Brief-Edition im digitalen Zeitalter 9783110289183, 9783110289350

The digital age presents the editors of academic editions of letters with new dilemmas and possibilities. This collectio

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German Pages 255 [256] Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
„Chatoullen ..., welche den vertrauten Briefwechsel enthielten“. Die Erschließung großer Briefkorpora der Goethezeit. Probleme, Aufgaben und Möglichkeiten
Briefnachlässe auf dem Wege zur elektronischen Publikation. Stationen neuer Beziehungen
Crowdsourcing: Möglichkeiten der (Zusammen-)Arbeit an Brief-Editionen im Internet
Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffes „Digitale Edition“
Goethes Briefhandschriften digital – Chancen und Probleme elektronischer Faksimilierung
Probleme der Retro-Konversion. Die Regestausgabe der Briefe an Goethe
Gutzkows Korrespondenz – Probleme und Profile eines Editionsprojekts
Briefnetzwerke der Romantik. Theorie – Praxis – Edition
Der Brief als Prozess. Entwurf und Konzept in der digitalen Edition
„Sie sehen mich als Representand Ihres Publikums, EN GROS genommen“. Therese Hubers Entwürfe für die Annahme- oder Ablehnungsschreiben an die Autoren von Cottas Morgenblatt für gebildete Stände
Beilage, Einlage, Einschluss. Zur Funktion und Differenzierung von Briefbeigaben und ihrer editorischen Repräsentation am Beispiel von Theodor Fontanes Briefwechseln mit Bernhard von Lepel und Theodor Storm
Textverlust und Textlücken in Briefen Heinrich Heines. Ein Beitrag zur Geschichte der Heine-Briefausgaben
Zu einigen Besonderheiten der Briefkommentierung
Vom Brief zum Werk. Kongruenzen und Divergenzen der Präsentation und Kommentierung am Beispiel der Merck-Edition
Alles Wikipedia? Kommentieren heute am Beispiel der Jean Paul-Brief-Edition
Ein Textilfabrikant, ein Theaterdirektor ...: Erfahrungen mit dem Internet bei der Personen-Recherche für die Wagner-Briefausgabe
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Brief-Edition im digitalen Zeitalter
 9783110289183, 9783110289350

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B E I H E F T E

Z U

Herausgegeben von Winfried Woesler

Band 34 35 Band

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Brief-Edition im digitalen Zeitalter Herausgegeben von Anne Bohnenkamp und Elke Richter

De Gruyter

ISBN 978-3-11-028918-3 e-ISBN 978-3-11-028935-0 ISSN 0939-5946 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Norbert Oellers

Inhalt Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich Joost „Chatoullen ..., welche den vertrauten Briefwechsel ... enthielten“. Die Erschließung großer Briefkorpora der Goethezeit. Probleme, Aufgaben und Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Jutta Weber Briefnachlässe auf dem Wege zur elektronischen Publikation. Stationen neuer Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Rainer Falk Crowdsourcing: Möglichkeiten der (Zusammen-)Arbeit an Brief-Editionen im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Johannes H. Stigler Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffes „Digitale Edition“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Elke Richter Goethes Briefhandschriften digital – Chancen und Probleme elektronischer Faksimilierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Manfred Koltes Probleme der Retro-Konversion. Die Regestausgabe der Briefe an Goethe

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Wolfgang Rasch, Wolfgang Lukas, Jörg Ritter Gutzkows Korrespondenz – Probleme und Profile eines Editionsprojekts . 87 Wolfgang Bunzel Briefnetzwerke der Romantik. Theorie – Praxis – Edition . . . . . . . . . 109 Jochen Strobel Der Brief als Prozess. Entwurf und Konzept in der digitalen Edition

. . 133

Magdalene Heuser „Sie sehen mich als Representand Ihres Publikums, EN GROS genommen“. Therese Hubers Entwürfe für die Annahme- oder Ablehnungsschreiben an die Autoren von Cottas Morgenblatt für gebildete Stände . . . . . . . 147

VIII

Inhalt

Gabriele Radecke Beilage, Einlage, Einschluss. Zur Funktion und Differenzierung von Briefbeigaben und ihrer editorischen Repräsentation am Beispiel von Theodor Fontanes Briefwechseln mit Bernhard von Lepel und Theodor Storm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Bernd Füllner Textverlust und Textlücken in Briefen Heinrich Heines. Ein Beitrag zur Geschichte der Heine-Briefausgaben . . . . . . . . . . . . 179 Burghard Dedner Zu einigen Besonderheiten der Briefkommentierung

. . . . . . . . . . . . 203

Ulrike Leuschner Vom Brief zum Werk. Kongruenzen und Divergenzen der Präsentation und Kommentierung am Beispiel der Merck-Edition . . . . . . . . . . . . 219 Angela Steinsiek Alles Wikipedia? Kommentieren heute am Beispiel der Jean Paul-Brief-Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Andreas Mielke Ein Textilfabrikant, ein Theaterdirektor ...: Erfahrungen mit dem Internet bei der Personen-Recherche für die Wagner-Briefausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Vorwort

Der Übergang vom Gutenbergzeitalter zur digitalen Epoche hat weitreichende Auswirkungen auch auf Theorie und Praxis der Geisteswissenschaften, denn er verändert ihre Grundlagen: die Erarbeitung und Bereitstellung der Texte in wissenschaftlichen Editionen. Spielten die Möglichkeiten der rechnerunterstützten Texterfassung und -bearbeitung in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem als Arbeitsmittel der Editoren eine Rolle, so sind die elektronischen Medien seit den 90er Jahren zunehmend auch als Darstellungsmittel wissenschaftlichen Edierens relevant. Waren als Trägermedien zuerst CD-ROMs und später DVDs im Gebrauch, überwiegen inzwischen die direkt über das Internet online nutzbaren Angebote. Die vielfältigen Folgen des aktuellen medialen Paradigmenwechsels für die eigene Tätigkeit jeden Wissenschaftlers stehen seit einigen Jahren zunehmend im Fokus der internationalen Editionswissenschaften.1 Im Februar 2010 widmete sich auch die Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition ausdrücklich dem „Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft“.2 Der vorliegende Band versammelt die Erträge der Tagung „Brief-Edition im digitalen Zeitalter“, die vom 5. bis 7. Oktober 2011 in Weimar stattfand. Ihr Gegenstand waren die Möglichkeiten und Probleme, die sich mit dem Medienumbruch im Blick auf ein Spezialgebiet der Editorik verbinden: die Teilnehmer stellten aktuelle Editionsprojekte vor und fragten nach den spezifischen Perspektiven, die der Medienwandel gerade bei der Herausgabe von Briefen eröffnet.

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Vgl. u. a. Peter Shillingsburg: From Gutenberg to Google. Electronic Representations of Literary Texts. Cambridge University Press 2006. Anne Bohnenkamp (Hrsg.): Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin/Boston 2013 (Beihefte zu editio. 35).

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Anne Bohnenkamp-Renken / Elke Richter

Zusammenfassend lassen sich fünf Aspekte des Edierens im digitalen Zeitalter festhalten, die von den versammelten Brief-Editoren besonders herausgestellt wurden:

1 Die Aufhebung der für den Buchdruck charakteristischen Umfangsbeschränkungen ermöglicht in elektronischen Editionen generell die Einbeziehung auch von solchen Quellen, die bisher vor allem aus pragmatischen Motiven ausgeschlossen blieben. Das gilt sowohl für die editorische Aufbereitung und Bereitstellung umfangreicher Briefkorpora, deren Herausgabe unter den Bedingungen des Buchdrucks nicht oder nur in Auswahl realisierbar gewesen wäre, als auch für die Einbeziehung von ergänzenden Materialien, die bisher ebenfalls meistens aus Gründen des finanziellen Aufwands für eine Aufnahme in gedruckte Editionen nicht in Betracht gezogen wurden. Einen entscheidenden Paradigmenwechsel bedeutet gerade für Brief-Editionen die Möglichkeit der umfassenden Integration von Abbildungen. Herkömmliche Buch-Ausgaben reduzieren die zu edierenden Briefe immer auf Texte – obwohl insbesondere für Briefe gilt, dass sie als konkrete und individuelle Objekte in Raum und Zeit mehr sind als abstrakte Texte und daher die Einbeziehung von Faksimiles integraler Bestandteil ihrer Edition sein sollte.3 Im vorliegenden Band zeigt Elke Richter am Beispiel der Briefe Goethes, inwiefern die originale Materialität des Briefkörpers bei der Konstitution der epistolaren Botschaft eine wesentliche Rolle spielt. Dies gilt auch für die einen Brief ergänzenden Briefbeilagen, die in elektronischen Ausgaben ebenfalls umfassende Berücksichtigung finden könnten und sollten. Gabriele Radecke widmet sich diesem Aspekt der Brief-Edition und schlägt in diesem Zusammenhang eine Differenzierung der Begriffsbildung vor. Aus pragmatischen Gründen bleiben in gedruckten Briefausgaben schließlich auch Textvarianten fast immer unberücksichtigt; Jochen Strobel plädiert unter den Bedingungen elektronischen Edierens für die Einbeziehung von Briefkonzepten und Entstehungsvarianten. Ulrich Joost schlägt darüber hinaus die Berücksichtigung editorischer Vorarbei3

Die besondere Rolle des ,Briefkörpers‘ hat Winfried Woesler schon auf einem DFG-Kolloquium von 1976 herausgestellt (Winfried Woesler: Der Brief als Dokument. In: Probleme der BriefEdition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 8.–11. Sept. 1975. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Hans Joachim Mähl und Walter Müller-Seidel. Boppard 1977, S. 41–59); Folgen für die editorische Praxis blieben jedoch zunächst aus. Vgl. auch Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition. In: editio 9, 1995, S. 18–36; Katalog und Tagungsband zur Frankfurter Ausstellung „Der Brief – Ereignis & Objekt“. Hrsg. von Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter. Frankfurt 2008 und 2010; Wolfgang Lukas: Epistolographische Codes der Materialität. Zum Problem para- und nonverbaler Zeichenhaftigkeit im Privatbrief. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Tübingen 2010 (Beihefte zu editio. 32), S. 45–62, ders. im vorliegenden Band.

Vorwort

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ten vor, die unter den veränderten Bedingungen vor allem für wissenschaftliche Folgeprojekte zugänglich gemacht werden sollten.

2 Ein hieran unmittelbar anschließendes, in vielen Beiträgen aufgegriffenes Thema sind die zukunftsweisenden Chancen, die in der verstärkten Nutzung von Synergie-Effekten durch den Ausbau von Kooperationen liegen. Mehrere Beiträger skizzieren die bisher gegenwärtig noch kaum ausgeschöpften Möglichkeiten, über Briefdatenbanken und Internetforen eine Verbesserung der Zusammenarbeit und eine Intensivierung des Informationsaustausches zwischen verschiedenen Editionsprojekten zu erreichen. Auf der Hand liegen die Vorteile einer gemeinsamen Nutzung von Personendaten. Wie sich wechselseitige Erhellungen auch in der Zusammenarbeit zwischen Werk- und Brief-Editoren ergeben, stellt Burghard Dedner in seinem Beitrag am Beispiel der BüchnerAusgabe vor. Die neuen Möglichkeiten, die gerade umfangreichen, aus den Quellen zu arbeitenden Brief-Editionen durch Verfahren des ,Crowdsourcing‘ zuwachsen, werden in Jutta Webers und Rainer Falks Berichten über verschiedene Berliner Pilotprojekte deutlich, die die Staatsbibliothek in Kooperation u. a. mit der Humboldt-Universität durchführt. Zahlreiche Herausforderungen solcher elektronisch vermittelten Kooperationen stecken dabei im Detail: wie besonders aus informationstechnologischer Perspektive in den Beiträgen von Johannes H. Stigler und Jörg Ritter deutlich wird, zählen mangelnde Abstimmung und die Verwendung unterschiedlicher Standards zu den Hürden, die im Interesse einer zukünftigen Vernetzung von Einzelprojekten noch genommen werden müssen. Zu den offenen Fragen gehören nach wie vor auch die Probleme der Langzeitarchivierung und die zukünftige Gestaltung der institutionellen Infrastrukturen. Abgesehen von der Notwendigkeit eines Ausbaus der produktiven Zusammenarbeit zwischen Informationstechnologen und Geisteswissenschaftlern, werden mit den neuen Medien auch die alten, unter Editionswissenschaftlern bereits ausgiebig geführten Debatten um Normierung und Standardisierung unter neuen Vorzeichen wieder aktuell. In diesem Zusammenhang stellt Magdalene Heuser einen Sonderfall der Brief-Edition zur Diskussion, Therese Hubers Entwürfe für den Schriftverkehr mit Autoren des Cotta’schen Morgenblatts für gebildete Stände. Die Nutzung des erheblichen Potentials, das sich mit dem Medienwandel für die Editionswissenschaften eröffnet, setzt dabei nicht zuletzt auch die Schaffung neuer Infrastrukturen voraus, wie sie in den Beiträgen von Ulrich Joost und Jutta Weber gefordert werden.

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Anne Bohnenkamp-Renken / Elke Richter

3 Neben dem nahezu unerschöpflichen Fassungsvermögen elektronischer Editionen bietet die Möglichkeit der variablen Anordnung und Darbietung der gesammelten (Text-)Daten einen entscheidenden Vorteil gerade auch im Zusammenhang mit Brief-Editionen. Muss sich ein Herausgeber von Druckausgaben vorab für ein Anordnungsund Auswahlverfahren entscheiden, machen die leistungsfähigen Sortier- und Suchfunktionen elektronischer Editionen die Fülle des Zusammengetragenen wesentlich flexibler zugänglich. Briefe sind anders als Werke keine abgeschlossenen Entitäten, sondern Kommunikationsakte in einem Kommunikationskontinuum, das unter den Bedingungen elektronischen Edierens ganz anders in den Blick gerückt werden kann, als es Druckausgaben erlauben. Einer der großen Vorteile digitalen Edierens ist ja die Möglichkeit, das Material unter unterschiedlichen Gesichtspunkten und je nach Nutzerinteressen jeweils anders sortiert und aufbereitet aufzurufen: Aus der einen Datenbank lassen sich so je nach individuellem Interesse die Briefe eines einzelnen Autors (an alle seine Briefpartner, an bestimmte Briefpartner, an einen Briefpartner), Briefwechsel oder Briefnetzwerke erzeugen. Am Beispiel der vernetzten Briefkommunikation der Autoren der deutschen Romantik erörtert Wolfgang Bunzel die Möglichkeiten, die mit der Entwicklung einer die Perspektive von Einzel-Autoren und EinzelBeständen übersteigenden Netzwerk-Edition verbunden sein können.

4 Als weiteren Vorteil elektronischer Editionen stellt Ulrike Leuschner in ihrem Beitrag am Beispiel der Merck-Edition die einfache Aktualisierbarkeit der erarbeiteten Daten heraus. Dass diese Flexibilität nicht nur Vorteile hat, sondern auch Probleme erzeugt, kommt in den Beiträgen von Manfred Koltes und Bernd Füllner zum Ausdruck, die sich mit dem Thema Retrodigitalisierungen befassen: die prinzipielle Veränderbarkeit des Textes steht in Spannung zu dem grundlegenden editorischen Ziel, eine zuverlässige, stabile und dauerhaft zitierbare Textgrundlage zu bieten. Die ,Flüssigkeit‘ des elektronischen Mediums impliziert mit neuen Möglichkeiten auch neue Risiken und Herausforderungen.

5 Stand so die für digitale Editionen charakteristische Erweiterung des Spielraums in Hinsicht auf Umfang, Anordnung und Aktualisierung der Materialien und Texte im Mittelpunkt der Tagung, galt das Interesse darüber hinaus auch den

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Vorwort

Folgen, die der Medienwandel im Bereich der Sacherläuterung zeitigt. Einem Leser – oder ,Nutzer‘ – von Online-Ausgaben steht heutzutage im Internet eine Fülle von allgemeinen Informationen im Handumdrehen zur Verfügung, die in den Kommentar als solche aufzunehmen daher überflüssig wäre. Dass gerade die biographisch-historische Kommentierung im Zeitalter von Online-Lexika anders angelegt werden sollte als bisher, beschreiben die Beiträge von Angela Steinsiek und Andreas Mielke. Welch neue Kommentierungs-Dimensionen die wachsende Menge digital recherchierbarer Quellen unterschiedlichster Art auf der anderen Seite dem kommentierenden Herausgeber von Brief- und Werkausgaben erreichbar macht, beleuchtet Burghard Dedner am Beispiel Büchner, indem er zeigt, dass die Recherchemöglichkeiten des Internets bisher unbekannte Quellen zu Tage fördern, die Briefe und Werke Büchners in ein neues Licht rücken. Die lebhafte Diskussion der Fragen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Sacherläuterung im Zeitalter des Internets legt es nahe, diese für Brief- wie Werkausgaben relevante Problematik in einer eigenen Tagung aufzugreifen. Die Weimarer Tagung zur ,Brief-Edition im digitalen Zeitalter‘ wurde auf Initiative der Kommission für die Edition von Texten seit dem 18. Jahrhundert in der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition als Kooperation zwischen dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar und dem Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethemuseum durchgeführt. Eine kleine abendliche Festveranstaltung würdigte aus Anlass seines 75. Geburtstags Norbert Oellers als langjährigen Herausgeber und Anreger auf dem Gebiet der Brief-Editionen. Möglich wurde die Tagung durch die Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, der Klassik Stiftung Weimar und des Freien Deutschen Hochstifts. Die Herausgeberinnen danken Winfried Woesler sowie dem Verlag für die Aufnahme in die Reihe der ,Beihefte zu editio‘. Wolfgang Ritschel und Bettina Zschiedrich gilt unser Dank für die Redaktion; Manfred Koltes danken wir für die Übernahme der Satzarbeiten. Der Satz erfolgte mithilfe des Tübinger Systems von Textprogrammen (TUSTEP). Weimar und Frankfurt am Main im Mai 2013 Anne Bohnenkamp und Elke Richter

Ulrich Joost „Chatoullen ..., welche den vertrauten Briefwechsel ... enthielten“. Die Erschließung großer Briefkorpora der Goethezeit. Probleme, Aufgaben und Möglichkeiten1

1. Einleitung – Historisches Schlagwort und seine Kritik Im 13. Buch des 3. Teils von Dichtung und Wahrheit berichtet Goethe gewohnt plastisch von dem seltsamen Zeitgenossen Leuchsenring, einem gebildeten Mann „von schönen Kenntnissen in der neuern Literatur“, dabei geschmeidig und weltläuftig, ein bisschen schmeichlerisch auch, einer, der auf seinen Reisen zahlreiche Verbindungen knüpfte und mit aller Welt in Briefwechsel trat: „Er führte“, heißt es da weiter, mehrere Chatoullen bei sich, welche den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten: denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen, daß man mit keinem Einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich als an mehrere gerichtet zu betrachten. Man spähte sein eigen Herz aus und das Herz der andern, und bei der Gleichgültigkeit der Regierungen gegen eine solche Mitteilung, bei der durchgreifenden Schnelligkeit der Taxischen Posten, der Sicherheit des Siegels, dem leidlichen Porto, griff dieser sittliche und literarische Verkehr bald weiter um sich. Solche Korrespondenzen, besonders mit bedeutenden Personen, wurden sorgfältig gesammelt und alsdann, bei freundschaftlichen Zusammenkünften, auszugsweise vorgelesen; und so ward man, da politische Diskurse wenig Interesse hatten, mit der Breite der moralischen Welt ziemlich bekannt. Leuchsenrings Chatoullen enthielten in diesem Sinne manche Schätze.2

Man ist immer wieder verblüfft über die Hellsichtigkeit in diesen Zeilen. In Abwandlung jenes Diktums, nach dem alle abendländische Philosophie nur Fußnote zu Platon sei,3 könnte man sagen: Alle Briefforschung zum 18. und frühen 19. Jahrhundert ist nur Fußnote zu dieser Stelle. Das entbindet uns aber keineswegs von der Pflicht, weiter zu denken und an den in Goethes Erinnerungen 1

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Der Vortragston dieser auf die Benennung und Beschreibung von Problem hin orientierten Einführung wurde absichtlich gewahrt. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. Hrsg. und mit einem Kommentar von KlausDetlef Müller. Frankfurt a. M. 2007 (= Sämtliche Werke 14, 1986), S. 607. „Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“ Alfred North Whitehead: Prozeß und Realität (Process and Reality). Frankfurt a. M. 1984. Teil II, Kapitel 1, Abschnitt 1, S. 91.

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Ulrich Joost

zutage tretenden Problemen intensiv zu arbeiten – ganz im Gegenteil. Dagegen stand aber lange eine andere Position: Als Erich Schmidt vor 116 Jahren seinen Sitz in der Berliner Akademie einnahm, benutzte ihr damaliger Präsident, Theodor Mommsen, seine Begrüßungsrede, um den Spiritus rector der Weimarer Sophienausgabe aufzufordern, den „Abwegen der sogenannten Goethephilologie [...] und der Kleinmeisterei des Text- und Apparatmachens und des Abdruckens seelenloser Epistolarien gebührende Schranken zu setzen“.4 Mag Mommsen das auch nur gegen eine ganz bestimmte Tendenz einer in seinen Augen nichtswürdigen und wertlosen Miszellen-Philologie gerichtet haben, die das Große und Ganze von Geschichte und Kunstwerk aus dem Blick zu verlieren drohte, so hätte seine Aufforderung auch ganz anders verstanden werden können. Zum Glück hat eine solche Haltung reiner Andacht vor dem Kunstwerk keine dauerhafte Herrschaft über das Fach Deutsche Philologie ergriffen. Aber wie viele poetische und prosaische, fiktionale wie expositorische Quellen allein aus der Periode vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis hin zum Vormärz harren noch der Publikation! Wie viele sind zwar oft durchaus bekannt, müssen aber von den jeweils an ihrem Umkreis interessierten Forschern auf der Suche nach Zeugnissen immer erneut durchgearbeitet werden. Davon gleich und (ich entnehme es den Ankündigungen) jedenfalls in den folgenden Referaten noch mehr. Aber da ich nicht weiß, was Sie, meine Damen und Herren, nachher und in den nächsten Tagen im Einzelnen noch vortragen werden, befinde ich mich in der komfortablen Situation, wider den Stachel löcken zu können und unabhängig von Ihrer Zustimmung oder Ablehnung meine Meinung als Diskussionsanregung schon vorher geben zu dürfen. Ich darf zunächst ein paar Binsenweisheiten rekapitulieren, die Sie alle längst kennen (doch man hält ja auch Reden zum Fenster hinaus): Die Behauptung, das 18. Jahrhundert sei das goldene Zeitalter des Briefschreibens, ist ebenso zutreffend wie zugleich irreführend, sie muss insofern relativiert werden, als der Brief die älteste literarische Gebrauchsform überhaupt ist, seine ersten Specimina sind uns bereits vor 5000 Jahren in Keilschrift auf Tontäfelchen neben Fabeln und Gesetzestexten überliefert, und seitdem ist er niemals als Kommunikationsmittel und sprachlich hochangesehene Textsorte verschwunden, hat immer auch bedeutende Höhepunkte erreicht. Richtig aber ist, dass sich diese Textsorte im Zuge der Verbürgerlichung der europäischen Kultur während des Jahrhunderts der Aufklärung in erstaunlichem Tempo ausbreitete, quantitativ vervielfachte und qualitativ enorm perfektionierte. War der Brief in ganz Europa am Beginn dieses Jahrhunderts noch auf kleine elitäre Kreise eingegrenzt: als arcanum der Macht ein Herrschaftsinstrument in Gestalt amtlicher Verfügungen und diplomatischer Verbindung, als Gelehrtenkorrespondenz internationales Kommuni4

Theodor Mommsen: Antwort an Erich Schmidt, 4. Juli 1895. In: Ders.: Reden und Aufsätze. Berlin 1905, S. 210–212, hier S. 211. Zuerst in den Sitzungsberichten der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 1895, S. 7411 f.

„Chatoullen ..., welche den vertrauten Briefwechsel ... enthielten“

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kationsmittel für geistige Arbeit, als adliger Briefwechsel Zeugnis zum Teil hochentwickelter Feudalkultur im höfischen Umfeld, so stand er am Ende des Aufklärungszeitalters in Deutschland nahezu jedermann offen, war von der bürgerlichen Frau nach Vorgang der adligen5 als neuer und kulturell partizipierender Instanz aufgegriffen und alsbald von ihr zu seltener affektiver und intellektueller Blüte gebracht.6 Ja er ist, sogar schon vor der Jahrhundertmitte beginnend, in Gestalt des neuen Genres Briefroman literaturbildend geworden: man denke nur an die wirkungsvollsten unter ihnen, an Richardsons Pamela (1739/40), Rousseaus Nouvelle Heloı¨se (1761), Goethes Leiden des jungen Werthers (1774), Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800–1801).

2. Der Stand der Dinge In der literaturgeschichtlichen Forschung hielt sich sehr lange, fast über das Schlagwort von der „Erweiterung des Literaturbegriffs“ hinaus, die Vorstellung, dass Briefe wie Tagebücher als „Ich-Dokumente“ ganz besonders und oft ausschließlich zu biographischem Quellenstudium geeignet seien. Das ist insofern gerechtfertigt, als man gewiss authentische Zahlen und Fakten, mindestens ja wohl, nach einem Diktum von Arno Schmidt, „1 Ort & 1 Datum“7 destillieren kann. Freilich wird gerade dieser Quellencharakter eben doch sehr stark durch die besondere Kommunikationssituation seiner Empfänger-Ausrichtung verzerrt; ein Maximum an Quellenkritik ist nötig, säuberlich müssen die Fakten von der Selbstdarstellung geschieden werden. Aber zur Systematik und Historik des Briefs ist in den letzten 40 Jahren unendlich viel geforscht worden. An kaum einer Textsorte lässt sich zudem Habermas’ Titelschlagwort vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ so trefflich nachzeichnen wie an der Entwicklung des Briefs im Verlaufe des 18. Jahrhunderts.8 Auf der anderen Seite aber verkennt eine solche Einengung auf das Biographische völlig den besonderen literari5

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Seit ein paar Jahren gibt es am Institut für Geschichte der Universität Wien ein Internetprojekt: Briefe adeliger Frauen (16.–18. Jahrhundert). Beziehungen und Bezugssysteme (http://www.univie.ac.at/Geschichte/Frauenbriefe/). Dieser Bereich ist in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht worden; ich verweise hier nur summarisch auf die zahlreichen Publikationen der letzten 25 Jahre, etwa von Barbara BeckerCantarino, Magdalene Heuser, Helga Meise, Reinhard M. G. Nickisch u. a.; ferner (und vor allem) auf Anke Bennholdt-Thomsens Berliner Projekt zum Frauenbrief, hier insbesondere auf die Arbeiten von Regina Nörtemann, Ute Pott, Anita Runge, Lieselotte Steinbrügge u. a. In: Jenseits von Forschung und Technik (Betrachtungen und Beispiele zu einigen Lücken unserer Pressegesetzgebung). Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III: Essays und Biographisches, Bd. 2, 1995, S. 82. Habermas’ zunächst höchst vielversprechender Entwurf erweist sich freilich bei näherem Hinsehen überall als unzulänglich. Vor kurzem (Herbst 2012) erschien von Heinrich Bosse bei Winter in Heidelberg „Bildungsrevolution 1770–1830“, eine umfangreiche, kritisch sich mit Habermas auseinandersetzende Studie, mit der sich der Verfasser, wie er schon vor Monaten (FAZ Nr. 165 vom 18. 7. 2012, S. N5) ankündigte, in die Debatte einschaltet.

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Ulrich Joost

schen Charakter der Textsorte. Der Prosabrief – von dem allein rede ich hier – lag immer schon seinem Wesen nach außerhalb der Dreistilelehre und nahm selbst in der Textsortenlehre einer wirkungsorientierten Rhetorik eine mittlere Lage ein: etwas weniger als Rede, etwas mehr als Abhandlung. Zumal als Gellert ihn durch seine kühne Fiktion vom „Gespräch unter Abwesenden“ aus der Zuständigkeit der Rhetorik herausbrach und in die der Dialektik, der alten Gesprächskunst, überführte, wurde es möglich, ihn als Vehikel für die sonst subliterarischen Redeformen und Sprachinhalte zu gebrauchen. 1751, als Gellerts Briefsteller und fast gleichzeitig der nüchternere, aber tendenziell nicht widersprechende Stockhausens erschienen, muss das literarische Feld schon bereitet gewesen sein: Denn die neue Stillehre wurde begierig angenommen. Spätestens also mit der Jahrhundertmitte erhalten wir – nicht bei allen Brief-Autoren und nicht bei allen durchaus – die Dialogimitation und dabei sogar einen Anflug von mündlichem Sprechen, in Wortwahl und Syntax, ja in der Morphologie. Als Nebeneffekt das (noch zu wenig untersuchte) Extrem: Zum ersten Mal seit dem Grobianismus übersteigen Schreibende dabei auch die Barriere, die normative Gesellschaften zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit aufzurichten pflegen. Die vom Klassizismus einer Frühaufklärung aus der Literatur verbannten, hinter Anstandsstrichen verborgenen Zoten, die Fäkalsprache und Burschikosität werden uns nach zwei Generationen wieder teilweise sichtbar. Ganz rücksichtslos zielt die Generation der in den 40er-Jahren des 18. Jahrhunderts Geborenen auf den Schrecken des Bürgers. Vor allem sehen wir das im Briefwerk solcher namhaften Autoren wie dem Johann Heinrich Mercks und des jungen Goethe,9 Gottfried August Bürgers,10 die nicht mit den Four Letter Words sparen; daneben steht noch, geschickt mit der Umschreibung spielend, Georg Christoph Lichtenberg.11 Die Sätze dieser Briefautoren vornehmlich sind auf lautes Lesen und Hören kalkuliert, schmecken überhaupt nicht mehr nach Papier. Bürger etwa beschränkt sich keineswegs auf die Zote, sondern wählt seine literarischen Beispiele aus volkstümlichen Texten, seine Bilder aus den Lebenswelten seiner Korrespondenten. Sehr genau kann man bei ihm speziell die auf 9

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Nur ein Beispiel: Der junge Goethe bevorzugt plötzlich im schriftlichen Umgang, vornehmlich mit Johann Heinrich Merck, fäkalen Wortschatz; so etwa „scheissig gestrandet“ (im Erstdruck zu „garstig“ verfälscht) im Brief an Merck, [zwischen 13. und 25. August 1775] (Merck: Briefwechsel, hrsg. von Ulrike Leuschner u. a., Bd. 1. Göttingen 2007, S. 580; auch in Goethe: Briefe, hrsg. von Georg Kurscheidt und Elke Richter., Bd. 2 I. Berlin 2009, S. 207); wiederum auf sein neues Amt bezogen („das durch aus scheisige dieser zeitlichen Herrlichkeit“) im Brief an dens., 22. Januar 1776 (Briefwechsel, Bd. 1, S. 615); ferner im Brief an Lavater, 4. März 1777: „Scheisgesicht“ (WA IV 3, 1888, S. 138) – und so fort. Bei ihm wird gleichfalls wonniglich geschissen, gevögelt, gepisst, den Ars geleckt usw.; ich habe im Wortregister meiner Edition das Vokabular aus diesem Bereich in einem Wortregister vorläufig zusammengestellt: Mein scharmantes Geldmännchen. Gottfried August Bürgers Briefwechsel mit seinem Verleger Dieterich. Göttingen 1988. Die im Entstehen begriffene Gesamtausgabe des Briefwechsels wird das Material eingehender erschließen. Seine Aposiopesen-Technik habe ich eingehend dargestellt in meiner Abhandlung: Lichtenberg – der Briefschreiber. Göttingen 1993, S. 226–228.

„Chatoullen ..., welche den vertrauten Briefwechsel ... enthielten“

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das Mündliche berechnete Rhythmik seiner Sätze beobachten, auf welche die mit Apostroph markierten Elisionen verweisen. Ebenso wie die fast gänzlich vernachlässigte Briefleserforschung ist der ganze Bereich einer das Mündliche imitierenden Briefprosa trotz des allmählich ausreichend vorliegenden Materials noch nahezu völlig unerforscht, zumal sie von ihren Zoten und Unverschämtheiten durch frühere Philologen gnadenlos gereinigt wurde. Gewiss handelt es sich bei solchem Briefstil um eine hochartifizielle Mündlichkeit, zumal dort, wo sie auch noch von aufklärerischem Impetus getragen wird, also etwa bei Gellert selbst. Man darf also weder bei ihm noch bei den habituell obszönen Briefautoren der Generation des jungen Goethe glauben, wir wüssten beim Studium ihrer Briefe gleich, wie im 18. Jahrhundert geredet wurde. Aber es sind erste Hinweise. Dieser Bereich ist noch viel zu wenig erforscht. Besser steht es um unser Verstehen der andern großen Tendenz in der deutschen Briefkultur dieses Zeitalters: der affektiven Aussprache. Seit mehr als einem Jahrhundert bekannt ist die Einwirkung des Pietismus12 auf die deutsche Literatursprache, die sich in einem bemerkenswerten Säkularisationsprozess13 nicht zuletzt auf dem Umweg über den empfindsamen Brief14 vollzogen hat. Das ist mittlerweile nach Ursprung und Entwicklung recht gut untersucht, wenngleich auch hier gewiss noch manche Fragen offengeblieben sind, manche Kontroverse nicht zu ihrem Ende geführt wurde. Aber für den Philologen sind solche Briefe unschätzbare Zeugnisse, deren er nicht entraten kann. Selbst nach den imponierenden Materialsammlungen des Grimm’schen Wörterbuchs, des Deutschen Rechtswörterbuchs, des großen vierbändigen Sander und – gerade für das hier zur Rede stehende Zeitalter höchst ergiebig – der Hermann Paul’schen Grammatik15 ist der Fundus aus dem epistolarischen Vorratshaus noch lange nicht ausgeschöpft. Nur zu oft müssen wir auf der Suche nach Wörtern, Wendungen und Formen feststellen, wie wenig repräsentativ hierfür etwa die für die künstlerische Sprache allemal repräsentative Sammlung von Literaturwerken ist, die zum Beispiel eine Digitale Bibliothek bereithält – und wie dann „der Grimm“ und „der Paul“ gründliche Auskunft erteilen, aber eben auch durch das authentische Material der Privatquellen ergänzt und in Nuancen berichtigt werden können. 12

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Über den Stand der neueren germanistischen Pietismusforschung orientiert in einem exzellenten Überblick Hans-Jürgen Schrader: Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage. In: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hrsg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013 (= Das achtzehnte Jahrhundert – Supplementa. 17), S. 81–130. Über den Stand der neueren germanistischen Säkularisationsforschung orientiert immer noch ausgezeichnet Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Göttingen 1989, S. 341 f. (Anm. 1 zu Kap. I, S. 23–25). Immer noch vorzüglich und anregend Sukeyoshi Shimbo: Die innerpietistische Säkularisation des Bekenntnisbriefes. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, Bd. 56, 1982, S. 198–224. Deutsche Grammatik. 5 Bde. Halle 1916–1920 (u. ö.).

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Was wäre geworden, hätten Erich Schmidt und seine Schüler, unsere Zunft, sich doch sklavisch an die Empfehlung des wackeren Mommsen, die zu seiner Zeit schon kaum noch Berechtigung hatte, gehalten und dem „Abdrucken seelenloser Epistolarien“ „gebührende Schranken“ gesetzt? Sie taten es zum Glück nicht, entschieden sich vielmehr – freilich mit der Verspätung von mehr als einem halben Jahrhundert – für die entgegengesetzte Tendenz. Denn wenn wir uns heute fragen, welche Leistungen des Faches Neuere Deutsche Literaturwissenschaft aus den letzten 60 Jahren Bestand haben werden, dann ist das neben der Anwendung der Sozialgeschichte und des Strukturalismus sowie der Entdeckung und weit fortgeschrittenen Erforschung der Bild-Text-Beziehungen im 17. Jahrhundert vor allem doch die editorische Präsentation jener Briefwechsel der Aufklärung und der Goethezeit. Ich darf hier einmal ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein paar der imponierenden Regalmeter für die Zeit zwischen 1740 und 1830 bloß aufzählen: Da sind die angefangenen und teilweise abgeschlossenen Editionen von Gottsched, der Karschin, Gellert, Klopstock, Lessing, Nicolai, Wieland, Lichtenberg,16 Friedrich Heinrich Jacobi (die dem Vernehmen nach zeitweilig sistiert war, inzwischen aber wohl die Arbeit wieder aufnehmen durfte), Herder,17 Leuchsenring, Bürger (deren erster Band hoffentlich noch in diesem Jahr vorliegen wird), Goethe (eigene Briefe und die Briefe an ihn in Regesten18), Georg Forster, Johannes von Müller, Schiller, Seume, Jean Paul, Therese Huber, Hölderlin, Schlegel, Kleist, Brentano, Annette von DrosteHülshoff – ich hoffe, ich habe bei diesen zwei Dutzend Namen aus dem zur Rede stehenden Zeitraum keine Ausgabe vergessen oder doch zumindest keine, die womöglich von einem der Anwesenden besorgt wurde oder wird. Doch es geht nicht nur um die großen Namen. Immer mehr setzt sich durch, auch die Gegenbriefe der minder bekannten Briefschreiber, ja der Obscuri, in die großen Sammlungen der Literaten aus der ersten Reihe zu integrieren, ob nun in eigenen oder in getrennten Chronologien.19 Es geht schon lange nicht 16

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Über diese Edition berichtete ich nach Fertigstellung der (vier) Textbände: Der LichtenbergBriefwechsel und seine Genese. In: Leopoldina-Meeting zur Edition naturwissenschaftlicher Texte der Goethezeit 22.–23. Mai 1992. Nova Acta Leopoldina, hrsg. von Christoph J. Scriba. Nr 20. Halle/Saale: Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, 1992, S. 83–92; S. 135 f. und 145 f. [Diskussionsbeiträge]; ferner sind die Vorworte im ersten und letzten Band der Edition selbst zu vergleichen (Bd. 1: München 1983; Bd. 5,1: München 2004). Über die Ausgabe berichtet ihr Herausgeber Günter Arnold: Die Herder-Briefausgabe. In: Weimar – Jena: Die große Stadt. 5/4, 2012, S. 315–321. Über sie vgl. Sabine Schäfer: Zwischen Briefregistratur und Internet – Die Regestausgabe der „Briefe an Goethe“. In: Weimar – Jena: Die große Stadt. 5/4, 2012, S. 322–330. Getrennte Chronologie: z. B. Forster, Goethe, Jean Paul, Lessing, Schiller. Gemeinsame Chronologie: z. B. Bürger, Lichtenberg, Klopstock. Der Streit, welches Verfahren da wohl das bessere sei, ist müßig. In jedem Fall sollte man Bezugsangaben machen, gleich im Überschriftenkopf, wie es August Sauer in seiner Ewald v. Kleist-Edition, Carl Christian Redlich und Franz Muncker in ihren Lessing-Editionen schon vor 125 Jahren vorgemacht hatten. Ordnungen nach Korrespondenten hingegen, wie die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sie noch liebte, sind zumindest in der Wissenschaft wohl endgültig obsolet: Der Historiker wird bei stiltypisch halbwegs gleichförmi-

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mehr bloß um die Höhenkammliteratur und um das Denkmal für den großen Künstler, auch wenn sich hie und da (viele der vorstehend genannten Autoren lassen sich als Beispiel dafür benutzen) die Einsicht endlich durchgesetzt hat, dass der Brief legitimer Bestandteil eines Werks ist oder wenigstens sein kann. Daher auch ist es mindestens ebenso wichtig, die noch nicht in Angriff genommenen Editionen herzuzählen. Ich will hier, bloß um ein paar Beispiele von solchen Epistolarien zu geben, zwei Handvoll Korpora von mehr als jeweils ein paar Hundert bis zu 2000 Briefen aufzählen, die fast oder gar nicht erschlossen sind und mir im Lauf meiner Streifzüge als für die Literaturgeschichte der Goethezeit in der einen oder anderen Hinsicht bedeutend und damit der Edition lohnend auffielen, habe mich also notwendig auf meine norddeutschen Interessen im Umkreis von Lichtenberg, Bürger, der norddeutschen Aufklärung und der Göttinger Universität beschränkt. Wie bei den bereits vorliegenden Arbeiten konzentriere ich mich dabei mit wenigen Ausnahmen auf Personen der Feder und mithin auf deren in irgendeiner Weise literarische Briefwechsel, rede nicht von den zumal für den Literaturforscher sprachlich weniger ergiebigen amtlichen20 und verlegerischen Korrespondenzen,21 die gleichwohl für die Sozial- und Rechtsgeschichte der Literatur noch einiges hergeben dürften: Noch ziemlich unbeachtet oder viel zu wenig erschlossen sind aus der älteren Generation die Korrespondenzen von Gleim und Ramler und deren Kreis; hier gibt es schon einige freilich gänzlich unkommentierte Vorarbeiten von Carl Schüddekopf;22 dafür umso gewissenhafter und eingehender kommentiert der Briefwechsel Gleims mit der Karschin.23 Dann Abraham Gotthelf Kästners um-

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gen Korrespondenzen immer die Chronologie vorziehen, um die Dimension der Gleichzeitigkeit sichtbar werden zu lassen. Es war sicherlich keine Fehlentscheidung, Goethes amtlichen Briefwechsel, der sich ja schon durch seine archivalische Überlieferung, dann durch Gegenstand und Stil als andersartig erweist, in einer eigenen Edition zu präsentieren, und dem trage ich bei meiner Edition des Briefwechsels von G. A. Bürger Rechnung, indem ich ihn in eine eigene Chronologie in den Schlussband meiner Edition ausgliedere. Anmerkungsweise darf ich aber ein paar wichtige Kandidaten aufzählen: v. a. Göschen (siehe Anm. 28), Nicolai (Anfänge dazu siehe Anm. 27). Hingegen ist die Korrespondenz des Göttinger Verlegers Johann Christian Dieterich schon ziemlich abgearbeitet, ich selber habe den Briefwechsel mit Ludwig Christian Lichtenberg (Göttingen 1984), mit Georg Christoph Lichtenberg (im Rahmen von dessen Briefwechsel 1983–1994), mit G. A. Bürger (Göttingen 1988) sowie zwei Sammlungen von Verstreutem im Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte (2, 1992, S. 373–396 und 3, 1993, S. 277–315) besorgt; dazu kam noch Alexander Ritter: „[...] ich bin freygebohrener Hamburger, und lasse meine Freyheit durch nichts unter der Sonne beschränken“. Geschäftsbriefe des ,freien Schriftstellers’ Johann Gottwerth Müller (gen. von Itzehoe) an seinen Verleger Johann Christian Dieterich (Göttingen) zwischen 1788 und 1791. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2005, S. 168–208. Meines Wissens gibt es sonst nur mehr eine kleine Korrespondenz über einen geplanten Gesangbuchdruck im Staatsarchiv Osnabrück und ein paar Dutzend überallhin verstreute Einzelbriefe. Z. B. Johann Ludwig Wilhelm Gleim: Briefwechsel mit Johann Peter Uz. Hrsg. von Carl Schüddekopf. Tübingen 1899 (= Bibliothek des litterarischen Vereins. 242); schon für seine Leipziger Doktorarbeit hatte er ausgiebig den ungedruckten Briefwechsel Ramlers herangezogen: Carl Schüddekopf: Karl Wilhelm Ramler bis zu seiner Verbindung mit Lessing. Wolfenbüttel 1886.

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fangreiche gelehrte und private Korrespondenz (zumeist in Göttingen und Leipzig),24 von der wir durch allerlei böse Umstände nur einen winzigen Bruchteil in Auszügen kennen.25 Rainer Baasners Verzeichnis26 ist vollkommen unzulänglich, jeder, der sich eingehender mit Kästner befasst hat, könnte in großer Zahl Fehlerkorrekturen und Ergänzungen beibringen. Über die Briefe an den Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai (in der Berliner Staatsbibliothek), von denen eine ganze Reihe schon in Einzelbriefwechseln erschienen ist,27 werden wir einen eigenen Vortrag hören. Verleger-Briefwechsel des 18. Jahrhunderts sind offenbar überhaupt noch in erstaunlichen Mengen überliefert und würden wichtigste buch-, kultur- und sozialgeschichtliche Details hervorbringen, neues Licht sowohl auf die Geschmacksdebatte der Spätaufklärung werfen lassen als auch ganz neue Einsichten über die Entstehung des freien Schriftstellertums ermöglichen. Aber auch hier ist fürchterlich gesündigt worden, und sollte es ein Fegefeuer für Philologen geben, dann wüsste ich ein paar Kandidaten.28 Dann die jüngere Generation: Infolge der Auslagerung im Zweiten Weltkrieg sind die Korrespondenzen des unglaublich fleißigen Briefschreibers Heinrich Christian Boie, des Praezeptors des Göttinger Dichterbundes, jahrzehntelang völlig unbe23

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„Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Hrsg. von Regina Nörtemann. 2 Bde. Göttingen 1996. Vgl. dazu auch Ute Pott: Briefgespräche. Über den Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Mit einem Anhang bislang ungedruckter Briefe aus der Korrespondenz zwischen Gleim und Caroline Luise von Klenke. Göttingen 1998. Allein was in den Göttinger Archiven (Universitätsarchiv in der NSuUB, Archiv der Akademie der Wissenschaften; ferner in der Autographensammlung im Stadtarchiv) als Zeugnis seiner wissenschaftlichen Tätigkeit noch lagert, dürfte Hunderte von größtenteils ungedruckten Briefen und Tausende von Monita und Vota umfassen. Dazu kommen Hunderte von literarischen Briefen in der NSuUB Göttingen und der UB Leipzig (u. a. auch in den Archivalien der beiden Deutschen Gesellschaften), und damit sind die Gelehrtenkorrespondenzen, die sich über ganz Europa erstreckten, noch gar nicht berührt. Briefe aus sechs Jahrzehnten. 1745–1800. Hrsg. von Carl Scherer. Berlin 1912. Der Herausgeber, Bibliothekar in Kassel, konnte krankheitsbedingt die Arbeit nicht zu Ende führen; die damals vom Verlag noch vorgelegten Seiten waren die bereits gesetzten Trümmer eines viel größer geplanten Unternehmens. Rainer Baasner: Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer (1719–1800). Tübingen 1991 (= Frühe Neuzeit. 5), S. 645–661. Auszüge aus dem Briefwechsel mit Boie und Lavater finden sich bereits in: Martin Sommerfeld: Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Aufklärung. Mit einem Anhang: Briefe aus Nicolais Nachlass. Halle 1921. Ich nenne hier noch Johann Jacob Ferber: Briefe an Nicolai. Hrsg. von Heinz Ischreyt. Herford u. Berlin 1974; Profile der Aufklärung. Friedrich Nicolai – Isaak Iselin. Briefwechsel (1767–1782). Hrsg. von Holger JacobFriesen. Basel 1997; Annette Antoine: Literarische Unternehmungen der Spätaufklärung. Bd. 2: Die Korrespondenz Müller und Nicolai. Würzburg 2001 (daraus schon zuvor Auszüge von derselben Verf.: Aus den Briefen von Johann Gottwerth Müller von Itzehoe an Friedrich Nicolai. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1997, S. 219–221); Sigrid Habersaat: Verteidigung der Aufklärung: Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. Friedrich Nicolai, in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann und Christian Friedrich von Blankenburg. 2 Bde. Würzburg 2001. Man vergleiche, was Dirk Sangmeister zu Stephan Füssels Repertorium über die Briefschaften des Verlags Göschen nachzutragen wusste: im Lichtenberg-Jahrbuch 1998, S. 383–388, hier bes. S. 385–388 (120 Addenda), und 1999, S. 291–296, hier bes. S. 294–296 (66 Addenda).

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achtet geblieben:29 Sein Briefwechsel mit seiner Schwester Ernestine und deren späterem Gemahl Johann Heinrich Voss (Krakau), die Briefe an seine Mutter und andere Familienmitglieder (Kiel), die an ihn von Christian Wilhelm Dohm (Krakau) sind oft von Gelehrten benutzt worden,30 werden aber leider auf ihre Veröffentlichung noch etwas warten müssen. Der Brautbriefwechsel mit Luise Mejer (in der Göttinger Bibliothek) hingegen ist endlich in Arbeit und wird in ein paar Jahren vorliegen.31 Vossens Briefe müssten ihm eigentlich gleich folgen (große z. T. ungedruckte Bestände in der BSB München). Zum Verständnis der norddeutschen Literaturbeziehungen unerlässlich wären noch die Briefe von Johann Georg Zimmermann an Johann Caspar Lavater,32 ferner die von Zimmermanns Parteigänger und Freund Heinrich Matthias Marcard in Hannover.33 Die in drei Jahrzehnten geschriebenen annähernd 2000 Briefe des Hannover’schen Hofrats Georg Brandes an seinen Schwiegersohn, den Klassischen Philologen und genialen Organisator der Göttinger Universität Christian Gottlob Heyne (in der Göttinger Bibliothek; die Gegenbriefe gibt es leider nicht mehr), wären ein unschätzbares Zeugnis der kulturellen Entwicklung und literarischen Rezeption innerhalb der norddeutschen Aufklärung zwischen 1770 und 1790.34 Über den Magister ubique Karl August Böttiger hat Dirk Sangmeister hier in Weimar vor nicht allzu langer Zeit geredet.35 Im Grenzgebiet zwischen Literatur- und Kunstgeschichte verdiente der Briefwechsel des unglaublich wirkungsmächtigen Ma29

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Karl Weinhold (Heinrich Christian Boie. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur. Halle 1868) hat zwar riesige Mengen an Briefexzerpten aus dem ihm zu Gebote stehenden Nachlass ausgezogen und mitgeteilt, aber naturgemäß alles aus dem Zusammenhang gerissen. – In Weinholds Nachlass im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften finden sich übrigens noch die Reste der Briefe an Boie, von denen wohl mehr als die Hälfte unpubliziert ist. Z. B. von Ernst Consentius für den Kommentar seiner Gottfried August Bürger-Ausgabe, 2. Aufl. Berlin u. a. 1914; von mir für mein Projekt „Lichtenberg im vertraulichen Urteil seiner Zeitgenossen“. Herausgeberin ist Regine Nörtemann, die mit ihrer schon erwähnten Arbeit zur Karschin (siehe Anm. 23) bereits Maßstäbe in der Briefedition gesetzt hat. In dessen Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich. Verstreut, zum Beispiel in der Kestner’schen Sammlung in der UB Leipzig oder im NicolaiNachlass (eingegangene Briefe) in Berlin. Vgl. Ferdinand Frensdorff: Georg Brandes, ein hannoverscher Beamter des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen. 76. Jg., 1911, S. 1–57; Gabriele Crusius: Briefe als Quellen der Privatbibliotheksgeschichte. Georg Friedrich Brandes und seine Bibliothek im Spiegel der Brandesschen Korrespondenz mit Christian Gottlob Heyne. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 10, H. 1, April 1985, S. 1–16; Dieselbe: Georg Friedrich Brandes und seine Bibliothek. Ein Beitrag zur Kultur- und Bildungsgeschichte des Hannoveraner Staatspatriziats im 18. Jahrhundert. In: Euphorion 80, 1986, S. 83–103; Dieselbe: Georg Friedrich Brandes und seine Bibliothek. In: Vorträge in der Landesbibliothek Oldenburg, 1991, S. 57–78. Einige Auszüge habe ich mitgeteilt: Lichtenberg im privaten Urteil seiner Zeitgenossen II. Aus den Korrespondenzen von Brandes (mit Heyne), Luise Mejer (mit Boie). In: Lichtenberg-Jahrbuch 1995, S. 265–279. – Was ich übrigens oben über Kästners Korrespondenzen gesagt habe, gilt sinngemäß auch für Heynes eigene Briefschaften, die ebenfalls noch der Publikation harren. Vgl. Dirk Sangmeister: Der federflinke Carl August Böttiger in und über Weimar. In: Manuskripte 4, 2011, S. 51–77. Die Briefe an B. in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden.

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lers, Zeichners, vor allem aber Kupferstechers und Buchillustrators Daniel Chodowiecki nach hundert Jahren endlich zum Abschluss gebracht zu werden: Die Kunsthistorikerin Charlotte Steinbrucker hatte ihn in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gesammelt und mit seiner Drucklegung in den Kriegsjahren begonnen. Der einzige (erste) der auf drei Bände berechneten Edition erschien aber erst 1919, noch mit dem Stempel der Leipziger Kriegszensurbehörde.36 Nach der Inflation, der diese Edition dann zum Opfer fiel, brachte Steinbrucker noch in anderen Verlagen in sich geschlossene Korrespondenzen37 heraus – und übergab kurz vor ihrem Tod eine Durchschrift des ursprünglichen vollständigen Manuskripts dem (heute mit dem Märkischen Museum zusammengeführten) BerlinMuseum, die ich circa 1980 dort einsehen konnte. Es wäre an der Zeit, diese Edition endlich zu vollenden. Derlei Quellenpublikationen sind würdige Gegenstände unserer Bemühungen und der Förderprogramme unserer Stiftungen und Drittmittelgeber. Was wir offensichtlich auch brauchen, ist eine Kommunikation über Wünschenswertes, Begonnenes und Vollendetes, um Doppelarbeit zu verhindern und Synergien herzustellen. Es kann nicht angehen, dass bei der Masse des noch zu Leistenden konkurrierende Forscher auf denselben Gebieten arbeiten. Wäre es denn so absurd, wenn sich die Drittmittelgeber und Förderer zusammenschlössen und, etwa mit der Hilfe der Arbeitsgemeinschaft der Editionen, eine Kommission etablierten, die aktiv die Förderung solcher Unternehmungen anregte und begleitete?

3. Einige Probleme, Lösungsvorschläge und Aussichten Was wir bereits auf dem Feld der Brieferschließung und Briefedition erreicht haben, ist damit einstweilen geklärt, und ich habe auch schon begonnen, die nächste Frage zu beantworten: Was wollen, was können wir noch erreichen? Wo bieten uns die modernen Entwicklungen Erleichterungen unserer Arbeit? Wo werden unseren Bemühungen auf dem Weg dahin alte und neue Grenzen gesetzt? Wie können wir sie überschreiten? Da sind zunächst die Chancen in einer politisch gewandelten Welt: Brachte schon vor über zwei Jahrzehnten die Öffnung der innerdeutschen Grenze völlig neue Forschungsmöglichkeiten und Arbeitsfelder durch den erleichterten Zugang zu bis dahin verschütteten Quellen, so gab in den folgenden Jahren die Öffnung Osteuropas einen weiteren Schub: Endlich war es nahezu problemlos möglich, die deutschsprachigen Bestände der polnischen und baltischen Biblio36

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Briefwechsel zwischen ihm und seinen Zeitgenossen. Bd. 1: 1736–1786. Berlin 1919: erschienen im Verlag Duncker. Briefe Daniel Chodowieckis an Anton Graff. Berlin [u. a 1921]: erschienen im Verlag de Gruyter; Briefe Daniel Chodowieckis an die Gräfin Christiane von Solms-Laubach. Strassburg 1927: erschienen im Verlag Heitz.

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theken zu erreichen. Leider fehlen noch immer Hinweise auf die in Russland verschollenen Schätze, die die sogenannte Trophäenkommission am Ende des Zweiten Weltkriegs abtransportierte. So sind noch immer zwei Drittel der Sammlung Robert Lessing unauffindbar: Von circa 6000 Autographen, größtenteils Briefen, die nur zum Teil publiziert waren, gibt nur mehr der gedruckte Katalog der Sammlung Zeugnis.38 Beinahe wichtiger und wirkungsmächtiger sind die Chancen, die das digitale Zeitalter uns eröffnet: Wir brauchen statt vieler und zumal oft „wilder“ Websites Briefdatenbanken, die die Bestände auf wenigstens nationaler, vielleicht deutschsprachiger, besser sogar europäischer Ebene vereinigen. Am leichtesten noch dürfte es mit den öffentlichen Beständen der Autographen sein: Vor einigen Jahrzehnten bereits wurde die große Datenbank Kalliope in Fortsetzung der 1966 gegründeten Zentralkartei der Autographen (ZKA) an der Berliner Staatsbibliothek entwickelt. Sie kann natürlich nicht besser sein als das, was dorthin gemeldet wird. Sie müsste aber noch intensiver gepflegt werden: Die in vielen deutschen Bibliotheken vorhandenen Korrekturexemplare zu Katalogen müssten eingearbeitet werden,39 die Bibliotheken selber angeregt werden, ihre Daten gründlicher und genauer zu melden, alte Karteien und maschinenschriftliche Verzeichnisse mit Spezialbeständen dort einzuarbeiten beziehungsweise den Vorgaben anzupassen. M. W. sind bis heute die Zettel der kurz nach der ZKA gegründeten, inzwischen abgebrochenen „Zentralkartei der Autographen in Antiquariatskatalogen“ noch nicht in eine elektronische Datei eingegangen; weiterhin müssen Briefeditoren verzweifelt und unsystematisch die langen Reihen der Autographenkataloge nach den oft wichtigen Teilpublikationen und -faksimiles, die dort versteckt publiziert sind, durchforsten. Biographica: Die Schnittmengen bei dem „Personal“ unserer vielen fertigen und im Entstehen begriffenen Ausgaben ist außerordentlich groß – warum gibt es immer noch keine Personal-Datenbank für die Goethezeit? Sinnvoll scheint mir hier die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft, die im Rahmen einer Institution wie dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar eine solche Datenbank der Personen herstellt. Lexikalisches: Bei den Sprachlexika hat das große Trierer Wörterbuchprojekt (Andrea Rapp u. a.) schon die wesentlichen Vorarbeiten geleistet, im Internet herrscht aber sonst noch manches Durcheinander. Grimm und Adelung sind sogar auf DVD erhältlich. Bei den Realwörterbüchern sieht es auch nicht schlecht aus, aber auch nicht gut: Zedler und Krünitz, die großen Enzyklopädien 38

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Carl Robert Lessings Bücher- und Handschriftensammlung, hrsg. von Gotthold Lessing. Bd. 1–3. Berlin 1914–1916. Dieser Katalog ist daher auch nicht in die Datenbank Kalliope eingearbeitet. So besitzt – zum Beispiel – die Göttinger NSuUB ein durchschossenes Arbeitsexemplar von Wilhelm Meyers Katalog (Verzeichnis der Handschriften im preußischen Staate 1,1–3: Die Handschriften in Göttingen. Berlin 1893–1894) mit zahllosen Nachträgen und Korrekturen gerade im Bereich der Autographen des 18. Jahrhunderts.

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des deutschen 18. Jahrhunderts, stehen im Netz bereit, aber in zum Teil katastrophal schlecht lesbaren Scans, man scrollt sich tot, und ich ziehe das Buch weiterhin vor. Google Books hat mittlerweile vorzügliche Suchfunktionen entwickelt, die unbekanntes und nützliches Belegmaterial zu greifen ermöglichen. Aber man täusche sich da nicht darüber, wieweit dieses Material wirklich repräsentativ ist. Nach vorsichtigen Schätzungen sind gerade einmal zwischen vier und siebzehn Prozent aller Bücher im Internet erreichbar, und diese zudem noch disproportional verteilt nach solchen Zufälligkeiten wie: Welche Bibliothek gewährte Google den Zugang zu ihren Beständen, welche Bücher ließen sich typographisch leichter erfassen usw. Es steht zudem zu befürchten, dass das Netz sich in Zukunft immer weiter kommerzialisieren wird, mit allen denkbaren Konsequenzen bis hin zur völligen Spaltung ähnlich der bei den Fernsehkanälen. Eine gewaltige Chance bietet das elektronische Medium für Textrevision und Zeugenverlinkung: In absehbarer Zeit werden die meisten Drucke des 18. und 19. Jahrhunderts im Netz verfügbar sein, bald danach vielleicht auch die Autographenbestände zumindest der großen Bibliotheken. Wenn es wirklich einmal so weit kommen sollte, werden sich wunderbar die edierten Texte mit den Zeugen verknüpfen und überprüfen lassen. Es ließen sich wohl gar Diskussionsforen mit Verbesserungsvorschlägen einrichten. Hier liegt die Problematik wesentlich darin, dass derlei Foren ständiger Pflege und Kontrolle bedürfen. Ferner wird das Internet wesentliche und teure klassische Publikationsformen überflüssig machen, sosehr ich das auch selber bedaure: Dort wäre es möglich, Arbeiten vollständiger zu präsentieren, die auf dem Papier, im gedruckten Buch, nur in ausgewählten Teilen geboten werden können. Dies ist somit nur die konsequente Verwirklichung dessen, was einst Klaus Kanzog als „Archivausgabe“ (die Niederlegung einer Edition in wenigen maschinenschriftlichen Exemplaren in den Literaturarchiven) vorschlug.40 Nur ist das eben im Internet viel besser möglich und lässt sich sogar dynamisch weiterentwickeln und vervollkommnen, ja sogar im Dialog. Regest-Ausgaben, deren Sinn ich nur als Findemittel und aus der Not der Buchherstellungskosten eingesehen habe, ließen sich dann neben den gedruckten Ausgaben als Volltexte im Internet präsentieren. Nebenbei möchte ich anregen, dass die drei großen Literaturarchive – oder wenigstens eins von ihnen, falls nicht längst geschehen – ihre Pforten öffnen für eine Abteilung Editionsarchiv. Denn derlei digitale Sammlungen brauchen regelmäßige Pflege. Die aber setzt Personalkontinuität und sowohl literaturwissenschaftlichen Sachverstand als auch Kenntnisse der Informatik voraus. Kooperationen mit internationalen Unternehmungen wie TextGrid sind unbedingt wünschenswert. Vielleicht wäre es sogar sinnvoll, langfristig ein Max-PlanckInstitut für Textwissenschaften anzustreben. Das ist zwar vor 40 Jahren, als sogar 40

Klaus Kanzog: Fixierter Text – realisierter Text. Über eine vernachlässigte Aufgabe der Editionsphilologie. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991 (= Beihefte zu editio 2), S. 5–16.

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noch das Geld dafür vorhanden war, am zum Teil berechtigten Widerstand gegen allzu großes Spezialistentum gescheitert. Heute wäre wohl die Einsicht in den Sinn des Unternehmens vorhanden, die Aussicht zur Verwirklichung aber eher noch schlechter. Einige Schwierigkeiten habe ich schon benannt. Es gibt aber noch mehr davon: Die Schwierigkeiten der Vereinheitlichung. Als vor 35 Jahren Siegfried Scheibe auf allen editorischen Kolloquien und textwissenschaftlichen Kongressen die Stimme erhob, um für sein Konzept einer Vereinheitlichung editorischer Zeichen und Verfahren zu werben,41 da erntete er allerhand Reaktionen von entschiedener Ablehnung über völliges Unverständnis (dies insbesondere bei unsern amerikanischen Kollegen), Kopfschütteln und Staunen bis hin zu flammender Zustimmung, letztere freilich unter der Voraussetzung, dass jeweils das Konzept des Zustimmenden zugrunde gelegt werde. Verändert hat sich freilich gar nichts. Diese Episode aus der jüngeren Geschichte unserer Disziplin zeigt nur, gerade in der Grandiosität des Scheiterns von Scheibes Vorschlägen, dass selbst bei vorhandenem Problembewusstsein eine solche angestrebte Gleichförmigkeit eine Schimäre bleiben muss, sowohl wegen der Unterschiedlichkeit der Gegenstände als auch wegen der Individualität der Gelehrten. Aber die Sachzwänge werden die Diskussion fortsetzen lassen, denn solche Gleichförmigkeit ist die Voraussetzung für große gemeinsame Konzepte wie Internet-Portale oder vernünftig gesteuerte Forschungen. Daher brauchen wir den Minimalkonsensus. Es war ja keineswegs völlig falsch, was Scheibe seinerzeit angestrebt hatte, ja sogar damals schon vielfältig wünschenswert – im digitalen Zeitalter aber sind gewisse Annäherungen unabdingbare Voraussetzungen für gemeinsame Projekte. Erwähnt werden müssen bei aller Euphorie über den Computer die Unsicherheiten der digitalen Systeme: Es hat nicht einmal etwas Sterndeuterisches, ist nur simpelste Extrapolation, wenn ich behaupte, dass sich die Systeme in den nächsten Jahren und Jahrzehnten rasant weiterentwickeln und dadurch viele allzu speziell verarbeitete Texte auf der Strecke der papiernen Überlieferung bleiben werden. Es benutzt ja auch heute niemand mehr Hollerith-Lochkarten oder OCR-Bögen. Wie diese Entwicklung verlaufen wird, ist freilich vollkommen unabsehbar, aber es ergibt sich daraus auch eine Forderung an die Digitalisierer: nach maximaler Transparenz nämlich. Wir reden von Quellen, die 250 Jahre lang unerschlossen in Archiven und Bibliotheken schlummerten – sollen sie in 25 Jahren schon wieder nicht mehr „datenlesbar“ sein, wie alle meine weniger alten Disketten, wenn ich sie nicht in regelmäßigen Abständen mit schier unglaublichem Zeitaufwand transformiert hätte? 41

Siegfried Scheibe: Einige grundsätzliche Vorüberlegungen zur Vereinheitlichung von Editionen. In: Edition et manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Jahrbuch für internationale Germanistik, 1987, Reihe A, Bd. 7, S. 177–185.

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Das zentrale Problem solcher Publikationsformen ist aber wesentlich urheberrechtlicher Art: Wer seine Arbeit in dieser Weise veröffentlicht, verzichtet vorläufig auf jedes individuelle Nutzungsrecht. Dieser Sachverhalt wird augenblicklich von den großen Stifterverbänden intensiv diskutiert, und mit einiger Berechtigung weisen diese auf den Umstand hin, dass alle geförderten Mitarbeiter unmöglich ein solches Nutzungsrecht für die aus öffentlichen Mitteln bezahlten Arbeiten für sich reklamieren können. Damit wird übrigens nicht einmal ihr Urheberrecht im engeren Sinn in Frage gestellt. Das Problem wird sich, erweitert auf das Verlagsrecht und zudem rückwirkend, nicht generell lösen lassen: Wie um alles in der Welt sollen wir die großen Wissenschaftsverlage dazu bewegen, ihre Ausgaben in frei zugängliche Datenbanken zu stellen, selbst wenn sie öffentlich verwaltet werden? Auch wenn sich wirklich kein Cent mehr aus dem Verkauf pressen lassen könnte: Die Rechte an den alten Publikationen sind Kapital der Verlage, bestimmen ihren Marktwert, und kein Verlag wird eher davon lassen, als bis die vorgeschriebenen Jahrzehnte verstrichen und damit die Texte gemeinfrei geworden sind oder alternative Vergütungsformen wie eine Gema oder eine VG-Wort für das Internet greifen. Für die Zukunft, beim Beginn neuer editorischer Unternehmungen, ist eine vertragliche Verabredung mit den Verlagen in dieser Frage unabdingbar, denn unsere gesamte editorische Arbeit ist ohne öffentliche Förderung nicht denkbar, und niemand könnte, wie noch vor einem Jahrhundert, vom gewerbsmäßigen Edieren etwa von Korrespondenzen der Goethezeit, der Romantik oder der klassischen Moderne leben. Im Gegenteil: Fast alle geisteswissenschaftlichen Verlage können vielleicht Ruhm ernten durch derlei Editionen, niemals aber Gewinn. Von meiner Lichtenberg-Briefedition bei C. H. Beck in München sind bis heute, fast 30 Jahre nach Erscheinen des ersten und sieben nach dem des letzten Bandes, mal eben zwei Drittel bis drei Viertel der 1200 gedruckten Exemplare verkauft – vom Registerband keine 350 Exemplare. Die neue Edition der naturwissenschaftlichen Werke Lichtenbergs hat bis jetzt rund 300 Stück abgesetzt. Solche Ausgaben werden vorfinanziert und ermöglichen es den dienstleistenden Abteilungen der Verlage, nicht diesen selbst, zu überleben. Allerdings: wir brauchen eben auch die Verlage, wenn wir uns nicht restlos vom wissenschaftlichen Buch zwischen zwei Deckeln verabschieden wollen – leben und leben lassen. Man wird daher bei solchen Vertragsabschlüssen eine angemessene Verkaufsphase von ein bis drei Jahren, in denen die Ergebnisse unserer Arbeit noch nicht online gestellt werden, dem betreffenden Verlag vertraglich zubilligen müssen. Nicht unerwähnt bleiben dürfen unter den Forschungshemmnissen persönlicher Starrsinn und Eitelkeiten. Darüber bräuchten wir eigentlich gar nicht zu reden, jeder von Ihnen kennt Beispiele, ich nenne nur die Auseinandersetzungen um Büchner, Hölderlin, Kafka und Kleist. Derlei Eitelkeiten haben wiederholt sinnlose Konkurrenzsituationen geschaffen und damit aussichtsreiche Projektförderung, etwa durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, einfach abge-

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würgt. Konkurrenz mag ja das Geschäft beleben, in unserer Wissenschaft sollte man jedoch auf Synergien setzen. Dann ist da noch die mangelhafte Schulung: Das landläufige GermanistikStudium qualifiziert schon seit 40 Jahren nicht mehr zum Editor. Ich selber habe die Grundbegriffe des Edierens im Studium bei den Historikern und den germanistischen Mediävisten gelernt, dann aus der Praxis heraus oder im mündlichen und schriftlichen Kollegengespräch – und habe bereits seit drei Jahrzehnten alle meine studentischen Hilfskräfte entweder selber ausgebildet oder bei den Historikern und Theologen angeworben. Der Versuch, an einigen Universitäten Studiengänge der Editionsphilologie zu etablieren, ist zwar keineswegs geradezu gescheitert: Die Studentenzahlen deuten auf Interesse, vielleicht sogar Bedarf hin. Aber die Schließungen oder Rücknahmen solcher Studiengänge, etwa bei Personalwechsel und Wiederbesetzung von Professuren, zeigen doch, dass das Konzept weit von dem erwarteten Erfolg entfernt geblieben ist. Meine Forderung, die ich aus dieser Situation ableiten würde, lautet daher schlicht: Wir brauchen Spezialseminare, etwa Summerschools nach amerikanischem Vorbilde, um die vorhandenen Kenntnisse und die verschiedenen Fertigkeiten nachhaltig im Generationendurchgang weiterreichen zu können und sie zugleich weiter zu perfektionieren, mithin sie regelmäßig zu trainieren. Grundlegend nenne ich hier zunächst Paläographie, dann alles, was die materiale Seite der Überlieferung, die technische Seite vom Briefschreiben ausmacht: Papier-42 und Wasserzeichenkunde,43 Sphregistik44 und Postgeschichte (allein um die komplizierten Laufrouten von Briefen und die seltsamen Bemerkungen auf den Adressseiten zu begreifen);45 Buch- und Bibliothekskunde, Druck- und Verlagsgeschichte; ferner briefspezifische Chronologie zur Lösung von Datierungsschwierigkeiten und zur Ermittlung von Fälschungen – und so weiter und so fort fast durch alle historischen Hilfswissenschaften hindurch. Und heute tritt naturgemäß noch der große Bereich der Elektronik hinzu: neue Techniken im Programmieren etwa. 42

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Für einen mit den spezifischen Papiersorten etwa des 18. Jahrhunderts Vertrauten ist es nicht schwer, etwa ein Faksimile des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts oder eine Fälschung sofort zu erkennen, auf die ein Laie unbedingt hereinfallen würde. – Hierzu wird man noch die Kodikologie schlagen, wiewohl natürlich Briefe höchstens archivalisch geheftet und in Bänden zusammengefasst wurden. Zur Datierung muss sie schon gelegentlich herangezogen werden. Ich habe einige Male einen Terminus ante quem non mit einem Wasserzeichen festlegen können (bei einem Terminus post quem non ist es naturgemäß schwieriger, insofern als Papiere oft erst Monate oder Jahre nach ihrem Kauf verwendet werden und wurden). Zugegeben: die mittelalterliche Siegelkunde ist himmelweit von den Briefverschlüssen des 17.– 19. Jahrhunderts mit Siegellack und Petschaften entfernt. Trotzdem müssen derlei kulturhistorische Details geklärt werden, wie Siegellackfarbe (meist Rot; Schwarz als Trauerfarbe), Wappenformen im adligen und bürgerlichen Bereich, Oblatenverschlüsse usw. Wer weiß denn z. B. heute noch ohne einschlägige Schulung den Unterschied zwischen Porto und Franco? Was heißt im 18. Jahrhundert „frey bis ...“? (Übrigens: Bezahlung durch den Empfänger bzw. den Absender.) – Wie schnell konnte ein Brief eine gewisse Strecke zurücklegen? (Übrigens: max. 70 km pro Tag.) – Was kostete der Transport? (jeweils sehr unterschiedlich) – usw.

