen hat die Frage nach dem Schatten eine neue Dimension erhalten, im virtuellen wie auch im fotografischen Raum.

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Schatten — Bewegungen Das Motiv der Bewegung ist eine dem Schatten inhärente multiple Besonderheit. Diese taucht sehr deutlich in den dieser Untersuchung zugrunde liegenden Bewegtbildarbeiten auf und steht in einer direkten Analogie zum Untersuchungsgegenstand im Allgemeinen. Ist dies in der Fotografie Rotschenkos noch als kontemplatives Standbild sichtbar, so erscheint es in der Video-Arbeit von Otth als Ereignis, als »Bild im Prozess«13. Dieses beschreibt das Schattenverhältnis zum menschlichen Körper, seine Relation zu ihm wie zu einer bestimmten Zeitlichkeit. Im vormateriellen Schattenbild bildet sich eine Verknüpfung von Form und Objekt, das es nicht nur als Ausschließliches hinterlässt. Otth versucht nicht nur den Schatten innerhalb der Aufzeichnung in Bewegung festzuhalten, sondern zeichnet ihn mithilfe der Kamera, im Dialog mit seinem ihm eigenen Körper, wie im Dialog einer dessen Abbildung, eines Schattens im Kontrollmonitor, in einem von ihm bestimmten Zeitraum auf. Es ist der Versuch eines Selbstbildnisses wie auch der Versuch, seinem eigenen Schatten näher zu kommen, ihn zu fixieren, ihn zu materialisieren. Im Bildmedium dieser Aufzeichnung brennt sich unweigerlich eine Spur des Schattens wie auch des Lichtes in das fotosensible Material des Films.14 Diese Spur steht unweigerlich als Zeugenschaft des Es-ist-so-gewesen, wenn wir die Möglichkeit des zu dieser Zeit möglichen Umkopierens und Manipulierens von lichtempfindlchen Materialien außer Acht lassen. Im Allgemeinen ist das, was aufgezeichnet, hinterlassbar ist, eine Spur des Lichts, in den der Schatten unweigerlich eingebettet ist. Licht und Objekt müssen zunächst einmal in einer zeitlichen Begegnung anwesend gewesen sein. Es ist nicht der direkte Kontakt, wie es in den Handzeichnungen in den Höhlen von Lascaux oder bei Kontaktkopierverfahren wie Fotogrammen erscheint, sondern es ist ein Kontakt, der mithilfe einer Distanz eines Dazwischen entsteht. Es ist der Kontakt auf eine bestimmte Entfernung hin, der mithilfe eines Apparates, einer Kamera, überbrückt, sichtbar, archivierbar15 und wiederholbar gemacht wird. 13 | Meyer, Petra Maria »Der Schatten als andere Bildmatrix – lightkompositions von Nan Hoover« in Meyer, Petra Maria »Performance im medialen Wandel« München: Fink 2006 S.301. 14 | Wobei hier auch Video gemeint ist, im Sinne von Fotografie – Lichtzeichnung. Film meint hier generell fotosensibles Material. 15 | Dies gilt für die Arbeit Hemmers eingeschränkt, da sie nicht im dokumentarischen verbleibt, sondern ähnlich dem Charakter der Landart für den Augenblick angelegt ist. Sie ist, wie die Arbeit von Keersmakers einmalig, unwiederholbar und verbleibt in ihrer Differenz und Wiederholung. Beide Arbeiten konstituieren sich stetig neu, es sei denn es wird ein weiterer Beobachter hinzugefügt, welcher im Sinne des dokumentierens, und archivierens die Arbeit, welche hier der Untersuchung zu Grunde liegt erschaffen hat.

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Besonderheit bleibt, die Bewegung in der Zeit und mit der Zeit. So, wie in einem fotografischen Bild im Allgemeinen die Zeit mithilfe der Belichtungszeit eingefroren scheint, nicht nachvollziehbar ist, der Ausschnitt der Zeit in diesem einem Bild festgehalten werden konnte, ist dies im Bewegtbild ein anderes. Im Bewegtbild besteht im Allgemeinen die Möglichkeit, eine Bewegung parallel zur Zeit aufzuzeichnen und wiederzugeben, es sei denn, es tritt eine bewusste zeitlich verzögerte oder zeitlich beschleunigte Aufnahme im Sinne eines filmischen Gestaltungsmittels auf. Otths Videoaufzeichnung geschieht analog zur Zeit und wird ebenso in ihrer Wiedergabe abgespielt. Die abgespielte Zeit ist erfahrbar in Parallelität zur aktuellen Zeit, ohne Schnitt ohne Beschleunigung und Verzögerung. Der Rezipient ist aufgefordert, sich analog zur Dauer der Arbeit, ihr auszusetzen. Ein kurzer Blick, im Sinne eines Überblicksverhaltens, genügt hierbei nicht, da die Arbeit sich aus mehreren Bildern zusammengefügt, »Bild im Prozess«, und einem ständigen Werden unterworfen ist. Dieser Prozess impliziert das Erfassen als Ganzes. Ein Ausschnitt, ein Bild aus der Arbeit kann sie nicht beschreiben, sondern nur auf sie verweisen, auf das Mögliche einer Handlung, die sich über eine bestimmte Dauer erst konstituieren kann. So, wie der Schatten sich zum Objekt, das ihn wirft, verhält, verhält sich der Prozess der Aufzeichnung zum Aufzeichnenden und Aufgezeichneten. Es ist Formvollzug innerhalb einer bestimmten chronologischen Ordnung, einer unhintergehbaren Synchronität. Diese Synchronität ist es, welche den Schatten in seiner Besonderheit zunächst erfasst. Es ist unmöglich, dem Schatten zeitlich voraus wie ihm hinterher zu sein, obwohl dies oftmals beim abendlichen Spaziergang an einer beleuchteten Straße in den scheinbar vorauseilenden Schatten, durch das Laternenlicht hervorgerufen, erscheinen mag.16 Dies ist jedoch zunächst eine Ortsbestimmung, die den Schatten, je nach Richtung der Lichtquelle, mal vor und mal hinter einem erscheinen lässt. Seine Bewegung hängt an dem, was sich bewegt, wie an dem Objekt selbst. Hebt Otth in seinem Video den rechten Arm, um mit der Zeichnung an der Wandtafel zu beginnen, so tut ihm dies sein Schatten gleich. Dies erscheint offenbar in keinem zeitlichen Versatz des »er folgt ihm«, sondern synchron zur Bewegung selbst. Die Annahme, der Schatten folge der Person, die ihn wirft, ist eine subjektorientierte und bestimmungsbezogene. Es ist Verweis auf ein subjektbestimmtes Handeln, das die Bewegung erzeugt und damit im Vorsprung zum Schatten zu sein glaubt. Es ist die angenommene Personifikation des Schattens, der als sich unterzuordnendes Objekt der Person, die ihn erzeugt, folgen muss. Im topografischem Sinne erscheint zunächst etwas anderes. Dem Schatten ist es möglich, schon da zu sein, bevor das Objekt, der Körper angekommen ist. Der Schatten Otths berührt die Tafel 16 | Siehe hierzu auch Gombrich, Ernst H. »Schatten. Ihre Darstellung in der abendländischen Kunst.« Berlin: Wagenbach 2009 S. 14.

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der Zeichnung, bevor dieser die erste Berührung vollziehen kann. Der Schatten erscheint zuerst im Bild, Otth scheint ihm zu folgen. Somit ist es ein Leichtes ein Bestimmungsverhältnis umzukehren und in der Nachrangigkeit den Körper als Folgendes, vom Schatten Bestimmtes zu sehen. Der Schatten als Projektion, der überallhin gelangen kann. Noch bevor der Mensch den Fluss überwindet, kann der Schatten am gegenüberliegenden Ufer angekommen sein, bestimmt von einer tiefstehenden Sonne, jedoch in Analogie zu einer bestimmten Zeitlichkeit in der beide, Schatten und Körper, eingebettet sind. Der Schatten evoziert ein Vorauseilen, ein Nachfolgen, das von der Möglichkeit, an einem anderen Ort zu sein, bestimmt wird. Es ist die Position des Subjekts, die diese Offensichtlichkeit bestimmt. In Abhängigkeit zur Lagebestimmung des menschlichen Körpers wird ein Dahinter und ein Davor evoziert, wie ein Vorauseilen oder ein Folgen gedacht. Der menschliche Körper ist hier nicht nur Nullpunkt, von dem Empfindungen und Richtungen ausgehen, sondern gleichsam Nullpunkt des Schattens, der von ihm ausgehend, an ihm beginnt. Er ist der Ursprung seiner Projektion, die in einer bestimmten Entfernung auf etwas anderes treffen wird. Bewegung, Unstetigkeit und Wandelbarkeit sind dem Charakter des Schattens eingeschrieben, ihm zugehörig. Tritt er, wie in den Versuchen der Malerei, als starres, dunkles Anhängsel auf, so tritt er ein in eine Verbindung zum Fleck, zum Loch, die er visuell evoziert. Sowoh eine Abspaltung als auch dessen Verdichtung drängen sich auf wie eine Möglichkeit der genaueren Betrachtung und der Vergleich mit der Möglichkeit seiner Echtheit. Es ist der stete Vergleich mit dem ihm scheinbar zugehörigen abgebildeten Körper, der ihn wirft, wie die Form der Silhouette, die so als Mögliches zur Sichtbarkeit gelangt. In Rodschenkos Fotografie ist der Schatten nicht bloßer Verweis auf eine Person außerhalb des Bildraumes, sondern gleichsam sowohl mögliche Annahme ihrer Lagebestimmung als auch mögliche Licht- und Raumsituation am Ort, zur Zeit der Aufnahme. In der Arbeit Otths stellt sich diese Frage erst einmal nicht. Hierbei ist es vordergründig die Bewegung im Bild, die den Blick an sich bindet und führt. Darin wandert der Blick zwischen Licht- und Schattenbereichen, zwischen hell und dunkel, was ihn am Verweilen hindert, ihn immer wieder zwischen beiden pendeln lässt. Im Moment der Bewegung im Bild bewegt sich der Blick analog zum sich Bewegenden. Er ist ihm unweigerlich ausgesetzt in einer Unmöglichkeit eines Entzugs. Es ist dies der Blick, der seit Jahrtausenden dem Menschen wie dem Tier mitgegeben ist, anhand dessen er Gefahr aus dem Blickwinkel wahrnehmen kann. Bewegung im Bild ist eine Aufmerksamkeitssteigerung und ein Binden des Blickes an etwas, was in Bewegung ist. Der Schatten ist hier an ein sich bewegendes Objekt geknüpft, mit ihm unweigerlich vernäht.17 17 | Vergl. Peter Pan, der seinen verlorenen Schatten wieder angenäht bekommt.

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Es ist im körperlichen Sichbewegen nicht notwendige Bedingung, dass dieses im Bild als Sichtbares erscheint, der sein Schatten reicht aus als Verweis. Es kann eine besondere Form der Bewegung entstehen, der eine Fixierung des Blickes wie ein Abwenden des Blickes zugrunde liegt. Dies geschieht in der Arbeit von Keersmakers. Zu Beginn heftet sich der Blick an die Protagonistinnen und folgt ihnen. Was hierbei sehr schnell zur Irritation des Blickes führt, sind die multiplen Möglichkeiten ihrer Bewegungen im Bild. Es bewegen sich zwei Tänzerinnen und vier Schatten, die temporär in Überlagerung einen zusätzlichen anderen Schatten zur Sichtbarkeit heben. Im Blicken muss sich der Rezipient zwischen Tänzerinnen und Schatten und Schatten und Schatten entscheiden. Er muss sich entscheiden, wem er folgen soll. Im Allgemeinen beginnt er nach einer bestimmten Zeit, seinen Blick an die Schatten zu heften und wendet sich so von den Körpern der Tänzerinnen ab.18 Im Erfassen der Schatten erfolgt eine Abstraktionsleistung im Sehen wie gleichermaßen eine Erweiterung im ästhetischen Sinne. In den an der Rückwand der Bühne erscheinenden Schatten entsteht eine erweiterte Bewegung, eine Bewegung im Vereinen und Verlassen. Es zeigt sich eine Bewegung, die als analoge Pendelbewegung zu den Drehbewegungen der Tänzerinnen gesehen werden kann. Der Schatten bewegt sich offenbar analog zu den sich bewegenden Tänzerinnen. An den Moment einer Differenz, einer Unterbrechung dieser Verbindung, in welcher der Schatten an der Wand eine sichtbar verzögerte Bewegung vollziehen würde oder plötzlich innehält, ist in diesem Prozess hier nicht zu denken, obwohl es ihm als Mögliches inhärent ist. Dieses Mögliche wäre ein Schattenbild, fixiert im Bruchteil einer Sekunde, festgehalten in Malerei, Fotografie oder in Form einer Projektion, die hinter der Bühnenwand, konträr zu einer anderen Lichtquelle Beschreibung erfährt. Bewegung im Bild ist immer eine Aufmerksamkeitssteigerung und trifft den Schatten im Besonderen als phänomenale Erscheinung um ein Weiteres mehr, als dies im Einzelbild, im Standbild geschehen kann. Der Schatten ist immer auch Bewegung, in einer bestimmten Sichtbarkeit, wie in einer steten Möglichkeit von Veränderung. Er ist Form im Werden. Er ist Übergang einer Form in eine andere, Übergang eines Ortes in einen anderen. Er ist Übergangsobjekt und metamorphotisches Element. Als Einzelbild erscheint er, wie in einem Standbild aus der Arbeit von Otth, jedoch lediglich als Ausschnitt, als Fragment dieses Prozesses. Dem Schatten haftet das im Werden Seiende, in steter Veränderung sich Befindliche als qualitative Bestimmung an. Es ist Bedingung seiner Existenz. Der Schatten wird in seiner Bewegung, seiner Veränderbarkeit analog bestimmt wie das Licht. Es ist ihm naturgegebene, existenzielle Bedingung. Die Erzeugung mittels einer technischen Lichtquelle verändert dies, er ist zunächst in statischer Umgebung zur scheinbaren Unbeweglichkeit 18 | Vergl. Platons Höhlengleichnis.

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verdammt. Seine Erscheinung diesbezüglich ist eine andere und offenbart sich zunächst als unbelebte Fläche, die als verdunkeltes, farbiges Feld oder als Muster spricht. Seine ihm Bewegung ist auf ein Minimum beschränkt. Eine Bewegung kann diesbezüglich nur im Erscheinen und Verschwinden als Sichtbares erfasst werden. Ein statisches Objekt mit einer statischen Lichtquelle, in einer statischen Umgebung, wird nie einen bewegten Schatten hervorbringen können, es sei denn die Fläche, auf die er fällt, erfährt eine Bewegung. Eine mögliche Bewegung des Schattens tritt auf, zu Beginn wie am Ende seines Erscheinens, wenn die Lichtquelle noch nicht ihr Maximum erreicht hat, wenn das Objekt ins Licht tritt. Eine schwerwiegende Möglichkeit der Bewegung verlor der Schatten durch die Änderung der Qualität des Lichts, das ihn erzeugt. Während er in seiner Urgestalt, als Entwurf des Sonnenlichts, des Lichts eines abendlichen Feuers oder einer Kerze, sich in steter Bewegung befand, so änderte sich dies mit dem Aufkommen des technischen, bestimmbaren Lichtes, durch die Elektrifizierung. Mit dem Einfrieren der Lichtquelle in einer bestimmten Normgröße, mit einer bestimmten Lichtausbeute und Unbeweglichkeit im Flackern übertrugen sich diese Eigenschaften auf den Schatten. Er verharrte in einer vom Licht erzeugten technologischen Starre und rückte in den Hintergrund der Wahrnehmung. Es erfolgte eine technologische Zeitenwende und mit ihm wendete sich ebenso der Schatten. Dies trug zu einer gewissen Entmystifizierung des Schattens bei. Einzig im künstlerischen wie im medialen Bereich blieb er belebte, den Menschen faszinierende Unruhe, geprägt durch Mythen und Vorstellungen, sowie bei den Kindern, die ihre ganz eigenen Interpretationsmuster und Erklärungen entwickeln. Schien es im medialen Kontext für den Schatten keine Erweiterung mehr zum Film wie zur Projektion zu geben, beschreibt die Arbeit von Hemmer das Gegenteil. Sie erweitert ihn und seine Möglichkeiten um eine bestimmte Potenzialität. Das Motiv der Bewegung erscheint hier nicht mehr nur als Aufmerksamkeitssteigerung, sondern als vorausberechenbare Größe, die eine Ausweitung des Bühnenraumes wie des Schattens beschreibt. In der Umschreibung des bildgebenden Verfahrens erfuhr der Schatten hierbei eine Anhebung, eine Öffnung in bisher nicht mögliche Erfahrungsräume. Die Möglichkeit seiner Bewegung erfuhr eine Potenzierung, die so ahnbar, jedoch nicht vorstellbar war. Der Schatten bewegt sich nicht nur an den Rändern der Sichtbarkeit, im sichtbaren Raum des öffentlichen Platzes, sondern als Umschreibung ebenso im nicht sichtbaren Raum einer Recheneinheit, einer Black Box, die unweigerlich an das Modell der Camera obscura erinnert. Der Schatten wird gelesen, bestimmt, interpretiert. Er ist Operand in einem Datensatz. Kamera und Software übertragen ihn, schreiben ihn um und bestimmen, was mit ihm geschieht. Es ist die Bewegung der Personen im Bild, die ihn in Bewegung hält. Die Bewegung der Lichtquelle tritt in dieser Arbeit nicht mehr in Erscheinung. Sie ist stete Konstante, die Sichtbarkeit und Schatten erzeugt. Die Bewegung geht in erster

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Linie vom Protagonisten aus. Würde er verharren, fiele er aus dem System der Überwachung. Das Prinzip der Vorausberechnung seines Weges wäre nicht möglich. Fehlt diese Bedingung kann das System keine Projektion eines Bildes in seinen Schatten legen. Es muss eine Richtungsandeutung zugewiesen bekommen. Gibt es keine Bewegung im Raum der Erfassung, des Tracking, so versagt das System, Erfassung und Umschreibung sind nicht möglich. Was unmerklich erscheint, sind die Bewegungen der Schlagschatten am Boden in Bezug zur Lichtquelle. Gemeint ist hierbei die minimale Bewegung in Analogie zur Position der Lichtquelle. Der Passant erscheint als Gnomon.19 Indem er sich zur Lichtquelle verhält, verhält sich sein Schattenwurf zu ihm, wie er zu ihm. Er nimmt ihn nicht nur an, in Form einer Bewegung in eine bestimmte Richtung, sondern es entsteht eine Bewegung am Ursprung des Schattens, welche in seiner Form und Richtung lesbar und sichtbar wird.

Erscheinen als Prozess und Darstellung Schatten treten als mögliche, sichtbare relationale Objekte innerhalb eines Bildraumes auf oder in diese von außerhalb kommend ein. Vordergründig ist ein Schatten als Bewegtes zunächst Ursache einer Änderung der Aufmerksamkeitsbestimung. Es fällt auf, dass der Bildraum an sich eine Neuausrichtung, eine Neuordnung, eine Umstimmung20 erfährt. Das Vorhandene erhält eine Neubestimmung – eine Umdeutung des Raumes sowie seiner Präsenz. Die Wahrnehmungs- und Erkenntnismodalitäten erfahren eine Aktualisierung, einen Reload. Insbesondere an den Bewegtbildarbeiten von Otth und Kersmakers lässt sich dieser Prozess beobachten. Der Auftritt des Schattens beeinflusst in jeglicher Form die Verhältnisbestimmung der Objekte zueinander, wie auch der Erscheinung an sich, und dies nicht nur im Einzelbild, im Standbild, sondern als prozessual sich im Werden befindender Akt eines Vollzugs. Das Erscheinen von etwas, der Akt des Erscheinens an sich, beansprucht insofern die Aufmerksamkeit des Rezipienten, da eine Bewegung im Bildfeld dies 19 | Der Gnomon (griech. Schattenzeiger) ist ein bereits vor der Antike bekanntes astronomisches Instrument in Form eines senkrecht in den Boden gesteckten hölzernen Stabes. Er diente vor allem als Schattenstab für Sonnenuhren. siehe weiter dazu Rohr, Renè R. J. »Die Sonnenuhr. Geschichte, Theorie, Funktion« München: Callwey 1982 S.10. 20 | Vergl. »Phänomenologie des Raums« Ströker, Elisabeth »Philosophische Untersuchungen zum Raum« Frankfurt/M: Klostermann 1965 »Gestimmter Raum« wird hierbei zunächst emotional erlebt, er ist nicht strukturiert und das erlebende Subjekt in diesem Raum nicht orientiert. Ihm steht der Begriff des Aktionsraumes (Raum als Handlungsraum, strukturiert im Hinblick auf Handlungsmöglichkeiten, wie der Anschauungsraum Raum als abstrahiert wahrgenommenes als »Mannigfaltigkeit phänomenaler Punkte« gegenüber Ströker, 1977, S. 98.

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vom Sehenden unhintergehbar fordert. Es ist unumgänglich die Bewegung wahrzunehmen sowie ihr zu folgen. Unbewegliches, Statisches wird in dem Moment ausgeblendet, in dem etwas Bewegendes passiert, sich etwas bewegt. Unbewegtes wird als Sosein akzeptiert und bedarf keiner besonderen Aufmerksamkeit mehr. Es entsteht ein partieller Raum des Verlassens, des Vertrauens auf das Sosein. Bewegung tritt hier als eine Art Bildstörung, als Ungewissheit auf, die sich in ihrem Aufmerksamkeitspotenzial zunächst so nicht unterordnen lässt. Die Differenz zwischen dem allgemeinen Sosein, dem Vorhandenem und dem ästhetischen Erscheinen besteht hierbei darin, dass das ästhetische Erscheinen begrifflich unfixierbar und unbestimmbar im Werden verbleibt. Der Akt des Erscheinens beschreibt einen prozessualen Vorgang, ein Ereignis, ein Vor-Augen-Stellen. Es ist etwas noch nicht da, es kündigt sich etwas an, es beginnt sich etwas zu zeigen. Dieser Prozess ist immer ein veränderbarer, im Werden befindlicher. Beginn und Ende sind ausgeblendet, noch nicht erreicht, wie schon vorüber. Es erscheint ein fließendes, bewegliches Ineinander. Formen tauchen auf aus einem offensichtlichem Nichts und legen sich in Abhängigkeit eines Zeitkontinuums als Verschattungen über mannigfaltige Entitäten. Es ist ein formbildender Prozess, der vergleichbar einem Morphing21 verschiedene Zwischenbilder entstehen lässt und von einem Ausgangs- und einem Endbild eine Rahmung erfährt. Erscheinen drückt das Auftauchen, Aufscheinen, Leuchten, Glänzen wie den Beginn eines solchen aus. Grundlegend in allen seinen Bedeutungen ist das Sichtbarwerden im Licht enthalten wie eine Aufmerksamkeit auf etwas und »zugleich die Aufmerksamkeit auf uns selbst.«22 Es ist Heraustreten, ein Entbergen wie ein Verdrängen durch eine bestimmte objekthafte Präsenz. Erscheinen ist hervorbringen. Es erhält als Teilbegriff des Erinnerns eine Zuweisung und beschreibt eine Vorstellung von etwas. Sie, die Erinnerung, konstituiert sich analog zur Zeit, wird präsent, und bleibt jedoch immer durchscheinend, das andere mitsehend. Es liegt diesem auch ein Erinnern an dessen Urbild wie die Idee von etwas verborgen inne. »Die Wahrnehmung ist niemals bloß ein Kontakt des Geistes mit dem gegebenen Gegenstand; sie ist immer von Erinnerungsbildern durchsetzt, welche sie vervollständigen, in dem sie sie erklären. Das Erinnerungsbild wiederum partizipiert an der reinen Erinnerung, welche es zu materialisieren beginnt, und an der Wahrnehmung in welche es sich inkarnieren will: unter diesem letzten Gesichtspunkte könnte man es als eine beginnende Wahrnehmung bezeichnen.« 23 21 | Beim Morphing werden zwischen zwei Einzelbildern Übergangsbilder berechnet, die Bildelemente beider Ausgangsbilder enthalten. 22 | Seel, Martin »Ästhetik des Erscheinens« Frankfurt/M: Suhrkamp 2003 S.9. 23 | Bergson, Henri »Materie und Gedächtnis – eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist« Hamburg: Meiner 1991 Kapitel III S. 127.

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Der Schatten ist vielschichtiger, ein immer wieder sich aktualisierender – er ist Schatten von anderen Schatten, etwas nicht Greif bares, sich ständig Entziehendes, sich ständig im Werden Befindendes. Im Schatten existieren Schatten, die in Verhältnisbestimmungen zu anderen stehen. Schatten sind nicht nur Schatten als mögliche Projektion, sondern sie sind Schatten von etwas Seiendem, von etwas Materiellem, Körper- und Objektschatten. »In schroffem, unausgeglichenem Gegensatz stehen sich gegenüber das ›reine‹, schlechthin unwandelbare Sein der Idee, und das fortwährend wechselnde, ›auf alle Weise sich verhaltende‹ Pseudo-Sein der Erscheinung: jenes das ›Sein, das immer ist‹, dieses ›umhergetrieben vom Werden und Vergehen‹.« 24

Das defizitäre Sein der Erscheinungen steht dem wahren Sein der Ideen trotz ihrer Teilhabe als ein anderes gegenüber. Die ontologische Aufgabe eines Dings ist es, sich seiner Idee anzunähern. Wenn davon ausgegangen werden soll, dass der Schatten ebenso ein Ding, ein Körper, ein Objekt oder eine Erscheinung sein kann, so ist er zum einen Idee, gleichzeitig aber auch Ding, Abbild, Urbild. Das hieße, dass alles Schatten im Verhältnis zur Vernunfterkenntnis wie auch im Verhältnis zur Sinnenwahrnehmung ist. Die Dinge sind die Schatten der Ideen und die Ideen sind die Schatten der Dinge, eins schwingt im anderen mit, bedingt sich, wie das eine existiert, nicht ohne dass ein anderes ist. Es ist ein untrennbares Mit-Sein, das sich zeigt. Das, was hier Urbild, also Gegebenes ist, ist im Grunde genommen das Wesen seines Sein. Existiert eine Dingwelt, so ist es möglich eine reziproke Blickrichtung anzunehmen, wenn wir vom Objekt zum Sein, zum Wesen des Objektes, blicken. So erscheint sein Sein verschattet durch das Dinghafte sein. Beide Seinsbereiche, das Reich der Dinge und das Ideenreich, stehen in einem dialektischen Zusammenhang und in einem Austausch miteinander. Platon beschrieb dies in seiner Ideenlehre als ein Verhältnis, wie es zwischen Urbildern und ihren Nachbildern besteht. Der Bestand und der Wesensgehalt der erscheinenden Wirklichkeit wird durch das Reich der Ideen bestimmt. Die Erscheinungen bleiben dabei aber hinter der vollen Bestimmung ihres Wesens zurück.25 Zur Grundbedeutung des Begriffes des Erscheinens fügt sich der Begriff der Aufmerksamkeit hinzu. Etwas, was erscheint, aufscheint, wird bemerkt, erfährt eine besondere Form von Aufmerksamkeit, erfährt Beachtung. Es ist zum einen das bloße Bemerken von etwas, Akt der Wahrnehmung – der bloßen Wahrnehmung. Mit diesem Akt geht noch keine Verarbeitung einher, sondern das zu Selektierende zieht die Aufmerksamkeit zunächst an sich. Hierin liegt 24 | Natorp, Paul »Platos Ideenlehre« Leipzig: Meiner 1921, S. 18. 25 | Halfwassen, Jens »Der Aufstieg zum Einen: Untersuchungen zu Platon und Plotin« München; Leipzig: Saur 2006 S. 222.