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Ulrich Joost

Solche Kurse wären zu gliedern nach Anfängern und Fortgeschrittenen: einfach, um viele der in der Praxis erworbenen Tricks und Kunstgriffe und die nötigen Kenntnisse nicht untergehen zu lassen. Ich habe zum Teil von älteren Kollegen im Gespräch am Rande von Kolloquien und Kongressen oder bei der zufällig gemeinsamen Arbeit in den Handschriftenlesesälen allerlei Tricks gelernt, die in keinem Buch, vor allem in keiner Einführung standen oder stehen. Ein paar davon habe ich in meinen eigenen Arbeiten zu spezifischen Editionsproblemen wohl eher versteckt als veröffentlicht. Es gibt ja auch meines Wissens bis heute keine germanistische Gesamtdarstellung der frühneuzeitlichen Paläographie, wie wir das in der Mediävistik haben.46 Der Anfänger muss sich seine Information bei den Archivaren und – horribile dictu – oft bei den Genealogen beschaffen,47 muss, wenn er nicht das Glück hat, von einem erfahreneren Editor angeleitet zu werden, sich mühsam aus den editorischen Rechenschaftsberichten der großen Ausgaben und aus den wenigen vorhandenen Spezialstudien autodidaktisch das nötige Rüstzeug der eigenen Arbeit erwerben. Als eine Folge von derlei Autodidaktik grassiert zum Beispiel über bestimmte typo- und paläographische Tatbestände selbst bei schon durch Editionen ausgewiesenen Kollegen ganz erhebliche nicht bloß terminologische Ahnungslosigkeit,48 und dadurch entstehen nicht selten haarsträubende Missverständnisse und Fehlgriffe.49 Man muss nicht jedes Mal das Fahrrad neu erfinden, um dann doch zu sehen, dass es zwei Räder und eine Kette zur Krafttransmission hat. Man muss es aber erklären können, damit die nächste Generation diese Technik noch versteht. Und als Letztes, aber nicht zuletzt, erwähne ich noch das liebe Geld: ein leidiges Thema. Aber eine moderne Edition, geschaffen nach den Maßstäben unserer Wissenschaft, die sich gegen ein schwindendes Allgemeinwissen stemmt, lässt sich nicht mehr von Einzelnen bewältigen und fast niemals ohne Druckkostenzuschüsse herausbringen. Auch hierüber kann ich jetzt nicht eingehender reden. Wichtig aber scheinen mir doch diese Hinweise zu sein: 1) Die Antragsfristen sind viel zu lang, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Union der Akademien viel zu wenig flexibel. 2) Die Projektarbeit überhaupt, mithin auch die editorische, wird gemeinhin nicht als der Hochschulkarriere förderlich, ja nicht einmal für sie qualifizierend angesehen. Das führt junge 46

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Vgl. Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 1979. Paul Gruns „Leseschlüssel zu unserer alten Schrift“ und sein „Schlüssel zu alten und neuen Abkürzungen“ sind zwar nun schon 70 Jahre alt, aber inzwischen wieder lieferbar (Limburg 2002). Neulich las ich, dass Thomas Mann Sütterlin geschrieben habe: Das hätte er vor seinem vierzigsten Lebensjahr schwerlich vermocht. Ich nenne hier nur als Beispiele für viele andere Phänomene fehlgeleiteter und dadurch wiederum fehlleitender Nachbildungen: aus der Handschrift: das handschriftliche kleine Ypsilon, wiedergegeben mit einem Tremazeichen; aus der Frakturtype: die Virgel (bis ca. 1740; in der Antiqua = in etwa ein Komma) oder das E-suprascriptum (bis ca. 1840; in der Antiqua = Umlaut-Tüpfeloder Strichelchen).

„Chatoullen ..., welche den vertrauten Briefwechsel ... enthielten“

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Leute oft in eine Sackgasse ihrer Laufbahn, wenn sie sich über die Promotion hinaus an einer solchen Arbeit beteiligen möchten. Die starre, aber eben politisch gewollte Zeitbeschränkung der Mitarbeiterstellen droht die Erfahrungskontinuität zu unterbrechen. Es muss eben doch eine gewisse Anzahl von Dauerstellen geben, die diese garantieren – am besten in der sinnvollen Vereinigung von Forschung und Lehre in Gestalt von Professuren für Editionswissenschaften. Wir stehen ohne Frage an einer Wegscheide der wissenschaftlichen Arbeit bei der Planung und Präsentation künftiger Forschungsergebnisse, und das hat auch Konsequenzen für die Organisation unserer Forschung selber. Vielleicht können wir – gestatten Sie mir einmal ganz viel etwas unbegründeten Optimismus – mit dem, was unsere Diskussionen hier anregen werden, künftige Wissenschaftspolitik sogar ein bisschen beeinflussen. Vielleicht – lassen sie mich auch ein bisschen träumen – geht von unserer Tagung am Ende ein Appell aus an Bibliotheken, Verleger, Akademien, Arbeitsstellen und Einzeleditoren, ein paar von den eben vorgetragenen Desiderata aufzugreifen, die skizzierten Chancen wahrzunehmen und das, was ich bis jetzt nur eben noch für eine Möglichkeit gehalten habe, zu verwirklichen.

Jutta Weber Briefnachlässe auf dem Wege zur elektronischen Publikation. Stationen neuer Beziehungen

Als vor über 100 Jahren Wilhelm Dilthey seinen Aufruf zur Gründung von Literaturarchiven verfasste, nannte er auch einen Grund, der die Bedeutung der Literaturarchive über ihre Funktion als Kultur bewahrende Institutionen hinaus wegweisend in die Wahrnehmung einer weiteren Aufgabe führen sollte: „Was wohlgeordnete Sammlungen des Nachlasses von Schriftstellern der literarhistorischen Wissenschaft einmal werden leisten können, zu welchen neuen Methoden sie einst anregen und befähigen werden: das läßt sich von unserem Standorte aus noch gar nicht ermessen.“1 Wie allgemein bekannt, entwickelte sich alsbald nicht nur eine rege Sammeltätigkeit von Nachlässen in vielen Bibliotheken und Archiven des neu gegründeten Deutschen Reiches, auch zahlreiche Editionen nahmen ihren Anfang gerade in diesen neu errichteten Institutionen: Bibliotheken, Archive, Akademien stellten unpublizierte Materialien aus den Nachlässen der berühmtesten deutschen Literaten und Wissenschaftler für Editionsvorhaben zur Verfügung. Einige, wie das 1885 gegründete Goethe- und Schiller-Archiv, das sich auf seiner Webseite selbst als „das älteste und traditionsreichste deutsche Literaturarchiv“2 bezeichnet, wurden selbst zur Arbeitsstelle, an der Editionen erfolgreich vorbereitet und publiziert wurden. Seit dem 19. Jahrhundert ist eine Zunahme der Arbeit auch mit ,modernem‘ Quellenmaterial in den Geisteswissenschaften zu beobachten. Neben der Aufbereitung der Textcorpora antiker und mittelalterlicher Autoren rückten, am Vorbild der Lachmannschen Antikeneditionen orientiert, Editionen der ,großen‘ deutschen Dichter und Denker in den Blickpunkt der bereits seit gut einem halben Jahrhundert florierenden Philologien.3 In den Bibliotheken verhinderte jedoch entgegen dem immer lauter vorgetragenen Wunsch nach einer Gesamtkatalogisierung der Handschriften das Fehlen einheitlicher Katalogisierungsregeln für neuere Handschriften Suchmöglichkeiten nach bestimmten Nachlässen. „Wenn auch die neueren Handschriften in die Gesamtverzeichnung einbezogen werden, würde die Suche nach bestimmten 1 2 3

Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur. In: Deutsche Rundschau 58, 1889, S. 365. http://www.klassik-stiftung.de/index.php?id=231. Vgl. dazu Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 30ff.

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Nachlässen, die Suche nach den Originalen gelehrter Arbeiten, wie auch nach dem Briefwechsel bedeutsamer Persönlichkeiten, für Gelehrte und Bibliotheken wesentlich erleichtert.“4 In den 1930er Jahren wurde diese Ansicht durchaus nicht von jedem geteilt, wie eine Bemerkung des Direktors der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek Hermann Degering im Handbuch der Bibliothekswissenschaft zeigt: „Die Katalogisierung der Autographen ist eine so einfache Sache, daß wir darüber mit wenigen Worten hinweggehen können.“5 Die von Dilthey gewünschte Symbiose zwischen Bibliothekaren/Archivaren und wissenschaftlichen Nutzern der von ihnen bewahrten Materialien fand also noch nicht statt, auf Seiten der Bibliothek wurde die Arbeit mit Nachlässen offensichtlich auch gar nicht als wesentlich erachtet. Was Wunder, dass sich in beiden Lagern – Bibliotheken und Archive einerseits und Editoren andererseits – Traditionen verfestigten, die nicht gerade dazu angetan waren, das gegenseitige Verstehen dessen, wie man das Material ,veröffentlichte‘, zu befördern. Besonders hinderlich war und blieb, dass Bibliotheken und Archive selbst wieder zwei nicht miteinander kommunizierende Lager bildeten. Während in Bibliotheken, angelehnt an die Praxis des Katalogisierens von Monographien, in Zettelkatalogen eine kurze formale Verzeichnung jedes einzelnen in einem Nachlass enthaltenen Stückes – sei es Manuskript, Brief, Dokument oder gesammeltes Objekt – erfolgte, konzentrierte man sich in Archiven darauf, entsprechend der Behandlung von Verwaltungsakten auch Nachlässe nach einem Aktenplan in Kategorien des „Betreffs“ zu gliedern und die so erfolgte sachliche Zuordnung der Materialien als Zusammenhang zu beschreiben, mit gelegentlichen Hinweisen auf besonders erwähnenswerte Einzelstücke. Während in der bibliothekarischen Verzeichnung die Darstellung des Zusammenhangs vernachlässigt wurde, z. B. die thematische Zusammengehörigkeit einer langjährigen Korrespondenz, bot die archivarische Erschließung keinen Sucheinstieg für gezielte Fragen, z. B. dem Datum eines bestimmten Briefes. Eine besondere Würze war natürlich in dem durch föderale Strukturen geprägten Deutschland dadurch gegeben, dass die Zuständigkeit, der Sammelauftrag in keiner Weise transparent war: Jedes Land, jede Stadt, jede Universität, kurz jede Einrichtung sammelte und verzeichnete nach eigenem Wissen und Können das Material, dessen Auswertung nun wiederum in zahlreichen kleineren bis allumfassenden Editionsvorhaben begonnen wurde. Editionsvorhaben mussten die Gegebenheiten nehmen, wie sie waren: Gerade die Bearbeiter von Briefeditionen waren, besonders in Archiven, auf die Unter4

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Heinrich Schreiber: Bibliothekarische Aufgaben zur Handschriftenerschließung. In: Historische Vierteljahresschrift 29, 1935, S. 25, zitiert nach: Ewald Grothe: Kooperative Erschließung von Handschriften und Nachlässen. Teil 1: „Ein unverkennbares Bedürfniß der Wissenschaft“. Projekte in deutschen Bibliotheken zwischen 1885 und 1945. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 53, 2006, S. 240. Handbuch der Bibliothekswissenschaften, Bd. 2, S. 472.

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stützung des Archivpersonals angewiesen. Auch das Verzeichnis von Wilhelm Frels zu den Deutschen Dichter-Handschriften von 1400 bis 19006 konnte nur die Spitze des in Bibliotheken und Archiven schlummernden Nachlassmaterials auffindbar machen. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach Zerstörung und Verlagerung der Bestände, und auch veranlasst durch die zunehmende Internationalisierung von Editionsprojekten die Zeit für eine Bestandsaufnahme in beiden deutschen Staaten reif war, erhielt die Forschung in der Deutschen Demokratischen Republik durch die gedruckten, von der Deutschen Staatsbibliothek herausgegebenen Verzeichnisse der Gelehrten- und Schriftstellernachlässe in den Bibliotheken der Deutschen Demokratischen Republik7 eine Möglichkeit, sich im Wald der Nachlässe besitzenden Einrichtungen zu orientieren. Etwas später erschienen, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in der Bundesrepublik Deutschland zwei Verzeichnisse zu den Nachlässen in Archiven und Bibliotheken.8 Zusätzlich wurde hier mit der Zentralkartei der Autographen in der damaligen Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz ein zentraler Zettelkatalog mit Nachweisen zu Nachlassinhalten aufgebaut. Durch die bibliothekarische Verzeichnungstradition war es möglich, vor allem Briefnachweise mit Angaben zu den beteiligten Personen, zu Orten, Daten und Umfang, geordnet nach Verfassern und Adressaten, in der Zentralkartei auffindbar zu machen. Dieser Zettelkatalog, dem bis 1985 über 1 Million Nachweise aus Bibliotheken und auch einzelnen Archiven der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen waren, wurde nach der Wende zusammen mit den o.g. Verzeichnissen aus beiden deutschen Staaten in der Datenbank Kalliope9 elektronisch aufbereitet und ist inzwischen auf über 1,6 Millionen Nachweise aus über 500 Einrichtungen in Deutschland angewachsen. Mit dem Aufbau dieser Datenbank Kalliope hat eine andere bibliothekarische Stärke hier triumphal Einzug halten können: Die Verwendung von Normdaten zu Personen10 und Institutionen11 hat hier richtungweisend Möglichkeiten der internen Verlinkung von Datensätzen zu Briefen oder Manuskripten eröffnet, die nun auch außerhalb der engen Umgebung von Kalliope oder anderer einzelner Datenbanken Gesamtzusammenhänge herzustellen in der Lage sind. Über die Normdaten PND und GKD, seit kurzem zusammen als GND12 angeboten, werden alle deutschen Bibliotheksverbünde 6

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Wilhelm Frels: Deutsche Dichter-Handschriften von 1400 bis 1900. Gesamtkatalog der eigenhändigen Handschriften deutscher Dichter in den Bibliotheken und Archiven Deutschlands, Österreichs und der CSR. Leipzig 1934. Gelehrten- und Schriftstellernachlässe in den Bibliotheken der Deutschen Demokratischen Republik. Teil 1–3. Berlin 1959–1971. Wolfgang Mommsen: Die Nachlässe in den deutschen Archiven. Teil I: Boppard 1971, Teil II: Boppard 1981; Ludwig Denecke und Tilo Brandis: Die Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland. Boppard 1969 (1. Aufl.), Boppard 1981 (2. Aufl.). http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/. http://www.dnb.de/DE/Standardisierung/Normdaten/PND/pnd node.html. http://www.dnb.de/DE/Standardisierung/Normdaten/GKD/gkd node.html. http://www.dnb.de/DE/Standardisierung/Normdaten/GND/gnd node.html.

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aufeinander beziehbar, in VIAF13 werden die deutschen Normdaten mit denen der USA und Frankreichs zusammengeführt. Die Verzeichnung von Nachlässen hat also in Kalliope durch die Verwendung von Normdaten eine mit internationalen Standards kooperierende Grundlage, die gleichzeitig gestützt wird durch die strikte Befolgung des Regelwerks RNA14, das eben die Verwendung von Normdaten bei der Verzeichnung von Nachlässen oder einzelnen Autographen vorschreibt. Editionsunternehmungen haben natürlich eine ganz andere Tradition: Koryphäen des Fachs, Spezialisten zu Leben und Werk bedeutender Dichter, Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler oder andere Persönlichkeiten von öffentlichem Interesse haben seit Jahrhunderten das unangefochtene Privileg, als Herausgeber von Korrespondenzen und Werken richtungweisende Ausgaben zu erarbeiten. Hier hat auch der Einzug der elektronischen Datenverarbeitung noch nicht so viel geändert. Wissenschaftspolitisch sind die Weichen zwar seit einiger Zeit in Richtung auf vermehrtes elektronisches Publizieren gestellt, die Wirklichkeit sieht allerdings fast unverändert aus: Während bei den weiter im Druck erscheinenden Editionen unvermindert nach jeweils für das Projekt festgelegten Editionsrichtlinien gearbeitet wird, auch wenn diese Editionen nachträglich oder teilweise sogar gleichzeitig auf elektronischen Plattformen angeboten werden, stehen von vorneherein als elektronische Editionen geplante Vorhaben jetzt vor einer neuen Situation. Waren es vorher Herausgeber und Verlage, die sich in interner Abstimmung über einzuhaltende Standards, etwa beim Register, oder auch über die nötige Publicity verständigten, so sieht die Situation für die genuin elektronischen Publikationen anders aus: Hier ist jeder Herausgeber sein eigener Datenbankprogrammierer, hier hilft kein Verlag bei der Gestaltung des Layouts, hier findet keine professionelle Vermarktung mehr statt. ,Nur was im Internet ist, ist in der Welt‘ gilt nun zwar, aber da immer mehr und zunehmend zu viel in der Welt ist, wird das Erkennen qualitätvoller Arbeit in steigendem Maße schwierig, die Internetpräsenz geisteswissenschaftlicher Ergebnisse wird immer schlechter wahrnehmbar. An dieser Stelle macht es Sinn, sich einmal klarzumachen, welche Mitspieler eigentlich am Zustandekommen einer Edition beteiligt sind: 1. Der Autor: Seine Ideen werden im handschriftlichen oder maschinenschriftlichen Text manifest, er stellt in seinen Texten Zusammenhänge her, die er selbst erdacht hat oder die in seinem Wissen vorhanden sind. 2. Die Bibliothek/das Archiv: Hier werden die Texte von 1. archiviert, sie werden katalogisiert, durch die Verwendung von Normdaten wird ihnen ein Zusammenhang mit anderen Texten unterschiedlichster Erscheinungsform 13 14

http://viaf.org/. http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/verbund/rna berlin wien mastercopy 08 02 2010.pdf.

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gegeben; gleichzeitig werden sie in formale oder sachliche Zusammenhänge gestellt. Seit es die elektronische Verzeichnung und Digitalisierung von Nachlässen gibt, werden diese Texte als erste Edition, nämlich als Digitalisat mit erschließenden formalen und sachlichen Metadaten, im Internet frei zur Verfügung gestellt. 3. Der Herausgeber: Er bereitet eine historisch-kritische Publikation des von 1. geschriebenen, von 2. verzeichneten (und digital präsentierten) Textes vor und stellt eine Verbindung zum Verlag her. 4. Der Verlag: Er veröffentlicht den ihm von 3. übergebenen Text, stellt innerhalb seines Verlagsprogrammes damit neue Verbindungen her (u. a. zwischen Bibliothek/Archiv, Herausgeber und Verlag), sorgt für die Qualitätskontrolle und gibt schließlich die Publikation an die für das Pflichtexemplar zuständige und die den Ursprungstext besitzende Institution (2.) weiter. 5. Weitere Forscher: Sie entwickeln die in der (gedruckten, elektronischen oder digitalen) Edition manifest gewordenen Ideen zu neuen Ideen weiter, indem sie die alten Texte zum Schreiben neuer Texte verwenden und damit neue Zusammenhänge herstellen. D. h., ein Text durchläuft gewissermaßen einen Kreislauf, in dem er die Grundlage bleibt, aber von den an verschiedenen Aspekten Interessierten und für verschiedene Ergebnisse Verantwortlichen erstellt, verzeichnet, ediert, publiziert und erneut in den Kreislauf übergeben wird. Dieses als gegeben gesetzt, scheint es an der Zeit zu sein, mit Blick auf die durch die elektronischen Medien veränderten Kommunikationsmöglichkeiten und Arbeitsabläufe ganz neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Bibliothek/Archiv, Forschungseinrichtungen und Verlagen zu bedenken. Die klassischen Rollen der Akteure erleben zurzeit einen Wandel durch die Digitalisierung der Arbeitsprozesse selbst. Ein wesentlicher Teil gemeinsamer Arbeit beruht auch auf der Voraussetzung, dass Arbeitsabläufe gemeinsam geplant und in gegenseitiger Abstimmung durchgeführt werden können. Dabei ist das Ziel, dass jeder der ,Mitspieler‘ vom Wissen und von der Kompetenz der anderen ,Mitspieler‘ profitiert. In drei Projekten hat die Staatsbibliothek zu Berlin begonnen, die Möglichkeiten einer so definierten Zusammenarbeit auszuloten: Brümmer online: Aus der Erschließung des umfangreichen Nachlasses des Lexikographen Franz Brümmer, der die autobiographischen Zuschriften zu dem von ihm angelegten Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart15 der Staatsbibliothek verkaufte, ent15

Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. 6., völlig neu bearbeitete und stark vermehrte Auflage. 8 Bde. Leipzig 1913.

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wickelte sich in Zusammenarbeit zwischen der Staatsbibliothek zu Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin, unterstützt durch die Firma 3pc,16 eine Projektidee. Die Bibliothek stellt in diesem Projekt17 digitale Bilder der Originalbriefe und Metadaten zu Originalbriefen aus der Datenbank Kalliope sowie digitale Kopien der Briefe auf einer Plattform im Internet zur Verfügung, die es erlaubt, unter Nutzung der Metadaten aus Kalliope eine Transkription der Briefe über einen Online-Editor zu erstellen. Das Prinzip des Crowdsourcing wird hier mit einigem Erfolg betrieben, ermöglichen es doch die in der Regel gut lesbaren Briefe der deutschen Autoren, die Brümmer ihre Lebensdaten und Angaben zu ihren Werken schickten, dass auch im Lesen handschriftlicher Texte weniger Geübte sich an der Entzifferung der Texte beteiligen und so Erfahrungen machen, die sie normalerweise nur über eine Anstellung in einem Editionsprojekt erlangen können. Da dieses Projekt aus einer gemeinsamen Lehrveranstaltung der Staatsbibliothek mit der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden ist18 und die Arbeit an den Briefen im Seminar durch das Erlernen bibliothekarischer wie editionsphilologischer Arbeitsgrundsätze begleitet wurde, konnten dabei erstmals Erfahrungen gesammelt werden zur Möglichkeit der Nachnutzung bibliothekarischer Verzeichnung. Ein XML-Export der Transkriptionen in TEI erlaubt es sodann, die gewonnenen Textgrundlagen in einer Edition weiter zu bearbeiten. Interessant ist, dass neben den in Kalliope bereits vorhandenen Normdaten zu Personen und Institutionen sowie Angaben zu Orten und Daten auch zusätzliche Indexdaten, so zu Werken und Zeitschriftentiteln, erfasst werden. Alle Daten stehen sofort nach ihrer jeweiligen Erfassung allen an dem Crowd-Sourcing-Projekt Beteiligten zur Verfügung und können, nach einer Qualitätskontrolle, weltweit recherchiert werden. Bei der Verzeichnung des Briefnachlasses Gerhart Hauptmanns19 wurde ein anderer Weg eingeschlagen. Die Bibliothek lässt die Metadaten der Briefe erfassen sowie die Originalbriefe digitalisieren; sie stellt die Metadaten, die gleichzeitig für die digitalen Kopien gelten, zusammen mit diesen im Internet über Kalliope bereit. Gleichzeitig zur Erfassung der Metadaten aller 80 000 Briefe wird von einer Forschergruppe um Peter Sprengel an der Freien Universität Berlin die Regestierung aller Briefe Hauptmanns (7000) durchgeführt. Die Regesten werden direkt in die Datenbank Kalliope geschrieben. Da beide Gruppen sich derselben Datenbank und derselben Metadaten bedienen, können beide wechselseitig Ergänzungen oder Korrekturen vornehmen. Auch in diesem Projekt zeigt sich, wie beide Seiten von der Zusammenarbeit profitieren: Der Forschergruppe wird die Erfassung der formalen Metadaten 16 17 18 19

http://3pc.de/. http://bruemmer.staatsbibliothek-berlin.de/nlbruemmer/. Ebd. http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/handschriften/recherche-und-ressourcen/nachlaesse-autographen/nachlass-gerhart-hauptmann/.

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(Korrespondenzpartner, Ort, Datum, Umfang des Briefes) abgenommen, sie kann sich auf den Inhalt der Briefe konzentrieren. Gleichzeitig profitiert die Metadatenerfassung in der Bibliothek vom Wissen der Forschergruppe. Auch wenn es einer gewissen Eingewöhnung in die bisher nicht erprobte Zusammenarbeit bedurfte, entwickelt sich das Projekt sehr gut. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Projekt fördert, wird es nach den vorliegenden Gutachten als richtungweisendes Pilotprojekt angesehen. Ob sich der zunächst ausschließlich geplanten elektronischen Version zusätzlich eine gedruckte Regestausgabe anschließen wird, bleibt abzuwarten. Als drittes Beispiel sei die elektronische wissenschaftliche Erschließung und Digitalisierung des Nachlasses Adelbert von Chamissos genannt. Dieses Projekt wird von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert und versteht sich als Grundlage und Vorbereitung einer seit langem als Desiderat angesehenen kritischen Chamisso-Edition.20 Dadurch, dass der gesamte Nachlass in der Staatsbibliothek von einer Wissenschaftlerin und einer Archivarin erschlossen wird, ergibt sich auch hier der bereits bei der Verzeichnung des Briefnachlasses Hauptmanns erzielte Gewinn: Hand in Hand arbeitet es sich effektiver und zielorientierter, als wenn sich jeder erst im anderen Bereich hätte einarbeiten müssen. Die beiden Kompetenzen ergänzen sich ideal. Nach Abschluss des Projektes steht erstmals eine durch Metadaten recherchierbare und durch die Sicht auf die digitalen Kopien aller im Nachlass enthaltenen Dokumente gut benutzbare elektronische Edition des Gesamtnachlasses zur Verfügung. Denn auch hier werden wieder die digitalen Bilder jedes Dokuments in der Datenbank Kalliope über formale Metadaten wie Personen, Orte, Daten, aber auch über sachliche Zuordnungen wie erwähnte Personen und Werke sowie über Stichwörter aus dem Inhalt zugänglich sein. Sobald eine Transkription aller Texte sich an dieses Projekt anschließt, sind die erarbeiteten Ergebnisse Grundlage und Bestandteil einer kritischen Edition. Ziel aller genannten Projekte ist es, die einmal gewonnenen Erschließungsdaten, welchen Umfangs oder welcher Tiefe sie auch seien, auch in neuen Umgebungen verwertbar zu machen. Eine dieser für die Staatsbibliothek neuen Umgebungen stellt das von der Europäischen Kommission geförderte Projekt DM2E21 dar, das die Vernetzung von Metadaten und digitalen Bildern aus der Datenbank Kalliope mit Daten aus verschiedenen europäischen Bibliotheken und Forschungseinrichtungen zum Ziel hat. Allerdings geht es hier, wie auch in dem hochinteressanten Projekt Circulation of knowledge and learned practices in the 17th-centrury’s Dutch Republic. A web-based humanities’ collaboratory on correspondences,22 nicht um eine oberflächliche Zusammenführung von Da20

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http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/handschriften/aufgabenprofil/projekte/nachlaesse-und-autographen/nachlass-adelbert-von-chamisso/. http://dm2e.eu/. http://ckcc.huygens.knaw.nl/.

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ten, sondern um Verwendung von Angaben zu Personen, Orten, Zeiten, Themen etc., um z. B. den Verlauf wissenschaftlicher Erkenntnis oder das Entstehen von Ideen über Inhalte von Texten und Briefen sichtbar werden zu lassen. Das heißt, neben formalen Metadaten werden Textinhalte, Zeitbezüge und ideengeschichtlicher Kontext erstmals elektronisch miteinander in Beziehung gebracht, wie in den Modellen von Linked Open Data23 realisiert. Weitere Nachlässe werden in der Staatsbibliothek und – in Kooperation mit ihr bzw. durch die Verbunddatenbank Kalliope – in anderen Bibliotheken und Archiven in dieser Art erschlossen und ediert werden können. Alexander von Humboldt sei als Beispiel genannt,24 aber auch die bereits begonnene HybridEdition der Tagebücher Theodor Fontanes25 oder die geplante elektronische Transkription der Briefe aus dem Nachlass Friedrich Nicolais.26 Ziel ist es, die Korrespondenz des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bearbeitet in verschiedenen Einzelprojekten, im Ergebnis mit ihren vielfältigen Beziehungen gemeinsam im Internet zu zeigen. Dass auch Verlagsarchive hier eine besondere Rolle spielen können, braucht nicht betont zu werden, treffen doch in Verlagen Forschergenerationen aufeinander. Ihre Korrespondenz untereinander oder mit dem Verlag lässt Einflussnahme oder Beeinflussung, Kanonbildung, das Entstehen neuer Richtungen oder auch die Verhinderung der Verbreitung neuer Ideen erkennen, wie kein Nachlass einzelner Wissenschaftler dazu imstande wäre. Hier kommt nun der letzte Mitspieler zum Zuge. Viele der Briefe und anderen Dokumente, um die es bisher geht, konnten bereits veröffentlicht werden, teilweise liegen diese Veröffentlichungen seit Jahrhunderten vor. Wie mit diesen umgegangen werden kann, zeigt das Projekt DM2E. Gerade im Entstehen begriffene Editionen jedoch sollen, wie dargestellt, von Anfang an einbezogen werden. Was aber ist mit den Publikationen, deren Urheberrechte noch gelten bzw. deren Editio princeps noch nicht 25 Jahre zurückliegt? Wer sorgt dafür, dass die erst vor kurzem konventionell veröffentlichten Texte trotzdem auch im Internet zugänglich werden? Hier bahnen sich zurzeit Modelle an, die es Bibliotheken und Verlagen ermöglichen sollen, die Daten sowohl im Open Access als auch, in Spezialpaketen, gegen Geld zugänglich zu machen. Wie diese Modelle im Einzelfall aussehen werden, bleibt noch abzuwarten. Die Idee aber scheint klar: Unter der Voraussetzung, dass 1. Originale aus Nachlässen/Verlagsarchiven in Bibliotheken und Archiven mit Metadaten und unter Verwendung von Normdaten in Kalliope erschlossen werden, dass 2. digitale Kopien der Originale in Bibliotheken/Archiven erzeugt werden und dass 23 24

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http://linkeddata.org/. Vgl. Jutta Weber: Die Netzwerke Alexander Humboldts. Ein Erschließungsprojekt. In: Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800. Berlin 2011, S. 399ff. Vgl. den Beitrag von Gabriele Radecke in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Rainer Falk in diesem Band.

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3. weitere Metadaten (z. B. zum Inhalt der Texte) erschlossen oder aus elektronischen Ressourcen (z. B. Geodaten) mit den vorhandenen in Beziehung gebracht werden, könnte folgende Rollenverteilung erfolgen: 1. Bibliotheken und Archive: Hier liegt die Zuständigkeit für die Erstellung und Langzeitarchivierung der Metadaten zum Gesamtnachlass sowie für die Erstellung und Langzeitarchivierung der Digitalisate. Dies ist die erste Edition. 2. Editoren: Hier erfolgt die Nachnutzung der von 1. erstellten Edition einschließlich der in der Bibliothek oder dem Archiv erstellten Metadaten und die Verwendung der dort archivierten digitalen Kopien durch Verlinkung auf eigene, neue Texte. Dies geschieht auf der Basis einer Forschungsförderung, deren Ziel ausdrücklich die kostenlose Bereitstellung der Ergebnisse im Internet ist. 3. Verlage: Nur ein Verlag hat die Kompetenz, neue Texte professionell aufbereitet und beworben im Internet zugänglich zu machen. Unter der Bedingung, dass die Verlagsbeteiligung diesen Nutzen bringt, sollten Verlage die Möglichkeit eingeräumt bekommen, die kommerziell interessanten Teile der kostenlos bereitgestellten digitalen Bilder und Metadaten zusammen mit 1. und 2. und unter Beteiligung derselben als neue, digitale Produkte bereitzustellen. Gleichzeitig sollten Verlage, in Absprache mit 2., alte Publikationen kostenlos im Internet anbieten. Verlage sorgen für eine qualitätvolle Präsentation der neuen Ergebnisse von 1. und 2. und erhalten dafür das Recht, elektronisch vorliegende Teilergebnisse von 1. und 2. verkaufen zu können. Bibliothek oder Archiv erhalten kostenlose Lizenzen zu dem von 3. erstellten neuen Produkt und geben diese an die eigenen Benutzer kostenlos weiter. Andere Bibliotheken/Archive und Leser müssen die Lizenz käuflich erwerben. Dieses Modell mit den Beteiligten zu erörtern, zu modifizieren und schließlich durch ein Pilotprojekt zum Leben zu erwecken, wird uns in der nächsten Zeit beschäftigen.

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Abb.: Schematisierte Darstellung des Arbeitsprozesses

Jutta Weber

Rainer Falk Crowdsourcing: Möglichkeiten der (Zusammen-)Arbeit an BriefEditionen im Internet

Wer auf der Suche nach einer Definition von Crowdsourcing ist, wird wohl nicht zuletzt das größte Crowdsourcing-Projekt im Internet, die ,freie‘ Enzyklopädie Wikipedia, zurate ziehen. Im entsprechenden Artikel der englischsprachigen Version findet sich die folgende Definition, die auf Grundlage von mehr als vierzig Begriffsbestimmungen aufgestellt wurde: Crowdsourcing is a type of participative online activity in which an individual, an institution, a non-profit organization, or company proposes to a group of individuals of varying knowledge, heterogeneity, and number, via a flexible open call, the voluntary undertaking of a task. The undertaking of the task, of variable complexity and modularity, and in which the crowd should participate bringing their work, money, knowledge and/or experience, always entails mutual benefit. The user will receive the satisfaction of a given type of need, be it economic, social recognition, self-esteem, or the development of individual skills, while the crowdsourcer will obtain and utilize to their advantage that what the user has brought to the venture, whose form will depend on the type of activity undertaken.1

Dass Crowdsourcing hier als „online activity“ definiert wird, legt nahe, es müsse sich um eine vergleichsweise neue Erscheinung handeln. Tatsächlich wurde der Begriff zwar erst im Jahr 2006 von dem Journalisten Jeff Howe geprägt,2 das damit bezeichnete Verfahren, für die Umsetzung eines überdurchschnittlich arbeitsintensiven Projekts anonyme Freiwillige zu gewinnen, wurde aber auch schon ohne Hilfe des Internets verfolgt. Als Crowdsourcing avant la lettre lässt sich beispielsweise die Entstehung des Oxford English Dictionary im 19. Jahrhundert verstehen: Um ihr Vorhaben zu verwirklichen, ein vollständiges Wörterbuch der englischen Sprache zu erstellen, ließen die Herausgeber einen Aufruf drucken, der hauptsächlich über Buchhändler verbreitet wurde, die ihn den 1

2

http://en.wikipedia.org/wiki/Crowdsourcing#Definitions (abgerufen am 18.11.2012). Die Definition wurde aufgestellt von Enrique Estelle´s-Arolas und Fernando Gonza´lez-Ladro´n-de-Guevara: Towards an integrated crowdsourcing definition. In: Journal of Information Science 38, 2012, H. 2, S. 189–200, hier S. 197. Vgl. Jeff Howe: The Rise of Crowdsourcing. In: Wired 14, 2006, H. 6, S. 176–183. Der Artikel ist abrufbar unter http://www.wired.com/wired/archive/14.06/crowds.html (abgerufen am 18.11.2012).

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Rainer Falk

von ihnen verkauften Büchern beilegten. Auf diese Weise wurden tausende von Mitarbeitern aus dem ganzen englischsprachigen Raum geworben, die ihnen schriftlich zugeteilte Werke nach Belegen für Wörter und deren Verwendung durchsuchten und diese den Herausgebern in einer standardisierten Form mitteilten. Obwohl Onlinelexika wie Wikipedia auch aus dem akademischen Arbeitsalltag nicht mehr wegzudenken sind, begegnen viele Wissenschaftler Crowdsourcing-Projekten weiterhin mit großer Skepsis. Bezweifelt wird vor allem, dass die Arbeit einer wahllos zusammengebrachten Gruppe von Freiwilligen mit völlig unterschiedlicher Qualifikation zu verlässlichen und wissenschaftlich verwertbaren Ergebnissen führen kann. Trotzdem kommt Crowdsourcing mittlerweile auch in wissenschaftlichen Forschungsprojekten zum Einsatz, etwa im Bereich der Erschließung und Edition handschriftlichen Quellenmaterials. Am bekanntesten dürfte hier – dank eines Artikels in der New York Times3 – das am University College London angesiedelte Projekt Transcribe Bentham sein, dessen Ziel es ist, die zahlreich überlieferten Werkmanuskripte des Philosophen und Sozialreformers Jeremy Bentham (1748–1832) zugänglich zu machen.4 Die von Freiwilligen anhand der digitalisierten Handschriften erstellten Transkripte fließen einerseits in die editorische Arbeit an der gedruckten Ausgabe der Collected Works of Jeremy Bentham5 ein, andererseits werden sie in einer Datenbank online zur Verfügung gestellt. In einem Zeitraum von knapp zwei Jahren sind dergestalt rund 4000 Manuskriptseiten transkribiert worden. Aus vielerlei Gründen ist der Nachlass des Berliner Verlegers, Buchhändlers und Schriftstellers Friedrich Nicolai (1733–1811) besonders geeignet, die Möglichkeiten und Grenzen eines auf Crowdsourcing basierenden Editionsprojekts auszuloten. Als Nachlass Friedrich Nicolais werden heutzutage vornehmlich die annähernd 20 000 Briefe bezeichnet, die die Königliche Bibliothek, die heutige Staatsbibliothek zu Berlin, in den Jahren 1885 und 1886 aus dem Besitz der Nachkommen Nicolais erworben hat. Der übrige Teil des bis 1913 noch um etliche Zukäufe und Schenkungen erweiterten handschriftlichen Nachlasses ist wohl während der Auslagerungen im Zweiten Weltkrieg fast vollständig einem Brand zum Opfer gefallen und gilt seitdem als verloren. Noch auf die Nachkommen Nicolais scheint die Überlieferung des Bestandes in 88 Foliobänden zurückzugehen, in die die Briefe eingebunden und -geklebt sind. Die Heftung 3

4

5

Patricia Cohen: Scholars recruit public for project. In: The New York Times, 27.12.2010, S. C1. Der Artikel ist abrufbar unter http://www.nytimes.com/2010/12/28/books/28transcribe.html?pagewanted=all (abgerufen am 18.11.2012). http://blogs.ucl.ac.uk/transcribe-bentham/ (abgerufen am 18.11.2012). Vgl. Tim Causer, Justin Tonra und Valerie Wallace: Transcription maximized; expense minimized? Crowdsourcing and editing The Collected Works of Jeremy Bentham. In: Literary and Linguistic Computing 27, 2012, H. 2, S. 119–137. The Collected Works of Jeremy Bentham. Hrsg. von Frederick Rosen und Philip Schofield. London, später Oxford u. a. 1968ff.

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lässt eine Benutzung nicht ohne Schwierigkeiten zu; durch das häufige Aufschlagen der Bände werden die Briefe in Mitleidenschaft gezogen und regelrecht ,zernutzt‘. Schon aus konservatorischen Gründen ist die Staatsbibliothek darum bemüht, die Bände aufzulösen und die Briefe zu digitalisieren, was allerdings erst nach der restauratorischen Bearbeitung erfolgen kann.6 Als eine komplexe Zentralgestalt der europäischen Aufklärung ist Friedrich Nicolai in den letzten Jahren verstärkt in das Blickfeld der Forschung gerückt.7 Zugleich wurde das überkommene Bild vom rührigen, aber ,platten‘ Aufklärer revidiert, das die ältere Forschung in Übernahme der Verdikte von Nicolais zeitgenössischen Gegnern gezeichnet hatte. Neue Impulse sind dabei vor allem von der im Kontext einzelner Untersuchungen unternommenen punktuellen Auswertung des Briefnachlasses ausgegangen. Als Buchhändler und Verleger, als Herausgeber literaturkritischer Zeitschriften und als Verfasser vielgelesener Werke stand Nicolai im Briefwechsel mit den berühmten Männern seiner Zeit, aber auch mit heute völlig unbekannten Zeitgenossen. Sein Nachlass enthält daher nicht nur Briefe von Autoren der in Nicolais Verlag erschienenen Bücher und von Mitarbeitern der von ihm herausgegebenen Journale sowie mit den Schreiben von anderen Gelehrten Anstöße für und Erwiderungen auf viele seiner eigenen Werke, er beinhaltet auch Bestätigungen von Nicolais Mitgliedschaft in diversen Gesellschaften, Akzise-Quittungen, Handwerkerrechnungen, Quartiersangebote für seine Messe- und Kuraufenthalte usw. und umfasst somit in einmaliger Vollständigkeit schriftliche Zeugnisse aus so gut wie allen Lebensbereichen einer herausragenden Gestalt des 18. Jahrhunderts. Die besondere Bedeutung des Briefnachlasses beruht nicht zuletzt auf dieser Vollständigkeit, die sich wiederum aus der schlichten Tatsache erklärt, dass der Nachlass nicht wie üblich vom Nachlassenden selbst oder dessen Erben um alles das dezimiert worden ist, was ihnen als zu unbedeutend gegolten hat, um es auf die Nachwelt zu bringen.8 Der Briefnachlass Friedrich Nicolais bietet also reiches Quellenmaterial, das für Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Disziplinen von Interesse sein könnte. Schon im Hinblick auf den immensen Umfang des Bestandes scheint es 6

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Für eine umfassende Darstellung der Geschichte des Nachlasses vgl. Rainer Falk und Jutta Weber: Friedrich Nicolais Nachlass. In: Friedrich Nicolai (1733–1811). Hrsg. von Stefanie Stockhorst, Knut Kiesant und Hans-Gert Roloff. Berlin 2011, S. 301–321. Für einen Überblick über das breite Themenspektrum der aktuellen Nicolai-Forschung vgl. die Sammelbände Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hrsg. von Rainer Falk und Alexander Kosˇenina. Hannover 2008; Stockhorst, Kiesant und Roloff 2011 (Anm. 6); Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Hrsg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen 2012. Vgl. auch Rainer Falk: „Sie hören nicht auf, sich um unsre Litteratur, und ihre Freunde, verdient zu machen!“ Friedrich Nicolai (1733–1811). Mit einem Beitrag von Doris Schumacher. Halle (Saale) 2012. Zahlreiche Einzelstücke – in der Regel Briefe namhafter Verfasser – sind dem Nachlass allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts durch Autographensammler entfremdet worden. Vgl. dazu Falk und Weber 2011 (Anm. 6), S. 309–312.

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jedoch wenig wahrscheinlich, dass jemals ein Forschungsumfeld geschaffen werden könnte, das es erlauben würde, die Briefe so zu bearbeiten, wie es den heutigen Anforderungen an wissenschaftliche Editionen entspräche. Hinzu kommt, dass der Nachlass – der Eigenart eines ,echten‘ Nachlasses gemäß – fast ausschließlich Briefe enthält, die an Nicolai gerichtet sind, und dass trotz intensiver Recherchen bislang gerade einmal gut 1500 Briefe ermittelt werden konnten, die von Nicolai verfasst sind. Eine wesentliche Voraussetzung für eine Briefwechselausgabe, die sich als Standard wissenschaftlicher Brief-Editionen etabliert hat, ist daher von vornherein nicht gegeben. Das Hauptargument für diesen Standard – dass Informationsgehalt und Aussagewert von Briefen durch die Kenntnis der Antwortschreiben erheblich gewinnen – belegen die bisher erschienenen selbstständigen Publikationen von Teilkorrespondenzen Nicolais, bei denen es sich fast ausschließlich um Fälle handelt, in denen Briefe aus dem Nachlass um Gegenbriefe aus den Beständen anderer Bibliotheken und Archive ergänzt werden konnten.9 Gleichwohl bleibt mehr als fraglich, ob sämtliche Schreiben aus dem Briefnachlass Nicolais überhaupt einer derart zeit- und kostenintensiven Bearbeitung bedürfen, um von der Forschung genutzt werden zu können. Vielmehr wären große Teile davon schon durch einfache, verlässliche Transkripte mit nur wenigen semantischen Auszeichnungen so weit erschlossen, dass sie als Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen dienen könnten. Anstatt die Erschließung und Edition des Briefnachlasses Friedrich Nicolais und ähnlich gearteter Nachlässe auf Teilveröffentlichungen zu beschränken oder gar gänzlich zu verwerfen, ist es an der Zeit, neue Ansätze zu suchen, die den Eigenarten solcher Bestände gerecht werden, und neue Formen der editorischen (Zusammen-)Arbeit zu erproben. Einen möglichen Ansatz verfolgt das Projekt Nachlass Friedrich Nicolai online, das sich die Chancen des Crowdsourcings im Internet zunutze zu machen versucht. Die dem Projekt zugrundeliegende Software, der Refine!Editor, wurde von der Staatsbibliothek in Zusammenarbeit mit der Humboldt Universität zu Berlin und der Firma 3-point concepts entwickelt, um den Nachlass des Lexikographen Franz Brümmer (1836–1923) zu erschließen.10 Seit Kurzem findet sie auch für die Bearbeitung des Nachlasses des Architekten Erich Mendelsohn (1887–1953) Verwendung. Die Software folgt dem sogenannten WYSIWYG-Prinzip (What You See Is What You Get): Die Ober9

10

So wurden für die Edition der Korrespondenz Nicolais mit Johann Georg Zimmermann die Briefe Zimmermanns aus dem Nachlass Nicolais in der Staatsbibliothek zu Berlin um die Briefe Nicolais aus dem Nachlass Zimmermanns in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover ergänzt. Vgl. Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. Bd. 2: Friedrich Nicolai (1733–1811) in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann (1728–1795) und Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796). Hrsg. von Sigrid Habersaat. Würzburg 2001. http://bruemmer.staatsbibliothek-berlin.de/nlbruemmer/ (abgerufen am 18.11.2012). Für eine eingehendere Darstellung insbesondere technischer Details vgl. Björn Märtin und Christian Thomas: Das Wuchern der Archive. Die digitale Edition des Nachlasses Franz Brümmer mit dem Refine!Editor. In: editio 22, 2008, S. 204–212.

Crowdsourcing: Möglichkeiten der (Zusammen-)Arbeit an Brief-Editionen im Internet

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fläche gleicht einem der gängigen Textverarbeitungsprogramme und kann intuitiv bedient werden. Ohne darin geschult werden zu müssen, ist der Bearbeiter somit in die Lage versetzt, digitalisierte Handschriften in einem Texteingabefeld zu transkribieren. Ähnlich selbsterklärend erfolgen die semantischen Auszeichnungen, die von der Software in einer dynamischen Registerdatenbank organisiert werden. Im Rahmen von Nachlass Friedrich Nicolai online sollen Personen, Orte, Absendedaten, Institutionen, Periodika und Werke ausgezeichnet werden. Voraussetzung für den Einsatz der Software ist freilich, dass die zu bearbeitenden Handschriften als Digitalisate zur Verfügung stehen, um eine ortsunabhängige Bearbeitung zuallererst zu ermöglichen. Zugleich dienen die Digitalisate auf Nachlass Friedrich Nicolai online der Akquise von Mitarbeitern, indem jeder Brief, der zwar schon digitalisiert vorliegt, aber noch nicht transkribiert ist, mit Worten präsentiert wird, die als „open call“ im Sinne der eingangs zitierten Definition von Crowdsourcing verstanden werden dürfen: „Helfen Sie uns, die Handschriften zu transkribieren!“ Interessenten können sich über ein Kontaktformular Zugangsdaten schicken lassen, erhalten gleichzeitig die Editionsrichtlinien zugesandt und sind umgehend in die Lage versetzt, mit der Bearbeitung der von ihnen ausgewählten Briefe zu beginnen. Die mit Hilfe des Refine!Editors erstellten und ausgezeichneten Transkripte erscheinen aber nicht genauso umgehend auf der Website. Im Unterschied zu Crowdsourcing-Projekten wie Wikipedia, die darauf bauen, dass die Beiträger sich gegenseitig ergänzen und korrigieren, und dafür in Kauf nehmen, dass vorübergehend auch falsche Informationen auf ihren Seiten zu finden sind, ist für Nachlass Friedrich Nicolai online der Zwischenschritt einer Redaktion vorgesehen, die jedes einzelne Transkript gegenliest und gegebenenfalls verbessert, bevor sie es online zugänglich macht. Damit soll sichergestellt werden, dass die veröffentlichten Ergebnisse von Anfang an ohne Bedenken wissenschaftlich genutzt werden können. Der kollaborative Umgang mit Handschriften, den das Projekt unterstützen will, wird also nicht darin bestehen, jeden Zugangsberechtigten in korrigierender Absicht in die Transkriptionen anderer Bearbeiter eingreifen zu lassen. Stattdessen soll die Zusammenarbeit insofern befördert werden, als jedem Zugangsberechtigten die Möglichkeit geboten wird, auch die noch nicht redaktionell freigegebenen Transkripte anzusehen und den betreffenden Bearbeiter auf etwaige Fehler hinzuweisen. Um den Kreis potentieller Mitarbeiter möglichst wenig einzuschränken, müssen auf Crowdsourcing basierende Editionsprojekte so angelegt sein, dass die Voraussetzungen für eine Mitarbeit möglichst gering bleiben. Im Falle von Nachlass Friedrich Nicolai online soll der Einsatz des beschriebenen WYSIWYG-Editors es erlauben, auch Personen ohne editorische Expertise und ohne Kenntnisse in XML (Extensible Markup Language) oder einer anderen Auszeichnungssprache an dem Projekt zu beteiligen.11 Als entscheidend erweist sich

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in diesem Zusammenhang aber auch die Wahl des zu edierenden Gegenstands. Dabei scheinen sich Briefe im besonderen Maße für ein solches Projekt zu eignen: Im Unterschied zu anderen Handschriften werden Briefe stets in der Absicht verfasst, von mehr Leuten als nur dem Schreiber selbst gelesen zu werden. Folglich pflegen sie gut lesbar zu sein und weisen in der Regel nur wenige Korrekturen auf; sie stellen deshalb diejenigen Handschriften dar, die sich am leichtesten transkribieren lassen.12 Unabhängig von der Art des Dokuments stellt sich für deutschsprachige Projekte ein anderes Problem: Da bis weit ins 20. Jahrhundert in deutscher Kurrentschrift geschrieben wurde, müssen Bearbeiter, die nicht bereits die entsprechende Lesefähigkeit besitzen, zumindest die Bereitschaft mitbringen, diese zu erwerben. Um einen möglichst großen Mitarbeiterkreis anzuwerben, spricht zudem vieles dafür, diesen nicht auf die zufällig gewonnenen Freiwilligen zu begrenzen, sondern auch ausgewiesene Fachleute einzubinden. So versteht sich Nachlass Friedrich Nicolai online auch als Angebot, verstreut publizierte oder sogar unveröffentlichte Transkripte von Briefen aus dem Nachlass zusammenzuführen und dadurch bestandsübergreifende Recherchen zu ermöglichen. Insbesondere Wissenschaftlern, die Briefe als Material für die eigene Forschung transkribiert haben – also nicht in der Absicht, sie zu edieren –, bietet sich damit eine interessante Möglichkeit, die von ihnen angefertigten Transkripte für eine solche ,Nachnutzung‘ zugänglich zu machen. Auf Anfrage haben auch Herausgeber, die Teilkorrespondenzen Nicolais ediert haben, und Verlage, in denen solche Editionen erschienen sind, die Bereitschaft erkennen lassen, die entsprechenden Textdateien zur Verfügung zu stellen. Neben dem „open call“ sollen verstärkt solche gezielten Anfragen und Aufforderungen an potentielle Mitarbeiter gerichtet werden. Dazu könnte auch gehören, dass Nutzer, die in der Staatsbibliothek Bände aus dem Nachlass Friedrich Nicolais bestellen, auf das Projekt hingewiesen werden. Wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein sollte, darf Crowdsourcing nicht als Arbeit einer anonymen Masse missverstanden werden, wie es die Wortschöpfung in Analogie zu Outsourcing womöglich nahelegt. Der Erfolg eines Crowdsourcing-Projekts scheint vielmehr in entscheidendem Maße davon abzuhängen, ob es den Initiatoren gelingt, aus einer heterogenen Menge von Freiwilligen eine Community zu formen. Wie die Auswertung einer Umfrage unter den Bearbeitern von Transcribe Bentham ergeben hat, besteht für viele ein wesentlicher Anreiz für die Mitarbeit in dem Gefühl, einen Beitrag dazu zu leisten, der Öffentlichkeit Zugang zu bislang unbekanntem Quellenmaterial zu verschaffen.13 Dieses Umfrageergebnis deckt sich mit den Erfahrun11

12

13

Aus diesem Grund ist auch für das Bentham Transcription Desk die Einführung eines optionalen WYSIWYG-Editors geplant. Vgl. Causer, Tonra und Wallace 2012 (Anm. 4), S. 131. Der Erfolg von Transcribe Bentham beweist, dass auch die Transkription von Werkmanuskripten im Rahmen eines Crowdsourcing-Projekts nicht ausgeschlossen ist. Vgl. Causer, Tonra und Wallace 2012 (Anm. 4), S. 127.

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gen des Verfassers als Lehrbeauftragten im Masterstudiengang Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Die Studierenden zeigten größeres Interesse daran, Briefe aus dem Nachlass Nicolais zu transkribieren, als sie erfuhren, dass ihre Arbeit nicht bloß der Übung dienen, sondern in ein Forschungsprojekt einfließen sollte, in dem diese Briefe erstmals zugänglich gemacht würden. Wie in der einleitend angeführten Definition nachdrücklich betont wird, geschieht der Einsatz von Crowdsourcing immer zu wechselseitigem Nutzen, wobei dieser für die Mitarbeiter meist ideeller Natur ist. Mit diesem Argument ist auch den zuweilen geäußerten Bedenken zu begegnen, dass es sich bei Crowdsourcing um Ausbeutung handle. Im Rahmen von Nachlass Friedrich Nicolai online wird auch ein über die Grenze des Einzelprojekts hinausgehender Nutzen angestrebt, indem die Briefe in der von der Staatsbibliothek zu Berlin unterhaltenen Datenbank Kalliope, dem bibliothekarischen Verbundkatalog für Autographen und Nachlässe in Deutschland, erschlossen werden sollen.14 Damit bietet sich außerdem die Möglichkeit, dass die im Zuge der Auszeichnung der Briefe gewonnenen Datensätze zu bislang anderweitig nicht bekannten Personen in die Personennamendatei (PND) der Deutschen Nationalbibliothek einfließen. Da für die Auszeichnung selbstverständlich auf die bereits vorhandenen PND-Datensätze zurückgriffen werden soll, wird auch hier ein Austausch bzw. Abgleich zu wechselseitigem Nutzen stattfinden. Für Forscher und Editoren ergibt sich ein weiterer Nutzen schließlich daraus, dass die auf Nachlass Friedrich Nicolai online angefertigten und einsehbaren Textdateien für eine weitere Bearbeitung zur Verfügung gestellt werden sollen. Um sicherzugehen, dass die Dokumente rasch veröffentlicht werden können, werden die Transkripte zwar zunächst in HTML (Hypertext Markup Language) kodiert, doch bietet der Refine!Editor sie automatisch auch als valide XMLDokumente nach dem aktuellen Standard der TEI (Text Encoding Initiative) an. Dank dieses de-facto-Standards für digitale Editionen bleiben die Ergebnisse der bis dahin ausgeführten editorischen Arbeit erhalten. Die XML-Dokumente können in andere Projekte exportiert und mit weiteren Auszeichnungen angereichert werden, ohne dass die Briefe noch einmal transkribiert werden müssten. Damit soll das Projekt auch zu Brief-Editionen beitragen, die von den bereitgestellten Transkripten ihren Ausgang nehmen können – etwa Editionen derjenigen Briefe, die mit den von Nicolai geschriebenen Briefen zu einem Briefwechsel vervollständigt werden können. Doch selbst wenn zahlreiche Editionen den Bestand immer tiefer erschließen, wird Nachlass Friedrich Nicolai online als übergreifendes Register für Nicolais Briefnachlass und die daraus entstehenden Teileditionen von Nutzen sein und bleiben.

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http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/ (abgerufen am 18.11.2012).

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Solange solche Editionen nicht vorliegen, können Wissenschaftler zumindest auf verlässliche Transkripte der Briefe zugreifen, die sich ohne paläographische Kenntnisse lesen lassen und über die Volltextsuche oder die Registerdatenbank Anfragen erlauben. Je nach Gehalt eines Briefes ist dem Bedürfnis der Forschung mit einer Transkription und wenigen, basalen Auszeichnungen aber auch längerfristig bereits Genüge getan. Der damit erreichte Stand an editorischer Bearbeitung bezeichnet auch die Grenze dessen, was im Rahmen eines Crowdsourcing-Projekts geleistet werden kann. So lassen sich auch die Ergebnisse des Forschungsprojekts Wikipedia und die Geschichtswissenschaften interpretieren, das die Historiker Peter Haber und Jan Hodel zwischen 2007 und 2010 durchgeführt haben:15 Die Stärke des Verfahrens zeige sich in den biographischen und Ereignis-Artikeln des Onlinelexikons, die maßgeblich auf ,Faktensammeln‘ beruhten, wozu keine fachliche Qualifikation vonnöten sei; seine Schwäche liege in der Aufbereitung komplexer Begriffe. Entsprechendes gilt bei einer auf Crowdsourcing basierenden Erschließung und Edition handschriftlichen Quellenmaterials, die darauf beschränkt bleiben muss, neben dem Erstellen verlässlicher Transkripte die für das inhaltliche Verständnis grundlegenden Daten zusammenzutragen. Ein wissenschaftlichen Ansprüchen genügender Vollkommentar lässt sich auf der Grundlage von Crowdsourcing sicherlich nicht verfassen. Die aufgezeigten Grenzen machen deutlich, dass mit dem Einsatz von Crowdsourcing keine Alternative zu den gängigen Editionsmethoden zur Debatte steht. Die große Chance des Verfahrens besteht jedoch darin, neue Formen der (Zusammen-)Arbeit zu befördern und bislang brachliegende Potentiale zu nutzen. In diesem Sinne möchte das geplante Projekt Nachlass Friedrich Nicolais online auch Anstoß zu neuen strategischen Überlegungen geben.

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Vgl. http://www.hist.net/forschung-praxis/wikipedia-und-die-geschichtswissenschaften/ (abgerufen am 18.11.2012).

Johannes H. Stigler Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffes „Digitale Edition“

Allgemeines In der Scientific Community weitgehend konsensuell diskutiert, kann Edition sehr allgemein als das Bemühen definiert werden, die ursprüngliche, vom Autor intendierte Fassung eines Textes oder Werkes wiederherzustellen und zu veröffentlichen. Der edierte Text stellt dabei das Ergebnis der Anwendung von überlieferungskritischen und textkritischen Operationen dar.1 Was unterscheidet nun eine digitale von einer gedruckten Edition? Liegt der Text dann einfach in einer digitalen Form vor? Generell lässt sich festhalten, dass eine forschungstaugliche Digitalisierung weit über eine rein bildhafte und textuelle Repräsentation von zu edierenden Texten oder Werken im Computer hinausgeht. Sahle spricht in diesem Zusammenhang von elektronisch (unterstützter) versus digitaler Edition. Wobei letztere grundsätzlich mehr ist als die digital vorliegende Fassung einer gedruckten Edition. Erst durch die erschließende Wiedergabe von Quellen, die auf das formale Sichtbarmachen (Explikation und Kontextualisierung) der in solchen Textdaten enthaltenen Bedeutungsstrukturen abzielt, konstituiert sich Digitale Edition. Gemeint ist dabei die Anreicherung des Textes und damit des im Prozess der Digitalisierung entstehenden digitalen Objektes mit (normierten) Metadaten, bezogen auf verschiedene Beschreibungsebenen, wie logische Textstruktur, Interpretations- oder Erzählebenen, Morphologie, Syntax u. v. m. Dabei geht es sowohl um die Sichtbarmachung der dem Artefakt immanenten Semantiken als auch um die Anreicherung der Textbasis mit Bedeutungen, die aus Interpretations- und Kontextualisierungsakten im Forschungsprozess entstehen. Über Erschließung werden Sammlungen von Digitalisaten so zu Repräsentationen Digitaler Editionen, die solcherart formal erschlossene kulturelle Artefakte zur empirischen Datenbasis geisteswissenschaftlicher Forschung werden lassen, indem sie neue Möglichkeiten der IT-unterstützten Darstellung und Analyse dieser Bedeutungsstrukturen eröffnen: So können beispielsweise paläografische Eigenschaften einer Handschrift formal differenziert und statistisch analysiert, narrative Ebenen oder regionale Bezüge in einem literaturwissen1

Vgl. dazu Patrik Sahle: Digitales Archiv – Digitale Edition. Anmerkung zur Begriffserklärung (http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Digitales Archiv und digitale edition).

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schaftlichen Textkorpus visualisiert und somit interpretativ erschlossen oder umfangreiche Bildsammlungen komparatistisch untersucht werden.2 Das Konzept der philologischen Edition lässt sich unter dieser Sichtweise lediglich als ein spezifischer Anwendungsfall beschreiben: Solche Editionsprojekte zielen darauf ab, Texte zu transkribieren, textimmanente Strukturen (z. B. Interpunktion) oder die Strukturen ihrer Überlieferung (Stemma) explizit zu machen und mittels Indizes und Kommentaren den Text zu erschließen. Wissenschaftliche Digitalisierung von kulturellen Artefakten allgemein kann daher als eine Abstraktion dieser Tätigkeiten verstanden werden: Die Transkription ist ein Prozess der Transmedialisierung, so wie ein digitales Bild und der digitale Volltext Produkte eines solchen Prozesses sind. Die Erschließung expliziert textimmanente Strukturen, aber auch Bezüge zu anderen Quellen und entspricht damit dem Konzept der Annotationssprachen. Die notwendige Publikationsinfrastruktur für Digitale Editionen stellen sogenannte Repositorien oder Digitale Archive dar, um Textdaten nachhaltig und dauerhaft verfügbar halten zu können. Sie sorgen für eine zitierfähige Bereitstellung der vorgehaltenen Inhalte und organisieren damit ein dauerhaftes Überleben von Informationen in einem sich ständig wandelnden technologischen Umfeld. In vielen nationalen und EU-weiten Projekten und Initiativen (CLARIN3, DARIAH4 u. a.) werden aktuell solche Systeme evaluiert und entwickelt, die – allgemein gesprochen – auf der Intention beruhen, den wissenschaftlichen Forschungs- und Kommunikationsprozess durch einheitliche Zugänge zu elektronischen Wissensbeständen zu verbessern und (auch für Außenstehende) transparenter zu gestalten. Digitale Archive sind dabei nicht nur „Aufbewahrungsorte“, sondern leisten auch in unterschiedlichen wissenschaftlichen Arbeitsszenarien Unterstützung bei der Bearbeitung digitaler Ressourcen. Flexible Berechtigungsmodelle steuern den webbasierten Zugriff auf Quellenmaterialien und Forschungsergebnisse. Längst orientiert man sich beim Design einschlägiger Applikationen nicht mehr ausschließlich am Konzept eines reinen Datastores, d. h. einer optimierten Ablage und Recherchemöglichkeit für statischen Inhalt (Text-, Bild-, Ton- oder Filmdokumente). In vielen Projekten werden Modellierungsstandards definiert und Workflowmodelle umgesetzt, die auf die digitale Repräsentation des gesamten Entstehungsprozesses wissenschaftlicher Forschungsergebnisse abzielen (vgl. etwa das eSciDoc-Projekt5 des FIZ-Karlsruhe, TextGRID6 u. a.). Fragen der text- bzw. informationsimmanenten Annotation 2

3 4 5 6

Vgl. Wernfried Hofmeister und Hubert Stigler: Die Edition als Interface. Möglichkeiten der Semantisierung und Kontextualisierung von domänenspezifischem Fachwissen in einem Digitalen Archiv am Beispiel der XML-basierten ,Augenfassung‘ zur Hugo von Montfort-Edition. In: editio 24, 2010, S. 79–95. Vgl. http://www.clarin.eu. Vgl. http://www.dariah.eu. Vgl. http://www.escidoc.org/. Vgl. http://www.textgrid.de/.

Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffes „Digitale Edition“

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und damit Semantisierung des Inhalts von Texten, Bildern, Filmsequenzen u. Ä. treten in den Vordergrund. Solcherart mit fachdomänenbezogenen Metadaten manuell oder (semi-)automatisch erschlossene digitale Daten7 können nicht nur intelligent und ontologie-basiert recherchiert werden, sondern bilden auch wichtige Bezugspunkte für empirische Analysen und unterstützen somit die Theoriebildung der jeweiligen Fachdomäne. Diese Entwicklung lässt auch die klassische Arbeitsteilung von ProduzentInnen und ArchivarInnen wissenschaftlicher Forschungsergebnisse obsolet erscheinen. Fragen der digitalen Archivierung, bzw. allgemeiner der digitalen Repräsentation und Modellierung von Wissen, werden auch zu methodologischen Fragen der Fachdomäne der jeweiligen Inhalte. In einschlägigen Anwendungsszenarien sind daher Workflows zu präferieren, die ein kollaboratives Bearbeiten und Verwalten digitaler Ressourcen ermöglichen.

XML, die lingua franca der Digitalen Edition Soll das Unternehmen Digitale Langzeitarchivierung des kulturellen Erbes nachhaltig erfolgreich sein, gilt es abseits von proprietären, kurzlebigen Datenformaten neue Langzeitarchivierungsszenarien zu etablieren. Proprietäre Firmenformate sind zu kurzlebig für nachhaltige Formen der Archivierung und erfordern u. U. fehlerbehaftete, automatisierte Migrationsprozesse im Digitalen Archiv. Insgesamt haben sich hier in den letzten Jahren als Alternative vornehmlich XML-basierte Datenformate durchgesetzt, nicht nur als Format für deskriptive Metadaten, sondern insgesamt auch als Form für die Modellierung und Annotation des Inhaltes von digitalen Objekten. Als Textformat etwa bietet das TEI-Metadatenset8 (Text Encoding Initiative) sehr flexible und umfassende Möglichkeiten, Textdokumente nahezu beliebiger Provenienz, orientiert an der Prämisse der Trennung von Inhalt und Repräsentation, human-readable zu modellieren. Insgesamt ist zu beobachten, dass die progressive Verbreitung von XML in angewandten IT-Bereichen zu einer verstärkten Entwicklung von XMLTechnologien und -Tools geführt hat, die auch für die Wissensmodellierung nutzbringend einsetzbar sind. Wesentliche Voraussetzung für die Etablierung von XML – weit über das ursprüngliche Anwendungsfeld (syntaktischer) Informationsstrukturierung hinaus – war die Stabilisierung und Konsolidierung des Standards, vor allem durch (a) die Normierung des Aufbaus wohlgeformter XML-Dokumente durch die Einführung des XML Information-Set Standards, (b) die Einführung eines er7

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Wie z. B. mit Lemmata oder morphosyntaktischen Informationen versehene Textkorpora oder strukturell ausgezeichnete Transkriptionen von Urkundentexten u. a. Michael Sperberg-McQueen und Lou Burnard (Hrsg.): TEI – the P5 release. Online unter http://www.tei-c.org/P5.