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gleichzeitig ein Ausgrenzen eines anderen, ein Ausblenden, ein Zurückstellen, ein In-den-Schatten-Stellen des anderen. Es wird vernachlässigt zugunsten der Entitäten, die die Aufmerksamkeit für sich beanspruchen. Das Ausgeblendete, Zurückgestellte schwingt im anderen mit, es findet gleichsam ein Mitsehen wie ein Hindurchsehen statt. Es steht trotz seiner Zurückgestelltheit mit ihm in Verbindung und wird von ihm mitbestimmt. Es erscheint in ihm als Unbestimmtes Bestimmendes. Der Schatten wird von den Gegebenheiten seines Um-sich-Seins bestimmt. So wie der Grund, der sich ihm als Träger anbietet, bietet er sich ihm gleichermaßen als bestimmendes Element an. Schatten berühren etwas Seiendes, fallen auf etwas Seiendes, treten in Korrespondenz mit diesem und präsentieren sich mit ihm als neue Gegenwart. Der Akt des Erscheinens ist ebenso ein Akt des Erfahrens wie der möglichen erfahrbaren Welt an sich. In der Wahrnehmung eines Films, eines Theaterstückes, eines Musikstückes oder dem Lesen eines Textes ist dies gleichsam Wahrnehmung des Selbst, des wahrnehmenden Subjekts. Im Erscheinen erscheint das bestimmende Selbst, das Mich der Wahrnehmung, wie Lambert Wiesing es beschreibt. »Es wird nicht gefragt, was ich selbst in die Wahrnehmung lege, sondern was für mich in ihr liegt.«26 Wiesing beschreibt das Wahrnehmen eines Bildes als transformativen Akt des wahrnehmungsbedingtem In-der-Welt-Seins in einer Partizipationspause. »Nur auf Bildern kann etwas gesehen werden, ohne deshalb wegen der Wahrnehmung persönlich in das Gesehene involviert sein zu müssen.«27 Dies trifft für unseren Untersuchungsgegenstand in den zugrunde liegenden Werken nur bedingt zu, da hier mit einem erweiterten Bildbegriff gearbeitet werden muss und die Arbeit von Hemmer in diesem sichtbar wird. Um dies weiterzudenken, wäre eine Abzweigung des Weges vorzuschlagen, der in eine Richtung führt, die nach einem aktuellen Bildbegriff sucht und Bild als partiziptives, als Im-Bild-Sein beschreiben kann. Ansätze dafür klingen in dem Titel der Arbeit von Hemmer an, in dem er sie in die Kategorie der »Relational Achitecture« einordnet. Es ist nicht nur Relation zum Ort, zur Zeit, sondern gleichsam hin zum Subjekt, das sich in sie hineinbegibt oder bewusst sich ihr entzieht.

26 | Wiesing, Lambert »Das Mich der Wahrnehmung – Eine Autopsie« Frankfurt/M: Suhrkamp 2009. S.8. 27 | Ebd. S.9.

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Schatten – Licht Indem im Erscheinen der Begriff des Scheinens im Sinne eines Leuchtens, eines Eigenlichtes, einer Umleitung des Lichtes, mitschwingt, ist dies nicht allein aus diesem Grund kein zu vernachlässigendes Bestimmendes. Schein meint gleichsam etwas, das nicht so ist, wie es ist, ein Trugbild, eine Verstellung von Wirklichkeit. Es ist Anmutung eines Als-ob, das eine Irritation der Sinne im optischen wie im sensorischen Bereich erzeugt. Im Erscheinen des Schattens schwingt diese Besonderheit unweigerlich mit, obwohl hierbei zunächst der Moment des Sichtbarwerdens, des Auftauchens im Blickraum, im Bildraum gemeint ist. Schatten erscheint analog zum Licht, dem ihn bestimmenden, beschreibenden Element. Licht macht nicht nur sichtbar, sondern legt im Sichtbaren eine bestimmte Ordnung an. Es bestimmt Dinge in ihrer Sichtbarkeit, in der Ordnung des Gesehenwerdens. Gleichermaßen tritt vom Licht Bestimmtes, Getroffenes, in den Wahrnehmnungsvordergrund wie Unbestimmtes, im Schatten Liegendes, in den Hintergrund. Es wird dadurch zweierlei evoziert. Zum einen eine Wertung im Seinsrang. Das im Schatten liegende, das Nichtsichtbare, die entindividualisierte Masse, sowie das Untertauchen im Dunkel treten in täglicher diffuser Bestimmung zurück. Das im Schatten Seiende verspricht, die Last wie die Annehmlichkeit eines nicht oder nachrangig Wahrgenommenwerdens. Durch Licht entsteht eine qualitative Wertung der Nachrangigkeit, mit Brecht »Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.«28 oder eben noch nicht, da die Möglichkeit ins Licht zu gelangen, durch dieses getroffen zu werden, grundsätzlich gegeben ist.29 Der Schattenwurf, der in dieser Arbeit zum zentralen Untersuchungsgegenstand erhoben wurde, ist unhintergehbares relationales Objekt, zum Sehenden, zum Erzeugenden wie zur Sichtbarkeit. Das Licht ist grundlegende Bedingung. Es ist das, was ihn zur Sichtbarkeit erhebt. Licht ist diesbezüglich nicht nur das ihn erhebende, zeigende Element, sondern das ihn in seiner Erscheinung bestimmende. Nicht nur in qualitativer Bestimmung seiner Erscheinung wie seiner Dunkelheit, der Qualität seiner Grenzen, sondern noch in der Möglichkeit des Entzugs wird der Schatten von Licht bestimmt. So, wie das Licht dem Schatten die Möglichkeit eines Erscheinens ermöglicht, so ist es gleichsam Herr über den Schatten. Durch eine Änderung in seiner qualitativen Bestimmung verrückt es ihn an den Ort der Nichtsichtbarkeit, an den Ort einer unbestimmten Helle wie einer unbestimmten Dunkelheit. 28 | Brecht, Bertolt »Die Moritat von Mackie Messer« aus Brecht, Bertolt »Die Dreigroschenoper« Berlin: Suhrkamp 2013. 29 | Differenziert muss auf den Begriff des Dunkel in Abgrenzung zum Schatten hingewiesen werden, eine Vertiefung kann aus Gründen der Komplexität nicht geschehen.

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Die wechselseitige Beziehung zwischen Licht und Schatten stellt eine Frage an die Richtung des Blickens und nicht an die Form seiner Bestimmung. Im Schatten zeigt sich Ablesbarkeit einer Richtung und Qualität des Lichts sowie die Inhärenz des einen im anderen. Schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, sodass der Schatten in einer diffusen richtungslosen Umgebung verloren scheint, so ist der direkte Richtungsbezug zum Licht zunächst verloren. Es ist eine Grundstimmung von Helle anwesend, die jedoch nicht wirklich als solche sichtbar werden kann. Diese Helle ist grundlegende Bedingung des Sehens, ebenso Dekonstruktion einer Ordnung im Licht. Es entstehen keine Licht- und Schattenfelder, die im Sichtbaren diese besondere Ordnung erzeugen, sondern es ist eine Form von Nichtordnung im Licht entstanden. Jegliches, das in diesem Bildraum anwesend zu sein scheint, ist gleichwertig im Sinne einer Belichtung. Es treten keine Spitzlichter, keine Reflexionen, keine den Blick an sich reißenden Lichtinseln und Schattenräume auf, sondern alles ist in einer Gleichheit des Seinsranges einer Sichtbarkeit und wird nur durch Abstufung in seiner Farbigkeit und seinem Kontrastverhalten zueinander unterscheidbar. Es ist alles in einer gewissen Grundstimmung vorhanden, diffus, jedoch unangestrengt wahrnehmbar. Dies ist der Moment, über den Da Vinci schreibt: »Licht, das von den Schatten mit allzugrosser Deutlichkeit geschnitten wird, gilt bei Malern für höchst tadelnswerth. Um also diesem Uebelstand zu entgehen, wenn du Körper im freien Felde malst, lasse die Figuren nicht von der Sonne beschienen sein, sondern nimm an, es schiebe sich zwischen Object und Sonne irgend eine Art von Nebel oder durchscheinendem Gewölk, so werden, da die Figur der Sonne nicht scharf begrenzt ist, auch die Angrenzungen von Schatten und Lichtern nicht scharf gerändert sein.« 30

Wie in den in dieser Untersuchung beschriebenen Werken sichtbar wurde, ist Licht existenzielle Voraussetzung dafür, Schatten zu erzeugen. Indem sich dem Licht etwas in den Weg stellt, kann Schatten erst entstehen, dafür muss Licht zunächst vorhanden sein. Beim eingängigeren Betrachten der untersuchten Werke fällt ein weiterer Aspekt auf. Das Licht, das den Schatten darin beschreibt, tritt in differenzierter Weise in Bezug zu seiner Erzeugung auf. Während in der Arbeit von Rotschenko noch das natürliche Sonnenlicht den Schatten am Boden entstehen lässt, ist dies in den anderen Arbeiten nicht mehr der Fall. In ihnen bestimmt künstlich erzeugtes elektrisches Licht den Bildraum und somit auch den Schattenwurf. Die Qualität des Lichts ist zunächst nicht offensichtlich sichtbare, sondern konnotativ bestimmende Möglichkeit. 30 | Leonardo, da Vinci »Das Buch von der Malerei« Dt. Ausgabe nach dem Codex Vaticanus 1270, Heinrich Ludwig. Wien 1882, Reprint Kessinger Publishing LLC, Whitefish, USA S.145.

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Während in der Dokumentation der Arbeit von Hemmer der technische Auf bau in präsziser Weise beschrieben wird, indem er dem Maß der technischen Gegebenheiten einen erweiterten Raum bietet, der diesen mit detaillierten Informationen zum Auf bau, zur Art der Beleuchtung und zum Lichtstrom füllt, so tritt dies in der Fotografie von Rodschenko, der Videoarbeit von Otth und der Performance von Keersmakers so nicht auf, wohl auch, weil zu diesen Arbeiten keine Dokumentationen existieren. Die technischen Bedingungen verbleiben im Hintergrund, meist auch außerhalb des Bildraumes.31 Hemmers Arbeit ist mithilfe der Dokumentation eine Beschreibung des Standes der Technik ihrer Zeit. »Under Scan uses the world’s brightest projector, a compurized surveillance system, 14 video servers and 14 robotic video projectors, 110 000 ANSI lumen projector can cover areas over 2000 square metres, the tracking system predicts where people will be in the future and places a portrait in their path«. 32

Der Arbeit Hemmers ist inhärent, aufzudecken, mit welchen technischen Gegebenheiten sie erzeugt wurde, mit wie viel Lichtleistung seine Projektoren den öffentlichen Platz fluten und in welchem Licht- und Spannungsfeld der Mensch als Statist, als Datensatz erfasst und berechnet wird. Hauptdarsteller dieser Inszenierung ist hierbei nicht der Mensch als Entität, sondern die »Maschine« der Erzeugung, die Daten aufnimmt, benutzt und anders bestimmt. Es kann an dieser Stelle keine klare Trennung von Dokumentation und Arbeit mehr gezogen werden, da sie in der Dokumentation als solche archivierbar und sichtbar bleibt. Das Original ist längst verschwunden, bzw. wartet auf einen Auf bau an einem anderen Ort.33 Hemmer greift bewusst in den öffentlichen Raum ein und unterwirft ihn einer neuen Ordnung. Er verweist in seiner Dokumentation auf historische Bezüge zu Friedensbewegungen sowie auf die 68er-Bewegungen in den USA und England wie auch zu aktuellen Bürgerinitiativen, die den öffentlichen Raum okkupieren, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Licht und Schatten sind dafür hervorragend geeignete Mittel, wie in anderen künstlerischen Arbeiten (vergl. Jenny Holzer)34 ersichtlich wurde. Sie ermöglichen es, in einem riesigen Maßstab zu arbeiten, ein enormes 31 | Einzig in der Keersmaker Arbeit erscheint im Kameraschwenk das Gerüst, an welchem die Bühnenbeleuchtung verankert wurde. 32 | Vergl. DVD Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007. 33 | Hemmer hat die Arbeit an mehren Orten zeitlich versetzt aufgebaut East Midlands Development Agency, Brayford University Campus, Lincoln, United Kingdom, 2005; Liecester, 2006; Northampton, 2006; Derby, 2006; Nottingham, 2006; Mexican Pavilion, 52 Biennale di Venezia, Venice, Italy 2007; Trafalgar Square, London 2008. 34 | Bezug wird hier auf ihre Schriftprojektionen im öffentlichen Raum genommen.

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Aufmerksamkeitspotenzial zu erzeugen und aufgrund ihrer Materialität den vorhandenen Raum zunächst nicht zu beschädigen, sondern ihn temporär zu maskieren. Licht und Schatten bestimmen, beschreiben den Ort neu. In ihrem direkten Einsatz in Verbindung als technisches, lesbares, auswertbares, bestimmbares Medium ist es kommunikatives System, das als solches auf den Betrachter der Arbeit trifft, der dadurch zum ihrem unentbehrlichen Teil wird. Im Schatten wie im Licht zeigt sich hier eine andere Potenz, die in der Fotografie von Rotschenko und der Videoarbeit von Otth so noch nicht möglich war. Während im Schatten immer die Möglichkeit des Bildes inhärent war, wird nun der Schatten als prozesshaftes Werden, als multiple Möglichkeit einer Bilderzeugung wie um ein Vielfaches darüber hinaus sichtbar. Schatten und Licht sind mehr als etabliertes Malmittel, sie sind prothetische Möglichkeit einer Mensch-Maschine-Kommunikation, ohne dass der Mensch sich zunächst dessen bewusst ist und ohne dass er im Bewusstsein einer humanen Steuerungseinheit den Lichtkreis betritt.

Abb. 47 Standbilder aus Rafael Lozano-Hemmer »Under Scan« Foto: EMDA and Antimodular 2007. (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

Es reicht, in ihn einzutreten, um offenbar berührungslos ein Interface zu aktivieren, um einen Prozess in Gang zu setzen. Der Schatten tritt hier als Grundlage einer Steuerung, einer Aufzeichnung, einer Umschreibung auf. Was zunächst vordergründig, als am Boden liegende Projektionsfläche, als Grund eines Lichtbildes erscheint, ist jedoch ein Vielfaches mehr. Dieses Mehr findet in der temporären Projektion des Trackingrasters, des ansetzenden Blickes hinter die Kulissen, seine Offenbahrung. Erst in dieser Möglichkeit eines Innehaltens verdunkelt sich der öffentliche Raum, um das Raster der Erfassung zu entdecken. (Siehe Abbildung 47.) Sobald das Lichtraster sichtbar wird, verschwinden die bis dahin Bild bestimmenden Schatten der Personen fast in ihrer Gänze. Zeitgleich werden die menschlichen Körper durch Überlagerung des Lichtrasters in ihrer Wahrnehmbarkeit zurückgedrängt, ihre Schatten ausgelöscht, überschrieben, mit Licht überzeichnet. An den Reaktionen der im Lichtnetz stehenden Personen ist eine gewisse Irritation ablesbar. Es ist der

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Blick auf die Matrix, die Entzauberung der zunächst offensichtlich harmlos scheinenden Projektion. Es ist die Realisierung, wie ein Passant in Hemmers Dokumentation sagt, dass der Mensch Teil eines großen Systems ist. Durch das hier zur Sichtbarkeit erhobene System wird sichtbar und wahrnehmbar, auf welche Art die Kamera und das Trackingsystem die Menschen und das, was sie tun, erfassen. Indem der befragte Passant mehrmals das Wort »interesting« in seiner Beschreibung benutzt, klingt eine reflexive Denkbewegung, eine Relation zur Wirklichkeit an. Es ist das, worauf Timothy Druckrey hinweist, in seinem Text zu Hemmers Arbeit und worauf ich im folgenden Kapitel näher eingehen werde: »Dem immateriellen Raum der Information unterworfen, destabilisiert sich Kultur, die Sphäre öffentlichen Handelns, als eine Wissens-, Diskurs- und Differenzsphäre. Der allgegenwärtige Computer, das «intelligente Ambiente», die vernetzte Welt dienen nur dazu, alle vom deutlichen Sachverhalt zu überzeugen, daß der Triumph der Technologie sich bereits ereignet hat, daß derÜbergang vom Handeln zum Verhalten in den Mittelpunkt der technischen Forschung gerückt ist. Dabei geht es nicht um Befreiung, sondern die Absicht eines Großteils dieser Forschungsarbeit richtet sich auf die Erfassung, Aufzeichnung, Simulation und Produktion von Verhalten.« 35

Schatten und Licht haben über die Zeit durch mannigfaltige Gegebenheiten eine Wandlung erfahren. Scheint es, dass sie in ihrer Sichtbarkeit dem Schatten in der Fotografie eines Rotschenko verwandt und sehr nahe sind, so liegt in ihrer Verwendung, als Mittel zur Bilderzeugung, ein breiter Graben zwischen ihnen. Schatten und Licht sind zwar immer noch existenziell bildbestimmendes und bilderzeugendes, jedoch erweiterte intermediale wie interaktive Möglichkeit das Bild jederzeit veränderbar werden zu lassen. Der Sprung über den Graben gelingt, indem wir den Blick zurückwenden an den historischen Beginn der Schattenbilderzeugung. Nicht nur Platons Höhle, sondern ebenso dem Schattentheater war der Prozess seines Werdens inhärent. Das bedeutet, das Stück im Theater der Schatten entstand zu jeder Aufführung neu. Es war nicht die Wiedergabe einer Aufzeichnung, eine Wiederholung von etwas im Archiv abgelegten. Zu dieser Zeit war es dem Zuschauer nicht möglich, einzugreifen, Teil der Vorführung zu werden, hinter die Projektionswand zu treten. Diese hat sich verlagert. Die Projektionswand, die Aufführende und Zuschauer voneinander trennte, erfuhr eine Verschiebung und hat Löcher bekommen. Sie ist nun nicht mehr trennendes Element, das den Aufführungsraum in Bühnenraum und Zuschauerraum teilt, sondern lässt beide ineinander diffundieren. Der Zuschauer tritt in die Arbeit ein, wird ihr Teil und bestimmt 35 | Druckrey, Timothy »Von der Phänomenologie der Wahrnehmung zur Neurophänomenologie der Rezeption« in Kunstforum international Köln Bd 133, 1996 S. 113.

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diese nicht nur durch sein Ansehen, sondern durch sein aktives Handeln. Es ist nicht der Akt eines Senders, von der Bühne ausgehend, auf einen zunächst passiv erscheinenden Zuseher, sondern die Aufforderung aktiv einzugreifen, kein reagierender Passant zu sein, sondern zum agierenden Passanten zu werden. Es existiert hierbei nicht nur eine Blickrichtung, sondern der Blick einer multiplen Perspektive, der heutzutage auf mannigfaltige Weise Wahrnehmung bestimmt.

Schatten – Raum Anhand dieser multiplen Perspektive blickt der Betrachter nicht mehr ausschließlich in eine Richtung, in die Richtung hin zum Bild, sondern ist im Bild und blickt aus ihm heraus, in es hinein. Er ist Teil des Bildes. Er ist Beobachter wie Beobachteter zugleich. Er ist nicht Gefangener in einer Feedbackschleife, einem Closed Circuit, sondern er nimmt wahr, dass in dem Moment, in dem er in den Lichtraum des Platzes treten wird, er erfasst und somit berechenbar ist. Um dies weiterzudenken, tritt die Frage nach der Rahmung dieses Raumes wie seiner Bestimmung auf. Offenbart wird ein Überwachungsprinzip, wie es aktuell im öffentlichen Raum Anwendung findet. Hierauf gehe ich im folgenden Kapitel näher ein. Während der Rezeptionsraum in den Werken von Rotschenko, Otth und Keersmakers ein eng bestimmter, physisch klar gesetzter ist, so ist dieser bei Hemmer nicht mehr eindeutig bestimmbar. Was zunächst allen gleich zu sein scheint, ist die Aufteilung in Werkraum, wie Betrachterraum. Der Betrachter bleibt, außer bei Hemmer, offenbar vor dem Bild, im eigenen Raum, was nicht die Nähe und Divergenz einer Raumdurchdringung ausschließt, wohl aber die Möglichkeit einer körperlichen Durchmessung des Raumes. In den Arbeiten von Rotschenko und Otth verhält sich dies in einer nachvollziehbaren Strenge, während in der filmischen Dokumentation bei Keersmakers die Kamera zwischen unterschiedlichen Rezeptionsräumen bewegt wird. Sie wechselt zwischen der Betrachterperspektive des Publikums vor der Bühne und einer Perspektive, die sie als weiteren Akteur auf der Bühne beschreibt. Ihr Bildraum vermittelt den Eindruck sowohl eines im Publikum sitzenden als auch eines auf der Bühne stehenden, sich bewegenden Betrachters. Er ist somit vor und auf der Bühne, im performativen Raum der Tänzerinnen, wie im Erfassungsraum des Publikums. Im Grunde beschreibt die Bewegung der Kamera den multiplen Akt von dessen Erfassung und die Möglichkeit der im Publikum Sitzenden, gedanklich sich auf der Bühne zu bewegen. Sie beschreibt nicht den Blick eines sich setzenden, Platz nehmenden Rezipienten, der auf einem ihm vorher bestimmten Platz erstarrt, sondern die geistige Bewegung, die jeden Theaterbesucher treffen sollte. Er ist gedanklich auf der Bühne, im Akt des Spiels, des Tanzes. Es ist eine Bewegung hin zum Bildraum, der ihn ähnlich wie bei

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der Rezeption einer Malerei trifft, jedoch mit dem Unterschied, dass der Moment der Kontemplation ein viel komplexerer ist. Er wird gefordert, aufgefordert sich den wechselnden Situationen, den Raumneuordnungen zu stellen, ihnen zu folgen oder zu ihnen konträr an anderer Stelle innezuhalten. Hinzu kommt in der Dokumentation ein Außerhalb beider Räume. Es erscheint außerhalb des Bühnenraumes und des Publikumsraumes ein dritter Raum. Er tritt auf als eine Art Hyperraum, in dem die Kamera aus der Vogelperspektive den Bühnenraum beobachtet, den Handlungen auf der Bühne folgt. Sie kündigt an, was in der Arbeit Hemmers Entfaltung finden wird. Es ist der Blick eines Beobachters, eines über alles blickenden. Während historisch sich dies noch im Sinne eines göttlichen Blickes beschreiben ließe, erscheint dies heutzutage als Blick einer Überwachungskamera, einer Überwachungsmacht, die zunächst offenbar ohne Grund Daten erfasst, hier auf eine zunächst noch harmlos erscheinende Weise. Die Kamera beschreibt in Keersmakers Arbeit eine Polyperspektive. Diese setzt sich zusammen aus der Perspektive eines passiven teilhabenden Zusehers sowie aus der eines teilhabenden Akteurs. Dies lässt darauf schließen, dass es nicht um eine bloße Dokumentation geht, in der der Blick oftmals aus Richtung der Zuschauer auf die Bühne in einer Zentralperspektive verbleibt. Vielmehr wechselt zwischen unterschiedlichen Positionen, wie dies im narrativen Film als Gestaltungsmittel eingesetzt wird. »Der Film hat dieses Prinzip der alten räumlichen Künste – die Distanz und die abgesonderte Geschlossenheit des Kunstwerkes – zerstört. Die bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewusstsein, mit: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein. Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe.« 36

Der Zuschauer hat gedanklich seinen Platz verlassen und sich in die Arbeit hineinbewegt. Was in der Arbeit von Keersmakers fehlt, ist der Schatten des Betrachters, der auf eine körperliche Anwesenheit eines aktiven Betrachters schließen ließe. Gemeint ist damit: Die Kamera steht zwar in Vertreterrolle eines Blickenden, eines Rezipienten, gleichzeitig verdeckt sie dadurch seine körperliche Präsenz. Der im Allgemeinen als Fehler auftauchende Schatten des hinter der Kamera Stehenden wäre hier vermeintlicher Verweis auf eine menschliche Entität, auf einen die Kamera Führenden oder der Verweis auf der im Schatten als Silhouette im Bild sichtbar wird (siehe Abbildung 48). Signifikant in der Dokumentation zu Kerrsmakers Arbeit ist der unhintergeh36 | Balázs, Béla »Essay, Kritik 1922-1932« Berlin: Staatliches Filmarchiv der DDR 1973 S.148.

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Abb. 48 Linkes Bild: Robert Häusser »Besuch am alten Grab« 1999 (c) RobertHäusser- Archiv / Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim; rechtes Bild: Lee Friedlander »New York City« 1966 (c) Lee Friedlander, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco.

bare lineare Ablauf, festgeschrieben im Drehbuch, in einer durch den filmischen Schnitt bestimmten Abfolge. Das Motiv der Offenheit und Arbitrarität ist dadurch verloren gegangen. Die Aufzeichnung ist nicht mehr beeinflussbar, wie der Ablauf des Theaterstücks festgelegten chronologischen Abläufen, einer Choreografie, folgt. Demgegenüber konstituiert sich Hemmers Arbeit ständig neu und erweckt den Eindruck eines kinetischen Gefüges, das in willkürlichen Beziehungen besteht. Darsteller und Raum stehen im ständigem Austausch und beschreiben den Ort der Aufführung, den öffentlichen Raum, fortwährend erneut. Schatten werden in Hemmers Arbeit als Multiples sichtbar wie nicht sichtbar bestimmt. Indem der Schatten durch ein Trackingsystem erfasst wird, erfährt er eine Neubestimmung, eine Auswertung, wie eine Umschreibung. Die Schatten am Boden werden durch Projektionen neu bestimmt, belegt, erhellt. Diese Schatteninseln sind verbunden in einem System der Beobachtung, der temporären Aufzeichnung, die eine Zuordnung, einen Vergleich, anhand von Datenbanken möglich werden lässt. Indem diese Möglichkeit gegeben ist, wird sie bedingte Notwendigkeit. Der Werkraum erfährt eine ständige Aktualisierung wie Neubestimmung. Es entsteht ein dynamisches Spannungsfeld, das durch variable Bedingungen einer fortwährenden Umschreibung unterliegt. Die Spuren davon schreiben sich visuell lediglich im System der Überwachung anhand fotografischer Erfassung ein. Es klingt das Prinzip der Wachstafel an, das hier als immer schon beschriebene Bedingung inhärent zu sein scheint. Raum ist in diesem Sinne nicht vergleichbar mit der unberührten geglätteten Wachstafel, eher mit einem Wachsblock, in welchem Spuren der Raumbestimmung immer schon vorhanden sind.37 Eine 37 | Das Prinzip der Wachstafel wurde in unterschiedlichen Diskursen benutzt, letztlich bei Freud in seiner »Notiz über den Wunderblock« (vgl. Freud 1925) in dem er den Wachsblock als Darstellung des Unbewußten beschreibt, worauf Derrida rekuriert »Die Wachstafel stellt in der Tat das Unbewußte dar« (Derrida 1992, S. 338, 341). Zunächst

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Raumänderung, eine Bewegung im Lichtbild des Platzes, bestimmt bei Hemmer die Aktivierung eines Trackingsystems, das mithilfe fotosensibler Systeme die Bewegungen erfasst. Es besteht ein Raum hinter dem Raum, eine Form prothetische Raumerweiterung, ein Hyperraum. Es ist zunächst nicht der virtuelle Raum, der offengelegt, erzeugt wird, sondern die Sichtbarmachung eines weiteren Raumes, der mithilfe des Überwachungsmonitors und der Offenlegung des Erfassungsrasters im Lichtgitter sich zeigt, der einen Raumanteil offenbart, der im Mitsein immer vorhanden, jedoch nicht immer als Sichtbares Wahrnehmung erfährt. Nicht nur, dass Raum, der hier als Subraum, als Hyperraum38 sich alle 7 Minuten, wenn sich das Raster der Matrix zeigt, eine Sichtbarmachung erfährt, diese Sichtbarkeit stellt auch Fragen nach ihrer Rezeption, wie etwa Fragen der Aufzeichnung, Archivierung, Löschung und Benutzung der Daten, die Verweis auf den Rezipienten selbst sind. Hemmer thematisiert die Möglichkeit des öffentlichen Raumes sowie den Umgang mit ihm gleichermaßen. Raum beschreibt nicht nur das Sichtbare, sondern wie im Kapitel 3.6. spezifiziert, das Dazwischen, das zunächst nicht Sichtbare, das jedoch mit der Möglichkeit der Sichtbarmachung visuell wahrnehmbar wird. Der Schatten, der in den fotografischen Arbeiten von Rotschenko noch als dunkle zweidimensionale Fläche auftritt, beschreibt in Hemmers Arbeit einen multidimensionalen Raum, der als Raum einer zwei wie dreidimensionalen Beschreibung nicht mehr standhält. Raum meint hier Multiples, Multidimensionales, Gespanntes und liegt dem asiatischen Raumbegriff sehr nahe. Der Schatten ist in Relation zum Raum ein um Potenzen erweiterbarer geworden. Nicht nur, dass er als kinetisches Motiv in den manigfaltigsten medialen Umgebungen stetig an Bedeutsamkeit gewinnt, er tritt heutzutage aufgrund kultureller und gesellschaftlicher wie technischer Bedingungen auch aus seinem eigenen Schatten heraus. In einer kapitalistischen Kontrollgesellschaft, die sich grundlegend durch Bild und Text konstituiert, erlangt er als tauchte sie in Platons Dialog »Theaitetos« auf, in welchem sie in Form einer Metapher des Gedächtnisses Beschreibung fand. (vgl. Theaitetos, 191c, d, Platon 1991, S. 307), jedoch auch bei Luhmann der schreibt »Metapher der Wachsmasse [...], auf der Einzeichnungen möglich sind und gelöscht werden können«(Luhmann 1995, S. 166). Kritisch und zu Fragen ist, warum dieses Bild der Wachstafel sich fortschreibt, obwohl dies als Medium heutzutage kaum einer mehr je zu Gesicht bekommen hat, vielleicht noch aus Kindertagen kennt und als poetische Reflexion bewahrt. Als im Jetzt verorteten Wachsblock liese sich die Festplatte oder andere Speichermedien wählen, wobei der direkte menschliche Kontakt der Einschreibung, durch die Hand, durch Erfahrungen verloren gegangen scheint. 38 | Vergl. »Telepräsenz: Theater als Hyperraum« in Leeker, Martina [Hrsg.] »Maschinen, Medien, Performances Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten« Berlin: Alexander-Verlag 2001.