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weiterbaren Typensystems in XML, das die Beschreibung beliebiger Datenstrukturen erlaubt (XML Schema), und (c) die Etablierung einer einheitlichen Konvention für die Verwendung von Namensräumen.9 Damit wurde der Grundstein für die Entwicklung komplexer Annotationssprachen gelegt, wie sie die TEI in ihrer heute vorliegenden Version P5 darstellt. Sie wurde aus der Intention, eine allgemein (für alle Sprachen und Textsorten) gültige Konvention zur Textannotation auszuarbeiten und in Form von Guidelines festzuhalten,10 entwickelt. Diese bilden flexible Rahmenrichtlinien zur Definition (normativer) Kodierungsstandards, deren Anwendungsbereiche Quellen und Dokumente umfassen, wie sie in einer Vielzahl von (geistes-)wissenschaftlichen Disziplinen vorliegen bzw. produziert werden: von historischen Urkunden über Texte, die in Erhebungssituationen quantitativer und qualitativer empirischer Sozialforschung generiert werden, bis hin zu literatur- und sprachwissenschaftlichen Textkorpora. Neben Fließtexten können mit der TEI auch nicht-kontinuierliche Texte wie Wörterbücher u. Ä. ausgezeichnet werden. Neben diesem primären Anwendungsbereich XML-basierter Informationsmodellierung hat sich in der Informationsverarbeitung eine Reihe weiterer Funktionsbereiche herausgebildet, in denen XML eine zentrale Bedeutung zukommt: (a) Metadatenbeschreibung und Wissensmanagement, d. h. die sekundäre Anwendung von XML, um Inhaltseinheiten zusätzliche Beschreibungselemente hinzuzufügen, z. B. durch Standards wie Resource Description Framework11 (RDF), Topic Maps12 und Web Ontology Language13 (OWL). Mit diesen Standardisierungen wurde der Grundstein für die Modellierung fachspezifischer Vokabularien gelegt, um sie so einer automatisierten Verarbeitung (z. B. in einer Recherche) zugänglich zu machen. Erste umfassende Beispiele solcher domänenspezifischer Ontologien14 stammen z. B. aus dem Bereich des Archiv- und Museumswesens: Mit dem CIDOC Conceptual Reference Model15 hat das In9

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Vgl. Kurt Cagle, Jon Duckett, Oilver Griffin [u. a.]: Professional XML Schemas. Birmingham 2001; Henning Lobin: Erweiterte Dokumentgrammatiken als Grundlage innovativer XML-Tools. In: Information Technology 45/3, 2003, S. 143–50; Henning Lobin: Textauszeichnung und Dokumentengrammatiken. In: Texttechnologie. Perspektiven und Anwendungen. Hrsg. von Henning Lobin und Lothar Lemmnitzer. Tübingen 2004, S. 51–82; Christian Wolf: Systemarchitekturen. Aufbau texttechnologischer Anwendungen. In: Ebd., S. 166–192. Lou Burnard: Digital Texts with XML and the TEI. 2004. Online unter http://www.teic.org.uk/Talks/OUCS/One/teixml-one.pdf; Barbara Rossmann: Annotation von Texten des gesprochenen Italienisch nach dem Standard der Text Encoding Initiative (TEI). Diplomarbeit Graz 2006. Dan Brickley und Ramanathan V. Guha: RDF Vocabulary Description Language 1.0: RDF Schema. Recommendation. 2004. Online unter http://www.w3.org/TR/rdf-schema/. Vgl. http://www.topicmaps.org/. Vgl. http://www.w3.org/TR/owl-semantics/. In der Informationsverarbeitung meint eine Ontologie ein Vokabular, das eine Domäne (Fachbereich) beschreibt, und die zugehörigen Assoziationen, die die Beziehungen der Terme eines Vokabulars untereinander beschreiben. Vgl. http://cidoc.ics.forth.gr/.

Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffes „Digitale Edition“

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ternationale Komitee für Dokumentation des internationalen Museumsverbandes (CIDOC) eine erweiterbare Ontologie für Begriffe und Informationen im Bereich des Kulturerbes vorgelegt. In der SKOS16-Spezifikation (Simple Knowledge Organization System) versucht das W3C erstmalig eine auf dem Resource Description Framework basierende formale Sprache zur Kodierung von Dokumentationssprachen, wie Thesauri, Klassifikationen oder andere kontrollierte Vokabularien, zu standardisieren. (b) Informationstransformation, d. h. die Verwendung von XML-Standards, um Informationsstrukturen aufeinander abzubilden, um z. B. aus einer XMLStruktur ein Repräsentationsformat abzuleiten. Hier ist vor allem XSL (eXtensible Stylesheet Language) zu nennen, der Überbegriff für ein komplexes Regelsystem, das aus drei Spezifikationen besteht: (1) XSLT, einer Transformationssprache zur strukturellen Bearbeitung von XML-Dokumenten, die regelbasiert in XML-Syntax einen Transformationsprozess einer Eingabedatei in ein oder mehrere Ausgabedateien mit beliebigem Zielformat beschreibt, (2) XPATH, das die Selektion von (virtuellen) Teilbäumen einer XML-Struktur ermöglicht, und (3) XSL:FO, einem Standard zur Beschreibung von Druckseiten. (c) Informationsaustausch, d. h. die Verwendung von XML als allgemeines Datenaustauschformat zwischen Applikationen, auch auf der Ebene von Protokollen (SOAP u. Ä.) über das Internet. (d) Applikationsmodellierungssprache, d. h. die Verwendung von XML im Design, in der Programmierung und im Deployment von Applikationen, etwa in UML-basierten Entwicklungsumgebungen, genauso wie als steuerungsrelevante Modellierungssprache für Prozessverläufe in webbasierten Applikationsframeworks.

Kriterien der Qualitätskontrolle im Digitalen Archiv Um Bearbeitungs-, Ingest- und Migrationsabläufe – allgemein Workflows – innerhalb von Digitalen Archiven zu standardisieren, wurde das Open Archival Information System Reference Model17 (OAIS-Referenzmodell) 2002 als ISONorm eingeführt.18 Beteiligt an der Definition dieses Standards waren von Seiten der Archive die amerikanische nationale Archivverwaltung (NARA) und die Research Libraries Group (RLG). Dieser Standard wurde 1999 erstmalig als vollständige Textfassung in Form eines so genannten Red Book vorgelegt und zielt in erster Linie auf die Standardisierung von Abläufen im Bereich der Langzeitarchivierung digitaler Bestände. Dabei gibt das Referenzmodell einen for16 17 18

Vgl. http://www.w3.org/2004/02/skos/. Vgl. http://public.ccsds.org/publications/archive/650x0b1.pdf. Vgl. Uwe M. Borghoff [u. a.]: Langzeitarchivierung. Methoden zur Rettung digitaler Dokumente. Heidelberg 2003.

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mal-strukturellen Rahmen vor und definiert einen offenen Standard für ein dynamisches, erweiterungsfähiges Archivinformationssystem mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit.19 OAIS verzichtet auf Beschränkungen hinsichtlich bestimmter Systemarchitekturen, will anwendungsorientiert und skalierbar sein und auch keine institutionellen Rahmenbedingungen vorgeben. Das OAIS-Referenzmodell fokussiert auf Langzeitaufbewahrung und Langzeitnutzbarmachung (hauptsächlich) digital vorliegender Bestände, und dies unter der Berücksichtigung sich verändernder Technologien. OAIS modelliert (durch die rasante technologische Entwicklung vor allem webbasierter Instrumentarien sich wandelnde) Wege zur dauerhaften Sicherung digitaler Unterlagen in ihrem Entstehungskontext und in den wechselseitigen Beziehungen zu materiellem Kulturgut. Gedächtnisorganisationen werden auch in Zukunft Papier aufbewahren. Es treten lediglich neue Aufzeichnungsformen hinzu, die die alten keineswegs vollständig verdrängen werden. OAIS versucht die klassischen Arbeitsfelder von Archiven – Erfassen, Aussondern, Bewerten, Übernehmen, Erschließen, Erhalten und Zugänglichmachen – abzudecken, definiert sie aber in ihren Teilaufgaben und Arbeitsabläufen unter dem Blickwinkel der Bedürfnisse digitaler Archivierung neu. Im Prinzip beantwortet der Standard des OAIS-Referenzmodells die schon häufig gestellte Frage nach dem zukünftigen Aufgabenspektrum von Museen, Archiven, Bibliotheken und anderen einschlägigen Institutionen im digitalen Zeitalter. OAIS erhebt den Anspruch, auf jedes Archiv anwendbar zu sein. Der Begriff Archiv bezieht sich dabei ganz ausdrücklich auf den Bereich der dauerhaften Aufbewahrung und langfristigen Zugangssicherung.20 Das OAIS-Referenzmodell unterscheidet im Funktionsmodell zwischen drei so genannten Informationsobjekten, die miteinander in Verbindung stehen und sich aufeinander beziehen. Diese wurden entwickelt, um die unterschiedlichen Tätigkeiten bei der digitalen Archivierung besser beschreiben zu können. Daneben definiert OAIS ein Prozessmodell, das die auf den Informationsobjekten basierenden Abläufe charakterisiert. Was ein Digitales Archiv an digitalen Unterlagen (von ProduzentInnen) übernimmt, heißt in der Terminologie von OAIS zunächst Submission Information Package (SIP). Im Archiv selbst werden diese SIPs durch deskriptive Metainformationen ergänzt und zu Archival Information Packages (AIP) transformiert, die weiterverarbeitet werden und im Kern jene Form darstellen, in der die digitalen Informationen tatsächlich längerfristig aufbewahrt werden.

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Vgl. Martina Semlak: Wissenschaftliche Terminologien zu netz-basierten Kunstformen. Diplomarbeit Graz 2010, Abschnitt 4.2.4: Langzeitarchivierung von digitalen Daten. Vgl. Nils Brübach: Das Referenzmodell OAIS. In: nestor-Handbuch. Eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung. Version 2.0, Juni 2009. Hrsg. von Heike Neuroth [u. a.]. Göttingen 2009, Abschnitt 4.2. Die Online-Version unter http://nestor.sub.uni-goettingen.de/handbuch ist unter einer Creative Commons-Lizenz verfügbar.

Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffes „Digitale Edition“

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Die Umformung von Submission Information Packages zu Archival Information Packages kann zum Beispiel darin bestehen, dass aus den übernommenen Objekten und den gelieferten Metadaten die zur Langzeitarchivierung notwendigen Metadaten generiert werden. Darüber hinaus sind die Formate, in denen SIPs dem Archiv angeboten und von ihm übernommen werden, keineswegs ident mit den Aufbewahrungs- und Repräsentationsformaten, in denen die Archival Information Packages dann tatsächlich vorliegen. Die Dissemination Information Packages dienen der Nutzung und dem Zugang je nach den Bedürfnissen einer Nutzergruppe und lassen sich ganz gezielt für unterschiedliche BenutzerInnen anpassen. Gerade das ist für die klassische dauerhafte Bestandserhaltung in Archiven eine ungewöhnliche Vorstellung: Den BenutzerInnen wird nicht mehr vorgelegt, was im Magazin ist, sondern aus dem, was verwahrt wird, werden Informationspakete generiert, die auf die Bedürfnisse der NutzerInnen – auch in Abhängigkeit von Einschränkungen der Nutzungsrechte auf Seiten der unmittelbar Betroffenen oder Dritter – zugeschnitten werden. Die Transformation von AIPs in DIPs bezieht sich dabei nicht ausschließlich auf die Veränderung von z. B. Datenformaten, sondern auch auf die Bereitstellung oder die Auswahl von Information insgesamt. Die einzelnen Informationspakete werden im Rahmen des OAIS-Referenzmodells als digitale Objekte verstanden. Sie bestehen immer aus Daten und beschreibenden bzw. ergänzenden Zusatzinformationen. Jedes Informationspaket enthält einerseits inhaltliche Informationen (Content Information), die aus den übernommenen, ggf. aufbereiteten Ursprungsdaten und der beschreibenden Repräsentationsinformation bestehen, und andererseits Informationen zur Beschreibung der Aufbewahrungsform, die so genannte Preservation Description Information (PDI). Die PDI erklärt, welche Techniken hinsichtlich Veränderung, Sicherung und eindeutiger Identifizierung angewandt werden. Die PDI enthält folglich Informationen, welche die dauerhafte Aufbewahrung beschreiben, und besteht ihrerseits aus vier Elementen: (a) Elementen zur Abbildung der Provenienz (hier werden die Quellen der Inhaltsinformation seit deren Ursprung in ihrer weiteren Entwicklung beschrieben), (b) dem Kontext, in dem die Verbindung einer konkreten Inhaltsinformation mit anderen außerhalb liegenden Informationspaketen nachvollziehbar gehalten wird, (c) Beziehungen, die über ein System von eindeutigen Bezeichnern die Inhaltsinformationen eindeutig identifizierbar machen (unique identifiers), und (d) einer entsprechenden Stabilisierung, damit Inhaltsinformationen vor Veränderung bewahrt werden können. Die adäquate Umsetzung dieses Referenzrahmens erfordert ein Applikationsframework, das auf einem objektorientierten Datenmodell21 basiert, und zwar nicht nur auf der Ebene der für die Entwicklung des Frameworks verwendeten höheren Programmiersprache, sondern auch auf jener der Applikationslogik: 21

Vgl. Christian Wolf 2004 (Anm. 9), S. 166–192.

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Über das Design von Inhaltsmodellen (Objektklassen) können z. B. in einem FEDORA-basierten Digitalen Archiv22 komplexe (Objekt-)Klassenhierarchien konstruiert werden. Inhaltsmodelle beschreiben dabei nicht nur die inhaltliche Struktur von digitalen Objekten, sondern auch deren Relationen zu anderen Objekten und können über WSDL23 (Web Service Description Language) so genannte Disseminatoren (Methoden) objektorientiert an die Daten eines Archivobjektes binden. Den hier angesprochenen Aspekt der Bereitstellung eines digitalen Objektes bildet das Prozessmodell der OAIS-Standardisierung schließlich als Teilaspekt über die Modellierung jener (Arbeits-)Schritte ab, die notwendig sind, um das von den ProduzentInnen zur Verfügung gestellte Submission Information Package zu einem im Archiv gespeicherten Archiv Information Package (AIP) und in weiterer Folge zu einem für BenutzerInnen des Archivs bereitgestellten Dissemination Information Package (DIP) zu transformieren. Dabei werden die Prozesse Ingest, Archival Storage, Data Management, Administration, Preservation Planning und Access unterschieden. OAIS geht davon aus, dass Digitale Archive aus ganz unterschiedlichen Systemumgebungen SIPs in einer Vielzahl von unterschiedlichen Formaten übernehmen müssen, die erst bei der digitalen Archivierung nach einheitlichen Standards transformiert werden. Der Aspekt des Archival Storage zielt auf den eigentlichen digitalen Speicher, seine Organisation und seinen Aufbau im engeren Sinne. Dazu gehören der Aufbau der technischen Lagerungshierarchie und die regelmäßige, systematische Erneuerung der verwendeten Datenträger sowie das so genannte Refreshing, d. h. die laufende Überprüfung der Datenträger auf ihre Lesbarkeit. Im Bereich des Data Managements geht es um Wartung und die sichere Zugänglichkeit. Preservation Planning befasst sich nicht nur mit der Sicherstellung des reibungslosen Informationszuganges in der Gegenwart, sondern ist vielmehr in die Zukunft gerichtet. Es geht dabei um Überlegungen bezüglich Migration der in einem Standardformat vorgehaltenen Informationspakete in ein anderes, neues Format in Kombination mit ständiger Überwachung der technologischen Veränderungen.24

Fazit Standardisierte Annotationssprachen und auf einschlägigen Referenzmodellen basierende Technologien zur Verarbeitung von XML-basierten Datenstrukturen bilden heute die Basis für die Realisierung nachhaltiger Langzeitarchivierungsszenarien im Kontext der Digitalisierung des kulturellen Erbes, mit denen es möglich ist, digitale Ressourcen unterschiedlicher Provenienzen über zentrale 22 23 24

Vgl. http://www.fedora-commons.org. Vgl. http://www.w3.org/TR/wsdl.html. Vgl. Nils Brübach 2009 (Anm. 20), Abschnitt 4.2.3: Das Funktionsmodell des OAIS.

Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffes „Digitale Edition“

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Speicher-, Verwaltungs- und Retrievalstrukturen zur Verfügung zu stellen und für eine zitierfähige, der Prämisse der Wiederverwertbarkeit entsprechende Archivierung digital vorliegender Wissensbestände zu sorgen. Auch wenn bereits viel geschafft ist, stellen die technischen Umsetzungen Digitaler Editionen heute noch weitgehend Prototypen mit geringem Standardisierungsgrad dar. Viele technische Fragen sind gelöst und trotzdem gibt es noch viel zu tun: Nötig wären (a) standardisierte Modellierungssprachen zur Beschreibung von Bearbeitungsworkflows und Repräsentationsformen, (b) ein in den (Editions-)Wissenschaften geführter offensiver methodologischer Diskurs über Fragen der digitalen Transmedialisierung von Editionen, (c) problemadäquate und standardisierte Tools mit entsprechenden technischen Infrastrukturen sowie (d) vertrauenswürdige Digitale Archive und nachhaltige, institutionelle Infrastrukturen.

Elke Richter Goethes Briefhandschriften digital – Chancen und Probleme elektronischer Faksimilierung

Nach mehr als 10-jähriger Vorarbeit erschien 2008 der erste von insgesamt 36 Bänden der historisch-kritischen Gesamtausgabe von Goethes Briefen,1 die langfristig die Briefabteilung der Weimarer Ausgabe ersetzen soll.2 Auch wenn sie nicht ausdrücklich als Hybrid-Edition startete, so war doch von Anfang an daran gedacht, die neue Ausgabe basierend auf einer gemeinsamen Datengrundlage künftig nicht nur in gedruckter, sondern auch in elektronischer Form zu publizieren.3 Schon jetzt erscheinen komplementär zu den gedruckten Bänden und angebunden an das elektronische Repertorium sämtlicher Goethe-Briefe4 Digitalisate der Handschriften, deren Anzahl sukzessive erweitert werden soll. Zum Auftakt wurden 2010 die mehr als 1700 im Goethe- und Schiller-Archiv (GSA) aufbewahrten Handschriften der Briefe Goethes an Charlotte von Stein digitalisiert und im Internet veröffentlicht. Wenn damit auch schon ein vergleichsweise umfangreiches Brief-Korpus in digitaler Form zugänglich ist, so steht der Hauptteil der Digitalisierung und Veröffentlichung noch aus. Insgesamt sind zu mehr als 10 000 Briefen Goethes die Handschriften der Ausfertigungen überliefert. Etwa die Hälfte davon gehört zu den Beständen des GSA, dazu kommen noch einmal etwa 18 000 Konzepthandschriften. Mehr als 5200 Handschriften aber sind weltweit verstreut.5 Aufgrund dieser umfangreichen Überlie1

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Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv hrsg. von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter. Bd. 1ff. Berlin 2008ff. – Bd. 1 I/II: 23. Mai 1764–30. Dezember 1772. Text und Kommentar. Hrsg. von Elke Richter und Georg Kurscheidt (2008). – Seither sind 4 Bände erschienen, zuletzt Bd. 7 I/II: 18. September 1786–10. Juni 1788. Text und Kommentar. Hrsg. von Volker Giel unter Mitarbeit von Yvonne Pietsch, Susanne Fenske, Markus Bernauer und Gerhard Müller (2012). – Fortan: GB. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen [Weimarer Ausgabe]. 143 Bde. – IV. Abtheilung: Goethes Briefe. 50 Bde. Weimar 1887–1912. – Fortan: WA. Die Ausgabe erscheint derzeit in gedruckter Form sowie als E-Book (vgl. http://www.oldenbourg-verlag.de/akademie-verlag/johann-wolfgang-goethe-briefe). Als Vorprojekt der Edition wurde eine Datenbank mit Angaben zur Überlieferung sämtlicher derzeit bekannten Goethe-Briefe aufgebaut, die seit 2000 über das Internet zugänglich ist: Johann Wolfgang Goethe: Repertorium sämtlicher Briefe. 1764–1832. Hrsg. von der Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv. Bearb. von Elke Richter u. a. Begr. von Paul Raabe. Gefördert von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (http://ora-web.weimar-klassik.de/swk-db/goerep/index.html). Im Repertorium sämtlicher Briefe werden insgesamt mehr als 200 Standorte in Europa, Nord-

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ferung ist die Digitalisierung sämtlicher Briefe Goethes nicht nur mit hohen Kosten verbunden, sondern sie bedarf auch der Genehmigungen der zahlreichen besitzenden Einrichtungen oder der Privatbesitzer. Der damit verbundene Aufwand muss also wohl begründet sein. Die Faksimilierung ist Transponierung des Faksimilierten in einen anderen Zeichenund Wahrnehmungszusammenhang, kurz: in die Welt publizierter Bücher. An der Bedeutung, die dieser Sphäre allgemein zuerkannt wird, haben Faksimiles teil. Diese Übertragung kehrt den Autor im Neglige´ des privaten Schreibers heraus gegenüber seinem Erscheinen im repräsentativen Habit der gedruckten Werke. Das technisch Neue tendiert auch in der Editionsphilologie dazu, allgemeinverbindlich, also Mode bzw. Standard zu werden, d. h. die Frage entbehrlich erscheinen zu lassen, ob seine Anwendung im Einzelfall sinnvoll sei. Der Reiz der Standardisierung geht von der damit verbundenen Entlastung von eigener Urteilsbildung aus.6

Was Klaus Hurlebusch mit Bezug auf die Faksimilierung von Handschriften und deren Wiedergabe im Druck zu bedenken gibt, gilt in noch weitaus stärkerem Maße für die sich mehr und mehr zum „allgemeinverbindlichen Standard“ entwickelnde Handschriften-Digitalisierung und -Veröffentlichung. Im Folgenden soll am Beispiel der Goethe-Briefe der Frage nachgegangen werden, wie „sinnvoll“, d. h. eigentlich wie unverzichtbar, sie für eine Brief-Edition ist und welche Auswirkungen sie auf Textdarbietung und Textkonstitution hat. In den vergangenen Jahrzehnten hat nicht nur unter Editoren das Verständnis des Eigenwerts von Briefen und Tagebüchern zugenommen. Schon lange werden diese nicht mehr nur als Quellen für Werkentstehung oder Biographie eines Autors betrachtet, sondern vorzüglich als persönliche Dokumente, womit sich auch die Anforderungen an ihre editorische Präsentation verändern. Im Unterschied zu Tagebüchern sind Briefe aber nicht primär Zeugnisse der Selbstreflexion, sondern der Beziehung zu einem oder zu mehreren Adressaten. Dass sie dessen ungeachtet auch der Selbstverständigung ihres Verfassers dienen können, der Adressatenbezug dann eher nebensächlich erscheint, belegen u. a. die Briefe des jungen Goethe, die nicht selten anstelle eines aus der frühen Zeit nicht überlieferten Tagebuchs gelesen werden können. Insgesamt aber spielen für den Schreiber eines Briefes soziale Konventionen ebenso eine Rolle wie der dem

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und Südamerika sowie Asien nachgewiesen, darunter das Freie Deutsche Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum (ca. 800 Briefe), das Thüringische Hauptstaatsarchiv in Weimar (ca. 700), das Goethe-Museum in Düsseldorf (ca. 350), die Universitätsbibliothek in Leipzig (ca. 330), die Biblioteka Jagiellon´ska in Krako´w – bis 1945 Teil der Autographensammlung der Preußischen Staatsbibliothek Berlin – (ca. 600), die Bibliothe`que Nationale et Universitaire in Straßburg (ca. 70), die Nationalbibliothek in Wien (ca. 50), die Pierpont Morgan Library in New York (ca. 100) und die Beinecke Library der Yale Universität in New Haven (ca. 60). Klaus Hurlebusch: Vorwort. In: Buchstabe und Geist, Geist und Buchstabe. Arbeiten zur Editionsphilologie. Frankfurt a. M. 2010, S. 9 f.

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Adressaten unterstellte Erwartungshorizont, seine individuelle Befindlichkeit und sein Wissen. Die Spuren dieser mehr oder weniger bewussten Ausrichtung auf den Adressaten werden ebenso wie die einer Selbstreflexibilität und vielleicht nur scheinbaren Gleichgültigkeit gegenüber dem Empfänger nicht erst im Text selbst, sondern auf jeder Ebene des Dokuments sichtbar. Dies beginnt bei der Wahl des Schriftträgers und des Schreibmaterials und zeigt sich vor allem in der Schrift selbst.

Schriftträger Im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert wurden Briefe in der Regel auf handgeschöpftes Papier geschrieben, nach der Herstellungsart auch als Büttenpapier bezeichnet, das sich allerdings sowohl in seiner Qualität und Farbe, seinem Format, aber auch durch gedruckte oder gezeichnete Verzierungen, die Art der Faltung und vieles andere mehr erheblich voneinander unterscheiden kann. Die von Goethe für seine Briefe verwendeten Papiere variieren nicht nur im Laufe der Jahrzehnte und bei unterschiedlichen Adressaten, sondern ändern sich schon innerhalb einer Korrespondenz und eines kürzeren Zeitraums, wie die überwiegend im ersten Weimarer Jahrzehnt geschriebenen Briefe an Charlotte von Stein belegen. Diesen wahrscheinlich frühesten überlieferten Brief an Charlotte von Stein (Abb. 1), vermutlich vom 7. Januar 1776, schrieb Goethe auf ein ungleichmäßig von einem größeren Blatt abgetrenntes Stück Papier im Format 17,2(–17,5) × 12,4(–12,6) cm. Das Blättchen zeigt noch eine weitere Auffälligkeit, auf die Goethe im Text eingeht, nämlich dass „die Fidibus hier zu Lande so galant“ gefaltet werden „wie ein s ü s s Z e t t e l g e n “, ein ,billet doux‘, ein süßes Briefchen, also wie ein Liebesbrief. Und so wie ein „Fidibus“, nach Adelung „ein zusammen gerolltes oder zusammen gelegtes längliches Stück Papier, eine Pfeife Tabak damit an[zu]zünden“,7 war auch der vorliegende Zettel und waren viele der kleinformatigen Briefblättchen gefaltet, die Goethe von Haus zu Haus an Charlotte von Stein schickte. Das beim Auseinanderfalten entstehende netzartige Muster auf dem Papier ist auf der Abbildung noch zu erkennen.

7

Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe. 4 Bde. Leipzig 1793–1801, hier Bd. 2, S. 145.

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Abb. 1: Goethe an Charlotte von Stein, [7. Januar 1776]; GSA Weimar, Sign. 29/486,I, Bl. 21

Ebenfalls von einem größeren Blatt abgetrennt, allerdings sehr viel gleichmäßiger, wurde das Zettelchen vom 1. Mai 1776 (Abb. 2), diesmal aber ist es derberes blaues Papier, das Goethe gewöhnlich zum Zeichnen benutzte.

Abb. 2: Goethe an Charlotte von Stein, 1. Mai [1776]; GSA Weimar, Sign. 29/486,I, Bl. 15

Unzählige solcher Blättchen sollte Goethe der Freundin in den nächsten zehn Jahren noch schreiben. Viele davon auffallend nachlässig abgerissen, andere dagegen sauber geschnitten und mit gedruckten Zierrändern versehen, wie das nächste Beispiel zeigt.

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Abb. 3: Goethe an Charlotte von Stein, [zwischen 20. und 23. Mai? 1776]; GSA Weimar, Sign. 29/486,I, Bl. 7

Dieser Brief (Abb. 3) galt der Weimarer Ausgabe als erster überlieferter Brief an Charlotte von Stein, stammt wahrscheinlich aber erst aus dem Mai 1776. Blättchen mit dieser Art von gedruckter Bordüre verwendete Goethe ab 1776 bis etwa 1779, in den späteren Jahren variieren die Umrandungen, lassen sich aber meist einem bestimmten Zeitraum zuordnen.8 Auch ganz außergewöhnlich verziertes Papier findet sich in der Korrespondenz mit Charlotte von Stein. Seinen Brief vom 19. oder 20. November 1776 (Abb. 4) schrieb Goethe auf dieses „Zieraffen Papier“, das er fand, nachdem er seine „kleine Wirthschafft um und umgekehrt“ hatte. Ein „Zieraffe“ ist nach Adelung „in der vertraulichen Sprechart, eine Person, welche sich ziert, d. i. affectirte Bewegungen und Complimente macht. So auch die Zierpuppe, ein solches Mädchen.“9 Goethe hatte das Papier also wohl von einer Freundin oder Verehrerin geschenkt bekommen und bestimmte es nun zu einem der „süßen Briefe“ für Charlotte von Stein.

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9

Einen Überblick mit Faksimiles bietet Ernst Wolfgang Mick: Goethes umränderte Blättchen. Dortmund 1982. Adelung 1793–1801 (Anm. 7), Bd. 3, S. 1712.

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Abb. 4: Goethe an Charlotte von Stein, 19. oder [20.] November [1776]; GSA Weimar, Sign. 29/486,I, Bl. 38 Vorderseite

Aus einer viel späteren Zeit stammt der folgende Brief, der ebenfalls an eine Frau gerichtet ist, allerdings an eine weniger vertraute, gleichwohl aber hochverehrte Adressatin, Friederike Prinzessin zu Solms-Braunfels, die spätere Herzogin von Cumberland und Königin von Hannover, die Goethe 1806 in Karlsbad kennengelernt hatte.

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Abb. 5: Goethe an Friederike Prinzessin zu Solms-Braunfels, 30. Dezember 1811; GSA Weimar, Sign. 29/143,I, Bl. 3–5, S. 1

Wenngleich sich zu ihr nur ein sporadischer Briefwechsel entwickelte und Goethe die Fürstin auch nur wenige Male traf, blieb er ihr doch über zwei Jahrzehnte in fast schwärmerischer Sympathie verbunden. – Sein Brief an sie vom 30. Dezember 1811 (Abb. 5) und 1. Januar 1812 steht auf einem besonders kostbar wirkenden Papier mit geprägter Bordüre und gezeichnetem blauen Rand, in Goethes Korrespondenz eine Rarität, die auf den hohen Rang der Empfängerin und Goethes Verehrung für sie verweist.

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Schreibmaterialien Weniger variabel, doch keineswegs einheitlich zeigt sich das verwendete Schreibmaterial. Wie im 18. Jahrhundert üblich, schrieb Goethe seine Briefe vorwiegend mit Tinte, doch gelegentlich auch mit Bleistift, mitunter wechselte er zwischen Blei und Tinte. Am 24. Mai 1775 auf dem Weg in die Schweiz beginnt er mit Bleistift einen Brief an Johanna Fahlmer: Liebe Tante. In freyer Lufft! einem Uralten Spaziergang hoher vielreihkreuzender Linden, Wiese dazwischen das Münster dort! Dort die Ill. Und Lenz lauft den Augenblick nach der Stadt. [...]10

Beendet wird der Brief erst zwei Tage später, und zwar in Straßburg und mit Tinte. Auch der Brief an Charlotte von Stein vom Juni und Juli 1776 (Abb. 6) ist an unterschiedlichen Orten und – wie der Inhalt belegt – in ausgelassener Stimmung geschrieben worden: Den zweiten Briefteil beginnt Goethe am „27. Jun[i]. Nachts. [...] beym Herz[og]“ mit Tinte und setzt ihn am 28. morgens, vor der Sitzung des Geheimen Consiliums, fort. Unmittelbar danach begrüßt auch der Herzog die „liebe Frau“ in Pyrmont, wo sie „das erste glas auf Göthens, u.“ seine „Gesundheit“ trinken soll. Erst mehr als eine Woche später, am 5. Juli, setzt Goethe im Zimmer der Adressatin und auf deren „Canapee“ mit Bleistift einen vorläufigen Schluss hinzu.

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GB, Bd. 2 I (2009), S. 191, Nr. 241.

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Abb. 6: Goethe an Charlotte von Stein, 27. Juni–5. Juli [1776]; GSA Weimar, Sign. 29/486,I, Bl. 23

Die Wahl des Schreibmaterials hängt also ganz offensichtlich mit der Situation zusammen, in der ein Brief geschrieben wurde. Unterwegs in „freyer Lufft“ oder ungezwungen auf einem „Canapee“ in einem fremden Zimmer sitzend wäre es viel zu umständlich gewesen, mit Feder und Tinte zu schreiben, daher wurde ein Bleistift benutzt, den Goethe zum Zeichnen immer mit sich führte. Doch auch der Adressat oder die Adressatin und das Verhältnis zu ihm oder ihr spielen eine Rolle. An die vertraute Freundin in Frankfurt, die „Liebe Tante“, konnte Goethe ebenso wie an Charlotte von Stein in einer ,inoffziellen‘, vorläufigen Form schreiben, ohne Gefahr zu laufen, die Empfängerinnen zu brüskieren.

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Schrift Neben den äußeren Eigenschaften des Schriftträgers und des Schreibmaterials ist die Handschrift dasjenige, was dem Empfänger eines Briefes zuerst und noch vor dem Entziffern des Textes ins Auge fällt. In einem Privatbrief, nur von solchen ist hier die Rede, tritt der Schreiber uns wie ehedem dem Adressaten des Briefes durch seine Handschrift ganz unmittelbar sozusagen „im Neglige´“ und nicht „im repräsentativen Habit“ des Drucks entgegen. Durch die Spur seiner Hand wird der physisch abwesende Schreiber gleichsam zum Anwesenden.11 Dass sich Goethe der Bedeutung, die die Handschrift, die seine Handschrift für den Empfänger besaß, sehr wohl bewusst war, belegen zahlreiche Äußerungen in seinen Briefen. Häufig schrieb er unter diktierte Briefe einen eigenhändigen Schluss. Vor allem wenn es sich um sehr persönliche Mitteilungen handelte, war es unangebracht, diese einem Schreiber zu diktieren. Unter diktierte Briefe an Christiane Vulpius schrieb Goethe häufig einen eigenhändigen Schluss, wie z. B.: „Nun muß ich dir noch mit eigener Hand einiges hinzufügen und dir sagen: daß ich dich recht herzlich, zärtlich und einzig liebe und daß ich nichts sehnlicher wünsche als daß deine Liebe zu mir sich immer gleich bleiben möge.“12 Auch der schon aufgeführte Brief an Friederike Prinzessin zu Solms-Braunfels vom 30. Dezember 1811 stammt nicht von Hand des Dichters selbst, sondern von der seines Mitarbeiters und Sekretärs Friedrich Wilhelm Riemer (vgl. Abb. 5). Lediglich Schlussformel und Unterschrift auf der vierten Seite sind eigenhändig. Für die ,Unhöflichkeit‘, nicht mit eigener Hand geschrieben zu haben, die fast schon einem Verstoß gegen die Konventionen eines privatfreundschaftlichen Briefwechsels gleichkam, entschuldigt sich Goethe in einem eigenhändigen Nachtrag vom 1. Januar 1812 (Abb. 7) und hebt so den zuvor begangenen Fauxpas wieder auf.

11 12

Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Schrift. München 1993, S. 201. Brief vom 23. September 1797; WA IV 12, 307.

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Ew Hoheit verzeihen gnädigst wenn beyliegendes von einer fertigeren Hand als die meinige geschrieben sich darstellt. Der Schreiber Dr Riemer empfielt sich zu Gnaden und findet sich glücklich bey dieser unterthänigsten Neujahrs Aufwartung seine aufrichtigen Glückwünsche mit den meinigen verbinden zu dürfen. Unwandelbar Ew Hoheit geeignet. W. d. 1 Jan 1812. Goethe13

Abb. 7: Goethe an Friederike Prinzessin zu Solms-Braunfels, 1. Januar 1812; GSA Weimar, Sign. 29/143,I, Bl. 3–5, S. 5

Augenfällig ist, dass die eigenhändigen Briefe Goethes stark in ihrem Schriftbild differieren können, je nachdem, an wen er schreibt oder in welcher Situation er sich selbst befindet. Ausgesprochen flüchtig schrieb er häufig nicht nur an Charlotte von Stein, sondern ebenso an andere vertraute Adressaten wie die Frankfurter Freundin Johanna Fahlmer oder Johann Christian Kestner in Hannover, den Freund aus der Wetzlarer Zeit, bei denen er offenbar nicht befürchten musste, durch die Vernachlässigung der äußeren Formen Anstoß zu erregen. Auch innerhalb eines Briefes kann der Duktus zwischen sorgfältiger und flüchtiger Schrift wechseln. So sind viele der Briefe an Charlotte von Stein am Anfang vergleichsweise sorgfältig geschrieben, werden aber mit zunehmendem Text flüchtiger, bis die Schrift schließlich kaum noch zu entziffern ist. In vielfacher Hinsicht exemplarisch erscheint der Brief (Abb. 8), in dem Goethe Charlotte von Stein die Nachricht vom Tod seiner Schwester Cornelia übermittelt, die

13

Transkription nach der Handschrift.

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am 8. Juni 1777 im badischen Emmendingen wenige Wochen nach der Geburt ihrer zweiten Tochter gestorben war.

Abb. 8: Goethe an Charlotte von Stein, 16. Juni 1777; GSA Weimar, Sign. 29/486,I, Bl. 100

Um achte war ich in meinem Garten fand alles, gut und wohl und ging mit mir selbst, mit unter lesend auf ab. Um neune kriegt ich Briefe dass meine Schwester todt sey. – Ich kann nun weiter nichts sagen G.

Goethe hatte erst am Morgen des 16. Juni, unmittelbar nach seiner Rückkehr vom Landgut der Familie Stein in Kochberg, die Todesnachricht erhalten: „früh zurück. Brief des Todts m. Schwester. Dunckler zerrissener Tag“,14 lautet der 14

Johann Wolfgang Goethe: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik hrsg. von Jochen Golz unter Mitarbeit von Wolfgang Albrecht, Andreas Döhler

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Eintrag im Tagebuch. Wenig später muss er den vorliegenden Brief geschrieben haben. Der Text, abrupt endend mit dem Satz „Ich kann nun weiter nichts sagen“, steht auf der ersten Seite eines Doppelblattes, die nur zu einem Viertel beschrieben ist. Der zunehmend unruhiger werdenden Schrift ist anzusehen, wie sehr der Schreiber um Fassung ringt und dass ihm dies am Ende nicht mehr gelingen will. – Der Brief ist von seinem Inhalt her, doch ebensosehr, ja fast noch mehr durch seine äußere Gestalt ein erschütterndes Dokument, das Goethes Schmerz über den Tod seiner Schwester fast körperlich spürbar werden lässt. Wie diese wenigen Beispiele belegen, sind in der privaten Korrespondenz die äußere Beschaffenheit eines Briefes, die Qualität seines Papiers, sein Format und seine Faltung, das Schreibmaterial und die Handschrift vielfach kaum weniger bedeutsam als das, was im Text selbst mitgeteilt wird. Diese nonverbalen, gleichwohl aber bedeutungstragenden Elemente müssen daher in einer Edition, zumal in einer historisch-kritischen, dokumentiert werden. Je genauer dies gelingt, desto besser erfüllt sie ihren wissenschaftlichen Anspruch.15 Ihrer Vermittlung durch das Medium Druck sind per se Grenzen gesetzt. Auch die Aussagekraft der verbalen Beschreibung einer Handschrift im Kommentar, die die Textkonstitution vervollständigt, muss naturgemäß weit hinter der eines gedruckten Faksimiles und mehr noch einer digitalen Abbildung zurückbleiben. Die Faksimilierung respektive Digitalisierung der Handschriften und ihre Veröffentlichung komplementär zu Text und Kommentar sind bei Briefausgaben also durchaus kein ,schmückendes Beiwerk‘, sondern integraler Bestandteil, bei wissenschaftlichen Editionen erscheinen sie trotz des damit verbundenen Aufwandes nachgerade unverzichtbar. Es bleibt zu fragen, ob die komplementäre Veröffentlichung der Handschriftendigitalisate auch Auswirkungen auf die Textkonstitution im engeren Sinne hat. Wie das Beispiel von Goethes erstem überlieferten Brief an Charlotte von Stein belegt, sagen Beschaffenheit und ,Zurichtung‘ des Briefpapiers einschließlich seiner Faltung sowie die vergleichsweise nachlässige Handschrift bereits etwas über sein Verhältnis zur Adressatin aus, das in Anbetracht des Umstandes, dass Goethe sie erst wenige Wochen zuvor, im November oder Anfang Dezember 1775, kennengelernt hatte, auffallend vertraut erscheint (vgl. Abb. 1). Das Erscheinungsbild der Handschrift korrespondiert mit dem von Anfang an leidenschaftlichen Ton der Briefe. Dieser früheste Brief weist – in seiner Materialität wie auch sprachlich-inhaltlich – auf die gesamte Korrespondenz des ersten

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und Edith Zehm. Bd I 1: 1775–1787. Text. Hrsg. von Wolfgang Albrecht und Andreas Döhler. Stuttgart, Weimar 1998, S. 44. Vgl. Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuchund Briefedition. In: Buchstabe und Geist, Geist und Buchstabe (Anm. 6), S. 98–116.

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Jahres voraus, als Goethe Tonfall und Form seiner Briefe noch nicht gefunden hatte und zwischen stürmischem Sich-Mitteilen, Gefühlsüberschwang, Liebesbeteuerungen und Resignation und Verstimmtheit, zwischen Angezogensein und Sich-Abgestoßen-Fühlen hin und her schwankt. Ich muss Ihnen noch einen Danck für das Wurst Andencken und eine Gute Nacht sagen. Mein Peitschen Hieb übers Aug ist nur a l l e g o r i s c h wies der B r a n d an meinem Billet von heut früh auch ist. Wenn man künftig die Fidibus hier zu Lande so galant kneipen wird wie ein s ü s s Z e t t e l g e n , wirds ein trefflich leben werden. Ich bin geplagt und so gute Nacht. Ich hab l i e b e Briefe kriegt, die mich aber peinigen weil ich sie l i e b sind. Und alles l i e b e peinigt mich auch hier ausser S i e liebe Frau, so l i e b Sie auch sind. Drum das einaugige Gekrizzel zu Nacht. G.16

Im edierten Text geht durch die Transformation der individuellen Handschrift in den typographisch standardisierten Druck zunächst das charakteristische Schriftbild verloren, das für diesen Brief – wie gerade beschrieben – von ganz besonderer Bedeutung ist. Schwierigkeiten bereiten aber auch die verschiedenen Hervorhebungen der handschriftlichen Vorlage. Nach den Prinzipien der historischkritischen Ausgabe der Goethe-Briefe werden einfache Hervorhebungen, hier einfache Unterstreichungen in der Handschrift, durch Sperrung im Druck wiedergegeben, doppelte Hervorhebungen, im vorliegenden Fall doppelte Unterstreichung in der Handschrift, durch Sperrung und Fettdruck, dreifache Hervorhebung, in der Handschrift dreifach unterstrichen, durch Sperrung, Fettdruck und eine um 1° vergrößerte Schrift. Die Differenzierung der Hervorhebungen im gedruckten Schriftbild, vor allem die zwischen Hervorhebung zweiten und dritten Grades, ist nur bei genauer Betrachtung zu erkennen. Es bliebe die Variante, das durch Unterstreichung in der Handschrift Hervogehobene auch im Druck zu unterstreichen. Aus ästhetisch-typographischen Gründen wurde jedoch die klassische Form der Sperrung gewählt. Ob eine andere Entscheidung in diesem Fall tatsächlich die Probleme lösen würde, ist fraglich, da eine dreifache Unterstreichung im Druck ebenfalls Schwierigkeiten mit sich brächte. Außerdem können in der Handschrift natürlich weit mehr als nur drei unterschiedliche Hervorhebungen vorkommen. – Auch in diesem speziellen Fall der Textkonstitution, der allerdings keine Ausnahme darstellt, sondern vielmehr für die Eigenart privater Briefe exemplarisch erscheint, schafft erst das Digitalisat der Handschrift visuelle Eindeutigkeit.

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Transkription nach der Handschrift: GSA 29/486,I, Bl. 21 (vgl. Abb. 1).

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Abb. 9: Goethe an Cornelia und Johann Caspar Goethe, 12. und 13. Oktober 1765; GSA Weimar, Sign. 37/VIII,17, Bl. 1 und 3–5, S. 4

Vor allem der junge Goethe verschickte seine Briefe an vertraute Korrespondenzpartner gleichsam noch im Entwurfsstadium mit allen Arten von Korrekturen: Entweder aus Nachlässigkeit oder aus Eile nahm er es in Kauf, dass der Empfänger den stark korrigierten Text mit allen Verschreibungen und Streichungen zu Gesicht bekam (vgl. Abb. 9). Daher kann es in der Textkonstitution einer Briefausgabe keine Trennung zwischen Text und Varianten geben, d. h., jede Korrektur ist ein Element der Struktur des Textes und muss im edierten Text dokumentiert werden. Im Druck ist dies nur mit Hilfe eines Variantenapparats wiederzugeben, der, wie umfassend und detailliert er auch sein mag, doch immer nur eine ,Übersetzung‘, ein Surrogat der Handschrift – allerdings ein editorisch unverzichtbares Surrogat – sein kann.

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In unserer gedruckten Ausgabe haben wir uns für einen Kompromiss entschieden, der darin besteht, sämtliche Varianten im edierten Text selbst und nicht im Kommentar mitzuteilen, allerdings in Form eines Fußnotenapparats. Er ist aus einer ursprünglich integrierten Variantenverzeichnung entstanden und versucht, möglichst ohne diakritische Zeichen und mit wenigen Editorbemerkungen auszukommen. Dass er nicht direkt in den Text integriert, sondern in Form von Fußnoten erscheint, die mit Hilfe der Zeilenzahl an den Text angebunden werden, geschieht aus Gründen der Zitierbarkeit und nach ausführlicher Diskussion mit den potentiellen Nutzern der Ausgabe.

Abb. 10: Goethe an Cornelia und Johann Caspar Goethe, 12. und 13. Oktober 1765; Druckbild, GB 1 I, S. 16, Nr. 5.

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Das Beispiel zeigt aber noch etwas anderes. Im Vergleich zur Verzeichnung einer Streichung im Variantenapparat – ganz gleich, wie dies geschieht – wird durch die Abbildung der Handschrift sofort einsehbar, auf welche Weise die Streichung vorgenommen wurde. In den meisten Apparaten – so auch in unserer Ausgabe – wird z. B. nicht weiter unterschieden, ob die Streichung wie im vorliegenden Fall mit mehreren diagonalen Strichen erfolgte oder durch einen Strich, der wiederum dünn oder dick sein kann, durch eine Wellenlienie, durch Übermalung z. B. mittels Schlingen u. v. a. m. Sicher ließe sich einwenden, dass es im Unterschied zu unserer vergleichweise wenig differenzierten Art der Verzeichnung sehr viel ausgefeiltere Apparate gibt. Aber erstens ist der Preis dafür eine gewisse Unübersichtlichkeit entweder durch eine Vielzahl unterschiedlicher graphischer Varianten oder eine Häufung von Editorbemerkungen. Unser Ziel war, wissenschaftlich genau und vollständig zu sein, dabei aber verständlich zu bleiben. Der Leser der Ausgabe soll angeregt werden, die Informationen, die im edierten Text mit seinen Varianten enthalten sind, auch wirklich zur Kenntnis zu nehmen, und zwar ohne erst mühsam in den Verzeichnissen nachschlagen zu müssen. Zweitens sind der Wiedergabe z. B. aller denkbaren Arten von Streichungen – wie das schon bei den unterschiedlichen Arten der Hervorhebungen der Fall war – auf verbaler oder graphischer Ebene Grenzen gesetzt. – Wie wäre die Breite eines Striches exakt zu verzeichnen? Reicht hier die Angabe ,dünner‘ und ,dicker Strich‘ wirklich zur Differenzierung aus, und wie sinnvoll wäre sie überhaupt? – Wichtiger dagegen erscheint der Nachweis, ob eine Stelle trotz Streichung noch lesbar ist oder nicht; da wir den gestrichenen Text in der Variante drucken, wird dies indirekt natürlich mitgeteilt, ebenso, wenn er nicht mehr lesbar ist. Dennoch ist auch hier der Informationsgehalt des Faksimiles nicht zu überbieten. Unmittelbar vor der ersten längeren Trennung Goethes von Charlotte von Stein, die am Morgen des 25. Juni 1776 für etwa sechs Wochen nach Pyrmont reiste, schrieb Goethe ihr diesen Brief (Abb. 11). Seine innere Verfassung kommt wie so häufig in seinen Briefen bereits in der Handschrift zum Ausdruck. In der dritten und vierten Zeile streicht er die Stelle: „Auch das Portefeuille“, die Ankündigung eines Geschenks, das er ursprünglich mit dem Brief überschicken wollte. Die Streichung wird aber so vorgenommen, dass die Stelle noch gut lesbar bleibt, ja vielleicht dadurch sogar besonders hervorgehoben wird. Auch wenn dies vom Briefschreiber wahrscheinlich nicht so beabsichtigt war, hat er es aber zumindest so belassen und damit sanktioniert. Im vorliegenden Brief macht Goethe dazu sogar eine Anmerkung, die nur verständlich ist, wenn die gestrichene Stelle mitgelesen wird. Das heißt, der ursprünglich intendierte Text wurde, wenngleich gestrichen, dem Adressaten dennoch mitgeteilt, wie übrigens auch bei den Streichungen im Brief an Cornelia und Johann Caspar Goethe (Abb. 9). In der Wiedergabe einer Streichung in einem gedruckten Variantenapparat lässt sich dieser Befund nicht adäquat abbilden. Erläuternde Zusätze des

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Editors aber tendieren immer dazu, die Mehrdeutigkeit des Befundes zu vereindeutigen und so dessen dokumentarische Wiedergabe letztlich zu verfehlen. Die komplementäre Veröffentlichung der digitalen Abbildungen erscheint hier geradezu als zwingend und dient nicht nur der Veranschaulichung der Korrekturvorgänge, sondern gleichermaßen der Überprüfbarkeit und Transparenz editorischer Befunde.

Abb. 11: Goethe an Charlotte von Stein, [24. Juni 1776]; GSA Weimar, Sign. 29/486,I, Bl. 73

Gerade daraus aber können sich auch eine Reihe neuer Probleme ergeben, die sich in einer konventionellen Edition gar nicht stellen und auf die abschließend kurz eingegangen werden soll. Auswirkungen sind naturgemäß schon für die Textkonstitution und -darbietung abzusehen. Denn auch wenn eine wissenschaftliche Briefedition die buchstaben- und zeichenadäquate Konstitution der Texte anstrebt, ist doch deren abbildliche Wiedergabe weder möglich noch sinnvoll. In der typographischen Transformation findet naturgemäß immer eine Normierung und damit auch eine

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Glättung und Vereinfachung von potentiell unendlich differierenden Befunden statt. In den Grundsätzen der Goethe-Briefedition z. B. ist festgelegt, dass bestimmte historische Schreibkonventionen nicht urkundlich nachgebildet werden: so wird der Geminationsstrich über n und m zur Doppelschreibung aufgelöst, doppelte Binde- und Trennungsstriche werden als einfache Binde- und Trennungsstriche wiedergegeben, Umlautschreibungen durch hochgestelltes ,e‘ erscheinen in der heute üblichen Form und Dittographien bei Seitenwechsel werden ausgeschieden. Bereits diese Eingriffe könnten – wenngleich in den Grundsätzen nachgewiesen – zu Irritationen führen, sobald das digitale Abbild der Handschrift nachgerade dazu auffordert, mit dem edierten Text verglichen zu werden. Ebenso wird die Verteilung des Geschriebenen auf dem Überlieferungsträger zwar strukturell, nicht aber urkundlich wiedergegeben, und natürlich fällt auf einer Abbildung z. B. eine Nachschrift quer zur Schreibrichtung des Briefes ganz anders ins Auge als durch eine Bemerkung im Kommentar. Auch die Art der Variantenverzeichnung durch den Editor wirft nun möglicherweise Fragen auf, z. B. weshalb eine Streichung eben nicht exakt in der Form wie in der Handschrift wiedergegeben wird, wo genau Einfügungen stehen oder auf welche Art die Korrektur eines Wortes oder Buchstaben vorgenommen wurde. In der elektronischen Version der Ausgabe wäre es immerhin möglich, die Varianten wahlweise in den Text zu integrieren. Im Moment ist dies zwar in unserer Ausgabe noch nicht vorgesehen, aber die Option besteht und wird sich vielleicht mit der Entwicklung der technischen ,Werkzeuge‘ künftig auch verwirklichen lassen.

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Abb. 12: Goethe an Heinrich Abraham Eichstädt, 19. Januar 1814; Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Sign. A/617/2005

Konsequenzen ergeben sich aber auch für die Handschriftenbeschreibung im Kommentar. So tragen viele der Überlieferungsträger Spuren, die weder vom Absender noch vom Empfänger des Briefes stammen und auch nicht von seiner Beförderung herrühren. Dies betrifft z. B. in Archiven vorgenommene und häufig wieder geänderte Foliierungen und Paginierungen oder auch Zusätze von fremder Hand aus späterer Zeit. Wenn der Rezipient der Ausgabe ein hochauflösendes Digitalisat der Handschrift jederzeit vor Augen hat, wird er wahrscheinlich nach all dem fragen, was dem Editor vielleicht vernachlässigenswert erschien, da es eben nicht zu den Merkmalen des persönlichen Dokuments gehört, also nicht vom Absender stammt und auch nicht vom Empfänger wahrgenommen wurde.

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Im Brief an Eichstädt vom 19. Januar 1814 z. B. stellt sich erstens die Frage, von wem die Zusätze über und unter dem Text stammen. Nach den Handschriften zu urteilen, sind sie wahrscheinlich aus späterer Zeit und von unterschiedlichen Händen, die Foliierung oben rechts könnte von einem späteren Besitzer oder einem Archivar herrühren. Aufschluss gibt möglicherweise der Umstand, dass dieser Brief aus zwei Teilen besteht, die an unterschiedlichen Orten verwahrt werden, wie anzunehmen ist, schon sehr lange. Während der erste, eigenhändige Teil, der hier zu sehen ist (Abb. 12), heute im Stadtgeschichtlichen Museum in Leipzig liegt, befindet sich der zweite, diktierte Teil – Schreiberin ist Caroline Ulrich – im Deutschen Literaturachiv Marbach. Dies erklärt wahrscheinlich auch, weshalb über und unter dem Brief der Befund der Eigenhändigkeit gleich zweimal vermerkt wurde. Während die Angabe unten links für den heutigen Leser gut zu entziffern ist, könnte schon der Bleistiftvermerk über dem Text Probleme bereiten und die Angabe in der Mitte unten sogar dem Editor Kopfzerbrechen bereiten. Wie also ist mit derartigen Zusätzen zu verfahren, die im Druck entweder pauschal beschrieben oder sogar ganz ignoriert werden könnten. Sind sie nun generell zu transkribieren und auch zu erläutern? Oder soll nach bestimmten Kriterien differenziert und ausgewählt werden? Soll diese erweiterte Beschreibung nur in der elektronischen Version einer Ausgabe erscheinen oder auch im Druck? – Mit diesen und ähnlichen Fragen werden wir uns in Zukunft ganz sicher noch häufiger konfrontiert sehen. Als vorläufiges Fazit lässt sich aus den vorgestellten Beispielen dreierlei ableiten: 1) Aufgrund der Besonderheit der Gattung ,Brief‘, die mit Blick auf ihre editorische Vermittlung vor allem darin besteht, dass ,Text‘ und ,Textträger‘ eine Einheit bilden, sich also die Materialität von Briefen in all ihren Ausprägungen (Papier, Schreibmaterial, Schrift und ihre räumliche Verteilung) von deren sprachlich-semantischer Ebene nicht trennen lässt, wird künftig ganz unabhängig vom Primärmedium die Faksimilierung, besser die Digitalisierung und Präsentation der Handschriften integraler Bestandteil einer Brief-Edition und mithin unverzichtbar sein, will diese einem wissenschaftlichen Anspruch genügen. Das digitale Medium bietet für die Einlösung dieses Anspruchs weitaus bessere Möglichkeiten als der Druck; erstmals können auch umfangreiche Briefkorpora wie z. B. Goethes Briefe digitalisiert und komplementär zu einer konventionellen Ausgabe zugänglich gemacht werden. 2) Die ergänzende Präsentation von Digitalisaten der Handschriften wird sich auch auf die Textkonstitution von Brief-Editionen auswirken. Sie erhöht nicht nur die Transparenz editorischer Entscheidungen, sondern führt auch zur Modi-

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fizierung von Text- und Variantendarbietung, und zwar hin zu stärker topographisch und mimetisch visualisierten Darstellungsformen. 3) Zu modifizieren sind schließlich auch die Teile des Kommentars, die die äußere Beschaffenheit des ,Textträgers‘ beschreiben und erläutern. Mit der Digitalisierung der Briefhandschriften werden nicht nur die Merkmale der zeitgenössischen Kommunikation zwischen Absender und Empfänger für den Rezipienten ohne Einschränkungen sichtbar (Faltungen, Adressen, Siegel, Postvermerke und -stempel, Empfangs- und Erledigungsvermerke etc.), auch bisher eher als zu vernachlässigend betrachtete archivarisch-überlieferungsgeschichtliche Spuren erhalten zumindest optisch einen neuen Stellenwert.

Manfred Koltes Probleme der Retro-Konversion. Die Regestausgabe der Briefe an Goethe

Im Kreise der „Brief-Editionen im digitalen Zeitalter“ nehmen die Briefe an Goethe – Gesamtausgabe in Regestform1 von vornherein eine Sonderstellung ein, da die Ausgabe von ihrer Konzeption her keine Edition im eigentlichen Sinne ist. Dazu fehlen ihr die Wiedergabe der Volltexte der an Goethe gerichteten Briefe und, als logische Folge, auf den Text bezogene Kommentierungen. Die Regestausgabe steht vielmehr in der Tradition archivischer Erschließung als intensivste Form der Hinführung zu den Quellen nach der Findbuchverzeichnung und dem Inventar.2 Auf die editorische Beschäftigung mit dem schriftlichen Nachlass Goethes im Goethe- und Schiller-Archiv ist Elke Richter in diesem Band bereits eingegangen. Mein Schwerpunkt wird stärker auf der Erschließungstätigkeit liegen, die im Goethe- und Schiller-Archiv am Goethe-Bestand geleistet wird. Die Intensität der Erschließung gerade dieses Bestandes erwächst zum einen aus seiner herausragenden wissenschaftlichen und kulturellen Bedeutung, seiner Geschlossenheit und Vielfalt, zugleich aber auch aus dem Auftrag des Archivs als wesentlicher Bestandteil der Klassik Stiftung Weimar, zur Vermittlung des kulturellen Erbes beizutragen. Dieser Auftrag wird noch bekräftigt durch die Verpflichtungen, die das Archiv bei der Aufnahme des Goethe-Bestandes in die UNESCO-Liste des „Gedächtnisses der Menschheit“ (Memory of the World)3 eingegangen ist. Für den Nutzer des Archivs ist der Zugang zum Goethe-Bestand nicht nur über die Findbuchverzeichnung möglich, die inzwischen auch retrodigitalisiert und im Rahmen der Archivdatenbank im Internet recherchierbar ist, sondern auch über die Inventare des Goethe- und Schiller-Archivs,4 die nicht nur den 1

2

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Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Hrsg. von Karl Heinz Hahn (Bd. 1–5), der Stiftung Weimarer Klassik/Goethe- und Schiller-Archiv (Ergänzungsband zu den Bänden 1 bis 5 und Bd. 6), der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen/Goethe- und Schiller-Archiv (Bd. 7), der Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv (Bd. 8). Weimar 1980ff. Bestandserschließung im Literaturarchiv. Arbeitsgrundsätze des Goethe- und Schiller-Archivs. Hrsg. von Gerhard Schmid (Literatur und Archiv. 7). München u. a. 1996. Nähere Informationen auf der Website der UNESCO (http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/flagship-project-activities/memory-of-the-world/register/full-list-of-regist ered-heritage/registered-heritage-page–8/the-literary-estate-of-goethe-in-the-goethe-and-schillerarchives/#c187143).

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lagerungsmäßigen Nachweis über die Handschriften im Bestand führen, sondern darüber hinaus Werkzusammenhänge bestimmen und nachweisen.5 Die mehr als 20 000 Briefe an Goethe werden seit Jahren regestiert und sowohl in Buchform als auch in elektronischer Form im Internet präsentiert. Sowohl die Inventarisierung als auch die Regestierung stellen vom archivischen Standpunkt aus besonders intensive Erschließungsverfahren dar, und sie sind, im Gegensatz zu den Findbüchern, zur Veröffentlichung gedacht. Die Regestierung zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass sie über formale Erschließung und Nachweis der Existenz und des Standorts eines Archivales hinaus auch eine inhaltliche Hinführung zu den Quellen und somit für den Nutzer bereits einen effektiven Filter bietet. Wichtig ist in dieser Hinsicht die Feststellung, dass sich die Regestausgabe aufgrund ihrer Konzeption an einen breiten, nicht durch Vorkenntnisse oder Erwartungen spezifizierten Nutzerkreis wendet. Seit 1980 erscheinen die Bände der Regestausgabe in gedruckter Form im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger. Jeder Band enthält durchschnittlich Regesten zu 1500 Briefen an Goethe. Bis zum Band 5 wurde die Edition in traditioneller Weise hergestellt: ein Manuskript wurde erstellt, an den Verlag gegeben, ein Setzer hat dieses Manuskript in die Satzform gebracht und nach dem ersten Umbruch erfolgte die Festlegung der Kolumnentitel und die Fahnenkorrektur. Mit dem Ergänzungsband zu den Bänden 1 bis 5,6 der neben den Nachträgen und Korrekturen zu den ersten fünf Bänden auch drei neue Register enthielt, wurde die Erfassung und Bearbeitung des Manuskriptes auf eine elektronische Basis gestellt, mit der Konsequenz, dass der Satz der darauffolgenden Bände nunmehr unmittelbar aus der der Bearbeitung der Regesten zugrunde liegenden Datenbank generiert wird, ohne dass der Verlag, der nunmehr lediglich für die Herstellung und den Vertrieb zuständig ist, weitere Zwischenergebnisse hätte liefern müssen. Diese Umstellung des aktiven Produktionsprozesses auf eine elektronische Basis stellt natürlich keine „Retro“-Konversion im eigentlichen Sinne dar, da von dieser Umstellung im Arbeitsprozess lediglich künftige Bände betroffen waren. Dennoch bringt diese Umstellung bei einem traditionell auf die Buchproduktion ausgerichteten Unternehmen Schwierigkeiten mit sich, die bei rein digitalen Unternehmungen in dieser Form nicht auftreten, insbesondere wenn neben der Buchveröffentlichung eine eigenständige digitale Präsentation der Inhalte steht. In dieser Situation befindet sich die Regestausgabe seit 2003. Trotz der Probleme, die im Folgenden in einer Art Werkstattbericht beschrieben 4

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Inventare des Goethe- und Schiller-Archivs. Bd. 2: Goethe-Bestand. Teil 1 Gedichte. Hrsg. von der Stiftung Weimarer Klassik/Goethe- und Schiller-Archiv. Weimar 2000. Teil 2: Dramen, Romane und Erzählungen. Hrsg. von der Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv. Weimar 2011. Vgl. Bestandserschließung im Literaturarchiv (Anm. 2), S. 133–183. Briefe an Goethe (Anm. 1). Ergänzungsband zu den Bänden 1 bis 5. Weimar 1995.

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werden sollen, bringt die doppelte Veröffentlichung für den Nutzer eindeutig Vorteile mit sich. Bereits 1996, als eine Veröffentlichung im Internet noch in weiter Ferne stand, hatte ich einen Ausblick gewagt: „Durch die Tatsache, daß die Regestausgabe ab Band 6 unter Einbezug der EDV bearbeitet wird, entsteht auf diese Weise, quasi als Nebenprodukt, ein elektronisches Findhilfsmittel, das zunächst im Archiv selbst, später vielleicht weiterreichend den Zugang zu den Briefen wesentlich vereinfachen wird.“7 Mit der Umstellung des Produktionsprozesses auf digitale Medien wurde im Grunde ein neues Kapitel in der Geschichte der Regestausgabe aufgeschlagen. Hatten schon immer das Regest und die Register den Benutzer zum Brief hinführen sollen, so stand mit der Erweiterung des Registerapparates auch ein erweiterter Dienstleistungscharakter im Vordergrund. Nicht, dass die Regestausgabe ihre Aufgabe, die Hinführung zu den An-Briefen, nicht auch davor schon erfüllt hätte, da die Register schließlich keine Informationen enthielten, die nicht auch im Buch vorhanden gewesen wären. Nun aber konnte der Aufwand, zielgerichtet einen Brief zu finden, deutlich reduziert werden. Die eigentliche Retrokonversion begann mit der rückwirkenden Erfassung der noch im Bleisatz gedruckten ersten fünf Bände der Regestausgabe. Diese Bände sollten in gleicher Weise elektronisch zur Verfügung stehen wie die Daten für die künftigen, in Arbeit befindlichen. Ziel war es, auf diese Weise eine Arbeitsdatenbank zu erzeugen, die sämtliche bis zu diesem Zeitpunkt erarbeiteten Regesten enthielt. Diese strukturierte Textdatenbank sollte schnelle interne Suchen und eine höhere Einheitlichkeit bei der Erarbeitung der Regesten ermöglichen. An eine Veröffentlichung dieses entstehenden elektronischen Werkzeugs war zunächst nicht gedacht. Erleichtert wurde die Durchführung der Retrokonversion durch die Maßnahmen zur Förderung des Zweiten Arbeitsmarktes, mit denen die schlechte Beschäftigungssituation der Nachwendezeit in Ostdeutschland abgefedert werden sollte. So standen über einen längeren Zeitraum Mittel für die zusätzliche Beschäftigung einer Mitarbeiterin zur Verfügung. Bei der Wahl der technischen Lösung fiel die Entscheidung angesichts der Textvorlagen auf ein trainierbares Texterkennungssystem. Aber auch dort stand die Entwicklung in den frühen 90er Jahren noch am Anfang. Das System, für das wir uns entschieden, war das Programm „Octopus“ der Firma Makrolog; die Firma existiert noch, ob „Octopus“ noch unterstützt wird, ließ sich nicht herausfinden. Das Programm hatte den Vorteil, ein pattern matching durchzuführen ohne vortrainierte Zeichen, d. h., das Programm konnte aus einem Text Zeichen isolieren, ohne selbst zu erkennen, wofür diese Zeichen standen. Diesen isolier7

Manfred Koltes: Erfahrungen mit einer Regestausgabe. Zur Neubearbeitung der Grundsätze für die Gesamtausgabe der Briefe an Goethe (Edition und Literaturarchiv). In: Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit. Hrsg. von Christoph König und Siegfried Seifert. München u. a. 1996, S. 117–128, hier S. 120.

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ten Zeichen wurden dann in der Trainingsphase Buchstaben und Satzzeichen zugeordnet. Jedem der trainierten Fonts konnte eine eigene Kennung zugeordnet werden – ein wichtiger Aspekt für eine künftige Weiterverarbeitung. Diese Leistung des Programms kam dem stark formalisierten Layout der gedruckten Bände der Regestausgabe sehr entgegen. Mithilfe des Programms sollten nicht nur die Buchstaben des Textes „automatisch“ erkannt, sondern auch die Auszeichnungsschriften und die durch die Schriftgröße transportierten „Werte“ der Textinformation als solche erkannt und ausgezeichnet werden. Konkret bedeutete dies, dass das System nach entsprechendem Training selbstständig echte Kapitälchen, also Großbuchstaben in der Höhe von Kleinbuchstaben, und echte Versalien als solche erkennen sollte, um so das Briefschreiberfeld isolieren zu können. Zugleich sollte die kleinere Schriftgröße des Regestkopfs erkannt werden, um diesen vom Textteil des Regests zu isolieren. Ebenso sollten im Regesttext die größere Schrift wieder zugeordnet sowie die Kursivierungen im Text erkannt und gekennzeichnet werden. Silbentrennungen mussten rückgängig gemacht werden, Gedankenstriche jedoch als solche erhalten bleiben. Ein Fazit ist schnell gezogen: es funktionierte, aber es funktioniert nicht so gut, wie wir erwartet oder besser erhofft hatten. Die Hauptschwierigkeiten lagen dabei weniger am Programm selbst als an der eingesetzten Hardware: selbst bei einem für die damalige Zeit großzügig mit Arbeitsspeicher ausgestatteten PC wurde das System recht schnell instabil, was aber auch daran lag, dass das Trainingsprogramm zu ambitioniert war. Zu der Überforderung durch das Training – identische Buchstaben konnten bis zu sechs unterschiedliche Bedeutungen haben – kam die von Band zu Band zunehmende Verschlechterung der Druckqualität selbst bei druckfrischen Exemplaren. Häufig traten zerbrochene Buchstaben auf, wie dies im Bleisatz nicht unüblich ist. Allerdings deckte der Scan-Prozess auch heute fast vollkommen vergessene Textbesonderheiten wie Zwiebelfische gnadenlos auf. Am Ende der Bemühungen stand aber dennoch eine vorstrukturierte Textdatei, die fünf Bände Regestausgabe umfasste und die mit entsprechenden Textanalyseprozeduren des Textverarbeitungsprogramms TUSTEP (Tuebinger System von Textverarbeitungsprogrammen)8 in eine Textdatenbank umgewandelt werden konnte. Der große Vorteil dieses Textkorpus lag darin, dass nun die mit Tags versehenen Einzelinformationen, insbesondere die formalisierten Informationen aus dem Regestkopf, gezielt abrufbar und weiterverwendbar waren. Auf dieser Grundlage entstand auch die Online-Version der Regestausgabe. Dies konnte nur mit Zustimmung des Verlags geschehen, da die Publikationsverträge nach der Wende erneuert worden waren und nun auch die Rechte an elektronischen Publikationen an den Verlag übergegangen waren. Mit dem Verlag Her8

Weitere Informationen unter http://www.tustep.uni-tuebingen.de/.

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mann Böhlaus Nachfolger ist vereinbart, dass zwei Jahre nach dem Erscheinen des gedruckten Bandes die jeweiligen Regesten auch im Internet frei abrufbar werden.

Abb. 1: Einstiegsseite der Web-Präsentation

Für die Web-Präsentation, die seit März 2003 auf den Seiten der Stiftung Weimarer Klassik, wie die Klassik Stiftung Weimar damals noch hieß, abrufbar ist, wurden die elektronischen Daten der Regestausgabe in eine Oracle Datenbank überführt, wobei die Tags der Textinformation, ähnlich wie bei der Herstellung des Satzes, die Felder dieser Datenbank bestimmten. Besonders zu erwähnen ist hier die Unterstützung durch die IT-Abteilung der Klassik Stiftung, da für diese Arbeiten in der Arbeitsgruppe der Regestausgabe keinerlei Ressourcen vorhanden waren. Die für das Goethe- und Schiller-Archiv tätige Programmiererin setzte nicht nur die Anforderungen der beiden Versionen der Regestausgabe um, sondern hat auch durch eigene Vorschläge, quasi mit dem Blick von der anderen Seite, das komplette Online-Angebot der Ausgabe strukturiert und programmiert. Da es sich bei der Online-Version lediglich um die elektronische Variante einer gedruckten Ausgabe handelte, lag es für die Bearbeiter nahe, den Zugang zu den Regesten analog zu dem der Bände zu gestalten.

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Abb. 2: Einstieg über Regestnummer

Im Hintergrund stand zunächst die damals noch verständliche Überlegung, die jeweils zu übertragenden Datenmengen möglichst gering zu halten. Wie die Auswertungen der Zugriffe auf die Seiten ergaben, war diese Überlegung hinsichtlich des Zugangs der Nutzer zur elektronischen Ausgabe zu sehr vom Buch her gedacht und berücksichtigte nur ungenügend die Internetgepflogenheiten. Nicht das geordnete Recherchieren – ausgehend von der Startseite über die Regestnummer und die verschiedenen Register, nicht einmal über die angebotene Volltextsuche – bildete das Gros der Zugriffe. Der Zugang erfolgte in weit über 95 Prozent über die diversen Suchmaschinen. Auf diese Tatsache musste bei der Neugestaltung der Website reagiert werden, da der Zugriff auf ein einzelnes Regest erfolgte, ohne dass der ursprünglich vorgesehene Navigationsrahmen sichtbar geworden wäre. Für den Nutzer war daher in der Regel nicht zu erkennen, „wo er denn gelandet“ war. Jetzt findet sich auf jeder Regestseite sowohl die Angabe zur Ausgabe als Kontext wie auch ein Link zur Einstiegsseite der Webpräsentation. Als Zwischenfazit nach beinahe zehn Jahren Internetpräsenz lässt sich feststellen, dass die Anfragen an die Mitarbeiter der Regestausgabe zugenommen haben, besonders auch aus einem Personenkreis, der zweifelsohne den Zugang über das gedruckte Werk nicht gefunden hätte. Allerdings hat diese Ausweitung des Personenkreises auch Auswirkungen auf die Qualität der Anfragen. Dennoch fällt die Bilanz ausgesprochen positiv aus: für ein Findhilfsmittel hat die Regestausgabe eine hohe Akzeptanz. Einen eindeutigen Mehrwert der Online-Version stellt die interne Verlinkung der Regesten untereinander dar. Darüber hinaus wurde auch die implizite Verknüpfung der Regestausgabe mit der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe durch direkte Verlinkung mit dem entsprechenden Eintrag des Briefrepertoriums hergestellt. Ein Blick auf das Regest zeigt, dass die Angaben zu Bezugs- und Antwortbriefen mit Referenz auf die Weimarer Ausgabe in der Regestausgabe formelhaft wiedergegeben werden. Aus dieser Formelhaftigkeit lässt sich ein Algorithmus gewinnen, der den Bezug zu den Briefnummern im Repertorium

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Abb. 3: Regest in der Web-Darstellung

herstellt, auch wenn die Weimarer Ausgabe den Modus der Briefnummerierung im Laufe ihres Erscheinens geändert hat.

Abb. 4: Goethes Bezugsbrief im Briefrepertorium

Die Dynamik der Online-Präsentation mit der Möglichkeit, Korrekturen und Ergänzungen jederzeit einzubringen und den Nutzer zeitgleich am aktuellen Erkenntnisstand der Mitarbeiter teilhaben zu lassen, ist ein auf den ersten Blick sichtbarer Vorteil gegenüber der statischen Print-Ausgabe, birgt aber erhebliche Risiken. Seit Band 6 der Briefe an Goethe enthält jeder Band die Rubrik „Korrigenda und Addenda“, in der eben diese neuen Erkenntnisse zu allen vorherigen Bänden nachgewiesen werden. In der Online-Ausgabe sind diese Nachträge unmittelbar in den Text eingearbeitet. Die Kennzeichnung, dass es sich bei dem

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Online-Regest um eine von der gedruckten Fassung abweichende Version handelt, erfolgt über einen Stern bei der Regestnummer; neue, eingefügte Regesten werden durch ein Pluszeichen gekennzeichnet. Bei der Abweichung kann es sich um eine Korrektur handeln, aber auch um eine neu hinzugekommene Druckortangabe, wenn der Brief an Goethe nach dem Erscheinen des gedruckten Bandes an anderer Stelle im Druck erschienen ist, möglicherweise sogar erst, nachdem die Regestausgabe darauf aufmerksam gemacht hat. Da aber die genaue Korrektur, Ergänzung oder Streichung selbst nicht gekennzeichnet wird, bleibt dem Nutzer nur der Rückbezug auf den gedruckten Band. Dies ist zugegebenermaßen unglücklich, zumal in einzelne Regesten mehrere Änderungen aus unterschiedlichen Arbeitsphasen einfließen können. Für die Zukunft steht an, dieses System, so gut es gemeint war, rückgängig zu machen und eine transparentere Form bei der Präsentation der Nachträge einzuführen. Ein zunehmendes Problem im Umgang mit den beiden Versionen der Regestausgabe stellt die unterschiedliche Wahrnehmung der Präsentation dar. Während sich der Benutzer der gedruckten Bände darüber im Klaren ist, es mit einem noch nicht abgeschlossenen Unternehmen zu tun zu haben, ist dies beim OnlineBesucher in der Regel nicht der Fall, allein schon begründet durch den oben erwähnten Zugang über die Suchmaschinen. Für die Bearbeiter wird dies aus den zahlreichen verwunderten Anfragen nach „fehlenden“ Briefen an Goethe deutlich, die allein deshalb in der Präsentation nicht auftauchen, weil der entsprechende Bandzeitraum noch nicht erarbeitet ist. Gleiches gilt auch für die bandbezogenen Personenregister der Druckausgabe, die bandspezifische Informationen zu den Personen in den Vordergrund stellen, am deutlichsten sicherlich an den Namensansetzungen erkennbar. Aus diesem Grund unterscheiden sich auch die Registereinträge zu gleichen Personen in den verschiedenen Bänden. Selbstverständlich wird auch in der Online-Version der Zugang zu den Regesten über Personenregister ermöglicht, allerdings mit dem Unterschied, dass in der Online-Version praktisch alle Bände zusammengefasst sind. Hier stehen dem Nutzer die in die Präsentation integrierten „Biographischen Informationen“ zur Verfügung, die eine Kurzbiographie sämtlicher Briefschreiber bieten und mögliche unterschiedliche Namensansetzungen offenlegen.

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Abb. 5: Einstiegsseite der biographischen Informationen

Den Schwerpunkt bilden die in den Bandregistern der Bände 1 bis 8 (1764–1819) verzeichneten Personen. Die übrigen Personendaten sind bereits für die noch ausstehenden Bände und für weitere Projekte des Goethe- und Schiller-Archivs ermittelt worden. Die biographischen Angaben in der Datenbank gehen vielfach über die Angaben in den gedruckten Bänden hinaus, korrigieren und ergänzen sie gegebenenfalls. Etwas Vergleichbares bietet die Printausgabe nicht. Dies leitet über zu einem Punkt, in dem mögliche Erweiterungen der Regestausgabe aufgezeigt und anhand einiger weniger Beispiele illustriert werden sollen. In einem Prototyp, der eigens für die Weimarer Tagung ausgearbeitet wurde, sind diese zusätzlichen Dienste für knapp 30 Regesten9 erbracht und in die Online-Version integriert worden. Der Regestausgabe wurde seit ihrer Begründung in Verkennung ihrer Zielsetzung häufig der Vorwurf gemacht, nicht die kompletten Brieftexte zu präsentieren. Inzwischen sind diese Stimmen zwar leiser geworden, aber auch die Veröffentlichung der Arbeitsgrundsätze des Regestierens und der vielfach erbrachte Nachweis, dass die Regestausgabe ihre Aufgabe, nämlich zuverlässig zu den Briefen an Goethe hinzuführen, durchaus erfüllt, haben diese Stimmen nie ganz verstummen lassen.

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Es handelt sich hierbei um die Regesten 7/892 bis 7/922, die in der Online-Version aufgerufen werden können.

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Die Regestausgabe hält nach wie vor an ihrer Hauptaufgabe, der Erschließung der an Goethe gerichteten Briefe, fest. Im Laufe der Arbeiten an den Regesten ist aber im Hintergrund eine Datei entstanden, in der mittlerweile Transkriptionen zu über 7200 Briefen an Goethe abgelegt sind. Da es sich um eine Arbeitsdatei handelt, die nie zur Veröffentlichung vorgesehen war, ist die Qualität der Texte völlig unterschiedlich: Viele der Briefe wurden im Rahmen von ABMMaßnahmen von völlig Fachfremden erfasst, erkannte Lese- oder Tippfehler zwar in den Regesten berücksichtigt, aber nur unvollständig in der Datei korrigiert. Grundsätzlich wurden bei Teildrucken nur die Teile erfasst, die nicht gedruckt sind usw. Da diese Datei nur internen Zwecken diente und die Mitarbeiter wussten, wie die Informationen, die dort enthalten sind, einzuschätzen waren, blieb dies zunächst ohne Folgen. Für eine komplette Überarbeitung der Datei und die Erstellung valider Volltexte für alle Briefe an Goethe fehlte die Zeit und das Personal. Um einmal einschätzen zu können, wie aufwendig die Überarbeitung und Ergänzung der vorhandenen Texte wirklich ist, wurde für die bereits erwähnten 30 Regesten die Probe aufs Exempel gemacht, indem die Texte so überarbeitet und mit den Handschriften kollationiert wurden, dass sie publikationsfähig sind. Selbst dort, wo bereits verlässliche Drucke oder Teildrucke zur Verfügung standen, wurde der Text mit den Handschriften kollationiert, und dies aus gutem Grund. Jeder Druck folgt eigenen Regeln, was Modernisierung und/oder Textpräsentation betrifft, häufig ist der Zeilenbruch nicht dokumentiert, manche Drucke unterliegen gar noch dem Urheberrechtsschutz. Die Texte, die wir jetzt anbieten, erfüllen die gleichen Kriterien, die der Erarbeitung der Regesten zugrunde liegen: sie sind nach bestem Wissen und Gewissen korrekt wiedergegeben und wurden von einem Wissenschaftler überprüft. In diesem kleinen dargebotenen Bereich wird die Arbeit des Regestierens sozusagen gläsern. Das Regest lässt sich am Volltext messen. Mögliche Zweifel an der Korrektheit der Transkription können durch das in diesen Fällen ebenfalls beigefügte Digitalisat der Handschrift selbst überprüft werden.10

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Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass nicht nur die Regestausgabe, sondern auch die einschlägigen Drucke der Handschrift auf den Prüfstand gestellt werden können.

Probleme der Retro-Konversion. Die Regestausgabe der Briefe an Goethe

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Abb. 6: Brief Karl Augusts von Sachsen-Weimar-Eisenach vom 17. April 1817 in Regestform

Abb. 7: Brief Karl Augusts von Sachsen-Weimar-Eisenach vom 17. April 1817 in der Transkription

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Abb. 8: Brief Karl Augusts von Sachsen-Weimar-Eisenach vom 17. April 1817 als Digitalisat

Das Fazit der Überarbeitung und Ergänzung der 30 Regesten lässt sich für die Mitarbeiter schnell ziehen (über den Wert mögen andere urteilen): die Angliederung weiterer Leistungsangebote an die Regestausgabe ist extrem arbeitsintensiv, selbst wenn mit wachsender Routine die Abläufe vereinfacht und systematisiert werden können. Sie ergibt nur dann einen Sinn, wenn das Resultat für den Nutzer im gleichen Maße wie die Regestausgabe selbst verlässlich ist. Auch in diesem Fall gilt: “There ain’t no such thing as a free lunch.” Die hier vorgestellten Möglichkeiten, zusätzliche Informationen an die Regestausgabe sowohl in ihrer gedruckten Fassung wie auch besonders an die OnlineVersion anzukoppeln, zeigen deutlich, dass das Erschließungsunternehmen Regestausgabe hinreichend flexibel und offen strukturiert ist, um zahlreiche benutzerfreundliche Anreicherungen realisieren zu können. Grundlegende Aufgabe aber bleibt es, die Regestausgabe als den wichtigsten Zugang zu den Briefen an Goethe in der bewährten, für den Nutzer nachhaltigen und vertrauten Form fertigzustellen. Die vorgestellten Erweiterungen, zu denen noch zahlreiche andere, insbesondere durch Vernetzung gewonnene hinzukommen können, erfordern jedoch einen nicht geringen zusätzlichen finanziellen, personellen und organisatorischen Aufwand.

Wolfgang Rasch, Wolfgang Lukas, Jörg Ritter Gutzkows Korrespondenz – Probleme und Profile eines Editionsprojekts

Der folgende Beitrag stellt das Projekt einer (Neu)Edition der Korrespondenz von Karl Ferdinand Gutzkow (1811–1878) unter drei verschiedenen Gesichtspunkten vor: Teil I gibt einen Überblick über die Überlieferungsgeschichte und die editorische Lage, in Teil II werden theoretische Überlegungen zur Wahl eines geeigneten Editionsmodells angestellt, und Teil III skizziert abschließend einige Aspekte zur Modellierung aus Sicht der Informatik.

I. Zur Überlieferungs- und Editionsgeschichte Als 1997 an der britischen Universität Keele die erste internationale Fachtagung zu Karl Gutzkow stattfand, wurde von Referenten und Konferenzteilnehmern wiederholt das Fehlen einer umfassenden, modernen und wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Gutzkow-Ausgabe beklagt. Etwa ein Dutzend Philologen aus Deutschland, England, Irland und der Schweiz schlossen sich nach der Tagung zu einer Arbeitsgruppe zusammen, die nach einer längeren Vorbereitungsphase die Kommentierte digitale Gesamtausgabe von Gutzkows Werken und Briefen ins Leben rief. Diese Edition ist angelegt als Hybridausgabe: Die Werke Gutzkows erscheinen online und als Buchausgabe, die Apparate, verlinkt mit den Texten, ausschließlich online. Die Arbeitsgruppe hat sich zum Ziel gesetzt, das ausgedehnte Werk Gutzkows auf der Basis der Erstdrucke neu zu edieren. Im Jahr 2000 ging die Ausgabe unter www.gutzkow.de ins Netz, 2001 erschien ein Pilotband der Edition,1 2002 der erste Druckband, dem bis heute neun weitere folgten. Umfangreichere Apparat- bzw. Kommentarteile sind inzwischen online verfügbar, weitere Druckbände und Kommentare befinden sich in Vorbereitung. Mit den Arbeitsfortschritten der Ausgabe ist in den letzten Jahren der Ruf nach Briefen für die Globalkommentare zur Entstehungsgeschichte, zur Rezeption und für Einzelstellenerläuterungen lauter geworden. Es gibt keine gedruckte Sammlung der Korrespondenz Gutzkows, einer Korrespondenz, die aufgrund 1

Gert Vonhoff, Martina Lauster (Hrsg.): Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe. Eröffnungsband. Münster 2001.

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der prominenten Stellung, die Gutzkow im literarischen Leben seiner Zeit innehatte, sehr ausgedehnt ist. Gutzkow gehörte als Kritiker, Schriftsteller und Journalist zu den zentralen Figuren des literarischen Lebens zwischen Julirevolution und Gründerzeit. Seine einflussreiche Stellung hat ihn mit allen möglichen bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit in Berührung gebracht, und sie hat ihn unentwegt berufsbedingt korrespondieren lassen. Allein 18 Jahre lang hat er im Vor- und Nachmärz wichtige Literaturzeitschriften redigiert, Autoren gefördert oder nachhaltig bekämpft, als Dramatiker, Theaterkritiker und Dramaturg großen Einfluss auf das zeitgenössische Theaterleben ausgeübt, fast zehn Jahre lange engagiert für die Deutsche Schillerstiftung gewirkt und als Stimmführer des Jungen Deutschland oder als viel diskutierter Autor großer Zeit- und Gesellschaftsromane erhebliches Aufsehen erregt. Gutzkows Korrespondenz ist für die Geschichte der Literatur bzw. des kulturell-politischen Lebens im 19. Jahrhundert eine ergiebige Quelle. In quantitativer Hinsicht kommt bei dem schreib- und mitteilungsfreudigen Workaholic Gutzkow einiges zusammen. Selbst wenn Gutzkow zwischen 1830 und 1878 täglich nur einen Brief geschrieben und einen empfangen hätte, ergäbe sich ein Volumen von etwa 35 000 Briefen. Kurz, handelt es sich schon bei der Gesamtausgabe der Werke um eine editorische Großbaustelle, so bildet die vorgesehene Abteilung „Briefe“ ein Projekt im Projekt, das sowohl einen erheblichen logistischen Mehraufwand als auch eigene editorische Vorleistungen zu erbringen hat. Geplant ist eine Ausgabe aller Briefe von und an Gutzkow unter Einbeziehung briefähnlicher Zeugnisse wie Postkarten, Telegramme, Visitenkarten usw. sowie der nicht überlieferten, aber erschließbaren Korrespondenz. Die Printausgabe wird in chronologischer Folge eine Auswahl der Briefe bieten, während die Internetausgabe Vollständigkeit anstrebt. Hier sollen kurz zusammengefasst ein paar allgemeine Voraussetzungen des Projekts erörtert werden, wie sie sich erstens aus der Überlieferungslage des Nachlasses und zweitens aus den bisherigen Veröffentlichungen Gutzkowscher Korrespondenz ergeben.

1. Gutzkows Nachlass Gutzkows Nachlass ist stark zersplittert und nur noch teilweise erhalten. Schon zu seinen Lebzeiten sind zahlreiche Briefe an ihn verloren gegangen, auf Reisen ebenso wie bei den vielen Umzügen, die Gutzkow im Laufe seines Lebens vornahm. Bei einem dieser Ortswechsel – wahrscheinlich während der Übersiedelung von Frankfurt nach Dresden 1846/47 – kam ein großer Teil der bis dahin aufgehobenen Korrespondenz unwiederbringlich abhanden und wurde bedauerlicherweise irgendwo als Makulatur verbraucht. Von Briefen an Gutzkow aus den Jahren vor 1846 ist daher heute nur ein magerer Rest vorhanden. Es ist fast überflüssig zu sagen, dass auch sehr viele Briefe von Gutzkow verloren gingen.

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Einige seiner Mitstreiter, Freunde oder Bekannten endeten im Elend und hinterließen nichts oder fast nichts. Von der Korrespondenz Gutzkows mit Ludolf Wienbarg, der 1872 vergessen in einer Nervenheilanstalt in Schleswig starb, hat sich keine Zeile erhalten. Bei Heinrich Laube hat ein Dachstuhlbrand wertvolle Korrespondenz vernichtet. Eduard Beurmann, ein Trabant des Jungen Deutschland und enger Mitarbeiter Gutzkows am „Frankfurter Telegraph“, bestimmte testamentarisch, dass sein gesamter Nachlass verbrannt werden sollte – darunter befanden sich viele Briefe von Börne, Gutzkow und Heine. Politisch brisante Briefe wurden – vor allem im Vormärz – aus Angst vor Hausdurchsuchung und polizeilichen Repressalien vom Empfänger nach der Lektüre unverzüglich beseitigt; Briefe fielen aber auch ganz privaten Diskretionsrücksichten zum Opfer und sollten einer neugierigen Mit- und Nachwelt vorenthalten bleiben. So teilte Claire von Glümer (1825–1906), eine mit Gutzkow befreundete Dresdner Schriftstellerin und Republikanerin, dem Gutzkow-Forscher Heinrich Hubert Houben mit, sie habe leider nur noch ganz wenige Briefe Gutzkows, denn: „Der Verewigte war unvorsichtig in seinen Aussprüchen über Freund und Feind, darum habe ich die meisten seiner Briefe gleich nach Empfang verbrannt.“2 Was sich nach Gutzkows Tod 1878 in seinem Nachlass befand, ist unklar. Eine Inventarisierung der Hinterlassenschaft wurde nicht vorgenommen. Unstrittig dürfte sein, dass Gutzkows Witwe Bertha den handschriftlichen Nachlass bald durchsah und einen Teil der Korrespondenz ihres Mannes vernichtete, darunter vor allem Familien- und Privatpost. Bertha Gutzkow verfolgte in den kommenden Jahren gegenüber interessierten Wissenschaftlern eine restriktive Nachlasspolitik, gab nur nach eingehender Prüfung Briefe heraus und „nutzte […] ihren Einfluß hauptsächlich, um das Bild des Verstorbenen zu retuschieren.“3 Schon 1879/80 wurde dem Journalisten und Schriftsteller Johannes Proelß (1853–1911), dem ersten Biographen Gutzkows, Einblick in den Nachlass gewährt. Proelß behielt viele Briefe und Dokumente daraus dauerhaft für sich. Als er 1911 starb, erwarb der Gutzkow-Forscher Heinrich Hubert Houben diese Papiere nebst Proelß’ Arbeitsunterlagen zu einer Gutzkow-Biographie. Nach dem Tod Bertha Gutzkows 1909 wurde der Nachlass ihres Mannes von den Töchtern Selma Wunderley (1852–1932) und Clara Osius (1850–1939) betreut. Auch unter ihrer Verwaltung scheint das Erbe weiter dezimiert worden zu sein, denn Briefe, die um 1900 noch zum Bestand des Nachlasses gehört hatten, tauchen in den zwanziger Jahren vereinzelt in Bibliotheken, Archiven und im Autographenhandel auf. Nach dem Tod ihrer Schwester Selma schenkte Clara 2

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Claire von Glümer an Heinrich Hubert Houben, 13. Januar 1901. In: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M., Handschriftenabteilung, Sammlung Houben, B.I, 193. Ursula Machtemes: Leben zwischen Trauer und Pathos. Bildungsbürgerliche Witwen im 19. Jahrhundert. Osnabrück 2001, S. 169. – Vgl. auch den Abschnitt ihrer Arbeit „Witwenpietät versus Realität. Berta Gutzkow und Heinrich Hermann [sic!] Houben“ (S. 169–173).

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Osius 1935 schließlich den Nachlass ihres Vaters der Frankfurter Stadtbibliothek (heute Universitätsbibliothek), ein Nachlass, der im Wesentlichen aus etwas mehr als 2600 Briefen an Gutzkow aus den Jahren 1846 bis 1878 besteht. Er enthält vor allem Verlegerbriefe, Briefe von Theaterintendanten, Schauspielern, Regisseuren, von Redakteuren und Rezensenten, Briefe von Mitarbeitern der „Unterhaltungen am häuslichen Herd“, Freundschafts- und Kollegenpost (etwa von Auerbach, Dingelstedt, Karl Frenzel, Glaßbrenner, Herwegh, Laube, Alfred Meißner), Briefe von Freundinnen Gutzkows wie Ludmilla und Ottilie Assing, der Gräfin d’Agoult und Amely Bölte, Zuschriften von Lesern, vor allem viel Fanpost, vereinzelt Briefe von Musikern wie Franz Liszt oder Hans von Bülow, von Malern, Philosophen, Gelehrten, Politikern und Regenten wie Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach. Einen kleinen Teil des Nachlasses behielt Clara Osius 1935 noch zurück. Er wurde 1984 von den Urenkelinnen Gutzkows an das Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf verkauft. Es handelt sich dabei um ca. 160 Briefe von und 150 Briefe an Gutzkow, im Wesentlichen Familienkorrespondenz, darunter der Briefwechsel Gutzkows mit seiner ersten Frau Amalie, aber auch Liebesbriefe an Therese von Bacheracht und von Gutzkows Freundin Rosalie Scheidemantel aus dem Jahr 1834. Ein weiterer Rest des Nachlasses von ca. 150 Briefen an Gutzkow wurde 1936 auf einer Auktion bei Meyer und Ernst in Berlin von der Bibliothek des Münchner Theatermuseums erworben, die schon zahlreiche Briefe Gutzkows an Charlotte Birch-Pfeiffer und Heinrich Laube besaß. Ist schon der eigentliche Nachlass Gutzkows in fünf Jahrzehnten stark zersplittert worden, so verteilt sich die weitere Korrespondenz Gutzkows auf eine unübersehbar große Zahl von Standorten. Von den Archiven, die mehr als 100 Briefe Gutzkows besitzen, sind das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, die Sächsische Landesbibliothek Dresden, das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und die Johns-Hopkins-University in Baltimore (USA) zu nennen. Der Rest parzelliert sich über Dutzende kleiner und großer Bibliotheken und Archive, nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch im Ausland, u. a. in Österreich, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, Polen, Israel, Australien oder den Vereinigten Staaten. Es ließen sich bislang knapp über 80 Einzelstandorte ermitteln. Unübersichtlich und schwer zugänglich sind ferner jene Briefbestände, die sich in Privatbesitz befinden. Briefe Gutzkows sind auf Auktionen und im Autographenhandel keine Seltenheit. Da keine öffentliche Einrichtung gezielt Gutzkow-Briefe sammelt, wandern die Autographen in der Regel auch wieder in Privathand.4 Angesichts der Menge an Briefen und der großen Bestandsstreuung wäre man zunächst einmal ziemlich hilflos, gäbe es nicht in der Frankfurter Universitäts4

Um festzustellen, welche Briefe im Umlauf waren, die sich möglicherweise in Privatbesitz befinden, gehört die Auswertung alter und aktueller Auktions- und Autographenkatalogen zu den unumgänglichen Arbeitsvorbereitungen einer Briefausgabe.

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bibliothek die Sammlung Houben, ein Glücksfall für die Forschung und eine alles in allem fulminante Vorarbeit für eine Gutzkow-Briefausgabe. Heinrich Hubert Houben (1875–1935) hatte 1896 im Rahmen seiner Dissertation über Gutzkow begonnen, systematisch Nachlassforschung zu betreiben. Er setzte sich mit der Witwe, mit noch lebenden Verwandten, Bekannten und Freunden Gutzkows oder deren Nachlassverwaltern in Verbindung, bat um Briefe, die er zum Teil geschenkt erhielt, zum Teil kaufte oder abschrieb. Ebenso befragte er Institutionen, Staats-, Theater-, Literatur- und Universitätsarchive, durchkämmte Zensur- und Polizeiakten, Verlags- und Redaktionsarchive, kontaktierte Autographenhändler und -sammler. Auf diesem Wege trug er in drei Jahrzehnten eine einzigartige Briefsammlung zusammen, die er mit seiner Gutzkow-Bibliothek,5 Bildern und umfangreichen Arbeitsmaterialien kurz vor seinem Tod 1935 an die Frankfurter Stadtbibliothek6 verkaufte. Houben hat 6248 Briefe von und an Gutzkow zwischen 1830 und 1878 gesammelt, überwiegend als Abschriften, knapp über zehn Prozent, ca. 700 Briefe, als Originalhandschriften. Die teils hand-, teils maschinenschriftlichen Abschriften, insgesamt ein Konvolut von 14 489 DIN-A4-Seiten, sind, wie mehrere Vergleiche mit der Briefhandschrift ergaben, um eine buchstaben- und zeichengetreue, zum Teil auch positionsgetreue Wiedergabe bemüht und geben in der Regel die letzte gültige Textschicht der Briefhandschrift wieder. Unberücksichtigt bleibt dabei die Unterscheidung von deutscher und lateinischer Schreibschrift. Bedauerlicherweise verfügte Houbens Schreibmaschine nicht über die Type „ß“, so dass er sich mit einem Doppel-S behelfen musste. Am Rand der Abschriften befinden sich rudimentäre Kommentare: bibliographische Nachweise, Notizen zu erwähnten Personen, Hinweise auf andere Briefstellen, Erörterungen zu Datierungsfragen. Auch hat Houben in der Regel die Provenienz des Autographs vermerkt – für uns heute wichtige Hinweise für weitere Bestandsrecherchen. Zwei Bemerkungen zu diesem umfangreichen Briefcorpus: 1. Die Korrespondenz verteilt sich über die Jahrzehnte sehr ungleich. Wir haben aus den Dreißigerjahren, also aus der jungdeutschen Phase Gutzkows, nur 418 Briefe, gefolgt von 795 Briefen aus den Vierzigerjahren. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt mit fast 3400 Briefen auf dem Zeitraum 1850 bis 1864, jener Periode also, in der Gutzkow seine großen Zeitromane schrieb, die Unterhaltungen am häuslichen Herd herausgab und für die Deutsche Schillerstiftung wirkte. Aus den letzten 14 Lebens5

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Diese Spezialbibliothek, die neben allen Werken Gutzkows, Zeitschriften und zeitgenössischen Broschüren über den Autor auch zahlreiche seltene Theatermanuskriptdrucke enthielt, ist leider im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Heute Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg. Hier wird die von Houben zusammengetragene Korrespondenz unter A. Sammlung Gutzkow, 2.I. Briefwechsel 1818–1879 aufbewahrt.

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jahren Gutzkows nach seinem Suizidversuch 1865 stammen 1642 Briefe. Diese Zahlen dürften für die Gesamtüberlieferung von Gutzkows Korrespondenz repräsentativ sein. 2. Es gibt einige umfangreiche Briefwechsel Gutzkows über längere Zeiträume, vor allem mit Verlagen wie Cotta, Brockhaus, Janke, Costenoble, aber auch mit Freunden und Kollegen wie Franz Dingelstedt, Feodor Wehl oder Karl Frenzel. Auffallend hoch ist jedoch die Menge an sporadischen Briefkontakten, sehr groß damit die Zahl von gelegentlichen Briefpartnern. Nach jetzigem Kenntnisstand haben wir es mit etwa 850 Personen zu tun, die mit Gutzkow korrespondierten. Ergänzend zu diesem Briefcorpus finden sich in weiteren Untergruppen der Sammlung Houben bzw. der Sammlung Gutzkow weitere Briefe oder Hinweise auf die Korrespondenz des Autors. So enthält etwa die Untergruppe B.V Arbeitsmaterial Houben eine komplette Abschrift der Prozeßakten wegen Preßvergehens, den Roman ,Wally‘ betreffend aus den Jahren 1835/36, wozu u. a. auch ein Brief des Wally-Verlegers Karl Löwenthal gehört. Besonders aufschlussreich für unsere Arbeit ist ein Fund in der Untergruppe A.3.c. Akten der Schillerstiftung. Von Oktober 1861 an war Gutzkow für drei Jahre der erste Generalsekretär der von ihm 1855 mitbegründeten Deutschen Schillerstiftung, einer Hilfsorganisation für in Not geratene Schriftsteller und deren Angehörige. Als Generalsekretär hatte Gutzkow im Auftrag des Verwaltungsrates Berichte, Gutachten und Briefe zu schreiben. Diese Post liegt nirgendwo geschlossen vor und es ist weitgehend unklar, mit wem und wann Gutzkow als Generalsekretär der Stiftung korrespondiert hat. Unter den von Houben zusammengetragenen Schillerstiftungsunterlagen in Frankfurt befindet sich jedoch eine Kladde, in der Gutzkow vom 8. Oktober 1861 bis zum 6. Dezember 1864 alle Personen festgehalten hat, an die er geschrieben bzw. über die er Gutachten verfasst hat. Es handelt sich um 812 notierte und datierte Vorgänge, die einen hervorragenden, offenkundig vollständigen Aufschluss über Gutzkows Arbeit und Korrespondenz für die Schillerstiftung erlauben. Bemerkenswert sind ferner die unter der Signatur B.I. Briefwechsel Houben abgelegten ca. 500 Schreiben an Houben, die dieser im Zuge seiner Gutzkow-Recherchen seit 1896 erhalten hat.7 Diese illustrieren nicht nur Houbens gewissenhafte und unermüdliche Jagd nach Briefen und Nachlässen, sie geben auch Auskunft über Beziehungen Gutzkows zu Briefpartnern, über frühere Briefstandorte und -provenienzen, über Houben vorenthaltene, verschollene oder mit Sicherheit verloren gegangene Korrespondenzen Gutzkows. 7

Diese Abteilung enthält auch über 50 Briefe an Johannes Proelß von Freunden und Bekannten Gutzkows, vornehmlich aus den Jahren 1879/80, als Proelß an seiner Gutzkow-Biographie arbeitete.

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Besondere Bedeutung erhält Houbens Sammlung von Gutzkows Briefen dadurch, dass sie einen Vorkriegszustand repräsentiert. Viele Briefhandschriften sind nachweislich im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden. So wird für die Briefausgabe teilweise nur auf Abschriften zurückgegriffen werden können, in ganz seltenen Fällen, wo weder die Briefhandschrift noch eine Abschrift vorliegt, auf Drucke.

2. Briefpublikationen Schon unmittelbar nach seinem Tod 1878 wurden in der Tagespresse und in Unterhaltungsblättern, in Gedenkartikeln, Würdigungen und kleinen biographischen Skizzen, in Memoiren und größeren Korrespondenzsammlungen Briefe Gutzkows publiziert. Briefpublikationen in diesem Memorial-Kontext lassen sich bis zum Ersten Weltkrieg nachweisen. Diese älteren Briefveröffentlichungen sind vor allem durch Textauslassungen, vorgenommen mit Rücksicht auf Gutzkows Familie oder auf noch lebende Zeitgenossen, durch Chiffrierung von Namen, Textänderungen, fehlerhafte Datierungen, Lese- und Druckfehler in philologischer Hinsicht von zweifelhaftem Wert. Nur allzu selten haben Herausgeber Auslassungen kenntlich gemacht oder auf eigenmächtige Textbearbeitungen hingewiesen. Eine dieser Ausnahmen ist Ludwig Speidel, der 1879 in der Wiener Neuen Freien Presse Gutzkows Briefe an den Schauspieler Heinrich Moritz (1800–1867) herausgab. Er versieht eine Textänderung mit der Fußnote: „Gutzkow hat hier ein stärkeres, kaum wiederzugebendes Wort“ und eine Auslassung mit der entschuldigenden Bemerkung: „Hier sind wieder Ausdrücke gebraucht, die sich wol von Mann zu Mann sagen, aber in einer Zeitung nicht drucken lassen.“8 Am Ende des 19. Jahrhunderts beginnt eine Publikationsphase, die endlich auch wissenschaftliche Interessen berücksichtigt. Darunter sind Briefveröffentlichungen von Johannes Proelß, von Charles Andler, der 1897 im Euphorion Gutzkows Briefe an Büchner und dessen Braut Minna Jaegle´ herausgibt, von Ludwig Geiger, Joseph Dresch oder Rudolf Göhler, vor allem von Heinrich Hubert Houben. Houben hat sich in erster Linie durch die Veröffentlichung von Briefen Gutzkows aus der jungdeutschen Periode verdient gemacht – Briefe an Menzel, Börne, Varnhagen, Gustav Schlesier, einen Mitarbeiter Laubes an der Zeitung für die elegante Welt, oder Briefe, die Gutzkow 1835 gemeinsam mit Ludolf Wienbarg in Zusammenhang mit ihrem Zeitschriftenprojekt der Deutschen Revue schrieb. Neben der Publikation vieler Einzelbriefe in Aufsätzen gab Houben von den größeren Briefwechseln Gutzkows lediglich die Korrespondenz 8

Briefe von Gutzkow. Mitgetheilt von Ludwig Speidel. In: Neue Freie Presse. Wien. Nr. 5191, 8. Februar 1879, S. 1.

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mit dem Schauspieler Emil Devrient9 heraus, während Rudolf Göhler eine andere umfangreiche Korrespondenz edierte, die zwischen Gutzkow und Dingelstedt. Sie erschien in zwei Teilen – 1914 in der Deutschen Rundschau Gutzkows Briefe an Dingelstedt, 1933 im Euphorion Dingelstedts Briefe an Gutzkow. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm das öffentliche und das germanistische Interesse an Gutzkow deutlich ab, mit Beginn der NS-Herrschaft verflüchtigte es sich nahezu vollständig: Von 1933 an lässt sich über vier Jahrzehnte kaum ein Dutzend kleinerer Briefpublikationen nachweisen. Erst 1971 kam im Münchener Kösel-Verlag ein Band Therese von Bacheracht und Karl Gutzkow. Unveröffentlichte Briefe 1842–1849 heraus, der hauptsächlich Briefe Therese von Bacherachts an Karl Gutzkow aus dem Jahr 1848 enthält. Der Herausgeber Werner Vordtriede konnte dafür jedoch nicht die Briefhandschriften, sondern nur sehr fehlerhafte Abschriften einer Urenkelin Gutzkows zugrundelegen. Vordtriede modernisierte Orthographie und Interpunktion, ließ weitere wichtige Umkreisbriefe oder Dokumente im Nachlass Gutzkows außer Acht, verzichtete weitestgehend auf Einzelstellenkommentare und schrieb stattdessen verbindende Überleitungstexte. Daher kann man hier kaum von einer Briefedition reden. Das Resultat ähnelt mehr einem Lesebuch oder einem kleinen, konstruierten Briefroman, der offenbar für ein breites Publikum gedacht war. Vordtriedes Buch könnte aber als Vorbote einer neuen Periode von Briefveröffentlichungen Gutzkows gelten, die zwei Jahre später einsetzte und in der das Archiv für Geschichte des Buchwesens in Frankfurt am Main zunächst eine herausragende Rolle spielt. Hier erschienen 1973 – von William McClain und Lieselotte Kurt-Voigt herausgegeben – 218 Briefe Gutzkows an den Verleger Hermann Costenoble aus den Jahren 1870–1878. 1981 legte der kanadische Literaturwissenschaftler Gerhard Friesen am selben Ort Gutzkows Briefwechsel mit Otto Janke aus den Jahren 1864–1878 vor, 1987 eine umfassende Auswahl von Gutzkows Briefwechsel mit dem Verlag Brockhaus aus den Jahren 1831 bis 1878. Friesen hat darüber hinaus an anderer Stelle in den letzten Jahren den Briefwechsel Gutzkows mit Luise Büchner,10 Heinrich Albert Oppermann11 sowie die Briefe der Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters12 an Gutzkow publiziert. 1998 kam schließlich die bislang einzige Buchausgabe eines Briefwechsels heraus, die Korrespondenz Gutzkows mit Levin Schücking aus den Jahren 1838–1876, die buchstaben- und 9

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Emil Devrient. Sein Leben, sein Wirken, sein Nachlaß. Ein Gedenkbuch von Heinrich Hubert Houben. Frankfurt a. M. 1903. Gerhard K. Friesen: „Wir können alle gar nicht Respect genug vor Ihnen haben.“ Der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Luise Büchner 1859–1876. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft, Bd. 8/9, 1996/97. Gerhard Friesen: Heinrich Albert Oppermanns Korrespondenz mit Karl Gutzkow. In: Christoph Suin de Boutemard (Hrsg.): ZeugenZeit. Text- und Tonsignale einer scheidenden Generation. St. Ingbert 2010. Gerhard K. Friesen: „Zählen Sie immer auf mich, wenn es sich um Verstandenwerden handelt.“ Briefe von Louise Otto-Peters an Karl Gutzkow. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-vonArnim-Gesellschaft, Bd. 6/7, 1994/95.

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zeichengetreu, ausführlich kommentiert und mit Zusatzdokumenten ediert wurde.13 Ich übergehe hier die Veröffentlichungen weiterer Einzelbriefe oder kleinerer Briefwechsel Gutzkows aus den letzten Jahren und weise nur noch darauf hin, dass im Rahmen großer Werk- und Briefausgaben anderer Autoren, wie etwa Heine, Büchner, Fontane, Immermann, Hebbel, Herwegh, George Sand usw., gleichfalls Briefe von oder an Gutzkow ediert wurden. Bis heute sind in ca. 200 Einzelpublikationen insgesamt etwa 1500 Briefe aus Gutzkows Korrespondenz veröffentlicht worden, darunter einige mehrfach, einige nur als Teildruck. Auf den ersten Blick eine stattliche Summe, hinter die man als Editor jedoch ein dickes Fragezeichen setzen muss. Die überwiegende Zahl der Briefe ist in unselbständiger Form erschienen. Diese Publikationsform bringt es mit sich, dass Kommentare zu den Briefen bzw. Einzelstellenerläuterungen platzbedingt nur spärlich ausfallen. Gutzkows Briefe sind daher bis auf wenige Ausnahmen nur mangelhaft kommentiert. Moderne textkritische Standards werden in der Regel nicht erfüllt. Vielfach werden Gutzkows Orthographie und Interpunktion der gängigen Rechtschreibpraxis angepasst, Texteingriffe oder -auslassungen nicht immer gekennzeichnet, Unterstreichungen durch Kursiv-, Fett- oder Sperrdruck wiedergegeben, Abkürzungen aufgelöst, der Unterschied zwischen deutscher und lateinischer Schrift nicht berücksichtigt. Editionsprinzipien werden selten offengelegt, geschweige denn kritisch reflektiert oder methodisch begründet, Erläuterungen zur Textkonstitution reduzieren sich in der Regel auf einige kurze Sätze. Erschlossene Briefe werden ignoriert, eine Erschließung nicht erhaltener Briefe, die durch sichere Hinweise bezeugt werden könnten, findet nicht statt. Methodische Fragen der Briefeditorik, Fragen nach der Materialität, nach Briefbeilagen,14 der besonderen Problematik von Briefabschriften oder ganz allgemein der Briefkultur spielten bislang überhaupt keine Rolle. Eine moderne Ausgabe von Gutzkows Briefen ist vergleichsweise voraussetzungslos und kann weder auf eine bewährte Editionspraxis noch auf eine jahrzehntelange Ausgabentradition zurückgreifen, wie wir sie etwa bei Heine, Hebbel oder anderen Zeitgenossen Gutzkows finden. Im Falle Gutzkows kam es nicht einmal zu einer der im 19. und frühen 20. Jahrhundert so beliebten Briefbiographien, wie sie etwa Wilhelm Buchner15 1882 für Freiligrath vorgelegt hat – so umstritten diese Sammlungen auch sein mögen. Trotz mangelnder editorischer Vorleistung, beträchtlicher Briefmengen und einer alles in allem komplizierten Überlieferungslage sind die Voraussetzungen für eine Gutzkow-Briefausgabe heute nicht schlecht. Die – vielfach versteckten – 13

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Der Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Levin Schücking. Hrsg., eingel. und kommentiert von Wolfgang Rasch. Bielefeld 1998. Im Frankfurter Nachlass Gutzkows werden leider einige Beilagen von Briefen an Gutzkow unter der Signaturengruppe A.4 „Eingesandte Manuskripte“ separat aufbewahrt. Hier muss rückwirkend eine Zuordnung des Beilagentextes zum Brief vorgenommen werden. Wilhelm Buchner: Ferdinand Freiligrath. Ein Dichterleben in Briefen. 2 Bde. Lahr 1882.

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bisherigen Briefveröffentlichungen sind akribisch bibliographiert.16 Mittlerweile liegt ein umfassendes biographisches Quellenwerk vor, das Gutzkows wechselhafte Beziehungen zu seinen Zeitgenossen erhellt und neben einer ausführlichen Lebenschronik eine hilfreiche Orientierung innerhalb der komplexen Kommunikationsnetzwerke Gutzkows bietet.17 Insgesamt knapp über 9000 Briefe von und an Gutzkow sind an einem Ort, in der Frankfurter Universitätsbibliothek, konzentriert, wenn zum Teil auch nur als Abschrift. Diese Bestände sind in den letzten Jahren vollständig gesichtet, detailliert erschlossen und zum Teil digitalisiert worden. Von diesem zentralen Punkt aus, einem ,Basislager‘ für die künftige Briefausgabe, lassen sich weitere Bestände erkunden, weitere Briefstandorte ermitteln. Heute verfügen wir mit der Datenbank der Berliner Staatsbibliothek Kalliope, mit vielen anderen elektronischen Katalogen und einer verbesserten Vernetzung via Internet über ganz andere Möglichkeiten als frühere Wissenschaftlergenerationen, die sich mit Zettelkästen und maschinenschriftlichen Bestandslisten mühsam fortbewegten. Was als editorische Vorleistung für die Gutzkow-Briefausgabe daher dringend benötigt wird, ist zunächst eine Briefdatenbank, die das bislang erschlossene Material aufnimmt, transparent verwaltet und fortlaufend ergänzt.

II. Überlegungen zum Editionsmodell Wie bei jeder (wissenschaftlichen) Edition, so sind auch bei der Wahl eines geeigneten Modells für die Edition der Briefkorrespondenz Karl Gutzkows die drei grundlegenden Aspekte des (zu edierenden) Gegenstands, des (zu wählenden) Mediums und des (intendierten) Benutzers zu berücksichtigen und miteinander zu korrelieren. Keine dieser drei Fragen kann für sich allein beantwortet werden. Die letztgenannte Frage nach dem intendierten Benutzer und dem angestrebten Nutzen der Edition bestimmt zunächst ganz allgemein die Wahl des Ausgabentyps. Ziel des hier vorzustellenden Projekts ist die Erstellung einer wissenschaftlichen Kriterien genügenden Edition, die die überlieferte Korrespondenz Gutzkows erstmalig – bzw. erstmalig in wissenschaftlicher Form – ediert und der (weiteren) Erschließung von Leben und Werk des Autors dienen soll. Diese Vorgabe impliziert eine doppelte Entscheidung: zum einen eine kritische Textkonstitution in Abhängigkeit zur jeweils spezifischen Überlieferungssituation mit dem Ziel, einen möglichst authentischen Text zu bieten, zum anderen 16

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Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow. 2 Bde. Bielefeld 1998. – Die Bibliographie der „Briefe von und an Gutzkow“ findet sich in Bd. 1, S. 593–633. Der Verfasser hat die Bibliographie bis auf die Gegenwart fortgesetzt, die Herausgabe eines dritten Bandes ist geplant. Wolfgang Rasch (Hrsg.): Karl Gutzkow. Erinnerungen, Berichte und Urteile seiner Zeitgenossen. Eine Dokumentation. Berlin, New York 2011.

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die gezielte Erschließung der edierten Brieftexte durch Kommentare, Stellenerläuterungen, Register, Indices etc. Der angestrebte Ausgabentyp ließe sich somit grob als ,kritische Studienausgabe‘ umschreiben. Über weitere nötige Festlegungen – so u. a., in welcher Weise dem textkritischen Anspruch genügt werden soll und wie das Kommentierungsmodell im Einzelnen aussehen soll – ist damit allerdings noch keine Entscheidung getroffen. Die Frage nach dem Gegenstand betrifft die Textsortenspezifität des Objekts, hier des Privatbriefs. Diese erstreckt sich nicht nur auf bestimmte inhaltlichstrukturelle Merkmale eines Brieftextes, sondern auch auf dessen konstitutive pragmasemiotische Dimension. Denn der Privatbrief ist, anders als etwa ein Werkmanuskript, in einen Kommunikationsakt eingebunden, den er performativ herstellt und bezeugt. Im Unterschied zum Rezipienten eines gedruckten literarischen Werks, der einen vom ursprünglichen Aufzeichnungsmedium, dem Werkmanuskript, losgelösten Text rezipiert, nimmt der intendierte Adressat eines (Privat)Briefs diesen notwendig in seiner Ganzheit als Text und Medium (Textträger) wahr – beide werden vom Autor verantwortet, insofern auch die äußere, materiale und graphische Erscheinung eines Briefs Produkt einer Wahl (bzw. einer Menge von Wahlentscheidungen) ist. Genau in dem Maße, wie Text und Medium dergestalt eine „sinnhafte Einheit“ bilden,18 konstituiert sich für den Produzenten wie auch für den Rezipienten die Bedeutung des Briefs jenseits der sprachlichen, textuellen Ebene auch und ganz entscheidend über seine nichtsprachlichen, materialen Merkmale. Anders formuliert: Die materiale Erscheinungsform des Brieftextes ist somit nicht nur äußerliches Merkmal, sondern integraler Bestandteil der Gesamtbedeutung des Briefes: die ,Form‘ erweist sich ihrerseits als ,Inhalt‘. Die Dimension der epistolographischen Materialität lässt sich durch eine Vielzahl von – je historisch variablen – Parametern bestimmen, die codiert sind und dergestalt ein „komplexes Zeichensystem“ bilden: von der Wahl des Beschreibstoffs und des Schreibstoffs über die Art und Weise des räumlichen Schreibverhaltens auf der Papierfläche (Handschriftentopografie) bis hin zu Fragen der Faltung, Kuvertierung, Versiegelung, Frankierung etc.19 Die konkrete ,materielle 18

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Klaus Hurlebusch: Divergenzen des Schreibens vom Lesen. Besonderheiten der Tagebuch- und Briefedition. In: editio 9, 1995, S. 18–36; Wiederabdruck in: Ders.: Buchstabe und Geist, Geist und Buchstabe. Arbeiten zur Editionsphilologie. Frankfurt a. M. 2010, S. 98–116, hier S. 105. Siehe den wichtigen Aufsatz von Klaas-Hinrich Ehlers: Raumverhalten auf dem Papier. Der Untergang eines komplexen Zeichensystems dargestellt an Briefstellern des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 2, 2004, S. 1–31, sowie Wolfgang Lukas: Epistolographische Codes der Materialität. Zum Problem para- und nonverbaler Zeichenhaftigkeit im Privatbrief. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Tübingen 2010 (Beihefte zu editio. 32), S. 45–62, ferner den Katalog zur großen Frankfurter Ausstellung: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, 11. September bis 16. November 2008. Hrsg. von Anne Bohnenkamp-Renken. Frankfurt a. M. 2008, sowie den gleichnamigen Sammelband der begleitenden Tagung: Der Brief – Ereignis & Objekt. Hrsg. von Waltraud Wiethölter und Anne BohnenkampRenken. Frankfurt a. M. 2010.

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Bedeutung‘ eines gegebenen Briefes wäre dann zu rekonstruieren als geordnete Menge von Entscheidungen des Briefschreibers – seien ihm diese nun bewusst oder nicht – , die er auf verschiedenen Ebenen jeweils per Wahl aus ihm qua zeitgenössischer Briefkultur zur Verfügung stehenden Alternativen trifft. Die Dimension der epistolographischen Materialität umfasst darüber hinaus aber auch all jene non- bzw. paraverbalen Merkmale, die – wie z. B. der Schriftduktus – nicht notwendig codiert sind, sondern indexikalisch auf die je individuelle Schreibszene des Briefes verweisen und ebenfalls entscheidende bedeutungstragende Funktion über den letztgültigen Text hinaus erhalten. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das – editorisch wie interpretatorisch völlig irrelevante – Problem der Unterscheidung von ,objektivem Inhalt‘ vs. dessen ,subjektiver Deutbarkeit durch den Empfänger‘ ist davon nicht tangiert.20 Vielmehr geht es um einen konsequent semiotischen Ansatz, der eine Erweiterung der traditionell auf die textuell-sprachliche Ebene beschränkten Semantik auf die nichtsprachliche materiale und mediale Ebene vornimmt, indem er diese als grundsätzlich codiert und als potentiellen Teil der Gesamtbedeutung erweist (und im Übrigen damit auch die traditionelle ,Inhalt vs. Form‘-Dichotomie als einer ontologischen überwindet.)21 Mit diesen semiotischen Ansätzen in der Briefeditionsforschung gehen auch neuere Positionen der Textsorten- und Kommunikationslinguistik konform, die ihrerseits die Spezifizität ihres Objekts nicht mehr nur in textuellen Strukturen erblicken. So plädiert Hausendorf am Beispiel der briefähnlichen Textsorte ,Zuschrift‘ als methodologische Prämisse für einen „Datenbegriff, der sich am Gesamt des sinnlich Wahrnehmbaren anwesenheitsentbundener Kommunikation orientiert (und damit über den ,Text‘ im engeren Sinne hinausgeht).“22 Die „Evidenz der Textsortenbeschreibung“ ruht weder in einer substantialisierten ,Tiefe‘ noch in der Intention des Schreibers oder dem Verstehen des Empfängers, sondern „ist aus der Analyse der Erscheinungsformen selbst zu gewinnen“; und in dem Maße, wie „sich die vermeintlich textexternen, formalen Merkmale der Textgestaltung ihrerseits als zutiefst kommunikativ [erweisen]“, erscheint auch 20

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Vgl. das diesbezügliche ,hermeneutische Missverständnis‘ bei Jürgen Gregolin: Briefe als Texte: Die Briefedition. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 64, 1990, S. 756–771. Das faktische Verstehen des individuellen Rezipienten ist in diesem Kontext ebenso wenig relevant wie die Intention des Autors. Bezeichnenderweise operiert Gregolin 1990 (Anm. 20) auch mit dieser Dichotomie, indem er zwischen der „Textstruktur“ bzw. den „Konstituenzien“ des Briefes einerseits und seiner materiellen „Erscheinungsform“ andererseits eine ontologische Differenz postuliert (vgl. S. 763). Heiko Hausendorf: Die Zuschrift. Exemplarische Überlegungen zur Methodologie der linguistischen Textsortenbeschreibung. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 19, 2000, S. 210–244, hier S. 212. Vgl. ganz analog auch die Überlegungen von Jannis K. Androutsopoulos zu einer „ganzheitlichen, mehrschichtigen“ und „multimodalen Textsortenanalyse“ am Beispiel des ,Flyers‘: Zur Beschreibung verbal konstituierter und visuell strukturierter Textsorten: das Beispiel Flyer. In: Bild im Text – Text im Bild. Hrsg. von Ulla Fix und Hans Wemann. Heidelberg 2000, S. 343–366.

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in dieser Perspektive die ontologisierende Unterscheidung von textexternen vs. textinternen Merkmalen als letztlich „überholt“.23 Die editionswissenschaftliche Forschung hat – einsetzend bereits in den 1970er Jahren24 und vermehrt mit dem Siegeszug des ,Materialitätsparadigmas‘ seit ca. Mitte der 1990er Jahre25 – daraus als Konsequenz die Forderung abgeleitet, dass die Briefedition dieser Doppeleigenschaft des Briefs als „(halb)literarischer Text“ und „Dokument“ (Woesler) bzw. als „Gebrauchsform“ und „Ausdrucksform“ (Hurlebusch) bzw. als Text und „materiale[s] (Gebrauchs-) Objekt“ (Strobel)26 Rechnung tragen müsse,27 indem sie das Original nicht „auf seine textliche Ausbeute [reduziert]“,28 sondern darüber hinaus auch deren äußere Erscheinungsform umfassend dokumentiert, im Sinne eines historischen Dokumentations- bzw. ,Authentizitäts‘-Prinzips (Zeller), das jenseits der generellen textsortenunspezifischen Forderung nach Nachprüfbarkeit und Transparenz editorischer Entscheidungen in der Spezifizität des Objekts gründet. Hurlebusch hat dies für die Edition von Lebenszeugnissen (wie u. a. Briefen, Tagebüchern) auf die bekannte bündige Formel gebracht: „Typographische Texteditionen dieser Zeugnisse sind um so besser – wissenschaftlicher – , je dokumentarischer sie sind.“29 Neueste Positionen gehen noch weiter, indem sie die Ebene der um die materiale und mediale Dimension erweiterten Semantik hin zur Pragmatik überschreiten und verstärkt auch die Perspektive von Primär- und Sekundärrezipi23 24

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Hausendorf 2000 (Anm. 22), S. 242. Winfried Woesler: Der Brief als Dokument. In: Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 8.–11. Sept. 1975. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, HansJoachim Mähl und Walter Müller-Seidel. Boppard 1977 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für germanistische Forschung. Mitteilung II), S. 41–59, Diskussion S. 258–260. Siehe insbesondere Hurlebusch 1995/2010 (Anm. 18) und Hans Zeller: Authentizität in der Briefedition. Integrale Darstellung nichtsprachlicher Informationen des Originals. In: editio 16, 2002, S. 36–56. Jochen Strobel: Zur Ökonomie des Briefs – und ihren materialen Spuren. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Tübingen 2010 (Beihefte zu editio. 32), S. 63–77. NB! Die letzteren beiden Begriffspaare sind nicht ganz homolog. Denn die ,Gebrauchsfunktion‘ des Briefs wird – je nachdem, ob mehr die Perspektive des Produzenten und damit die Dimension der Semantik oder die des Rezipienten und damit die Dimension der Pragmatik eingenommen wird – unterschiedlich definiert: Nach Hurlebusch bezeichnet sie seine Eigenschaft als normaler Träger von Mitteilungen und bezieht sich somit auf die Dimension der Textualität. Die ,Ausdrucksfunktion‘ bezieht sich demgegenüber auf die nicht-sprachliche materiale Dimension des Briefs, die somit primär produzentenorientiert gedacht wird. Gemäß Hurlebusch nähert sich eine dokumentierende Briefedition denn auch der Perspektive des „Autors als Schreiber“ an (Hurlebusch 1995/2010 [Anm. 18], S. 101); für ihn „ist [...] die Zeugniseigenart von Briefen und Tagebüchern [...] maßgebend, d. h. der Blickpunkt des Autors, genauer des Schreibers.“ (S. 109, Hervorh. i. O.). Demgegenüber grenzt Strobel die Gebrauchsfunktion vom „Text [...] und seiner Semantik“ ab und definiert sie primär ,pragmatisch‘ im Hinblick auf die Rezipientenperspektive (Strobel 2010 [Anm. 26], S. 63). Zeller 2002 (Anm. 25), S. 53. Hurlebusch 1995/2010 (Anm. 18), S. 109.

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enten, von Empfängern und anderen Nutzern (Sammler, Archive) und deren materiellen Gebrauchsspuren einbeziehen. Im Rahmen seiner Konzeption einer „Ökonomie des Briefs“ gelangt Strobel somit zur Forderung nach editorischer Dokumentation dieser „Spuren der brieflichen Ökonomie“. Nicht nur die „Schreib-“, sondern auch die „Empfangsszenen“ sollten vom Editor rekonstruiert werden: „Erst die Rekonstruktion von Schreib- und Empfangsszenen, von Postierung und Archivierung, kurz: der wenigstens teilweise materialiter sichtbar gemachten Spuren brieflicher Ökonomie, belehrt den nachgeborenen Leser, dass Briefe viel mehr sind als Dialoge zwischen Abwesenden, viel mehr als nur Texte.“30 Mit der Feststellung der editorischen Relevanz der materialen und pragmatischen Ebene ist allerdings noch keine Festlegung verbunden, wie diese in einer Briefedition vermittelt werden soll. Tatsächlich lässt sich diese Frage auch erst im Zusammenhang mit der dritten Kategorie, der des Mediums, sinnvoll beantworten. So sind aus der weitgehend konsensuellen pragmasemiotischen Konzeption ihres Gegenstands ,(Privat)Brief‘ zum Teil ganz unterschiedliche editorische Folgerungen in Bezug auf die Textwiedergabe abgeleitet worden, deren Gemeinsamkeit jedoch darin besteht, dass sie stets – und in aller Regel unausgesprochen – auf das Medium, in diesem Fall das Buch, bezogen sind. Solange es keine Alternative gab, konnte und durfte diese mediale Prämisse auch implizit bleiben; dies gilt jetzt freilich nicht mehr. In Bezug auf den ,edierten Text‘ lassen sich prinzipiell (und medienunspezifisch) drei Typen der Textwiedergabe unterscheiden. Die strikt normalisierende Edition, die „belletristisch“ geglättete (bereinigte, modernisierte, standardisierte) Texte bietet, „die nicht über sich selbst hinausweisen“, zum einen und die strikt diplomatische Transkription, „die als Textgestalt kein Eigengewicht hat und lediglich als Lesehilfe für die Handschriftenfaksimiles dient“,31 zum anderen bilden gewissermaßen die zwei Extrempunkte einer Skala mit den Polen der ,Textualität‘ vs. ,Materialität‘; zwischen ihnen situieren sich all jene, die einen Kompromiss zwischen beiden Anforderungen anstreben, der sich seinerseits wiederum in ganz verschiedenen Modellen realisieren lässt. Chronologisch und wissenschaftsgeschichtlich gesehen lässt sich in den letzten Jahrzehnten bekanntlich eine fortschreitende Radikalisierung des Anspruchs auf Dokumentation der materialen Ebene konstatieren. Während Woesler 1977 noch selbstverständlich vom Primat der Textualität ausgeht und es für unvermeidbar hält, dass „das Dokumentarische eines Schreibens“ „[i]n der Textdarbietung des Druckes“ „verloren [gehe]“, und er sich allenfalls „ausnahmsweise“, etwa in semantisch besonders aufschlussreichen Fällen, eine diplomatische Wiedergabe (etwa die Ein30 31

Strobel 2010 (Anm. 26), S. 77. Klaus Hurlebusch: Briefwechsel, historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Hans Zeller, Band 1 bis 3. In: Editionen in der Kritik, Bd. 2, 2008, S. 155–169; Wiederabdruck in: Hurlebusch 2010 (Anm. 18), S. 342–354, hier S. 351.

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blendung von Korrekturen in den edierten Text) vorstellen kann,32 ansonsten aber für vermehrten Abdruck von Faksimiles und für eine größere Berücksichtigung der materialen Bedingungen im Kommentar plädiert, geht Hurlebusch 1995 zwar theoretisch mit seinem Dokumentationspostulat weiter. So legt er den Akzent auf eine möglichst umfassende dokumentarische Information über die jeweiligen „deiktischen Voraussetzungen des Briefverkehrs“33 als den Daten, über die sich der „Quellen- und Ausdruckswert“ eines Briefes wesentlich ergibt; eine Aufgabe, die primär an den Apparat und den Briefkopf delegiert wird. In Bezug auf die Textwiedergabe geht er indes kaum über Woesler hinaus, wenn nämlich auch er von der unvermeidlichen editorischen „Uniformierung“, „Linearisierung“ und damit auch „Literarisierung“ des Brieftextes ausgeht, topographische Informationen auf „briefstilgeschichtlich bedeutsame“ Merkmale, wie die Position des Datums, beschränkt und anstelle von Zeichentreue eine „Zeichenadäquatheit“ fordert, die er „nicht als abbildliche, sondern als funktionale und strukturelle Entsprechung“ verstanden wissen will.34 Im letzten Jahrzehnt sind indes vermehrt Kompromissmodelle hervorgetreten, die eine Synthese beider Dimensionen anstreben, indem sie partiell bzw. punktuell diplomatisch verfahren. Stellvertretend seien genannt die historisch-kritische Ausgabe der Goethe-Briefe35 und die kritische Ausgabe des Briefwechsels zwischen Fontane und Bernhard von Lepel.36 Beide bieten als edierten Text die zeichengetreue letzte Textstufe im Blocksatz. Textgenetische Informationen werden jeweils diplomatisch-mimetisch wiedergegeben, sei es innerhalb des Textteils unten auf der Seite (Goethe), sei es im Apparat (Fontane). Beide Editionen realisieren die Synthese also dadurch, dass sie zwei verschiedene Textansichten an zwei verschiedenen Orten im Buch präsentieren, wobei die diplomatische nur eine partielle ist, indem sie auf Stellen mit Änderungsprozessen beschränkt bleibt. Einen anderen Weg der Synthese schlägt bekanntlich die C. F. Meyer-Briefausgabe37 ein, die den beiden erwähnten Ausgaben auch als Modell zur kritischen Auseinandersetzung gedient hat. Sie bietet die beiden Sichtweisen nicht an getrennten Orten, sondern vereinigt sie, indem sie nichtsprachliche Infor32 33 34 35

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Woesler 1977 (Anm. 24), S. 45 f. Hurlebusch 1995/2010 (Anm. 18), S. 112. Ebd., S. 107 f. Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv hrsg. von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter. Berlin 2008ff. Theodor Fontane / Bernhard von Lepel: Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Gabriele Radecke. 2 Bde. Berlin u. a. 2006. C. F. Meyers Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (MBW). Hrsg. von Hans Zeller, Bern 1998ff. (ab Bd. 4 hrsg. von Wolfgang Lukas und Hans Zeller). Das integrative Modell wird ab Bd. 2 realisiert, während der als Sonderband konzipierte Eröffnungsband MBW 1, der den Briefwechsel zwischen Meyer und Keller enthält, eine Vollfaksimilierung mit diplomatischer Transkription bietet.

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mationen in den edierten Brieftext selbst integriert, der zeichengetreu und ohne jede Texteingriffe im Blocksatz geboten wird. Nach einem ersten Ansatz zur integralen Wiedergabe (zumindest der Streichungen im Text selbst) mit der Edition des Briefwechsels 1877–1897 von Johanna Spyri und C. F. Meyer38 stellt die historisch-kritische Ausgabe C. F. Meyers Briefwechsel den ersten konsequenten und systematischen Versuch einer solchen ,integralen‘ Wiedergabe dar. Das Ziel, dem Benutzer so viel der als zentral erachteten non- bzw. paraverbalen Informationen als möglich in anschaulich-nachvollziehbarer Weise im edierten Text selbst zu vermitteln, impliziert die Präferenz annähernd mimetisch-abbildlicher Zeichen, im Gegensatz sowohl zu abstrakt-konventionellen Zeichen – wie z. B. Klammern (für Tilgung) oder Pfeilen (für Überschreibung) – als auch zu eingeblendeten verbalisierten Editorbemerkungen („gestr.“, „geändert aus“, „über der Zeile“ etc. – etwa in der Weise der Kasseler Grimm-Ausgabe,39 die eine alternative Form der integralen Wiedergabe bietet). Die angestrebte Synthese ist mithin eine doppelte: Indem die Ausgabe – grundsätzlich – die beiden Dimensionen der Textualität wie auch Materialität der handschriftlichen Dokumente gleichermaßen berücksichtigt und damit – textsortenspezifisch – den beiden Aspekten des Privatbriefs als „Informationsträger“ und „Ausdruckszeugnis sui generis“40 gerecht zu werden sucht, zielt sie schließlich auch auf die Synthese eines sowohl produktions- als auch rezeptionsorientierten Editionsmodells.41 Ob sie damit die modellhafte Lösung im Sinne eines ,dritten Wegs‘ zwischen zwei Extremen42 oder doch nur die „Quadratur des Würfels“43 darstellt, sei dahingestellt. An dieser Stelle interessiert lediglich die mediengeschichtliche Verortung im Sinne einer medialen Prämisse. Denn all diese Kompromissmodelle, und dies gilt a fortiori für die C. F. Meyer-Ausgabe als deren Extremvariante, sind evidenterweise auf das Buch als Medium bezogen und erhalten überhaupt nur unter den Prämissen der Buchkultur Sinn. Der Zwang zur Entscheidung 38

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Johanna Spyri – C. F. Meyer. Briefwechsel 1877–1897. Mit einem Anhang: Briefe der Johanna Spyri an die Mutter und die Schwester C. F. Meyers 1853–1897. Hrsg. und kommentiert von Hans und Rosmarie Zeller. Mit einer Einleitung von R. Zeller. Kilchberg 1977 (Kilchberger Drucke. 6). Brüder Grimm: Werke und Briefwechsel. Kasseler Ausgabe. In kritisch-kommentierten Einzelbänden hrsg. im Auftrag des Vorstandes der Brüder Grimm-Gesellschaft. [Abt.] Briefe. Bd. 2: Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug (einschließlich der Briefwechsel zwischen Ludwig Hassenpflug und Dorothea Grimm, geb. Wild, Charlotte Hassenpflug, geb. Grimm, ihren Kindern und Amalie Hassenpflug). Hrsg. und bearb. von Ewald Grothe. Kassel, Berlin 2000. Hurlebusch 2008/2010 (Anm. 31), S. 344. Siehe Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 165–202. Siehe die ausführliche Rezension von Klaus Hurlebusch 2008/2010 (Anm. 31), S. 351. Staengle, Peter: Quadratur des Würfels. Zum dritten Band von C. F. Meyers Briefwechsel: Korrespondenz mit Friedrich und Georg von Wyß. In: Text. Kritische Beiträge 10, 2005, S. 175–177.

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zwischen zwei Alternativen, dem der Bucheditor auf mehreren Ebenen – hinsichtlich Wahl der Textgrundlage, Textwiedergabemodell, Textansichten etc. – unterworfen ist, besteht für den digitalen Editor prinzipiell nicht.44 Das ,Sowohlals-auch‘ stellt nun aber nicht nur eine grundsätzliche und charakteristische Möglichkeit der digitalen Edition dar, sondern es ist deren eigentliche raison d’eˆtre. Zwar kann das Prinzip der Kombination mehrerer Textansichten keineswegs und gleichsam ,mediendeterministisch‘ vom digitalen Medienwandel abgeleitet werden, da es bekanntlich von den Buch-Faksimileausgaben, die, beginnend mit der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe von D. E. Sattler, seit den 1970er Jahren erschienen sind, eingeführt worden ist; allerdings blieb dieses ,luxuriöse‘ Modell bislang praktisch auf Werkausgaben beschränkt. Zumal für die Briefedition gilt also, dass das digitale Medium erstmalig die Chance auf eine konsequente Durchsetzung dieses editorischen Prinzips bietet. Eine digitale Edition legitimiert sich somit durch den medienspezifischen Mehrwert, den sie gegenüber dem Buch bietet. Kompromissmodelle wie die oben skizzierten, die in einer einzigen Textansicht zwei verschiedenen Bedürfnissen Rechnung tragen wollen (C. F. Meyer) bzw. die eine bestimmte, die textuelle Textansicht priorisieren und die dokumentarische punktuell und marginal bieten (Goethe, Fontane), verbieten sich im digitalen Medium, weil sie hier ihren Nutzen verlieren. Um nun zu Gutzkows Korrespondenz und zur Bestimmung eines editorischen Modells zurückzukommen, so ergibt sich hieraus als logische Konsequenz die Entscheidung, den Dimensionen der Textualität und der Materialität bzw. des Briefs als ,Text‘ und des Briefs als ,Dokument‘ und den daraus jeweils abgeleiteten Bedürfnissen des Lesers bzw. Benutzers dadurch Rechnung zu tragen, dass an die Stelle eines Entweder-oder bzw. eines – mehr oder weniger gelungenen – kompromisshaften Syntheseversuches ein konsequentes Sowohl-als-auch gesetzt wird. Die Dokumente, Handschriften wie Typoskripte, sollen zunächst vollständig faksimiliert werden, was sich in Bezug auf die maschinenschriftlichen Abschriften dadurch rechtfertigt, dass diese, zumindest die von H. H. Houben angefertigten, ein relativ hohes Maß an Zuverlässigkeit aufweisen und erkennbar (wenn auch vermutlich selektiv und kaum systematisch) sowohl graphische als auch topographische Besonderheiten der ursprünglichen Dokumente wiederzugeben versuchen.45 Sodann werden dem Benutzer zwei Wiedergaben zur Verfügung gestellt, eine zeichen-, zeilen- und positionsgetreue diplomatische und eine normalisierte, welche die letztgültige Textstufe im konventionellen Blocksatz wiedergibt, historische Graphen (n/m mit Makron, y mit Trema) auflöst bzw. übersetzt und somit einen Text bietet, der gern als ,zitierfähig‘ bezeichnet 44

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Siehe Rüdiger Nutt-Kofoth: Sichten – Perspektiven auf Text. In: Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Anne Bohnenkamp-Renken. Berlin u. a. 2013 (Beihefte zu editio. 35), S. 19–29. Briefanfänge und -schlüsse werden tendenziell positionsgetreu individualisiert wiedergegeben, zum Teil wird von Houben auch gestrichener Text übernommen.