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inversives Element eine multivisuelle Bestimmbarkeit und Zuordenbarkeit, in einer Dimension wie nie zuvor. In Hemmers Arbeit ist er die Grundlage der Erfassung eines Trackingsystems, das Subjekt und Schatten verfolgt und bestimmt, um ihnen eine andere visuelle Beschreibung in den Weg zu legen. Der Binnenraum des Schlagschattens der Passanten wird zum Projektionsraum, der durch ein technologisches System Bestimmung erfährt, das in untrennbarer Relation mit einem Operator, mit einem menschlichen Subjekt verbunden ist. Auf dem Platz ist anhand des technologischen Systems zunächst kein subjektorientiertes Agieren erkennbar, vielmehr geschieht die Zuweisung der Videoporträts offenbar abiträr. Was den Schatten auf diesem Wege jedoch immer als Existenzielles bestimmt, ist seine Abhängigkeit von anderen wie die Möglichkeit seines Entzugs.

Schatten — Zeit »Die Zeit ist nach Platon demnach ein Bild und Zeit ist der Name für dieses Bild.«39 Dieses Zitat kann zutreffender für den Untersuchungsgegenstand nicht sein. Die Zeit zeigt sich am Urbild, dem natürlichen Schattenbild, erzeugt durch das Licht der Sonne, und schreitet langsam mit ihm voran. Richtung, Form und Größe ändern sich im Laufe eines Tages, mit der Zeit, analog zur Zeit. Der Schatten zeigt den Lauf der Sonne und somit den Tagesverlauf an. An ihm ist ablesbar, in welcher Tageszeit, in welcher Jahreszeit wir uns befinden. Er markiert den Zenit, der für die Zeit des Mittagsschattens, des kürzesten Schattens des Tages, steht. An ihm scheidet sich Vor- und Nachmittag. Es entsteht mit der Zeit der Eindruck des bewegten Schattens, als könne dieser sich aus eigener Intention positionieren, sich vergrößern, sich zurückziehen, Wände erklimmen, über einen Fluss zu einem anderen Ufer wandern. Dieser Eindruck entsteht, indem der Blick ein schattenfixierter ist, das Beziehungsgeflecht, in dem er steht, ausgeblendet wird. Dies ist der Fall, da ein abstrahiertes sich in Bewegung befindliches Bild unhintergehbare Aufmerksamkeit beansprucht. Der Blick zurück in die Quelle des Lichts, das den Schatten erzeugt, erscheint als ein nachrangiger, wenn nicht sogar unblickbarer zu sein. Die Rätselhaftigkeit des Bildes ist eine um Längen tragendere, als der Blick ins Licht der Erzeugung. Das, was verschattet erscheint, als zunächst nicht klar Erkennbares, Zuordenbares, lebt durch diese Besonderheit und erfährt dadurch seine Bestimmung. Der Schlagschatten ist Rätsel wie Metatext, und das mit den Möglichkeiten einer Beschreibung in und mit der Zeit. Er ist nicht statisches Element, sondern erfährt eine ständige Reaktualisierung und sei dies nur die Möglichkeit, beim Löschen des Lichts zu verschwinden. Mit seinem 39 | Böhme, Gernot »Lebenszeit« in Böhme, Gernot / Olschanski, Reinhard [Hrsg.] »Licht und Zeit« Paderborn; München: Fink 2004 S.14.

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Verschwinden, scheint es, verschwindet das Verhältnis zur Zeit und Zeitempfindung. Aufgrund von Helle und Dunkelheit findet dies nur noch an den Rändern des Tages statt. Zeit ist eine Verwandte des Schattens, man erkennt sie an den Dingen und nicht an ihr selbst. Sie ist Relationalität und steht in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis zu den Dingen wie zu sich selbst. Was bei den vorliegenden Analysen der ausgewählten Arbeiten prägendes Element für den Schatten gewesen ist, ist nicht nur seine Relationalität zu Gegebenheiten, wie zu der Fläche, auf die er fällt, das Objekt, das ihn erzeugt, das Licht, das ihn erscheinen lässt, sondern, wie hier eingeführt, gleichsam zum Element der Zeitlichkeit. Dieses taucht in mannigfaltigen Formen und Bezugsebenen auf. Zeit als Erfassungskonstante, Zeit als Rezeptionsmöglichkeit, Zeit in bedingter Sichtbarmachung. Sie tritt in differenten Bezügen wie in unterschiedlichen medialen Zusammenhängen hervor. Um sie für die vorliegende Untersuchung zu begrenzen, schlage ich zwei Zeitbetrachtungen vor. Dies ist zum einen die zeitliche Ebene der medialen Erfassung mithilfe eines bildgebenden Verfahrens, zum anderen die Veränderungen zur Zeit, seine Eigenzeit. Zunächst zur zeitlichen Ebene der medialen Erfassung. Tritt in der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie aufgrund einer Verlängerung der Belichtungszeit im fotosensiblem Negativmaterial eine Ansteigung der Schwärzung, eine Verdunklung auf, so ist dies im digitalen Bewegtbild ein um Längen komplexeres. In der Zerlegung des Bewegtbildmaterials in Einzelbilder wird dies aufgedeckt und erinnert an die Umkehrung der Erfassung von zeitlichen Abläufen, wie sie als einer der ersten Edweard Muybridge zur Sichtbarkeit gelangen ließ.40 Die Spur der Zeit, die im Bewegtbild sichtbar wird, erfährt eine Umschreibung zu einem Datensatz, der als Grundlage digitaler Erfassung vorhanden sein muss. Für beides gilt: Ist die Aufzeichnungszeit eine unzureichende, so scheint der Schatten im hellen Bildbereich unterzugehen. Es ist der Moment der Unterbelichtung, der hier den Schatten im fotosensiblen Material schwächt, ihn jedoch im Hell-dunkel-Verhältnis als solchen wieder etabliert. Er erfährt eine Aufhellung, eine Überstrahlung, eine Okkupation durch Helle. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Aufzeichnungsmöglichkeit, Licht und Schatten, der unweigerlich nicht als real angenommen werden muss. Das, was in der Aufzeichnung bleibt, ist die Möglichkeit eines Schattens, die rekursiv mit ihm verbunden, jedoch in seiner Interpretation verbleibt. Die Formensprache mag zwar eine ihm ähnlich erscheinende sein, Dichte sowie seine Dunkelheit treten jedoch in einer Abstraktionsleistung des Mediums, in dem er eingebettet, 40 | Edweard Muybridge fertigte unterschiedliche Bewegungstudien an. Er ist einer der ersten Vertreter der Chronofotografie und Serienfotografie. Er arbeitete mit komplexen Aufbauten, bestehend aus 12, 24 und 36 sukzessive auslösenden Fotoapparaten und teilte so die Augenblickserfassung in Einzelbilder auf, welche Grundlage für die Entwicklung des bewegten Bildes, des Filmes wurden.

Kurztitel des Kapitels oder Beitrages

aufgezeichnet ist, auf. Der Schatten als Aufgezeichnetes kann immer nur eine Annäherung an ihn sein und verbirgt gerade im Standbild der Fotografie seine Wirklichkeit. Er ist festgehaltenes Momentum, ein kleiner Ausschnitt der Zeit, ein Bild, in dem nicht klar erkennbar ist, ob Schatten Schatten oder Fleck gewesen zu sein scheint. Anders verhält sich dies am Schatten selbst. Verfolgt man ihn in der Arbeit von Keersmakers, so erscheint er mit den Tänzerinnen, zu ihren Bewegungen, wie zu Abständen im Raum. Er evoziert die Möglichkeit einer Eigenzeitlichkeit, indem er Vorauseilender und Verfolgender, bestimmt durch das Beziehungsgeflecht, in dem er eingebettet ist, zu sein scheint. Eine Steigerung davon wäre durch eine bewegte Lichtquelle zu erreichen, durch welche dieser Eindruck noch verstärkt würde. Das bedeutet, dass die Eigenzeitlichkeit des Schattens mit dem Nullpunkt seines Objektes, das ihn wirft, unweigerlich verknüpft und unweigerlich bestimmt ist. Von ihm geht nicht nur seine Form aus, sondern die Bestimmung seines Verhältnisses zur Zeit. Das Objekt ist immer an der Schwelle des Jetzt, während der Schatten immer ein Davor oder ein Danach beschreibt und selten auf der Schwelle, das hieße unter dem Objekt, Position beziehen kann. Wäre dies der Fall, so wäre es der Verlust des Schattens, im Sinne einer chronologischen Endlichkeit des Objektes. Auffallend ist jeweils der mögliche Variationsmodus. Es besteht nicht die Festlegung auf einen Schatten, auf eine Form, auf eine Dunkelheit, sondern es ist immer eine Vielheit, die den Schatten beschreibt. Er ist unstete Konstante, die als Variation der Wirklichkeit sich zeigt. Es existiert nicht ein Schatten von etwas, sondern es ist im Moment der Erfassung ein möglicher Schatten aus einem unendlich bestimmbaren Konvolut an Möglichem. Es entstehen im Bezug zur Zeit, Fremdreferenzen, Verstärkungen und Auslöschungen. Eine weitere Bestimmung in Bezug zur Zeit erhält der Schatten anhand seiner Rezeption, seiner Erfassung durch den Blick. In Hemmers Arbeit fächert sich Zeit auf und erscheint im Blick des Betrachters, der über den Platz gehend sich analog zur Zeit bewegt, wie im Blick des Betrachters, der durch den Kontrollmonitor die Situation partiell erfasst. In diesem letzteren Erfassen rückt das zu Erfassende vom Erfassenden weg, hin zu einem medialen Ereignis. Es geschieht am Monitor, berührungslos im Sinne von haptischem In-der-WeltSein. Es geschieht ausschließlich in der Berührung durch den Blick. Es ist ein Berühren zweiter Ordnung, getrennt durch eine Monitorscheibe, ein Display, eine Membran, von der noch nicht geklärt zu sein scheint, ob sie in beide Richtungen durchlässig ist. Für den Bezug zur zeitlichen Erfassung stellt sich dies als Unbestimmtes dar, als nicht vertrauensbildendes Element, das jedoch in einem Close-Cirquit eingebettet zu sein scheint. Der am Monitor Erfassende könnte den Passanten akustisch erreichen, Anordnungen, Warnungen erteilen. Er ist im Geschehen außerhalb des Geschehens, jedoch innerhalb seiner im eigenen Zeitlichkeit.

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Schlussbetrachtung und Ausblick Was sich in der bisherigen Untersuchung gezeigt hat, ist, dass der Schatten in Form seiner medialen Bestimmungen über die Zeit hinweg anhand unterschiedlicher Technologien einen bisher noch nie gekannten Wandel vollzogen hat. Mit ihm lässt sich gleichermaßen der Wandel seines relationalen Gefüges bestimmen und verfolgen. Ich möchte im Folgenden entfalten, wie dies im Jetzt verortet ist sowie einen Ausblick diesbezüglich in zukünftige Zeiträume wagen. Ich schließe direkt an die zuletzt besprochene Arbeit aus der Serie »Relational Art« von Rafael Lozano Hemmer an und beziehe mich auf ein Zitat, in dem er sagt: »Ich arbeite mit Technologie1, weil das unvermeidlich ist.«2 Diese Unvermeidlichkeit möchte ich erweitern in eine Unhintergehbarkeit, der der Mensch heutzutage ausgesetzt ist, der er sich schwerlich entziehen kann. Er ist Ausgesetzter einer der Technologie unterworfenen Welt. Ähnlich, wie sich das Verhältnis zwischen menschlichen Körper und seinem geworfenen Schatten in den vorangegangenen Arbeiten entblößt, so steht der Mensch in einem Bestimmungsverhältnis zu einer technologisch bestimmten Welt. Er ist Verhandelbares, jedoch nicht im Sinne einer eindeutigen Herr-Knecht-Beziehung, sondern Element eines viel komplexeren und vielschichtigeren Bestim1 | Der Begriff Technologie leitet sich ab von technē »Kunst (besonders Redekunst), Handwerk« und logos »Wort, Lehre, Wissenschaft« ab. Seine im deutschen heutzutage gebräuchliche Verwendung ist die in Zusammenhang mit Fertigungs- und Produktionsprozessen einher gehbare und steht somit im allgemeinen mit Technik im Sinne von neuen Technik- und Produktionsverfahren im Zusammenhang. Im englischen Sprachgebrauch ist der Begriff einer erweiterter. Vorschlagen möchte ich dies hier zu berücksichtigen und statt Technologie den Begriff der »emerging technologies« zu denken. Dieser ist an Hemmers Arbeiten näher dran und richtet seinen Focus auf die Öffnung neuer Forschungsbereiche, den Anstoss zu neuen Technologie Debatten, die, die Gesellschaft in jeglicher Hinsicht bestimmen werden. (z.B.: Informationstechnologie, Nanotechnologie, Biotechnologie, Kognitionswissenschaft, künstliche Intelligenz). 2 | Ranzenbacher, Heimo / Lozano-Hemmer Rafael »Metaphern der Partizipation« in Stocker, Gerfried [Hrsg.] / Schöpf, Christine [Hrsg.] »TAKEOVER: who’s doing the art of tomorrow.« Ars Electronica 2001 Wien; New York: Springer 2001 S. 244.

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mungsverhältnises, das Freiheit suggeriert, ihn jedoch auf viel diffusere Weise in ein Abhängigkeitsverhältnis verwickelt hat.3 Was direkt daran anschließend die Frage offenlässt, wie und ob dieser Prozess mit dem Entzug des Subjektes an sich möglich sein kann. Es ist eine Denkschleife, die sich ergibt, indem die Unterworfenheit der Welt nicht aus sich heraus, sondern durch eine plurale Bestimmung Gestalt erhält. Mit ihrem Entstehen ist unweigerlich ein »nicht mehr zurück« enthalten. Es ist dies die Verschiebung zum Schatten, die Entsubjektivierung desjenigen, der ihn erzeugt. Vielleicht kann man dies in Anklängen an der Malerei, die einen Weg dahin zu beschreiben scheint, ablesen, wie wir es in einem Zitat von Richard Avedon wiederfinden, wenn er über seine dem Umfeld entrissenen großformatigen Porträts vor weißem Hintergrund in Bezug zum Subjektstatus der Porträtierten sagt: »To say it in the toughest way possible, and the most unpleasant way, what rights do Cezanne’s apples have to tell Cezanne how to paint them.«4 Avedon unterscheidet nicht mehr zwischen belebter und unbelebter Natur, sondern stellt beides in ein klares Machtverhältnis zu sich. Er arbeitet an der Oberfläche der ästhetischen Form. Thema ist nicht das Subjekt im Einzelnen, das Individuum, sondern seine Repräsentation im Visuellen, als Ornament der Masse. Avedon erstellt stereotype Darstellungen bestimmter Gruppen und sozialer Schichten. Richard Bolton erweitert dies um die Art und Weise der Fotografie, indem er das Format gleichsam als eine Form des Stereotyps, als eine Folie, als Prägung des Dargestellten sieht: »His approach is reminiscent of police photography – in the police photograph, one cannot help but look like a criminal; the format itself communicates guilt.«5 In dieser Nähe zur Vorverurteilung des abgebildeten Menschen wird dieser zum Objekt, der hinter dem Bild verdeckt bleibt. Hierbei ist die Grundsatzfrage impliziert, was eine einzelne Abbildung, eine einzelne Fotografie von einem Menschen über diesen überhaupt aussagen kann. Wie bei der Entstehung eines fotografischen Bildes ein relationales Gefüge dieses bestimmt, tritt eine Wiederholung in seiner Rezeption auf. Der Rezipient bleibt Betrachter einer fragmentarischen, rätselhaften, uneindeutigen Situation. Der Möglichkeitssinn, diese komplett aufzulösen, besteht hierbei nicht. Es ist ausschließlich ein Bild, 3 | Vergl. das Motiv Herrschaft und Knechtschaft in der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, welches in seiner Phänomenologie des Geistes von 1807 entfaltet wird. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich »Phänomenologie des Geistes« Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 »Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft« Frankfurt/M: Suhrkamp 1986 wobei hier der zentrale Blick zwar auf dem Prinzip der Anerkennung, jedoch eher auf dem Thema der Macht in sozialen Beziehungen gesehen werden muss 4 | Bolton, Richard »The Contest of Meaning: Critical Histories of Photography« London: MIT Press 1992 S. 269. 5 | Ebd. S. 267.

Schlussbetrachtung und Ausblick

das Fragment eines Gefüges ist, das als solches mitgesehen werden muss.6 Ein fotografisches Bild steht in seiner vereinzelten Objekthaftigkeit kontextlos und ohne Beziehungen zu anderen in einer unauflösbaren Rätselhaftigkeit. Zwar zeigt es offenbar das, was war, in dem Moment des Aktes des Abbildens, jedoch blendet es gleichsam Bildbestimmendes, außerhalb der Kadrierung Liegendes aus und muss dadurch unweigerlich in einer Unvollständigkeit verbleiben. Ein fotografisches BIld wäre somit vergleichbar mit einem Begriff, der zwar versucht sich einer Sache, einem Objekt, einem Sachverhalt anzunäheren, diesen jedoch nie in seiner Gänze zur Erfassbarkeit bringen wird. Das fotografische Bild scheint sich im Möglichen der eindeutigeren Bestimmung zu bewegen, da es als Abbild zum Abgebildeten in einer besonderen Verbindung steht. Das, was es zeigt, muss unmittelbar gewesen, anwesend gewesen sein. Es ist Grundbedingung für seine Entstehung. Etwas, was nicht gewesen ist, kann nicht fotografisch festgehalten worden sein. Mentale Bilder hinterlassen keine Schatten auf einer fotografischen Schicht, obwohl diese Annahme stetig aufs Neue eine Überprüfung erfährt und die Frage danach nicht eine Antwort erzeugt, sondern eine sich stetig wiederholende zeitliche Aufschiebung im »Noch-nicht« 7 erfährt. Der Verweis Boltons auf die Polizeifotografie und der Zusammenhang zwischen Bildformat und Schuldigkeit schlägt eine Brücke zu Hemmers Arbeit, die den einzelnen Menschen im Werk als Platzhalter, als Objekt entindividualisiert wie gleichermaßen entsubjektiviert. Um am Formatgedanken weiterzuarbeiten: Hemmer setzt das Format der Überwachungskamera ein. In diesem ist in Analogie zur Polizeifotografie, die Verbindung zur ihrer Notwendigkeit wie die Verbindung zur Vorprägung der Aufnahme in Bezug zur möglichen schuldhaften Handlung inhärent. Überwachung im öffentlichen Raum findet im Allgemeinen zur Vorbeugung von Straftaten statt sowie zur Vorratsdatenspeicherung, um Straftaten nach deren Vollzug auswerten, den Tathergang rekonstruieren, den Schuldigen überführen, Handlungen ergreifen und rechtfertigen zu können. Das Bild der aufgezeichneten Personen wird archiviert, interpretiert und verhandelbar. Die Aufzeichnung wird, je nachdem, in welches Beziehungsgefüge sie gesetzt wird, zum Schatten eines potenziellen Verdächtigen, eines potenziellen Täters. Im Prozess der Observation, der der Fotografie im »Es-muss-so-gewesen-sein«8 seit Anbeginn einge6 | Hier erscheint ein Verweis auf die Malerei Velasquez »Las Meninas«, Foucault, Michel I Marx, Rainer »Velázquez, Las Meninas« Frankfurt/M; Leipzig: Insel-Verlag 1999 ich beziehe mich hier auf das Nachwort von Rainer Marx. 7 | Vergl. Bracke, Eva; Fischer, Andreas; Loers, Veit; [Hrsg.] »Im Reich der Phantome – Fotografie des Unsichtbaren« Museum Abteiberg Mönchengladbach, Kunsthalle Krems, Fotomuseum Winterthur, Ostfildern: Hatje Cantz 1997. 8 | Vergl. Barthes, Roland »Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie« Frankfurt/M: Suhrkamp 1989.

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schrieben ist, sind zwei Dinge der Mutmaßlichkeit inhärent: die Lust und das Verbrechen. Als maßgebliche Bestimmung waren fotografische Bilder immer mit dem Stigma des Beweismittels belegt, und obwohl schon in den Anfängen des Mediums Bildmanipulationen während sowie nach der Aufnahme seine Glaubwürdigkeit in Frage stellten, existiert immer noch der langsam verblassende Glaube an das Bild der fotografischen Aufnahme. Hemmer geht es in seiner Arbeit nicht um die besondere Form, die Silhouette, den Schlagschatten eines Menschen, sondern um die Erscheinung und Einbeziehung als künstlerisches Gestaltungsmittel an sich. Dieser Arbeit liegen andere Auseinandersetzungen mit Projektionen im öffentlichen Raum zugrunde.9 Hemmer interessiert sich zunächst nicht für das einzelne Individuum, das den Schatten erzeugt, sondern für den Schatten als Möglichkeitsform. Die von Menschen erzeugten Schatten, hier auf dem Grund des öffentlichen Platzes, erscheinen als Projektionsträger, als Datenträger, als Informationsträger. In ihrer Eigenheit werden sie technologisch erfassbar, gleichsam wie der Mensch, als bewegtes über den Platz eilendes Objekt. In dieser Erfassbarkeit wird ähnlich wie bei Avedon der Mensch entsubjektviert. Sein Schatten bietet eine Möglichkeit der Sichtbarmachung einer Projektion. Am menschlichen Körper selbst ist diese so nicht sichtbar, da dieser im Licht steht, es die Projektion an dieser Stelle überschreibt, verdeckt, nicht zur Sichtbarkeit gelangen lässt, sondern minimal an ihm erscheint. In ihrer Erfassbarkeit erfahren die Schatten eine arbiträre Belegung mit einer Andersheit. Ihre Daten werden zum großen Teil umgeschrieben, die Silhouetten dienen hierbei als eine Art Gefäß, offener Ort, um anderes aufzunehmen, als »Löcher im Licht«, die gefüllt werden. Indem in Hemmers Arbeit der Mensch den durch einen Lichtkegel bestimmten öffentlichen Raum betritt, wird er Teil eines Systems von Berechnung, Projektion und Umschreibung. Hemmer geht es nicht um die individuelle Besetzung der Schattenflächen, um deren Aufhellung im aufklärerischen Sinne, sondern um eine Okkupation durch anderes, durch andere sowie der Möglichkeit und der Unhintergehbarkeit dessen. Der Schatten des Menschen, der über den Platz eilt, wird unweigerlich okkupiert, erhellt, überschrieben, im Grunde genommen ausgelöscht, dem Menschen entrissen. Der »eigene« Schatten ist zur willkürlichen Projektionsfläche geworden, fremd bestimmt. Die Besetzung fand unmerklich, auf zunächst naiv verblüffende Weise statt. Eine Abwehr war zu keiner Zeit eine Option. 9 | Vergl. die umfassnde Dokumentation auf der DVD zur Pubklikation Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007, in welcher er Verweise auf ihn beeinflussende Künstler wie u.a. Luc Courchesne, Paul Sermon aber auch Fotografen wie Spencer Tunik erwähnt und Verknüpfungen zur Kunstgeschichte wie zu Girolamo Franscesco Maria Mazzola »Parmigianino« und Diego Velasquez »Las Meninas« herstellt.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Hemmer beschreibt in einem Interview mit Heimo Ranzenbacher Technologie als eine Sprache der Sprachen der Globalisierung.10 Im Werk tritt diese Sprache auf. Es ist im ersten Moment der Berührung damit das Staunen, das unschuldige Blicken eines vorurteilslosen Kindes, das bei den Passanten hervorgerufen wird. In diesem Akt deutet sich eine Wiederholung dessen an, was zu Beginn der Entdeckung der Fotografie geschah, als Staunen und Angst sich schieden, jedoch so nah wie nur möglich beieinander lagen. Es war die unglaubliche Genauigkeit der möglichen Abbildung, das Fixieren eines bestimmten Augenblicks, die Berührung mit einem »Es-ist-so-gewesen« über die Zeit hinweg. Es ist die Berührung mit der Fotografie als möglichem Dokument, in Verbindung mit der Angst des Verlustes des eigenen Bildes, des Ablösens von Lichthäuten, wie Balzac es empfunden hat11, dem kleinen Tod, der bei jeder Fotografie nach Roland Barthes Vollzug erfährt. Ein analoger Prozess tritt heutzutage erneut auf. Im technologisch erzeugten synthetischen Bild steht dessen Akt einem weitaus unkontrollierbareren Möglichen gegenüber. Es ist nicht mehr ausschließlich die Frage nach dem möglichem Bild, sondern die nach seiner viralen Veränderbarkeit, die nach seiner unkontrollierbaren Verbreitung sowie nach seinen arbiträren Bestimmungsverhältnissen, nach seinem Kontext, ohne den Bilder nicht eindeutig lesbar sein können. Es ist, um wiederholt auf Barthes zu rekurrieren, die Frage nach dem fotografischen Porträt an sich und die Frage nach dem Bild, das dem Subjekt entrissen im Netz des Digitalen in nicht mehr überschaubaren Beziehungs- und Bestimmungsverhältnissen eine Art Eigenleben zugewiesen bekommen hat. Dieses Eigenleben steht jedoch nicht ausnahmslos in einer Uneigenständigkeit des Objektes, sondern gleichsam in der Unterworfenheit einer Technologie. Das, was in den Gebrauchsweisen der Fotografie12 und bis an die Grenzen der digitalen Fotografie noch eingrenzbar war, die Möglichkeit, einen rechtlichen Anspruch auf das eigene Bild als Privatperson zu besitzen, ist heutzutage theoretisch rechtlich immer noch möglich, faktisch unmöglich.13 10 | Ranzenbacher, Heimo / Lozano-Hemmer Rafael »Metaphern der Partizipation« in Stocker, Gerfried [Hrsg.] / Schöpf, Christine [Hrsg.] »TAKEOVER: who’s doing the art of tomorrow.« Ars Electronica 2001 Wien; New York: Springer 2001. 11 | Ich beziehe mich hier auf die Beschreibung Nadars, wie er sich Balzacs Zurückhaltung gegenüber fotografischen Porträts erklärt, in dem er es als Verlust an Körperschichten, einen Ablöseprozess beschreibt in Sontag, Susan »Über Fotografie« Frankfurt/M: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1980 S. 151. 12 | Bourdieu, Pierre / Boltanski, Luc »Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie« Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt 2006. 13 | Das »Recht am eigenen Bild« oder »Bildnisrecht« gehört zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Es besagt, dass jeder Mensch grundsätzlichselbst darüber bestimmen darf, ob und in welchem Zusammenhang Bilder von ihm veröffentlicht werden. Es ist im

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Es geht eher darum, ein Mögliches an Unhintergehbarkeit der Abbildbarkeit zu erzeugen, so wie darum, zu klären, in welchem Abbildverhältnis Bilder zum Abgebildeten stehen,sowie um eine Möglichkeit einer Bestimmung eines synthetischen Bildes14 oder, um mit Hans Belting15 zu sprechen, darum, sich nicht vom absoluten Glauben ans Bild täuschen zu lassen. Es geht vermehrt darum, kein Objekt, kein Bild zu sein, sondern die Position und Bedeutsamkeit des Subjektes als Individuum zu wahren. »Privatleben ist nichts anderes als jene Sphäre, von Raum, von Zeit, wo ich kein Bild, kein Objekt bin. Verteidigen muss ich mein politisches Recht, Subjekt zu sein.«16 Neben dem Staunen über technologische Möglichkeiten der Bilderzeugung, der Bildtransgression, ist es die Unhintergehbarkeit und der Verlust nicht nur des Rechtes am eigenen Bild, sondern gleichsam der Verlust der Kontrolle über das eigene Bild, den eigenen Schatten, der dieses erzeugt. Der Schatten des eigenen Bildes erscheint nicht nur in Form einer Ablösung, sondern steht zum Körper, der ihn erzeugt, in einer Verhältnismäßigkeit, die ihn mitbestimmt. In Zeiten von Googleglass, Facebook und Überwachung jeglichen Raumes ist der Mensch dem Kontrollverlust seiner Beschreibung, seines nun nicht mehr eigenen Bildes ausgesetzt. Er ist Ausgesetzter und sich Aussetzender in einem Verhältnis, das in dieser Form, Ausweitung und Komplexität so noch nie bestanden hat. Die Schwelle zwischen privatem und öffentlichen Raum ist längst nicht mehr vorhanden. Sie hat sich von einem Übergangsobjekt zu einem transitorischen Raum, zu einem Korridor gewandelt. Ihr Verschwinden geschah auf ähnliche Weise wie im Bereich der Architektur, zunächst unmerklich, jedoch letztendlich vollständig. Es ist kaum mehr differenzierbar, wo ein privater Raum besteht und wo öffentlicher Raum herrscht. Der Schwellenraum im unbestimmten Dazwischen, Grenze als Möglichkeit der Übertretung, ist nicht mehr erkennbar und im Akt des Vollzugs verloren. Indem Schwellen nicht mehr sichtbar, nicht mehr vorhanden zu sein scheinen, ist ihre Möglichkeit verloren gegangen. In diesem Verlust liegt nicht nur der Verlust einer Trennung, sondern mit ihm der Verlust einer Bestimmung. »Eine Überschreitung, die ihrer selbst Herr wäre, würde keine Grenzen überschreiten, sie würde diese nur verschieben. Grenzüberschreitung, bedeutet immer auch »Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie« verankert § 22, § 23, § 24 und § 33. 14 | Gemeint ist hier analoges wie digitales Compositing, wobei Bildfragmente einzeln erzeugt und zu einem Ganzen gefügt – synthetisiert werden. 15 | Belting, Hans »Das echte Bild – Bildfragen als Glaubensfragen« München: Beck 2005. 16 | Barthes, Roland »Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie« Frankfurt/M: Suhrkamp 1989 S. 23.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Selbstüberschreitung.«17 Diese würde somit nicht mehr stattfinden können, da Grenzen immer gegeben, jedoch nicht mehr sichtbar, wahrnehmbar, erfahren werden können. Der Hemmers Arbeit zugrunde liegende technologische Prozess des Abbildens bedingt verschiedene Abbildungsstufen. Zunächst ist dies die Unmerklichkeit der Aufzeichungsmodi. Es ist für den Aufgezeichneten nicht mehr sichtbar, nicht mehr wahrnehmbar, wann ein Bild von ihm erzeugt wird. Der Moment eines Gegenüber einer anderen Person, die eine Kamera auf ihn richtet, hat sich in einen Moment des andauernden Bildermachens, des ununterbrochenen Aufzeichnens durch Apparaturen gewandelt. DIes ist Teil menschlicher Kultur, menschlichen Handelns in Relation zu ihrer Bestimmmung. Die Technologie – Simondon beschreibt sie als Maschine – ist » [...] die Fremde, die Menschliches einschließt, das verkannt, verstofflicht, unterworfen ist und gleichwohl etwas Menschliches bleibt.«18 Die Notwendigkeit eines aufzeichnenden Subjekts ist nicht mehr Bedingung der Bilderzeugung. Es reicht aus, wenn durch das Subjekt die Aufzeichnung in Gang gesetzt wird. Eine Pause in diesem Prozess findet nicht mehr statt und wenn ist es eine Pause, die durch die Grenzen der technologischen Bedingungen Bestimmung erhält, wie etwa durch die Endlichkeit der Aufzeichnungskapazität oder auch durch eine technische Störung. Dies steht nicht mehr ausschließlich im alleinigen medialen Verhältnis im Bild, sondern steht in intermedialer Korrespondenz zum Bild. Jede menschliche Äußerung im Sinne von Sprache, Schrift, Bewegung ist aufzeichenbar, speicherbar, wieder abruf bar, auswertbar geworden und dies andauernd. Der Begriff der Dauer steht hierbei in direkter Analogie zur Lebenszeit. Die Aufzeichnungsdauer wird ausschließlich durch die »Lebenszeit« der Aufzeichnungstechnologie, der Geräte der Aufzeichnung, die gleichzeitig der Geräte ihrer Lesbarkeit, der Wiedergabe geworden sind wie durch die Lebenszeit des Aufzuzeichnenden bestimmt. Lebenszeit wird hierbei bestimmt durch Sichtbarkeit, Hörbarkeit, Erfassbarkeit, Tracking. Mit dem Tod ist diese nun mehr nicht beendet, sondern lebt in den archivierten Daten fort, die aufgrund ihrer Erfassung eine Simulation der Erfassbarkeit erzeugen. Eine Mutmaßung, wie viele Internetseiten in sozialen Netzwerken bestehen, deren Nutzer nicht mehr am Leben sind, kann hier nicht erfolgen, verweist jedoch auf eine simulierte Anwesenheit, für die nicht klärbar ist, ob eine Aktualisierung der Seiten auf Reaktionslosigkeit oder totale Abwesenheit, den Tod des Autors, verweisen. Im bewegten Bild eines nicht mehr lebenden Menschen scheint der Moment der Anwesenheit bewahrt worden zu sein. Anwesende Abwesenheit scheint bei aller technologischen Erfassbarkeit signifikantes Element und Bestimmung zu 17 | Waldenfels, Bernhard »Ordnung im Zwielicht« Frankfurt/M: Suhrkamp 1987 S. 194. 18 | Simondon, Gilbert »Die Existenzweise technischer Objekte« Zürich: Diaphanes 2012 S. 9.