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wird. Auf editorische Eingriffe wie Emendationen wird in den Originalhandschriften allerdings grundsätzlich verzichtet, da solche in Ego-Dokumenten wie Briefen verfälschend sind; Verschreibungen werden also allenfalls im Apparat richtiggestellt.46 Das Hybridkonzept der Digitalen Gutzkow-Ausgabe ist anzupassen im Sinne einer textsortenspezifischen Aufgabenverteilung zwischen Buch und digitalem Medium. Die für die Werke Gutzkows in der Regel47 praktizierte mediale Trennung von Text und Apparat ergibt aufgrund des anderen, nämlich unverzichtbaren Stellenwerts von Stellenerläuterungen bei einer faktualen und referentiellen Textsorte wie dem Privatbrief wenig Sinn. Stattdessen können einzelne Teilkorrespondenzen zusätzlich in Buchform erscheinen, während die digitale Edition Vollständigkeit anstrebt. Darüber hinaus sollen digital zusätzliche Register und Indices zur Verfügung gestellt werden, die eine weitere, über die Stellenerläuterungen hinausgehende, Erschließung des Materials vornehmen.

III. Aspekte der Modellierung aus der Sicht der Informatik Aus Sicht der Informatik stellen bei der anvisierten Briefedition sowohl die komplexe Überlieferungssituation, die hohen Ansprüche an eine ,kritische Studienausgabe‘, der Grundsatz, kollaborativ in der Gruppe zu arbeiten, und schließlich die schiere Masse an Briefen eine Herausforderung in mehrfacher Hinsicht dar. Das betrifft die Modellierung, die Entwicklung digitaler Werkzeuge und letztendlich die in verschiedenen Medien (Buch, digitale Version) geplante Präsentation der Edition selbst. Allein die Erschließung und Erfassung von Briefbeständen aus dem weit verstreuten Nachlass Gutzkows setzt aus diesen Gründen bereits eine Unterstützung durch geeignete Arbeitsumgebungen voraus. Als ein Beispiel sei nachstehend das Problem der Erfassung und Codierung von Briefkoordinaten herausgegriffen. Im Rahmen des Editionsprojektes wurden bereits die Bestände in der Frankfurter Universitätsbibliothek gesichtet und zu den Briefen beziehungsweise Abschriften Angaben wie Absender, Empfänger, Schreibdatum, Absendeort, Umfang, unter Umständen auch Regesten, zum Teil 46

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Siehe hierzu, mit Beispielen aus Gutzkows Korrespondenz, Lukas 2010 (Anm. 19). Den seinerzeit, etwa von Walter Müller-Seidel in den editorischen Richtlinien zur Briefedition in der Schiller-Nationalausgabe aufgestellten Grundsatz: „Es zeugt von einer mißverstandenen Akribie, wenn eine historisch-kritische Ausgabe Schreib- oder Flüchtigkeitsfehler pflegt“ (Schillers Werke. Bd. 23: Briefwechsel. Schillers Briefe 1772–1785. Hrsg. von W. M.-S. Weimar 1956, S. 233) dürfte heutzutage wohl niemand mehr teilen. Ausnahmen werden auch hier da gemacht, wo eine editorische (kommentierende und/oder indexikalische) Erschließung für die Lektüre unverzichtbar erscheint. So wird z. B. den Textbänden der autobiografischen Schriften ein Personenregister beigegeben, vgl.: Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben. Hrsg. von Peter Hasubek. In: Gutzkows Werke und Briefe (Anm. 1). Autobiografische Schriften, Bd. 2. Münster 2006.

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auch erwähnte Personen, Institutionen und Orte beziehungsweise Plätze tabellarisch erfasst. Diese zusammengestellten Informationen wurden analysiert und zunächst statistisch ausgewertet. Bei den Datierungen der Briefe ergab sich eine breite Streuung der aufgetretenen Formate, jedoch mit einer sehr geringen Varianz. Aus der Untersuchung von über 2000 Briefkopfdaten ergab sich, dass in rund 90 Prozent der Fälle eine vollständige, präzise und normalisierte Datierung anzutreffen war, etwa das Absendedatum eines Briefes von Rosalie Scheidemantel an Gutzkow vom 12.02.1834. Teilweise unbekannte oder nicht lesbare Angaben lagen in zwei Prozent der Fälle vor, beispielsweise die Datierung des Briefs von Gutzkow an Hermann Rollett in der Form „??.07.1844“, da in diesem Falle (noch) keine tagesgenaue Bestimmung vorgenommen werden konnte. Alle weiteren vorgefundenen Formate von Datierungen zeigten eine Auftretenshäufigkeit von unter einem Prozent, zeichneten sich jedoch durch stark divergierende Angaben, teilweise bereits durch Editorenanmerkungen aus. Anführen kann man zum Beispiel vom Editor erschlossene oder geschätzte Datierungen, Briefe, die an mehreren, nicht aufeinander folgenden Tagen geschrieben wurden, vage Datierungen, vollständig unbekannte Datierungen, relative Angaben, Angaben mit Zeitspannen und schließlich auch Angaben mit Bezug auf christliche Feiertage und auf Jahreszeiten sowie Ergänzungen und Anmerkungen der Editoren innerhalb der Datierungen. Unter dem Gesichtspunkt des medizinischen Grundsatzes „Häufiges ist häufig, und Seltenes ist selten“ sollte die Erfassung der normierten Datierungen sehr schnell durchzuführen sein, da diese in 90 Prozent der Fälle vorzufinden sind. Für alle anderen Formate kann der Zeitaufwand bei der Erfassung durchaus mit abnehmender Auftretenswahrscheinlichkeit steigen, um der Diversität der Daten gerecht zu werden. Die Erfassung einer normierten Datierung kann durch ein einfaches Textfeld, einer nach Tag, Monat und Jahr getrennten Eingabemaske mit angebundenem Kalender, oder direkt über einen Kalender ermöglicht werden. Die eben genannten Möglichkeiten sollten dem Philologen auch alternativ angeboten werden, sodass nach persönlicher Vorliebe ausgewählt werden kann. Gute, bereits priorisierte Vorschläge einer intelligenten Autovervollständigung sowie Konsistenzprüfungen runden solche Erfassungsmasken ab. Konsistenzprüfungen können sich auf die Existenz einer eingetragenen Datierung (der 29. Februar 1843 existiert nicht) oder auf versehentliche Eintragungen (die Datierung 18.07.1943 sollte eigentlich der 18.07.1843 sein) beziehen. Zusätzlich können bereits während der Eingabe weitere Informationen über Feiertage (zum Beispiel: der 25.03.1842 war ein Karfreitag), Wochentage (nach Eingabe des Datums 22.09.1812 wird direkt der Wochentag Dienstag zusätzlich angezeigt) oder auch historische Ereignisse im Umfeld der Datierung bereitgestellt werden. Auch die Erfassung der Schreiber und Empfänger kann durch geeignete Unterstützung erheblich vereinfacht und beschleunigt werden. Eine Möglichkeit wäre, die normierte Ansetzung durch Verknüpfung mit der Deutschen Natio-

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nalbibliothek zu erleichtern und gleichzeitig die Zuweisung von eindeutigen Identifikatoren (GND/PND-Nummern)48 zu ermöglichen. Verknüpft man die Erfassungsmasken der Textfelder von Absender und Empfänger mit einer intelligenten Autovervollständigung, liefert diese bereits nach Eingabe weniger Zeichen eine priorisierte Vorschlagsliste mit Personennamen in normierter Ansatzform, angereichert mit Lebensdaten der Person, Berufen und der GND/PNDNummer. Sollte eine zu erfassende Person nicht in den Vorschlägen zu finden sein, kann diese Person manuell erfasst werden und steht für die Erfassung weiterer Briefe wiederum als Vorschlag zur Verfügung. Die Erfassung der Absenderorte und, falls belegt oder erschlossen, auch der Empfängerorte kann ebenfalls durch Anbindung externer Kataloge, Ortsregister oder Schnittstellen zu Geoinformationssystemen erheblich intuitiver gestaltet werden. Insbesondere besteht dadurch die Möglichkeit, die Orte und Plätze mit geografischen Koordinaten anzureichern. Diese Information kann später im digitalen Portal der Edition für die Darstellung von Aufenthaltsorten von Personen in Kartenform oder die Darstellung von Korrespondenznetzen mit geografischem Bezug genutzt werden. Für alle genannten Facetten von Briefkopfdaten gibt es in den TEI-Richtlinien entsprechende Vorschläge für eine dezidierte Auszeichnung in XML. Trotz der Unterstützung durch spezialisierte XML-Editoren wie oXygen49 stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die manuelle Kodierung in XML der Varianz der Daten gerecht wird. Ein formularbasierter Ansatz mit intelligenter Autovervollständigung, Konsistenzprüfung, der Bereitstellung von zusätzlichen Hintergrundinformationen und der Einbindung von externen Datenbeständen zu Personen, Orten und historischen Ereignissen zur Erfassung der Briefkopfdaten durch benutzerfreundliche und leicht bedienbare Masken wird es den Editoren erlauben, bei gleichem zeitlichen Aufwand deutlich mehr Briefkopfdaten zu erfassen. Verallgemeinert man diese Erkenntnisse aus der Briefkopfdatenerfassung auf die gesamte Briefedition, sollte eine maßgeschneiderte Arbeitsumgebung den Anspruch verfolgen, aus Sicht des Philologen das jeweils beste Werkzeug für die konkrete Aufgabe einsetzen zu können. Im Mittelpunkt einer solchen Arbeitsumgebung steht der Brief. Ausgehend von der Existenz eines einzelnen Briefes können mit einem Werkzeug der Wahl weitere Informationsbestandteile hinzugefügt werden. Ein Anreicherungsprozess in diesem Sinne stellt zum Beispiel die Erfassung der Metadaten dar. Genauso sind Bearbeitungsschleifen vorstellbar, die einen Brief durch seine Transkription oder ein Regest erweitern, die zugehörige Digitalisate beisteuern oder schrittweise die strukturelle und texterschließende Auszeichnung der bereits transkribierten Briefe ermöglichen. Aus 48 49

http://dnb.de. http://oxygenxml.com.

Gutzkows Korrespondenz – Probleme und Profile eines Editionsprojekts

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pragmatischer Sicht befördert eine solche Arbeitsumgebung auch den Anspruch, Brieftexte schnell in Form einer Lesefassung für das Editionsprojekt Karl Gutzkow insgesamt zur Verfügung zu stellen, welche dringend für die Kommentierung der anderen Werke Gutzkows gebraucht werden. Tiefergehende Auszeichnungen zur Texttopografie und zur Textgenese können durch Anreicherungen in separaten Bearbeitungsschleifen erfolgen. Für die Informatik stellt sich beim Aufbau einer solchen Arbeitsumgebung die spannende Problematik, Daten aus mehreren Quellen (Metadaten, XML-Dateien nach den TEI-Richtlinien, einfache Texte mit Transkriptionen, andere Annotationen) und aus unterschiedlichen Werkzeugen (XML-Editoren wie oXygen, Annotationswerkzeuge) konsistent zusammenzuführen.

Wolfgang Bunzel Briefnetzwerke der Romantik. Theorie – Praxis – Edition

I. Theorie In kommunikationsgeschichtlicher Hinsicht stellt die Ästhetik der Romantik einen radikalen Neuanfang dar, wird hier doch Kommunikation nicht mehr wie noch zur Zeit der Aufklärung als sozialethische Aufgabe des Individuums oder als Mittel zur Meliorisierung des Staatswesens betrachtet,1 sondern als universales Prinzip zwischenmenschlichen Austauschs verstanden, durch das Leben und Kunst in Wechselwirkung zueinander gebracht werden können.2 Das Konzept einer „progressiven Universalpoesie“ ist denn auch in seinem Kern ein utopisches Projekt entgrenzter Kommunikation.3 Wenn es im Athenaeums-Fragment 116 heißt: „Die romantische Poesie ist unter den Künsten was [...] Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist.“,4 dann wird Dichtung 1

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Zur idealtypischen Unterscheidung von ,aufklärerischer‘ und ,romantischer‘ Kommunikation siehe Peter Fuchs: Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements. Frankfurt a. M. 1993, S. 79ff. und 104ff. Die Kommunikation der Aufklärung lässt sich dabei als Versuch deuten, die Kommunikation „rauschfrei zu stellen“; ebd., S. 108. Siehe hierzu auch die historischen Einzelstudien im Band: Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Hrsg. von Holger Zaunstöck und Markus Meumann. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung. 21). Zur Deutung der Romantik als Panästhetisierungsprogramm mit dem Ziel der Rückgängigmachung sozialer Ausdifferenzierung siehe Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen: Romantik und Vormärz als rivalisierende Diskursformationen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen (Hrsg.): Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2003 (Vormärz-Studien. 10), S. 9–46, besonders S. 14–16 und 29–33. Dass etwa Friedrich Schlegel ein „Projekt vollendeter Mitteilung“ verfolgt, zeigt May Mergenthaler: Zwischen Eros und Mitteilung. Die Frühromantik im Symposion der „Athenaeums-Fragmente“. Paderborn 2012 (Schlegel-Studien. 6), S. 17–28. Zugleich tritt aber auch eine „grundsätzliche Ambivalenz des frühromantischen Kommunikationsdenkens“ zu Tage: Einerseits „[...] entwickeln die Frühromantiker enthusiastische Programme zur Förderung anschlussfähiger Kommunikation. Man stellt allerdings ebenfalls fest, dass die frühromantische literarische Produktion gleichzeitig durch eine eigentümliche Form ästhetischer Praxis geprägt ist, die im öffentlichen Raum eher Unverständnis, Dissens und Irritation hervorruft.“ Patrik Garaj: Frühromantik als Kommunikationsparadigma. Zur Diskursivität und Performanz des kommunikativen Wissens um 1800. Diss. Konstanz 2006, S. 109; http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2007/3276/ (abgerufen am 30.9.2011). Von Petersdorff meint in den Athenaeums-Texten sogar die „ästhetische Negation einer [...] lebenspraktischen Kommunikation“ zu erkennen; Dirk von Petersdorff: Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller. Tübingen 1996 (Studien zur deutschen Literatur. 139), S. 300.

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dezidiert als beziehungsstiftende Spielart sozialen Handeln verstanden. Die Romantik wäre demnach als groß angelegter Versuch zu deuten, das Soziale zum Medium des Ästhetischen zu machen. Die Definition der „Universalpoesie“ als Kunstform, die „ewig nur werden, nie vollendet sein kann“,5 trägt diesem Prozesscharakter von Kommunikation konsequent Rechnung. Poesie ist ebenso wie Kommunikation prinzipiell unabschließbar: Im einen Fall wird Folge- bzw. Anschlusskommunikation6 erzeugt, im anderen werden poetische Responsionsakte herausgefordert. Bislang wurde die Neukonzeptualisierung von Kommunikation durch die Romantik vor allem für die Deutung von literarischen Texten fruchtbar gemacht. Vorgeführt werden konnte so jene Vervielfältigung der Deutungsebenen und Aufsplitterung von Sinnangeboten, die auf die beginnende Moderne verweist. Nicht zureichend reflektiert wurde dagegen, was das von Schleiermacher formulierte Postulat: „Alles soll Wechselwirkung seyn“7 für die Briefkultur der Romantik bedeutet. Zwar konnte Karl Heinz Bohrer den romantischen Brief als Ursprungsort der „Entstehung ästhetischer Subjektivität“ ausmachen und Schreiben Clemens Brentanos, Karoline von Günderrodes und Heinrich von Kleists als emphatische Ausdrucksmedien moderner Ich-Dissoziation und problematisch gewordener Welterfahrung deuten,8 doch hat die Auratisierung einzelner hochkomplexer Briefzeugnisse den Blick auf die Gesamtheit epistolarer Kommunikation nicht nur nicht befördert, sondern eher noch erschwert. Dabei wäre zunächst erst einmal gründlich darüber zur reflektieren, was es bedeutet, wenn Novalis programmatisch erklärt: „Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch.“9 Schließlich zielt diese Äußerung weniger darauf, den Brief zur genuinen Kunstform zu erklären und ihn dem Spektrum literarischer Gattungen einzuverleiben. Vielmehr sind es gerade die alltäglich-pragmatische Verwendung und die Verankerung im Lebensvollzug, die das Medium Brief für die romantische Ästhetik interessant machen. Während der Roman deshalb zur 4

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Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean Jaques Anstett, Hans Eichner sowie anderer Fachgelehrter. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner. Paderborn, München, Wien, Zürich 1967, S. 182. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (Anm. 4), Bd. 2, S. 182. Zum Begriff der „Anschlußkommunikation“ siehe Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1987 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 666), S. 198–241. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling, Hermann Fischer und Heinz Kimmerle. I. Abt.: Schriften und Entwürfe. Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799. Hrsg. von Günter Meckenstock. Berlin, New York 1984, S. 170. Siehe Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München, Wien 1987. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl. München, Wien 1978, S. 249.

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bevorzugten Ausdrucksform avanciert, weil er neben verschiedenen literarischen Genres auch alle Arten von nichtliterarischen Gestaltungsmustern – darunter natürlich auch Briefe – in sich zu integrieren vermag,10 ermöglicht der Brief im Gegenzug die Rückbindung der Kunst an die Alltagskommunikation. In seiner Funktion als lebensweltlicher Mitteilungsträger erscheint er als ideales Verbindungselement zwischen Kunst und Leben.11 Der Brief entspricht auch deshalb den Zielen des romantischen Literaturprogramms in idealer Weise, weil er – anders als die etablierten Formen der Kunst – keine rollenspezifische Aufspaltung der Kommunikation in Produzenten und Rezipienten kennt. Brieflicher Austausch verläuft immer reziprok (oder sollte zumindest so verlaufen), d. h., die Korrespondenten sind prinzipiell gleichberechtigte Partner, die jeweils abwechselnd als Schreiber und Adressat fungieren und so einen permanenten Rollentausch vollziehen zwischen dem aktiven und dem passiven Part. Zwischen ihnen besteht strukturell kein Gefälle, so dass – ähnlich wie im geselligen Gespräch unter Gleichberechtigten – Personen unterschiedlicher Standeszugehörigkeit, verschiedener Herkunft, differierenden Glaubens und beiderlei Geschlechts einander begegnen und sich wechselseitig austauschen können. Anders gesagt: Briefe scheinen jene Utopie „herrschaftsfreier Kommunikation“ (Habermas) einzulösen, die Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 1799 in seiner Theorie des geselligen Betragens im Hinblick auf das aus „freiem Umgang vernünftiger sich unter einander bildender Menschen“12 entstehende Gespräch entworfen hat. Die „freie Geselligkeit“ einer Gesellschaft zeichnet sich demnach dadurch aus, „daß sie eine durch alle Theilhaber sich hindurchschlingende, aber auch durch sie völlig bestimmte und vollendete Wechselwirkung seyn soll“.13 Obwohl mit Blick darauf formuliert, ist Schleiermachers Modell durchaus nicht auf die Situation ko-präsenter face-to-face-Kommunikation der Salonpraxis um 1800 beschränkt, vielmehr charakterisiert es ebenso den brief10

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Friedrich Schlegel schreibt 1803 in seiner Geschichte der europäischen Literatur: „Der Roman ist die ursprünglichste, eigentümlichste, vollkommenste Form der romantischen Poesie, die eben durch diese Vermischung aller Formen von der alten klassischen, wo die Gattungen ganz streng getrennt wurden, sich unterscheidet.“ Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (Anm. 4). Bd. 11 [= Abt. 2]: Schriften aus dem Nachlaß / Wissenschaft der europäischen Literatur. Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 1795–1804. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Ernst Behler. Paderborn 1958, S. 160. Siehe hierzu Wolfgang Bunzel: Schrift und Leben. Formen der Subversion von Autorschaft in der weiblichen Briefkultur um 1800. In: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Hrsg. von Jochen Strobel. Heidelberg 2006 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 229), S. 157–176. Zitiert nach Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert und Rahel E. Steiner. Bd. 10: Studien, Materialien, Register. München 1983 (Rahel-Bibliothek), S. 254. Zitiert nach Rahel Varnhagen (Anm. 12), Bd. 10, S. 259. Schleiermacher führt diesen Gedanken weiter und kommt so zu dem Ergebnis: „Die Wechselwirkung ist sonach in sich selbst zurückgehend und vollendet“. (Ebd.)

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lichen Austausch, der ja seit der Antike als ,sermo absentis ad absentem‘ gilt.14 Der Brief überträgt mithin das Ideal der Salongeselligkeit in den Bereich der Distanzkommunikation und ersetzt den ephemeren Charakter des Gesprächs durch eine dauerhaftere Form schriftgestützten Dialogs. Die Möglichkeit des geselligen Umgangs im Salon, mit mehreren Personen gleichzeitig in Kontakt zu treten, kann der Brief zwar nicht bieten, durch das Abschreiben und Weiterleiten von Briefen kann die Simultaneität aber in Formen zeitlichen Nacheinanders überführt werden.15 Und während die Anzahl der Gesprächsteilnehmer im unmittelbaren geselligen Austausch dann doch stark limitiert ist, kann der Brief – je nach Verbreitungsart – umgekehrt nahezu beliebig viele Personen erreichen. Damit wird er zum idealen Bindeglied zwischen der privaten Sphäre und der Öffentlichkeit und vermittelt das Subjektive mit dem Bereich des Sozialen bzw. des Politischen. Schleiermacher hat seine Theorie im Übrigen just zu dem Zeitpunkt formuliert, zu dem die Zeitschrift Athenaeum eingestellt wurde und der Jenaer Romantikerkreis sich allmählich aufzulösen begann. Er beschwor mithin eine Kommunikationsutopie, deren Aussichten auf Umsetzung im Rahmen des Salons zunehmend schwanden. Nachdem der Jenaer Zirkel zerbröckelt war, blieb nur noch die Möglichkeit, das angestrebte „Kunstwerk der Geselligkeit“16 im bescheideneren Rahmen kurzfristiger freundschaftlicher Gelegenheitskohabitation und im Medium Brief zu verwirklichen. In dieser Situation trat die eigentliche Leistung des Briefs als Surrogat kopräsenten Gedanken- und Gefühlsaustausches hervor. Fortan übernahm er für die zunehmend stärker diversifizierte Gruppe romantischer Autoren jene Aufgaben, welche die direkte soziale Interaktion entweder gar nicht oder nurmehr unzureichend zu erfüllen vermochte. Und während die Salongeselligkeit stets auf einen quantitiativ recht kleinen Kreis von Personen begrenzt war, gestattete das Medium Brief – zumindest prinzipiell – eine kommunikative Verknüpfung aller Vertreter der romantischen Bewegung. Dass die Romantik eine eigenständige Diskursformation innerhalb 14

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Vgl. hierzu etwa Konrad Feilchenfeldt: ,Berliner Salon‘ und Briefkultur um 1850. In: Der Deutschunterricht 36, 1984, H. 4, S. 77–99; Edith Waldstein: Bettine von Arnim and The Politics of Romantic Conversation. Columbia (South Carolina) 1988 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture. 33), vor allem S. 18–32; Konstanze Bäumer: Interdependenzen zwischen mündlicher und schriftlicher Expressivität. Bettina von Arnims Berliner Salon. In: „Der Geist muß Freiheit genießen ...!“ Studien zu Werk und Bildungsprogramm Bettine von Arnims. Bettine-Kolloquium vom 6. bis 9. Juli 1989 in München. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Berlin 1992 (Bettina von Arnim-Studien. 2), S. 154–173. Siehe in diesem Zusammenhang besonders Konrad Feilchenfeldt: Öffentlichkeit und Chiffrensprache in Briefen der späteren Romantik. In: probleme der briefedition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Schloss Tutzing am Starnberger See, 8.–11. September 1975. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, [...]. Boppard 1977 (kommission für germanistische forschung – mitteilung. 2), S. 125–154. Clemens Brentano an Friedrich Carl von Savigny, ca. 7.6.1803; Das unsterbliche Leben. Unbekannte Briefe von Clemens Brentano. Hrsg. von Wilhelm Schellberg und Friedrich Fuchs. Jena 1939, S. 306.

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der Kulturgeschichte bildet,17 zeigt sich mithin auch in ihren Kommunikationsstrukturen. Auf Grund der Tatsache, dass ein Individuum nie nur mit einem einzigen Gegenüber korrespondiert, ist jeder Brief immer auch ein kommunikativer Akt in einem größeren, interpersonalen Zusammenhang. So wie das einzelne Subjekt in seiner Rolle als Schreiber-Adressat Teil eines Beziehungsgeflechts ist, so nimmt jeder einzelne Brief eine Mehrfachposition im kommunikativen Gesamtgefüge epistolaren Austauschs ein: Er hat erstens seinen – durch jeweils eine Vorund eine Nachgeschichte bestimmten – Stellenwert in der Korrespondenz zweier Briefpartner, er nimmt eine Position im synchronen Nebeneinander brieflicher Äußerungen ein, die von einer Person zu einem Zeitpunkt ausgehen bzw. sie erreichen, und er ordnet sich in das komplexe Koordinatensystem personaler Gruppenkommunikation ein, an der jedes Individuum partizipiert und die im Fall der romantischen Bewegung nicht nur besonders intensiv ist, sondern – wie gezeigt – auch programmatischen Charakter hat. Die sonst nur allzu leicht trivial wirkende Rede von der Netzstruktur epistolarer Kommunikation hat also im Hinblick auf den Austausch zwischen Autoren, die der Diskursformation Romantik zuzurechnen sind, in besonderem Maß ihre Berechtigung. II. Praxis Wie alle Schriftsteller, die sich den Zugang zum literarischen Feld erst erobern müssen und die aus Überzeugung oder aus strategischen Gründen bestimmte ästhetische Grundüberzeugungen miteinander teilen,18 bilden auch die Vertreter der Romantik eine zwar keineswegs homogene, vor allem in der Abgrenzung nach außen aber recht klar konturierte Gruppe.19 Dieser Personenverband zeich17

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Die Konzeptualisierung der Romantik als „Diskursformation“ wird näher erläutert in: Wolfgang Bunzel, Peter Stein, Florian Vaßen 2003 (Anm. 2), S. 9–46, besonders S. 19–36. Zur Theorie des ,literarischen Feldes‘ vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a. M. 2001 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1539). Bourdieu hat in dieser Grundlagenstudie gezeigt, dass junge Nachwuchsautoren, „denen es [...] an spezifischem [symbolischen] Kapital fehlt“, jeweils als „Neulinge“ in ein Werte-„Universum“ eintreten, „in dem ,sein‘ so viel ist wie ,sich unterscheiden‘, das heißt eine distinkte und distinguierende Position einzunehmen“, und dass sie deshalb alles daran setzen müssen, „ihre Identität, das heißt ihre Differenz, zu behaupten, ihr Bekanntschaft und Anerkennung zu verschaffen“, indem sie sich vom ästhetisch Hergebrachten und Akzeptierten absetzen; ebd., S. 379. Vgl. hierzu beispielsweise Fritz Strich: Aufriß der deutschen Literaturgeschichte VIII: Die zweite Generation der Goethezeit (Romantik). In: Zeitschrift für Deutschkunde 6, 1928, S. 705–722; Walter Schmitz: Literaturrevolten: Zur Typologie von Generationengruppen in der deutschen Literaturgeschichte. In: Rudolf Walter Leonhardt (Hrsg.): Die Lebensalter in einer neuen Kultur? Zum Verhältnis von Jugend, Erwerbsleben und Alter. Köln 1984 (Veröffentlichungen der HannsMartin-Schleyer-Stiftung. 13), S. 144–165; Walter Schmitz: „Die Welt muß romantisiert werden ...“. Zur Inszenierung einer Epochenschwelle durch die Gruppe der „Romantiker“ in Deutschland. In: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Hrsg. von Hendrik Birus. Stuttgart und Weimar 1995 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände. 16), S. 290–308.

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net sich dadurch aus, dass seine Angehörigen entweder – mindestens zwischenzeitlich – miteinander befreundet sind und gemeinsame Projekte verfolgen oder doch bestimmte Interessen teilen und mehr oder weniger genaue Kenntnis voneinander haben, beispielsweise davon, was andere – selbst der eigenen Person relativ fernstehende – Kombattanten veröffentlicht haben und mit wem sie Kontakte unterhalten. Eine solche reziproke informationelle Vernetzung bewirkt zwangsläufig auch eine netzartige Kommunikationsstruktur. Das soziale Netzwerk, das die Autoren der romantischen Bewegung untereinander ausgebildet haben,20 mit dem sie sich in der Öffentlichkeit bemerkbar zu machen und im literarischen Feld zu positionieren versuchen, findet seinen Ausdruck primär in verschiedenen Briefnetzwerken, die wiederum untereinander Verbindungen aufweisen und ein größeres Gesamtnetz bilden.21 Die Briefe setzen in vielen Fällen den zuvor persönlich stattgehabten Austausch fort, zuweilen knüpfen sie aber auch Beziehungen zwischen Personen, die entweder noch gar keinen oder nur sporadischen Kontakt zueinander hatten.22 Als Distanzmedium dient der Brief dazu, die räumliche Abwesenheit von Personen zu überbrücken. Die Vertreter der romantischen Autorengruppe nun waren ungewöhnlich mobil (was nicht zuletzt eine Folge ihres großenteils unsicheren sozialen Status war), so dass es ständig zu Abschieden und Trennungen kam: Ludwig Tieck studierte in Halle, Göttingen und Erlangen und wohnte außer in seiner Geburtsstadt Berlin in Jena, Ziebingen und Dresden; der aus Hannover stammende Friedrich Schlegel studierte in Göttingen und Leipzig, weitere Stationen seines Lebens waren Dresden, Jena, Paris, Köln und Wien; sein Bruder August Wilhelm lebte nach dem Studium an der Universität Göttingen in Amsterdam, Jena, Berlin, Coppet am Genfer See, Wien und Bonn; Clemens Brentano wuchs in Koblenz-Ehrenbreitstein, Frankfurt a. M., Heidel20

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Dieses soziale Netzwerk konnte bis zur Kohabitation gehen. Beispiel dafür ist die berüchtigte Wohngemeinschaft von August Wilhelm und Caroline Schlegel, Friedrich und Dorothea Schlegel im Jenaer Haus der Witwe des Kirchenrats Döderlein in der Leutragasse. Doch auch kurzzeitige Formen des Zusammenlebens – wie etwa Clemens Brentanos Aufenthalt bei Achim von Arnim in Berlin in den Monaten November und Dezember 1804 – ermöglichten temporäre intensive Kommunikation durch Kopräsenz. Editorisch Rechnung getragen hat diesem Umstand bereits die frühe Edition: Romantiker-Briefe. Hrsg. von Friedrich Gundelfinger [= Friedrich Gundolf]. Jena 1907. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die räumliche Distanz überbrückende und Verbindung stiftende Kraft epistolarer Kommunikation ist die Korrespondenz zwischen Clemens Brentano und Philipp Otto Runge. So lautet der Beginn von Runges erstem, am 27. Dezember 1809 geschriebenen Brief an Brentano: „Ich nehme mir die Freyheit, den Wunsch unsrer näheren Bekantschaft, auf beyden Seiten, als bekant vorauszusetzen, und freue mich herzlich zu Ihren Entschluß, uns im Frühling zu besuchen, welches ich von Louise Reichard gehört habe, ich zweifle nicht, daß wir uns in vielen Stücken einig sein und uns in manchen schon werden begegnet und angetroffen haben, so wünschte ich auch, wenn wir uns sehen und sprechen, daß unsre Wirksamkeit uns zu einer nähern Verbindung veranlaßte.“ Clemens Brentano/Philipp Otto Runge: Briefwechsel. Hrsg. und kommentiert von Konrad Feilchenfeldt. Frankfurt a. M. 1974 (Insel-Bücherei. 994), S. 7. Tatsächlich sind beide Korrespondenzpartner einander nie persönlich begegnet.

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berg und Mannheim auf, absolvierte eine Lehre in Langensalza, studierte in Halle, Jena und Göttingen und wohnte in Heidelberg, Kassel, Landshut, Berlin, Bukowan in Böhmen, Wien, Dülmen, Koblenz, München und Aschaffenburg; Achim von Arnim verbrachte seine Kindheit und Jugend in Zernikow und Berlin, bereiste zwischen 1801 und 1804 u. a. die Schweiz, Frankreich, England und Schottland und lebte in Heidelberg und Wiepersdorf. Selbst die generell sehr viel stärker ortsgebundenen Frauen partizipierten an dieser Mobilität; so hielt sich etwa die unverheiratete Bettine Brentano vor ihrer Ehe mit Achim von Arnim und der darauf folgenden dauerhaften Ansiedelung in Berlin und Wiepersdorf außer in Frankfurt a. M., Fritzlar und Offenbach, wo sie aufwuchs, auch in Marburg, Kassel, München und Landshut auf. Solch unstete Lebensläufe mit vielen wechselnden Wohnorten und zahlreichen Reisen aber machten eine intensive epistolare Kommunikation nötig. Dem Umstand beispielsweise, dass das Ehepaar von Arnim zwischen Berlin und dem bei Jüterbog gelegenen Landgut Wiepersdorf hin- und herpendelte und so immer wieder für längere Zeit getrennt war, verdanken wir die umfangreichste Ehekorrespondenz nicht nur der Romantik, sondern der deutschen Literaturgeschichte überhaupt. Beide Partner wechselten deutlich über 500 Briefe miteinander, wobei der briefliche Austausch vor der Heirat gar nicht mitgerechnet ist.23 Die hohe Mobilität – Achim von Arnim klagt, wie viele seiner Kollegen auch, diesbezüglich über das „unselige Leben auf Reisen“24 – brachte es im Übrigen mit sich, dass Briefe ihre Adressaten häufig nicht erreichten und von einem Ort zum nächsten weitergeschickt werden mussten. Einzelne Schreiben haben so eine regelrechte Odyssee erlebt und erreichten den Empfänger z. T. erst lange nach der Niederschrift und Absendung.25 Zusätzlich intensiviert wurde das Kommunikationsverhalten der romantischen Autoren durch das Vorhandensein diverser regionaler Zentren, die teilweise in zeitlicher Sukzession, teilweise aber auch parallel nebeneinander bestanden. Genannt seien hier nur die Städte Jena, Dresden, Heidelberg, Berlin, Wien und München, zu denen aber diverse weitere Orte wie etwa Frankfurt a. M., Marburg, Kassel oder Landshut hinzukommen, die zwar nicht als vollwertige Gruppenzentren, aber als wichtige urbane Kristallisationskerne fungierten. Diese aus23

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Siehe hierzu die bis zum vollständigen Erscheinen der Weimarer Arnim-Ausgabe maßgeblichen, allerdings gekürzten Editionen: Bettine und Arnim. Briefe der Freundschaft und Liebe. Hrsg., eingeführt und kommentiert von Otto Betz und Veronika Straub. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1987; Achim und Bettina in ihren Briefen. Briefwechsel von Achim von Arnim und Bettina Brentano. Hrsg. von Werner Vordtriede. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1961. Renate Moering bereitet derzeit eine vervollständigte Neuedition des Ehebriefwechsels vor. Achim von Arnim und Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe. Vollständige kritische Edition von Hartwig Schultz. Hrsg. unter Mitarbeit von Holger Schwinn. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1998 (Die Andere Bibliothek. 157/158), S. 6. Einen Extremfall stellt hier sicher der Brief Clemens Brentanos vom 23. August 1803 dar, den der durch Europa reisende Achim von Arnim erst 1805 zugestellt erhielt. Den Hinweis darauf verdanke ich Holger Schwinn.

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geprägte räumliche Multipolarität, die durch permanente temporale Verschiebung des jeweils dominierenden Gruppenmittelpunkts eine zusätzliche Dynamisierung erfuhr, bewirkte, dass ein ungewöhnlich dichtes Geflecht von Beziehungen entstand, das zur Aufrechterhaltung der einmal geknüpften Kontakte einen intensiven brieflichen Austausch erforderte. Die romantische Autorengruppe, die mindestens zwei Generationen von Schriftstellern umfasst,26 zeichnet sich nicht zuletzt wegen ihrer personellen Vielfalt durch eine besondere Kommunikationsdichte aus, die ungewöhnlich für die Zeit ist. Auch wenn zwischen den einzelnen Personen starke Unterschiede im Kommunikationsverhalten bestehen, ist die starke briefliche Vernetzung doch ein für die Gruppe insgesamt charakteristisches Phänomen. Außer über das persönliche Gespräch werden mit Hilfe von Briefen nicht nur persönliche Verbindungen aufrechterhalten, sondern auch zentrale Programmziele der romantischen Bewegung verhandelt, Dichtungen ausgetauscht und publizistische Wirkungsstrategien geplant. Das Ergebnis dieser epistolaren „Sympraxis“27 ist eindrucksvoll: So gibt es allein „2350 Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel aus den Jahren 1788 bis 1839“.28 Bei August Wilhelm Schlegel „beläuft sich das Corpus“ sogar „auf rund 4500 zugängliche Briefhandschriften“ – davon ist „die Hälfte der Briefe, ca. 2150, [...] noch gänzlich unediert“29 – , das Repertorium der Briefwechsel Ludwig Tiecks verzeichnet 2801 Schreiben, von denen ca. 800 ungedruckt sind,30 „das Briefwerk Bettines umfaßt, vorsichtig geschätzt, etwa zweieinhalbtausend Briefe, von denen bisher wenig mehr als die Hälfte publiziert sein dürfte“,31 Achim von Arnims Korrespondenz beläuft sich auf rund 2000, Clemens Brentanos auf mindestens 1800 Briefe (davon ca. 520 von ihm und ca. 1300 an ihn). Es folgen mit erheblichem Abstand E. T. A. Hoffmann (ca. 420 Briefe), Karoline von Günderrode (ca. 400 Briefe), Novalis (ca. 350, davon 179 von ihm und 170 an ihn), Joseph von Eichendorff (ca. 340, davon 202 von ihm und 138 an ihn) und Wilhelm Heinrich Wackenroder (36 Briefe). Insgesamt übersteigt die Korrespondenz der Hauptvertreter der romantischen Bewegung die Marke von 15 000 Briefdokumenten deutlich. 26

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Ihr ältester Vertreter August Wilhelm Schlegel wurde bereits 1767 geboren, Joseph von Eichendorff, einer ihrer jüngsten, erst 1788. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs (Anm. 9), Bd. 2, S. 496. Ulrich Breuer, Till Dembeck, Maren Jäger: Zum Stand der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 18, 2008, S. 165–182, hier S. 176 f. http://kompetenzzentrum.uni-trier.de/de/projekte/projekte/schlegel/ (abgerufen am 31.7.2012) – Vorstellung des jüngst bewilligten DFG-Projekts „Digitalisierung und elektronische Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels“, das von der Sächsischen Landesbibliothek – Staatsund Universitätsbibliothek Dresden und der Philipps-Universität Marburg getragen wird. Walter Schmitz und Jochen Strobel unter Mitarbeit von Melanie Richter: Repertorium der Briefwechsel Ludwig Tiecks. CD-ROM. Dresden 2002. Ulrike Landfester: Selbstsorge als Staatskunst. Bettine von Arnims politisches Werk. Würzburg 2000 (Stiftung für Romantikforschung. 8), S. 56.

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III. Edition Die schiere Masse der überlieferten Briefe ist selbst für Experten nicht zu überschauen, viel weniger für Forscher, die sich nur mit einzelnen Personen beschäftigen oder an Detailaspekten interessiert sind. Dies hat zur Folge, dass schon das gedruckt vorliegende Material nur höchst selektiv benutzt wird und die Mehrzahl der Briefe unzitiert, meist sogar ungesichtet bleibt. Personen- und Schlagwortregister erleichtern zwar – da, wo sie vorliegen – die Orientierung, das generelle Problem unzureichender Erschließung aber bleibt bestehen. Abhilfe könnten hier auf mittelfristige Sicht nur die Retrodigitalisierung schon bestehender Buchausgaben oder die Projektierung neuer elektronischer Editionen schaffen. Derartige Vorhaben werden sich aber allenfalls für einzelne Autoren und dann wohl auch nur für größere unerschlossene Bestände realisieren lassen. Insgesamt gesehen ist trotz der Existenz einer Vielzahl von Teilausgaben und diverser Zweierkorrespondenzen die Editionslage romantischer Briefe rund 200 Jahre nach ihrem Entstehen hochgradig unbefriedigend. Das betrifft zunächst die Vollständigkeit der gedruckten Dokumente: Denn außer der vergleichsweise geringen Anzahl der Briefe der drei in jungen Jahren verstorbenen Autoren Wackenroder, Novalis und Karoline von Günderrode sind bislang nur E. T. A. Hoffmanns und Eichendorffs Briefe vollständig ediert. Immerhin werden in Bälde auch die Briefe Clemens Brentanos komplett zugänglich sein. Doch schon die in Angriff genommene Erschließung der Korrespondenzen Achim von Arnims,32 Friedrich Schlegels33 und August Wilhelm Schlegels wird noch Jahre in Anspruch nehmen. Mithin wird der zugängliche Bestand der Briefe des romantischen Autorenkollektivs auf absehbare Zeit stark lückenhaft bleiben. Nicht besser sieht es bei der textphilologischen Güte des Edierten aus: Viele nach wie vor grundlegende Briefausgaben stammen aus dem späten 19. bzw. dem frühen 20. Jahrhundert und genügen damit den aktuellen Standards der Briefedition in keiner Weise. Nicht wenige Dokumente sind gekürzt oder mit Rücksicht auf Angehörige und Nachfahren gar verstümmelt wiedergegeben, sprachlich modernisiert und im Bereich der Interpunktion vereinheitlicht. Als krasses Beispiel mag hier die von Reinhold Steig zusammengestellte dreibän32

33

Von den geplanten 40 Bänden der Weimarer Arnim-Ausgabe liegen derzeit acht vor; vgl. den Editionsplan: http://arnim-gesellschaft.phil-fak.uni-koeln.de/12337.html (abgerufen am 31.7. 2012). Auf der Homepage der Friedrich-Schlegel-Gesellschaft ist über den Fortgang der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe zu lesen: „Von den geplanten 10 Bänden der III. Abteilung, die den Briefwechsel erfasst, sind lediglich vier erschienen (Bd. 23, 24, 29, 30), Bd. 25 steht kurz vor dem Abschluss; für alle weiteren Bände existieren bislang nur Vorarbeiten. Vordringlich ist also die Herausgabe von fünf Bänden der Abteilung III, die die Briefe von und an Dorothea und Friedrich Schlegel enthält.“ (http://www.schlegel-gesellschaft.de/page.php?xSessionId=&xId =329 – abgerufen am 25.9.2011).

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dige Ausgabe Achim von Arnim und die ihm nahe standen (1894–1913) dienen, die Achim von Arnims Korrespondenzen mit Clemens Brentano, mit Bettine Brentano vor der Eheschließung und den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm nicht nur in durchgehend normalisierter Form darbietet, sondern sie auch syntaktisch jeweils in eine biographische Rahmenerzählung einbettet, die oft nicht klar erkennen lässt, ob Briefe überhaupt vollständig abgedruckt oder nur auszugsweise präsentiert werden.34 Aber auch Werner Vordtriedes ein halbes Jahrhundert später edierte zweibändige Ausgabe des Ehebriefwechsels zwischen Achim und Bettine von Arnim aus dem Jahr 1961 kürzt die Dokumente vehement und modernisiert sie rigoros.35 Selbst historisch-kritische Ausgaben genügen nicht immer den Anforderungen an Texttreue, die man von ihnen eigentlich erwarten könnte. Besonders die bislang vorliegenden Briefbände der Kritischen Friedrich Schlegel-Ausgabe ernteten scharfe Kritik: Der zentrale Vorwurf lautet ebenso pointiert wie unabweislich, die [...] Ausgabe sei nicht durchgreifend nach den Quellen gearbeitet, sondern gehe [...] auf die Ausgabe von Walzel aus dem Jahr 1890 zurück – was nicht zuletzt an der Reproduktion der zahlreichen fehlerhaften Entzifferungen Walzels kenntlich werde. Die Vorwürfe betreffen aber nicht nur die fehlerhafte Entzifferung sondern auch die mangelnde Differenziertheit der Textwiedergabe. Grundsätzlich sei die Ausgabe Behlers eher auf die Festschreibung von Eindeutigkeit als auf eine differenzierte Darstellung des Entzifferungsbefundes ausgerichtet; es fehlten ihr Differenzierungsinstrumente zur Darstellung textueller Besonderheiten, d. h. es würden beispielsweise die Unterteilung in Abschnitte, die Hervorhebung einzelner Wörter oder Passagen und die paratextuelle Struktur der Briefe nicht hinreich rekonstruiert. Zudem seien die Angaben zu Tilgungen und Hinzufügungen ebenso unvollständig wie die Nachweise zur Auflösung von Abkürzungen.36 34

35

Der Bearbeiter bemerkt im „Vorwort“ zum ersten Band: „Schon die Ueberfülle des ungedruckten Vorrathes nöthigte zu durchgreifender Vereinfachung. Selbstverständlich ist, daß fortblieb, was sich seiner Natur nach für eine Bekanntmachung nicht eignet. Auch das an sich Unbedenkliche ward ausgeschieden, wenn es für die Entwickelung der Persönlichkeit entbehrlich oder überflüssig schien. Von dem, was geistig irgendwie bedeutsam ist, entgeht kein Wort der Oeffentlichkeit. Alles hier Gedruckte entspricht dem Original; die Orthographie und Interpunction habe ich in eine ideelle, für den Leser nöthige Gleichmäßigkeit umgesetzt.“ Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. von Reinhold Steig und Hermann Grimm. Bearbeitet von Reinhold Steig. Bd. 1: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Stuttgart 1894, S. VII. In manchen Briefen finden sich an drei oder gar vier verschiedenen Stellen Auslassungen. In den editorischen Bemerkungen „Zu dieser Ausgabe“ heißt es: „Die Rechtschreibung wurde weitgehend modernisiert, aber der alte Lautstand beibehalten. Die Zeichensetzung wurde immer da geklärt, wo es die Lesbarkeit erforderte. Die vielen Namensverschreibungen wurden, wo immer es möglich war, stillschweigend berichtigt. Eckige Klammern bezeichnen entweder Erläuterungen oder Erschließungen [des Herausgebers]. [...] Eine Reihe von Briefen ist gekürzt, einige wenige wurden ausgelassen. Gestrichen wurde einzig das, was weder ehegeschichtlich noch kultur- oder allgemeingeschichtlich von irgendeinem Interesse war – Haushaltsgeschichten, Abrechnungen, Dienstboten- und Wohnungsnöte, die den Leser nur ermüdet hätten.“ Achim und Bettina in ihren Briefen. Briefwechsel von Achim von Arnim und Bettina Brentano (Anm. 23), S. 945.

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Angesichts der Menge des überlieferten Materials, aber auch angesichts der sehr heterogenen editorischen Güte des bislang Publizierten erweist sich die Hoffnung auf eine vollständige und obendrein zuverlässige Gesamtedition des romantischen Briefnetzwerks (das im Übrigen ja zu Personen außerhalb des Gruppenzusammenhangs hin offen ist) in gedruckter Form als illusionär. Umsetzbar wäre ein solches Vorhaben überhaupt nur digital. Doch auch mit elektronischen Mitteln erscheint es schwer erreichbar, weil es nicht allein übliche Projektdimensionen überschreitet, sondern auf Grund seiner Komplexität sich einer einzelforscherzentrierten Vorgehensweise entzieht. Will man den Gedanken daran, die einzigartige epistolare Netzwerkkonstruktion der romantischen Bewegung einmal zu überblicken und ihr Funktionieren nachzuvollziehen, dennoch nicht aufgeben, dann wird man nach pragmatischen Lösungen suchen müssen. Einen Ausweg aus dem Dilemma bieten hier flexible und erweiterbare digitale Baukastenmodelle. Auch noch so komplexe Kommunikationsnetze können nämlich von jedem ihrer basalen Knotenpunkte aus nachgeknüpft werden. Für die Rekonstruktion der romantischen Briefnetzwerke bedeutet dies, dass jeweils von einzelnen Personen ausgegangen werden kann, die als Kommunikationsknoten fungieren und deren Korrespondenzen ihrerseits kleinere oder größere Teilnetze bilden, von denen wiederum Verbindungsfäden zu epistolaren Teilnetzen anderer Personen reichen.37 Es liegt nahe, die Erfassung personenbezogener Briefnetze von den bestehenden historisch-kritischen Editionen ihren Ausgang nehmen zu lassen, die mittlerweile ja doch beträchtliche Teilbestände zugänglich gemacht haben. Da sich für die bereits abgeschlossenen Unternehmen zunehmend drängender die Frage nach einer Retrodigitalisierung stellen wird und noch laufende Ausgaben ohnehin Überlegungen werden anstellen müssen, ob sie neben der Printversion künftig auch eine elektronisch gestützte anbieten, die alle Möglichkeiten der Personen- und Wortrecherche bietet, bilden die Datenpools der großen wissenschaftlichen Gesamtausgaben eine Hauptressource für den Aufbau einer flexiblen und erweiterbaren, offenen Zugriffsstruktur auf die Briefnetzwerke der Romantik. Daneben ist vor allem an jene Bibliotheken und Archive zu denken, die über große handschriftliche Quellenbestände zur deutschen Romantik verfügen; ge36

37

Ulrich Breuer, Till Dembeck, Maren Jäger 2008 (Anm. 28), S. 171. Zu den im Einzelnen vorgebrachten Einwänden siehe Armin Erlinghagen: Wie kritisch ist die Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe? Zur Fort- und Festschreibung fehlerhafter Entzifferungen im ersten Band der Dritten Abteilung. In: Text. Kritische Beiträge 3, 1997, S. 85–120. Dass sich daran wiederum spezielle Forschungsprojekte knüpfen lassen, liegt auf der Hand. Das Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem (FuD) der Universität Trier beispielsweise nennt als in Planung befindliches Vorhaben: „Vernetzte Korrespondenzen. Erforschung und Visualisierung sozialer, räumlicher, zeitlicher und thematischer Netze in Briefcorpora“ (http://fud.unitrier.de/?site id=116&id=12 – abgerufen am 31.7.2012), das als Gemeinschaftsunternehmen der Universität Trier, des Deutschen Literaturarchivs Marbach und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg konzipiert ist.

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nannt seien hier nur das Frankfurter Goethe-Haus/Freies Deutsches Hochstift in Frankfurt a. M., die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin, das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden und – als historischer Sonderfall – die Biblioteka Jagiellon´ska in Krako´w. Dazu kommen natürlich zahlreiche kleinere Häuser und Einrichtungen. Einige Institutionen haben schon seit geraumer Zeit damit begonnen, Teile ihrer Bestände zu digitalisieren und ins Netz zu stellen oder sie mit Hilfe von Datenbanken zugänglich zu machen. So verzeichnet beispielsweise das Repertorium der Goethe-Briefe des Weimarer Goetheund Schiller-Archivs sämtliche derzeit bekannten Briefe von diesem Autor.38 Einen Schritt weiter gegangen ist das Beethoven-Haus, das mittlerweile alle in seinen Sammlungen befindlichen Briefzeugnisse Ludwig van Beethovens – es sind „über 500“ von insgesamt „1770 bekannten“ Schreiben – digital zugänglich gemacht hat, die „im Digitalen Archiv originalgetreu, mit Textübertragung, Inhaltsangabe und Quellenbeschreibung präsentiert“39 werden. Den bei weitem größten Datenpool stellt indes gegenwärtig das Heinrich-Heine-Portal bereit: Es ist eine elektronische wissenschaftliche Gesamtausgabe von Heines Werken und Briefen, verknüpft mit digitalisierten Handschriften-, Bild- und Buchbeständen aus dem Heinrich-Heine-Institut, der Bibliothe`que nationale de France und einigen anderen Bibliotheken und Archiven. Es vereinigt die 1973–1997 erschienene Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA), herausgegeben von Manfred Windfuhr (Hamburg: Hoffmann und Campe), und die 1970–1984 publizierte Briefabteilung der HeineSäkularausgabe (HSA), herausgegeben von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (heute Klassik Stiftung Weimar) und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris (Berlin, Paris: Akademie-Verlag und Editions du CNRS). Alle Texte, Kommentare und Register werden in einer Hyperlinkstruktur miteinander vernetzt, die Briefe von Heine werden in vollständig überarbeiteter Form präsentiert. Hinzu kommen digitale Faksimiles handschriftlicher wie gedruckter Textzeugen, Bild- und Quellenmaterialien.40

Genau hier nun hätte das Projekt ,Briefnetzwerke der Romantik‘ anzusetzen. Die Institutionen mit namhaften Sammlungen romantischer Briefe müssten nach und nach ihre Bestände elektronisch erfassen und Bilddigitalisate über ihre Home38

39

40

„In der Datenbank sind insgesamt ca. 15.700 Datensätze gespeichert“, die u. a. detaillierte „Angaben zur Handschriften- und Drucküberlieferung der Briefe“ enthalten; http://ora-web.swkk.de /swk-db/goerep/hilfe.html (abgerufen am 30.9.2011). http://www.beethoven-haus-bonn.de/sixcms/detail.php?id=1505&template=einstieg digitales archiv de& mid=Schriftdokumente%20Ludwig%20van%20Beethovens%20und%20anderer%20 Personen (abgerufen am 30.9.2011). http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/start (abgerufen am 31.7.2012). Im Hinblick auf Heines Korrespondenz gilt dabei: „Nach derzeitigem Stand beträgt die Gesamtzahl der Briefe, die im Heinrich-Heine-Portal veröffentlicht werden, 3262 (gegenüber 3153 in der HSA).“ http://www .hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/briefe (abgerufen am 31.7.2012).

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pages abrufbar machen. Parallel dazu sollten die historisch-kritischen Ausgaben sich darum bemühen, dass ihre in Buchform edierten Briefdokumente auch online zugänglich werden. Viele Verlage sind durchaus daran interessiert, dass neben der gedruckten Edition zusätzlich eine digitale Version zur Verfügung steht. Inwieweit bestimmte Funktionen dann kostenpflichtig wären, muss natürlich jeweils vorab im Einzelfall geklärt werden. In jedem Fall anzustreben wäre eine enge Kooperation von sammelnden Institutionen einerseits und Editionsunternehmen andererseits (falls eine solche nicht schon besteht). Es ist darüber hinaus an der Zeit, Brücken zwischen den bestehenden historisch-kritischen Ausgaben zu schlagen und die Anstrengungen der Bibliotheken und Archive zur Digitalisierung ihrer Bestände zu koordinieren. Die Organisationsform eines Unternehmens ,Briefnetzwerke der Romantik‘ muss nicht notwendig die eines festen, orts- und institutionengebundenen Portals sein – zumal die bestehenden Portale zunehmend in Konkurrenz zueinander stehen. Für ein personenübergreifendes Vorhaben angemessener erscheint eine offene Struktur, welche die Vielfalt der gegenwärtig gehandhabten Textpräsentations- und Textauszeichnungsstandards41 nicht normierend einschränkt und nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner anstrebt, der eine wechselseitige hypertextuelle Verlinkung42 zwischen Dokumenten verschiedener Plattformen gestattet. Falls sich im Lauf der Zeit gewisse einheitliche Standards herausbilden, dann ist das natürlich zu begrüßen, weil es die Arbeit und die Koordination erleichtert, doch muss das Funktionieren des angestrebten Hypertextnexus43 grundsätzlich auch ohne detaillierte Vorfestlegungen gewährleistet sein. Eta41

42

43

Gabler hat sich schon Mitte der neunziger Jahre für die „Erarbeitung eines standardisierten Auszeichnungssystems für die Computeraufnahme von Handschriften“ ausgesprochen. Hans Walter Gabler: Computergestütztes Edieren und Computer-Edition. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 315–328, hier S. 327. Ein frühes Plädoyer für entsprechende Verfahrensweisen stammt von Rainer Baasner: Digitalisierung – Geisteswissenschaften – Medienwechsel? Hypertext als fachgerechte Publikationsform. In: Jahrbuch für Computerphilologie 1, 1999, S. 11–20. http://computerphilologie.tu-darmstadt .de/jahrbuch/jb1/baasner.html (abgerufen am 31.7.2012). Das wohl erste Beispiel eines digital erfassten Textpools mit Hyperlink-Strukturierung war vor rund 20 Jahren die elektronische Edition: Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frise´. CD-ROM mit Handbuch und Erschließungsprogramm PEP. Reinbek 1992. Allerdings handelt es sich hier noch um das Modell einer geschlossenen Datenbank, die in dieser Form nur angelegt werden konnte, weil sich das Material mehr oder weniger vollständig im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien befindet. Sobald aber die Handschriftenbestände weiter gestreut sind, sollten an die Stelle geschlossener und auf Vollständigkeit bedachter Systeme sukzessiv erweiterbare mit offenen Strukturen treten. Wie eine Werkausgabe als „Hypertextnetz“ angelegt werden kann, veranschaulicht die Edition: Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hrsg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. DVD-Version. Klagenfurt: Robert Musil-Institut der Universität Klagenfurt. 2009. Siehe hierzu Walter Fanta: Die Klagenfurter Ausgabe Robert Musil. Historisch-kritisches Edieren am Computer. In: Jahrbuch für Computerphilologie 8, 2006, S. 29–54. http://computerphilologie.tu-darmstadt.de/jg06/fanta.html (abgerufen am 31.7.2012).

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bliert werden soll also ein komplexes Verlinkungssystem zwischen von diversen wissenschaftlichen Einrichtungen auf z. T. unterschiedlichen Portalen und Homepages vorgehaltenen bzw. in Datenclouds ausgelagerten Textdokumenten, die mindestens teilweise auch zusätzlich als Bilddigitalisate verfügbar sind. Wie ein solches System aussehen könnte bzw. funktionieren würde, sei an einem einfachen Beispiel veranschaulicht. Als Ausgangsobjekt dienen mag der Brief Clemens Brentanos an Achim von Arnim aus Marburg vom 11. Januar 1802. Dieses Dokument wird im Freien Deutschen Hochstift aufbewahrt und liegt – außer in einigen älteren Teildrucken – mittlerweile in zwei historischkritischen Editionen vor: der Frankfurter Brentano-Ausgabe und der Weimarer Arnim-Ausgabe. Das Hochstift als besitzende Institution nun könnte ein Bilddigitalisat der Handschrift auf seiner Homepage anbieten und dieses mit einer Transkription versehen, die auf dem Druck in der Frankfurter Brentano-Ausgabe basiert. Da der Brieftext selbst Erwähnungen weiterer Briefe enthält, wären die insgesamt sechs Markierungen mit fünf Sprungmarken zu externen Datenquellen (es sind deshalb nur fünf, weil zwei Markierungen – „Brief an Tiek“ und „geschrieben“ – sich auf dasselbe Schreiben Clemens Brentanos an Ludwig Tieck vom 11. Januar 1802 beziehen) zu versehen, die den Brieftext mit anderen Briefen verknüpfen – sofern diese überliefert und elektronisch verfügbar sind. Sollte das nicht der Fall sein, verweist eine Roll-over-Einblendung darauf. In jedem Fall eingerichtet werden kann ein Hyperlink auf den im Brieftext erwähnten Brief, den Clemens Brentano am 11. Januar 1802 an Ludwig Tieck geschrieben hat, ist dieser doch gleichfalls in der Frankfurter Brentano-Ausgabe ediert. Möglicherweise fehlt hier anfangs das Bilddigitalisat, da die Originalhandschrift sich in der Biblioteka Jagiellon´ska in Krako´w befindet. Aber auch ohne das Bilddigitalisat funktioniert die Verknüpfung mit Bezugsdokumenten, kann doch diese zweite Transkription wieder mit – neuen – Sprungmarken ausgestattet werden. Von hier aus führt der Weg weiter zu vier anderen Briefen, von denen allerdings nur zwei bekannt sind, weshalb zwei Markierungen lediglich Roll-over-Kommentare bieten würden. Klickt man auf das Lemmawort „Brief“, kann man bequem zu Achim von Arnims Brief an Clemens Brentano vom 8. Dezember 1801 springen. Zu den möglichen Begleitinformationen, die dem Dokument beigegeben werden können, gehören beispielsweise Angaben zum Standort der Handschrift sowie Informationen zu früheren Drucken bzw. Teildrucken. Auf diese Weise lassen sich übrigens auch Auktionskataloge, die ja eine wertvolle Quelle darstellen, erfassen und sukzessive in das Verweisungssystem integrieren.44 Und natürlich hätte der Benutzer wieder die Möglichkeit, 44

Siehe hierzu vor allem Hermann F. Weiss: Spurensicherung. Zu älteren Auktions- und Autographenkatalogen als Quellen für die deutsche Literaturgeschichte. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrag der Görres Gesellschaft N. F. 30, 1989, S. 163–194, aber auch Claudia Neumann: „... so daß der Katalog eifrig zitieret ward ...“. Autographenkataloge als kulturwissenschaftliche Zeugnisse. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2004, S. 9–32.

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ein Bilddigitalisat der Handschrift zu betrachten und so die Güte der Transkription zu überprüfen. Plädiert wird hier also für die Schaffung einer dezentralen, möglichst offenen, auf (bis auf weiteres) html/xml-Grundlage basierenden und mit TEI-Minimalstandards operierenden digitalen Plattform, die nach vielen Richtungen hin erweiterbar ist und es den bereits bestehenden Portalen und Homepages erlaubt, sich mit denkbar geringem Zusatzaufwand daran zu beteiligen. Nötig ist dafür keine Superstruktur, welche die – ohnehin nicht exakt bezifferbare – Gesamtheit aller Briefe der Romantik überwölbt, sondern vielmehr ein intelligentes Verknüpfungssystem, das vorhandene Dokumente in Konnex zueinander bringt. Mit dem Aufbau eines solchen Nexus gehen natürlich Recherchemöglichkeiten einher, die von der Personen- über die Datums- und Orts- bis hin zur gezielten Stichwortsuche (und dies natürlich in beliebiger Kombination der Suchparameter) reichen. Spätestens hier erreicht die elektronisch-virtuelle Nachbildung der romantischen Briefnetzwerke eine neue Dimension. Am Konzept einer „progressiven Universalpoesie“, das im Mittelpunkt der romantischen Ästhetik steht, haben Briefe einen ganz entscheidenden Anteil. Es stellt sich nun die Frage, ob wir mit den technischen Mitteln digitaler Edition nicht auch eine Art von „Universalphilologie“45 herstellen könnten und sollten, die im Falle des Projekts ,Romantische Briefnetzwerke‘ natürlich nur als progressive zu denken wäre.

45

Jochen A. Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Mit lexikographischem Anhang. Berlin, New York 1999 (Studia linguistica Germanica. 50), S. 224.

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Anhang:

Abb. 1 und 2: Clemens Brentano an Achim von Arnim, Marburg, 11. Januar 1802 (Handschrift: Frankfurter Goethe-Haus/Freies Deutsches Hochstift, Sign. 7529)

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Marburg den 11 Jenner 1802 Lieber, Guter Arnim! Der Tag, den ich deinen Herz und Seelerquikenden Brief erhalte, ist eigends von Gott für dich eingerichtet [...]: Weiter endige ich so eben einen Brief an Tiek, zwar einen traurigen. ich habe Tiek zum Theaterdirektor in Frankfurt machen helfen wollen, er hat sich auf mein Anraten gemeldet, Göthe sollte ihn empfehlen [...]. Ich hab ihm so eben das rükgängige geschrieben, aber zugleich den Vorschlag gemacht, mit mir und andern, die sich finden müßen, ein neues selbständiges wahres Comisches Theater zu errichten [...]. Mit Winkelmann bin ich entzweit über sein Lügenhaftes Temperament von Göttingen weggegangen, [...] von Jena komme ich so eben, wo ich unter andern allgemeine Verachtung Winkelmanns unter seinen sogenannten Freunden antraff, man hält ihn dort [...] für einen Windbeutel, selbst Friedrich Schlegel. Ich habe ihm das gemeldet, er es erkannt, und sich wieder mit neuer Freundschaft zu mir gewandt [...]. Mit Ritter bin ich, biß Gotha gereißt, und sprach viel von dir, Ritter – lieber Arnim ist der größte Mensch unsrer Zeit [...]. Mein Stück ist Göthe eingesandt und wird nächstens beurtheilt werden, Nahmen, Last es euch gefallen, die zwei lezten Akte sind die Besten, ich bitte dich schreibe über das Liebesopfer, und die Quelle woher, thu es lieber Achim. Die Post geht nächstens mehr Clemens Brentano Marburg bei Herrn v. Savigny Abb. 3: Clemens Brentano an Achim von Arnim, Marburg, 11. Januar 1802 (Transkription) [Textvorlage: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 29, S. 413 f.]

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Marburg den 11 Jenner 1802 Lieber, Guter Arnim! Der Tag, den ich deinen Herz und Seelerquikenden Brief erhalte, ist eigends von Gott für dich eingerichtet [...]: Weiter endige ich so eben einen Brief an Tiek, zwar einen traurigen. ich habe Tiek zum Theaterdirektor in Frankfurt machen helfen wollen, er hat sich auf mein Anraten gemeldet, Göthe sollte ihn empfehlen [...]. Ich hab ihm so eben das rükgängige geschrieben, aber zugleich den Vorschlag gemacht, mit mir und andern, die sich finden müßen, ein neues selbständiges wahres Comisches Theater zu errichten [...]. Mit Winkelmann bin ich entzweit über sein Lügenhaftes Temperament von Göttingen weggegangen, [...] von Jena komme ich so eben, wo ich unter andern allgemeine Verachtung Winkelmanns unter seinen sogenannten Freunden antraff, man hält ihn dort [...] für einen Windbeutel, selbst Friedrich Schlegel. Ich habe ihm das gemeldet, er es erkannt, und sich wieder mit neuer Freundschaft zu mir gewandt [...]. Mit Ritter bin ich, biß Gotha gereißt, und sprach viel von dir, Ritter – lieber Arnim ist der größte Mensch unsrer Zeit [...]. Mein Stück ist Göthe eingesandt und wird nächstens beurtheilt werden, Nahmen, Last es euch gefallen, die zwei lezten Akte sind die Besten, ich bitte dich schreibe über das Liebesopfer, und die Quelle woher, thu es lieber Achim. Die Post geht nächstens mehr Clemens Brentano Marburg bei Herrn v. Savigny Abb. 4: Clemens Brentano an Achim von Arnim, Marburg, 11. Januar 1802 (Transkription mit Hyperlinks) [Textvorlage: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 29, S. 413 f.]

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– Brief → Hyperlink zu: ACHIM VON ARNIM AN CLEMENS BRENTANO, 8.12.1801 – Brief an Tiek → Hyperlink zu: CLEMENS BRENTANO AN LUDWIG TIECK, 11.1.1802 – geschrieben → Hyperlink zu: CLEMENS BRENTANO AN LUDWIG TIECK, 11.1.1802 – gemeldet → Hyperlink zu: CLEMENS BRENTANO AN AUGUST WINKELMANN, MITTE DEZEMBER 1801 – zu mir gewandt → Hyperlink zu: LUDWIG TIECK AN CLEMENS BRENTANO, O. D. [ENDE DEZEMBER 1802] – eingesandt → Hyperlink zu: CLEMENS BRENTANO AN JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, O. D. [ca. 10.9.1801] Abb. 5: Übersicht über die Hyperlinks

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Marburg, den 11ten Jenner 1802 Ihr gütiges Schreiben traf mich erst in Erfurt auf meiner Rükreiße hierher, ich würde ihnen schon sicher früher geschrieben haben, hätte ich etwas Bestimmtes von der Sache gewust [...]. Die zwei erträglichsten Männer in Fr[ankfurt] auf deren Hilfe ich Rechnen konnte, Geheimrath Willmer, Göthes Jugendfreund, und Moritz Bethmann, schreiben mir beiliegende Briefe [...]. Ich habe mit Ritter, der mit mir bis Gotha reißte, über allerlei gesprochen, und eine Idee von mir, die auch er lebhaft faßte, durchdringt mich jetzt noch mehr. [...] Sein Sie mir gut, ich bin ihr treuster, liebendster Schüler, und Diener Clemens Brentano [...] Arnim, den sie kennen, und sicher lieben, schreibt mir seinen ersten Brief von Regensburg, und schreibt mir so viel über sein Entzükken über Sie [...]. Abb. 6: Brief an Tieck geschrieben → Hyperlink zu: Clemens Brentano an Ludwig Tieck, Marburg, 11. Januar 1802 (Transkription mit Hyperlinks) [Handschrift: Bibliotheka Jagiellonska, Krakow – Textvorlage: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 29, S. 410–412]

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– Schreiben → Hyperlink zu: LUDWIG TIECK AN CLEMENS BRENTANO, Ende Dezember 1801 – Geheimrath Willmer → Roll-over-Kommentar: JOHANN JAKOB WILLEMER – der er-wähnte Brief ist nicht bekannt – Moritz Bethmann → Roll-over-Kommentar: MORITZ BETHMANN – der erwähnte Brief ist nicht bekannt – Brief → Hyperlink zu: ACHIM VON ARNIM AN CLEMENS BRENTANO, 8.12.1801 Abb. 7: Clemens Brentano an Ludwig Tieck, Marburg, 11. Januar 1802 (Übersicht über die Hyperlinks und Roll-Over-Kommentare)

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131 Regensburg den 8 Dec 1801

Ich habe gestern den zweyten Theil Deines Godwy erhalten [...]. Lieb war es mir, daß Du meine Schützenrede nicht hast abdrucken lassen [...]. [...] Heyer, den ich in Dresden gesprochen, hat mir leider versichert, daß Du Dein Lustspiel nicht beendigt, ich hoffe auf Deine Besserung nachdem Du von der unpoetischen Leine zum tönenden Rhein versetzt bist, Du must wachsen wie eine Rebe und wie euer rheinisches Getreide, auf einem Stengel zehn Aehren tragen. Bey Tieck bin ich während der drey Wochen in Dresden fast täglich gewesen. [...] Ich habe ein Lustspiel angefangen betitelt Porcius Procularius Porcellaniunoulos [...]. Auch allerley gereimte Sachen laufen mir aus der Feder [...]. [...] Willst Du mehr darüber wissen so melde Dein Anliegen an Deinen Freund Achim Arnim [...]. Abb. 8: Achim von Arnim an Clemens Brentano, 8. Dezember 1801 (Transkription mit Hyperlinks)

Jochen Strobel Der Brief als Prozess. Entwurf und Konzept in der digitalen Edition

I. Geht man von den Arbeitsgrundsätzen des Goethe- und Schiller-Archivs aus, dann sind fünf Textüberlieferungsformen zu unterscheiden, deren Termini, soweit ich sehe, auf Goethe selbst zurückgehen: Schema, Konzept, Reinschrift, Abschrift und Korrekturbogen.1 Da Korrekturbögen naturgemäß nur im Rahmen der Veröffentlichung zu autorisierender Texte anfallen, im Arbeitsgang der Fahnenkorrektur eben, beschränkt sich die Überlieferung brieflicher Textzeugen maximal auf die ersten vier der genannten Kategorien; ,Reinschrift‘ ist gleichbedeutend mit behändigter Ausfertigung, also dem abgesandten Schreiben. ,Schema‘ wird wie folgt definiert: Das Schema ist eine vor der Ausarbeitung des Textes liegende Vorstufe im Schaffensprozeß an einem Werk. Seine allgemeinen Merkmale sind: – stichwortartige oder referierende Darstellung des geplanten Gedankengangs bzw. Handlungsablaufs für das gesamte Werk oder einzelne Teile (= Teilschema), ohne formulierten Text; – Korrekturen in dieser Niederschrift; – wenig sorgfältige, unter Umständen flüchtige Schrift; – Verwendung von Bleistift oder anderen wenig dauerhaften Schreibstoffen; – Verwendung von Konzeptpapier, von Papierstücken unterschiedlicher Formate und von freien Seiten bereits anderweitig verwendeter Blätter.2

Für den Brief hieße das: Jegliches Paralipomenon, das einem ausgefertigten Brief vorausgeht, aber nicht dessen unmittelbare Vorstufe ist, wäre als Schema oder eben als ,Entwurf‘ zu bezeichnen. Es könnte sich also auch um erste flüchtige Notizen in einem Kalender handeln, ,Entwurf‘ ist als ausgesprochen inklusiver Begriff zu verstehen. 1

2

Vgl. Bestandserschließung im Literaturarchiv. Arbeitsgrundsätze des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar. Hrsg. von Gerhard Schmid. München u. a. 1996, S. 172–178. Zugänglich unter http://www.klassik-stiftung.de/uploads/tx lombkswmargcontent/Bestandserschliessung 01.pdf (abgerufen am 29.3.2012). Ebd., S. 172.