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sein. So, wie hierbei Erfassbarkeit evoziert wird, besteht sie in der Möglichkeit des Entzugs. Dadurch dass die Möglichkeiten der Wiedergabe ineinander übergehen, indem der Bildschirm, die Projektion, diese in einer zunehmenden Totalität bestimmt, bestimmt dies gleichsam den Inhalt der Übertragung. Die Möglichkeiten der Wiedergabe fokussieren sich auf ein Licht/Schattenbild, das eine Handschrift, einen Duktus nicht mehr zulässt. Der Spiegel der Oberfläche eines iPads, eines iPhones, eines Imacs erzeugt einen Abstand zum Licht-/ Schattenbild, das auf ihm erscheint. Dies ist in der Projektion des Bildes nicht angelegt, sondern der Projektionsgrund, im Allgemeinen die Wand, auf der sie erscheint, bestimmen diese auf viel subtilere Weise mit. Dies geschieht nicht in Form einer Glasscheibe, eines teildurchlässigen Spiegels, sondern in Anmutung einer Konvergenz, eines Übergangs. Dass die Fotografie über die Zeit in ihren Gebrauchsweisen um ein nicht Absehbares eine Ausweitung erfuhr, ist alltägliche Gegebenheit. Fotografieren, Bilder machen, ist zu einer unmerklichen, alltäglichen Geste, zur Entäußerung19 eines jeden geworden. Fotografieren reiht sich ein in Schreiben, Zeichnen, Sprechen. Es ist nicht mehr verwunderlich, dass das Mobiltelefon zum Fotoapparat wie zum Datenspeicher geworden ist. Es ist möglich, jederzeit, an jedem Ort, durch jede Person eine Fotografie zu erzeugen, diese zu speichern, weiterzugeben, sie zu veröffentlichen. Einzig besteht die Abhängigkeit darin, Zugang zur Technologie wie zu ihrer Bedienbarkeit zu erlangen. Noch ist es ist nicht möglich, aus sich heraus eine Fotografie zu erzeugen, zu denken, sondern es bedarf immer noch einer Apparatur sowie einer Materialität, etwas zur Sichtbarkeit, zur Lesbarkeit und Archivierbarkeit gelangen zu lassen. Es gibt noch keine Gedankenfotografie, obwohl der Gedanke daran fast zeitgleich mit der Fotografie entstanden ist und versucht wurde, diesen theoretisch wie praktisch zu verfolgen. Die Differenz besteht nicht mehr im Erzeugen, sondern im Besitzen. In dem Moment, in dem eine Fotografie erzeugt wird, sie im Netz veröffentlicht wird, ist sie aus dem Besitz des Urhebers verschwunden. Sie mäandert als Kopie, in einem unkontrollierbaren Fluss von Raum und Zeit, herausgerissen aus ihrem ursprünglichen Bestimmungsgefüge, umgeschrieben durch eine jederzeit mögliche Bearbeitung, bestimmt von 19 | Entäußerung steht hier im Dialog zu Hegels und Marx Begriff der Entäußerung, wobei hier die Aspekte der Entfremdung, der Schöpfung von etwas neuen, das ablegen, weg geben von etwas eigenem, welches dafür gemacht wurde, im Vordergrund stehen. Es bildet einen Dialog zu Subjekt, Objekt und Eigentum, welcher einer aktuellen Untersuchung bedarf. vergl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich »Phänomenologie des Geistes« Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ed. Ausg., Ausg. in Schriftenreihe »Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft« Frankfurt/M: Suhrkamp 1986 Grundlinien der Philosophie des Rechts /Erster Teil. Das abstrakte Recht/Erster Abschnitt: Das Eigentum/C. Entäußerung des Eigentums Bd.3 §65 Rechtsphilosophie 1821.

Schlussbetrachtung und Ausblick

einem vorher nicht absehbarem Zusammenhang, in dem sie erscheint. Mit neuen Technologien verschwinden die alten nicht, sondern erfahren eine Möglichkeit der Neubestimmung, das hier im Besonderen für unseren Untersuchungsgegenstand zu gelten scheint. Im Wandel der Technologien kann der Schatten als Gegebenes sich auf seine ihm besondere Weise entfalten. Was in seiner Erstarrung im Fotografischen, seines »Es-muss-so-gewesen-sein«, seines »Das was wir sehen muss glaubbar sein«, hat sich im digitalen Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von einer Gegebenheit zu einer Bestimmtheit gewandelt. Im Nachgang enthüllt sich die inhärente Matrix der Bestimmung und verweist auf eine Welt des Dazwischen wie auf eine Öffnung neuer Möglichkeiten, auf einen Blick dahinter. Stellt man die Fotografie Rotschenkos und die Relational Architectur Hemmers gegenüber, zeigt sich ein zunächst unüberwindbar scheinender Graben. Beide Arbeiten scheinen so weit entfernt wie nur möglich voneinander zu sein, jedoch auch ein Fenster zu öffnen, durch das es möglich ist, anhand der medialen Entwicklung von Technologien ein Objekt zu begleiten, das beiden gegeben ist. Der Schatten eines menschlichen Körpers ist in beiden Arbeiten präsent, sichtbar und hat im Laufe der Zeit eine Entwicklung erfahren. So, wie der Schatten nicht mehr dunkler, bewegungsloser Fleck in einer Fotografie ist, so zeigt sich in ihm sein Gefüge, in das er eingebunden ist. Es bleibt spannend, zu sehen, welche Positionen der Schatten in Zukunft beschreiben wird und ob er sich, wie es im literarischen Bereich schon lange vorweg genommen wurde, eines Tages von seinem Menschen lösen wird, nicht nur metaphorisch, wie in unterschiedlichen Bereichen schon längst geschehen, sondern auch visuell bzw. ob er aufgrund der Änderungen in seinem relationalen Gefüge eine neue Bestimmung erfahren kann.

D as P olyfok ale Der Schatten ist ein mannigfaltiges Element in den Arbeiten Rafael Lozano-Hemmers und in diesen oftmals direkt ablesbar und sichtbar. Hemmer benutzt den Schlagschatten des Menschen mehrfach – als Marker, als Standortbestimmung, als ästhetische Bildmatrix. Er steht in polyfokaler Relation zu einem Gefüge, das ihn bestimmt, das erst durch ihn gebildet werden kann. Es sind Formen einer technologischen Bilderzeugung als Bedingung von Sichtbarkeit und Erfassbarkeit wie einer Nutzbarkeit – als Träger von Informationen, als vorübergehender Statist auf einer temporären Bühne. In dieser Sichtbarkeit liegt nicht nur ein qualitativer, sondern gleichermaßen ein quantitativer Sprung begründet. Dies ist archivierbar, auswertbar, berechenbar und evoziert eine direkte Verbindung zu aktuellen technologischen Möglichkeiten und Schnittstellen einer alltäglich präsenten Überwachungs- wie Trackinggesellschaft. Jedoch ist diese nicht mehr an ein Monopol eines politischen Gefüges

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gebunden, sondern verweist gleichermaßen auf die Erweiterung von einem monofokalen zu einem polyfokalen Gebilde, das politische wie ökonomische Bestimmungen erfährt. An dieser Stelle erfährt die perspektivische Verschiebung einen Wandel, die nicht bildwissenschaftlich begründet ist, die jedoch im Sinne einer Unabgeschlossenheit des Kunstwerkes in diesem mitschwingt. Im Begriff der Polyfokalität 20 erscheinen Gegebenheiten, die in Analogie zur heutigen synthetischen Bilderzeugung und deren Gebrauch gedacht werden können. Im Erfassen der Hemmerschen Schatten ist eingebettet, dass diese eine unhintergehbare semantische Bestimmung erhalten. Dies ist dem Akt des Erfassens inhärent. Daten um der Daten willen sind inhaltslos, wertlos. Erfassung bedeutet somit zeitgleich immer auch Zuweisung, Bestimmung, Ordnung, Bewertung – demzufolge Sinnzusammenhänge – entstehen zu lassen. Hierbei zeigt sich, dass der Akt des Erfassens in direkter Abhängigkeit zu den Bedingungen seiner Erzeugung steht. Die semantische Bestimmung wurde zunächst als Basis festgelegt, als Algorithmus programmiert und ist eingeschrieben im Archiv der Erinnerung. Diesem zufolge wird das Erfassbare in seiner Ordnung von Sichtbarkeit einer semantischen Bestimmung zugewiesen. In den Bedingungen der Erfassbarkeit und der daran anschließenden Zuordnungen sind deren Grundbedingungen maßgeblich bestimmendes Element. Dies sind in der Arbeit »Under Scan« die Bedingungen, dass der Schatten auf einer Projektionsfäche, dem öffentlichen Platz, erscheinen kann, dass er im Lichtkegel verortet ist, der im Vorhinein festgelegt wurde, dass er visuell erfassbar ist, dass er sich in Bewegung, im Werden befindet und dass er zunächst auf einen Menschen verweist, der in einer gerichteten Bewegung über diesen öffentlichen Platz geht. Die Bewegung des Schattens anhand eines natürlichen Lichtes wie des Sonnenlichtes findet hier im künstlichen Licht nicht mehr statt, wobei es in ihm als ständiger Begleiter mitschwingt. Die Bewegung des Schattens wird hier ausschließlich durch den Menschen erzeugt, der ihn trägt, nicht durch den chronologisch bestimmten Lauf der Sonne und nicht durch die Eigenbewegung der Projektionsfläche. Zu dem sich bewegenden Menschen verhält sich sein zugehöriger Schatten analog – auf dem Platz 20 | Polyfokalität ist hier ein Verweis auf den Begriff Werner Hofmanns »Die Strukturen der christlichen Kunst sind von Polyfokalität geprägt. Vermittelt das monofokale Bild eindeutige empirische Zusammenhänge, wie sie im dreidimensionalen Erfahrungsraum zwischen Menschen und Dingen, zwischen Körpern und Räumen sich einstellen können, so entwirft das polyfokale Bild Sinnzusammenhänge, die sich primär nicht dem Augenschein, das heißt den unmittelbaren Wahrnehmungsdaten entnehmen lassen. Die Polyfokalität tendiert zu komplexen, übergreifenden Gebilden beziehungsweise Aggregaten, zu denen das Mehrfeldbild zählt, indes die Monofokalität sich vorzugsweise im Einzelbild ausspricht.« Hofmann, Werner »Die Moderne im Rückspiegel: Hauptwege der Kunstgeschichte« München: Beck 1998 S. 31.

Schlussbetrachtung und Ausblick

wie in der Matrix der technologisch Erfassung. Das Licht bestimmt ausschließlich die Schattenform, seine Dichte, seine Ränder wie das Kontrastverhältnis zu dem, was ihn umgibt. Der über den Platz eilende Mensch, Teil kollektiver Partizipation, bestimmt die Bewegung wie die Größe der Schatten, die als Sichtbares auf der Projektionsfläche erscheinen. Dies geschieht, indem er sich zur Lichquelle, zur Projektionsfläche, über die er geht, mit der er in direkter Verbindung steht, wie zu anderen Personen verhält. Im Schatten ist es möglich, mit anderen zu verschmelzen, eine kolloborative, nicht mehr eindeutig zuordenbare Form zu bilden. In dieser sin die Schatten aller Beteiligten miteinander verwoben, jedoch nicht mehr einzelnen Identitäten eindeutig zuweisbar. Der Schatten erscheint immer als Projektion, als Fläche auf einer Fläche. In dieser Flächigkeit täuscht er über seine wahre Qualität hinweg, denn das, was im Allgemeinen zur Sichtbarkeit gelangt, ist ausschließlich Fragment eines komplexen Ganzen. Unterzieht man dies einer genaueren Betrachtung, erscheint der Schatten, in dem er am Boden erscheint, gleichsam an einer Körperseite der Person, die ihn erzeugt. Das bedeutet, zwischen beiden zeigt sich hierbei eine zunächst nicht sichtbare, jedoch annehmbare Verbindung. Diese zur Sichtbarkeit zu erheben ist möglich, indem ein bestimmtes weiteres Medium dazwischen tritt, sei es ein weiterer Körper oder eine atmosphärische Störung. Indem an dieser Stelle des Dazwischen eine diffuse atmosphärische Störung erzeugt wird, zeigt sich die Verbindung des Schattens, zwischen dem am Boden liegenden und dem Schatten, der am Körper der Person zu haften scheint. Beides sind Enden eines Schattenkörpers, der den Raum zwischen ihnen bestimmt und füllt, jedoch erst durch Hinzufügen eines Weiteren zur vollständigen Sichtbarkeit gelangt. Die Qualität des Dazwischen ermöglicht diese Sichtbarkeit und weist auf eine grundlegende Bedingung hin. Erst wenn etwas dem Schatten die Möglichkeit der Sichtbarkeit bietet, kann er zur Sichtbarkeit erhoben werden. Der Schlagschatten, der erfassbar, berechenbar ist, ist es nur dadurch, dass er auf eine Projektionsfläche, auf eine atmosphärische Störung fallen kann, die ihm die Möglichkeit der Sichtbarkeit bietet, die ihn eine Erweiterung seiner Bestimmung zuteilwerden lässt.

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D ie V erbindung ausdrücken Brian Massumi thematisiert die Arbeiten Hemmers in unterschiedlichen Texten und verweist auf Hemmers Vielschichtigkeit sowie auf seinen spezifischen Theoriezugang. Die Arbeiten der Werkkategorie »relational architecture« lassen ein besonderes Spannungsfeld erscheinen, das für die hier durchgeführte Untersuchung hilfreich ist. »A practice which pries open existing practices, of whatever category, scale, siting or distribution, in a way that makes their potential reappear at a self-abstracting and self-differing distance from routine functioning in a potentialized semblance of themselves – a variational practice of that kind could be called (to borrow the felicitous term Rafael Lozano-Hemmer applies to his own approach to interactive art) a relational architecture. A relational architecture is oriented toward the disseminating end of things, toward potential expansion, but is anti-institutional. It unsettles. It pushes the dispositional envelope of the processual continuum I just mentioned.« 21

»Relational architecture« entblößt sich als mögliches, als »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst.«22 Belegt wird hierdurch ein Ort im aktuellen Kunstdiskurs wie in den sich wandelnden gesellschaftlichen, kulturellen Strukturen. Damit einher geht eine Neubestimmung des Subjekts anhand von dessen Erfahrungen. Der Mensch steht seit 21 | Massumi, Brian »The Thinking – Feeling of What Happens« Inflexions 1.1 »How is Research-Creation?« 2008 www.inflexions.org I andere Arbeiten in denen Massumi Hemmers Arbeiten thematisiert sind: Massumi, Brian »Strange Horizon Buildings, Biograms and The Body Topologic« in »Architectural Design«, vol 69, John Wiley & Sons UK 1999 S. 12-ff I Massumi, Brian »Parables for the Virtual – Movement, Affect, Sensation« Duke University 2003 S. 192 und 288 2003; Massumi, Brian »Flash in Japan – Rafael Lozano-Hemmer’s Amodal Suspension,« Artforum, vol.XLII, no.3, 2003 Artforum International Magazine New York, NY p. 37-40 2003 Hemmer Codirector with Brian Massumi, Huge and Mobile (HUMO) workshop,Linz. V2 andArs Electronica Center 2007 I Massumi, Brian »The Thinking – Feeling of What Happens« in »Interact or Die!« Mulder, Arjen I Brouwer, Joke V2/Nai Publ Rotterdam 2007 S. 79 I Massumi, Brian »Ontomacht Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen« Berlin: Merve 2010 Massumi, Brian »Semblance and Event: Activist Philosophy and the Occurrent Arts« MIT Press 2011 S. 53, 80. 22 | Foucault, Michel »Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit.« Berlin: Merve 1978 S. 119 f Foucault beschreibt seinen Begriff des Dispositiv, die Elemente dessen, die als Netz geknüpft dieses erst ergeben.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Langem nicht mehr als rezipierendes Subjekt vor einem Kunstwerk, sondern erfährt dies in affektiver Bestimmung und wird zu dessen Teil. Mehr noch: Im Eintreten, im Sich-zu-ihm-Bewegen lässt er es oftmals erst als Ereignishaftes erscheinen. Die Bestimmung der künstlerischen Arbeit durch den / mit dem Besucher einer Ausstellung, einer Aufführung wird zu konzeptueller, sinnstiftender Möglichkeit. »Doch die eigentliche Motivation der relationalen Architektur besteht in der Modifikation von Verhaltensweisen: Hemmer stellt eine Situation her, in der Gebäude, urbaner Kontext und Teilnehmer in einen neuen und «fremdartigen» Bezug zueinander treten. Die Arbeit kann als gelungen betrachtet werden, wenn die Intervention des Künstlers das dynamische Gleichgewicht zwischen Publikumsaktion und Gebäudereaktion — und vice versa — verändert.« 23

Relationalität wird nicht mehr ausschließlich in eine Verbindung zu kollektiver und kultureller Bestimmung gedacht, sondern lässt Welt anders sichtbar und bestimmbar werden. Wenn Architektur im Sinne von Baukunst, von einer Auseinandersetzung mit Entwurf, Planung und Gestaltung, mit zu bauendem und gebautem Raum durch den Menschen gedacht werden kann, so zeigt sich an dieser Stelle ein ihr inhärentes um Längen komplexeres Potenzial. Der Prozess des Werdens bestimmt diesen maßgeblich und mehr den je. Es ist nicht ausschließliches Ziel etwas Statisches, etwas sichtbar Bleibendes zu erzeugen, sondern einen bestimmten Raum zu beschreiben, im Sinne einer Gestaltungsleistung eines gestimmten Raumes, der nicht als bloße Autonomie in seiner Dinglichkeit besteht, sondern als relationales Gefüge in unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen und gedacht werden muss. Die Spur des Visuellen ist diesem in unterschiedlicher Weise deutlich eingeschrieben. »Relationale Architektur kann man als die technologische Aktualisierung von Gebäuden und öffentlichen Räumen durch ein Fremdgedächtnis definieren. Relationale Architektur besetzt die Meta-Narrative eines bestimmten Gebäudes durch die Hinzufügung oder Wegnahme audiovisueller Elemente, um so auf sie einzuwirken, sie zur Wirkung zu bringen, zu re-kontextualisieren. Relationale Gebäude weisen publikumsaktivierte Hyperlinks zu vorbestimmten raumzeitlichen Situationen auf, die aus anderen Gebäuden, anderen politischen oder ästhetischen Kontexten, anderen historischen Erzählungen oder einer anderen Physis bestehen können.«24

23 | Hemmer, Rafael Lozano in »Relationale Architektur #2 Displaced Emperors« Katalog Ars Electronica Festival 1997: Stocker, Gerfried [Hrsg.] »Fleshfactor: Informationsmaschine Mensch / [Ars Electronica 97]« Wien; New York: Springer 1997. 24 | Ebd.

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Relationalität kann hier im Sinne einer Analogie im kulturell-soziologisch-gesellschaftlichen Rahmen gedacht werden. Gerade in aktuellen Diskursen zur Asylpolitik und zu gesellschaftlichen wie kulturellen und ökonomischen Verschiebungen im Weltbezug erscheint ein Bedarf der Bestimmung sowie ein angemessener Umgang damit dringender den je. »Lozano-Hemmers work requires us to reassess our notions of the analog and the digital, of language and code, meaning and force, human and nonhuman communication. But it does so not by commenting, critiquing, or sending a message itself. lt does it aesthetically, by which I do not mean «beautifully» (although his installatlons always are that, too). Rather, I mean‚«aesthetic» in something closer to the etymological meaning: as in aesthesis «making sensible». The relational architecture he has pioneered is the amodal digital art of making sensible what isnt (force, community, relational emergence) in participatory analog splendor: like insect, like art.« 25

Massumi begegnet dem Schatten, der von einem menschlichen Körper, seinem Körper, erzeugt wurde, indem er einen Zugang über seine alltägliche, verlässliche Erscheinung, seine Faszination, wie Potenzialität offen legt. Es ist, wie bei fast allen Beschreibungen eines Schattensehenden, ein persönliches Sonnen-/Schattenerlebnis, das dies motiviert. So, wie die Schatten in Hemmers Arbeiten eine Aufmerksamkeitsverschiebung erzeugen, diese als offensichtliches Moment in den Vordergund rücken, so scheint der Schatten in Analogie dazu, einen Eingang zum Text zu evozieren. Der unscheinbare eigene Schatten auf der Wiese verweist auf ein relationales Objekt, das als dialogisches Eigenes im Fremden erkennen lässt. Zu Beginn steht die Faszination eines Menschen, der im Sonnenlicht seinem eigenen Schatten gegenübersteht – sich gegenübersteht. Massumi beschreibt sein Erlebnis einer Sommersonnenwende – sein Schatten wächst über ihn hinaus, in unerreichbare Größe, er beunruhigt ihn. Diese Beunruhigung zerfällt, indem er eingeschrieben in einer vor ihm liegenden Wiese erscheint. »Ich fühle mich wie eine ambulante Grasdecke. Ich begrüne die Welt.«26 Mein Schatten »vegetiert mich«27. Die Ausdehnung der Wiese verhält sich in Relation zum Schatten, wie diese sich zu seiner Person verhält und sich verändert und anders herum. Es ist die Möglichkeit des natürlichen Lichts der Sonne, das den Schatten zur Sichtbarkeit erhebt. Es ist die Möglichkeit der subjektiven Wahrnehmung, die diesen Bedeutung verleiht. Demgegenüber stellt Hemmer die Technosonnenwende. 25 | Massumi. Brian. »Flash in Japan – Rafael Lozano-Hemmer’s Amodal Suspension«, Artforum, vol. XLII, no. 3, November 2003, S. 37. 26 | Massumi, Brian »Ontomacht Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen« Berlin: Merve 2010 S. 192. 27 | Ebd. S. 191.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Es ändert sich nicht nur die Bestimmung des menschlichen Körpers durch eine künstliche Sonne, sondern es sind »weniger die Projektion des Umrisses meines Körpers als vielmehr dessen Aktionen«, die nun in den Vordergrund treten. Es ist nicht mehr die unausweichliche Verbindung zum menschlichen Vergehen, zum unausweichlichen Tod, der mit dem Verlust des eigenen Schattens kulturell in Verbindung steht, sondern der Schatten ist in Hemmers Arbeit »[...] Vorform meiner noch kommenden Aktionen in der Welt. Es ist meine Körperform im Futur, Penumbra des Potenzials.«28 Es ist nicht der Blick zurück, sondern der Blick nach vorn, der erscheint. Dieser erscheint, wenn der Mensch im Licht stehend, sich vom Licht abwendet, ihm dem Rücken zukehrt, den Blick in Richtung des eigenen Schattens wendet. In dieser Wendung ist nicht nur die Wendung des Körpers, des Blickes inhärent, sondern ebenso eine Zeitenwende. Es ist nicht die Blendung, die beim Blicken ins Licht entsteht. Es ist der gegenläufige Blick, der Blick auf sich selbst, auf die Potenzialität des eigenen Vermögens wie die relationalen Bestimmungen, denen er unterworfen ist, die ihn bestimmen. Der Schatten steht hier in Relation zum menschlichen Maß, seiner Größe, seiner Distanz, seinen möglichen Bewegungen, gedanklich wie physisch. In Korrespondenz zur Sommersonnenwende, die Massumi als wichtiges Element im Text einführt, steht bei ihm die Technosonnenwende. Aus einem natürlichen Lichtobjekt, das ein »in Bewegung sein« suggeriert, ist ein technologisches geworden. Beiden Sonnen gleich ist ihr Unvermögen einer Eigenbewegung.29 Was Bewegung möglich werden lässt, ist das, auf was ihr Licht trifft, das, was im Licht erscheint, ihm widersteht und nicht das Licht als solches. Eine erneute Wendung erscheint in einer anderen Arbeit von ihm »[...] als er die Schatten so programmierte, dass sie innerhalb ihrer Umrisse eine Internetdiskussion über das Konzept der Angst zwischen Teilnehmern aus der ganzen Welt in Echtzeit darboten, ›sonnenwendete‹ er uns nochmals, indem er das Potenzial unserer Körperabdrücke auf den Maßstab unserer Vernetzungen ausdehnte und das ganz im Maßstab von Bauwerken.« 30

Wichtiger Aspekt in diesen Arbeiten ist die Schnittstelle mit dem menschlichen Körper. Es ist der Begriff des Körpers, der sich anders zu bilden scheint. Er ist Gefüge, prozesshaftes Werden, das sich aus seinen Bedingtheiten speist. Körper meint hier Körperbild, Körperschema, das nicht durch eine sichtbare Grenze bestimmt wird, sondern gleichermaßen durch seine ihm eigenen Mög28 | Ebd. S. 191. 29 | Die thermische Bewegung, wie die Möglichkeit einer Erruption, die beiden inhärent ist, soll hier aussen vor gelassen werden. 30 | Massumi, Brian »Ontomacht Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen« Berlin: Merve 2010. S. 192.

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lichkeiten. Der Körperbegriff wird erweitert gedacht. Er ändert sich im Bezug zu seinen relationalen technologischen Bestimmungen und erhält dadurch eine deterritorialisierte Bestimmung,31 die ihm wie seinen Möglichkeiten eine Erweiterung zukommen lässt. Der Mensch ist diesbezüglich das einzige Lebewesen, das nicht nur als Bilderschöpfer im Sinne eines gestalterischen Aktes existent ist32, sondern als Schöpfer seines eigenen Körperbildes und über die anatomischen Grenzen seines Körpers hinaus Gestalt annimmt. Diesem kann er sich nicht entziehen, diesem kann er sich nur bewusst stellen. Der Körperschatten spielt hierbei eine ganz eigene Rolle. Massumi schlägt vor: »Wenn man über den Schatten in der von mir vorgeschlagenen Weise nachdenkt, nämlich indem wir ›Abwesenheit‹ als eine potenzielle, nächste Aktion verstehen, wird der ›Ort und die Zeit der Abwesenheit des Körpers‹ zum ›möglichen Ort der Übertragung des Körpers‹ und ›die Unmöglichkeit der Selbstübertragung‹ zu einer Erinnerung daran, dass jede Ausdehnung des Körpers nicht nur eine Verschiebung desselben ist, sondern ein werden. Ein Körper kann sich nicht selbst übertragen. Doch er kann seine Vitaltität projizieren. Seine Aktionen können eine neue Dimension annehmen.« 33

Zwei Punkte tauchen hier auf: die Unmöglichkeit der Selbstübertragung und neue Dimensionen der Ausdehnung. Der Schatten braucht immer ein anderes, um sichtbar zu werden, ein anderes Medium, eine anderes Objekt, das ihn überträgt. Beiden kommt die Aufgabe der Übertragung, der Umschreibung, der Umzeichnung zu. Zum einen als technologische, zum anderen als subjektive Bestimmung, durch die Wahrnehmungsmöglichkeiten eines anderen. Obwohl sich diese maßgeblich voneinander unterscheiden, sind sie im prozesszualen Werden sehr nah beieinander. Die Unmöglicheit einer Selbstübertragung zeigt sich in besonderer Form im Video Otths. Der in Bewegung stehende Körper bringt eine Widerständigkeit gegenüber dem Prozess des subjektiven Umzeichnens auf. Zeichnen erfordert einen Prozess, eine Bewegung im körperlichen wie im gedanklichen Sinne. Innerhalb dieser Bewegung ist es nicht möglich, sich selbst, seinen Körper als bewegenden zu erfassen. Es ist immer nur eine Annäherung an ihn möglich. Ein Dazwischen, eine Distanz, ist hierbei immer notwendige Bedingtheit. Ein Erfassen gelingt im seinem Miss31 | Vergl. den Begriff der Teleabsenz von Hemmer/Massumi und Deleuze/Guattaris Begriff der Deterioalisierung. »So, to deterritorialise ist to free up the fixed relations that contain a body all the while exposing it to new organisations« Parr, Adrian »Deterritorialisation / Reterritorialisation« in: Parr, Adrian [Hrsg.] »The Deleuze Dictionary« Edinburgh: Edinburgh University Press 2005, S. 66-69.(Parr, S. 67). 32 | Vergl. Jonas, Hans der Begriff seines »Homo Pictor«. 33 | Massumi, Brian »Ontomacht Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen« Berlin: Merve 2010 S. 192.

Schlussbetrachtung und Ausblick

lingen. Der Prozess der Bewegung erscheint auf andere Art und Weise in der eigenen Unvermögenheit der Zeichnung. Es ist nicht eine Linie, die entsteht, sondern dessen Potenzialität. Was sich zeigt, ist eine Möglichkeitsform des Erfassten, hier der eigenen menschlichen Form. Etwas, was den Menschen in seinem Vermögen bestimmt, ihn als Menschen ausmacht. Dessen technologische Übertragung, die zunächst auf ein Unvermögen verweist, weist ihn hier in einer bestimmten Besonderheit aus und beschreibt ihn in seinem Werden als in Bewegung stehende, entstarrte Erscheinung. Ein Bild ist immer ein im Werden Begriffenes, ein prozesshafter Akt, der nicht mit dem Bild als Werk endet, sondern dann erst beginnt. Die offensichtlich erscheinende Umrisslinie des eigenen Schattens zu fixieren gelingt erst mithilfe eines Aufschreibesystems, bei Otth mit einer Videokamera. In dessen Übertragung wird und bleibt das Bild sichtbar, archivierbar, gleichzeitig die Verbindung des Körpers, des Subjekts, zu ihm. Anhand des Prozesses der Aufzeichnung wird das Gefüge, in dem das Bild Darstellung erfährt, eingebettet ist, sichtbar und bestimmt dieses und erfährt dieses als Bestimmung. Wirkmächtiger ist Massumis Beschreibung von Abwesenheit im Sinne einer potenziellen, möglichen Aktion. Es ist die noch nicht realisierte Möglichkeit, zu der etwas in der Lage ist, ein Vermögen, eine Disposition, dem dies inhärent ist. Der Schatten eines Körpers erscheint da, wo der Körper erst noch sein, wo er vielleicht nicht einmal hinkommen wird. Der Schatten erscheint und erstreckt sich über einen Platz, eine Wiese, welche im Nachhinein mit Schritten durchmessen, erfasst werden kann. Der Schatten schließt den Ort in den Körper mit ein. Der Körper ist untrennbar mit Schatten und Wiese (bei Massumi), mit dem öffentlichen Platz (bei Hemmer) verbunden. »Er kann seine Vitaltität projizieren«34, als ein Körper, der zur Ausführung von Aktivitäten in der Lage ist. Er ist in der Lage, gleichzeitig Zukünftiges wie Vergangenes anzudeuten. Massumi stellt dies mit der Frage in Bezug, was heutzutage einen Körper ausmache. Es ist nicht der Verlust des Körpers im Cyberzeitalter, sondern die Ausdehnung des Körpers, die ihn erweitert und bestimmt, weit über Ort und Zeit hinaus. Massumi spricht zwar von Dematerialisierung des Körpers,35 was als Verlust gedacht werden kann, jedoch erfährt der Körper hier eine ihm angemessenere Bestimmung im Sinne: was einen Körper ausmacht, situtiert, ihn beschreibbar werden lässt. Es ist nicht die biologische Messbarkeit, sondern seine relationale Bestimmung, die ihn im ständigen Werden entstehen lässt.

34 | Ebd. S. 193. 35 | Hemmer geht von einer Dematerialisierung der Umgebung aus. Interview with Rafael Lozano-Hemmer by Geert Lovink Published in »Vectorial elevation Relational Architecture No. 4« Conaculta 2000 S. 55.

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»Das Objekt wird zur Performance«36, zitiert Massumi Hemmer. Körper sind Potenzialitäten möglicher Aktionen, Bewegungen, Aufführungen.Die Schatten der Betrachter in »Under Scan« sind Knotenpunkte von Verbindungen. Sie verbinden sich miteinander, mit dem öffentlichen Platz, mit dem Videoporträt, das in ihnen erscheint, und somit auch mit der Person, die dort sichtbar wird. Es bildet sich eine neue Instanz, eine erweiterte Potenzialität, im Sinne von Intersubjektivität, wie Intermedialität. Der Betrachter hat im ersten Augenblick den Eindruck einer scheinbar realen Begegnung. Er braucht einen Moment, um zu erkennen, dass ihm eine Aufzeichnung einer Person gegenübersteht, dass es kein Livebild ist, das Interaktion nicht möglich ist. Durch sein Handeln wird die künstlerische Arbeit aktiviert, vitalisiert. Der Körper löst hierbei etwas aus, indem er seinen Schatten abgibt, ihn vermessen, ihn verfolgen, ihn als mögliche Fläche einer Projektion von anderen durch andere beschreiben lässt. »[...] I would encourage a rethinking of interactive art – from the premise that its vocation is to construct a situation or go into an existing situation, and open it into a relational architecture. Ways of doing that, the nuts and bolts of making potential reappear, are what Erin Manning and I, in our collaborative work, call techniques of relation. We use the word «technique» in a sense inspired by Gilbert Simondon, whose account of the technical invention is in similar terms of emergent relational potential and becoming in a way that places the technical object and art in the same orbit, without reducing one to the other. The difference, of course, is that the regulatory principles of the technical process in the narrow sense are utility and saleability, profitgenerating ability. Art claims the right to having no manifest utility, no use-value and in many cases even no exchange-value. At its best, what it has is event-value.« 37

Der Begriff des Ereignisses ist bei Massumi ein sehr zentraler, der seine gedankliche Nähe zu Deleuze entbirgt, die auch im Bezug zum Untersuchungsgegenstand eine hilfreiche ist. Es liegt hierin die unmögliche Antwort auf die Frage »Was ist ein ...?«. Diese Fragemöglichkeit impliziert so keine Antwort, sondern erscheint als Problem selbst, das demnach nicht fassbar ist. Das Ereignis »[...] ist eher ein ästhetisches, ein poetisches Ding. [...] es [...] umfaßt eine Konstellation, eine interne Beziehung von inkompossiblen Elementen.«38

36 | Massumi, Brian »Ontomacht Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen« Berlin: Merve 2010 S. 193. 37 | Massumi, Brian »The Thinking – Feeling of What Happens« Inflexions 1.1 »How is Research-Creation?« 2008 S. 13 www.inflexions.org. 38 | Vogl, Joseph »Was ist ein Ereignis?« In: Peter Gente und Peter Weibel: »Deleuze und die Künste« Frankfurt/M: Suhrkamp 2007 S. 69.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Das Ereignis erscheint in »Under Scan« als Unterbrechung, Verschiebung, die konventionell gesetzte alltägliche Beziehungen neu ordnet. Es verschiebt deren Ebenen. Es tritt ein als atmosphärische (Regen, Schnee, Überschwemmung, Erdrutsch) wie als kulturell gesellschaftliche Verschiebung (Kundgebung, Überfall, Unfall). Diese Neuordnungen, neuen Verschaltungen, treten in Neubestimmung und Umfunktion sowie Überschreitbarkeit des öffentlichen Platzes. Es entsteht ein Zwang, andere Wege zu gehen, ein Zwang, in anderen Relationen zu werden. Dies betrifft Umwelt und Subjekt gleichermaßen. Die Videoprojektionen in der Arbeit »Under Scan« erscheinen auf dem Boden des Platzes. Der Betrachter muss sich zu ihnen herunterbeugen, seinen Blick umwenden, nach unten blicken und somit sich vor anderen verbeugen, indem er sich anderen zuwendet, von anderen wie dem Menschen, der neben ihm steht, abwendet. Der Passant läuft Gefahr andere mit Füßen zu treten, sie bildlich zu übergehen. Im Wahrnehmen erscheint eine bestimmte Form von Respekt gegenüber dem Bild, das sich am Boden zeigt, bis auf eine Ausnahme, wie es in der Dokumentation sichtbar wird. In einer Ecke des Platzes treten bewusst Passanten auf projizierte Menschen ein. Es stellt sich hierbei erneut die Frage nach dem Bildbegriff und inwieweit Bild, Abbild zum ihn zeigenden erzeugenden Körper zugehörig ist.Was hier und in der vorliegenden Untersuchung immer wieder erscheint ist, dass Körper nicht Objekte an ausschließlich einem Ort sind, sondern erweitert gedacht werden müssen. Somit ist das Bild wie der Schatten eines Menschen zum Körper zugehörig. Es ist gerade im technischen Bild eine unleugbare Subjekt-Bild-Beziehung existent, die an das »es ist einmal gewesen« immer wieder erinnert und auch daran, dass bis zu einem gewissen Grad der Mensch Grundlage seines Bildes, real und anwesend, gewesen sein muss. Die relationale Verknüpfung und Erweiterung bleibt hierbei als Visuelles bestehen, ähnlich wie es in anderen relationalen Bedingungen sichtbar wird, im Artefakt einer Malerei, einer Zeichnung, eines Textes, einer Komposition, aber auch in poltischen Bedingungen und Handlungen. Der menschliche Körper, verfolgt von einem Trackingsystem, erzeugt in der Arbeit »Under Scan« Schatten von multipler Ausdehnung, je nachdem, in welcher Distanz, in welchem Winkel er sich zur Lichtquelle verhält. Es ist nicht möglich die unendliche Distanz bestimmen zu lassen, sondern Distanz wird zwischen den Realitäten Körper, Licht, Projektionsfläche zur aushandelbaren Größe. Distanz kann nur im Verhältnis zueinander beschrieben werden. Schatten muss hierbei ebenso im technolgischen Sinne betrachtet werden. Er erscheint nicht nur am Boden, sondern ebenso im Trackingsytem als visuelle Information und am Kontrollmointor am Rande des Platzes, in dem der Besucher den Platz als Bühne überblicken kann. »Die Grenzen des Lokalen öffnen sich, ohne das das Lokale verschwindet. Der Status des Ortes ändert sich. Er dient als ein Knotenpunkt für größere und globalere Bewegungen, die sich

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durch ihn miteinander und mit dem Körper verbinden.«39 Hemmer distanziert sich deutlich davon, standortspezifische Installationen zu schaffen, sondern erklärt, er inszeniert beziehungsspezifische Interventionen. »Zu sagen, dass die Umgebung dematerialisiert wird, bedeutet, dass sie dazu programmiert wird, ein Ereignis des In-fremde-Beziehung-Bringens darzustellen.«40 Dies schafft die Verbindung zum Körper, der ähnlich wie der Ort, einen Knotenpunkt beschreibt. Die Umgebung wird neu gestimmt, bestimmt, indem der Mensch sich zu ihr verhalten kann, sie durchmisst und sei es mit dem eigenen Schatten. Es geht darum, den eigenen Körper »mit Aktionsdimensionen und Bewegungen zu befruchten«.41 Ein Körper ist ein Objekt, dass »seriell und beziehungsspezifisch« gesehen werden muss. »Ein Körper ist nicht das, wo er ist, sondern wie er sich bewegt.« Massumi spitzt dies zu, indem er Körper, die sich nicht bewegen, eine Anerkennung als Körper verweigert und zu dem Schluss kommt, »der Körper ist, was er ausführt.«42 So, wie dem Sehen potenzielle Berührung als auch Bewegung inhärent ist, so ist der Körper durch »die Tendenz zu, als der Ort, an dem er sich befindet« geprägt. Er ist Verhältnisbestimmung zu und durch etwas, nicht die Bestimmung des Körpers als Orte. Folgerichtig schreibt Massumi, das unser Körper im ständigen Prozess des Werdens, der Veränderung, im Spannungsfeld zwischen »Modus, Größe, Richtung und Bestimmtheit in veränderlichen Wahrnehmungen variiert.« Er spricht, in Anlehnung an Albert Michotte, dem Körper jegliche Form im Sinne einer Kontur, einer klar definierbaren Oberfläche, Grenze ab. »Das Limit des Körpers ist wie das Limit des visuellen Feldes – eine ungenaue Grenze ohne Demarkationslinie.«43 Massumi verwendet Michottes Begriff der »kinästhetischen Amöbe«44, wenn er vom Körper spricht. Dieser Begriff steht für einen arbiträr sich verändernden ausweitenden erweiterten Körperbegriff, der ständig im Werden und ständig »in Beziehung zu« etwas, in Wartestellung ist. Diese Verhältnisbestimmungen machen ihn als Körperlichkeit erst möglich, erfassbar, beschreibbar. In Analogie zur Amöbe (Wechseltierchen) besitzt der Körper demnach keine feste Form, sondern ändert durch Ausbildung von Pseudopodien (Scheinfüß39 | Massumi, Brian »Ontomacht Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen« Berlin: Merve 2010 S. 195. 40 | Ebd. 41 | Ebd. 42 | Ebd S. 196 in Bezug zu Albert Michotte. 43 | Ebd S. 197 Verweis Michotte, A. »La Perception de la Causalite« Louvain: Institut Superieur de Philosophie, (1946/1963) dt. Michotte, Albert »Gesammelte Werke« Bd. 1. »Die phänomenale Kausalität« Bern; Stuttgart; Wien: Huber 1982 S. 204 (Verweis im engl Text in »vectorial elevation« relational architecture no. 4 Rafael Lozano-Hemmer. 44 | Ebd S. 196 Verweis Michotte, A. »La Perception de la Causalite« S. 204.

Schlussbetrachtung und Ausblick

chen) seine Gestalt andauernd. Amöben bilden eine Lebensform, eine Organisationsstufe, jedoch keine Taxonomie (Ordnung, Klassifikationsschema) im Sinne von verwandschaftlichen Beziehungen. Sie sind asexuell sich vermehrende Einzeller, die nach innen stabil und nach außen extrem flexibel sind. Sie tasten, scannen permanent ihre Umwelt ab. Ihr kinästhetisches Vermögen verweist auf seine ihm ureigenste Beschreibung: »Kinästhetik ist das Studium der Bewegung und der Wahrnehmung, die wiederum aus der Bewegung entsteht, sie ist die Lehre von der Bewegungsempfindung.«45 Indem der Mensch sein sich bewegendes Schattenbild erblickt, wird er angeregt zur Bewegung. Dadurch dass er erkennt, dass das so ist, entsteht eine Feedbackschleife, die ihn in Bewegung erkennen lässt, gleichzeitig zur Bewegung motiviert. Indem Sinne steht es dem Körper frei, seine Grenzen auf die Oberflächen von Gebäuden auszudehnen. Es kommt zu einer Durchmischung, Durchdringung von unterschiedlichen Entitäten. Das erweiterte Körperfeld besteht aus Lokalen und Nonlokalen, aus Erinnerung und Zukünftigen, aus Fremdem und Eigenem. Es entsteht eine Oberfläche »tendenzieller Fusion« – eines kollektiven Körpers. Körper und Grund, Projektion und Figur verschmelzen zu einer pluralen Instanz. Das Eigene ist nicht mehr eindeutig abgrenzbar. Im Gegenteil: Das, was am eigenen Körper, im Schatten sich zeigt, ist visuelle Erscheinung einer Gegebenheit, die als Gegebenheit, jedoch nicht als situierte Sichtbarkeit erscheint. Der durch Projektion besetzte Körperschatten erzeugt eine Potenzierung in der Aufmerksamkeitssteigerung, für den Betrachter selbst wie für den Ort, an dem er erscheint. Ein Zitat Bachtins, auf welchen Massumi zurückgreift, scheint hier ebenso zu gelten: »Die Elemente des äthetischen Objekts der gegebenen Arbeit sind die ›weiten und stillen Straßen der Stadt‹‚ ›der Schatten der Nacht‹, ›das Rollen des Gedächtnisses‹ usw., doch nicht die Erfahrungen im Allgemeinen und nicht die Worte.«46 So, wie Massumi gegen Worte im Sinne von Objekten, trägen Reflexionen und Repräsentationen argumentiert, so kann in Analogie dazu eine Argumentationskette gegen die bloße Repräsentation und den Abbildcharakter der Projektionen, wie den bloßen Abbildchrakter der Schattenbilder erzeugt werden. Wenn es möglich ist, Körper als kinästhetische Amöben zu denken, sind diese Projektionen Teile davon, Pseudopodien, die nicht abgelöstes Bild, mediale Erscheinung sind, sondern Erscheinungen in transitorischen Möglichkeiten, Körperteile in technologischer Ergänzung für den erscheinenden wie den wahrnehmenden Körper. Der Betrachter sieht 45 | Hatch, Frank I Maietta, Lenny »Kinästhetik: Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten« München; Jena: Urban und Fischer 2003 Eine Verwandschaft zu Kino, in Ableitung von kinesis »Bewegung« und graphein »zeichnen« ist erkennbar – Kino ist aufgezeichnete und gezeigte Bewegung. 46 | Massumi, Brian »Ontomacht Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen« Berlin: Merve 2010 S. 198.

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sich selbst erweitert. In Hemmers Arbeiten gibt es Schnittstellen, die wie in »Under Scan« den Schatten als solche definieren. An ihnen treffen verschiedene Instanzen aufeinander, visuelle wie gedankliche, beginnende Tätigkeiten und Handlungen, die unweigerlich in einen Dialog mit dem Projektionsbild und somit auch mit dem eigenen Schatten und dem Ort, an dem er scheint, treten. Es entsteht ein zunächst nicht überblickbarer Dialog im Grid, im Netz der Erfassung des Platzes, das nach einer bestimmten Dauer immer wieder eingeblendet wird. Zusätzlich zu den Mikrostrukturen wird hierbei eine globale Verbindung zwischen den Handelnden sichtbar. In Hemmers Arbeit geht es um Möglichkeitspotenziale, um Wahrnehmen und Erzeugen von relationalen Beziehungen, in die der Betrachter eingebettet ist, die mit ihm, sein Teil sind. Es zeigt sich, wie relationale Bestimmungen einander durchdringen, neue Mutationen entstehen lassen. Diese Arbeit ist nicht als politische Arbeit angelegt, jedoch ähnlich wie seine relationalen Gefüge, die er erschafft, ist das Politische ihnen inhärent. In der Dokumentation seiner Quellen, Inspirationen tauchen kollektive Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf. In »Under Scan« ist das Moment der Überwachung, des Tracking, des Netzes (digital, politisch, gesellschaftlich, kulturell) ein Verweis auf einen politischen Akt. Die Arbeit entdeckt, entblößt das Grid der Überwachung, hier in Form eines Lichtnetzes, das eine Grundlage für die Erfassung der Trackingsoftware wahrnehmbar werden lässt. Nach einer gewissen Dauer erhellt diese den öffentlichen Platz und überlässt den Betrachter plötzlich sich selbst. Die Personen im Grid erfahren eine Überlagerung, eine Überzeichnung ihrer Körper wie ihrer Schatten. Sie stehen im Lichtraster, das sich auf ihre Körper legt, das sie im diagrammatischen Erfassen mit Koordinaten bestimmt. Sich zu entziehen ist ausschließlich durch ein Verlassen des Erfassungsraumes möglich.»Under Scan« ist, wie der Titel evoziert, eine Bezugname zu Themen und Problemen von aktuellen, modernen Gesellschaften. Die harmlos erscheinende Botschaft, das Bild, die Besetzung des eigenen Schattens, ist in einen komplexen Zusammenhang eingebettet, der sich einer direkten Wahrnehmung auf den ersten Blick entzieht, diese jedoch bestimmt. Was thematisch zu dem erscheint, ist der Aspekt der Desubjektivierung. Es ist arbiträr, welche Projektion einer Person im Schatten einer anderen erscheint, welche Person einen Schatten wirft. Im Schatten ist der Mensch gleich. Es existieren keine ablesbaren sozialen, kulturellen oder gesellschaftlichen Unterschiede. Das System des Trackings beinhaltet keine Möglichkeitsdimensionen einer konnotativen Unterscheidung. Es bearbeitet eine arbiträre Auswahl, im Schatten wie in der Projektion. Die Technologie bestimmt die Auswahl, die in ihr programmatisch angelegt wurde. Medium in dieser, wie in anderen Arbeiten Hemmers, ist nicht der Schatten, nicht der Mensch, nicht der Ort, nicht der Träger der Aufzeichnung, sondern die Erscheinung und ihre rela-

Schlussbetrachtung und Ausblick

tionalen Bestimmungen selbst. »Das Medium geschieht.«47 Das Medium der relationalen Architektur ist »das, was es entmaterialisierend produziert: die Relation.« Diese ist einem ständigen Prozess des Werdens, des Relation-Werdens, unterworfen. Erzeugt wird hierbei nicht ein Ergebnis, ein Produkt, sondern ein Ergebnisfeld, eine Pluralität von Möglichkeitsereignissen. Dieser Prozess ist »kurzlebig und im Entstehen begriffen.«48 Das bedeutet, es besteht ausschließlich im Entstehen, lebt zwischen Entstehen und Verschwinden, ist nicht verlässliche Materialität, sondern entmaterialisierter Prozess. Die Relation fungiert nicht als technologisches Trägermaterial, Hilfsmittel, sondern »als das potenzialisierende Ereignis des Dazwischen«, das im Entstehen verbleibt. »Relationalität spricht die Objekte und Körper aus der Perspektive ihres Vermögens an, sich in Bezug auf ihre Stimulierung und Reaktion zu verändern. Es ist ein Zusammentreffen in einem verschmelzenden Ereignis der sich faltenden Entdefinition, welche den Weg für eine Neudefinierung bereitet – ein Ineinanderschieben ins potenzielle Werden.« 49

Zusammenfassend kann gesagt werden, die Relation bestimmt hierbei die Materialqualität, die Massumi mit »Entstehung oder Virtualität von Gefühlen und Bewegungen, herbeigeführt durch vergegenwärtige Unmittelbarkeit einer kultivierbaren Art« beschreibt. Sie ist zunächst kein Prozess der Vermittlung, sondern bewegt sich oftmals im Rahmen einer Nichtregistrierbarkeit. Im Bezug zur Erkenntnis des erweiterten Körperbildes durch den eigenen Schatten im Bereich der Neurowissenschaften entstand ein Anknüpfungspunkt, der sich im Laufe meiner Arbeit vermehrt festigte. Was hier als und im Schatten erscheint, ist nicht ausschließliche Erweiterung des eigenen Körperbildes, sondern eine Erweiterung des eigenen Körpers ähnlich wie die Urvölker den Schatten als solchen oftmals betrachtet haben. Massumi verweist auf Hemmers Standpunkt zum Begriff Körper und Körperverlust im Cyberzeitalter. Er stellt dem Körper den Begriff der Televerkörperung entgegen. Televerkörperung wird von ihm in einer Definition festgelegt: »Televerkörperung ist der technisch gestützte Akt, in räumlicher und zeitlicher Koinzidenz mit anderen Menschen zu sein. Normalerweise ist ein Besucher teilweise oder ganz umgeben in einem Gastkörper enthalten.«50 Dies ist eine Positivierung technologischer Bedingungen und Möglichkeitsfelder, es ist die Intention einer »unverzichtbare(n) Lust des Zusammenkommens«.

47 | Ebd. S. 203. 48 | Ebd. S. 204. 49 | Ebd. S. 206. 50 | Hemmer, Rafael Lozano »Televerkörperung in Trace« Kunstforum International Bd. 132, 1995, »Die Zukunft des Körpers I« S. 142.

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Kunst und Affektproduktion Wie im Text bereits angeklungen, wird Kunst heutzutage anders wahrgenommen und anders hergestellt, in anderen Perspektiven betrachtet und erfahren, als dies noch vor Jahren etabliert war. Emotionsbegriffe und Affekttheorien haben seit ca. zwanzig Jahren verstärkt Konjunktur, der »Affective Turn«51 ist ausgerufen und wird propagiert. Diese Veränderung von Wahrnehmung und Produktion liegt nicht ausschließlich im Wandel der medialen wie technologischen Bestimmungen des Digitalen begründet, jedoch auch. Der Körper des Betrachters erfährt eine besondere Anerkennung, er ist nicht mehr bloßer Wahrnehmungs- und Durchgangsort, der Verknüpfungen herstellt und bindet, sondern erfährt in unterschiedlichen Bedingungen eine direkte Verwendung als Schnittstelle, Interface und Material im Werk. Der empfindende, aktive, sich bewegende Körper wird Bühne, Bild, Schauplatz, auch im metaphorischem Sinne. Das Begehren nach dem Affekt (Angerer) ist intensiver und umfassender geworden denn je zuvor, auf Produzentenebene, wie auf der Ebene des Betrachters. Zu klären, aus welchen Intentionen dies entstanden sein mag, welche Handlungen dadurch eine Ersetzung, eine Neusetzung erfahren, ist nicht Thema der Arbeit, muss jedoch im Vergleich der künstlerischen Arbeiten mitgedacht werden, da diese die heutige Zeit entscheidend mitbestimmen und prägen und somit auch das Menschsein an sich. Es ist nicht allein Kunst, die in diesem Modus erfahrbar, wahrnehmbar und produziert wird, sondern in Analogie dazu stehen gesellschaftliche, kulturelle wie politische Wahrnehmungsräume, die ein Maximum an Affektproduktion bedingen und erzeugen wie ein Minimum an Distanz erreichen. Affiziert-werden und Affiziert-sein-können ist nicht eine Möglichkeit, sondern eine Bedingung. »Was ein Körper kann, ist die Natur und die Schranken seines Affiziertseinkönnens.«52 Die grundlegenden Bezüge zu aktuellen Affekttheorien diesbezüglich sind in Texten Spinozas und Bergsons angelegt und wurden in Deleuze’ Kinobüchern, seinem Buch »Spinoza und das Problem des Ausdrucks« sowie in »Kritik und Klinik« entfaltet. Exemplarisch beschreibt Deleuze in »Kino 1« ein Affektbild als »das, was den Abstand zwischen einer Aktion und Reaktion einnimmt; was eine äußere Aktion absorbiert und im Inneren reagiert«.53 Dass dies nicht ausreichend und global hierdurch Beschreibung finden kann, ist nachvollziehbar, wenn unterschiedliche mediale Erscheinungsformen wie unterschiedliche Texte dazu in 51 | Vergl. Clough, Patricia Ticineto / Halley, Jean [Hrsg.] »The Affective Turn: Theorizing the Social« Durham: Duke University Press 2007, Gregg, Melissa / Seigworth, Gregory »The Affect Theory Reader« Durham & London: Duke University Press Books 2010. 52 | Deleuze, Gilles »Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie« München: Fink 2002 S. 192 mit Vereis auf Spinoza Ethik III, 2 Anm.. 53 | Deleuze, Gilles »Das Bewegungs-Bild Kino 1« Frankfurt/M: Suhrkamp 1991 S. 322.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Betracht genommen werden. In post-deleuzianischen Ansätzen (Brian Massumi) erfahren diese eine Rahmung durch William James’ Pragmatismus und radikalen Empirismus sowie Alfred N. Whiteheads Metaphysik. Mark Hansen wiederum stärkt die Betrachtungen Spinozas, indem er ihn zitiert » [...] there ist no perception without no affection. Affection is, then, that part or aspect of the inside of our body which we mix with the image of external bodies; it is what we must first of all subtract from perception to get the image in its purity«.54 Der Bildbegriff ist in diesen Denkweisen ein sehr zentraler und muss als Begriff im Vollzug gedacht werden. Das meint nichts anders, als dass der Bildbegriff, auf den sich Mark Hansen vorwiegend bezieht, von Spinoza kommend gedacht ist und anhand seiner aktuellen technologischen veränderten Bestimmungen als erweiterter zu sehen ist.