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Jochen Strobel

,Konzept‘ ist folgendermaßen definiert: Das Konzept ist diejenige Vorstufe im Schaffensprozeß an einem Werk, in der der Text ausgearbeitet wird. Es entsteht mit der unbewußten Voraussetzung oder der bewußten Absicht, eine vorläufige, für Änderungen im Zuge der unmittelbaren Niederschrift offene Textgestalt herzustellen, auf deren Grundlage und mit deren Hilfe dann die abgeschlossene, für eine Veröffentlichung autorisierte Gestalt des Textes erarbeitet werden soll.3

Konzediert man, dass auch Briefe einen mehrstufigen Entstehungsprozess durchmachen können, also mehrere Vorstufen dem eigentlich abgesandten Brief vorausgehen, dann ist das ,Konzept‘ im Unterschied zur eventuellen Pluralität von ,Entwürfen‘ die einem abgesandten Brief schon sehr ähnliche unmittelbare Vor-Fassung, die praktischerweise zugleich den archivalischen Zwecken des Briefschreibers dient. Dass Konzepte überliefert sind, dürfte nicht selten auf das Motiv zurückgehen, in den eigenen Papieren zum späteren Nachlesen eine zuverlässige ,Vor-Fassung‘ des Briefs zurückzubehalten. Ein solches Konzept erhielte dann eigentlich die Funktion einer Abschrift, die anzufertigen man sich dann aber erspart. Blickt man auf den Schreibprozess, dann ist das Konzept, das ja dennoch vom eigentlichen Brief stark abweichen kann, eine für sich zu nehmende ,Fassung‘ des Briefs. Der Begriff ,Fassung‘ scheint mir sinnvoll, da das Konzept zumindest in seiner Textgestalt (nicht in den Merkmalen seiner Materialität, etwa Papier oder Schreibstoff) den geplanten, noch auszuarbeitenden Brief simuliert – im Zuge der Entstehung des eigentlichen Briefs kommt es zu einem Neueinsetzen des Schreibflusses und die endgültige Fassung entsteht. Bekanntlich stellen in Goethes später Briefpraxis die Objektivationen Konzept und behändigte Ausfertigung Produkte eines geregelten Prozesses dar, der mit dem Medium der Stimme, dem Diktat des Konzepts oder auch nur eines ersten Entwurfs, beginnt, sich dann über die in der Regel eigenhändige Korrektur des Konzepts, die Abschrift des korrigierten Texts durch den Schreiber und die eigenhändige Unterschrift durch Goethe, ggf. inklusive eigenhändiger Zusatzbemerkungen, bis zum Ausfertigen, Absenden und dem Archivieren des Konzepts durch den Sekretär erstreckt. Vergegenwärtigt man sich diesen Prozess, dann mag man von vornherein die Dignität des Themas ,Briefkonzept und digitale Edition‘, ja das hohe, wenngleich bislang noch nicht ausgelotete wissenschaftliche Potenzial erahnen, das der Briefentwurf im Zeitalter digitaler Edition erstmals entfalten könnte. Doch zurück zu meinen Begriffen: Entwurf scheint mir der inklusivere Begriff zu sein, der von einer stichwortartigen Notiz als Gedankenstütze bis zu einem vollständigen, dann nur auf Briefpapier abzuschreibenden Text sehr vieles meinen kann. 3

Ebd., S. 173.

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Es kann hier nur um zweierlei gehen: erstens um die grundsätzliche Frage nach dem Briefentwurf als Zeichen- und als Bedeutungsträger sowie zweitens um die Chance zu einem veränderten Umgang des Editors mit Briefentwürfen im Zusammenhang digitaler Editionen und einen daraus resultierenden Mehrwert (Erkenntniszuwachs oder auch Nutzungskomfort) für den Leser. Es kann nicht verwundern, dass Briefentwürfe in herkömmlichen Editionen und auch in den jetzt verfügbaren digitalen Editionen relativ schlecht wegkommen. Das entscheidende Argument ist natürlich, dass der Brief in wesentlich höherem Maß, als das bei dem traditionellen Werkbegriff der Fall ist, an die kommunikative Situation bzw. die Gebrauchsfunktion des Absendens und, nach Möglichkeit, Ankommens und Gelesenwerdens sowie an das zugehörige materiale Objekt geknüpft ist. Ein Entwurf wird erst zum Brief als abgesandtes oder gar erst als empfangenes Objekt mit dem durch den Adressaten gelesenen Text. Einer critique gene´tique des Epistolaren kann weniger Bedeutung eingeräumt werden als der eines literarischen Texts. So fragen Editoren bis heute nach Entwürfen fast immer nur dann, wenn der ausgefertigte Brief verlorenging oder wenn auf den Entwurf überhaupt kein Brief folgte. Norbert Oellers hat sich dazu 1993 wie folgt geäußert: „Briefkonzepte gehören nur dann in den Textteil, wenn die späteren Ausfertigungen (die nachweislich dem Adressaten zugegangen sind) nicht überliefert sind. (Wenn es nie mehr gab als ein Konzept, ist dieses wohl in die Erläuterungen aufzunehmen.)“4 Ein nicht umgesetzter Briefentwurf ist ein Datum hinsichtlich der – mit Jakobson – phatischen Kommunikationsfunktion des Briefs, denn die Nicht-Umsetzung besagt für die Kommunikation zwischen Schreiber und Adressat in etwa dies: „Ich wollte mich dir zuwenden, habe den Akt der Zuwendung auch vorbereitet, es mir dann aber doch anders überlegt.“ Dies bleibt freilich ein Selbstgespräch des (verhinderten) Absenders; der Adressat kann einen solchen Gedankengang vermuten, sofern er damit rechnet(e), einen Brief zu erhalten. Die hier angedeutete Kommunikationsstörung – die, eine entsprechende Erwartungshaltung vorausgesetzt, immer noch Kommunikation ist – kann ermittelbare Gründe haben. Die Aufnahme eines Konzepts aufgrund des Verlusts des abgesandten Briefs kann ebenfalls auf Gründe hindeuten – z. B. die bewusste Vernichtung – , aber auch auf Kontingenzen der Überlieferung – Briefe gehen leicht verloren. Ich ergänze Oellers sinngemäß: In allen anderen Fällen wird man auf die Existenz eines Konzepts allenfalls im Kommentar hinweisen, vielleicht wichtige, im Brief gekürzte oder veränderte Stellen des Konzepts in Auswahl mitteilen. Winfried Woeslers Vorschläge für eine Normierung von Briefeditionen von 1988 äußern sich hinsichtlich der Vollständigkeit der Publikation eines Autorenbriefwechsels zurückhaltend aus zwei Gründen: „Valenz und Volumen“. Möglicherweise könnten aber aufgenommen 4

Norbert Oellers: Wie sollten Briefwechsel ediert werden? In: Der Brief in Klassik und Romantik. Hrsg. von Lothar Bluhm u. a. Würzburg 1993, S. 1–12, hier S. 10.

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werden „nicht abgeschickte Briefe, nicht gelesene Briefe, Briefentwürfe (bei fehlendem Original)“.5 Sind also Entwürfe als Bedeutungsträger einzustufen und daher einer Veröffentlichung würdig – und wie ist damit umzugehen, dass die breite Berücksichtigung von Entwürfen zu einer Aufschwellung des Materials führen kann?

II. Ich komme zu meinem Plädoyer zugunsten der digitalen Briefedition, die zumindest mit dem Problem des Volumens umzugehen versteht. Briefe sind offene Bedeutungsträger, worüber eine gewisse Permanenz textueller und formaler, also textgattungstypischer Konventionen nicht hinwegtäuschen sollte. Es handelt sich um heterogene, teils editorisch schwer übersetzbare Daten auf der Ebene des materialen Zeichenträgers, aber auch um semantisch heterogene Daten auf der Textebene. Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte sind durch Kontingenzen bestimmt; es ist oft nur Zufällen geschuldet, wenn Briefe auf uns kommen. Das Ideal des Dialogischen zwischen zwei Briefpartnern erweist sich vielfach als schöne Fiktion, die zumindest durch das oft lückenhaft überlieferte Material nicht gestützt wird.6 Semantisch homogene Korrespondenzen, die Freundschaften, Werkgemeinschaften, Lehrer-Schüler-Verhältnisse etc. realisieren, sind oft nur prominent gewordene Ausnahmen. Briefe substituieren nicht selten Kommunikationsstrukturen, die zunächst durch Mündlichkeit, leibliche Kopräsenz der Kommunikationspartner und damit ex post nur bedingte Rekonstruierbarkeit gekennzeichnet sind. Traditionell verkoppelt man Briefcorpora mit dem holistischen Werk- und dem Autorschaftsbegriff und täuscht sich damit darüber hinweg, dass Briefe, z. B. innerhalb eines Nachlasses oder innerhalb eines Archivs, aufgrund des Netzwerkcharakters von Korrespondenzstrukturen oder auch umfassenden Kommentierungsbedarfs schwer begrenzbare, aus der Sicht traditionellen Edierens häufig immens umfängliche Materialcorpora sind. Die Zukunft der Briefedition kann also nur bei einem Medium liegen, das mit großen Datenmengen umgehen und sie für unterschiedliche Benutzerinteressen differenziert strukturieren und aufbereiten kann, das insbesondere auch der Tatsache Rechnung trägt, dass Briefleser oder besser Nutzer von Briefeditionen nur in Ausnahmefällen gewillt sind, dicke Bände zu lesen, in denen sich unüberschaubar heterogene Daten verbergen, die meisten davon für das spezifische Nutzerinteresse noch dazu bedeutungslos. So fragt Norbert Oellers in dem schon zitierten Aufsatz: „Aber wer liest einen Briefband wie einen Roman?“7 Es gibt 5

6 7

Beide Zitate Winfried Woesler: Vorschläge für eine Normierung von Briefeditionen. In: editio 2, 1988, S. 8–18, hier S. 9. Vgl. Deutsche Briefe. Hrsg. von Gert Mattenklott u. a. Frankfurt a. M. 1988, S. 15. Oellers 1993 (Anm. 4), S. 8.

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Briefreihen als biographische oder historische Narrative, ein „Leben in Briefen“.8 Seit dem 19. Jahrhundert sind spannend zu lesende und natürlich auch ästhetisch ansprechende Briefcorpora publiziert worden, oft handelt es sich um eine Dokumentation von Freundschaften und Produktionsgemeinschaften, von Liebesbriefen ganz zu schweigen. Doch ist Oellers insgesamt nicht nur zuzustimmen, sondern es ist, zugespitzt, aus der Materiallage einerseits und den Interessenlagen vor allem wissenschaftlicher Nutzer andererseits zu folgern, dass Briefeditionen, mit einigen prominenten Ausnahmen, nicht (mehr) zwischen Buchdeckel gehören. Die digitale Briefedition eröffnet die Möglichkeit eines editorischen Baukastenprinzips mit den folgenden Bestandteilen: Digitalisierung und archivarische Grunderschließung aller vorhandenen Textzeugen, d. h. Briefhandschriften einschließlich der Entwürfe, Einbeziehung bereits gedruckter edierter Texte – ein von Fall zu Fall abzuklärender, textkritisch heikler Bestandteil dieses „Pakets“ –, Transkription als Lesevorschlag für den weniger spezialisierten Nutzer und hierauf aufbauende Tiefenerschließung im Sinne eines mehr oder weniger umfassenden Kommentars.9 Die Bilddigitalisate aller Textzeugen sind vor allem für den spezialisierten wissenschaftlichen Nutzer sinnvoll, der Brieftexte, Benutzerspuren und auch visuelle Zeichen wie die Brieftopologie zu decodieren versteht. Baukastenprinzip meint a` la longue auch die stetige Erweiterbarkeit der Verzeichnungskategorien, eine zunehmende Tiefenerschließung. Ökonomische Aspekte spielen hier selbstverständlich eine Rolle, d. h., die aufwändige Tiefenerschließung qua Transkription plus Einblendung von Lesarten plus Sachkommentierung wird weniger leicht zu bieten sein als ein Zusatzangebot an nicht allzu tief erschlossenen Bilddigitalisaten etwa in Gestalt sämtlicher verfügbarer Briefentwürfe. Wenn ich von ,Briefstufen‘ sprechen darf, wozu jegliche Entwurfsnotizen, ausgearbeitete Konzepte, der abgesandte Brief, Abschriften, Zusammenfassungen und Regesten etwa in einem Kopierbuch oder in Exzerptheften – wie bei Achim von Arnim – gehören sollen, dann hätte die digitale Briefedition diese für sich genommen kaum untersuchten typischen Objektkategorien erst einmal in den Blick zu nehmen. Auch wenn es mitunter an Trennschärfe zwischen diesen Kategorien mangeln mag, so kann eine digitale Edition alle nebeneinander präsentieren und dabei eventuelle Hierarchisierungen einebnen. Dass Abschriften bereits ein Weiterschreiben am behändigten Brief sein können, dass überhaupt Briefe unterschiedlichen, kaum eindeutigen Text- und Fiktiona8

9

Klassische Beispiele sind die Korrespondenzen zwischen Goethe und Schiller sowie zwischen Goethe und Karl Friedrich Zelter. Der Archetyp der biographischen Briefsammlung erwuchs aus der Schiller-Verehrung: Schillers Leben. Verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eigenen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner. Hrsg. von Karoline von Wolzogen. Stuttgart 1828. Als ausschließlich digitale, online zu publizierende Edition ist das vom Verfasser zusammen mit Thomas Bürger (SLUB Dresden) geleitete DFG-Projekt „Digitalisierung und elektronische Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels“ konzipiert.

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lisierungsstufen angehören können und eine konventionelle Ergänzung des edierten Originalbriefs durch einen lemmatisierten Apparat zwecks Erschließung früherer oder späterer Stufen nicht immer ausreicht, ließe sich am Briefœuvre einer Schriftstellerin zeigen, die mit epistolaren Konventionen spielt und arbeitet, gemeint ist Bettine von Arnim.10 Auch darüber hinaus sind die Vorteile digitaler Editionen evident. Soweit die Voraussetzungen für die Zitierfähigkeit erfüllt sind, also jedem Brief eine persistente URL zugewiesen ist, und eventuelle Überarbeitungen durch autorisierte Nutzer mithilfe eines interaktiven Tools gestattet sind, kann eine vertiefende Erschließung auch nach einer Publikation fortgesetzt werden. Digitales Edieren ermöglicht, soweit es gelingt, sich zunehmend auf technische Standards zu einigen, die Anschlussfähigkeit an weitere Projekte, ja die Vernetzung mit bestehenden Editionen. Über Jahrhunderte haben im gesamten Abendland Gelehrte und Künstler – über ein paar ,Ecken‘ – miteinander kommuniziert, vielfach per Brief. Die Überlieferungsträger, vor allem solche aus dem 19. Jahrhundert, liegen zuhauf in den Archiven. Ein utopisches Fernziel wäre eine über einen Bibliotheks- und Archivkatalog nutzbare universale Briefedition – ein schöner Traum, von dessen Realisierung wir mit den gegenwärtig greifbaren Editionsund Katalogtools noch weit entfernt sind. Auf dem Weg dahin sollten auch die bislang meist marginalisierten Briefentwürfe ihren Platz finden. Ein Prinzip digitalen Edierens ist es, dem Leser je nach seinen spezifischen Interessen den Weg zu Lektüre und Erkenntnis weitgehend offen zu halten. Voraussetzung hierfür wiederum ist eine weitestmögliche Bereitstellung der Materialien.

III. Anhand dreier Beispiele möchte ich kurz den Mehrwert der umfassenden Edition von Entwürfen umreißen. Beispiel 1, nämlich Goethe, habe ich schon angesprochen. Die Entstehung von Konzepten könnte einer schreiberspezifischen Praxis geschuldet sein, also z. B. den Arbeitsprinzipien von Goethes Schreibwerkstatt und Registratur. Indem wir uns der Briefkonzepte als Bestandteils eines Nachlasses annehmen, setzen wir einen archivarischen Arbeitsgrundsatz weitestmöglich und nutzerfreundlich um, der bereits in den Verzeichnungsgrundsätzen des Goethe- und Schiller-Archivs von 1961 genannt ist: „Nachlässe seien ,in dem Zusammenhang‘ zu verzeichnen, ,in dem sie zu Lebzeiten des 10

Vgl. neben anderen Beiträgen: Wolfgang Bunzel: Ver-Öffentlichung des Privaten. Typen und Funktionen epistolarischen Schreibens bei Bettine von Arnim. In: Briefkultur im Vormärz. Vorträge der Tagung des Forum Vormärz-Forschung und der Heinrich Heine-Gesellschaft am 23. Oktober 1999 in Düsseldorf. Hrsg. von Bernd Füllner (Vormärz-Studien. 9). Bielefeld 2001, S. 41–96.

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Dichters als Arbeitsgrundlage dienten‘.“11 Der Nachlass wäre nicht organische Einheit, sondern das mehr oder minder zufällige, mehr oder minder noch absichtsvoll zugerichtete und geordnete Endprodukt einer langjährigen Arbeitsumgebung. Das Archiv des Briefschreibers als Teil seiner materialen Arbeitsumgebung vermag erst die digitale Edition zu erschließen: Eine digitale Komponente der Briefe von und an Goethe bietet nicht nur die Chance, Goethes Briefregistratur, auch in der Prozessualität ihrer Existenz, nachzuzeichnen – die editorische Transparenz von Konzepten der Goethe-Briefe als Bild und Text bietet die Voraussetzung eines, soweit ich weiß, noch ungeschriebenen Kapitels der Mediengeschichte, nämlich der Geschichte des Diktierens und des Briefdiktats (die nicht identisch wäre mit einer wohl auch noch ungeschriebenen Geschichte von Goethes Sekretären). Seit dem 19. Jahrhundert kommt der Editionspraxis der Briefe Goethes in vieler Hinsicht Avantgardestatus zu. So verzeichnet die IV. Abtheilung der Weimarer Ausgabe in einer nicht weiter begründeten Auswahl nicht nur Lesarten des ausgefertigten Briefs, sondern auch des Konzepts – mitunter werden Konzepte und, davon unterschieden, frühere Entwürfe unter „Lesarten“ zur Gänze mitgeteilt. Die derzeit entstehende Historisch-kritische Ausgabe von Goethes Briefen informiert über alle handschriftlich überlieferten Textzeugen, teilt aber Entwürfe und Konzepte (ohne Bildkomponente) nur im Textkritischen Apparat mit – in der Regel „Varianten der Konzepte und Schemata, die nicht dem edierten Text zugrunde liegen“.12 Es gilt: „Ist ein Brief nur als Konzept überliefert, bildet dieses die Grundlage des edierten Textes.“13 Vollständigen Abdruck und ggf. Kommentierung erfahren lediglich „Schemata und Konzepte, die sich aufgrund ihrer Textvarianz nicht mehr auf den edierten Text beziehen lassen“.14 Die Unterscheidungskriterien müssen die Editoren von Fall zu Fall selbst stiften, schon aus ökonomischen Gründen – erst eine digitale Briefedition könnte zumindest die gesamte Überlieferungslage in Gestalt von Images dokumentieren. Zwei vergleichbar günstige Überlieferungslagen wären anzuführen: Zentrale Überlieferungsgrundlage der ab 2012 entstehenden digitalen Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels ist dessen Nachlass, insbesondere etwa 30 postum kompilierte und gebundene Briefbände. Hierher gehört auch die Bewertung der Tatsache, dass Schlegel zahlreiche Briefe konzipiert und das Konzept in seinen Papieren bis zu seinem Tode verwahrt hat. Von Schlegels Kor11

12

13 14

Sabine Schäfer: Die Briefe von Katharina Elisabeth Goethe an ihre Familie in Weimar. Ein Beitrag zu der noch ausstehenden „Geschichte der Goetheschen Briefregistratur“. In: Das Goetheund Schiller-Archiv. 1896–1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Hrsg. von Jochen Golz. Weimar u. a. 1996, S. 195–213, hier S. 199. Editionsgrundsätze. In: Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv hrsg. von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter, Bd. 6 II. Berlin 2010, S. XI-XVI, hier S. XV. Ebd., S. XI. Ebd., S. XV.

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respondenz ist etwa die Hälfte bisher ediert, weitgehend verstreut auf viele Einzeleditionen. Doch niemand hat nach den Entstehungs- und Verwertungsprinzipien von Briefkonzepten systematisch gefragt, nach möglichen Präferenzen der im Nachlass enthaltenen Konzepte für Schlegels weitere Arbeit. Erst nach Vorliegen der digitalen Edition, die alle Überlieferungszeugen, also Handschriften und Drucke präsentiert, kann diese Frage beantwortet werden. Mein letztes Beispiel überschreitet die ,Briefstufen‘ Entwurf und Konzept: Ein Verwertungskonzept ist relativ offensichtlich bei den Briefjournalen Ernst und Friedrich Georg Jüngers, die wiederum in der Goethe-Nachfolge stehen. Die Journale bilden einerseits ein autobiographisches Repertorium für den Briefschreiber nach Absendung der Briefe – zwischen Durchschlägen maschinengeschriebener Briefe und dem synthetisierenden Briefjournal ist nochmals zu unterscheiden –, sie sollten aber andererseits als Grundlage für Publikationen dienen, etwa einen Band mit „Reisebriefen“, für den Ernst Jünger offenbar authentische Auszüge aus einst abgesandten Briefen nun auch umschrieb – es gibt also neben dem Brief selbst eine Genese von avant-texte bis apre`s-texte. Dies alles könnte digital zugänglich gemacht werden, wenngleich ohne textkritische Komponente allenfalls von einer Nachlassdokumentation, nicht von einer Edition gesprochen werden sollte.15 Briefeschreiben und -lesen in den vergangenen Jahrhunderten ist vor dem Hintergrund der Erfahrung von Beschleunigung und von ,Vernichtung‘ des Raums, also Überwindung von Entfernungen, zu sehen. Briefe arbeiten sich ab an der Einübung der Erfahrung raumzeitlicher Differenz und begeben sich beim Versuch von deren Überwindung zunehmend in die Konkurrenz mit anderen Medien, denen dies besser gelingt. Sofern ich auch Briefen eine Textgenese zubillige, Briefe also nicht nur als ausgefertigte Gaben, als Objekte und Texte lese, sondern auch ihren Prozesscharakter in Betracht ziehe, wie dies eine stärkere Fokussierung auf Entwürfe und Konzepte zu tun verspräche, komme ich der spezifischen Medialität des Briefs auf die Spur. Von Briefen Rousseaus oder Goethes kennen wir die Funktion des Spiels mit Zeitrelationen im Schreibprozess selbst – Erzählzeit, erzählte Zeit und die brieftypische Zeitverzögerung bis zur Lektüre durch den entfernten Adressaten spielen hier eine Rolle, geraten durcheinander auf der Suche nach Präsenz in der zeitlichen Differenz.16 Von einer umfassenderen Inblicknahme von Briefkonzepten, -exzerpten, -entwurfsnotizen verspreche ich mir weitergehende Aufschlüsse über epistolare Chronotopoi. 15

16

Vgl. Ulrich Fröschle: „Ich vermisse zwei Convolute Deiner Briefe“ – Zu den Briefen und ,Briefjournalen‘ der Brüder Jünger. In: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Hrsg. von Jochen Strobel. Heidelberg 2006, S. 323–346. Vgl. Jochen Strobel: Von der Zettelwirtschaft zum Archivroman. Goethe ediert Briefe. In: Autoren und Redaktoren als Editoren. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 2008 (Beihefte zu editio. 29), S. 299–314, vor allem aber Albrecht Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. von Herbert Singer u. a., Köln u. a. 1967, S. 193–229.

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IV. Was folgt hieraus? Ein lemmatisierter Apparat mittels Einblendungen, also als Pop-ups, die beim Überfahren mit der Maus neben der Transkription des ausgefertigten Briefs sichtbar würden, machte die textlichen Abweichungen transparent, soweit sie sich quantitativ in Grenzen halten, ignorierte aber die Visualität des Entwurfs, die bedeutungstragend sein kann hinsichtlich der Tatsache, dass der Entwurf von der Wahl der Papiersorte und individuellen Notationskonventionen bis hin zu Archivierungsspuren den besonderen Arbeitsbedingungen des Briefschreibers unterworfen ist. Erst die digitale Edition kann einen Eindruck von der besonderen Flüchtigkeit des Mediums Brief vermitteln, das ja in den allermeisten Fällen als materialisiertes Objekt schon sehr fragil und vergänglich ist und sich leichter und plausibler als etwa ein Gedicht als Gegenstand eines Kommunikationsprozesses begreifen lässt: eine Nachricht, eine Geste der Zuwendung, rasch entworfen, bald verschickt, kurzerhand gelesen und vielleicht bald schon vernichtet. Es scheint mir geradezu auf den Brief gemünzt zu sein, wenn ich in Patrick Sahles Dissertation zur Digitalen Edition lese: „Beim Übergang von den gedruckten zu den digitalen Texten entwickeln wir uns vom Prinzip der Permanenz zum Prinzip der Performanz. An die Stelle des materialisierten Objektes tritt die Bewegung der flüchtigen Erscheinung und ihrer algorithmischen Erzeugung.“17 Ein Umstieg von einer in Entstehung befindlichen oder gar schon abgeschlossenen Edition herkömmlicher Art zu einer digitalen Edition, also eine Hybridisierung, ist nicht unproblematisch. Digitales Edieren kann als einen wesentlichen Vorzug die Möglichkeit einer umfassenden Sammlung und differenzierten, unterschiedlichen Nutzerinteressen gerecht werdenden Aufbereitung und Präsentation „verschiedenartigster Materialien“18 für sich verbuchen, also auch von bisher als marginal betrachteten Begleitmedien, wie eben Paralipomena, wobei die Strukturierung der aufzubereitenden Daten den unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionszusammenhängen Rechnung tragen müsste. Sahle nennt als eine besondere Leistung digitalen Edierens das großzügige Einbeziehen zu erschließender Kontexte: „bei sehr dichter Bezugnahme liegt die Einbindung der Kontexte als integrale[] Volltexte[] nahe.“19 Entwürfe müssten für den Leser innerhalb des Archivs des Briefschreibers, vielleicht auch in einer Binnendifferenzierung von Konzeptarchiv und Abschriftarchiv/Kopierbuch, wie auch als Prozess des Einzelbriefs vom Entwurf zur Ausfertigung und zur Rezeption durch den Adressaten verfolgt werden können. Prozess heißt hier nicht: linearer und vorgezeichneter Prozess, mit Ausnahme wohl der Ökonomisierung 17

18 19

Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Aufbereitung der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Diss. Köln 2009, S. 579. Ebd., S. 280. Ebd., S. 335.

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und Konventionalisierung von Entwürfen und Abschriften vor allem im Geschäftsleben („Kopierbuch“). Für den fachlich hoch spezialisierten Leser wird die Orientierung vor allem über Bilddigitalisate mit lesbaren Texten und zusätzlichen, z. B. als Handschriftenbeschreibung verzeichneten Bedeutungsmarkern laufen können; der wissenschaftliche Normalnutzer wird, soweit die Editoren dies leisten können, zusätzlich mit den wichtigsten Lesarten vertraut gemacht. Wünschenswert wäre es, eine diplomatische Umschrift aller verfügbaren Textträger als Leseangebot anzufertigen. Dies wäre freilich dann eine leser-unfreundliche Verkomplizierung, wenn sich Entwurf und abgesandter Brief in ihrer Textgestalt kaum unterscheiden. Dann müsste der Leser ja immer beide Transkriptionen zur Kenntnis nehmen. Auf einen Einblendungsapparat wird man also auch dann nicht verzichten können, wenn der Luxus umfassender Transkriptionen in greifbare Nähe rücken sollte.

V. Abschließend möchte ich einen Blick auf bereits im Netz verfügbare digitale Briefeditionen werfen. Spielen Konzepte und Entwürfe eine Rolle, und wenn ja: wie komfortabel und erkenntnisfördernd ist die Benutzung? Ich habe dabei dankbar auf Patrick Sahles Liste,20 die er auf seiner privaten Homepage publiziert hat, zurückgegriffen. Dabei fällt zunächst auf, dass die allermeisten der dort aufgeführten digitalen Briefeditionen noch Retrodigitalisierungen von Printeditionen sind, teils sicherlich verbessert, vor allem hinsichtlich des Suchkomforts. Systematische Berücksichtigung scheint aber das Phänomen Entwurf/Konzept nicht zu finden. Bereits 2006 publiziert wurde die Edition der Briefe von William Herle, einem Gelehrten und Diplomaten am Hof Königin Elisabeths I.21 Die Edition verzichtet weitgehend auf Bilddigitalisate, bietet hingegen mitunter nebeneinander zwei textkritisch nicht ausgewiesene oder kollationierte Transkriptionen, teils auch nur Regesten eines Briefs – das Verzeichnis bietet lakonisch eine Liste von „Letters in multiple copies“, ohne aber zu erläutern, wie sich die je zwei Copies zueinander verhalten.22 Diplomatische, mit diakritischen Zeichen angereicherte Umschriften plus ,Lesefassungen‘ von Entwürfen unmittelbar untereinander präsentiert die Edition der Briefe des Fotografie-Pioniers William Henry Fox Talbot – doch scheint die Ursache darin zu liegen, dass dieser seine Briefe in einer selbst entwickelten Kurzschrift konzipierte. Einige dieser Konzepte wurden unter Einhaltung besonderer Transkriptionsprinzipien publiziert, mutmaßlich um die Eigenheiten 20 21 22

http://www.uni-koeln.de/-ahz26/vlet/vlet letters.html (abgerufen am 31.3.2012). http://www.livesandletters.ac.uk/herle/index.html (abgerufen am 31.3.2012). http://www.livesandletters.ac.uk/herle/copies.html (abgerufen am 31.3.2012).

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besagter Kurzschrift zu präsentieren, doch wie gesagt: die beiden Transkriptionen stehen einfach untereinander.23 Die normalisierte, leserfreundliche Transkription simuliert zugleich den Text der (verlorenen) behändigten Ausfertigung.

Vorwiegend retrodigitalisiert ist der Briefbestand des Heine-Portals, das alle Briefe oder Briefentwürfe aufnimmt. Der elektronische Briefkopf geht von einer Vielzahl von Kategorien der jeweiligen, sich durch Nummerierung auszeichnenden Referenzgröße ,Brief‘ aus. Es ist vom Interesse des Lesers abhängig, ob er sich ausgerechnet nach solchen Kategorien der Edition nähern will. Ich nenne einige: Abschrift, Albumblatt, Aufschrift (damit sind Briefe oder Notizen auf Zeitungsblättern, Zeichnungen o. Ä. gemeint), diktierter Brief, Bruchstück, Einladungskarte, Entwurf, Offener Brief, Vertrag oder Visitenkarte. Da überall dort, wo Briefe nicht neu kollationiert oder ediert wurden, der Text der Säkularausgabe übernommen wurde, werden auch im Heine-Portal im Variantenapparat aus Entwürfen nur jene „inhaltlich erheblichen Stellen“ mitgeteilt, „die im endgültigen Brieftext keine Entsprechung haben“.24 Zur Gänze werden Entwürfe dort ediert und faksimiliert, wo keine Handschrift vorliegt, das sind nur etwa 18 Briefentwürfe. Retrodigitalisierungen können die mehr oder weniger starke Marginalisierung von Entwürfen und Konzepten in den schon existenten Bucheditionen zumindest relativieren, da die Frage der Auswahl und Anordnung von Briefen und ,Briefstufen‘ nicht mehr dem Herausgeber allein überlassen ist (der z. B. Konzepte in 23 24

http://www.foxtalbot.dmu.ac.uk/ (abgerufen am 31.3.2012). http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/briefe („Editionsgrundsätze“) (abgerufen am 31.3. 2012).

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den Anhang verbannen konnte), sondern dem Nutzer, der sich aufgrund bestehender Suchoptionen seine Textauswahl zusammenstellt. Weiterhin nenne ich die Maßstäbe setzende Carl-Maria-von-Weber-Ausgabe, die mittlerweile im Netz zugänglich ist. Die Editionsgrundsätze sagen Folgendes: „Soweit Entwürfe (Konzepte, Brouillons) nicht wesentlich vom endgültigen Text abweichen, sind abweichende Lesarten mit in die Übertragung des Originaldokuments integriert. Abweichungen werden dann wie frühere Apparateinträge behandelt und durch das Element 〈app/〉 umschlossen“, also entsprechend den TEI-Guidelines ausgezeichnet. Dann heißt es weiter, und dazu habe ich keine Belege gefunden: „Sind die Abweichungen umfangreicher und insbesondere zahlreiche Streichungen, Rand- und Zeileneinschübe sowie Überschreibungen wiederzugeben, empfiehlt es sich, den Entwurftext als eigene Datei zu behandeln.“25 Entsprechend wird in Quellenangabe und Kopfleiste des Briefs darauf hingewiesen. Entwürfe werden also auch in dieser Edition nur relativ sparsam zugänglich gemacht, das Kriterium „umfangreicher“ ist nicht recht transparent. Zwei Beispiele veranschaulichen die praktische Umsetzung: Ein Brief, dessen Entwurf allein überliefert ist, wird als solcher in der erst einzublendenden Seitenleiste gekennzeichnet („Textzeuge“).

Ein weiteres Beispiel zeigt einen Brief, der offenbar nach dem Erstdruck ediert wurde. Erst mithilfe des Einblendungsapparates werden Varianten des ebenfalls 25

http://www.weber-gesamtausgabe.de/de/Editionsrichtlinien#d207e1069 („Die Einbeziehung von Brief-Entwürfen“) (abgerufen am 31.3.2012).

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vorhandenen Entwurfs (unter „Textzeuge“ allerdings nicht als solcher gekennzeichnet) sichtbar.

Die hochgelobte Briefedition Vincent van Gogh verzichtet auf die Präsentation von Images und geht auch sonst sehr zurückhaltend mit Entwürfen um: The text as printed is the final reading of the letters (including, of course, the emendations). In other words we do not present in the text any variants (crossings out, corrections, additions) or other particulars in the manuscript. Where we believe that such details are relevant for an understanding of the text, we have included them in the annotations.26

Schließlich nenne ich die im Februar 2012 freigeschaltete Alfred-Escher-Briefedition, die mit Entwürfen recht konservativ verfährt, so avanciert sie technisch doch ist: Grundsätzlich werden Briefentwürfe nur editorisch aufbereitet und publiziert, wo kein Original vorhanden ist – wir verzichten also auf die Publikation unterschiedlicher Entwicklungsstati [sic]. Ist ein Briefentwurf Grundlage des edierten/publizierten Briefes, so wird das in den Metadaten festgehalten und bei der Publikation ausgewiesen. Entwürfe können zudem, wenn sowohl Entwurf wie Original vorliegt, für Annotationen verwendet werden (z. B. bei markanten Unterschieden). Ebenso erfassen wir, und weisen aus, wenn zu einem im Original vorliegenden (und auf dieser Grundlage publizierten) Brief auch ein Entwurf ermittelt wurde.27 26 27

http://vangoghletters.org/vg/about 3.html#intro.VI.3.2.1 (abgerufen am 29.3.2012). Aus einer E-Mail Bruno Fischers (Briefedition Alfred Escher) an den Verf. vom 23.3.2012.

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Grund für diese Zurückhaltung ist die Einschätzung der geringen Relevanz der überlieferten Entwürfe. Eine umfassende und für den Benutzer befriedigende Umsetzung des hier Angesprochenen ist bisher also nicht erkennbar. Die digitale Briefedition ist ihren Kinderschuhen noch nicht entwachsen.

Magdalene Heuser „Sie sehen mich als Representand Ihres Publikums, genommen“.1

EN GROS

Therese Hubers Entwürfe für die Annahme- oder Ablehnungsschreiben an die Autoren von Cottas Morgenblatt für gebildete Stände 1. Vorbemerkung Mitte Januar 1817 begann Therese Hubers Redaktionstätigkeit für Johann Friedrich von Cottas Morgenblatt für gebildete Stände offiziell, die sie bis Ende 1823 zuverlässig und für das Blatt erfolgreich ausführte, und zwar in „einem getheilten Regiment“ mit dem Verleger.2 Damit entstand für die Ausgabe der Briefe von Therese Huber die Notwendigkeit einer editorischen Ergänzung und Neukonzeption, die den besonderen Bedingungen dieses neuen Felds und seiner Korrespondenz Rechnung zu tragen vermochte.3 Zur Integration der dienstlichen Schriften der Autorin in ihren übrigen Briefwechsel entschlossen sich die Herausgeberinnen, weil nur so die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch keinesfalls selbstverständliche professionell ausgeübte Berufstätigkeit einer Frau dokumentiert wird und weil bei dieser Schriftstellerin Persönliches und Berufliches häufig und untrennbar miteinander verbunden sind. Das gilt auch für die enge Zusammenarbeit mit dem Verleger Cotta und den Umgang mit den Einsendern des Morgenblatts. Wie für die übrigen Bände der Briefausgabe gilt auch für die sogenannten Morgenblatt-Bände (die Doppelbände 6–8), dass nur eine Von-Brief-Edition vorgelegt wird. Die bisher praktizierte umfassende Einbeziehung der An- und Umkreis-Briefe sowie weiterer Quellen bekam für die Erarbeitung der Morgenblatt-Korrespondenz gleichwohl noch einmal ein besonderes Gewicht, sind doch nur mit deren Hilfe die thematischen, personellen und zeitlichen Zusammen1

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Therese Huber: Briefe. In neun Bänden. Hrsg. von Magdalene Heuser und ab Bd. 5 mit Petra Wulbusch. Tübingen 1999ff. – Fortan: BTH. Hier BTH, Bd. 7, Nr. 405, S. 320. BTH, Bd. 7, Nr. 266, S. 223. – Sie erhielt in rascher Folge die Angebote für die Redaktion der Morgenblatt-Beilagen Kunst-Blatt (Ende Sept./Anfang Okt. 1816) und Literatur-Blatt (Dez. 1816) und schließlich des Morgenblatts (7./8. Jan. 1817) und die des Intelligenz-Blatts (22. Juli 1817). Damit löste sie praktisch Friedrich Rückert ab, der auf seine Stelle als Redakteur verzichtet und Therese Huber als Nachfolgerin vorgeschlagen hatte. Sie arbeitete nun neben Friedrich Haug bis zu dessen Austritt aus der Redaktion (zum 1. Sept. 1817). Bis Ende 1823 führte sie das Redaktionsgeschäft selbstständig, aber in enger Zusammenarbeit mit Cotta aus. Die Redaktionen des Kunst- und des Literatur-Blatts gingen 1820 an Ludwig Schorn und Adolph Müllner. Zu den wechselnden Titelformulierungen vgl. BTH, Bd. 6, S. 746. Hierzu Magdalene Heuser: Einleitung und Editorischer Bericht. In: BTH, Bd. 1, S. 449–456; Dies.: Einleitung zur „Morgenblatt“-Korrespondenz. In: BTH, Bd. 6, S. 725–732.

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hänge der Einsendungen zu identifizieren. Dazu war das Redaktionsexemplar des Morgenblatts mit den handschriftlichen Vermerken der Mitarbeiter der Cotta’schen Buchhandlung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (Microfiche: Saur) sehr hilfreich, vor allem aber die Sichtung der über 1000 dort aufbewahrten handschriftlichen Briefe und Notizzettel, die zwischen Redakteurin, Verleger und Buchhandlung gewechselt wurden, desgleichen die von tausenden Anschreiben von Einsendern. Mit Gewinn wurde auch das von Bernhard Fischer für unsere Arbeit rechtzeitig veröffentlichte Personenregister genutzt, das jedoch nur die honorierten Einsender, aber nicht alle Autoren verzeichnet.4 Im Folgenden soll zunächst eine Skizze von Therese Hubers gesamtem Tätigkeitsfeld die Basis zum Verständnis der Vorgänge in der Morgenblatt-Redaktion legen. Ausgewählte Beispiele veranschaulichen dann das komplexe Procedere der An- und Ablehnungsschreiben an die Einsender des Morgenblatts als einen Teilbereich ihrer Redaktionstätigkeit, an dem mehrere Akteure beteiligt waren. Therese Huber verfasste die Entwürfe für diese Schreiben und vermittelte darüber hinaus bei den unvermeidlichen Konflikten mit den Einsendern, mit Cotta oder mit beiden. Eine quellenmäßig vergleichsweise gut dokumentierte Fallstudie ist das Projekt einer naturhistorischen Beilage zum Morgenblatt und der damit verbundene Konflikt mit Christian Gottfried Nees von Esenbeck. An diesem Beispiel lassen sich Grundtendenzen von Therese Hubers Umgang mit den Annahme- und Ablehnungsschreiben in Einzelschritten nachvollziehen. Die Einbindung aller Entscheidungen und Maßnahmen in die komplexen Vorgänge des redaktionellen Alltagsgeschäfts und die Abhängigkeit von den Voten des Verlegers regulierten jedoch den Handlungsspielraum dieser ansonsten souverän agierenden Redakteurin.

2. Voraussetzungen: Das redaktionelle Tätigkeitsfeld Therese Hubers tägliche Aufgabe bestand zum einen in der Sichtung des für das Morgenblatt eingesandten Materials, das ihr mit Boten ins Haus gebracht wurde. Sie redigierte die Beiträge und verfasste danach für Cotta die Stellungnahmen (Brouillons) zu den Einsendungen. Oft schrieb sie unter die Entwürfe für die Annahme- oder Ablehnungsschreiben noch Mitteilungen an die Mitarbeiter der Buchhandlung, die sie am Schluss oder auf der Rückseite, gleichsam als ,Betreff‘ und häufig mit Rötelstift, durch den in größeren lateinischen Buchstaben geschriebenen Namen des jeweiligen Adressaten kennzeichnete.5 Faltungsspuren lassen vermuten, dass diese Schreiben als Umschlag um die Manuskripte der Einsender gelegt wurden; die mit Rötelstift geschriebenen Namenszüge dienten 4 5

Bernhard Fischer: Morgenblatt für gebildete Stände/gebildete Leser 1807–1865. München 2000. Die Doppel- oder gar Dreifach-Adressaten in den Kopfzeilen sind durch diesen speziellen Korrespondenzablauf begründet.

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vermutlich der schnellen Orientierung bei der zweiten Sichtung des Materials durch Cotta und in der Buchhandlung. Der Verleger stellte Rückfragen an die Redakteurin oder beriet sich, wenn er in Stuttgart war und seine Zeit es erlaubte, bei Dienstgesprächen in seinem Haus mit ihr. Letztlich aber entschied er über diese Vorlagen, was immer wieder, wie zu zeigen sein wird, zu Auseinandersetzungen über Missverständnisse oder zu Kränkungen auf Seiten der Redakteurin führte. Die Schreiber der Buchhandlung erledigten anschließend auf dieser Grundlage die Reinschriften der Antwortbriefe, die sie – und in der Regel nicht Therese Huber selbst – mit „Redaktion des Morgenblatts“ signierten.6 In ihren Briefen benutzte Therese Huber ,Redaktion‘ in der dritten Person Singular und meinte damit: Cotta und Therese Huber.7 Über den Druck der angenommenen Manuskripte, die in eine Ablage wanderten, wurde je nach Aktualität und Dringlichkeit entschieden. Therese Huber legte 1817 vermutlich eine Liste der abgelehnten Beiträge an. Einem „Gesez“ des Verlegers zufolge sollten diese nach sechs Monaten den Eigentümern zur anderweitigen Benutzung wieder zur Verfügung stehen.8 Aus diesem Handlungsprinzip ergab sich eine der floskelhaft wiederholten Ablehnungsbegründungen. Ein weiterer Arbeitsschritt bestand in der Planung und Zusammenstellung der jeweiligen Ausgabe. Dies erfolgte täglich zwischen Redakteurin und dem Faktor der Buchhandlung, Wilhelm Reichel. Danach sichtete Cotta die Vorlage, stellte schriftliche Rückfragen und bestimmte die endgültige Druckfassung. Dieser Teil der Redaktionstätigkeit beruhte im Wesentlichen auf schriftlichen Kommunikationsvorgängen: Mehrmals täglich trugen Boten zwischen Cotta, der Buchhandlung und Therese Huber die zur Vorbereitung einer MorgenblattAusgabe – sie hatte einen Umfang von vier Seiten und erschien bis Juni 1851 täglich außer sonntags – gehörenden Unterlagen hin und her. Eine gewisse Formlosigkeit, was Papier, Anrede, Schluss und Datierungen betrifft, ist dieser Korrespondenz aufgrund ihrer pragmatischen Bedingungen demnach eigen. Dazu gehören als briefliche Kurzform auch die Marginalien – die „Meinung EN MARGE zu notiren“9 – , was zudem Therese Hubers Sparsamkeit im Umgang mit Papier sehr entgegenkam. Die Form der Schriftlichkeit war ihr aber wichtig: „ich mache, POUR CAUSES, alle Geschäfte schriftlich ab“.10 6

7

8 9

Bernhard Fischer: Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ in der Zeit von 1807 bis 1823 und die Mitarbeit Therese Hubers. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 43, 1995, S. 203–239, hier S. 221, und 44, 1995, S. 303; eine eigenhändige Signierung durch die Redakteurin erfolgte jedoch nur gelegentlich. Zu Franz Horns namentlicher Indiskretion über Huber als Redakteurin (siehe F. Horn: Umrisse zur Geschichte und Kritik der schönen Literatur Deutschlands. Berlin 1819, S. 238–240) und die anschließende Klärung von ,Redaktion des Morgenblatts‘ durch Cottas Anzeige in: Morgenblatt, Nr. 133 (4.6.1819) siehe BTH, Bd. 7, Nr. 298, S. 242; Nr. 305, S. 249; Nr. 310R, S. 251; zur Kooperation zwischen Verleger und Redakteurin vgl. BTH, Bd. 7, Nr. 228, S. 193 f.; Nr. 266, S. 222–225, hier S. 223 und 225. BTH, Bd. 6, Nr. 475, S. 486. BTH, Bd. 6, Nr. 365, S. 417.

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Zum anderen oblagen der Redakteurin neben diesem täglich einzuhaltenden strengen Arbeitspensum, das die pünktliche Fertigstellung einer Ausgabe zum Ziel hatte, noch weitere arbeitsaufwendige Aufgaben: die Akquisition von Manuskripten und Beiträgen, die Einwerbung von Einsendern und Korrespondenten und die damit verbundene Korrespondenz, die Lektüre und Sichtung von Zeitschriften und Zeitungen im Hinblick auf für Artikel geeignete Themen und Stoffe sowie die Zusammenfassung und vor allem die Übersetzung fremdsprachiger Werke. Zudem verfasste sie zahlreiche eigene Beiträge und Rezensionen für das Morgenblatt.

3. Die Annahme- und Ablehnungsschreiben Die Datierung der Briefe an Johann Friedrich von Cotta, die J. G. Cotta’sche Buchhandlung und an die Einsender basiert hauptsächlich auf den Eingangsund Ausgangsvermerken auf den Briefhandschriften. So vermerkten die Mitarbeiter der Buchhandlung auf dem Brief eines Einsenders (!) fast immer den Schreibtag, den Tag des Briefeingangs bei der Buchhandlung und den Tag des Ausgangs der Antwort. Auf jedem Brief an die Buchhandlung befinden sich in der Regel also drei Vermerke.11 Auf Therese Hubers (!) Briefkonzepten, die sich an die Buchhandlung und/oder an Cotta und die Einsender richteten, befinden sich meistens Eingangsvermerke von Cotta oder seinen Angestellten. Die Brouillons wurden wahrscheinlich noch an demselben Tag, an dem Therese Huber sie entworfen hatte, von Cotta oder den Mitarbeitern der Buchhandlung gelesen und bearbeitet. Die Mitarbeiter fertigten die Reinschriften an, signierten mit „Redaktion des Morgenblatts“ und versahen sie mit einem Ausgangsvermerk. Der auf dem Brief eines Einsenders vermerkte Ausgangstermin kann daher auch als der wahrscheinliche Schreibtag von Therese Hubers Entwurf gelten.12 Der Ablauf der Archivierung und deren Nummerierung bieten jedoch keine zuverlässige Datierungsgrundlage; zu deren oft mühsamer Ermittlung wurde jedoch das breite Feld der Verlagskorrespondenz herangezogen. Eine systematische Suche nach den bei den Adressaten eingegangenen Reinschriften der J. G. Cotta’schen Buchhandlung ist nicht Gegenstand der Ausgabe 10

11 12

BTH, Bd. 6, Nr. 260R. – Ein zügiger Geschäftsablauf wurde auch dadurch begünstigt, dass Therese Hubers Wohnung, Cottas Haus und die Buchhandlung sich in nächster Nachbarschaft im Zentrum Stuttgarts befanden. So konnte der Austausch von Briefen mehrmals täglich, z. B. durch Laufjungen, stattfinden. Hinzu kamen Beratungen des Verlegers, wenn er in Stuttgart war und Zeit hatte, mit seiner Redakteurin in dessen Haus. BTH, Bd. 6, Abb. 5, S. 269. Bei mehreren Schreiben ein und desselben Tages richtet sich die chronologische Reihenfolge nach inhaltlichen Anhaltspunkten oder aber, wie in der BTH üblich, nach den Adressaten in alphabetischer Ordnung.

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der Briefe von Therese Huber. Durch Zufälle bedingt gibt es im Cotta-Archiv jedoch zwei Beispiele für den über die interne Verlagskorrespondenz hinausgehenden Briefwechsel mit den Einsendern, den Therese Huber jedoch nicht weiter verantwortete. Da ist zunächst der Briefwechsel mit einem uns nicht näher bekannten Einsender, einem Herrn von Becker aus Ofen. Dieser hatte mit Schreiben vom 10. Juni 1818 eine Korrespondenz-Nachricht, Mai 1818 eingereicht, die ungedruckt geblieben ist. Therese Hubers Entwurf für die Antwort besteht aus zwei Teilen: einem an die Buchhandlung gerichteten, der die ungeschminkte Einschätzung der Redakteurin enthält, und einem höflich formulierten Vorschlag für den Brief an Herrn von Becker.13 Die in der Buchhandlung angefertigte und an den Einsender gesandte Reinschrift kam mit dem Vermerk „Adressat unbekannt“ zurück nach Tübingen. Der Vergleich zwischen Entwurf und Reinschrift ergibt in diesem Fall nur zwei Abweichungen: Aus Therese Hubers „Anerbieten“ wurde „gütiges Anerbieten“; außerdem wurde das Datum ergänzt. Das zweite Beispiel ist ein Brief-Entwurf Therese Hubers für ein Ablehnungsschreiben an Karl Trummer, Jurist, Schriftsteller und regelmäßiger Einsender des Morgenblatts. Es wurde von ihr über den Verleger und/oder die Buchhandlung an den Einsender adressiert14 und bildete die Grundlage für eine anschließend angefertigte – hier an mehreren Stellen veränderte – Reinschrift durch Mitarbeiter der Buchhandlung: Aus „meiner Ansicht“ wurde „unserer Ansicht“, aus „studierte Musiker“ wurden „studirende Musiker“; bei Therese Huber bezieht sich „ihrer Vervollkommnung“ auf die „Abhandlung“ (deren Wert sie dahingestellt sein lässt: „haben mag“ vs. „hat“; das „auch“ entfällt), dagegen in der Reinschrift missverständlich auf den „Herrn Übersetzer“. Offensichtlich wurde diese erste Reinschrift Cotta zur nochmaligen Durchsicht vorgelegt, wie die Korrekturen von seiner Hand zeigen, und schließlich mit Cottas Verbesserungen noch einmal abgeschrieben (sc. die zweite, nicht ermittelte Reinschrift) und so dann an Trummer abgesandt. Das ist vermutlich der Grund, warum die erste, nicht abgeschickte und von Cotta verbesserte Reinschrift des für Trummer bestimmten Briefs als Bestandteil des Marbacher Cotta-Archivs erhalten ist. Die beiden hier kurz vorgestellten Beispiele geben einen ersten Eindruck über den Arbeitsablauf von Therese Hubers redaktioneller Tätigkeit, soweit sie mit den Annahme- und Ablehnungsschreiben verbunden war. Die von ihr autorisierten Schreiben im Rahmen ihrer dienstlichen Aufgaben als Morgenblatt-Redak13

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BTH, Bd. 6, Nr. 682 (Therese Huber an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung und Herrn von Becker in Ofen, 14. oder 15. Juni 1818) und Abb. 15, S. 640 (J. G. Cotta’sche Buchhandlung an Herrn von Becker, 14. oder 15. Juni 1818). Ofen, die deutsche Bezeichnung für Buda, ist heute ein Stadtteil von Budapest. BTH, Bd. 7, Nr. 908, S. 713 (Therese Huber an Johann Friedrich von Cotta oder die J. G. Cotta’sche Buchhandlung in Stuttgart und Karl Trummer in Hamburg, 7. Oktober 1820). Karl Trummers Übersetzung „Abriß der Geschichte der Musik“ ist nicht ermittelt. Trummer lieferte vor allem die „Englischen Literaturberichte“ für das Morgenblatt.

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teurin waren Entwürfe. Sie wurden in einem eigenen Archivierungssystem der Buchhandlung aufbewahrt. Diese Brouillons folgten spezifischen Merkmalen dienstlicher schriftlicher Kommunikation: Wiederholung formaler, inhaltlicher und argumentativer Grundmuster (in strenger Orientierung an den MorgenblattRichtlinien und an den eigenen ästhetischen Maßstäben) und Beteiligung mehrerer Personen (Redakteurin, Verleger, Mitarbeiter der Buchhandlung) an dem Produkt ,Brief‘. Die von Cotta redigierten und an die Einsender geschickten Reinschriften hatte Therese Huber, die zu Hause arbeitete, nicht mehr unterschriftlich zu verantworten.

4. Das Projekt einer naturhistorischen Beilage zum Morgenblatt. Der Konflikt mit Christian Gottfried Nees von Esenbeck Zwischen Juli 1816 und August 1818 ergab sich eine sehr interessante und konfliktreiche Korrespondenz zwischen den Bonner Naturhistorikern Christian Gottfried Nees von Esenbeck und Georg August Goldfuß auf der einen und der Stuttgarter Redaktion des Morgenblatts, Johann Friedrich von Cotta, der Cotta’schen Buchhandlung und Therese Huber auf der anderen Seite, die ich hier genauer vorstellen möchte. Es ging um die Einrichtung einer naturhistorischen Beilage, über die der Herausgeber Nees von Esenbeck und der Verleger mit seiner Redakteurin unterschiedliche Vorstellungen hatten, so dass es zu keiner Einigung über ein gemeinsames Projekt kommen konnte. Es wurde im Mai 1818 schließlich aufgegeben. Der diesen letztlich gescheiterten Plan begleitende Briefwechsel wurde bereits zweimal publiziert: 1975 von Dorothea Kuhn und 2003, mit Ergänzungen wiederaufgenommen, von Johanna Bohley.15 Gegenüber diesen Veröffentlichungen enthält der Ende 2011 erschienene Bd. 6 der Ausgabe der Briefe von Therese Huber, dessen Bearbeitung wir Petra Wulbusch verdanken,16 neue Texte (die für Cotta bestimmten Rezensionen eingereichter naturwissenschaftlicher Schriften 15

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Dorothea Kuhn: Christian Gottfried Nees von Esenbeck, XI. Präsident der Leopoldina, an Johann Friedrich Cotta 1816–1818. Zum Plan einer populär-naturwissenschaftlichen Zeitschrift. In: Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin. Festschrift für Georg Uschmann. Halle 1975 (Acta Historica Leopoldina, Nr. 9), S. 69–92; Christian Gottfried Nees von Esenbeck: Ausgewählter Briefwechsel mit Schriftstellern und Verlegern (Johann Friedrich von Cotta, Johann Georg von Cotta, Therese Huber, Ernst Otto Lindner, Friederike Kempner). Bearb. von Johanna Bohley. Halle 2003 (Acta Historica Leopoldina, Nr. 41), S. 29–128: Einleitung (S. 31–48, besonders S. 31–42, hier S. 31 f. zu Bohleys „Übernahme der Briefe, Briefentwürfe und Briefzitate“ Therese Hubers aus der Bearbeitung von Dorothea Kuhn) und Briefe Nr. 1–36 (S. 51–86); Johanna Bohley: Christian Gottfried Nees von Esenbeck. Ein Lebensbild. Halle 2003 (Acta Historica Leopoldina, Nr. 42). BTH, Bd. 6: Juli 1815 – September 1818. Bearb. von Petra Wulbusch. Tübingen, Berlin 2011. Therese Hubers Briefe werden auch hier nach der BTH zitiert, die An- und Umkreis-Briefe nach Bohley 2003, Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15).

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vom Dezember 1817), korrigierte Adressaten und genauere Datierungen, wodurch sich Analyse und Interpretation dieses Korrespondenzverlaufs verändern. Darüber hinaus eröffnet sich durch die nun vorliegenden brieflichen Äußerungen Therese Hubers gegenüber Dritten – hier ist als Vertrauensperson vor allem der Züricher Arzt und Politiker Paul Usteri hervorzuheben – eine neue Metaebene; durch sie werden die konfliktreichen Auseinandersetzungen der Briefpartner immer wieder relativiert und in ein anderes Licht gerückt.17 Der Verlauf dieser Verhandlungen lässt sich in drei Phasen gliedern. Die 1. Phase erstreckte sich von Juli 1816 bis Juni 1817. Sie umfasst in einem (unbekannten) Brief an Cotta (Juli 1816) das Angebot einer von Nees von Esenbeck konzipierten Zeitschrift mit dem Titel „Beyträge zur Naturgeschichte“ sowie mehrere Briefe mit detaillierten Ausführungen zur geplanten Konzeption, den Mitarbeitern und den finanziellen Grundlagen des anvisierten Projekts.18 Im März 1817 erklärte Nees von Esenbeck die Bereitschaft, zusammen mit Goldfuß die Redaction einer Beylage zum Morgenblatt, nach Ihren Ideen zu übernehmen. Ein gemeinfaßlicher und geschmackvoll dargestellter Überblick des Wichtigsten und Wissenswürdigsten, was die Naturwissenschaftl. Literatur des In- und Auslands liefert, einleitende Zusammenstellungen dessen, was in verschiedenen Fächern in einem gewissen Zeitraume geleistet worden, zu Feststellung des Standpuncts, von dem aus das Neue zu würdigen, – also mehr Literatur als Originalarbeiten in den Zweigen der Naturwissenschaft selbst, sollen den Inhalt ausmachen.19

In demselben Schreiben erwähnte Nees von Esenbeck weiterhin auch den Texttypus ,Abhandlungen‘, durch die die „Beilagen“ in Zukunft eröffnet werden sollten. Cotta seinerseits, der seit längerem die Gründung einer ein- bis zweimal wöchentlich erscheinenden naturwissenschaftlichen Beilage für das Morgenblatt ins Auge gefasst hatte, bestätigte in einem kurzen Schreiben vom 25. Juni 1817 an Nees von Esenbeck im Wesentlichen dessen Bedingungen: er sei mit ihnen „[g]anz einverstanden“, könne sich aber „auf keine Weise mit Detail beschäftig[en] [...]. – Also ich zahle nach den Bedingung[en], das Übrige kann mich aber nichts angeh[en].“20 Vor dieser pauschalen Zusage hatte allerdings Therese Huber in einem Brief an Cotta (29. April 1817) unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie dem Vorhaben, über das er sie offensichtlich bereits kurz informiert hatte, von Anfang an mit größter Skepsis gegenüberstand: „Ich begreife nicht wie ein Mann welcher das Morgenblatt einen Monat lang nur oberflächlich ansah, in Herrn NEES seinen Irrthum verfallen konnte: seine Aufsäze 17 18 19 20

Vgl. hierzu die Anlage zu diesem Beitrag S. 161: Synopse Bohley (2003) und BTH, Bd. 6 (2011). Bohley 2003, Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 1, S. 51. Bohley 2003, Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 3, S. 56 f., hier S. 56. Bohley 2003, Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 6, S. 60; die von den Naturwissenschaftlern gewünschte „Bestellung von Treutel u. Perthes“ wurde hingegen nicht akzeptiert.

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für dasselbe für zweckmäßig zu halten“.21 Esenbeck sei einem „Irrthum verfallen“; sie befürchte, neue „Zumuthungen“ könnten auf Cotta zukommen. Im Brief an Paul Usteri (28. November 1817) kritisierte sie, ausgehend von den neuen Plänen, Cottas Verlagspolitik: Ich finde nur daß COTTA den Hamster gleicht, oder welches Thier ist das? – das mehr haben will wie es brauchen kann? Er nimmt, nimmt, nimmt – aber die Möglichkeit des Raums ist ihn nicht ein Gegenstand der Berechnung [...] der Vorrath wächst uns übern Kopf. Schlage [ich] etwas ab weil es zu trocken, zu wißenschaftlich ist, so widerspricht er, indem er fürchtet, es mögte nun ihm entgehen, rück ich es ein, so macht er mir NB. daß es zu trocken ist.22

Hier wie in ihrer ersten Äußerung über das Projekt gegenüber Cotta machte sie als seine Redakteurin Argumente des zur Verfügung stehenden Raumes und der Angemessenheit des Stils der Darstellungen für das Lesepublikum des Morgenblatts geltend. Die 2. Phase ist die der eigentlichen Verhandlungen über das Vorhaben. Sie erstreckte sich von Anfang Dezember 1817 bis April 1818.23 In dieser Zeit erreichten die Auseinandersetzungen insofern ihren Höhepunkt, als eine ungeklärte Ausgangslage zu Missverständnissen und zunehmender Ungeduld auf beiden Seiten führte: Die Redaktion in Stuttgart war von Cotta, der zwischen dem 29. November 1817 und 9. April 1818 mit seiner Familie Italien bereiste, im Hinblick auf Ziele, Bedingungen und technische Umsetzung der geplanten Beilage im Unklaren gelassen worden. Nees von Esenbeck und seine Mitarbeiter (vor allem Georg August Goldfuß) schickten indessen weiter umfangreiche Beiträge an die Redaktion, die ihrerseits mangels konkreter Anweisungen für die naturhistorische Beilage und wegen Cottas ausbleibender Reaktion auf die Hilferufe aller Beteiligten (Einsender, Redakteurin, Buchhandlung) in diesem Falle handlungsunfähig war. Therese Huber schrieb zunächst über die Buchhandlung an Nees von Esenbeck, dessen an Cotta gerichteter Brief (4. Dezember 1817) an sie weitergeleitet worden war: Sie verwies auf die fehlenden Absprachen mit und Anweisungen von Cotta sowie den Umfang der eingesandten „Materien“, die zudem „alle zu weitläuftig und wißenschaftlich abgehandelt scheinen. Unser Publikum ist mehr wie gemischt, es ist auf Layen berechnet, und diese wollen nur kurze Lehrstunden, und mehr Thatsache, Fragmente, wie Theorien.“ Es werde ihm und seinen Mitarbeitern wohl leicht werden, „jede Form anzunehmen und in jeder Form etwas Gediegnes zu leisten.“24 Dennoch fuhr Nees von Esenbeck mit der Einsendung von Manuskripten, vor allem auch von seinen Mitar21 22 23 24

BTH, Bd. 6, Nr. 221, S. 322; siehe auch Nr. 491, S. 493 f. BTH, Bd. 6, Nr. 452, S. 471–475, hier S. 474. Bohley 2003, Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 7–32, S. 60–82. BTH, Bd. 6, Nr. 491.

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beitern, in großem Umfang fort. Einzelne Beiträge wurden zwar in den laufenden Ausgaben des Morgenblatts gedruckt, das Projekt selbst aber und die von Seiten der Naturwissenschaftler hierfür vorgesehenen Materialien blieben in der Redaktion weiter liegen. Es folgten mehrere Aufforderungen Therese Hubers, über die Buchhandlung an Cotta selbst gerichtet, „bestimmte Vorschrift Ihrer Absicht bei dieser Beilage“, d. h. der Redaktion „Verhaltungsregeln“ für den Umgang mit dieser Angelegenheit zu geben.25 Sie zog Erkundigungen ein bei Johann Heinrich Mühlberger, Cottas Schwager und Stellvertreter in dessen Abwesenheit, und holte sich seine Zustimmung zu ihrem Schreiben vom 4. Januar 1818 an Nees von Esenbeck. Darin ersuchte sie ihn um Geduld, „bis die Antwort Herrn v. Cottas aus Rom kommt“; sie versprach, in der Zwischenzeit die eingesandten Manuskripte aufmerksam zu lesen, den zum Druck zur Verfügung stehenden Raum zu kalkulieren und schlug folgende Einteilung für die Beilage vor: „Nachricht der naturhistorischen Wißenschaft wie ihr jeziger Bestand ist (1817) und: naturhistorische Nachrichten in fortlaufender Zeitfolge. Im Anfange müßte jedes Blatt größentheils mit dem ersten Artikel gefüllt sein, von dem zweiten nur die nöthigsten Ubersichten erhalten, bis wir die Vergangenheit beseitigt hätten, und mit der Tagesgeschichte fortgingen. Treffen wir Ihre Ansicht?“26 Die Ende Januar 1818 endlich eingegangene Stellungnahme von Cotta half in der Redaktion offensichtlich aber nicht weiter. Therese Huber insistierte kurz darauf dem Verleger gegenüber weiter auf genaueren Anweisungen: Werther Freund Ihr Bescheid wegen Doktor NEES kann mir nicht gnügen. Er schickt mir die Abschrift eines Blattes das wie ein CONTRACT aussieht, von einer Beilage die 2 Mal den Monat, oder noch öfter herauskommen soll, deßen Redaktion der Redaktion des Morgenblattes zugegeben ist. (von der Sie überzeugt sind daß sie es nie an freudigen Willen Ihre Geschäfte zu übernehmen wird fehlen laßen) Zugleich schickt er Manuscript für mehr wie 24 Blätter und verspricht mehr und hoft fest das erste Blatt solle Jenner 1818 erscheinen. Ich weiß nichts von diesem Blatte als was Sie bei Ihrer lezten Unterredung mit mir, mir in Gegenwart Doktor Mühlbergers sagten. Ihre Geschäftsleute allhier sagen: wir haben weder Sezer noch Preße, mehrere Blätter als die schon Laufenden zu sezen. Dieses alles hatte ich die Ehre Ihnen vor ein paar Wochen zu schreiben. Allein Ihr Auftrag: die von NEES eingeschickten Materialien zu lesen, hilft mir nicht weiter. Ich muß ja zuerst Ihren Plan lesen. Die Materialien können gut zu 12–24 oder 48 Blätter sein müßen. Ich bitte sehr mir diesen Plan deutlich zu sagen und Ihre Leute anzuweisen wie viele Blätter sie sich müßen einrichten zu drucken.27

In drei (bei Bohley fehlenden) Brouillons,28 die sie an Cotta nach Stuttgart adressierte, nahm Therese Huber zwischen dem 15. Dezember 1817 und 20. 25 26 27 28

BTH, BTH, BTH, BTH,

Bd. Bd. Bd. Bd.

6, 6, 6, 6,

Nr. Nr. Nr. Nr.

501, S. 500 f., hier S. 500; siehe auch Nr. 500 und 508. 511, S. 504 f. 544R, S. 532. 556–558, S. 546–548.