Technologien des Visuellen Technologien verändern die Grundlage unserer sinnlichen Erfahrung drastisch und beeinflussen das, was es bedeutet, als verkörperte menschliche Objekte in einem relationalen Gefüge Welt wahrzunehmen und zu erzeugen. Mark Hansen hat eine neue Phänomenologie, die in engem Dialog zu Texten von Walter Benjamin, Henri Bergson, und Gilles Deleuze steht, erarbeitet. Er betont hierin die besondere Rolle der affektiven, propriozeptiven55 und taktilen Dimensionen der menschlichen Erfahrung bei der Konstitution von Raum und seiner Ausdehnung anhand aktueller visueller Medien. Für Hansen bildet sich Visualität erst im Zusammenspiel mehrer innerer körperlicher Elemente, anstatt eine Bestimmung durch die Macht des Blickes zu erhalten. Er behauptet, dass der Körper als »active framer« Bilder erzeugt, erst recht unter digitalen Bestimmungen. Der Begriff des »frame« ist für ihn zum Schlüsselbegriff geworden. Der Körper ist notwendige Bedingung und Aktivität in Form eines emotionalen Durchgangsortes. »The digitalization explodes the frame, extending the image without limit not only in every spatial dimension but into a time freed from its presentation as variant series of (virtual) images. In this sense, the digital image poses an aesthetic challenge to the cinema, one that calls for a new will to art and one whose call is answered by the neo-Bergsonist embodied aesthetic of new media art.« 56

54 | Hansen, Mark B.N. »New Philosophy for New Media« The MIT Press 2006 S. 100. 55 | Vergl. Propriozeption, Lage- und Bewegungswahrnehmung des eigenen Körpers im Raum wie der Lage einzelner Körperteile zueinander. Es handelt sich um eine Eigenempfindung. 56 | Hansen, Mark B.N. »New Philosophy for New Media« The MIT Press 2006 S. 35.

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Der menschliche Körper als empfindsamer Leib ist mit Bergson Bild unter Bildern. »Materie« ist für ihn die Gesamtheit der Bilder. Wahrnehmung beschreibt für ihn die mögliche Wirkung eines bestimmten Bildes auf den menschlichen Leib als besonderes Bild. Er ist Bedingung für die Wahrnehmung der Bild-Materie in einem wechselseitigen Wirkungsprozess. Eine Subjekt-Objekt-Trennung wird diesbezüglich zugunsten eines Wirkungszusammenhanges aufgehoben, in dessen Mittelpunkt der Leib steht. Er ist Indeterminationszentrum. »Wenn nun aber die Lebewesen im Weltall ›Zentren der Indetermiertheit‹ darstellen und diese Inderterminiertheit mit der Zahl und der Feinheit ihrer Funktionen wächst, begreift man, dass ihr Vorhandensein ganz von selbst die Ausscheidung aller der Elemente in den Gegenständen mit sich führt, an denen ihre Funktionen nicht interessiert sind. Sie lassen gewissermaßen jene äußeren Wirkungen, die ihnen gleichgültig sind, durch sich hindurch gehen; dadurch werden die anderen isoliert und eben durch diese Isolierung zu ›Wahrnehmungen‹. Es wird sich also für uns alles so vollziehen, als ob wir das Licht, das von den Oberflächen ausgeht, auf sie zurückwürfen, ein Licht, das niemals sichtbar geworden wäre, wenn es sich ungestört fortgepflanzt hätte. Die uns umgebenden Bilder scheinen nun unserem Körper jene Seite, die ihn interessiert, und zwar diesmal im vollen Lichte, zuzuwenden, sie geben von ihrem Gehalt das an uns ab, was wir im Vorübergehen festgehalten haben, weil wir einen Einfluß darauf auszuüben vermögen.« 57

Der menschliche Körper ist besondere notwendige Bedingung, Reflexionsfläche und bestimmendes Hindernis, an dem Sichtbarkeiten, Wahrnehmungen erst entstehen können. Bergson spricht weiter von einem Vergleich mit einer photographischen, einer lichtsensiblen Platte. »Unsere Zonen der Indeterminiertheit übernehmen sozusagen die Rolle dieser Platte.«58 Wenn dies weitergedacht wird, so kann man sagen, Wahrnehmungen sind Belichtungen und demzufolge Schatten auf der Platte der Indetermiertheit. An ihr findet eine Auswahl statt. Die Elemente von Interesse werden aufgezeichnet, wahrgenommen; die Elemente, Funktionen von Desinteresse ziehen vorbei. Im Prozess des Belichtens wird Licht zu Schatten, ähnlich, wie dies bei einem Silberhalogenidfilm geschieht, und Bergson schreibt weiter: »Man muss sich also wohl oder übel entschließen, von der Materie wenigstens ein Schattenbild beizubehalten.«59 Es geht nicht um Wahrnehmung eines Ganzen, sondern um eine Beschränkung von Wahrnehmung, wie diese Selektion erfährt und diese Handlung bestimmt. Mark Hansen liefert eine alternatives, nicht 57 | Bergson,Henri »Materie und Gedächtnis eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist« Hamburg: Meiner 1991 S. 21. 58 | Ebd. S. 24. 59 | Ebd.

Schlussbetrachtung und Ausblick

anschluss- und kritikfreies Denken zu Deleuze’ Affektbild sowie zu Bergsons Verständnis, wie der Körper Wahrnehmungen »rahmt« und dies notwendige Bedingung und notwendiger Filter im Prozess der Rahmung, Auswahl ist. Der menschliche Körper wird so zu einer zentralen Steuerungseinheit, der Informationen rahmt. »Hansen argues that media convergence under digitality actually increases the centrality of the body as framer of information: as media lose their material specificity, the body takes on a more prominent function as selective processor in the creation of images.«60 Hansen argumentiert, das virtuelle Realitäten einen aktiven, eingreifenden Betrachter bedingen und stellt sich in einen gewissen Abstand zu Deleuze’ Affektbild wie zum Kino als medialen Ort der Erfahrung. Die Rahmung, wie sie in diesem Kontext stattgefunden hat, existiert so nicht mehr. »Accordingly, for Deleuze, the technical flexibility of the digital image has as a necessary aesthetic correlate a mutation in the function of framing. Specifically, digitization explodes the frame, extending the image without limit not only in every spatial dimension but into a time freed from its presentation as variant series of (virtual) images. In this sense, the digital image poses an aesthetic challenge to the cinema, one that calls for a new «will to art» and one whose call is answered by the neo-Bergsonist, embodied aesthetic of new media art.« 61

Dies beides zeigt die Arbeit »Under Scan« ganz deutlich. Ohne Betrachter, der die Arbeit durch das Einbringen seiner Körperlichkeit aktiviert, findet diese nicht statt. Sie steht in direkter relationaler Abhängigkeit zu diesem. Die Arbeit verharrt nicht als Konstante an einem Ort, wie dies im Allgemeinen für die Arbeit von Rotschenko gilt, die an ihren Ausstellungsort auch dann noch gebunden ist, wenn dieser für Besucher nicht mehr zugänglich ist. Der Rezipient hat sich längst zum Betrachter, zum Kolloborateur, zum Teilhabenden gewandelt und wird aufgefordert sein Distanzverhältnis, seinen Standort zu ihr zu bestimmen, selbst einzunehmen. Eine aktive Absprache, Aufforderung des Betrachters ist nicht neu, die Form der Bewegung, die sie auslöst, jedoch wohl. Im analogen Bildzeitalter geschah aktives Eingreifen in die künstlerische Arbeit oftmals als Bedingung eines In-Gang-Setzens einer Apparatur wie eines Mutoskops, Stroboskops, Zoetrops, Stereoskops,62 um eine simulierte sichtbare Bewegung, einen simulierten Raumeindruck zu erzeugen. 60 | Lenoir, Tim in Hansen, Mark B. N. »New Philosophy for New Media« The MIT Press 2006 S xxii. 61 | Ebd. S. 75. 62 | Apparate welche Bewegungen in Bildern simulierten, welche man erst einmal in Gang setzen musste. Jedoch waren es hierbei die Aperate die große Bewegungen vollzogen und nicht der Betrachter selbst.

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Eine körperliche Bewegung, ein In-das-Bild-Eintreten, wurde diesbezüglich nur in Panoramen, Performances und raumgreifenden Installationen möglich und gefordert. Das Bild, das Ausstellungsobjekt an sich, forderte im musealen, konservatorischen Rahmen eine gewisse Form von Distanz, von Nicht-berührt-werden-Können, Nicht-berührt-werden-Dürfen. Ein Feedback, eine Reaktion, ausgehend von der Arbeit konnte so nicht zustande kommen. Eine körperliche Interaktion war überwiegend nicht Bestimmung. Dies wurde erst zunehmend zur möglichen Praxis, als sensomotorische Technologien in Installations- und Performancekunst Einzug hielten. Vorläufer dafür war deren Einsatz in vereinzelten medialen Bereichen wie der Fotografie. Hier war die schon länger gängige Praxis, Lichtschranken- und Schallauslöser im Bereich der Hochgeschwindigkeitsfotografie oder an sensiblen unzugängigen Orten einzusetzen. Auf diese Weise konnten automatisierte Vorrichtungen bewegliche Objekte berührungslos detektieren und eine Aktion auslösen. Der Begriff des Nicht-berührt-werden-Könnens taucht hierbei erneut auf, jedoch in anderer Weise. Eine direkte Berührung, ein haptisches Begreifen ist nicht vorgesehen, wohl aber ein Berührungsraum, der Aktionen des Betrachters zu Reaktion eines technologischen Prozesses werden lässt. Dass dieser Modus in künstlerischen Arbeiten heutzutage erneut und vermehrt auftaucht, ist nicht nur ein spannender technologischer Aspekt, sondern ein Verweis auf Technologien, die ähnlich der Digitalität interdisziplinär und bedeutungsrelevant für ihre Anwendung eingesetzt werden. So, wie die Fotografie über eine große Distanz von inhaltlichen Bezügen bestimmt wurde, von einem ursprünglich der Malerei dienenden Medium bis hin zu Rasterfahndung anhand von Fahndungsfotos, Dokumentationen von Tatorten, Gebrauchsweisen der Fotografie im privaten wie im wissenschaftlichen Rahmen sowie im Gebrauch als politische Waffe, so trat sie immer wieder in unterschiedlichen Formen der Kunst auf. Dass dieser Modus der Bilderfassung weiterentwickelt wurde und nicht nur zur Erfassung, sondern zur Vorausberechnung von Bewegungen, von Bewegungsmustern eingesetzt wird, ist eine logische Entsprechung. Neue Technologien beschreiben entstehungsgeschichtlich jedoch einen umgekehrten Weg, indem ihre Entwicklung in hochtechnisierten, überwiegend miltärischen Räumen begann. D.h., neue Technologien sind immer schon damit belastet, für den Gebrauch in einer politischen, militärischen Dimension entwickelt worden zu sein. Das, was bei Hemmer in einer Harmlosigkeit eines Tracking erscheint, hat seine Grundlagen zwar auch in fotografisch motivierten Entwicklungen, jedoch überwiegend in den Gebrauchsweisen militärisch überwachender und handelnder Bereiche. Das Monitorbild das am Rande des Platzes erscheint, verweist auf Maßnahmen gesellschaftlich-politisch motivierter Überwachung. Intenionaler Überwacher und Überwachter sind nicht klar definiert. Allein die Positionierung, vor oder im Monitor, teilt diese ein. Das, was im Monitor sichtbar wird, wird zunächst als menschliche Bewegung

Schlussbetrachtung und Ausblick

wahrgenommen und reiht sich ein in Bilder von Überwachungskameras an politisch sensiblen Orten, an Ländergrenzen, an Gefängnis- und Lagermauern, an militärischen Standorten wie an Standorten von Industrieanlagen bis hin zur Überwachung des öffentlichen Verkehrssystems oder öffentlicher Plätzen. Eine affektive Gefangennahme des Betrachters liegt am Kontrollmonitor darin begründet, erfahren zu wollen, welchen Raum der Überwachung der Monitor einnimmt und auf welche Weise eine Aktion in diesem eine Reaktion bei den Verfolgten (Getrackten) hervorruft. Die Beobachtung des Monitorbildes erzeugt andere affektive Formen der Aufmerksamkeit des Betrachters. Er glaubt sich unbeobachtet an einem Ort der Vertrautheit, der Sicherheit, das, was er sieht, ist nicht er selbst, sondern es sind andere. In diesem Ansehen erscheint jedoch die Betroffenheit im Betrachter, der Moment des affektiven Berührtwerdens und der Moment der Einordnung der Situation. Der Wandel vom Betrachter zum Betrachteten ist hier in sichtbare, spürbare Nähe gerückt. Eine andere Wahrnehmungsdimension ist die der Simulation eines virtuellen Raumes, eines Computerspiels, eines Interface, der den Betrachter einlädt, mit seiner Hilfe zu agieren. Der Drang des Agierenwollens liegt in diesem Medium begründet und ersetzt den Modus des Berührens, das als direkt Haptisches nicht mehr gegeben ist. Materialität kann nur noch über ein Drittes wahrgenommen werden, über die Tastatur eines Computers, einen Touchscreen oder die Datenhandschuhe eines Benutzers, die haptische Qualitäten simulieren. Das Begreifen findet über ein Medium statt, das diesen Prozess steuert und bestimmt. Eine Unterscheidbarkeit kann bis auf ein Nicht-mehr-wahrnehmen-Können reduziert, bis auf eine emotionale Differenzlosigkeit verschwinden. Der emotionale Abstand, erzeugt über die Abstraktionsfähigkeit des Kontrollmonitors, evoziert eine Entsubjektivierung, eine Enthumanisierung der über den Platz eilenden Passanten wie des Betrachters selbst. Die Passanten erscheinen als dunkle, abstrakte symbolhafte Grafiken. Eine Berührung über ein Angeblicktwerden bleibt beiden verwehrt. Nicht nur die Bewegungen der Passanten, sondern auch das Affiziertwerden des Betrachters sind vorausberechnete Gegebenheit. Der Aufnahmewinkel der Kamera gleicht einer Einstellung, wie wir sie aus Aufnahmen militärischer Aufklärung und Überwachung kennen. Den Blick nach unten auf den Platz wird kein Blick nach oben treffen, da der Modus der Überwachung verdeckt und nicht zur Kontaktaufnahme mit dem Überwacher gedacht ist. Die Differenz Mensch, Material, Datensatz, Abbild, ohne subjektive Zuordnung, drängt hier noch einmal in den Vordergrund. Es geht hierbei ausschließlich um Bewegung, ob ein Vitaltitätszeichen vorhanden ist oder nicht. Das Individuum existiert hierbei nicht, sondern ausschließlich die bewegte Masse, die sich aus einzelnen Fragmenten zusammenfügt. Einzige Unterscheidung sind die Modi der Bewegung und des Vermögens eine Ortsveränderung einzunehmen, die programmatisch berechnet

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und vorausgesagt werden können. Den unterschiedlichen Positionen des »affective turn« nachzugehen führte hier zu weit. Was jedoch analog im Text der vorliegenden Untersuchung sich zeigt, ist die scheinbare Nichtvergleichbarkeit der unterschiedlichen medialen Darstellungsformen, die hier mit dem Motiv des Schattens eine Verknüpfung erhalten haben. Alle Arbeiten sind künstlerische Formen eines Ausdrucks, in dem der menschliche Schatten und somit auch der Mensch an sich eine zentrale Rolle einnimmt. Klar erkennbar ist, dass er als Standbild in Form einer Fotografie anderen Formen der Produktion und Erfahrung unterworfen ist als im Bewegtbild, in der Choreografie, in der Relational Art. Die Möglichkeit des Betrachters, aus einem zunächst körperlich passiv Erscheinenden zum Akteur zu werden, steigt von Mal zu Mal. Der Abstand zum Werk wie der Abstand zu sich selbst verringert sich auf ein Minimum, vergleichbar mit der Erscheinung des Schattens, den ein Körper erzeugen kann. Während dieser, metaphorisch gesprochen, im ersten Werk, der Fotografie Rotschenkos, noch vor dem Betrachter in einer eher gedanklichen Verbindung zu ihm steht, so entsteht er bei Hemmer am Körper des Betrachters und im Bild selbst. Er zeigt sich in Realzeit, nicht nachgeordnet, aufgezeichnet, sondern im Hier und Jetzt. Der Betrachter ist körperlich Betroffener, Produzent eines, seines Schattens, der als Projektionsfläche Beschreibung erfährt, der mit ihm ins Bild gerät. Die Basis der Bildproduktion wie der Affektproduktion hat sich verändert. Das, was als Bild wahrgenommen wird, jedoch auch. Was hier mitschwingt, ist die Differenzbestimmung zwischen »alten, analogen Bildern« und »neuen, digitalen Bildern« wie auch die mediale Differenz von alten und neuen Schatten und welche Bedigungen ihnen inhärent sind bzw. was ihre Produktions- wie Wahrnehmungsräume sind. Mit den digitalen Technologien entstehen andere Möglichkeitsformen, die an Orten stattfinden, die zwar zuvor schon angelegt, jedoch diesbezüglich nicht benutzt wurden. Diese können nicht mehr im Sinne eines alleinigen fotografischen wie kinematografischen Ursprungs gedacht werden; wenn ja, so hieße dies, sich einer Multiperspektivität, einer Aktualität zu entziehen. Dies wäre eine Oberfläche, der ein Tiefgang folgen muss. »[...] im Falle der digitalen Medienkunst, die immer weniger zwischen den Medien unterscheide, sei nun der affektive Körper als «framer» der nicht mehr gerahmten Bilder besonders gefragt.«63 Die medialen Erscheinungformen verschmelzen mithilfe der Digitalität immer mehr ineinander. Eine Fotografie ist nicht mehr eine Fotografie, sondern ein digitales Bild, das an eine Fotografie erinnert, so wie der digitale Ton an ein Musikinstrument, an eine Stimme denken lässt. Hinzu kommt ein Ständig-in-Veränderung-Sein, ein 63 | Angerer, Marie-Luise »Affekt und Begehren oder: Was macht den Affekt so begehrenswert?« e-Journal Philosophie der Psychologie 4 (2006), www.jp.philo.at/texte/AngererM1.pdf vom 24.05.2015.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Ständig-im-Werden-begriffen-Sein. Mit jeder Umschreibung, Umkopierung, Bearbeitung ist das digitale Bild auf dem Weg, das zu werden, was es zu einer Besonderheit werden lässt, ein prozessuales Bild mit mehr als nur Informationen zur Sichtbarkeit zu sein. Es enthält eine Metaebene der Beschreibung, eine Anknüpfung an eine Datenbank, einen Link zu einem Urheber, zu der Kamera des Urhebers und zu einer Spur. welche sie in digitalen Netzen hinterlassen haben wird. Handelt es sich um eine Arbeit wie »Under Scan«, so ist diese Ebene um ein Vielfaches erweitert. Ein digitales Bild ist heutzutage zu dem geworden, was der Schatten bei Tim Noble und Sue Webster in ihrer Arbeit erzeugt. Er ist Schatten von etwas Materiellen, das in variablen Dimensionen in Erscheinung treten kann. Das, auf was er verweist, sein Original, ist ausschließlich über seine Silhouette erkennbar, die den Betrachter jedoch in die Irre führt. Die Silhouette beschreibt einzig den Widerstand der Arbeit, welche sie dem Licht gegenübergestellt hat. Die Binnenstruktur und Materialität ist nicht zuordenbar. Der Betrachter ist in seiner Funktion eines Framers vom Bild nicht mehr trennbar, das Bild nicht mehr von ihm. Er erscheint im Bild, als Bild und kann sich ebensowenig wie von seinem eigenen Schatten lösen. Es ist nicht mehr eine Distanzbeschreibung, die den körperlichen Abstand zu Hemmers Arbeit einnimmt, sondern im Durchschreiten dieser Arbeit ist eine körperliche Beschreibung, Umschreibung entstanden. Die aktive körperliche Durchdringung, die im allgemeinen Kunstkontext einer Bildbetrachtung lange Zeit verwehrt wurde, ist hier Herausforderung und Bedingtheit. Der Betrachter, wenn man ihn denn noch so nennen kann, wird durch die Arbeit, durch die Projektion, durch die Möglichkeit einer Interaktion auf körperlicher Ebene affiziert. Ein Abstandsverhältnis ist nicht mehr gegeben, körperlich wie gedanklich. Das Durchgehen, das Durchdringen der Arbeit, das Von-ihr-durchdrungen-Werden wird Teil seines Körpers, so, wie der Schatten Teil seines eigenen Körperbildes ist. Die Trennung zwischen Darsteller und Betrachter ist aufgelöst. Das Bild nimmt im Bild sich als Bild war. In Hemmers Installation verschwimmen die Grenzen – und nicht nur die Grenzen des Bildes. Im Grunde kann man hier nicht mehr vom Bild sprechen, da ein Bild offenbar als gerahmtes erfahren werden muss. Rahmung findet hierbei ebenso statt, einzig ihre Dimensionen scheinen auf den ersten Blick nicht erkennbar zu sein. Ein Bild war bisher etwas, was eine erkennbare, sichtbare Rahmung mit sich trug. Der Bildbegriff muss erweitert gedacht werden. Anbieten würde sich erneut der Begriff des Bildraumes, der hierbei zu neuer Bedeutung gelangt. Bildraum und Schattenraum stehen in Analogie zueinander. Während der Schatten offenbar immer schon seine Möglichkeit einer Räumlichkeit verbarg, indem er auf zweidimensionalen Flächen zur Sichtbarkeit gelangte, so erscheint dies im Bildbgriff ähnlich. In beiden sind räumliche Ausdehnungen in mindestens vier Dimensionen angelegt: Höhe, Breite, Tiefe, Dauer. In digitalen Technolo-

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gien des Visuellen sind die Bilder des Analogen enthalten, die Bildrezeption wie die gedanklichen Verknüpfungen. Anhand neuer Technologien werden Bilder hergestellt, die kein Original im Sinne eines Abbildverhältnisses mehr bedingen. Das was im Bildraum erscheint ist virtuell und trägt den Verlust des analogen Mediums wie den Verlust eines So-gewesen-Seins in sich. Es ist kein Modell der Trauer, sondern ein Modell der Autonomisierung. Vom Modell des Bilderdenkens und vom Modell, diese zu visualisieren, sichtbar, materiell werden zu lassen, ist dies nicht mehr weit entfernt.

Die Wahrnehmung kommt immer zu spät Zwischen Reiz und Reaktion vergeht Zeit, die im Intervall verschwindet (Herta Sturm) oder es füllt (Brian Massumi). Der Betrachter wird in medienkünstlerische Arbeiten einbezogen, als bestimmendes Element ihrer gedacht und geplant. Demzufolge erfährt er eine absichtsvoll emotional stärkere Betroffenheit und körperliche Berührung. In vergleichenden Betrachtungen zur medialen Form der Wahrnehmenung stellte sich oftmals heraus, dass diese kaum vergleichbar sind. Die ihnen innewohnende Möglichkeit einer Affizierung des Betrachters verbindet diese jedoch miteinander und macht eine Gegenüberstellung möglich. Eine Form der Auseinandersetzung damit ist die, die Beziehungen zwischen Betrachter und Kunstwerk im Sinne einer Affektanalyse64, eines Dispositiv des Affektiven65 zu betrachten. Hierbei werden zunächst die Wirkungen, die beim Betrachter erzeugt und beobachtet werden können, untersucht wie die Intentionen des Betrachters, sich diesem auszusetzen. Zu den der Untersuchung zugrunde liegenden Arbeiten existiert einzig zu »Under Scan« eine umfangreiche Dokumentation von Betrachterreaktionen auf die Arbeit im öffentlichen Raum. 60 geleitete Interviews, die Nadia Mounajjed im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Sheffield dazu anfertigte, sind in der Publikation teilweise in Textform, jedoch umfangreicher als AV-Material auf der beiliegenden DVD einsehbar. Dokumentiert sind die unterschiedlichen Orte der Aufführung sowie der Erfassung, des Eintretens in die Arbeit. Der Betrachter erfährt durch dieses Sichbewegen in den Erfassungsraum der Arbeit eine Direktheit im Betroffensein, im Affiziertwerden. In ihr, als Bildraum impliziert, sind erweiterte Möglichkeiten einer besonderen Form von Erfahrung direkt am Menschen, der betroffener, getroffener ist. »Immer ist es ein Körper, der Schatten auf einen anderen wirft. Daher kennen wir die Körper durch den Schatten, den sie auf uns werfen, und uns selbst 64 | Der Begriff steht in Abgrenzung zur Affektanalyse im psychotherapetischen Bereich, verleugnet jedoch diesbezüglich nicht ein gewisses Verwandtschaftsverhältnis. 65 | Angerer, Marie-Luise »Vom Begehren nach dem Affekt« Zürich; Berlin: Diaphanes 2007 S. 7.

Schlussbetrachtung und Ausblick

und unseren Körper kennen wir durch unseren eigenen Schatten.«66 Deleuze spricht hier vom eigenen Schatten wie vom Vertrauen, vom Glauben an dieses Eigene. Er spricht zunächst nicht explizit vom aufgezeichneten Schatten. Dies ist grundlegender Unterschied darin, wie der Schatten wahrgenommen wird und wie der Körper, das eigene Selbst. In der Sichtbarkeit der Form wie in den Bewegungen des eigenen Schattens entstehen Verknüpfungen zum eigenen Handeln. Er ist die einfachste Möglichkeit eines Feedbacksystems, in dem körperliche Bewegungen im Schatten nachvollziehbar werden. Dieser visuelle Modus der Selbstaffiziertheit findet in den anderen Arbeiten nicht statt. Das Differenzverhältnis ist ein um Potenzen entfernteres, wenn dies mit der Fotografie von Rotschenko Beschreibung finden soll. Sichtbare Bewegung findet hier nicht statt, was nicht bedeuten soll, dass diese Arbeit den Modus eines Nicht-getroffen-Seins enthält. Bewegung findet hier im kontextuellen Gebrauch, im Wissen und Wiedererkennen statt. In Keersmakers Choreografie erscheint eine gedanklich nähere Möglichkeit einer affektiven Betroffenheit. In ihrer filmischen Rezeption sind Deleuze’ Affektbilder klar erkennbar wie der Moment der Immersion klar fühlbar. Gerade im repetetiven Modus von Differenz und Wiederholung, vom hypnotischen Klang und von Formen der Bewegung, die unweigerlich an die eines Derwisch-Tanzes erinnern, kann sich der Betrachter in die Arbeit bewegen. Er tut dies anhand einer sicheren Basis, der Basis eines körperlichen Außenstehenden. Das was er sieht, spürt, tritt in eine sichere Distanz zu seinem Körper auf. Er erfährt eine affektive Berührtheit, die nicht bedingt, dass er sich auf einen unsicheren Platz der Erfassung begibt. Er kann für sich mit sich allein die Arbeit erfahren. Ein Kontakt mit anderen Betrachtern, eine Reaktion der Arbeit wird auf sein Verhalten nicht entstehen. Was nicht bedeuten soll, dass dies ein Gradmesser der Affektion sein soll. In der Gegenüberstellung der Arbeiten zeigt sich, dass affektive Betroffenheit nicht in ihrer Tiefe von einer aktiven Bewegung des Betrachters in Abhängigkeit gedacht werden muss. Eine subjektive Bestimmung und Erfahrung sind alleinige Formen der Tiefe eines Betroffen-Seins, wobei eine Berührung an mehreren sensiblen Wahrnehmungspunkten diese verstärken kann. Signifikanter Unterschied, der in »Under Scan« hervorgehoben wird, ist das In-die-Arbeit-eingebunden-Sein, als Betrachter wie als öffentlicher Raum. Beides sind Formen eines offenen Ortes. Im Beschreiben des öffentlichen Raumes, im Sichtbarmachen seiner Möglichkeiten, wird er zu einem besonderen Erfahrungsraum. Er erscheint in Analogie eines digitalen Netzzeitalters und entblößt die relationalen Bestimmungen seiner scheinbaren Unbestimmtheit. Die technologischen Möglichkeiten seiner Bestimmung und Auswertung halten sich in einer zurückhaltenden Distanz zum Betrachter und täuschen ihm 66 | Deleuze, Gilles »Kritik und Klinik« Frankfurt/M: Suhrkamp 2000 S. 190.

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zunächst eine Umgebung der Vertrautheit vor, indem sie einen bekannten Ort okkupieren, diesen als Matrix einer Erfassung umschreiben, um nach einer gewissen Dauer, 7 Minuten, ihn mit einem Schock zu enttarnen. In »Under Scan« ist es nicht nur das, dass der über den Platz flanierende, eilende Mensch gezwungen wird, Teil der Arbeit zu werden, und nicht nur das, dass er seinen Schatten abgibt, sondern zudem das, dass er gezwungen wird, sich an diesem Ort der Arbeit auszusetzen, sich auszusetzen. Eine Möglichkeit, sich dem zu entziehen, besteht nicht, außer den Ort zur Tabuzone zu erklären sowie die Bedingungen einer Tarnung zu prüfen und anzuwenden. So, wie der menschliche Körper affektiv bestimmt, getroffen, verändert werden kann, so affiziert er den Raum, den er durchschreitet, in dem unterschiedliche relationale Verknüpfungen und Wahrnehmungsräume, andere Körper vorhanden sind. Der Mensch ist sichtbares Indeterminationszentrum, die Affektion Intervall zwischen der Möglichkeit zu Handeln und der Handlung selbst. Somit tritt zum Modus der Bewegung, die Hansen stark macht, der Modus der Handlung in den Vordergrund. Der Betrachter muss handeln und ist für dieses Handeln verantwortlich, im Sinne von dem, was mit der Arbeit und was mit ihm geschieht. Der Begriff Handlungsfähigkeit und Handlungsmöglichkeit muss demnach dem Begriff der Bewegung bei Wahrnehmung von Medienkunst und Kunst im öffentlichen Raum hinzugefügt werden.

Rahmung – Anschauung Die Komplexität einer Arbeit wie der Hemmers bewegt sich am Rande der physischen Erfassbarkeit und kann ihre Vollständigkeit nicht so hervorbringen, wie dies bei den anderen der Untersuchung zugrunde liegenden Arbeiten im Rezeptionsmodus von Bildlichkeit möglich war. Es ist inkommensurabel an allen Orten des Werkes gleichzeitig zu sein, sich mit einem Blick diesem auszusetzen oder die Erfassung zu wiederholen, wie dies bei einem Film möglich ist. Ein Vergleich mit Deleuze’ Bewegungsbild im Sinne eines »nicht-zentrierten Ensembles aus variablen Elementen, die aufeinander wirken«67 drängt sich zwar auf, führt jedoch nicht weit genug, es sei denn, der Betrachter als variables, fühlendes Element wird als maßgebliches mitgedacht. Der Betrachter muss sich für Hemmers Arbeit eine eigene Choreografie der Erfassung, der Anschauung überlegen, entscheiden, ob er Beobachter am Kontrollmonitor ist, Betrachter außerhalb des Lichtkreises der Installation oder ob er direkt auf den Platz, in die Arbeit, eintritt oder ob er abwartet, bis das Lichtraster erscheint. Mark Hansen schreibt, Rahmung findet »in and through our own bodies«68 statt. Dies bedeutet immer, eine Auswahl zu treffen, einen Ort der Wahrnehmung 67 | Deleuze, Gilles »Das Bewegungs-Bild: Kino 1« Frankfurt/M: Suhrkamp 1991 S. 322. 68 | Hansen, Mark B. N. »New Philosophy for New Media« The MIT Press 2006 S. 76.

Schlussbetrachtung und Ausblick

festzulegen, einen Seinsrang in der Bedeutung zu generieren. In der Dokumentation zu »Under Scan« wurde eine ganz bestimmte Möglichkeit der Anschauung gewählt. Es sind dies zunächst die unterschiedlichen topologischen Bestimmungen der Arbeit, der Kontrollmontor am Rande der Arbeit, der erhöhte Blick auf den öffentlichen Platz, die Präsentation der technologischen Bestimmungen des riesigen Gestells, das den Platz rahmt, sowie die Sichtbarkeit der Erfassungsmöglichkeiten und Vorausberechnung des Tracking. All diese Bestimmungen treten in der Arbeit im Allgemeinen als Nachrangiges zurück, indem sie im Dunkel bzw. in der Zeit verdeckt liegen. In der Sichtbarmachung anhand der Dokumentation gewinnen sie eine erhebliche Bedeutung und dienen nicht nur der Präsentation des technischen Aufwandes, sondern beschreiben die Arbeit auf ihre eigene spezifische Weise. Dies wird so zum kontextuellen und bestimmenden Teil der Arbeit. Sie affiziert diese im Sinne einer wahrnehmbaren Zustandsänderung. Was in der Dokumentation als wichtiges Moment erscheint, ist die Befragung der Passanten vor Ort und die sichtbaren wie hörbaren Reaktionen. Hierbei entbirgt sich der Moment des Intervalls als unterbrechende Verbindung in ihrer subjektiven Bestimmung. Der sich daran anschließende Fortgang der Bewegung im Handeln ist durchaus unterschiedlich und sogar konträr besetzt. In der Beobachtung zeigen sich Agressionen gegen das projizierte Videoporträt im eigenen Schatten, naives Vertrauen gegenüber einem »funny thing« wie Vergleiche mit dem Film »Tron«.69

Schatten – Affekt Im Schatten liegt etwas Unbestimmtes. Es ist der Raum, in dem alles möglich ist, in dem nichts passiert oder alles passieren kann. In den einzelnen Arbeiten verschmelzen unterschiedliche Entitäten wie unterschiedliche mediale Wahrnehmungsformen. Es entstehen Binnenformen der Wahrnehmung zwischen dem Betrachter, seinem eigenen Schatten wie der Projektion im Schatten und seinem Selbst. Über kurz oder lang verharrt der Betrachter im Schatten, je nachdem, wie nah ihm dieser medial sich zeigt. Etwas hat sich verändert. Der Moment der affektiven Betroffenheit erscheint nicht als Ort einer Leere, sondern als Ort einer überbordenden Fülle, als Ort der Bilder, als Ort aller möglichen Bilder. Der Schatten unterbricht eine Handlungsbewegung wie die Großaufnahme, ein Gesicht, die für Deleuze, Intervall, Affekt ist und nicht unbedingt auch ein Gesicht abbildet, sondern einzig den Blick des Betrachters zurückwerfen muss. Es ist dies der Moment einer Ansprache, eines Be69 | Computerprogramme existieren in einer vom Master Control Program beherrschten virtuellen Realität als humanoide Wesen die ihren Usern ähneln. Einer von ihnen wird beim eindringen, beim spielen digitalisiert und muss dort als Spielfigur ums überleben kämpfen. Er entkommt, in dem er direkt in seine Verbindung zur realen Welt springt.

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rührtwerdens, aus welchem Grund auch immer. Mit der affektiven Berührung erfolgt der Bruch im Wahrnehmen wie der Bruch im Licht, wenn sich ihm etwas in den Weg stellt. Der Schatten eines menschlichen Körpers produziert, wenn er sichtbar wird, einen Moment des Innehaltens, der Selbstaffektion. Im Schatten liegt Wahrnehmung und Handlung verborgen, da dieser als Bindendes beides trennt und die Zeit zum Stillstand kommen lässt. Ähnlich wie ein Standbild, eine Fotografie, nur dass in dieser der eine Moment präsent ist, ein Davor und ein Danach nur gedacht, nicht erfahren werden kann. Bewegung ist ein entscheidendes Element, das auf den Schatten in all seinen Qualitäten wie gleichermaßen auf Deleuze’ Bewegungsbild im kinematografischen Sinne verweist. Hier jedoch tritt sie auf, in ihrer ureigensten Bedeutung, von Bewegung schreiben und das in zweierlei Hinsicht, wenn man sich die Apparaturen der Kinematographie genauer ansieht. Ein Kinematograph war ein Gerät zum Aufnehmen und Wiedergeben von bewegten Bildern: Filmkamera, Kopiergerät und Filmprojektor in einem. Eine Möglichkeit, die mit den heutigen Technologien und ihren alltäglichen Gebrauchsweisen vollzogen werden kann, an die Hemmer denkt, wenn er schreibt: »What would happen if every single camera in public space became a projector? What if instead of taking images of us, and assume we are suspicious, tracking systems offered us images? How can we contsruct exceptions to trends of globalising urban homogenisation?« 70Diese Frage ist nicht neu und ungewöhnlich im Kontext einer konsumistischen Globalisierung, was ungewöhnlich ist, dass Licht und diesmal auch der Schatten eine besondere Bedeutsamkeit in diesem Zusammenhang erhalten und es auf die Frage hinausläuft, was eintritt, wenn beide verschwinden. Wenn der Schatten in Form einer Auslöschung, okkupiert durch eine projektive Helle, wie in der Einleitung zu dieser Arbeit Streitobjekt im urbanen Raum, mit einem Recht auf Helle wie auf Schatten erfahren werden kann, so prägt er doch mehr als einen öffentlichen gestimmten Aktions- wie Anschauungsraum. Dies impliziert einen Erfahrungsraum, eine leibliche Bestimmung des Subjekts, das sich ihm Aussetzender wie Ausgesetzter ist. Die Leibbezüglichkeit, wie neuere mediale Zurichtungen der Gegenwart diesen bestimmen, erfordern eine ständige Wiederholung und Überprüf barkeit. Nicht nur Raumkonstellationen unterliegen diesbezüglich ständigen Veränderungen, sondern Raumhabe erscheint hier ebenso als Leibsubjekt.71

70 | Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007 S. 11. 71 | Ströker, Elisabeth »Philosophische Untersuchungen zum Raum« Frankfurt/M: Klostermann 1965, Bronfen, Elisabeth »Der literarische Raum: Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage« Tübingen: Niemeyer 1986 S. 77.

Schlussbetrachtung und Ausblick

S elbstausleuchtung – F remdausleuchtung »Die Bewohner des digitalen Panoptikums 72 sind keine Gefangene. Sie leben in der Illusion der Freiheit. Sie speisen das digitale Panoptikum mit Informationen, indem sie sich freiwillig ausstellen und ausleuchten. Die Selbstausleuchtung ist effizienter als die Fremdausleuchtung. Darin besteht eine Parallele zur Selbstausbeutung. Die Selbstausbeutung ist effizienter als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht. In der Selbstausleuchtung fallen die pornografische Zurschaustellung und die panoptische Kontrolle in eins.« 73

Der zur Schau gestellte Mensch kommt in Hemmers Arbeit auf den ersten Blick so nicht vor. Selbstausleuchtung scheint zunächst nicht stattzufinden. Einzig und allein in dem Moment, in dem der Mensch den beleuchteten Teil des Platzes betritt, deutet sich diese an. Im Sichbewegen ins Licht akzeptiert er das Heraustreten aus einem Dunkel sowie eine andere Form von Sichtbarkeit. Es bildet sich eine Möglichkeitssteigerung im Wahrgenommenwerden. Gleichzeitig findet eine Aufmerksamkeitssteigerung für seine Person, also auch durch seine Person, an ihm selbst statt. Die Belichtung der Schatten am Boden des öffentlichen Raumes ist arbiträr bestimmt und steht in keinem direkten Zusammenhang mit den Personen, die die Schatten erzeugen. Wie aus der Beschreibung der Arbeit hervorgeht, erscheint dies zunächst harmlos, nachrangig, da Hemmer auf schockierende Bilder und Überhöhungen in der Projektion verzichtet. Die im eigenen Schatten auftauchenden Projektionsbilder werden akzeptiert und hingenommen, zumal sie mit dem Betrachter in eine Art freundlichen Dialog treten. Die Videoporträts beinhalten kleine Grußbotschaften und erzeugen eine positive Akzeptanz bei ihrem Gegenüber. Es ist nicht die Enthüllung des Eigenen, die hier entsteht, sondern die Benutzung eines Teils davon, das jedoch in Harmlosigkeit erfahren wird. In der Dokumentation zu Hemmers Arbeit erscheint jedoch auch Gewalt am projizierten Bild. Am Rande des Platzes versuchen drei Personen, das in ihrem Schatten 72 | Panopticon griech. »zum Sehen gehörend«, latinisiert Panoptikum, ein von dem britischen Philosophen und Begründer des klassischen Utilitarismus, Jeremy Bentham (1748-1832 in London), stammendes Konzept zum Bau von Gefängnissen und ähnlichen Einrichtungen. Es ermöglicht die gleichzeitige Überwachung vieler Menschen durch einen einzelnen Überwacher. Für Michel Foucault ist dieses Ordnungsprinzip wesentlich für westlich-liberale Gesellschaften, die er auch Disziplinargesellschaften nennt. In Anlehnung daran entwickelte er seinen Begriff des Panoptismus. Im heutigen digitalen Gebrauch muss die Frage nach dem alleinigen Überwacher gestellt werden und nach der Verschiebung unterschiedlicher Standpunkte und Bezugsverhältnisse. 73 | Han, Byung-Chul »Im Schwarm. Ansichten des Digitalen« Berlin: Matthes & Seitz 2013 S. 93.

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erscheinende Videoporträt eines Menschen mit Fußtritten zu beeinflussen. Die noch immer ungelöste Frage nach dem »Was ist ein Bild?«, insbesondere ein Bild von einem Menschen und in welchem Bezugsverhältnis es zu ihm steht, taucht hierbei erneut auf und lässt den Rezipienten in Ratlosigkeit zurück. Das Prinzip der Selbstausleuchtung in Hemmers Arbeit fand lange vor ihrer Sichtbarkeit im öffentlichen Raum mit der Erstellung einer Datenbank, der Aufzeichnung der Videoporträts statt. Hemmer ließ die Porträts von acht ortsansässigen Filmern mit eintausend Personen aus der näheren Umgebung des Aufführungsortes herstellen. Den Protagonisten wurde freigestellt, wie und in welcher Form sie sich präsentieren. Einzige Bedingung war, dass sie während der Aufzeichnung in Blickkontakt mit der Kamera treten sollten. Ton wurde nicht aufgezeichnet, ausschließlich ein Bewegtbild von kurzer Dauer, das die Person, die sich freiwillig dafür zur Verfügung stellte, vor einem unbestimmten dunklen Hintergrund, auf den sie sich für die Aufnahme legen musste, abbildete. Allein der Aufnahmestandpunkt, die Form der Aufnahme, stellte ein besonderes Bezugsverhältnis zwischen dem späteren Aufeinandertreffenden von Passant und Videoporträt her. Der zeitlich vorweggenommene aufgezeichnete Mensch lag mit dem Rücken am Boden und blieb unentkommbar an diesen gebunden. In dieser Gebundenheit und Beschränkung der Handlungsfreiheit während der Aufnahme liegt eine gewählte Form der Ausgesetztheit, im Sinne von Sich-in-diese-Position-hineinbegeben-Müssen für einen nicht sichtbaren anderen. Die Position auf dem Rücken zu liegen, nicht mehr zurücktreten wie nicht vorwärtsgehen zu können bestimmt den Handlungspielraum und wird im Grunde genommen nur freiwillig in einer Umgebung der höchsten Vertautheit eingenommen. Der Rezipient in Hemmers Installation, der dem Videoporträt in seinem Schatten begegnet, blickt gleichsam auf den Porträtierten wie das im Schatten erscheinende Bild herab. Es ist die Darstellung eines Machtverhältnisses, in dem beide unweigerlich gefangen und aneinander gebunden sind. So, wie einige der Porträtierten versuchen, sich während der Aufnahme in Richtung Kamera/Passant aufzurichten, so gibt es Passanten, die versuchen, sich dem Schattenbild zu nähern, sich mit anderen zusammenschließen, um einen größeren Schatten, eine größere Projektionsfläche zu erzeugen. Das projizierte Bild passt sich diesem größeren Schatten mithilfe eines technologischen Algorithmus an, indem es dem Schatten folgt und daraufhin vergrößert erscheint. Das Prinzip der Fremdausleuchtung ist in dieser Arbeit ein offensichtliches. Die Lichtbilder der Projektionen entreißen dem Schattenwurf der über den Platz Eilenden sein Dunkles. Das, was erscheint, ist nicht ihr Eigenes, sondern ihnen wird ein Bild eines anderen in den Schatten gelegt. Der eigene Schatten wird durch etwas anderes erhellt, wobei die Frage nach dem Besitz im Sinne eines Eigenen hervorscheint. Der eigene Schatten ist immer auch der Schatten eines anderen, als Form einer Erzeugung, an der nicht nur eine Singularität

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beteiligt ist. Er muss im Beziehungsgefüge gesehen werden. Ein Schatten bedingt immer ein Mehr als die Person, die ihn wirft, die ihn für sich als Eigenes in Anspruch zu nehmen scheint. Existenzielle bestimmende Möglichkeit ist hierbei die Erzeugung durch Licht. Objekt, Projektionsfläche und Licht sind in ihrer Trinität minimale Bedingungen, um einen Schatten visuell wahrnehmbar werden zu lassen. Der Schatten fungiert als Fläche einer Projektion, die ihn bestimmt, die ihn besetzt. Er bildet zeitgleich ein Mitsein mit ihm wie mit der Person, die ihn erzeugt. Die Verbindung zu aktuellen und zukünftigen technologischen Möglichkeiten der Datenerfassung, Datenverarbeitung und Datenzuweisung zu schlagen drängt sich unmittelbar erneut auf. Die Fragen (die ja im literarischen Bereich oft Eingang gefunden haben): »Wie ist es möglich, seinen eigenen Schatten zu verlieren?«, und: »Ist dies nicht vielleicht schon geschehen?«, erscheinen aktueller und drängender denn je.

I rreführung In diesem Erkennen liegt eine mögliche Differenz. Indem der Projektion der Grund entzogen wird, ist eine Erfassung und Sichtbarkeit des Schattens nicht mehr möglich. Der Schatten scheint verloren. Dies deutet auf seine Möglichkeit hin, in Anwesenheit abwesend zu sein. Indem er der Sichtbarkeit entzogen wird, erfährt er eine Bestimmung der Nichtsichtbarkeit, die in einem Dazwischen verborgen liegt. Um ihn aus diesem zu heben, bedarf es eines Trägers, der ein Partikelsystem, eine Fläche oder ein Körper sein kann. Der Schatten benötigt eine bestimmte Form von Materialität, an der er sich zeigen, in die er sich einschreiben kann. Diese Materialität erscheint unweigerlich an ihm sowie mit ihm und bestimmt ihn auf maßgebliche Weise. Original, Abbildung und Schattenwurf verhalten sich im Allgemeinen analog zueinander. Die Verhältnismäßigkeiten seiner Größen sind ähnlich und erhalten ihre Nachvollziehbarkeit und Bestimmung anhand perspektivischer Regeln. Indem die Projektionsfläche in Neigung oder Wölbung zum Schatten werfenden Objekt/ Körper gebracht wird, geschieht eine Überhöhung im Schatten. Es entsteht eine Änderung im Formvollzug, trotz scheinbarer Wiederholung der Form. Der Schatten offenbart eine weitere Besonderheit, die Möglichkeit der Verzerrung und Übertreibung im positiven wie im negativen Verhältnis zum Körper/ Objekt. Er bleibt im Verweis darauf sowie darauf, dass dieser Körper / dieses Objekt mehr als nur einen Schatten besitzt. Der Schatten ist nicht uniforme Erscheinung, sondern polyforme Möglichkeit in unendlicher Offenheit.

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Tarnung Eine Möglichkeit den Schatten aus seiner Sichtbarkeit, seiner Aufzeichnungsmöglichkeit zu entheben, ihn zu tarnen, ist die Änderung der Figur Grundbeziehung im Bezug zu seinem Kontrastverhalten. Indem der Schattenwurf mit einer im Gegenüber helleren Farbigkeit ausgefüllt wird, ist dieser in bildgebenden Verfahren, in der Fotografie, im Film, nicht mehr zuordenbar. Der abgedeckte Schatten erscheint als Verschattung des Lichts, als farbiges und nicht als Schattenwurf selbst. Eine Tarnung tritt auf, die temporär und ortsgebunden bleibt. Der Schatten ist nicht mehr als Schatten erkennbar, sondern erscheint in der Überlagerung einer Farbfläche. Die Grenzen des Schattens sind mit den Grenzen der farbigen Fläche synchron und somit nicht mehr von ihr trennbar, unterscheidbar, visuell lösbar. Eine eindeutige Bestimmung muss hierbei ins Leere gehen. (Siehe Abbildung 49.)

Abb. 49 Marco Bacci, Marta Mellere »How to cover a shadow« Im Video wird der Schatten eines Objektes mit Kreide am Boden »festgehalten«. Sitzt der Schatten passgenau auf der hellen Zeichnung ist er als solcher nicht mehr wahrnehmbar.

Was hierbei sich ebenso zeigt, ist: Wenn innerhalb dieser Fläche ein Schattenwurf hinzugefügt würde, verbliebe er in Nichtsichtbarkeit, mehr noch er erführe eine visuelle, partielle Unterbrechung. Die Möglichkeit der Überlagerung, Überdeckung, erfährt eine Potenzierung, wenn ein zweiter Schatten ins Bild tritt und sich partiell mit dem vorhandenen verbindet. Es scheint, dass dieser in der Überlagerung ausgelöscht, nicht mehr wahrnehmbar wird. Mehr noch, es tritt ein Mangel an der Stelle auf, an der er in Überlagerung zum anderen steht. Gerade am Schatten eines Menschen führt dies zu einem Staunen, das in dem Verlust der Auflösung des eigenen Schattens, des Verlustes an körperlicher Präsenz, des Verlustes an Anwesenheit, an Vitalität erinnert. Es ist die Erinnerung an mythische Vorstellungen, wie an Denkweisen zu Beginn neuer Technologien, die mit dem Verlust des menschlichen Schattens die Existenz des Menschen in Frage stellten sowie auf einen Bezugsverlust zur Wirklichkeit verweisen.74 Selbstausleuchtung erscheint als mögliche Kon74 | Bezugnahme auf die Anfänge von Fotografie und Film im besonderen die kritische Auseinandersetzung Joseph Roth mit den Anfängen der Filmindustrie Roth, Joseph »Hollywood, der Hades des modernen Menschen« in Kesten, Hermann [Hrsg.] »Werke«

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stante der Selbstbestimmung wie als indirekte Fremdausleuchtung, indem ihr die bewusste Tarnung des eigenen Schattens angeboten wird. In der Fremdausleuchtung besteht eine mögliche Selbstausleuchtung, hier, indem der Platz auf den der Schatten fällt, bereitet wurde. Im Benutzen, Besetzen eines anderen Schattens, der eine Überdeckung erfährt, wird der eigene Schatten nicht mehr sichtbar, lesbar, aufzeichenbar. Fremdausleuchtung impliziert somit immer die Möglichkeit der Selbstausleuchtung, beides ist im Mitsein aneinander gebunden. Indem der Schatten eine bestimmte Aufhellung erfährt, ist dieser damit belegt und überschattet das möglich andere. Eine andere Form der Tarnung beschreibt Roberto Casati, indem er auf das helle Fell am Bauch bei unterschiedlichen Tieren verweist, deren Schatten am Boden dadurch eine Aufhellung erfahren und damit in ihrer Umgebung eine verminderte Wahrnehmung erzeugen.75 Dies gehört zu einer Reihe von Überlebensstrategien, die evolutionär bestimmt sich gebildet haben und das Prinzip der Selbstausleuchtung dem Prinzip der Fremdausleuchtung sowie deren Erfassung stört. Den eigenen Schatten aufzuhellen, ihn zu belegen, tritt ihn, als mögliche Projektionsfläche, als Fokus der Wahrnehmung durch Andere entgegen.

S chat ten ist nicht gleich S chat ten In der Dokumentation zu Hemmers Arbeit erscheint an einigen Stellen die Möglichkeit eines zusammengeführten, eines kollektiven Schattens. Hierbei zeigt sich das Entstehen neuer Schatten und Schattenformen, die nicht mehr auf das Subjekt als Singuläres verweisen. Der Einzelne geht sozusagen im Schatten unter, verliert sich in kollektiver Dunkelheit und Unbestimmtheit. Die Möglichkeit einer Zuordnung, einer Identifikation ist nicht mehr eindeutig gegeben. Damit einher geht, dass der Formvollzug, die Wahrnehmung der Grenze eines Einzelnen, im Verborgenen bleibt. Der Einzelne tritt zurück zugunsten einer Unität, die als kollektives Gebilde erscheint. Die Fläche der Projektion verhält sich analog hierzu. Sie erscheint in erweiterbarer Form, die zwar in Abhängigkeit zu anderen steht, jedoch eine bestimmte Eigenständigkeit evoziert. Im Schatten steht der Schatten als Fragment einer Einheit und lässt den Einzelnen im Mitsein in einer Ganzheit verschwinden. Es entsteht Dritter Band. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1976 S. 571-573 wie Theye, Thomas [Hrsg.] »Der geraubte Schatten. Eine Weltreise im Spiegel der ethnographischen Photographie« Luzern: Bucher 1998 Eine Analogie nicht nur zu technischen Erfindungen lässt sich fortführen. Zu klären wäre, ob es die Angst vorm Neuen/Fremden ist, oder die Unerklärbarkeit eines Sachverhaltes, eines Objektes. 75 | Casati, Roberto »Die Entdeckung des Schattens: Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung« Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2003 S. 13.

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eine Differenz zwischen Schattengeber und Schattenform. Diese Verhältnismäßigkeit kann in unterschiedlichen Situationen, Arbeiten verfolgt werden, wie in den Arbeiten von Tim Noble und Sue Webster.76 Der Projektionsschatten und das Objekt, das ihn erzeugt, scheinen auf den ersten Blick im Sinne eines Dialogs aneinander vorbeizureden, nichts miteinander gemein zu haben. Erst bei genauerem Hinsehen entblößt sich die Silhouette als sinnstiftendes Element. Die aus einer bestimmten Blickrichtung, Lichtrichtung entstandene Umrisslinie des Objektes bestimmt das an der Wand auftauchende Schattenbild. Es erzeugt zum einen eine Verbindung zu Schattenspielen der Kindheit, in denen mithilfe von Handhaltungen Tiersilhouetten an Wände projeziert wurden, zum anderen eine Verbindung zu Platons Höhlengleichnis, in dem die Erkenntnisfrage als zentrales Moment erscheint. Wenn Schattenbilder Urbilder sind, so bleibt die Frage offen, ob diese Möglichkeit nicht für alle Bilder gilt. Demnach sind Bilder scheinbar sinnstiftende Elemente, die ähnlich offen in der Bezeichnung sind wie Worte und Begriffe. Sie erzeugen eine eindeutige Bestimmung nur, wenn sie im Kontext mit etwas anderem stehen, seien es andere Bilder, Texte, Objekte oder situative Bestimmungen. Ein Bild steht zunächst einmal für sich, mit der Möglichkeit, etwas anderes zu sein, als es scheint. Diese besondere Offenheit erzeugen Bilder mehr als andere Medien. Ihnen verwandt erscheint der Klang, die Musik, worauf ich im folgenden Kapitel noch eingehen werde. Faktisch ist Platons Annahme, dass Bilder nur Abbildungen, verfehlte Nachahmungen eines Originals seien, unzureichend. Seine Ahnung hindessen, dass Bilder mehr als das sind, was wir sehen, beweist sich in den bildgebenden Verfahren immer mehr und schreibt diese Annahme stetig fort. Im Schatten wird und muss immer eine bestimmte Form der konnotativen Unbestimmtheit liegen, diese macht ihn aus und bestimmt ihn als faszinierendes Phänomen. In ihm ist demnach die Möglichkeit des Möglichen von unermeßlicher Weite, um es mit Malewitschs Bild des schwarzen Quadrats zu sagen: In ihm sind alle möglichen Bilder enthalten, jedoch gelangt nicht jedes zur Sichtbarkeit, sondern verbleibt in Addition einer Gesamtheit, die als äußere Form hervorbricht. Der Schatten ist demnach unerschöpfliches Archiv möglicher Bilder. Diese sind im Grunde genommen in ihm vorhanden. Der Schatten an der Wand ist nicht Reproduktion, sondern synthetisches Bild, Bildwerdung. Mit ihm erscheint ein gedankliches Bild, das in rekursiver Projektion beim Betrachter gebildet wird. So, wie dieser anhand des Schattens auf ein Objekt schließt, das ihn unweigerlich erzeugt, ist dies zunächst eine Vorstellung, dessen Verstellung. Der Schatten evoziert ein mentales Bild subjektiver Bestimmung und erscheint als sinnstiftendes Element, was nicht Wahrheit verspricht, jedoch eine Möglichkeit dessen.

76 | Vergl. Tim Noble und Sue Webster HE/SHE, (Diptych) 2004.