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Februar 1818 kritisch und mit Verbesserungsvorschlägen zu folgenden Einsendungen Stellung, deren Lektüre sie Nees von Esenbeck am 4. Januar (Nr. 511) versprochen und inzwischen erledigt hatte: Georg August Goldfuß: Über Beutelthiere; Christian Gottfried Nees von Esenbeck: Versuch einer populären, geschichtlichen theoretischen Übersicht des thierischen Magnetismus (36 Seiten); Christian Gottfried Nees von Esenbeck: Über Botanik, wie sie war, wurde und ist. Therese Hubers Fazit: „Kürze und Klarheit durch Vermeidung der Metapher und der gelehrten Terminologie muß die erste Bedingung für den Gebrauch des Morgenblatts sein.“29 Das Ergebnis ihrer Lektüre und der drei Brouillons sowie einer Stellungnahme von Johann Georg Seutter von Lötzen, des Direktors des königlichen Forstrates in Stuttgart, den sie hierzu um Rat gebeten hatte, fasste sie schließlich (20. Februar 1818) in einer Stellungnahme für Cotta zusammen und bat ihn, bei Zustimmung die vorrätigen Sachen nun auch bald zu benutzen: Die einzelnen Abhandlungen welche aus fremden Schriften entlehnt sind, würden ganz zum Zwecke geeignet sein, so bald die Redaktion durch geschickte Verkürzung sie dem Raume noch mehr anpaßte; Allein die eignen Aufsaze: Z B, Magnetismus, Botanik, sind viel zu emphatisch, mystisch, poetisch und weitläuftig abgefaßt um unsern Zweck: unpartheiische Darstellung und Unterricht, und unserm Raum, angemeßen zu sein. Der Aufsaz von Magnetismus enthält zur Hälfte eine Vertheidigung oder Anpreisung deßelben, dann einge 100 Mal wiederholte, längst bekannte Geschichtchen, dann endlich worauf es ankam: den hypotesischen Zusammenhang von Ursache und Wirkung und die Art der Behandlung. Das war nun einzig was wir brauchten ohne „Engelklarheit“, und „Rückkehr Zur angestammten Reinheit“ und „Abwendung vom Sinnenleben“ u dergleichen. Uber Botanik, ist unklar, empfindelnd und endlich aus Göthe 〈sc. Morphologie; Metamorphose der Pflanzen〉 ausgeschrieben zum größten Theil. D a s ist nun ganz recht; wenn Göthe das Beste sagte, so müßen wir Göthe ausschreiben; aber die 5–6 großen Seiten Phrasen müßen abgekürzt werden.30

Am folgenden Tag teilte Therese Huber den Inhalt dieses Schreibens über die Buchhandlung auch Nees von Esenbeck selbst in verbindlichem Ton mit: So dankte sie ihm „für die humane Art [...], mit welcher er in dieser etwas unangenehmen Sache zu werke“ gehe und stellte die Rücksendung der Artikel zwecks Überarbeitung – „um ihnen die dem Karakters unsers Unternehmens erforderliche Form zu geben“ – in Aussicht.31 Ende Februar 1820 kam Therese Huber in einem Brouillon, (wahrscheinlich) zu Nees von Esenbecks Zur Geschichte der Zoologie in der neuen Zeit, zu einer hier unmissverständlich formulierten Ablehnung: „indem es viel zu gelehrt ist“.32 29 30 31 32

BTH, BTH, BTH, BTH,

Bd. Bd. Bd. Bd.

6, 6, 6, 6,

Nr. Nr. Nr. Nr.

558, 559, 560, 570,

S. S. S. S.

548. 548. 549 f. 555 f., hier S. 556.

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Ab 1. März 1818 wurde der Ton der Auseinandersetzung zwischen den beiden Parteien entschieden schärfer. Nees von Esenbeck ging nun ausdrücklich auf ihrer beider Ansichten von Popularität ein, die bedeutend voneinander abwichen, und bestand darauf, dass er selbst zu der richtigen Einschätzung seiner Leserschaft sehr wohl in der Lage sei, hinzufügend: „Darunter sind nun sogar Frauen.“33 Therese Huber beantwortete den Seitenhieb umgehend (8. März 1818) mit der Aufforderung, sich direkt an Cotta zu wenden, und fügte eine Beschwichtigung hinzu, durch die sie die Unterstellung weiblicher Parteilichkeit zurückwies: „Sollte, wie wir hoffen, der Plan ausgeführt werden so bittet Redaktion Ew. Wohlgeboren stez überzeugt zu sein daß eine Abweichung von Ihren Urtheile nur aus ihren Ansichten von dem Besten des Blattes entspringen kann nie aus Anmaßung sich Ihrer beßren Einsicht zu widersezen.“ Allerdings könnten Gegenargumente „bei einem liberalen Gelehrten nie schaden, da es behülflich ist von beiden Seiten sich über die Absichten zu verständigen.“34 Etwa in dieser Zeit machte Therese Huber ihrer Verärgerung über Cottas langes Schweigen zu der strittigen Angelegenheit und die daraus resultierenden Missverständnisse und Verärgerungen bei den drei beteiligten Parteien dem Freund Paul Usteri gegenüber wieder einmal deutlich Luft: Cotta schreibt mir nur Geschäftssachen. War Ende Jenners noch in Rom u ärgert sich in ganz Italien das Morgenblatt nicht zu finden. Ich habe ein paar Vorfälle erlebt bei denen ich befremdet war über seine Handelsweise – wo er mit Andern verabredete, ohne mich zu unterrichten, und es endlich wenn es schief ging, gar nicht mehr zu entscheiden war, ob die Verantwortlichkeit auf ihn, auf mich, oder den dritten fiel. Sehen Sie, geehrter Freund, solche Dinge erinnern mich an Napoleon. Da denke ich denn: erweitre das von der Redaktion eines Journal S. V. Wisches, zu einer Reichsverwaltung, so ist es ein Despoten Knif – den braucht nun Cotta deßen Werth als Mensch ich seit 25 Jahren kenne und fest traue – die Folgerung verstehen Sie.35

Nach seiner Rückkehr aus Italien am 9. April 1818 musste Cotta sich nun unausweichlich und genau mit dem in seiner Abwesenheit aufgelaufenen Konflikt beschäftigen und ihn einer Lösung zuführen. Dies markiert die dritte und letzte Phase der Auseinandersetzung. Eine Dienstbesprechung zwischen dem Verleger und seiner Redakteurin hatte dieser offensichtlich das für sie überraschende Gefühl vermittelt, „daß Ihnen mein Bemühen: meine Verbindlichkeit gegen Ihr Unternehmen erfüllt zu haben, gefiel“. Am Schluss der aufgezählten anstehenden Aufgaben erwähnte sie nur noch: „Die Neesische Sache sende ich morgen früh zurück.“36 Nees von Esen33 34 35 36

Bohley 2003, Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 24, S. 75 f., hier S. 75. BTH, Bd. 6, Nr. 572R, S. 556. BTH, Bd. 6, Nr. 545, S. 532 f., hier S. 533. BTH, Bd. 6, Nr. 608, S. 587 f.

158

Magdalene Heuser

beck hatte mit Brief vom 17. April 1818 weitere Manuskripte für die geplante naturhistorische Beilage zum Morgenblatt geschickt,37 die jedoch dort nicht abgedruckt wurden. Cotta schrieb ihm am 28. April 1818 einen (unbekannten) Brief, auf den Nees von Esenbeck am 6. Mai 1818 antwortete, indem er nochmals die früher getroffenen Vereinbarungen über die Beilage wiederholte und Cottas davon abweichende Pläne resümierte. Nees von Esenbecks Schlussfolgerung lautete, dass Cottas Brief vom 28. April „einseitig den Vertrag“ zwischen ihnen aufgehoben habe; er kündigte eine bereits eingegangene „vollständig spezificirte Rechnung“ von Treuttel und Würtz an.38 Darauf reagierte der Verleger am 10. Mai 1818 empfindlich und seinerseits mit harten Vorwürfen: Nees von Esenbeck habe durch seine eingereichten Beiträge gezeigt, dass er zu dem übernommenen Auftrag nicht tauge. Den Morgenblatt-Lesern könne Cotta diese Artikel nicht anbieten.39 Den Abschluss und Ausklang des ganzen, inzwischen gescheiterten Unternehmens einer naturhistorischen Beilage zum Morgenblatt bilden zwei Briefe: Georg August Goldfuß machte am 16. August 1818 im Namen der übrigen Mitarbeiter Geldforderungen gegenüber Cotta geltend.40 In ihrem in diesem Zusammenhang an die Cotta’sche Buchhandlung gerichteten Schreiben (zwischen 20. und 26. August 1818) zog Therese Huber noch einmal eine Art Bilanz der unsäglichen Geschichte des Projekts einer naturhistorischen Beilage zum Morgenblatt. Sie führte darin die entscheidenden Argumente einer Rechtfertigung des Verhaltens auf Verlags- und Redaktionsseite in dieser leidigen Angelegenheit an. Ob dies, wie sonst in solchen Fällen üblich, der Entwurf für eine Antwort Cottas an Nees von Esenbeck war, muss dahingestellt bleiben. Ich muß rücksichtlich den Forderungen dieser Herrn bemerken daß die Leistungen welche man von Ihnen bat von dem Morgenblatt ausgehend, auch für das Morgenblatt gemacht wurden. Wenn nun aber ein dritter Unpartheiischer gefragt würde: ob die Behandlung der Naturgeschichte nicht dem ganzen Zuschnitt des Morgen Blatts entsprechend sein müßte? würde antworten: Nothwendig. Fragte man ihn weiter, nachdem er die Einsendungen der Herrn gelesen: tragen diese Beiträge den Karakter des MorgenBlatts, sind sie für ein gemischtes, der Mehrzahl nach nicht wißenschaftlich gebildetes Publikum gemacht? so würde er Nein! antworten; denn sie sind zu gelehrt. Weiter hatten sich die Herrn mit Herrn von Cotta über den Raum besprochen, den Ihre Einsendungen ein nehmen dürften, dem unerachtet schickten sie als erste Sendung eine solche Menge Manuscript, daß der abgeredte Raum auf u n g e m e ß n e Z e i t h i n angefüllt geworden wäre, ehe Sie nur, nach Ihrem Zuschnitt, das Pu37 38

39 40

Bohley 2003, Bohley 2003, 30, S. 80 f. Bohley 2003, Bohley 2003,

Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 31, S. 81. Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 33, S. 82 f., hier S. 83; siehe auch Nr. Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 34, S. 84. Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), Nr. 35, S. 84 f.

Therese Hubers Entwürfe für die Annahme- oder Ablehnungsschreiben

159

blikum vorbereitet hätten, AU COURRANT der fortlaufenden Neuigkeiten zu sein. Nach Empfang dieser ersten Sendung erklärte die Redaktion dieser verfehlte Berechnung, des Raums, so wie der unangemeßne Behandlung, des gelehrten Inhalts wegen, die empfangnen Papiere für nicht statthaft fürs Morgenblatt, wie der Briefentwurf den die Buchhandlung aufbehalten haben wird. (etwa im 9br oder 10br vorigen Jahres) auszeigen muß. Dem unerachtet wiederholten die Herrn Ihre Einsendungen, und schienen auf eine widerholte Vorstellung der Redaktion nicht zu achten. Ich verstehe nun nicht wie diese Herrn unter den obwaltenden Umständen die Forderung an Herr von Cotta machen können welche Ihr Schreiben enthält. Vor dem Gericht der Gesunden Vernunft möchte man ihnen Schuld geben daß sie ohne alle Urtheilskraft Ihren, von Herrn v. Cotta erhaltnen Auftrag ausrichteten. Wie vortrefflich Ihre Einsendungen sein mögen, die gesunde Vernunft sagte Ihnen: sie sind nicht für den Karakter des Morgenblatts und sind nicht für den kleinen Raum seiner Beilagen. Da aber dieses Gericht der gesunden Vernunft nicht entscheidet in Buchhändler Geschäften, so kann ich nichts weiter in der Sache sagen, als daß ich glaube daß die Herrn sich sehr gut stehen würden wenn sie sich billiger abfänden. Der größte Theil der Einsendungen sind zusammen getragne Ubersezungen, selbst in dem wenig Selbstgeschaffnen sind große Auszüge aus Göthe u.s.w. ob diese Dinge A Bogen mit 3 LOUIS und 1 1/2 LOUIS bezahlt werden können, wenn sie g e g e n die Absicht der Bestellung abgefaßt sind, verstehe, und entscheide ich nicht.41

Es hat sich gezeigt, dass für die Korrespondenz über eine naturhistorische Beilage zum Morgenblatt – als Fallbeispiel für das komplexe und komplizierte Procedere und die Konflikte zwischen Einsendern/Autoren, Therese Huber und dem Verleger im Alltagsgeschäft der Redaktionstätigkeit für das Morgenblatt – die lange Abwesenheit Cottas und die damit verbundene Unsicherheit der Redaktion über die zwischen Einsender und Verleger getroffenen Absprachen ausschlaggebend wurden. Therese Huber bezog sich in ihren Argumenten in erster Linie auf die Konzeption des Morgenblatts und seine intendierte Leserschaft. Unzulässiger Umfang des eingesandten Materials und die gelehrte Form der Darstellung bildeten durchgängig die Punkte ihrer Kritik oder gar Ablehnung. Nicht auszuschließen sind jedoch auch Interessenkonflikte, in die die Redakteurin zwischen den Einsendungen Paul Usteris, der mit ihr durch eine jahrzehntelange Freundschaft und einen ausführlichen Briefwechsel über Magnetismus verbunden war, und denen von Nees von Esenbeck geriet, wie sie Ersterem gegenüber im Brief vom 30. März 1818 zu erklären versuchte.42 Auch könnten 41

42

BTH, Bd. 6, Nr. 776, S. 704 f.; Korrektur der Lesefehler in BTH in diesem Beitrag S. 158, 8. Zeile von unten (tragen), 6. Zeile von unten (wißenschaftlich) und S. 159, 2. Zeile (Berechnung) nach der Handschrift durch die Herausgeberin (M. H.). BTH, Bd. 6, Nr. 590, S. 573–575, hier S. 573; zur Beziehung zwischen Therese Huber und Paul Usteri vgl. BTH, Bd. 1, Nr. 185 Sammelanmerkung; Dieter Neiteler: Austausch und Beratung über Privates, Berufliches und Politik: Die Briefe an Paul Usteri; Praxis der Literaturkritik: Die

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Magdalene Heuser

gelegentliche Schärfen in den Formulierungen ihrer Kritik Animositäten geschuldet sein, die Therese Huber allem gegenüber hegte, was sie als „mystisch“ bezeichnete und entschieden ablehnte. Das berührte nicht zuletzt auch das Zentrum ihres tiefgreifenden Zerwürfnisses mit ihrem Schwiegersohn Emil von Herder, nämlich dessen Freundschaft mit Gotthilf Heinrich Schubert, dem Verfasser der 1808 erschienenen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft.43 Therese Huber begründete ihr Urteil über Nees von Esenbecks Aufsätze über Magnetismus und Botanik mit diesem häufig und immer ablehnend von ihr benutzten Begriff, sie seien „viel zu emphatisch, mystisch, poetisch“44 abgefasst. Johanna Bohley beschreibt die Programmatik der von Nees von Esenbeck geplanten naturhistorischen Beilage – in Anlehnung an den Schubertschen Ansatz, Übersinnliches und Physiologisches in eine Beziehung zu setzen – als eine „mystisch-romantische“, die sich jedoch in der Zusammenarbeit des Autors mit anderen Naturwissenschaftlern wandeln sollte.45 Im Brief vom 30. März 1818 erläuterte Therese Huber dem Freund und Morgenblatt-Beiträger Paul Usteri ihre Auffassung davon, wie sie nicht nur im Zusammenhang des Nees von Esenbeck-Konflikts, sondern überhaupt im Alltagsgeschäft der Morgenblatt-Redaktionstätigkeit, der es an heiklen Situationen und Auseinandersetzungen keineswegs mangelte, ihre Rolle sah und – wenn auch nicht immer wie in diesem Fall mit der Zustimmung Cottas – wahrzunehmen versuchte: „die größte Ruhe und COURTOISIE von Seiten einer moralischen Person: Redaktion, gegen die Individuen gegen welche sie sich erklärt, mögen sie zu der einen, oder der andern Partie gehören.“46 Ihr Selbstverständnis als Redakteurin in der Kooperation mit dem Verleger beschrieb sie 1819 diesem gegenüber, indem sie auch hier die Leserschaft des Morgenblatts als entscheidende Instanz hervorhob: „Wenn Sie, geehrter Freund, meine Meinung über einen litterarischen Gegenstand vernehmen wollen, so kann es kein Kunsturtheil sein das Sie erwarten, sondern Sie sehen mich als Representand Ihres Publikums, EN GROS genommen an, und wollen den Eindruck wißen welchen dieses Publikum wohl von einem gegebnen litterarischen Gegenstande erhalten könnte.“47

43

44 45 46 47

„Morgenblatt“-Korrespondenz der berufstätigen Redakteurin. In: Magdalene Heuser, Jessica Kewitz, Dieter Neiteler, Petra Wulbusch: „Meine Zeit ist völlig beschränkt mit einer armseligen Arbeit die ich fortsenden muß, und Briefen die kein Ende nehmen“. In: BIOS, Jg. 15, 2002, H. 1, S. 102–116, hier S. 107–109 und 112–114. Vgl. hierzu Petra Wulbusch: Therese Huber und Emil von Herder. Zum Geschlechterdiskurs um 1800. Tübingen 2005 (UdL, Bd. 124). BTH, Bd. 6, Nr. 559, S. 548. Bohley 2003, Ausgewählter Briefwechsel (Anm. 15), S. 32 f. BTH, Bd. 6, Nr, 590, S. 573–575, hier S. 573. BTH, Bd. 7, Nr. 405, S. 320 f., hier S. 320.

161

Therese Hubers Entwürfe für die Annahme- oder Ablehnungsschreiben

Anlage: Synopse Bohley (2003) – BTH, Bd. 6 (2011) Bohley

BTH, Bd. 6

Änderungen

Nr. 1 Nees von Esenbeck an Cotta 16.8.1816 (S. 51–54) Nr. 2 Nees von Esenbeck an Cotta 21.11.1816 (S. 54–55) Nr. 14 Huber an Nees von Esenbeck [?] 1.1818 (S. 69)

Nr. 146R Huber an die Cotta’sche Buchhandlung und Nees von Esenbeck 8.2.1817 (S. 267)

Datierung Vollständiger Text vs. Regest

Nr. 3 Nees von Esenbeck an Cotta 5.3.1817 (S. 56–57) Nr. 4 Huber an Cotta 29.4.1817 (S. 58)

Nr. 221 Huber an Cotta 29.4.1817 (S. 322)

Nr. 5 Nees von Esenbeck an Cotta 11.6.1817 (S. 58–60) Nr. 6 Cotta an Nees von Esenbeck 25.6.1817 (S. 60) Italienreise der Familie Cotta zwischen 29. November 1817 und 9. April 1818 Nr. 7 Nees von Esenbeck an Cotta 4.12.1817 (S. 60–62) Nr. 8 Huber an Nees von Esenbeck 18.12.1817 (S. 62–63)

Nr. 491 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung und Nees von Esenbeck 18.12.1817 (S. 493–494)

Adressat

Nr. 493 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung 21.12.1817 (S. 494–495, hier S. 495)

Teildruck vs. Vollständiger Text

Nr. 9 Nees von Esenbeck an Cotta 20.12.1817 (S. 64) Nr. 10 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung [ca. 21.12.1817] (S. 64)

162

Magdalene Heuser

Nr. 11 Nees von Esenbeck an Cotta 27.12.1817 (S. 65–67) Nr. 12 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung ca. 29.12.1817 (S. 67)

Nr. 500R Huber an die Cotta’sche Buchhandlung 29.12.1817 (S. 500)

Vollständiger Text vs. Regest

Nr. 13 Huber an Cotta 30.12.1817 (S. 68–69)

Nr. 501 Huber an Cotta 30.12.1817 (S. 500–501, hier S. 500; Z. 52–56)

Teildruck vs. Vollständiger Text

Nr. 14 s. o.: zw. Nr. 2 und Nr. 3

s. o.: Nr. 146R

Datierung

Nr. 15 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung 4.1.1818 (S. 69)

Nr. 512R Huber an die Cotta’sche Buchhandlung 4.1.1818 (S. 505)

Vollständiger Text vs. Regest

Nr. 16 Huber an Nees von Esenbeck 4.1.1818 (S. 69–70)

Nr. 511 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung und Nees von Esenbeck 4.1.1818 (S. 504–505)

Adressat

Nr. 17 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung 5.1.1818 (S. 70)

Nr. 508R Huber an die Cotta’sche Buchhandlung etwa 1.1.1818 (S. 503)

Teildruck vs. Regest

Nr. 18 Huber an Cotta 19.1.1818 (S. 71)

Nr. 535 Huber an Cotta 19.1.1818 (S. 527–529, hier S. 528)

Teildruck vs. Vollständiger Text

Nr. 19 Huber an Cotta 31.1.1818 (S. 71)

Nr. 544R Huber an Cotta 31.1.1818 (S. 532)

Teildruck vs. Regest

Nr. 556 Huber an Cotta zw. 15.12.1817 und 20.2.1818 (S. 546)

Rez. zu A. Goldfuß „Über Beutelthiere“

Nr. 557 Huber an Cotta zw. 26.12.1817 und 20.2.1818 (S. 546–547)

Rez. zu Nees von Esenbeck „Versuch [...] des thierischen Magnetismus“

Nr. 20 Nees von Esenbeck an Cotta 9.2.1818 (S. 71–72)

163

Therese Hubers Entwürfe für die Annahme- oder Ablehnungsschreiben

Nr. 558 Huber an Cotta zw. 26.12.1817 und 20.2.1818 (S. 547–548)

Rez. zu Nees von Esenbeck „Über Botanik“

Nr. 21 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung 19.2.1818 (S. 72)

Nr. 561R Huber an die Cotta’sche Buchhandlung 21.2.1818 (S. 550)

Datierung Teildruck

Nr. 22 Huber an Cotta 20.2.1818 (S. 73–74)

Nr. 559 Huber an Cotta 20.2.1818 (S. 548–549, hier S. 548)

Teildruck vs. Vollständiger Text

Nr. 23 Huber an Nees von Esenbeck 20.2.1818 (S. 74–75)

Nr. 560 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung und Nees von Esenbeck 21.2.1818 (S. 549–550)

Datierung Adressat

Nr. 26 Huber an Nees von Esenbeck 8.3.1818 (S. 77–78)

Nr. 572R Huber an die Cotta’sche Buchhandlung und Nees von Esenbeck 8.3.1818 (S. 556)

Teildruck vs. Regest Adressat

Nr. 27 Huber an Cotta 13.3.1818 (S. 78)

Nr. 576 Huber an Cotta 13.3.1818 (S. 559–561, hier S. 561)

Teildruck

Nr. 24 Nees von Esenbeck an Cotta 1.3.1818 (S. 75–76) Nr. 25 Nees von Esenbeck an Cotta 3.3.1818 (S. 77)

Nr. 28 Nees von Esenbeck an Cotta 16.3.1818 (S. 78–79) Nr. 29 Nees von Esenbeck an Cotta 18.3.1818 (S. 80) Nr. 30 Rechnung, Treuttel und Würz an Nees von Esenbeck 29.3.1818 (S. 80–81) Nr. 31 Nees von Esenbeck an Cotta 14.4.1818 (S. 81)

164

Magdalene Heuser

Cottas Rückkehr nach Stuttgart Nr. 32 Huber an Cotta 28.4.1818 (S. 82)

Nr. 608 Huber an Cotta 28.4.1818 (S. 587–588, hier S. 588)

Teildruck

Nr. 776 Huber an die Cotta’sche Buchhandlung zw. 20. und 26.8.1818 (S. 704–705)

Datierung Adressat

Nr. 33 Nees von Esenbeck an Cotta 6.5.1818 (S. 82–83) Nr. 34 Cotta an Nees von Esenbeck 10.5.1818 (S. 84) Nr. 35 Goldfuß an Cotta 16.8.1818 (S. 84–85) Nr. 36 Huber an Cotta 25.8.1818 (S. 85–86)

Gabriele Radecke Beilage, Einlage, Einschluss Zur Funktion und Differenzierung von Briefbeigaben und ihrer editorischen Repräsentation am Beispiel von Theodor Fontanes Briefwechseln mit Bernhard von Lepel und Theodor Storm I. Briefbeigaben stehen nicht im Zentrum der Brief-Editorik. Obwohl sie eine Ausprägung der Briefkultur und -kommunikation des 18. und 19. Jahrhunderts sind und in einem engen Zusammenhang mit ihren Bezugsbriefen stehen, werden sie in Editionen bis auf wenige Ausnahmen lediglich am Rande berücksichtigt. Inzwischen hat man sich zwar von Winfried Woeslers Vorschlag emanzipiert, Beigaben nur zu integrieren, „soweit ihre Mitteilung überhaupt sinnvoll“1 sei, und ist grundsätzlich um ihre vollständige Ermittlung bemüht. Gleichwohl fehlt aber immer noch eine theoretische Diskussion zur Begriffsbildung, aus der sich angemessene Prinzipien für die systematische und übersichtliche editorische Darstellung ableiten ließen. Welche Merkmale und Funktionen ein Brief hat, wurde in den vergangenen Jahrzehnten ausführlich erörtert. Aus archiv- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive grenzt Irmtraut Schmid etwa den Brief als eine private „historische Quelle“ sowohl von der literarischen Gattung als auch von amtlichen Schriftstücken ab.2 Uta Motschmann hingegen schlägt eine editionswissenschaftliche Fokussierung vor und fordert aus pragmatischen Gründen die Aufhebung der Trennung zwischen „privater und öffentlicher Sphäre“3 von Briefen. Linguisten beziehen schließlich ein weiteres Kennzeichen ein: 1

2

3

Winfried Woesler: Vorschläge für eine Normierung von Briefeditionen. In: editio 2, 1988, S. 8–18, hier S. 9, Punkt 15. Vgl. Irmtraut Schmid: Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus „Brief“ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: editio 2, 1988, S. 1–7, hier S. 2, und (etwas modifiziert) Dies.: Der Brief als historische Quelle. In: Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit. Hrsg. von Christoph König und Siegfried Seifert. München u. a. 1996 (Literatur und Archiv. 8), S. 105–116, sowie Dies.: Anforderungen an die Kommentierung von Briefen und amtlichen Schriftstücken. In: „Ich an Dich“. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hrsg. von Werner M. Bauer u. a. Innsbruck 2001 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. 62), S. 35–45. Vgl. auch auf Schmids Ansatz aufbauend Ulrike Bischof: Die Systematisierung von Briefen am Beispiel ausgewählter Briefe an Goethe. In: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.–5. März 1994, autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 1995 (Beihefte zu editio. 7), S. 291–303. Uta Motschmann: Überlegungen zu einer textologischen Begriffsbestimmung des Briefes in Zusammenhang mit dessen editorischer Bearbeitung. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 183–194.

166

Gabriele Radecke

der Brief als Kommunikationsmedium, das zur „Übermittlung von Texten“4 dient. Im Zuge kulturwissenschaftlicher Forschungen sind zuletzt Arbeiten erschienen, die über diese Merkmale hinaus den Brief in Bezug auf seine Materialität und „ökonomische[n] Kreisläufe“ durch die „Rekonstruktion von Schreibund Empfangsszenen, von Postierung und Archivierung“ und durch die „teilweise materialiter sichtbar gemachten Spuren brieflicher Ökonomie“5 in seiner Eigenschaft als „dingliches Objekt“6 untersuchen. Obwohl nun aber die Briefbeigabe ebenso wie beispielsweise Briefumschläge, Anschriften und Poststempel, die Briefschreiber und ihre Adressaten sowie die Anrede- und Grußformeln zu den Charakteristika eines Briefes gehört, spielte sie für die Gegenstandsbestimmung ,Brief‘ bisher keine Rolle. Die „gedankliche Abtrennung der Beigaben“ im „Rahmen der theoretischen Untersuchungen [...] bis hin zur Nichterwähnung“,7 wie es Renate Moering treffend formulierte, führte letztendlich dazu, dass andere Personen, die durch die Übermittlung von Beigaben im weiteren Sinne zu Teilhabern des Briefkommunikationsprozesses geworden sind, unberücksichtigt blieben. Erst in jüngster Zeit haben sich Renate Moering8 und Wolfgang Lukas9 um eine archivalische bzw. editionswissenschaftliche Systematisierung verdient gemacht. Insbesondere der Beitrag von Lukas zeigt allerdings einmal mehr, dass es immer noch keinen Konsens in der Definition und Klassifizierung von Briefbeigaben und ihrer editorischen Behandlung gibt.10 Die 4

5

6 7

8

9

10

Helmut Ebert: Zum Zusammenhang von Strategie, Struktur und Stil am Beispiel der ,Anatomie‘ eines Privatbriefes. In: „Ich an Dich“ 2001 (Anm. 2), S. 21–33, hier S. 22; vgl. auch Louis le Guillou: Prinzipien einer Briefwechseledition. In: Zu Werk und Text 1991 (Anm. 3), S. 194–201, hier S. 195. Jochen Strobel: Zur Ökonomie des Briefs – und ihren materialen Spuren. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin und New York 2010 (Beihefte zu editio. 32), S. 63–77, hier S. 77. Vgl. Strobel 2010 (Anm. 5), S. 65. Renate Moering: Briefbeigaben. In: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Hrsg. von Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. und Basel 2008, S. 191–214, hier S. 191. Moering bezieht sich auf eine archivalische Unterscheidung zwischen „Briefbeilagen (aus Papier)“ und „Beigaben anderer Art (die verschiedensten Objekte)“; vgl. Moering 2008 (Anm. 7), S. 191. Wolfgang Lukas: Die Briefbeigabe: Aspekte einer Pragmasemiotik des Briefes. In: Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Hrsg. von Waltraud Wiethölter und Anne Bohnenkamp. Frankfurt a. M. und Basel 2010, S. 255–267. Lukas arbeitet anhand prägnanter Briefeditionen heraus, dass es immer wieder Versuche gegeben hat, die Beigaben als Teile der Briefkommunikation zu differenzieren und systematisch in die Edition zu integrieren; vgl. Lukas 2010 (Anm. 9), S. 255–261. Die Beispiele beschränken sich auf die Reihe der Briefwechsel Theodor Storms, den Briefwechsel zwischen Goethe und Cotta (hrsg. von Dorothea Kuhn; vgl. Anm. 37), die Briefwechsel C. F. Meyers (hrsg. von Hans Zeller; vgl. Anm. 15), Goethes Briefwechsel mit Carl Zelter (hrsg. von Edith Zehm; vgl. Anm. 30) und Fontanes Briefwechsel mit Bernhard von Lepel (hrsg. von Gabriele Radecke; vgl. Anm. 16). Dennoch gibt es nach wie vor Briefeditionen, die auf eine Definition der Briefbeigaben/Beilagen verzichten und den Terminus ,Beilage‘ als Oberbegriff für alle den Briefen beiliegenden Schriftstücke und Objekte verstehen, gleichgültig, ob sie an den Briefempfänger oder an andere Personen gerichtet sind. Vgl. exemplarisch Ludwig Achim von Arnim: Briefwechsel 1788–1801.

Beilage, Einlage, Einschluss

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Ursachen für die „marginale Position der Briefbeigabe“ sieht Lukas unter anderem darin, dass ihr „Status“ und ihre Zugehörigkeit zum Brief „letztlich ungeklärt ist“.11 Hinzu kommt, dass die Briefbeigaben nicht mehr als abhängige Objekte, sondern als Einzelgegenstände wahrgenommen werden, weil sie getrennt von ihrem Bezugsbrief aufbewahrt werden.12 Außerdem sind viele Beigaben verschollen, was die Editoren vor weitere Probleme stellt.13 Ein letzter und vielleicht entscheidender Grund ist schließlich, dass für die meisten Briefeditionen nach wie vor die Prämisse gilt: „Briefe edieren heißt [...] Texte edieren“14 und der Fokus somit auf der Konstitution von Brieftexten und ihrer Kommentierung liegt. Infolgedessen werden gerade diejenigen Informationen vernachlässigt, die den Brief als Kommunikationsmedium betreffen.15

II. Die Differenzierung, die im Folgenden vorgestellt wird, ist nicht das Ergebnis einer Theoriebildung, sondern das Resultat der induktiven Vorgehensweise bei der editorischen Arbeit an zwei umfangreichen Briefwechseln, die Theodor Fontane mit Bernhard von Lepel (1818–1885),16 einem preußischen Offizier und Schriftsteller, und mit Theodor Storm17 zwischen den 40er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geführt hat. Fontane war einer der bedeutendsten Briefschreiber im 19. Jahrhundert, und ähnlich wie andere Schriftsteller fügten er und seine Korrespondenzpartner ihren Schreiben unterschiedliche Beigaben hinzu, etwa Zeitungsausschnitte, Handschriften, Broschüren und Bücher, aber auch Briefe von und an andere Personen. Manchmal gelangten sogar Fünftalerscheine auf dem Postweg an Fontane. In den beiden älteren Ausgaben der Fontane-Lepel-18 und der Fontane-Storm-Briefwechsel19 wurde dieses Charakteristikum der Brief-

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Hrsg. von Heinz Härtl. Tübingen 2000 (Ludwig Achim von Arnim: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. 30), S. 232, insbes. Brief Nr. 22, S. 23, und Brief Nr. 102, S. 103. Lukas 2010 (Anm. 9), S. 255. Vgl. Moering 2008 (Anm. 7), S. 191. Vgl. Moering 2008 (Anm. 7), S. 191. Jürgen Gregolin: Briefe als Texte: Die Briefedition. In: DVjs 64, 1990, S. 756–791, hier S. 756. Eine Ausnahme bildet etwa die C. F. Meyer-Briefedition, die sich zum Ziel gesetzt hat, „die Abfolge sämtlicher brieflicher und briefähnlicher postalischer Kommunikationsakte der Korrespondenzpartner“ zu berücksichtigen. Unter Beilagen werden hier alle Sendungen des Briefschreibers an den Briefempfänger versammelt, wobei allerdings eine Definition fehlt; vgl. C. F. Meyers Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Hans Zeller. Bd. 1: Conrad Ferdinand Meyer. Gottfried Keller. Briefe 1871 bis 1889. Bearb. von Basil Rogger u. a. Bern 1998, S. 328, und Lukas 2010 (Anm. 9), S. 257. Theodor Fontane – Bernhard von Lepel. Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Gabriele Radecke. Berlin 2006 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft. 5.1, 5.2). Theodor Storm – Theodor Fontane. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Gabriele Radecke. Berlin 2011 (Storm-Briefwechsel. 19). Theodor Fontane und Bernhard von Lepel. Ein Freundschafts-Briefwechsel. Zwei Bde. Hrsg. von Julius Petersen. München 1940.

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Gabriele Radecke

kultur nur am Rande berücksichtigt.20 Wenngleich die Reihe der Storm-Briefwechsel grundsätzlich den Anspruch erhebt, Briefe und ihre Beigaben editorisch vollständig und genau wiederzugeben,21 so zeigt insbesondere der Briefwechsel zwischen Storm und Fontane, dass hier ebenso wie bei der Edition der Briefe Fontanes und Lepels weder eine Begriffsbildung noch eine systematische Ermittlung der echten und unikalen Beigaben vorgenommen wurde.22 Denn Jacob Steiner identifiziert nicht die Originale, z. B. die von Storm oder Fontane mitgeschickten Gedicht- und Prosa-Handschriften, Briefe anderer oder Drucke, sondern bezieht sich im Stellenkommentar lediglich auf beliebige postume Editionen.23 Außerdem ist der Herausgeber, wie Dieter Lohmeier nachgewiesen hat, nur den „Zufälligkeiten der Textüberlieferung“24 und der vorgegebenen archivalischen Ordnung gefolgt und hat bei der Edition von Beilagentexten überlieferungsbedingte Umstände ignoriert. Infolgedessen wurden falsche Zuordnungen von Briefen und ihren Beigaben vorgenommen.25 Dieses Verfahren ist je19

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Theodor Storm – Theodor Fontane. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. In Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hrsg. von Jacob Steiner. Berlin 1981. Vgl. Gabriele Radecke: Editionsbericht. In: Fontane-Lepel 2006 (Anm. 16), S. 879–901, hier S. 887 f. und S. 894–896, und Dies.: Editionsbericht. In: Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), S. XXXVII-LXIV, hier S. XLIX-LII. Vgl. Karl Ernst Laage: Zur Edition von biographischen und autobiographischen Briefbeilagen am Beispiel der Storm-Briefbandreihe. In: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie 1995 (Anm. 2), S. 355–362, hier S. 355. Das gilt auch für die anderen Bände der Storm-Briefbandreihe sowie für die Fontane-Briefwechsel-Editionen, wo weder eine Definition und Klassifizierung noch eine systematische Ermittlung erfolgt ist, die etwa auch die nicht überlieferten Beigaben aufgelistet hätte; vgl. Radecke: Editionsbericht. In: Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), S. LXIIIf. Storm hat seinem Brief an Fontane vom 27. Februar 1854 z. B. einen Brief an Eduard Mörike eingeschlossen (vordatiert auf den 1. März 1854), den Fontane an den Verleger Moritz Katz weiterbefördern sollte. Steiner ermittelte nicht den Originalbrief Storms an Mörike, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt wird, sondern verweist lediglich auf die von Hildburg und Werner Kohlschmidt 1978 für die Briefbandreihe der Theodor-Storm-Gesellschaft besorgte Edition des Briefwechsels zwischen Storm und Mörike; vgl. Storm-Fontane 1981 (Anm. 19), Nr. 31, S. 71 und 155. Dieter Lohmeier: Einige Ergänzungen zur neuen Ausgabe des Briefwechsels zwischen Storm und Fontane. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 31, 1982, S. 43–49, hier S. 48. Dies gilt etwa für die Beilagen zu Brief Nr. 12 (21.8.1853) in Steiners Edition; vgl. StormFontane 1981 (Anm. 19), S. 146 f. So hat Storm die Abschrift der Novelle „Ein grünes Blatt“, von der heute nur noch ein Blattfragment überliefert ist, nicht erst mit seinem Brief vom 21. August 1853 an Fontane geschickt, sondern bereits am 27. März 1853 (in der Neuedition StormFontane 2011 [Anm. 17] als Beilage zu Nr. 6 abgedruckt). Auch das im Anschluss an Brief Nr. 12 in Steiners Ausgabe wiedergegebene Gedicht Storms „Im Herbste 1850“ (Storm-Fontane 1981 [Anm. 19], S. 47 f.) passt nicht in diesen Kontext. Es ist vielmehr ein Einschlussbrief zu Storms Brief an Friedrich Eggers vom 6. Februar 1853, wofür sich Fontane am 8. März 1853 bei Storm bedankte (vgl. Storm-Fontane 2011 [Anm. 17], Nr. 3, S. 3). Der Gedichtgruß wird in der Neuedition als Brief Nr. 2 eingeordnet; vgl. Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), S. 1 f., und Lohmeier 1982 (Anm. 24), S. 46. Schließlich ist Storms Notiz für Fontane, die er aus einem Brief von Mörike abschrieb, keine Beilage zu seinem Brief an Fontane vom 27. März 1854 (vgl. StormFontane 1981 [Anm. 19], Nr. 31, S. 72), sondern ein eigenständiger Brief an Fontane, den Storm nach dem 21.4.1854 als Einschluss zu einem anderen Brief an einen unbekannten Adressaten nach Berlin gelangen ließ (vgl. Storm-Fontane 2011 [Anm. 17], Nr. 41, S. 325).

Beilage, Einlage, Einschluss

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doch keine „Kleinigkeit“,26 weil es vielmehr grundsätzliche methodische Defizite hinsichtlich der Funktion und Definition von Beigaben und ihrer editorischen Repräsentation offenlegt. Für die Identifizierung einer echten Beigabe, das heißt einer solchen, die zusammen mit ihrem Brief verschickt wurde, bilden nämlich weder die archivalische Ordnung noch die inhaltlichen oder subjektiven Entscheidungen des Herausgebers das maßgebliche Kriterium, sondern die Materialität des Überlieferungsträgers – bei Handschriften Faltspuren, die Größe des Blattes und die Art der Beschriftung, bei Drucken eine bestimmte Auflage, Marginalien oder ein besonderer Bucheinband. Die editorische Nichtbeachtung der Beigaben sowohl bei der Konstitution der Brieftexte als auch bei der Kommentierung legte im Falle der beiden Fontane-Briefwechsel falsche Spuren und beeinflusste die Rezeption nachhaltig. So kam es, dass sich die Forschung auf die politischen Hintergründe der Märzrevolution von 1848 im Briefwechsel zwischen Fontane und Lepel einerseits und der Erhebung Schleswig-Holsteins gegen Dänemark in Fontanes Korrespondenz mit Storm andererseits konzentrierte; die Bedeutung der literarischen Dimension aber, die doch Jahrzehnte andauerte und die insbesondere durch den Austausch von Gedicht- und anderen eigenhändigen literarischen Entwürfen dokumentiert ist, spielte hingegen für die Lektüre der beiden Fontane-Briefwechsel bisher nur eine marginale Rolle. Da die Gepflogenheit des Hin- und Herschickens von Werkhandschriften, Drucken und Briefen nun aber eine zentrale Bedeutung hat und zudem nicht wenige der Beigaben noch überliefert sind, mussten für die Neueditionen Kriterien für eine Differenzierung der Beigabe und angemessene Editionsprinzipien entwickelt werden, damit diese wichtigen Informationen eben nicht wie bisher verwischt, sondern für den Rezeptionsprozess bewahrt werden.

III. Die Analyse der an die 500 überlieferten Briefe und ihrer Beigaben führte zu folgendem Ergebnis: Im Gegensatz zur archivalischen Unterscheidung zwischen „Briefbeilagen (aus Papier)“ und „Beigaben anderer Art“27 wird aus editionswissenschaftlicher Perspektive ,Briefbeigabe‘ als Oberbegriff für alle Schriftstücke und weitere Objekte verwendet, die der Briefschreiber mit seinem Brief an den Briefempfänger oder über diesen an andere Personen hat gelangen lassen. Denn für die Begriffsbestimmung ist eine inhaltliche Differenzierung, etwa in Handschriften und Drucke einerseits, getrocknete Pflanzen, Locken, Geld oder Nahrungsmittel andererseits, unerheblich. Auch ist eine Abstufung der Beigaben in wesentliche und daher als sinnvoll mitzuteilende bzw. unwesentliche und 26 27

So formulierte es noch Lohmeier 1982 (Anm. 24), S. 48. Vgl. Anm. 8.

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Gabriele Radecke

daher zu vernachlässigende Objekte wenig hilfreich, weil der Editor hiermit eine unbegründete subjektive Einschränkung und Verknappung des ursprünglichen Briefwechsel-Kontextes vornehmen würde, die unter Umständen die Interpretation negativ beeinflussen könnte.28 Für die weitere Differenzierung und Systematisierung der einzelnen Beigaben galt es, diese nicht mehr nur in ihrer engen Verbindung mit ihrem Bezugsbrief zu sehen, sondern vielmehr in den größeren briefkulturellen Zusammenhang des 19. Jahrhunderts zu stellen. Durch diese Erweiterung ist es gelungen, generalisierte Kriterien zu finden, die sich weniger an den Inhalten von individuellen Briefwechseln als vielmehr an den allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten des medialen Briefkommunikationsprozesses orientierten. Betrachtet man nämlich die Gesamtheit der Beigaben, so lassen sich ihnen verschiedene Funktionen zuordnen. Allen gemeinsam ist zunächst, dass sie keine eigenständigen Sendungen sind, sondern zusammen mit einem Schreiben verschickt wurden. Die Beigaben unterscheiden sich dann allerdings, wenn man sie in Beziehung setzt zu den verschiedenen Akteuren und ihren unterschiedlichen Rollen und Intentionen innerhalb der Briefkommunikation. Da ist zunächst der Briefschreiber, der die Absicht hat, mit seinem Brief eine Beigabe an den Empfänger gelangen zu lassen. Neben diesen beiden zentralen Akteuren ,Schreiber‘ und ,Adressat‘ können nun noch weitere Mitwirkende hinzukommen, die zwar am eigentlichen Briefwechsel unbeteiligt, im weitesten Sinne aber dennoch in die Kommunikationsabläufe eingebunden sind. Es geht zum einen um Personen, die über den Briefschreiber eine Nachricht an den Empfänger gelangen lassen möchten, zum anderen um weitere Beteiligte, an die der Briefschreiber eine Nachricht über den Empfänger übermitteln will. Aufgrund dieser Erweiterung lässt sich die in vielen Briefeditionen und Datenbanken, wie beispielsweise im „Goethe Brief-Repertorium“, noch gebräuchliche zweidimensionale Unterscheidung zwischen einer „Sendung, die für den Adressaten bestimmt war“ (die Beilage) und einer „Sendung, die nicht an den Adressaten selbst gerichtet war, sondern weiter vermittelt werden sollte“ (der Beischluss),29 nunmehr in mindestens drei unterschiedliche Typen von Briefbeigaben klassifizieren: die Beilage, die Einlage und den Einschluss. Diese Differenzierung erlaubt zudem, die Aufgaben von Briefschreiber und Adressat und ihre Rollen im Kommunikationsprozess etwas genauer zu beschreiben. Eine ,Beilage‘ bezeichnet nunmehr alle Briefbeigaben, die vom Briefschreiber an den Briefempfänger gerichtet sind. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um Geld handelt oder um Briefe anderer oder um eigenhändige bzw. fremde lite28

29

Vgl. etwa die Empfehlungen von Woesler 1988 (Anm. 1) oder auch von Laage, der nur autobiographischen Beilagen eine editorische Relevanz zubilligt; vgl. Laage 1995 (Anm. 21). Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Repertorium sämtlicher Briefe 1764–1832. Hrsg. von der KlassikStiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv. Bearb. von Elke Richter unter Mitarb. von Andrea Ehlert u. a. http://ora-web.swkk.de/swk-db/goerep/index.html; Siglen/Abkürzungen; Stand: 27. April 2012.

Beilage, Einlage, Einschluss

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rarische Handschriften oder um irgendetwas anderes. Entscheidend für die Klassifizierung einer ,Beigabe‘ als ,Beilage‘ ist nicht, ob das Schriftstück vom Briefschreiber stammt, sondern vielmehr die Absicht des Briefschreibers, bestimmte Objekte an den Briefempfänger gelangen zu lassen. Mit dieser Definition, die sich in vielen Editionen bereits findet,30 hat der Begriff der Beilage eine Erweiterung erfahren, weil er auch Gegenstände und Texte mit einbezieht, die der Briefschreiber nicht hergestellt oder verfasst hat. Eine besondere Ausprägung der Beilage ist die Lieferung ,mit gleicher Sendung‘, mit der eigene oder fremde Bücher bzw. andere sperrige Gegenstände gemeint sind, die der Briefschreiber an den Briefempfänger gelangen lässt; oft ist das auch auf Umwegen – etwa über den Verleger – geschehen. So hatte beispielsweise Fontane seinen Dessauer Verleger Moritz Katz gebeten, zusammen mit seinem nicht überlieferten Brief an Storm die Erstausgabe seines reiseliterarischen Werkes Ein Sommer in London im August 1854 an Storm zu schicken.31 Mit dem Begriff ,Einlage‘, die diejenigen Beigaben zusammenfasst, die eine dritte Person über den Briefschreiber an den Briefempfänger gelangen lassen wollte, wird nunmehr eine neue Definition eingeführt, die, soweit ich es sehe, bisher in keiner Briefedition gebräuchlich ist. Die Differenzierung ist notwendig, weil der Briefschreiber hier nicht mehr in seiner Rolle als Autor des Briefes fungiert, sondern lediglich als Übermittler einer fremden Sendung. In Fontanes Briefwechseln mit Storm und Lepel übernahm der Briefschreiber immer wieder die Aufgabe, Sendungen anderer an den Briefadressaten weiterzuleiten, weil der Freundes- und Bekanntenkreis weit verzweigt war. Fontane sammelte beispielsweise die Schreiben Ferdinand Röses an Storm, um sie dann erst mit seinen Briefen an Storm nach Potsdam aufzugeben.32

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Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der KlassikStiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv hrsg. von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter, Bd. 1 II. Berlin 2008, S. XVI. Allerdings fehlt im Editionsbericht eine genaue Definition, von wem die Beilagensendung veranlasst wurde; ebenso wird der Begriff ,Beischluss‘ (Sendungen, die an andere Personen gerichtet sind) nicht erläutert. Vgl. aber das „Repertorium sämtlicher Briefe“ Goethes (Anm. 29), wo eine Unterscheidung explizit formuliert wird. Anders hingegen beschränkt sich Edith Zehm im Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter noch auf inhaltliche Kriterien, wenn sie unter Beilagen nur „Schriftstücke, die einen inhaltlichen Bezug zum Brieftext aufweisen“ zusammenfasst und damit eigenständige Texte des Briefschreibers an denselben Adressaten meint, die entweder auf einem gesonderten Blatt oder auf dem Briefbogen selbst als „scheinbare Beilage“ stehen; vgl. Edith Zehm: Zum Text. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 20.3: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Hrsg. von Edith Zehm in Zusammenarbeit mit Hans-Georg Dewitz u. a. München 1998, S. 97–107, hier S. 107. Vgl. Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), Nr. *56, S. 90 und 357. Diese Definition ist u. a. auch geläufig in: Briefwechsel Goethe-Zelter (Anm. 30), S. 107. Vgl. Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), Nr. 38, S. 322. Auch in anderen Fontane-Briefwechseln ist belegt, dass viele Einlagen verschickt wurden, etwa als Fontane zwischen 1855 und 1859 in London lebte und er über seine Frau auch Briefe von seinen Freunden und Kollegen über die Preußische Gesandtschaft in London gesammelt bezogen hatte.

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Unter dem Begriff ,Einschluss‘ versteht man schließlich eine Briefbeigabe, die der Briefschreiber über den Briefempfänger an eine weitere Person gelangen lassen möchte.33 Hier fungiert der Briefempfänger nicht mehr allein als Leser des Briefes; er hat vielmehr die Aufgabe, als Übermittler der Einschluss-Sendung tätig zu sein. So hat Storm am 27. Februar 1854 Fontane gebeten, seinen beiliegenden, auf den 1. März 1854 vordatierten Brief an Eduard Mörike zusammen mit einem Band des belletristischen Jahrbuchs Argo entweder selbst „auf die Post zu geben“ oder über den Verleger zu Mörike nach Stuttgart weiterbefördern zu lassen.34

IV. Die Differenzierung der Beigabe in ,Beilage‘, ,Einlage‘ und ,Einschluss‘ hat nun entscheidende Konsequenzen für ihre editorische Repräsentation. Denn wenn man die drei Erscheinungsformen wieder im Zusammenhang mit ihrem Bezugsbrief betrachtet, so zeichnen sich abgestufte Abhängigkeitsverhältnisse ab, die begründen, an welcher Stelle und in welcher Form der Editor über die Beigaben, sei es in einer Buch-, sei es in einer Internet-Edition, informieren sollte. Während Woesler in seinen Richtlinienvorschlägen für Briefkommentare lediglich Erläuterungen zu den Beigaben empfiehlt, die im Zusammenhang mit anderen Angaben zur Briefsendung stehen sollten,35 finden sich mittlerweile in der Praxis verschiedenartige Darbietungsformen der Beigaben, die „als Ausdruck einer bestimmten Konzeption“36 des Editors entweder im Anschluss an die Brieftexte oder im Kommentar bzw. Stellenkommentar mitgeteilt bzw. bei kürzeren Texten ediert werden.37 Mit der Differenzierung des Begriffs der Beigabe ergeben sich 33

34 35

36 37

Im Unterschied zu vielen Ausgaben, in denen ebenfalls der Begriff ,Einschluss‘ gebräuchlich ist, meint ,Einschluss‘ hier nicht alle Sendungen, die über den Adressaten an eine andere Person gelangt sind, sondern lediglich diejenigen, die vom Briefschreiber für andere Personen in Auftrag gegeben wurden. So findet man die allgemeinere Definition noch im Briefwechsel Goethe-Zelter (Anm. 30), S. 107. Im „Repertorium sämtlicher Briefe“ Goethes (Anm. 29) wird hingegen der Begriff „Beischluss“ verwendet, der aber ebenfalls weiter gefasst ist und alle vermittelten Sendungen an andere meint. Vgl. Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), Nr. 33, S. 58 und 309 f. Vgl. Winfried Woesler: Richtlinienvorschläge für Briefeditionen. In: Wissenschaftliche Briefeditionen und ihre Probleme. Editionswissenschaftliches Symposion. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1998 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 2), S. 87–96, hier S. 89. Lukas 2010 (Anm. 9), S. 255. Die Auflistung bzw. der Abdruck von Beilagen und ihren Texten findet sich immer wieder in Brief-Editionen, wobei aber unter einer Beilage im Unterschied zur hier vorgestellten Definition alle dem Brief beigelegten Sendungen an den Empfänger gemeint sind; vgl. etwa Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797–1832. Textkritische und kommentierte Ausgabe in drei Bänden. Hrsg. von Dorothea Kuhn. Stuttgart 1979–1983 (Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft. 31–33/2), z. B. Bd. 1, Nr. 122, S. 92, und Nr. 123, S. 94. Ebenso wird in der historischkritischen Edition der Briefwechsel von C. F. Meyer (Anm. 15) ab Band 3 so verfahren, wobei kürzere Beilagentexte ebenfalls abgedruckt werden, z. B. Bd. 3, Nr. 148, S. 102 f. Auf eine

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nun Kombinationsmöglichkeiten innerhalb der Präsentationsformen, die es dem Benutzer und Leser ermöglichen, neben den inhaltlichen Ergänzungen zum Brieftext den Brief auch in seiner Bedeutung als Kommunikationsmedium wahrzunehmen. Während die Einlage und der Einschluss nämlich aus postalischen Gründen zum Brief gehören, weil sie aus Kostengründen zusammen mit diesem an den Empfänger oder dann an eine andere Person weitergeschickt werden sollten, erfüllt die Beilage offensichtlich einen anderen Zweck, weil sie durch die Intention des Briefschreibers in enger inhaltlicher Verbindung mit ihrem Bezugsbrief und dem Briefempfänger steht und einzelne Informationen im Brief unter Umständen näher erläutert. Während die Gesamtheit der Beigaben in der Edition des Briefwechsels zwischen Fontane und Lepel noch aus pragmatischen Gründen im Kommentarband zwischen den postalischen Vermerken und dem Stellenkommentar systematisch aufgelistet und die kürzeren Texte der Beilagen mitabgedruckt sind, richtete sich die Präsentation der Beigaben in der Edition des Briefwechsels zwischen Storm und Fontane nunmehr nach ihrem jeweiligen Status. So wurden die Beilagen und Lieferungen „mit gleicher Sendung“ als quasi integrale Bestandteile des Briefes und der Kommunikation zwischen dem Schreiber und seinem Adressaten nicht mehr im Anhang, sondern im Anschluss an den entsprechenden Brieftext und Poststempel mitgeteilt, so dass sie im Zusammenhang mit ihrem Bezugsbrief gelesen werden können. Da die Beilagen keine eigenständigen Sendungen sind und gemeinsam mit ihrem Bezugsbrief an ihren Bestimmungsort gelangt sind, erhalten sie im Unterschied zu den Briefen keine durchnummerierte Kopfzeile.38 Gleichwohl wird die Beilage als untergeordnetes Objekt in einer dem Brief nachgestellten Zeile als „Beilage“ angezeigt und aufgelistet. Kürzere Texte von Beilagen, die insbesondere durch Handschriften oder Zeitungsausschnitte überliefert sind, werden in diplomatischer Transkription unter dem entsprechenden Bezugsbrief mitgeteilt; umfangreichere Drucksachen, wie zum Beispiel Bücher, oder auch mehrere Seiten umfassende Manuskripte werden unter Angabe ihrer bibliographisch bzw. archivalisch festgelegten Identifikationsmerkmale beschrieben und im Stellenkommentar erläutert, wenn im Brief auf die Beilage Bezug genommen wird. Überlieferte und verlorene Beilagen werden dabei wie überlieferte und erschlossene Briefe39

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39

methodische Begründung der editorischen Entscheidung im briefkommunikationshistorischen Kontext wurde allerdings bisher weitgehend verzichtet. In den anderen Bänden der Reihe der Storm-Briefwechsel sind die Beilagen zum Teil mit einer nach der Briefnummer gezählten Kopfzeile markiert worden, die zusätzlich mit einem Buchstaben versehen wurde; vgl. Storms Briefwechsel mit Eduard Mörike, Erich Schmidt, Klaus Groth und Gottfried Keller sowie mit dem Verlag Paetel. Dort werden die Beilagen dann „Anlagen“ genannt, was erneut auf eine begriffliche Unschärfe und Uneinheitlichkeit auch in dieser Reihe hinweist; vgl. Theodor Storm – Gebrüder Paetel. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. In Verbindung mit der Theodor-Storm-Gesellschaft hrsg. von Roland Berbig. Berlin 2006 (Storm-Briefwechsel. 16), Nr. 223a und b, S. 181 f. Erschlossene Briefe, d. h. Briefe, die weder durch eine eigenhändige oder diktierte fremde Hand-

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grundsätzlich gleichwertig behandelt und verzeichnet, wobei ein vorangestellter Asteriskus den Status ,erschlossene Beilage‘ signalisiert. Texte von nicht überlieferten Beilagen werden nicht abgedruckt, auch wenn sie durch andere Druckexemplare oder Handschriften greifbar sind, weil es sich hierbei nicht um die identischen Beilagen, sondern um beliebige Überlieferungsträger handelt, die lediglich die gleiche oder sogar nur eine andere Fassung bezeugen.40 Gerade die editorische Nichtbeachtung der verlorenen Beilagen führte beispielsweise bei der Auswertung der Korrespondenz zwischen Storm und Fontane zu Missverständnissen und Fehlurteilen, weshalb eine systematische und deutliche Hervorhebung für alle Beilagen mehr denn je erforderlich ist. Storm hatte mit seinem Brief vom 29. Juni 1860 Helen Clarks Manuskript ihrer englischen Übersetzung von Immensee Fontane zur Durchsicht geschickt. Diesem Brief waren zwei Schreiben am 23. und am 28. Juni 1860 vorausgegangen, in denen Storm um Fontanes Mithilfe gebeten (Nr. 74) und Fontane zugesagt hatte (Nr. 75). Da diese nicht überlieferte Beilage von Storm nur einmal am 29. Juni 1860 als „M.S.“41 erwähnt wird, das er baldmöglich zurückerbittet, und diese Bemerkung in der alten Edition nicht als Beleg für eine verlorene Beilage erkannt, mitgeteilt und kommentiert worden ist, haben auch die Benutzer diesen Hinweis offenbar überlesen. Denn man war bisher davon ausgegangen, dass Storm aufgrund einer persönlichen Verstimmung gegenüber Fontane doch lieber auf dessen Korrekturdurchsicht verzichtet und die englische Übersetzung infolgedessen auch nicht weitergegeben habe.42 Die Annahme, dass das Übersetzungsmanuskript doch an Fontane gelangt sein muss, bestätigt sich nun durch einen weiteren Brief Storms an eine unbekannte Person, der erst im März 2012 von der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel gekauft wurde. Am 26. Januar 1871 berichtet Storm darin von „Helen Clarck[s]“ Immensee-Übersetzung, die „vor 10 oder 12 Jahren [...] unter Th. Fontane’s Revision“ abgeschlossen wurde.43 Überlieferte und nicht überlieferte Einlagen und Einschlüsse wurden ebenso wie die Beilagen in der Edition des Briefwechsels zwischen Storm und Fontane aufgrund ihrer Materialität ermittelt und identifiziert. Da sie nur mittelbar durch

40

41 42

43

schrift noch durch eine handschriftliche oder typoskriptliche Abschrift bzw. einen Druck überliefert sind, werden in der Neuedition des Briefwechsels zwischen Storm und Fontane mit einer eigenen Zeile mit vorangestelltem Asteriskus in die Chronologie der edierten Brieftexte eingeordnet. Vgl. Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), S. LII. Im Briefwechsel zwischen Storm und Fontane wurde auf die Wiedergabe von abgeschriebenen Beilagentexten aus Mangel an Abschriften verzichtet. Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), Nr. 76, S. 117. Vgl. Regina Fasold: „... daß die Novelle nur entweder ,Auf der Universität‘ oder ,Lore‘ heißen dürfe.“ Theodor Storms Briefwechsel mit dem Verleger Emil Carl Brunn in Münster. In: StormBlätter aus Heiligenstadt 12, 2006, S. 72–95, hier S. 75. Vgl. hierzu ausführlich Gabriele Radecke: Kommentar zu den Briefen Nr. 74–77. In: Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), S. 397–412. Theodor Storm an Unbekannt, 26. Januar 1871; unveröffentlicht (SHLB Cb 50.51). Der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel sei für die Zitiererlaubnis herzlich gedankt. Ein Beitrag in den „Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft“ für 2013 ist für 2014 in Vorbereitung.

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die Bedingungen der Briefkommunikation in Verbindung zu Bezugsbrief, Schreiber und Adressat stehen, sind alle überlieferten und verlorenen Einlagen und Einschlüsse lediglich im Anhang vor dem Einzelstellenkommentar übersichtlich zusammengestellt; auf den Textabdruck wurde verzichtet. Die systematische Mitteilung, Auflistung und Benennung der ermittelten Beigabe als Einlage und Einschluss ist relevant, da einerseits ein schneller Zugriff auf diese kommunikationshistorischen Details gewährleistet ist und der Benutzer den ursprünglichen Transportweg von Briefen und ihren Beigaben nachvollziehen kann. Andererseits enthalten auch die Einlagen und Einschlüsse relevante und weiterführende briefkontextuelle Informationen, die dem Benutzer nicht vorenthalten werden sollten. Das Wissen um einen Einschlussbrief, der erst auf Umwegen über einen Vermittler seinen eigentlichen Empfänger erreichte, ermöglicht beispielsweise, Rückschlüsse auf die Entstehungsbedingungen und Schreibstrategien seines Autors zu ziehen. Denn die Einschlussbriefe boten nicht nur dem Absender die Möglichkeit, die Briefe an mehrere Empfänger in einer Stadt gebündelt, preiswerter, schneller und vor allem sicherer durch die Stadtpost befördern zu lassen. Sie konnten zudem von den Überbringern gelesen werden, da Einschlussbriefe zum Teil unverschlossen beigefügt waren. Auch Storm hat seinen Berliner Freunden Franz Kugler, Friedrich Eggers und Theodor Fontane zahlreiche Briefe über einen Empfänger zukommen lassen, so dass nicht auszuschließen ist, dass auch diese Einschlussbriefe von anderen Personen zumindest zur Kenntnis genommen wurden. Möglicherweise hat Storm den Schreibstil und die Inhalte aufgrund dieser kommunikationsbedingt vergrößerten Leserschaft entsprechend angepasst.44 V. Wenngleich mit diesem Beitrag bei weitem noch keine theoretische Begriffsbildung geleistet worden ist, da die Bezeichnungen ,Beilage‘, ,Einlage‘ und ,Einschluss‘ pragmatisch gewählt wurden, lassen sich aufgrund der Differenzierung der Briefbeigaben im Zusammenhang mit den Bedingungen der Briefkommunikation im 19. Jahrhundert schon einige Anforderungen an zukünftige Editionen formulieren. Die heterogenen Beigaben, die hier noch nicht erschöpfend klassifiziert wurden und vermutlich aufgrund von anderen Beispielen noch weiter differenziert werden können,45 sind ein wichtiges Merkmal der Briefkultur 44

45

Das erklärt vielleicht auch, warum Fontane auf der Handschrift des Briefes, den Storm am 27. März 1853 an Friedrich Eggers geschrieben hatte und den er über Fontane an Eggers gelangen ließ, das Eingangsdatum „29. März 1853.“ notierte. Fontane hat vermutlich den Brief sogar abgeschrieben, denn er zitiert daraus noch Jahrzehnte später im „Storm-Kapitel“ seiner Autobiographie „Von Zwanzig bis Dreißig“ (1898), dann allerdings, als sei der Brief an ihn selbst gerichtet; vgl. Storm-Fontane 2011 (Anm. 17), S. 217. Beispielsweise wäre denkbar, dass es noch Beigaben gibt, die von einer Person sowohl über den Briefschreiber als auch über den Briefempfänger an eine weitere Person geschickt werden sollten.

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und erlauben es, Rückschlüsse auf die Kommunikationsbedingungen und auf die vielfältigen Funktionen von Briefen zu ziehen. Da Editionen die Rezeption maßgeblich beeinflussen und zu einer Kanonisierung beitragen,46 sollten auch alle beigabenbedingten Informationen in die editorischen Konzepte noch deutlicher eingebunden werden, als es bisher geschehen ist. Editoren haben die Aufgabe, die unterschiedlichen überlieferten oder nicht überlieferten Beigaben klar zu definieren, systematisch zu ermitteln und zu identifizieren sowie so differenziert und übersichtlich wie möglich zu präsentieren. Nur durch eine explizite Aufbereitung, sei es durch Textabdruck, sei es durch eine präzise Auflistung, zum Beispiel vor dem Stellenkommentar, ist gewährleistet, dass die Beigaben vom Benutzer überhaupt als solche wahrgenommen und „mitgelesen“ werden; außerdem wäre erreicht, dass die Medialität des Briefes einmal mehr auch im Abdruck der Brieftexte noch konnotiert wird. Das Wissen um die Gesamtheit der Beigaben trägt ebenso wie die Materialität der Briefe und die durch Poststempel, Ausgangs- und Eingangsdaten belegten postalischen Gegebenheiten zu einer Kontextualisierung von Briefwechseln bei, die für die Rezeption von entscheidender Bedeutung ist. Im Zeitalter der digitalen und elektronischen Edition würden sich für die editorische Repräsentation der Beigaben freilich neue Darbietungsmöglichkeiten eröffnen, da man nicht mehr allein pragmatische Entscheidungen treffen und etwa auf den Abdruck von umfangreichen Beilagentexten verzichten müsste. Hierfür ist eine enge Zusammenarbeit mit Bibliotheken, Archiven und Museen erforderlich, damit die entsprechenden Beilagen in ihrer Gesamtheit als Digitalisat visualisiert werden können.47 Für die Ermittlung von Beigaben wäre letztendlich eine gemeinsame editions- und archivwissenschaftliche Begriffsbestimmung hilfreich, die dazu führte, dass innerhalb eines Archivs oder auf mehrere Institutionen verstreute getrennt aufbewahrte Briefe und ihre Beigaben durch Standortkataloge oder Datenbanken wieder zusammengetragen werden könnten. Wenngleich das Internet mehr Flexibilität bietet und zu einer infrastrukturellen und institutionellen Vernetzung beiträgt, sind jedoch nach wie vor philologische Methoden als die grundlegende Voraussetzung für die editionswissenschaftliche Arbeit unabdingbar. Editoren von Online-Briefeditionen werden sich neben den informationswissenschaftlichen weiterhin auch den editionsphilologischen Herausforderungen stellen und Prinzipien erarbeiten müssen, für die die Prämissen der Buchausgabe gelten, damit beispielsweise 46

47

Vgl. Stephan Kammer: Interferenzen und Korrektive. Die Problematik des Kanons in textkritischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth u. a. Berlin 2000, S. 303–321. Eine solche Zusammenarbeit besteht beispielsweise für das Projekt der Genetisch-kritischen und kommentierten Hybrid-Ausgabe von Theodor Fontanes Notizbüchern, das unter der Gesamtleitung von Gabriele Radecke an der Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen in enger Zusammenarbeit mit TextGrid (SUB Göttingen) erarbeitet wird. Die Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, ist assoziierter Partner. Vgl. die Projektseite www.fontanearbeitsstelle.de (Projekte).

Beilage, Einlage, Einschluss

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nicht auf beliebige und vermeintliche Beigaben-Objekte verlinkt wird. Denn nur aus der Einmaligkeit der Beigabe und ihrer Klassifizierung im kulturhistorischen Kontext des Briefes können sich die hier skizzierten Konsequenzen für eine hierarchisch gegliederte editorische Präsentation, sei es im Anschluss an die edierten Brieftexte, sei es im Kommentarteil der Edition, ergeben. Kennt man die Gepflogenheiten der Briefschreiber im 18. und 19. Jahrhundert, mit ihren Briefen verschiedenartige Beigaben mitzuschicken, dann lässt sich abschließend die eingangs zitierte Frage „Was ist ein Brief?“48 nun noch differenzierter beantworten. Die Beigabe gehört zur Briefkommunikation und belegt einmal mehr, dass der Brief sowohl im „Austausch von sprachlichen Zeichen“ als auch als „dingliches Objekt selbst“ Bestand hat.49 Somit ist ein Brief mehr als ein privates und öffentliches historisches Dokument, das als Teil eines literarischen Werks oder als eine eigene Textsorte klassifiziert wird und wie das Gespräch eine wichtige Kommunikationsform bildet. Der Brief fungiert nicht mehr allein nur als ein Medium zur „Übermittlung von Texten“,50 sondern erfüllt einen weiteren Zweck: Er ist das Medium zur Übermittlung von Beigaben.

48 49 50

Schmid 1988 (Anm. 2), S. 1. Strobel 2010 (Anm. 5), S. 65. Gregolin 1990 (Anm. 14), S. 756.

Bernd Füllner Textverlust und Textlücken in Briefen Heinrich Heines. Ein Beitrag zur Geschichte der Heine-Briefausgaben

Neulich kam ein mit L a c k von Ihnen gesiegelter Brief offen und mit dem Amtssiegel geschloßen an. Das SiegelLack ist zu ordinair und daher spröde, daß es aufgesprungen ist. Es war nicht von der Polizei, sondern aus n a t ü r l i c h e n Gründen aufgesprungen.1

Eingebettet in eine kurze Geschichte der großen Heine-Briefeditionen soll exemplarisch anhand des editorischen Umgangs mit ,Textverlusten‘ beziehungsweise ,Textlücken‘ der unterschiedliche Umgang der Editoren mit dem Problem einer adäquaten Textkonstitution untersucht werden. Dabei steht im Fokus der Versuch des Editors, einerseits die Authentizität der jeweiligen Materialität des Dokuments bei der Textkonstitution zu berücksichtigen, andererseits aber auch den Ansprüchen des Lesers an eine angemessene Restitution nur lückenhaft überlieferter Briefe gerecht zu werden. Dabei wird sich zeigen, dass weder die größere zeitliche Nähe der Editoren zu den überlieferten Dokumenten eine Garantie für besonders sorgsamen Umgang mit den Quellen bietet noch die auf Vorgängereditionen aufbauende wissenschaftlich kritische Edition in jedem Fall zu besseren Ergebnissen kommt. Behandelt werden sollen im folgenden drei Arten von ,Textlücken‘: – erstens ,Textlücken‘, die nicht vom Absender, also dem Briefschreiber selbst stammen, sondern die beim Erhalt des Briefes vom Adressaten durch unsachgemäßes oder unvorsichtiges Öffnen des Briefsiegels entstanden sind; – sodann ,Textlücken‘, die vom Absender verursacht wurden, z. B. abgeschnittene und schließlich verschollene oder vollständig unleserlich gestrichene Buchstaben, Wörter oder gar ganze Textpassagen von Briefen; – und schließlich ,Textlücken‘, die zurückgehen auf fremde quasi zensierende Eingriffe, sei es nun durch Streichung, durch absichtliches Herausreißen oder durch Abschneiden einzelner Buchstabenketten, Wörter oder ganzer Briefpassagen. 1

Julius Campe an Heinrich Heine, 26. September 1851; Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (heute Klassik Stiftung Weimar) und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin 1970 ff., Bd. XXVI (1975), S. 327. – Fortan: HSA.