Schlussbetrachtung und Ausblick

V erlust Im literarischen Sinne taucht das Thema des Schattenverlustes vermehrt auf. Im Gegensatz dazu jedoch schien dies in bildnerischen Prozessen so zunächst nicht zu sein und wenn dann als Referenz oder Interpretation oder Illustration eines vorhandenen Textes. Dies hat sich offenbar parallel zu den sich ständig ändernden Technologien der Bilderzeugung gewandelt. Der Schatten im bildgebenden Verfahren war diesem immer inhärent und nicht nur im Bezug auf seine existenziellen Bedingtheit. Diesem inhärent war gleichzeitig die Möglichkeit seines Verlustes. Gerade in den Anfängen der Fotografie, im Besonderen in der ethnologischen Fotografie tauchen hierzu Berichte auf. »Ein Forschungsreisender hatte einmal in einem Dorf am unteren Yukonflusse seine Kodak aufgestellt, um die Leute aufzunehmen, als sie zwischen den Häusern umhergingen. Während er den Apparat einstellte, trat der Häuptling hinzu und bestand darauf, unter das Tuch zu gucken. Es wurde ihm gestattet, und er starrte eine Minute lang auf die sich bewegenden Figuren auf der Mattscheibe, zog dann plötzlich seinen Kopf zurück und schrie den Leuten, so laut er konnte, zu: ›Er hat all eure Schatten in seinem Kasten.‹ Eine Panik brach unter der Gruppe aus, und im Augenblick verschwanden sie alle Hals über Kopf in ihre Häuser.« 77

Es war nicht das Erschrecken über das sich zeigende, auf dem Kopf stehende bewegte Bild auf der Mattscheibe der Kamera, sondern darüber, dass der Eindruck entstand, den Menschen würden ihren Schatten, ihr Bild und damit sie selbst geraubt. In verschiedenen Berichten darüber taucht auf, dass der Fotograf, der Schattenfänger 78, zunächst Angst und Schrecken hervorrief. Interessant hierbei ist, dass die Menschen in diesem Zusammenhang das Bild auf der Mattscheibe als Schattenbild erkannten. Dies steigerte sich um ein Vielfaches, als aus dem Standbild, dem Einzelbild einer Fotografie, ein bewegtes Bild, ein Film wurde und nicht nur im Bereich der ethnologischen Fotografie, des ethnologischen Film, sondern ebenso im globalen Kontext. Dies war nicht nur die Angst vor dem Neuen, sondern die Angst vor dem Unerklärlichen, die Angst vor der Verletzlichkeit der eigenen Körperlichkeit sowie die Angst vor dem Verlust der Seele. Eine andere Form eines Schattenverlustes ist der Verlust seiner alltäglichen Sichtbarkeit. Das liegt in der Möglichkeit eines diffusen, ungerichteten oder allgerichteten Lichts. Im Streulicht ist es nicht möglich, 77 | Frazer, James »Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker« Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004 S. 283. 78 | Mankácen: »Die Leute der Lago Fagnano-Gegend hatten mich mit diesem Namen bedacht, weil ich mit meinem Lichtbildkasten ihr Bild photographisch aufzufangen bemüht war.« Gusinde, Martin »Die Feuerland-Indianer« in »Anthropos« Mödling 1931 S. 382.

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einen Schlagschatten sichtbar entstehen zu lassen. Damit einher geht der offensichtliche Verlust des menschlichen Schattens im Bild. Stilbildend im Bereich der Fotografie war hier die Düsseldorfer Becherschule, die dies anhand ihrer fotografischen Sammlung von Industriebauten und Häusern etablierte. Die so angefertigten archivarisch bestimmten, visuellen Untersuchungen und Bewahrungen setzten sich über Generationen fort. Seit geraumer Zeit ist es nicht nur möglich, im Sinne der Fotografien von Bernd und Hilla Becher den Schatten auszuschließen, indem sie die Beleuchtung eines Diffusen bestimmten, sondern es ist auch möglich, bei der fotografischen Aufnahme den Schatten erheblich zu schwächen, ihn in seiner Bedeutsamkeit zurücktreten zu lassen, aufzuhellen. Es entsteht jedoch um einiges mehr die Möglichkeit im Schatten Dinge deutlich sichtbar werden zu lassen, die sich durch die begrenzten technologischen Bedingungen einer Sichtbarkeit entzogen haben. Im fotografischen Prozess war eine gewisse Möglichkeit der Schattenaufhellung immer schon Praxis, jedoch der Kontrastumfang einer einzelnen Aufnahme war beschränkt und keinesfalls mit der Rezeptionsmöglichkeit des menschlichen Auges vergleichbar, wobei dies nicht unbedingt die Leistung der gleichzeitigen Erfassbarkeit, sondern eher einen subjektiv bestimmten Sehprozess beschreibt. Der Schatten als bildbestimmendes Element tritt heutzutage seltener in den Vordergrund, als dies noch im analog bestimmten technischen Zeitalter der Reproduzierbarkeit wie im Expressionismus, und hier besonders im expressionistischen Film, der Fall war. Die heutigen technologischen Möglichkeiten entheben den Schatten seiner Dunkelheit, indem sie ihm einen besonderen Informationsgehalt zugestehen, der kaum mehr Verdunklung erfährt. Es ist nicht mehr nur die Nichtsichtbarkeit, die ihn verdunkelt, sondern die Möglichkeit seiner Aufhellung, die in der Aufnahme schon Bestimmung erfährt. Das Nichtnormative, die Offenheit am Schatten ist seine Potenz, im positiven wie im negativen Sinne.

D igitale S chat ten – unkl are O bjek te Der Schatten als technisch messbare und verfolgbare Größe wie auch als Begriffsbestimmung scheint heutzutage so groß wie nie zuvor zu sein. Während im konservativen physikalischen Forschungsbereich der Schatten lange Zeit als unbedeutend gegenüber dem Licht angesehen wurde, muss diesem heutzutage ein anderer Platz zugestanden werden. Der Schatten ist ein Mitsein im Licht und wird als Pause, als Unterbrechung, als Information, mögliche Bestimmung erfahren. Wenn wir Licht schreiben, schreiben wir Schatten und in diesem liegt nicht wie im Licht die Möglichkeit der Ausleuchtung, der Beleuchtung, vielmehr das besondere einer verborgenen Offenheit. Der Schatten wird bestimmt durch eine qualitative Abstufung im Visuellen, wie er sich zu sich und anderen

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verhält sowie ein Beziehungsgeflecht zu anderen entbirgt. Er kann nicht aus sich heraus entstehen, sondern ist relationale Bestimmung, relationales Objekt, Relation an sich. Der digitale Schatten ist gegenüber dem natürlichen Schatten nicht nur visuell komplexer, sondern wächst im Sinne von Datenspeicherung und Information zu einem Gebilde heran, das in verschiedenen Formen Gestalt erhält. Schatten ist im ureigentlichem Sinne nicht mehr das Fehlen von Licht, sondern die Beschreibung einer Spur im Licht, einer Form, eines Avatars, der unhintergehbar indexikalisch auf die Objekte, Sachverhalte verweist, die ihn erzeugen. Er wird zum Stellvertreter dessen, das ihn erzeugt. Als technologisch bestimmtes Objekt bedarf es dessen, gleichsam, um ihn zur Sichtbarkeit, zur Lesbarkeit gelangen zu lassen. Dies erscheint in Abhängigkeit von einem weit aus umfangreicheren Bestimmungsgefüge, das unter bestimmten Bedingungen erst zugänglich wird. Der digitale Schatten, im Sinne von Hinterlassenschaft, erscheint zunächst verdeckt und nicht lesbar. Was sich jedoch an ihm zeigt, ist die Änderung der Richtung des Blickens. Der Blick scheint vom Schatten in Richtung des Objektes zu gehen, das heißt: Das Objekt wird aus dem Schatten heraus konstruiert, berechnet, bestimmt. Das bedeutet auch: Aus dieser Position des Blickens wird das Licht nicht sichtbar, das ihn als solchen erzeugt und ihn bestimmt. Der Schatten wird niemals das Licht sehen können, das ihn beschreibt. In der Gegebenheit des Schattens als Spur bleibt das Objekt als Referenzobjekt bestehen, was jedoch nicht in einer bestimmten Eindeutigkeit ausschließlich auf sich selbst verweist. Was offenzubleiben scheint, ist seine Auswertung und Zuordnung, die eindeutige Bestimmung einer Aussage. Diese Eindeutigkeit ist beim Schatten, der hier Untersuchungsgrundlage ist, nicht möglich. In dieser Möglichkeit einer Mehrdeutigkeit begründet liegt seine Besonderheit und sein Zauber, seine unerschöpfliche Potenz wie sein Manko. Um ihn in seiner Bestimmbarkeit eindeutig werden zu lassen, muss das Beziehungsgeflecht mitgesehen werden, in dem er Bestimmung erfährt. Maßgeblich darin sind das Licht, in dem das Objekt steht, dem es widersteht, das Objekt das den Schatten verspricht, die Qualität der Projektionsfläche, auf die der Schatten fällt, der Interpret, der den Schatten liest, zuordnet, archiviert und letztendlich der Raum, in dem dies eine Hervorbringung erfährt. In diesem Bestimmungsgefüge treten unterschiedliche Verschiebungen auf. Das, was hier im visuellen Kontext Beschreibung erfährt, kann in Analogie zum digitalen Schatten, zum Datenschatten, gedacht werden. Der Blick vom Schatten auf das Objekt erzeugt es nicht selbst, sondern ein Mögliches, das in einer offenen, unvollendeten Polyform verbleiben muss. Offene Form bedeutet diesbezüglich eine Form, die in den Raum ihrer Beschreibung wie in den Raum einer Uneindeutigkeit ragt. Ein Schatten verweist immer auf anderes, auf sich selbst sowie auf Möglichkeiten seiner Erscheinung und verbleibt in einer Unvollendetheit, in Uneindeutigkeit.

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A usweitung der B ildzone Es ist unweigerlich die Ähnlickeitsbeziehung zu einem Objekt, das den Schatten in seiner Besonderheit beschreibt. Ist es im einfachsten Fall eine Silhouette an der Wand, die erscheint, wenn ein Mensch im Sonnenlicht an ihr vorübergeht, so ist es im komplexeren Fall ein digitaler Schatten, der erzeugt wird, wenn er in das Sichtfeld einer Kamera tritt, wenn er durch ein technologisches System erfasst wird. Diese Erfassbarkeit, einhergehend mit Datenproduktion, findet heutzutage oftmals unmerklich statt. Das Recht am eigenen Bild – wobei ich vehement auf eine Neudefinierung von Bild, im Sinne von Ausweitung der Bildzone 79 plädieren möchte – erscheint in der Ausdehnung der Erfassungszone als nicht mehr sichtbares, nicht mehr wahrnehmbares. Der Prozess der Selbsterzeugung wird auf anderer Ebene neu bestimmt. Der digitale Schatten eilt offenbar seinem Urheber voraus, wobei sich nicht hier erst die Frage nach dem Urheber stellt, dachnach, wer der eigentliche Urheber, der Autor, ist, was Objekt, das die Daten erzeugt, oder die technologische Einheit, die diese erfasst. Der digitale Schatten erscheint in einer gwissen Form von Autonomie gegenüber seinem Objekt, das ihn erzeugt, und bleibt unter Umständen lange nach seinem Tod in einem Archiv bestehen. In diesem Bestehen, im digitalen Datensatz als Modell, Avatar, Bild erscheint er in einer Andersheit, die nicht nur wie bisher fraktales Moment, sondern Neubestimmung wie Sichtbarkeitsproduzent ist. Das, was bleibt, ist ähnlich wie beim fotografischen Bild ein Bild des Objektes/Subjektes, mit der Möglichkeit der Erweiterung einer Datenmenge, die über technologische Systeme diesem angefügt wurde. Die Trackingdaten eines Bewegungsprofils, die Informationen zu besuchten Webseiten, das Kaufverhalten, die Krankenkassendaten, all das beschreibt dieses archivierte Bild in Relation zum Objekt. Das, was hierbei entsteht, ist die Möglichkeiten eines Bildes, die Möglichkeiten eines Verweises auf ein Objekt/Subjekt oder eben ein Bild der Tarnung, das einzig auf sich selbst verweist. Schatten, Daten sind indexikalische Objekte mit Verweischarakter, jedoch nicht in einer bestimmten Eindeutigkeit, sondern als Mögliches einer Vielheit. Aus diesem Grunde muss die Frage nach dem Bildbegriff und nach dem Begriff des Urhebers, des Autors, neu gestellt und bestimmt werden. Die Abbildrelation scheint sich ausschließlich zu einer Kontextrelation zu kehren, das heißt, die Beziehung zwischen Objekt, Bildzeichen und Referenten erfährt unweigerlich eine Ausweitung der Bestimmung. Es ist nicht mehr der Ursprung, der Grund der Entstehung, der Interpretant, der ein Bild mitbestimmt, sondern die Verschiebung zugunsten der Möglichkeiten technologischer Bestimmungen. Diesem innewohnend ist die Frage nach der heutigen Bestimmung des 79 | Vergl. Anne-Marie Bonnet: »Ausweitung der Bildzone von Körpern und Bildern im bodyturn« Symposium »Bildersturm und Bilderflut« 2002 ZKM Medientheater Karlsruhe.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Bildnis, der bildlichen Darstellung eines Menschen, nach dem überwiegend und ausschließlich technologisch erzeugten Bild eines Menschen. In welchem Moment wird er in Bestimmung einer Abbildrelation in diesem erkennbar, verfolgbar und berechenbar, in welchem Bestimmungsverhältnis steht es zu ihm und mit ihm? Nach einer zu Beginn der Untersuchung erwähnten Studie im Bereich der Neurowissenschaften, wonach der Schatten unter bestimmten Bedingungen als Erweiterung des eigenen Körpers wahrgenommen wird, möchte ich hier diese These aufnehmen und erweitern. Nicht nur, dass der Schatten dies evoziert, sondern gleichsam das Abbild des eigenen Körpers wie seine ihn bestimmenden Daten. Ist dies bei bestimmten Daten leichter nachvollziehbar, wie beim Namen, Vorname plus Nachname, so erschließt sich dies bei einer Datenbank erst durch eine Bilderzeugung. Das hieße, wenn bestimmte Daten eingebbar, kombinierbar sind und als visuelle Erscheinung gleich einer Rasterfahndung ein Bild im Sinne einer Abbildrelation zum Subjekt erzeugen, gewinnt der Bildbegriff eine neue Bedeutung. Wenn also, der analoge durch Licht erzeugte Schlagschatten eines Menschen eine Erweiterung seines Körperbildes, somit angenommener Teil des Menschen, ist, so gilt dies ebenso für digitale Schatten, die er erzeugt, hinterlässt. Digitalisierung ist Fotografie, mit Licht zeichnen, etwas übertragen, von einem medialen Träger zu einem anderen, in einen anderen Bedeutungsraum, in einen anderen Rezeptionsraum, der nicht parallel existiert, sondern mit existiert. Es findet gleichsam eine Dematerialisierung, eine Umschreibung statt, die ausschließlich durch eine Möglichkeit der Präsentation, einer Projektion im Monitor, an der Wand, sichtbar wird und sich zeigt. Dem Prozess der Digitalisierung ist mit den bildgebenden Verfahren im fotografischem Prozess vieles gemein: Schatten und Licht, eine Unterbrechung sowie ein Träger, der diesbezüglich sinnstiftend sein muss. Es scheint eine Umkehrung in der Bestimmung als Vollzug sich abzuzeichnen. Nicht mehr der Mensch wird im Bild, als Bild erkannt, sondern das Abbild, ein Schattenbild, erzeugt und beschreibt ihn, konstruiert ihn im Sinne eines virtuellen möglichen Bildes, das das Original zu überdecken beginnt. Der Kampf nicht nur um den privaten Raum, sondern der Kampf um das eigene Bild, den eigenen Schatten hat längst begonnen und ist vielleicht schon entschieden. Dies bezüglich erscheint der Gedanke nach der Form einer Ähnlichkeitsbeziehung und die Frage nach dem Verdeckten des Schattens, den der moderne Mensch unweigerlich hinterlässt. Und es stellt sich Frage, was diese Hinterlassenschaft aussagt über den Schattengeber, und die Frage nach dem Verkauf des eigenen Schattens, der uns an den Beginn der Arbeit zu Hans Christian Andersen und seinem Text »Der Schatten« führt. »Ich habe das Greulichste erlebt, was man erleben kann!« sagte der Schatten, »denke Dir – ja so ein armes Schattengehirn kann nicht viel aushalten! – denke Dir, mein Schatten ist verrückt geworden. Er glaubt, er wäre der Mensch und

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ich – denke Dir nur – ich wäre sein Schatten!«80 Auch hier kommt es zu einer Umkehrung, einer rekursiven Verwirrung im Bestimmungsgefüge. Eine Unterscheidung zwischen Schatten und Körper (wer erzeugt wen?) entzieht sich einer Eindeutigkeit. Mehr noch: Der Schatten bestimmt den Körper, indem er ihn zum Schatten werden lässt. Es ist kaum mehr möglich, den einen vom anderen zu unterscheiden. In dieser Bestimmung erscheint die Entgleitung einer festen Identität sowie der körperlose Raum einer virtuellen Welt. Es erscheint ein Substanztausch zwischen Bildpräsenz und Realpräsenz. Dietmar Kamper bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: »Wer in Bilder transformierte Körper verachtet, mißhandelt Körper auch in Wirklichkeit.«81 Bilder, Schatten sind zu grafischen und logischen Stellvertetern von Körpern und Objekten geworden. Eine Besonderheit nimmt der menschliche Körper ein, von dem als Schattengeber in dieser Arbeit grundsätzlich ausgegangen wurde. Im Zeitalter der verdeckten Verfolgbarkeit anhand einer Schattenspur ist der Mensch ausgesetzter denn je. Nicht ausschließlich seine Körperlichkeit, sondern seine Identität gilt es heutzutage zu bewahren, zu verteidigen. Am vorläufigen Schluss dieser Arbeit muss erkannt werden, dass das, was dem Schatten innewohnt, ihn als qualitative Besonderheit hervorhebt, das ist, was ein Scheitern an ihm erzeugt. In seiner schieren Unfassbarkeit, im Bildlichen wie im Begrifflichen, ist es ein Unmögliches, ihm gerecht zu werden. Es ist der Versuch einer Annäherung, einer kurzzeitigen Berührung mit einer ephemeren Erscheinung, in der die Möglichkeit des temporären Entzugs eingebettet scheint. Im Arbeiten mit dem Schatten, am Schatten, ist es immer unausweichlich gewesen, ihn in seiner Besonderheit als relationales Objekt zu fassen. In dieser Sichtweise ist die Mitsicht des Gefüges, das ihn bestimmt, maßgeblich wie ablenkend. Hierdurch erscheint seine weitere Besonderheit. Er evoziert unweigerlich verschiedene Formen der Bewegung. Zum einen sind dies die Eigenbewegung, hervorgerufen durch ihn als Objekt, wie die Bewegungen im Gefüge, das ihn bestimmt, aber gleichsam auch die Bewegungen, die er im Betrachten erzeugt. Es ist ein stetes Anhalten der Bewegung des Blickens zwischen Schatten und Schattengeber, zwischen Bildern, die wir kennen, Formen, auf die wir zurückgreifen, die uns bekannt sind. Dem Schatten ist nicht der Moment des Innehaltens, sondern der Moment der Unruhe gegeben, die ihn und unsere Zeit prägend bestimmt.

80 | Andersen, H. Chr. »Der Schatten« in »Gesammelte Märchen« Leipzig: C.Lorck 1850. 81 | Kamper, Dietmar »Über den Terror der Bildhaftigkeit Tagung Quel corps? Leib und Leben. Körper und Tod« FU Berlin, 16.-18.11.2000. http://kamper.cultd.net/audioVideo.htm und in Belting, Hans / Kamper, Dietmar / Schulz, Martin [Hrsg.] »Quel corps? Eine Frage der Repräsentation« München: Fink 2002 S. 167.

Abbildungsverzeichnis Abb. 01 Rodchenko, Alexander »Untitled« [Nude and shadow] 1930; gelatin silver print, Collection SFMOMA, Purchase; Estate of Alexander Rodchenko / RAO, Moscow / VAGA, New York Permanent (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 02 Rodchenko, Alexander »In der Wanne« 1932; aus Lavrentiev, Alexander »Alexander Rodchenko. Photography 1924-1954« Köln: Könemann 1995 S. 306, Abb. 404a (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 03 Rodchenko, Alexander »Rodchenko in der Balkontür stehend« 1932 Lavrentiev, Alexander »Alexander Rodchenko. Photography 1924-1954« Köln: Könemann 1995 S. 307, Abb. 405 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 04 Kontraststeigerung auf Grundlage von »Untitled« [Nude and shadow] Abb. 05 Rodchenko, Alexander »Untitled« [Nude and shadow] 1930. Ausschnitt (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 06 Woodman, Francesca »Untitled« Providence, Rhode Island 1976; gelatin silver, print image size: 5 1/2 x 5 1/2 inch; Estate ID / File Name: P.059 Courtesy George and Betty Woodman »Untitled« Providence, Rhode Island 1976; gelatin silver print image size: 5 11/16 x 5 11/16 inch; Estate ID / File Name: P.068 Courtesy George and Betty Woodman. Abb. 07 Otth, Jean »Le mythe de la caverne« 1972 Standbild; Quelle: Virginie Otth und Philémon Otth; DVD »Jean Otth … autour du Concile de Nicée – Videos 1972-2007« Auteur et directeur artistique: Jean Otth, Direction éditoriale et scientifique: Anne-Marie Duguet, Paris Anarchive n°4 2007. Abb. 08 Atelierauf bau Skizze: Kathrin Tillmanns. Abb. 09 Bild 00000 aus dem Video »Le mythe de la caverne« Jean Otth 1972. Abb. 10-20 Ebd. Abb. 21 Bild 34520 Ebd.; Malewitsch, Kasimir »Schwarzes Quadrat« 1915, Sugimoto, Hiroshi »La Paloma, Encinitas« 1993 Sonnabend Gallery, New York Collection of BMG Literature T. Kellein, Sugimoto, Hiroshi: Time Exposed, London 1995, p. 35 Christies. Abb. 22 Bild 04744; Bild 10928; Bild 10979 »Le mythe de la caverne« Jean Otth. Abb. 23 Vasari, Giorgio »Der Ursprung der Kunst« Wandmalerei Florenz, Palazzo Marrocchi, Casa Vasari, Sala Grande Sala delle Arti e degli Artisti,

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um 1572 KHI, Nr. fld0002331y_p, Nummer KHI Florenz: 593964 Signatur: Mal. Ren., Aufn. Rabatti Domingie, Zugang: 2008.09.12 Ausschnitt: Nr. fld0002332z_p, Nummer KHI Florenz: 593962 Signatur: Mal. Ren., Aufn. Rabatti Domingie; Foto: Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max-Planck-Institut; rechtes Bild: Wright, Joseph The Corinthian Maid, 1782/84, Paul Mellon Collection National Gallery of Art in Washington DC. Abb. 24 Bild 00000; Bild 34518 aus »Le mythe de la caverne« Jean Otth. Abb. 25 Sorgeloos, Herman »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich« Teil 1 »Piano Phase« Choreography: Anne Teresa De Keersmaeker. Abb. 26 Bild 00:01:16:22; Bild 00:01:16:22 »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich« 2002 A film by Thierry De Mey 2002. Abb. 27 Khan, Idris »Every... Bernd And Hilla Becher Spherical Type Gasholders« 2004; Khan, Idris »Every... Bernd And Hilla Becher Prison Type Gasholders« 2004; Bernd & Hilla Becher »Gasbehälter, Wesseling, Nähe Köln« 1989; Bernd & Hilla Becher »Gasbehälter, Grube »Anna« bei Aachen« 1965 (c) Estate Bernd &Hilla Becher, 2017. Abb. 28 Bild 00:09:43:04; Bild 00:11:58:01 aus »Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich« A film by Thierry De Mey 2002. Abb. 29 Bild 00:10:44:05; Bild 00:10:44:12: Bild 00:10:44:22 Ebd. Abb. 30 Bild 00:10:45:16; Bild 00:10:46:05; Bild 00:10:47:06 Ebd. Abb. 31 Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan – Relational Achitecture 11« 2005 in »Under Scan« EMDA Antimodular 2007 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 32 Lozano-Hemmer, Rafael»Under Scan« Relational Architecture 11, 2005. Humberstone Gate West, Leicester, UK, 2006. Photo: Antimodular Research. (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 33 Lozano-Hemmer, Rafael Installationview Mexican Pavilion, 52nd Biennale di Venezia, 2007 www.lozano-hemmer.com/venice/english/index. html vom 22.04.2015 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 34 Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan, Relational Architecture 11«, 2005. Brayford University Campus, Lincoln, United Kingdom. Photo: Antimodular Research. rechtes Bild retuschiert (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 35 Grandville, Jean-Ignace Gerard »Die Schatten (Das französische Kabinett)« 1830 aus: »La Caricature«; Tim Noble und Sue Webster »He/She« www.timnobleandsuewebster.com (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 36 Bilder des Kontrollmonitors, DVD Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 37 Bavcar, Evgen »A Close Up View« aus »Sight Unseen: International Photography by Blind Artists« UCR ARTSblock on the occasion of theexhibition Sight »Unseen: International Photography by Blind Artists« 2009; UCR/California Museum of Photography. The Regents of the University of California »Masks in Venice« Zone Zero Fundación Pedro Meyer http://v1. zonezero.com/exposiciones/fotografos/bavcar/29c.html vom 08.02.2016.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 38 Sutkus, Antanas »J. P. Sartre in Lithuania. Nida« 1965 photography, (c) Antanas Sutkus, 2017 Abb. 39 Neusüss, Floris »Körperbilder« (KOR B27) 1963 in Neusüss, Floris / T. O.Immisch »Körperbilder Fotogramme der sechziger Jahre« Staatliche Galerie Moritzburg Halle 2001. Abb. 40 Linkes Bild: Matsumoto, Eiichi »Shadow of a soldier remaining on the wooden wall of the Nagasaki military headquarters« 1945; rechtes Bild: Yoshito, Matsushige »Human Shadow Etched In Stone« 1946 Abb. 41 Tim Noble und Sue Webster »Dirty white trash (with gulls)« 1998 (linkes Bild Installationsansicht, rechtes Bild Detail) 6 months‘ worth of artists‘ trash, 2 taxidermy seagulls, light projector Dimensions variable. Abb. 42 Tim Noble und Sue Webste HE/SHE, 2004 www.timnobleandsuewebster.com vom 08.02.2016 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 43 Standbild aus dem Film »Letztes Jahr in Marienbad« von Alain Resnais, Drehbuch von Alain Robbe-Grillet (c) 1960 STUDIOCANAL - Argos Films – Cineriz. Abb. 44 Linkes Bild: isolierte Schlagschatten aus der Standfotografie rechtes Bild; Photo by: Antimodular Research Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 45 Hoover, Nan; Performance 1986; Museum Abteiberg Mönchengladbach. Das linke Bild ist eine autorisierte Fotografie der Performance der Künstlerin, welche 1986 im Museum Abteiberg Mönchengladbach stattfand. Das rechte Bild ist ein synthetisches Bild, welches das linke Bild als Grundlage hat. In einer digitalen Retusche wurden die Schlagschatten an den Wänden entfernt. Quelle: Museum Abteiberg Mönchengladbach Abb. 46 McCall, Anthony »You and I, Horizontal (III)« (2007). Installation view, Serpentine Gallery, London, 2007-08. Photograph by Sylvain Deleu. McCall, Anthony »Leaving with 2-minute silence« 2009, Installations Projektion, Galerie Thomas Zander; Anthony McCall. Abb. 47 Lozano-Hemmer, Rafael »Under Scan« EMDA and Antimodular 2007 (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 48 Linkes Bild: Robert Häusser »Besuch am alten Grab« 1999 (c) Robert-Häusser-Archiv/Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim; rechtes Bild: Lee Friedlander »New York City« 1966 (c) Lee Friedlander, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco. Abb. 49 Bacci, Marco; Mellere, Marta http://ombrecoperte.blogspot.de/2007/ 08/video-esplicativo.html vom 28.1.2016.

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Medienwissenschaft Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.) Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt 2015, 400 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3046-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3046-0

Ramón Reichert (Hg.) Big Data Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie 2014, 496 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2592-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2592-3 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2592-3

Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart., 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2982-8 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

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Medienwissenschaft Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies An Introduction (With Contributions by André Czauderna, Nathalie Pozzi and Eric Zimmerman) 2015, 296 p., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2983-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2983-9

Beate Ochsner, Robert Stock (Hg.) senseAbility – Mediale Praktiken des Sehens und Hörens September 2016, 448 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3064-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3064-4

Pablo Abend, Mathias Fuchs, Ramón Reichert, Annika Richterich, Karin Wenz (eds.) Digital Culture & Society Vol. 2, Issue 1/2016 – Quantified Selves and Statistical Bodies März 2016, 196 p., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3210-1 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3210-5

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