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In den ca. 1475 Briefen2 von Heinrich Heine gibt es um die 50 kleinere bis größere ,Textlücken‘. Verantwortlich für diese ,Textlücken‘ können neben dem Absender der Briefe auch die Adressaten sein, sofern sie persönlich daran interessiert waren, dass desavouierende despektierliche Briefstellen welchen Inhalts auch immer weder zu Lebzeiten noch posthum von Dritten publiziert werden konnten. Und nicht zuletzt können auch die Nachlassverwalter oder die Editoren ein Interesse daran haben, dass bei einer Publikation von ursprünglich weitestgehend privatem Quellenmaterial die Persönlichkeitsrechte des Briefabsenders, des Adressaten oder einer dritten im Brief genannten Person (das kann auch eine ganze Gruppe von Personen sein, bei Heine z. B. ein ganzer Familienclan) keinen Schaden nehmen. In seiner Vorrede zur zweiten Auflage des zweiten Bandes des Salons von 1852 zeigt Heine, dass ihm durchaus bewusst ist, dass sein ureigener Text, hat er einmal die zunächst private Produktionssituation verlassen, um entweder als Brief an seinen Adressaten zu gelangen oder einem Verleger oder Drucker als Druckvorlage zu dienen, nicht mehr zu kontrollieren ist: Aber der Pfeil gehört nicht mehr dem Schützen, sobald er von der Sehne des Bogens fortfliegt, und das Wort gehört nicht mehr dem Sprecher, sobald es seiner Lippe entsprungen und gar durch die Presse vervielfältigt worden.3

Bei Werkmanuskripten ist zwar vor die eigentliche Publikation im Allgemeinen – wenn es sich nicht um ephemere Zeitungsartikel handelt – eine Korrekturphase eingeschaltet. D. h., der Autor hat zumindest theoretisch bis zum letzten Umbruch die Möglichkeit, unliebsame Fremdeingriffe, Setzerfehler o. Ä. rückgängig zu machen. Aus berechtigter Sorge um den nicht zu kontrollierenden Umgang mit seinem Nachlass hatte Heine in der rechtsgültigen Form seines Testaments vom 13. November 1851 unter § 3 als „chose principale“ verfügt, dass in [seine] Schrift keine Zeile eingefügt werde, die [er] nicht ausdrücklich zur Veröffentlichung bestimmt habe oder die ohne die Unterschrift [seines] vollständigen Namens gedruckt worden ist.4

2

3

4

Zu den 1400 bereits in der Heine-Säkularausgabe publizierten Briefen Heines kommen ca. 75 zusätzliche Briefe, die seit 1984, dem Abschluss der Arbeiten an der Briefabteilung, neu aufgefunden wurden und im retrospektiven Digitalisierungsprojekt ,Heinrich-Heine-Portal‘ (www.heine-portal.de) ediert wurden. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973–1997, Bd. VIII (1979), S. 497. – Fortan: DHA. Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans Kaufmann. Berlin 1970, Bd. 7, S. 448; franz. Originalfassung vgl. DHA XV, S. 209.

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Bei Briefen, deren Veröffentlichung in aller Regel erst posthum erfolgt, fällt die bei Werken übliche Korrekturphase fort. Und auch bei den wenigen zeitgenössisch publizierten Briefen ist in den meisten Fällen jegliche Kontrollmöglichkeit ausgeschlossen, da diejenigen, die einzelne empfangene Briefe publizieren, normalerweise ohne Rücksprache mit dem Absender vorgehen. Es sei denn, es handelt sich nach Absprache mit dem Absender oder gar im Auftrag des Absenders um eine gezielte Kampagne oder öffentliche Auseinandersetzung mit Kontrahenten auf dem literarischen Markt. Ein einmal geschriebener und abgesandter Brief ist also in einem ganz anderen Maße authentisch als ein Werkmanuskript oder ein publizierter Text. Bei der Textkonstitution stellt sich deshalb für den Editionswissenschaftler die Frage nach der Behandlung von Textlücken, für die der Absender/Briefschreiber keine Verantwortung trägt, ebenso wie die für vom Autor eigenhändig gestrichene oder eskamotierte Wörter oder Textabschnitte. Weniger eindeutig ist allerdings die Wahl der dabei zu verwendenden Darstellungsmittel. Welche diachronischen Zeichen sollen benutzt werden, gibt es standardisierte Zeichen, die dem Leser eine Lektüre unterschiedlicher Ausgaben erleichtern, wann ist Autorschrift zu verwenden, wann sollte im Sinne einer Vermeidung von unzulässiger Kontamination davon abgesehen werden? Darf oder soll der Editor in die Autorrolle schlüpfen bei dem Versuch zerstörte Zeichen wiederherzustellen, und wenn ja: darf dies im Text erfolgen oder allenfalls im textkritischen Kommentar? In den editorischen Richtlinien des dritten Bandes von Conrad Ferdinand Meyers Briefwechsel erläutern die Herausgeber Hans Zeller und Wolfgang Lukas das Prinzip der integralen Wiedergabe, das sie bei der Textkonstitution anwenden. So werden „die Briefe“, damit der Leser den Schreibprozess nachvollziehen kann, im Druck möglichst so wiedergegeben, wie sie beim historischen Adressaten tatsächlich angekommen sind: also mit sämtlichen Verschreibungen, Streichungen, Einfügungen etc. Ein wesentlicher Teil dieser (non)verbalen Information [...] soll in den edierten Brieftext integriert werden.5

So ist es auch konsequent, wenn die Herausgeber für die Vorgehensweise bei „Zerstörten Zeichen“ formulieren: 1) Ursprünglich auf dem Schriftgut vorhandene, jedoch durch nachträgliche Zerstörung fehlende Zeichen werden vom Editor im edierten Text bzw. im Apparat ergänzt. Die folgenden Fälle werden unterschieden: 5

C. F. Meyer: Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Hans Zeller. Bd. 3: C. F. Meyer, Friedrich von Wyß und Georg von Wyß. Briefe 1855 bis 1897. Hrsg. von Hans Zeller und Wolfgang Lukas. Bern 2004, S. 236.

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2) Ein durch Zerstörung fehlender Teil eines Wortes (ebenso ein einsilbiges Wort) wird im edierten Text in Spitzklammern 〈 〉 in Autorschrift ergänzt, wenn die Ergänzung eindeutig ist [...]. Ein oder mehrere zerstörte Wörter hingegen werden durch die Angabe „Textverlust“ bezeichnet [...]. In beiden Fällen wird die Stelle in der Rubrik Ü b e r l i e f e r u n g und/oder in der Rubrik Te x t w i e d e r g a b e behandelt, zum Beispiel „Textverlust durch Siegelausschnitt“ bzw. „meine Textverlust] Vermutlich „meine Arbeit wird“.6

Heinrich Heine gehört zu den Autoren, bei denen aus vielfältigen Gründen (Heines Personalsatiren gegen literarische Kontrahenten, Neid wegen Heines finanzieller Absicherung durch den reichen Hamburger Onkel, frivoler Lebensstil, Krankheit u. a.) schon zu seinen Lebzeiten das Interesse ungeheuer groß war, intimere Einzelheiten aus seinem Privatleben zu erfahren. So wurde im Rahmen der ersten „rechtmäßigen“ Heine-Gesamtausgabe in 18 Bänden, die ab 1861 in Hamburg bei Heines langjährigem Verleger Hoffmann und Campe von Adolf Strodtmann (1829–1879) herausgegeben wurde, von ebendiesem Adolf Strodtmann von 1863 bis 1866 eine erste dreibändige Briefausgabe erarbeitet und als Ergänzung zur Gesamtausgabe (Bd. 19–21)7 publiziert, also schon kurz vor Ablauf der urheberrechtlich vorgeschriebenen Zehnjahres-Frist.8 Allerdings hatte Strodtmann, wie nicht anders zu erwarten, so wenige Jahre nach Heines Tod mit den üblichen Problemen zu tun: – erstens lebten zahlreiche in den Briefen erwähnte Personen noch, deren Namen zum Teil nur mit dem Anfangsbuchstaben chiffriert angegeben werden konnten; – zweitens fühlte sich der Herausgeber der Heine-Briefe, wie er in seinem Vorwort betont, dazu verpflichtet, „zahlreiche herbe Äußerungen des Dichters über die verletzende Gebahren seiner Verwandten zu unterdrücken“;9 – drittens waren es die eigenen moralisch-sittlichen Vorbehalte des Editors, die ebenfalls zu Auslassungen in den Brieftexten Heines führten. Als Beispiel sei hier nur kurz auf Heines ebenso aufschneiderischen wie gern zitierten Hinweis an seinen Freund Moses Moser von Anfang 1824 über seinen extravaganten Kondom-Verbrauch hingewiesen. In seinem Brief aus Göttingen vom 24. Februar schrieb Heine in Anspielung auf das bekannte „Lied der Brautjungfern“ aus Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz: „Ich habe mir gestern Abend bey der neuen Putzhändlerinn 1/2 dutzend Gondons [Kondome] anmessen lassen, u zwar von veilchen6 7 8

9

Ebd., S. 238. 1867 wurde diese Ausgabe von A. Strodtmann auf 4 Bände erweitert und überarbeitet. Vgl. Rainer Baasner (Hrsg.): Briefkultur: Kommunikation, Konversation, Postpraxis. In: Ders.: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 32. Heinrich Heine: Sämmtliche Werke. Rechtmäßige Original-Ausgabe. Herausgegeben von Adolf Strodtmann. Hamburg 1861 ff., Bd. 19 (1863), S. X.

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blauer Seide“.10 Adolf Strodtmann gehen derartige Anzüglichkeiten in Heines Briefen zu weit, so dass er diesen Textabschnitt durch anderthalb Zeilen Auslassungspünktchen ersetzt; – ein viertes Problem stellten die zahlreichen Textlücken, Papierschäden mit Textverlust, aber auch Streichungen von fremder Hand dar, die im Besonderen eine Edition der Familienkorrespondenz erschwerten. Adolf Strodtmann gibt in seinem Vorwort keinerlei Auskunft darüber, wie er bei der Textkonstitution mit dem Problem der ,Textlücke‘ verfährt. Die Praxis seiner Briefedition zeigt jedoch, dass er bei ,Textverlusten‘, die nicht auf den Absender zurückgehen und bei denen es ihm gelingt, den ursprünglichen Inhalt mit größtmöglicher Sicherheit zu rekonstruieren, seine Ergänzungen in eckigen Klammern als Herausgeberzusätze ausweist, ist es ihm unmöglich, den Inhalt zu erschließen, kennzeichnet er dies mit drei Sternchen * * *. Friedrich Hirth (1878–1952), österreichischer Germanist und Romanist jüdischer Abstammung, Herausgeber der ersten so genannten Gesamtausgabe von Heines Briefen in drei umfangreichen Bänden, die fünfzig Jahre später von 1914 bis 1920 erschien und 1385 gezählte Briefe11 enthielt, fand ungleich bessere Bedingungen für sein Projekt vor als sein Vorgänger. Er konnte die HeineSammlung von Hans Meyer (1858–1929) benutzen, des Verlagsleiters des Bibliographischen Instituts Leipzig, der zwischen 1901 und 1906 einen Großteil von Heines Nachlass gekauft hatte, und zwar von der Witwe des Pariser Rechtsanwalts Henri Julia (1813–1890), der nach dem Tod von Heines Ehefrau Mathilde (1815–1883) in den Besitz der Manuskripte gelangt war. Hirth hatte darüber hinaus auch Zugang erhalten zu der zweiten großen Privatsammlung von Heine-Autographen, die über 300 Briefe von Heine enthielt, da er das große Glück hatte, vom Verleger und Kaufmann Salman Schocken für den Aufbau seiner umfangreichen Spezialsammlung als Scout engagiert worden zu sein. Die Sammlung Schocken wurde schließlich nach dem Tod Salman Schockens durch die Vermittlung von Louis Hay, dem Begründer des „Institut des Textes et Manuscrits Modernes“ (ITEM) am Pariser CNRS/ENS, 1966 von der Pariser Bibliothe`que nationale de France angekauft. Die insgesamt umfangreichere Sammlung Hans Meyers konnte nach einem zwischenzeitlichen Verkauf an die Gebr. 10

11

Heinrich Heine an Moses Moser, 24. Februar 1824; HSA XX, S. 145. – „Der Freischütz“ wurde 1821 in Berlin uraufgeführt und im Lied der Brautjungfern heißt es: „Wir winden dir den Jungfernkranz / mit veilchenblauer Seide; / wir führen dich zu Spiel und Tanz, / zu Lust und Hochzeitsfreude“ (Hervorhebung B. F.). Hirth (vgl. Anm. 12) ergänzt die Briefe Heines um Visitenkarten, Billets, Widmungen in Büchern und führt auch aus Antwortbriefen oder Folgebriefen erschlossene Briefe oder auszugsweise überlieferte Briefe auf, von denen keine handschriftlichen Quellen überliefert sind. Die Weimarer „Heine-Säkularausgabe“ zählt insgesamt 1748 Heine-Briefe; zieht man freilich die nur durch Inhaltsangaben „verschollener Briefe“ repräsentierten Dokumente ab, bleiben 1476 Briefe von Heine.

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Strauß 1956 zum 100. Todestag Heinrich Heines von der Stadt Düsseldorf gekauft werden und bildet heute den Grundstock des Heinrich-Heine-Instituts. Seine Ausführungen zur „Textgestaltung der Briefe“ in der überarbeiteten und um Erläuterungen und Auszüge aus den Gegenbriefen erweiterten Ausgabe in nunmehr sechs Bänden von 1948/57 eröffnet Hirth mit einem Bekenntnis zur diplomatischen Wiedergabe der überlieferten Dokumente: „Die Hauptmasse der Briefe Heinrich Heines wird wort- und buchstabengetreu nach den Handschriften [...] wiedergegeben.“12 Ein gelungenes Beispiel dafür, was Hirth in seiner Edition sogar an positionsgetreuer Textgestaltung leisten konnte, bietet die Edition des Briefs von Heinrich Heine an den Studienfreund Rudolf Christiani aus Hamburg von Anfang Dezember 1825. Heine teilt darin seinem Freund mit, dass er nach erfolgter Promotion zum Doktor juris eigentlich nicht die Laufbahn eines Advokaten anstrebe, sondern weiterhin Dichter werden möchte, und auch in Hamburg bei „Regen und Schnee“ nicht müßig sei: „Wo ich geh und steh mach ich Verse. Folgendes famose Lied machte ich gestern Abend. Ist es nicht wunderschön?“13

Abb. 1. Faksimile der verschollenen Handschrift nach: Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Hrsg. von P. Beyer, K. Quenzel u. K. H. Wegner. Leipzig 1921, Teil 1, nach S. 48

Hirth setzt den Kommentar Heines, den dieser, getrennt durch eine Schlängellinie, rechts neben die beiden neu gedichteten Strophen von unten nach oben notiert hat, im Druck positionsgenau um:

12

13

Heinrich Heine: Briefe. Erste Gesamtausgabe nach den Handschriften. Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Friedrich Hirth. 3 Bde. Mainz 1950, Bd. 1, S. LXVIII. Ebd., Bd. 1, S. 240.

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Abb. 2. Faksimile nach Heinrich Heine: Briefe. Erste Gesamtausgabe nach den Handschriften. Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Friedrich Hirth. Mainz 1950, Bd. 1, S. 240

Nach der grundlegenden Festlegung seiner Editionsgrundsätze analysiert der Herausgeber ausführlicher die orthographischen Besonderheiten in Heines Briefen und fasst anschließend die seiner Edition zu Grunde liegenden Prinzipien wie folgt zusammen: Diese Ausgabe folgt in der Orthographie fast durchaus den Beobachtungen, die an Heines Orthographie gemacht wurden. Sie gibt die Jugendbriefe völlig getreu wieder, mit allen Absonderlichkeiten und Wunderlichkeiten, die ihnen anhaften; in den Briefen aus späterer Zeit wurde uniformiert. [...] Die Briefe, die aus den Jahren seiner tödlichen Erkrankung stammen, sind von verschiedenen Sekretären und Freunden geschrieben, die ihre eigenen Orthographiegesetze befolgten. Bei diesen mußte Heines Wille maßgeblich sein, und sie wurden alle so abgesetzt, als ob er sie selbst geschrieben hätte.14

14

Ebd., Bd. 1, S. LXX. Dieses Verfahren führt schließlich konsequent durchgeführt zur Restitution eines Begleitschreibens („Memoire“, Brief-Nr. 857) zu einem Brief an Varnhagen von Ense vom 24. Februar 1846, das überliefert ist als Abschrift von Karl Grün. Im Brief an Varnhagen betont Heine ausdrücklich, wie wichtig ihm bei diesem zur Veröffentlichung in verschiedenen deutschen Zeitungen bestimmten Text die Verschleierung seiner Autorschaft war: „Auch ist der Artikel der Art, daß es niemand glauben würde, ich sei hier im Spiel“ (Heinrich Heine: Briefe [Anm. 12], Bd. 3, S. 59). Eine Restitution der Heineschen orthographischen Eigentümlichkeiten mag zwar formal den Editionsprinzipien entsprechen, kompromittiert aber auf der inhaltlichen Ebene das ursprüngliche Interesse des Autors nach Anonymität nachhaltig.

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Hirth arbeitet also mit einem gestuften Verfahren: Die Jugendbriefe werden diplomatisch getreu transkribiert, bei den Briefe der „mittleren“ Lebensphase wird „uniformiert“, d. h., die Orthographie und die Interpunktion wird vereinheitlicht unter Berücksichtigung der in den „Editionsgrundsätzen“ zur Orthographie aufgestellten Richtlinien.15 Die Briefe aus Heines Krankheitsphase, also etwa ab Frühjahr 1848, die von unterschiedlichen Schreibern stammen, wurden nach den eben erwähnten Richtlinien so restituiert, als ob sie der Autor selbst geschrieben hätte. In seinen Bemerkungen zur „Textgestaltung“ betont Hirth schließlich, dass es „oberster Grundsatz“ bei seiner Edition von Heines Briefen gewesen sei, daß alles von Heine nicht selbst Geschriebene und vom Herausgeber Eingesetzte in die Zeichen [ ] gesetzt ist. Wurde es für nötig erachtet, wenige in den Handschriften von Heine später gestrichene Stellen, wenn sie irgendwie bemerkenswert sind, aufzunehmen, so wurden auch diese zwischen [ ] eingereiht; nur findet sich dann der Zusatz „durchgestrichen“.16

Der Umgang mit zerstörten Zeichen durch Siegeleinriss oder andere Arten von Papierschäden, für die der Briefschreiber nicht verantwortlich ist, wird von Hirth nicht explizit behandelt. Die Praxis seiner Edition zeigt jedoch, dass Ergänzungen zerstörter Wörter bei Siegelausschnitt ohne jegliche Kennzeichnung durchgeführt werden: So werden z. B. im Brief von Heine an seine Schwester Charlotte vom 8. Mai 1824 die beim Öffnen des Briefes durch Siegelausriss verursachten kleinen ,Textlücken‘, die sich zweifelsfrei ergänzen lassen, ohne weitere Kennzeichnung ergänzt:

Abb. 3. Faksimile nach Heinrich Heine: Briefe. Erste Gesamtausgabe nach den Handschriften. Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Friedrich Hirth. Mainz 1950, Bd. 1, S. 163

15 16

Vgl. ebd., Bd. 1 S. LXIXff. Ebd., Bd. 1, S. LXXI.

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Abb. 4. Universitätsbibliothek Basel, Autographensammlung Geigy-Hagenbach, Nr. 1230; Eigentum der Stiftung Sammlung Karl Geigy-Hagenbach, Depositum Universitätsbibliothek Basel; Digitalisat: Repro-Abteilung, Universitätsbibliothek Basel

Ich danke Dir, liebes Lottchen, daß Du die Güte hattest, bey Henry meinen Auftrag auszurichten; Du wü〈rdest〉 mich nochmals verbinden wenn Du auch diesmal dem gu〈ten〉 Onkel Henry meinen Gruß bestellst. Ich habe nem〈lich〉 in dem unruhigen Treiben worinn ich mich, innerlich und äußerlich, befand, noch bis auf diese Stunde nicht dazu kommen können dem guten Onkel zu schreiben, [...]17

Die Herausgeber der HSA entschieden sich in diesen Fällen dafür, die Textergänzungen in Autorschrift kursiv zu setzen. In den „Editionsgrundsätzen“ heißt es dazu lapidar: „[...] textkritische Eingriffe werden im Apparat (im Abschnitt ,Mitteilungen zum Text‘) als korrigierende Textversehen nachgewiesen oder, wenn es sich um fehlerhafte Auslassungen handelt, durch kursive Ergänzungen im Text selbst sichtbar gemacht.“18 Ein zweifelhaftes Verfahren, da nach den

17

18

Ebd., der Umbruch folgt dem Zeilenfall der Handschrift, die eingefügten spitzen Klammern umschließen die Ergänzungen Hirths (vgl. HSA XX, S. 159). HSA XXK, S. 9.

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HSA-Richtlinien auch Auflösungen von abgekürzten Namen oder allgemein von Abkürzungen und von grammatischen/orthographischen Unstimmigkeiten kursiv gekennzeichnet werden, ohne dass ein Nachweis im Apparatteil bei den „Mitteilungen zum Text“ erfolgt. Ein zweites, etwas komplizierteres Beispiel aus dem Bereich der durch Siegeleinriss entstandenen ,Textlücke‘ findet sich in Heines Brief an Moser vom 24. Februar 1826. Beim Öffnen des Briefes entstand durch Entfernen des Siegels ein über drei Textzeilen reichendes Loch am rechten Blattrand, das für drei kleine Lücken im Text sorgt:

Abb. 5. Original: Bibliothe`que nationale de France, Fonds Allemand 389

Im retrospektiven Digitalisierungsprojekt Heinrich-Heine-Portal wird diese Briefstelle nach Neukollationierung mit der handschriftlichen Quelle folgendermaßen dargestellt: Es ist Thorheit von Dir wenn Du äußerst dass ich im Ernst meine Freundschaft verkl[Textverlust] wollen; meine Freundschaft hängt nicht vom [Textverlust] ab, sondern von unbedingten Gefühlen, [Textverlust]n ich selbst beherrscht werde. Es ist ganz wie bey der Liebe, bey der meinigen, der H. Heinischen.19

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Strodtmann ist bei der Wiedergabe dieses Briefes ungewohnt vorsichtig. Bei der ersten Lücke gibt er nicht einmal den lesbaren Wortansatz wieder, sondern kennzeichnet das insgesamt nicht zu entziffernde Wort mit drei Sternchen. Ebenso verfährt er bei der zweiten Lücke; bei der dritten Lücke ergänzt er allerdings ohne jegliche Kennzeichnung syntaktisch korrekt den vom Leser erwarteten relativischen Satzanschluss „von denen“: Es ist Thorheit von Dir wenn Du äußerst dass ich im Ernst meine Freundschaft *** wollen; meine Freundschaft hängt nicht vom *** ab, sondern von unbedingten Gefühlen, von denen ich selbst beherrscht werde. Es ist ganz wie bey der Liebe, bey der meinigen, der H. Heinischen.20

Friedrich Hirth zeigt sich in diesem Fall kompromisslos, er spekuliert nicht, was an den zerstörten Stellen gestanden haben kann. Selbst die syntaktisch relativ zweifelsfrei zu ergänzende dritte ,Textlücke‘ weist er als solche aus: Die beiden ersten Lücken werden durch einen Herausgeberzusatz in eckigen Klammen ausgewiesen mit dem Hinweis: „die Worte sind bei Entfernen des Siegels abgerissen“, beziehungsweise „durch Entfernung des Siegels ein Wort abgerissen“, was bei der ersten Lücke leicht irreführend ist, da es sich auch hier nur um ein Wort, dessen Beginn ja zu lesen ist, handelt. Bei der unmittelbar in der nächsten Zeile folgenden dritten Lücke reduziert Hirth seinen Hinweis auf den Zusatz: „abgerissen“.

Abb. 6. Faksimile nach Heinrich Heine: Briefe. Erste Gesamtausgabe nach den Handschriften. Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Friedrich Hirth. Mainz 1950, Bd. 1, S. 254

19

20

Heinrich Heine-Portal. Der Text der Heine-Briefe wurde neu kollationiert; der Umbruch wurde dem Zeilenfall des Briefs angepasst, damit kenntlich wird, dass es sich um eine „Textlücke“ am Blattrand handelt. Heinrich Heine: Sämmtliche Werke (Anm. 9), Bd. 19 (1863), S. 358; der Umbruch wurde dem Zeilenfall des Briefs angepasst, damit kenntlich wird, dass es sich um eine ,Textlücke‘ am Blattrand handelt.

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Die Bearbeiter der HSA bemühen sich, die durch das Öffnen des Briefs entstandenen ,Textlücken‘ zu ergänzen, wobei sie zu folgendem Ergebnis kommen: Es ist Thorheit von Dir wenn Du äußerst daß ich im Ernst meine Freundschaft verklauseln wollen; meine Freundschaft hängt nicht vom Denken ab, sondern von unbedingten Gefühlen, von denen ich selbst beherrscht werde. Es ist ganz wie bey der Liebe, bey der meinigen, der H. Heinischen.21

Die erschlossenen Textstellen wurden also nach den Vorschriften der Editionsrichtlinien an- bzw. eingefügt und kursiv gesetzt.22 Die erste Lücke ergänzten die Bandbearbeiter mit einem sonst in Heines Briefen oder Werktexten nicht vorkommenden Wort zu „verkl〈auseln〉“. Eine durchaus mögliche, jedoch nicht nachzuweisende Kurzform des von Heine ab und an benutzten „verklausuliren“. Semantisch macht dies jedoch wenig Sinn. Bedeutet das Verb „verklausuliren“ doch: etwas verschlüsseln, unverständlich machen, durch Klauseln einschränken. Und in diesem Sinn wird das Verb auch von Heine benutzt. So z. B. in seinem Brief an Varnhagen von Ense vom 19. November 1830, in dem er schreibt, er wolle dem Ehepaar Varnhagen „immer dankbar seyn“, indem er ihnen seinerseits „kein verhülltes Herz zeigen will – sie sollen es immer sehen mit allen Wunden, ja mit allen Flecken, und unverklausulirt“.23 Auch in seinem 1843 geschriebenen Artikel Kampf und Kämpfer, besser bekannt unter dem späteren Titel der in Lutezia II publizierten Artikelserie Communismus, Philosophie und Clerisey, heißt es: [...] und der Mann, dessen Geist am klarsten und dessen Doktrin am liberalsten war, sprach sie dennoch in so trüb scholastischer, verklausulirter Form aus, dass nicht bloß die religiöse, sondern auch die politische Parthey der Vergangenheit in ihm einen Verbündeten zu besitzen glaubte. Nur die Eingeweihten lächelten ob solchem Irrthum [...].24

Die zweite Lücke wurde von den Bearbeitern der HSA mit dem Gegenbegriff zum kurz darauf folgenden „Gefühl“ zu „Denken“ ergänzt. Aus der Kenntnis des Briefwechsels zwischen Heine und Moses Moser geht jedoch hervor, dass wohl eher die Opposition „Gefühl – Verstand“ gemeint ist, denn im Brief vom 23. April 1820 schreibt Heine: 21

22

23 24

HSA XX, S. 237; der Umbruch wurde dem Zeilenfall des Briefs angepasst, damit kenntlich wird, dass es sich um eine ,Textlücke‘ am Blattrand handelt. Vgl. HSA XXK, S. 12: „[...] alle vom Editor stammenden Abkürzungen, Erläuterungen, Hinweise oder Ergänzungen sind kursiv gesetzt.“ Heinrich Heine an Karl August Varnhagen von Ense, 19. November 1830; HSA XX, S. 421. DHA XIV, S. 101.

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Was soll ich thun! ich muß sogar den Verdacht auf mich laden als hätte ich Verstand, alles aus ambirender Freundschaft zu Dir. Ich möchte die goldnen Hufen meines Pegasus bey einem Juden versetzen, nur um Verstand zu borgen. Gold versetzt um Münzgroschen zu borgen: – Genug des Unverstandes und der unverständlichen Reden über Verstand – ich wollte mir nur den Anschein geben als dächte ich etwas dabey.25

Die dritte Lücke ist einfacher aufzufüllen, wie ja schon der Erstdruck bei Strodtmann belegt. Es zeigt sich aber schon an diesem kleinen Beispiel, auf welch brüchigem Eis Editoren sich bei der Ergänzung zerstörter Textstellen zuweilen bewegen. Auch wenn sich unter den Briefen an Heine nur relativ wenige durch Siegeleinriss beschädigte Briefe finden, war ihm selbst natürlich die Gefahr des Textverlusts durch das Öffnen des Briefes bewusst. So hat er denn auch eine Zeitlang sein Briefpapier vorbeugend an den entsprechenden Stellen mit Platz aussparenden Bleistiftkringeln versehen, um auf diese Weise mit größtmöglicher Sicherheit einem ungewollten Textverlust durch Siegeleinriss entgegenzuarbeiten. Als Beispiel dafür diene Abb. 7:

25

Heinrich Heine an Moses Moser, 23. April 1826; HSA XX, S. 239.

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Abb. 7. Heinrich Heine an Julius Campe, 23. Januar 1839 (Bibliothe`que nationale de France, Fonds Allemand 389)

Wie unterschiedlich die Textkonstitution in den drei Heine-Briefausgaben ausfallen kann, lässt sich exemplarisch am Beispiel eines Brieffragments von Heinrich Heine an Varnhagen von Ense vom 12. Februar 1828 zeigen. Das Original befindet sich heute in der Biblioteka Jagiellon´ska Krako´w und ist überliefert als

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Beilage im Brief vom 1. April 1828. In diesem Brief beklagt sich Heine bei seinem Berliner Freund bitter über seinen reichen Onkel in Hamburg. Es handelt sich um eine Textstelle von etwas mehr als zwei Zeilen, die möglicherweise im Nachhinein von einem Familienmitglied des Heineclans26 gestrichen wurde. Einige Zeilen später erfolgte ebenfalls von fremder Hand die Streichung des Namens „Lindner“, des Mitredakteurs der Neuen allgemeinen politischen Annalen, die Heine gemeinsam mit diesem in München herausgegeben hatte. Eine spätere Veröffentlichung konnte durch die relativ zaghafte Streichung allerdings nicht verhindert werden:

Abb. 8. Heinrich Heine an Varnhagen von Ense, 12. Februar 1828 (Biblioteka Jagiellon´ska Krako´w)

Ludmilla Assing, die Schwester von Karl August Varnhagen von Ense, die die große Handschriftensammlung ihres Bruders nach dessen Tod verwaltete, gab Mitte der 1860er Jahre eine umfangreiche Sammlung von Briefen an Varnhagen von Ense heraus, die auch zahlreiche Briefe von Heinrich Heine enthielt. In 26

Möglicherweise von Heines Bruder Maximilian oder seinem Neffen Ludwig von Embden; vgl. Friedrich Hirths Vermutung in seinen Bemerkungen „Zur Textgestaltung der Briefe“: „Die Familienbriefe enthalten gelegentlich Lücken, die Maximilian Heine oder dem Neffen Baron Ludwig von Embden zur Last fallen.“ (Heinrich Heine: Briefe [Anm. 12], Bd. 1, S. LXVIII.)

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dieser Ausgabe, dem Erstdruck des Briefes, fehlt die von fremder Hand gestrichene Passage.27 Unklar ist allerdings, ob Ludmilla Assing sie aus Rücksicht auf die noch lebenden Familienmitglieder ausgelassen hat – bei dem bereits 1845 verstorbenen Publizisten Friedrich Ludwig Lindner fällt dieses Argument fort – oder ob sie die Streichungen Heine zuschrieb und somit keinen Anlass dafür sah, eine eigenhändig gestrichene Stelle wieder einzusetzen. Der zweite Abdruck in der Briefausgabe von Adolf Strodtmann lässt die gestrichene Passage ebenfalls aus. Eine Anmerkung zu dieser Stelle, die über die Gründe der editorischen Entscheidung Rechenschaft ablegt, existiert leider auch hier nicht. Friedrich Hirth ist schließlich der erste, der diesen Brief vollständig ediert. Längere Textabschnitte, die von fremder Hand durchgestrichen wurden, werden von ihm gewöhnlich, falls sie noch entziffert werden konnten ,durchgestrichen‘ und in Autorschrift wiedergegeben. Mitgeteilt wird also die negative Äußerung über Salomon Heine und der Name des Münchener Mitredakteurs Lindner. In Vorwegnahme neuerer Überlegungen über die Notwendigkeit, eine größtmögliche Authentizität bei der Textkonstitution von Briefen zu bewahren,28 gibt Hirth die von fremder Hand gestrichenen Stellen unter weitgehender Beibehaltung der authentischen Form wieder: Nach Hamburg werde ich nie in diesem Leben zurückkehren; [mein Oheim dort, der Millionär, hat wie der gemeinste Schurke gegen mich gehandelt]. Es sind mir Dinge von der äußersten Bitterkeit dort passirt, sie wären auch nicht zu ertragen gewesen ohne den Umstand: dass nur ich sie weiß.29

Die zusätzlichen eckigen Klammern weisen hier nach den Editionsrichtlinien der Hirthschen Briefedition darauf hin, dass die Streichung nicht vom Autor selbst erfolgte. In seinen Bemerkungen zur „Textgestaltung“ erhebt Hirth manifeste, aber kaum zweifelsfrei zu belegende Vorwürfe gegen eine von der Heine-Familie pro domo durchgeführte Zensur.30 Die Herausgeber der Briefabteilung der HSA fallen mit ihren „Editionsgrundsätzen“ nicht nur an dieser Stelle weit hinter bereits erreichte Standards in der Heine-Briefedition zurück: Sie entschieden sich, diese im Original, wenn auch von fremder Hand, gestrichenen Textstellen im edierten Text ohne jegliche Kennzeichnung zu belassen. Lediglich im Apparat erfolgt in der Abteilung „Überlieferung“ ein kurzer Hinweis auf die „vermutlich von fremder Hand“ vorgenommene Streichung mit Nachweis der Textstelle.31 27

28

29 30 31

Briefe von Stägemann, Metternich, Heine und Bettina von Arnim, nebst Briefen, Anmerkungen und Notizen von Varnhagen von Ense. Hrsg. von Ludmilla Assing. Leipzig 1865, S. 180 f. Hans Zeller: Authentizität in der Briefedition. Integrale Darstellung nichtsprachlicher Informationen des Originals. In: editio 16, 2002, S. 36–56. Heinrich Heine: Briefe (Anm. 12), Bd. 1, S. 346. Vgl. Anm. 26. HSA XXK, S. 202.

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Heine klagt immer wieder über eine offen oder versteckt ausgesprochene „Familienzensur“, die mit der Drohung verknüpft war, die bestehende finanzielle Unterstützung einzustellen. Ende Oktober 1845 betont er in einem Brief an seinen Hamburger Verleger ausdrücklich seine „Autorwürde“ und „Federfreyheit“, doch auch der notwendige Spagat zwischen seiner Unabhängigkeit als Schriftsteller und der Abhängigkeit als Mensch wird thematisiert: „Auf Bedingungen lasse ich mich jetzt gar nicht ein – meiner Autorwürde, meiner Federfreyheit, werde ich auch nicht das Gringste vergeben, wenn ich auch als Mensch den Familienrücksichten mich unterwürfig zeige.“32 Tatsächlich ist es auffällig, dass ausgerechnet die Briefe an die Familienangehörigen, aber auch an enge Freunde wie Moses Moser, die Despektierliches über Salomon Heine und dessen Sohn wie auch allgemein Negatives über den Familienclan enthalten, unverhältnismäßig häufig von groben Streichungen von fremder Hand betroffen sind, die offensichtlich das Ziel verfolgen, ganze Textpassagen unleserlich zu machen. In einem in Berlin am 18. Juni 1823 geschriebenen Brief an Moses Moser gesteht Heine dem Freund die Vernichtung einer kleineren Textpassage – etwa ein Drittel einer Briefseite – über den ungeliebten, aber steinreichen Onkel Salomon in Hamburg, um ihm die so merkwürdig zugerichtete dritte Seite (inklusive Rückseite) des ersten Doppelbogens seines Briefes zu erklären:

32

Heinrich Heine an Julius Campe, 31. Oktober 1845; HSA XXII, S. 175.

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Abb. 9. Original: Bibliothe`que nationale de France, Fonds Allemand 389

Die letzten Zeilen der dritten Seite dieses Briefes lauten: In einigen Tagen reise ich nach der Hochzeit meiner Schwester, die zwischen hier u Hamburg statt findet. Bald drauf – sage u schreibe es aber keiner menschlichen Seele – reise ich auf 8 Tagen nach Hamburg

Nach dem letzten Satz hat Heine mit einem Federmesser das untere Drittel der Seite abgeschnitten, wobei er sorgfältig darauf achtete, ausschließlich den im Nachhinein unerwünschten Text zu vernichten. Auf der Rückseite dieses Blattes findet sich als nachgereichter Einschub Heines „Geständnis“ über den vorgenommenen Texteingriff: Ich habe hier ein Stück des Briefes abgeschnitten, weil eine zu heftige, und für einen Brief nicht ziemliche Aeußerung mir entschlüpft ist. Mit meinem Oheim stehe ich noch nicht auf dem Fuße, auf dem ich zu stehen wünschte, um mit Sicherheit feste Lebensplane für die Folge entwerfen zu können. Erst nach meiner Zurückkunft von Hamburg kann ich Dir in dieser Hinsicht etwas bestimmteres sagen.33

33

Heinrich Heine an Moses Moser, 18. Juni 1823; HSA XX, S. 97 f.

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Den abgeschnittenen Teil dieses Blattes scheint Heine vernichtet zu haben, der ursprüngliche Text jedenfalls ist nicht überliefert. Doch aus vielen anderen Briefen Heines an Moses Moser wird der Leser über das schwierige Verhältnis zu dem reichen Onkel unterrichtet, und er kann ahnen, dass die abgeschnittene Formulierung sehr drastisch gewesen sein muss, denn so richtig zimperlich ging Heine auch an anderen Stellen nicht mit seinem Onkel um. Im August 1823 schrieb er z. B.: Ich kenne sehr gut die getauften u noch ungetauften Quellen woraus dieses Gift eigentlich herkömt, auch weiß ich daß mein Oheim, der sich hier so gemein zeigt, zu andern Zeiten die Generosität selbst ist; aber es ist doch in mir der Vorsatz aufgekommen alles anzuwenden um mich so bald als möglich von der Güte meines Oheims loszureißen. Jetzt hab ich ihn freilich noch nöthig, u wie knickerig auch die Unterstützung ist die er mir zufließen läßt, so kann ich dieselbe nicht entbehren.34

In der von Strodtmann besorgten Briefausgabe fehlt jeglicher Hinweis auf die Materialität des Briefes, Hirth weist im laufenden Text durch einen Herausgeberzusatz in eckigen Klammern auf den Eingriff hin35 und die Heine-Säkularausgabe (HSA) erläutert in der Überlieferung den Tatbestand folgendermaßen: „(Nach S. 97,35 ist ein Teil des Briefes abgeschnitten)“.36 Was bei dem Versuch, eine Textverderbnis, z. B. verloren gegangene Textteile, im Nachhinein wiederherzustellen, erreicht werden kann, aber auch wo die Grenzen für eine möglichst zweifelsfreie Konjektur liegen, soll ein Beispiel für eine umfangreichere sympathetische oder kongeniale Textwiederherstellung in der ersten Heine-Briefausgabe von Strodtmann zeigen. Es geht hierbei um einen Brief Heines an den Bonner Kommilitonen Fritz von Beughem (geb. 1796) vom 9. November 1820. Einschränkend muss allerdings gleich vorweg gesagt werden, dass Strodtmann der letzte war, der diesen Brief im Original sah; inzwischen gilt er schon lange als verschollen. In seinem Brief an den Studienfreund beschreibt Heine nach dem Wechsel an die Göttinger Universität das dortige Studentenleben und die Professoren: Ohne sonderliches Pech bin ich hier angelangt. Denk Dir, ich habe sogar noch einen ganzen Louis mitgebracht. – Es schien mir bis jetzt noch gar nicht in diesem gelehrten Neste. Hätte ich nicht die Länge des Wegs aus Erfahrung gekannt, so wäre ich richtig wieder nach Bonn zurückgelaufen. Patente Pomadehengste, Prachtausgaben wässrichter Prosaiker, plastisch ennuyante Gesichter – da hast Du das hiesige Burschenpersonal. 34 35

36

Heinrich Heine an Moses Moser, 23. August 1823; HSA XX, S. 109. „[das untere Drittel des Blattes ist abgeschnitten]“; Heinrich Heine: Briefe (Anm. 12), Bd. 1, S. 91. HSA XXK, S. 66.

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. . . . . . . . . .* Hundeshagen’s und Radlof’s Empfehlungen haben mir bei Beneke sehr genutzt und mir viele Auszeichnungen verschafft.

In seinen Anmerkungen, die dem edierten Text des Briefes folgen, beschreibt Strodtmann die Materialität des ihm vorliegenden handschriftlichen Originals. Außerdem erläutert er sein Vorgehen und betont ausdrücklich, dass es sich bei dem von ihm ergänzten Text nur um einen Vorschlag, eine mögliche Konjektur, handelt: * Von dem ersten Blatt dieses Briefes ist unten ein Stück abgerissen. Die hierfolgende Stelle mag etwa in folgender Art zu ergänzen sein: ,Aber die [Professoren sind hier erst recht viel lederner,] als in Bonn[; nur Sartorius, welcher deutsche Geschichte liest] und bei welchem ich [die freundlichste Aufnahme gefunden, hat mich] fast entzückt; ganze Abende [habe ich schon bey ihm zugebracht.]‘ Die Lücke auf der Rückseite des Blattes glaube ich mit größerer Sicherheit richtig ergänzt zu haben.37

Die Originalhandschrift weist also nach Strodtmann insgesamt acht ,Textlücken‘ auf, d. h., durch einen Papierabriss, der wegen seiner Größe nicht auf einen Siegelausriss zurückgehen kann, fehlen auf der Vorder- und Rückseite jeweils vier – mehr als eine halbe Blattzeile umfassende – Textstellen. Strodtmann bemüht sich bei seinen Konjekturen ganz offensichtlich darum, Heines Brief-Ton, seinen elliptischen Stil und auch die Orthographie des jungen Autors zu rekonstruieren: So z. B. indem er die Göttinger Professoren als „lederner“ als die Bonner Professoren bezeichnet, eine Charakterisierung, die Strodtmann, der ja ein exzellenter Kenner der Heine-Briefe war, möglicherweise aus Heines Brief vom 25. Juni 1824 an Moses Moser übernommen hat, dem er seinen Göttinger Jura-Professor Georg Jakob Friedrich Meister (1755–1832) wie folgt schildert: [...] unterdessen kommt langsam die 9te Stunde herangeschlichen wo ich mit meiner Mappe nach dem göttlichen Meister eile – ja der Kerl ist göttlich, er ist idealisch in seiner Hölzernheit, er ist der vollkommenste Gegensatz von allem Poetischen und eben dadurch wird er wieder zur poetischen Figur, ja wenn die Materie die er vorträgt ganz besonders trocken und ledern ist, so kommt er ordentlich in Begeisterung. In der That, ich bin mit Meister vollkommen zufrieden, und werde die Pandekten mit seiner und Gottes Hülfe los kriegen.38

37

38

Heinrich Heine: Sämmtliche Werke. Rechtmäßige Original-Ausgabe (Anm. 9), Bd. 19 (1863), S. 33. Heinrich Heine an Moses Moser, 25. Juni 1824; HSA XX, S. 167 (Hervorhebung B. F.).

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Auch die Identifizierung des Göttinger Professors, bei dem der Student Heine „ganze Abende“ verbracht haben will, gelingt Strodtmann zweifelsfrei: Heine muss Prof. Georg Sartorius (1765–1828), einen renommierten Historiker an der Göttinger Universität, gemeint haben, wie Strodtmann aus seiner Kenntnis von Heines Briefen aus der Göttinger Zeit feststellt. In einem Brief vom 4. März 1825 an Ludwig Robert nennt Heine Sartorius einen „Freund“, mit dem er auch privat Umgang habe: Wahrhaftig, wenn Sie sich artig aufführen, können Sie noch am Ende berühmt werden. Man fängt sogar in G ö t t i n g [en] an Sie zu kennen – und das will viel sagen! Nameent[lich] mein Freund der große Sartorius, bey dem ich [die]sen Abend gut esse, erkundigte sich mit vielem Eifer nach dem Verfasser der Episteln an Tiek u der göthischen G[eburtstags]feyer39

Auch in seiner Harzreise (1826), die in Göttingen mit der Schilderung des Studentenlebens beginnt, hat Heine Professor Sartorius ein kleines Denkmal gesetzt: Und warum sollte ich es verschweigen, ich meine hier ganz besonders jenen viel theueren Mann, der schon in frühern Zeiten sich so freundlich meiner annahm, mir schon damals eine innige Liebe für das Studium der Geschichte einflößte [...]. Ich spreche von Georg Sartorius, dem großen Geschichtsforscher und Menschen, dessen Auge ein klarer Stern ist in unserer dunkeln Zeit, und dessen gastliches Herz offen steht für alle fremde Leiden und Freuden, für die Besorgnisse des Bettlers und des Königs, und für die letzten Seufzer untergehender Völker und ihrer Götter.40

Hinzu kommt die Anpassung des rekonstruierten Textes an orthographische Eigentümlichkeiten Heines, beispielsweise indem Strodtmann das altertümelnde „y“ bei der auf „i“ auslautendenden Präposition „bei“ restituiert. Friedrich Hirth übernimmt bei diesem Brief sämtliche acht kongenialen Textergänzungen aus Strodtmanns Briefausgabe, also sowohl den von Strodtmann für die ersten vier Lücken erschlossenen Text, den dieser selbst noch recht vorsichtig nicht im Brieftext, sondern in einer Anmerkung mitteilt, als auch den von Strodtmann für die Lücken auf der Rückseite des Blatts „mit größerer Sicherheit“ erschlossenen Text, den er entsprechend seinen ,internen‘ Editionsrichtlinien im laufenden Text recte als Autortext, jedoch in eckigen Klammern, mitteilt. In der Briefausgabe von Hirth werden die je vier Ergänzungen der Vorder- und der Rückseite gleichwertig als Herausgeberzusatz kursiv und in eckigen Klammern mitgeteilt, d. h., die noch von Strodtmann vorgenommene Unterscheidung in Textergänzungen mit größerem oder geringerem Wahrscheinlichkeitsgrad wird von Hirth fallen gelassen.41 39 40

Heinrich Heine an Ludwig Robert, 4. März 1825; HSA XX, S. 188. DHA VI, S. 135.

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Die Bearbeiter der HSA sind an dieser Stelle noch einen Schritt weitergegangen. Die ersten vier Textergänzungen werden entsprechend den Editionsrichtlinien kursiv als Herausgeberzusatz gekennzeichnet. Ein Hinweis auf mögliche Zweifel an der Richtigkeit des ergänzten Textes beziehungsweise auf die Urheberschaft Strodtmanns erfolgt lediglich im separat erschienenen Kommentarband als Zusatz zum Hinweis auf den Erstdruck, der in der 2. Auflage der von Strodtmann besorgten Briefausgabe von 1876 erfolgte. Die weiteren vier Textergänzungen auf der Rückseite werden von den Bearbeitern der HSA als Autortext recte gesetzt und durch Sperrung gekennzeichnet als vom Autor inhaltlich hervorgehobene Textpassagen. Dass es sich hierbei ursprünglich um Ergänzungen von Strodtmann für vorhandene Textlücken handelt, ist damit für den Leser nicht mehr zu erkennen, ganz im Gegenteil: Die Sperrung, die ansonsten ja zur Kennzeichnung einer Hervorhebung (Unterstreichung, Sperrung) durch den Autor vorgesehen ist, legt eine präzise Textkenntnis der Bearbeiter nahe. Die HSA „vergisst“ oder nivelliert hier also Erkenntnisse der früheren Herausgeber. Textkritische Eingriffe werden keineswegs immer in den „Mitteilungen zum Text“ nachgewiesen, wie es die „Editionsgrundsätze“ ankündigen, und das dort verkündete Grundprinzip, die Entscheidung über die Auswahl der in den „Mitteilungen zum Text“ wiederzugebenden Varianten in die Verantwortung der Bandbearbeiter zu stellen, erweist sich als problematische Einengung. Nach den „Editionsgrundsätzen“ der HSA werden textkritische Eingriffe [...] im Apparat (im Abschnitt ,Mitteilungen zum Text‘) als korrigierte Textversehen nachgewiesen oder, wenn es sich um fehlerhafte Auslassungen handelt, durch kursive Ergänzungen im Text selbst sichtbar gemacht. [...] Als ,Mitteilungen zum Text‘ (Varianten) werden relevante Abweichungen vom edierten Text, d. h. solche – durch Korrekturstriche getilgten – inhaltlich erheblichen Stellen mitgeteilt, die im endgültigen Brieftext keine Entsprechung haben und hinsichtlich der Beurteilung und Auswertung der betreffenden Textstelle von wissenschaftlichem Interesse sind. Dabei wird bei der Darbietung größerer und stark durchkorrigierter Textpassagen [...] Wert auf eine übersichtliche Wiedergabe der zweifelsfrei in ihrem Zusammenhang zu ermittelnden ersten und letzten Textschicht gelegt. – Über die Auswahl der wiederzugebenden Varianten entscheidet der Bandbearbeiter in eigener Verantwortung.42

Die Bearbeiter des Heinrich-Heine-Portals (2002–2009) haben sämtliche HeineBriefe, zu denen Handschriften oder Kopien bzw. Filme von Handschriften im Archiv des Heinrich-Heine-Instituts Düsseldorf vorlagen, neu kollationiert und besonders den textkritischen Bereich überarbeitet und vervollständigt. Die Brieftexte wurden bei der Überarbeitung von allen Herausgeberzusätzen gereinigt, so 41 42

Heinrich Heine: Briefe (Anm. 12), Bd. 1, S. 20 f. HSA XXK, S. 9–11.

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dass z. B. der zum Teil in einer Briefzeile wechselnde Gebrauch von „und“ und seiner Abkürzung „u“ wieder gleichwertig nebeneinander steht. Insgesamt wurden alle Abkürzungen zurückgeführt und in Zweifelsfällen in den Erläuterungen zu den Briefen aufgelöst. Die Bearbeiter des Heine-Portals kennzeichneten die notwendigen, zweifelsfrei vorzunehmenden Ergänzungen sowie Spekulationen über mögliche Ergänzungen bei Textverlusten im edierten Text durchgängig und wiesen sie vollständig in den „Mitteilungen zum Text“ nach. Sie werden parallel zum Brieftext in einem zweiten Fenster angezeigt. Die „Mitteilungen zum Text“ im Heinrich-Heine-Portal bieten nun im Gegensatz zur gedruckt vorliegenden Ausgabe der HSA sämtliche Abweichungen der Handschrift zum edierten Text.43 Mit den hier behandelten Schwierigkeiten, mit untergeschobenen und kastrierten Texten, mit Missverständnissen, ja mit dem Unverstand der Leser – damit hatte Heine schon immer gerechnet. So beginnt er denn auch seine Vorrede zu den Französischen Zuständen vom Oktober 1832 mit „Vernunftschlüssen“ des französischen Humoristen Paul Scarron (1610–1660): Diejenigen, welche lesen können, werden in diesem Buche von selbst merken, daß die größten Gebrechen desselben nicht meiner Schuld beygemessen werden dürfen, und diejenigen, welche nicht lesen können, werden gar nichts merken.44

43

44

Vgl. die entsprechend überarbeiteten „Editionsgrundsätze“ zur Überarbeitung der Heine-Briefe im Heinrich-Heine-Portal (www.heine-portal.de). Abweichungen der Bearbeiter des Heine-Portals werden farbig und durch Kursivierung nachgewiesen, damit das geänderte Verfahren für den interessierten Nutzer nachvollziehbar bleibt. DHA XII, S. 65.

Burghard Dedner Zu einigen Besonderheiten der Briefkommentierung

Einleitung Literaturwissenschaftler edieren im Normalfall literarische Werke als Ganzes, und wenn sie Bruchstücke edieren, dann sind sie gehalten, darauf deutlich hinzuweisen und sich in der Kommentierung dementsprechend zurückzuhalten. Nehmen wir zum Beispiel an, uns läge vom Faust nicht das Ganze vor, sondern es seien nur fünf verstreute Szenen überliefert und auch diese nur bruchstückhaft. Über die Bedeutung dieser Bruchstücke und den Sinn der einzelnen Sätze könnten wir dann allenfalls vage spekulieren. Was aber entspricht – dies ist die erste Frage, die mich im Folgenden beschäftigen wird – in einer Briefausgabe der Kategorie des „Ganzen“? Das Ganze sind hier wohl nicht sämtliche von einem Autor verfassten Briefe; diese entsprächen kategoriell seinem gesamten literarischen Oeuvre. Die nächste Einheit unterhalb des Oeuvres ist das einzelne literarische Werk. Entspricht diesem im epistolaren Bereich der Briefwechsel oder nur der einzelne Brief oder etwas dazwischen? Bei Gedichtpublikationen – so viel ist klar – können wir dieselbe Frage stellen. Bildet Heines Gedicht „Lorelei“ hier die entscheidende Einheit oder erst der Gedichtzyklus Die Heimkehr oder sogar erst das gesamte Buch der Lieder? Mit Sicherheit ist der einzelne Brief nicht so autonom, wie das einzelne Gedicht es sein kann. Er steht fast immer in einer Sequenz von Von- und An-Briefen und erhält erst innerhalb dieser Sequenz seinen Sinn. Eine zweite, hiermit entfernt zusammenhängende Frage betrifft zum einen die Richtung und zum andern den Kohärenzgrad der semantischen Bezüge in Briefen. Ein Satz in einem Text bezieht sich entweder auf einen außertextlichen oder auf einen innertextlichen Zusammenhang, ein sogenannter Protokollsatz z. B. nur auf Außertextliches, ein Satz in einem hermetischen Gedicht nur auf Innertextliches. In der Regel weisen die semantischen Bezüge in beide Richtungen, aber in Briefen doch sehr viel stärker in die außertextliche, in literarischen Werken sehr viel stärker in die innertextliche Richtung. Wenn ein Romancier versichert, Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit seien rein zufällig, so gibt er gegen den Augenschein die Anweisung, nur innertextliche Bezüge zu beachten. Von einem Briefeschreiber erwarten wir dagegen, dass seine Aussagen mit der Wirklichkeit übereinstimmen, oder anders gesagt: Ein Briefeschreiber kann lügen und sich irren, ein Romancier kann beides nicht.

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Schon die Tatsache, dass die semantischen Bezüge im Briefwechsel in die Außenwelt weisen, hat zur Folge, dass ihr interner Kohärenzgrad geringer ist als im Roman. Hinzu kommt, dass Romanautor und Briefschreiber den Lebenszusammenhang aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Der eine hat bereits den Überblick, der andere ist gefangen in der Jetzt-Perspektive, und wenn die Hauptperson eines Romans auf Seite 12 einen Nagel in die Wand schlägt, so wird sie irgendwann etwas aufhängen, während es im Briefwechsel sich nicht vermeiden lässt, dass der Nagel nur einmal und danach nie wieder erwähnt wird. Durch diese unterschiedliche Richtung der semantischen Bezüge unterscheidet sich auch die Interpretation vom Kommentar: Die Interpretation sucht ihr Belegmaterial eher in innertextlichen Zusammenhängen, der Kommentar sucht sie in der Außenwelt. Deshalb bedürfen Briefe in hohem Maße des Kommentars und nur in geringem Maße der Interpretation. Ich wende im Folgenden diese zwei oder drei abstrakten Überlegungen auf die Briefe Georg Büchners an seine Braut Wilhelmine Jaegle´ an, die wir in der Forschungsstelle Georg Büchner gerade ediert und kommentiert haben.1

Psychosomatische Erzählungen Ende März 1834, wenige Wochen nach Abfassung des Hessischen Landboten, fasste Georg Büchner in einem Brief an seine Eltern in Darmstadt seine Erfahrungen im Gießener Wintersemester folgendermaßen zusammen: „Ich war im Aeußeren ruhig, doch war ich in tiefe Schwermuth verfallen; dabei engten mich die politischen Verhältnisse ein, ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden StaatsdienerAristokratismus zu Gefallen. Ich komme nach Gießen in die niedrigsten Verhältnisse, Kummer und Widerwillen machen mich krank.“2 Wir halten zunächst fest: Büchner sprach von einem psychischen Zustand, den er „tiefe Schwermuth“ nannte. Im zeitgenössischen medizinischen Diskurs wurde dieser Zustand meist als „Melancholie“, heute wird er vor allem als „Depression“ bezeichnet. Ursache dieser Depression waren seines Erachtens die „politischen Verhältnisse“; er litt also unter der in der psychiatrischen Literatur häufig genannten Variante der politisch verursachten Melancholie. Mit dem Satz 1

2

Historisch-Kritische Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. Mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hrsg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer; ab 2005: Hrsg. von Burghard Dedner. Mitbegründet von Thomas Michael Mayer. Darin: Bd. X: Briefwechsel in 2 Teilbänden. Hrsg. von Burghard Dedner, Tilman Fischer und Gerald Funk. Darmstadt 2012. Der erste Teilband enthält den gesamten Briefwechsel chronologisch geordnet, außerdem die handschriftlich überlieferten Briefe als Faksimile und in Differenzierter Umschrift; der zweite Teilband enthält den Editionsbericht und den Stellenkommentar. – Fortan: MBA X. MBA X.1, S. 38.

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„Kummer und Widerwillen machen mich krank.“ bezeichnete er eine somatische Folge dieses psychischen Zustands und bezog sich dabei wahrscheinlich auf einen acht Tage dauernden Fieberanfall von Anfang März. Weniger wahrscheinlich dachte er an eine Ende November und Anfang Dezember 1833 durchlittene Hirnhautentzündung, denn von ihr wussten die Eltern natürlich längst. Was uns in den Briefsätzen vorliegt, ist also eine psychosomatische Erzählung. In ihr bilden die „politischen Verhältnissen“ die Ursache, die „Schwermuth“ ist deren erste, und zwar psychische, das Krank-Sein die zweite, und zwar somatische, Folgewirkung. Gut fünfzehn Jahre später schrieb Ludwig Büchner zu Beginn und gegen Ende der biographischen Einleitung zu den Nachgelassenen Schriften seines Bruders: „Er stürzte sich in die Politik, wie in einen Ausweg aus geistigen Nöthen und Schmerzen.“ Und: „Eine heftige Krankheit ließ ihn die erste Trennung von seiner Braut doppelt schmerzlich empfinden, und es war dieselbe Zeit, in der er sich, getrieben von innerer Rastlosigkeit, mit Macht in die revolutionären Umtriebe stürzte.“3 Wieder haben wir eine psychosomatische Erzählung. Ursachen sind jetzt ein Gemisch aus somatischer Krankheit und Trennung von der Geliebten, von „geistigen Nöten und Schmerzen“ sowie „innerer Rastlosigkeit“, die alle zusammen zu der politischen Flugschrift und anderen politischen Aktivitäten geführt hätten. Und noch gleich eine zweite These entwickelte Ludwig Büchner in diesem Zusammenhang: Die Figur des psychisch kranken Lenz in Büchners gleichnamiger Erzählung sei „halb und halb des Dichters eigenes Porträt“.4 Nun wäre eine Erzählung, derzufolge Goethe oder Büchner etwaige psychosomatische Störungen in Texten wie den Leiden des jungen Werthers oder der Lenz-Erzählung kompensieren, nicht weiter problematisch. Dichter – so wissen wir von Thomas Mann und anderen Romantikern – sind empfindlicher und kränklicher als die Gesunden, die Klöterjahn heißen und stark sind in den Hoden und schwach in der Phantasie. Im politischen Bereich gilt eine solche Nobilitierung durch Psychopathologie nicht, denn von einem Menschen, der zum Beispiel einen Krieg erklärt oder die Bauern zur Revolution aufreizt, erwarten wir, dass er gute Gründe und einen klaren Kopf hat und nicht Neurosen kompensiert. So gehört es zu den Gepflogenheiten der Fürstensatire, eine Abfolge herzustellen, die vom verbrannten Kaninchen über die Magenverstimmung des Herrschers zur Kriegserklärung führt, und ebenso gehört es zu den Gepflogenheiten antirevolutionärer Polemiken, politische Empörung durch psychopathologische Ableitungen zu denunzieren. Schon der romantikfeindliche und antirevolutionäre Schriftsteller Julian Schmidt griff 1851 in seiner Rezension der Nachgelassenen Schriften Ludwig Büchners Erzählung von der Vorgeschichte des Hes3

4

Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. [Hrsg. von Ludwig Büchner.] Frankfurt a. M. 1850, S. 5 und 50. Ebd., S. 47.

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sischen Landboten dankbar auf. Büchner, so schrieb Schmidt, wollte offenbar seiner romantischen Zerrissenheit entkommen und trug deshalb die Brandfackeln der Revolution auf die hessischen Dörfer: „[...] eine Revolution heraufbeschwören aus Langeweile und Blasirtheit!! Hamlet-Leonce an der Spitze eines Jacobinerclubbs kommt mir vor wie Nero, als er Rom anzündete, um einen schauerlich schönen Anblick zu haben.“5

Briefe wie im Briefroman Ludwig Büchner belegte seine These vor allem mit Ausschnitten aus fünf, im Winter 1834 verfassten Briefen Georg Büchners an die Straßburger Pfarrerstochter Wilhelmine Jaegle´, mit der Georg insgeheim verlobt war.6 Im ersten Brief, von vermutlich Mitte Januar, schrieb Büchner: „Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben.“ Den zweiten Brief – vermutlich vom Februar – begann er mit: „Ich dürste nach einem Briefe. Ich bin allein, wie im Grabe; wann erweckt mich deine Hand?“ Im dritten – vermutlich um den 10. März – berichtete er von der schon erwähnten achttägigen Krankheit mit Symptomen wie Fieber, Schlafstörungen, „Starrkrampf“ und einem „Gefühl des Gestorbenseins“. Die Briefempfängerin berichtete indes in einem kreuzenden (nicht überlieferten) Brief von ihrer eigenen Krankheit. Hierauf reagierte Büchner im vierten anscheinend etappenweise geschriebenen Brief von Mitte März mit den Worten: „Nimmt dein Unwohlsein eine ernste Wendung, – ich bin dann im Augenblick da.“ Und weiter: „Doch ich schreibe abscheulich, es greift deine Augen an, das vermehrt das Fieber.“ Noch vor Absendung dieses Briefes erhielt er anscheinend schon ihren nächsten Brief, in dem sie sich über seine Krankheitserzählung so erschüttert zeigte, dass Büchner in der zweiten Etappe dieses vierten Briefes schrieb: „Ich wollte, ich hätte geschwiegen. Es überfällt mich eine unsägliche Angst. Du schreibst gleich, doch um’s Himmelswillen nicht, wenn es dich Anstrengung kostet.“ Er endet diesen Brief mit Versen aus dem Gedicht „Die Liebe auf dem Lande“ von Jakob Michael Reinhold Lenz.7 Im fünften Brief ging es dann schon um Wiedersehensfreuden, aber Büchner schrieb auch: „Wie ich hier zusammenschrumpfe, ich erliege fast unter diesem B e w u ß t s e i n .“ In einem späteren Brief Büchners an einen Dritten erfahren wir dann, dass die Braut gerade am „Friesel“ leidet, einem seinerzeit unter elsässischen Frauen grassierenden „Ausbruch von kleinern oder größern hirsekornähnlichen 5 6 7

Julian Schmidt: Georg Büchner. In: Die Grenzboten. Leipzig 1851, S. 121–128. Die folgenden fünf Briefe in MBA X.1, S. 30–36. Büchner kannte das Gedicht vermutlich durch den Erstdruck in Schillers „Musen-Almanach für das Jahr 1798“ (S. 74–79; vgl. MBA X.2, S. 206). In Tiecks Lenz-Ausgabe war das Gedicht nicht enthalten.

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Bläschen auf der Haut“, der von „reichlichem, riechendem Schweiße“ sowie von „Brustbeklemmung, Kurzathmigkeit, Herzklopfen, Ohnmachten, Irrereden, Zuckungen, Taubsein und Kriebeln in den Fingern“ begleitet ist.8 Überliefert sind außerdem drei im Januar 1837 in Zürich geschriebene Briefe, in denen Büchner unter anderem von Erkältung, vorübergehender Bettruhe und dergleichen berichtete. Im Februar 1837 starb er an einer Typhuserkrankung. Ich hatte eingangs gesagt, Briefwechsel hätten einen geringeren semantischen Kohärenzgrad als Romane, muss diese These aber jetzt überdenken. Der Briefwechsel Büchner-Jaegle´ ist so stark durch die Themen Krankheit, Melancholie, Todesphantasien und seelische Erschütterungen bestimmt, dass er im Kohärenzgrad einem Roman durchaus gleichkommt und dass der abschließende Tod geradezu als das letzte konsequente Glied einer umsichtig aufgebauten semantischen Kette erscheint. Manche Biographen haben Büchners Typhustod ebenfalls nach diesem Muster gedeutet, also nach psychosomatischem Muster semantisiert, und umgekehrt hat Patrick Fortmann in einem Aufsatz gezeigt, dass diese Briefe wirken, als bildeten sie Anfang und Ende eines spät-empfindsamen Romans. Er sieht die Briefpartner involviert in die „Inszenierung“ einer „Leidensund Krankengeschichte“9 und als Spieler epistolarer Rollen, wie sie den kulturellen Konventionen entsprachen. Wenn nicht nur der Briefroman das Leben nachbildet, sondern umgekehrt auch die Lebenden den Briefroman, so müssen beide einander natürlich zum Verwechseln ähneln. Ich schlage dagegen vor, die Herstellung dieses Briefromans nicht den Briefpartnern, sondern Ludwig Büchner, dem ersten Editor, gutzuschreiben oder – vielleicht besser – zur Last zu legen, wobei ich übrigens von Ludwig Büchner immerhin annehmen will, dass er sich formal korrekt verhielt und jedes der gedruckt überlieferten Wörter genau so gelesen wie publiziert hat.

Der Editor als Autor Wie schon gesagt, sind aus dem Briefwechsel zwischen Georg Büchner und Wilhelmine Jaegle´ zum einen die letzten drei von Büchner vor seinem Tode geschriebenen Briefe oder wenigstens Bruchstücke daraus überliefert, zum andern fünf Briefe oder Bruchstücke aus dem Gießener Wintersemester 1833/34. Die Überlieferung der drei Briefe aus Zürich erklären wir uns so: Jaegle´ fertigte Abschriften an und sandte sie den Eltern des Verstorbenen als Erinnerungsgabe. Diese Briefe, zu denen sie auch das Datum überlieferte, druckte Ludwig Büchner dann 1850 in seiner biographischen Einleitung zu der Werkausgabe. 8 9

Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk. Leipzig 1838, Bd. II, S. 121. Patrick Fortmann: Büchners Briefe an seine Braut. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81, 2007, S. 405–439, hier S. 405.

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Die Gießener Briefe haben einen anderen Überlieferungsweg. Sie waren bei Büchners Tod selbstverständlich im Besitz der Empfängerin Wilhelmine Jaegle´. Diese suchte 1837 den Schriftsteller Karl Gutzkow für eine Büchner-Werkausgabe zu gewinnen. Gutzkow ging darauf ein, erwog eine Ausgabe mit biographischem Schwerpunkt und verlangte hierfür Briefe oder wenigstens Briefexzerpte, woraufhin Jaegle´ ihm „ein Heft von Briefen“10 schickte. Aus wie vielen Briefen sie dabei wie viel auswählte und wie ihre Auswahlkriterien aussahen, wissen wir nicht. Jedoch können wir sicher sein, dass die Briefe inhaltsreicher waren als die jetzt vorliegende Sammlung, die nur noch persönliche Mitteilungen enthält, denn Gutzkow schrieb: „Die Briefe sind mir vor allem wichtig. Sie sind so zart, so tief! Ich will davon öffentlich nur d a s benutzen, was auf s e i n e Person geht. Für Sonstiges, was sie enthalten, ist die Zeit noch zu jung und frisch.“11 Gutzkow bat dann um Datierungen und sonstige biographische Angaben zu den Briefen. Die sandte Jaegle´ nicht mehr, denn ihr Vater starb in dieser Zeit, und aus Gutzkows Projekt wurde ohnehin nichts. So verblieben die Abschriften in seinem Umzugskram, wurden darin zufällig von Georgs Schwester Luise Büchner gefunden und zum übrigen Darmstädter Nachlass gelegt, wo sie der Bruder Ludwig Büchner vorfand, als er nun seinerseits 1850 eine Werkausgabe vorbereitete. Damit kommen wir zu dem eigentlichen Kompositeur dieser Korrespondenz. Ludwig Büchner bat Wilhelmine Jaegle´ vermutlich um Freigabe der Briefabschriften für den Druck, was sie anscheinend verweigerte. Trotz dieses Publikationsverbots druckte Ludwig Büchner die ihm vorliegenden Auszüge, allerdings – wie er selbst mitteilte – „leider nur zum kleinsten Theile“.12 Fragen wir zunächst, wie groß – im Vergleich zum ganzen Briefwechsel – dieser „kleinste Theil“ denn ist? Büchner lebte zwischen August 1833 und März 1835 über 80 Wochen lang von der Verlobten getrennt. Die letzten aus Zürich geschickten Briefe folgen einander in einer Frequenz von einem Brief pro Woche. Drei vom März 1834 überlieferte Briefe lassen vermuten, dass Büchner auch schon zuvor etwa einmal pro Woche einen Brief schrieb. Er müsste demnach vor März 1835 über 80 Briefe geschrieben haben. Was die Schreibfreudigkeit der Braut angeht, so können wir vermuten, dass sie mindestens so häufig schrieb wie Büchner. So müsste der Briefwechsel in der genannten Zeit 160 Briefe umfassen. Überliefert sind davon fünf und auch diese nur in Bruchstücken. Wir können also auch sagen: Überliefert sind etwa zwei Prozent des gesamten Briefwechsels oder etwa vier Prozent der Briefe Büchners. Ziehen wir 10

11

12

Karl Gutzkow: Götter, Helden, Don-Quixote. Abstimmungen zur Beurtheilung der literarischen Epoche. Hamburg 1838, S. 49 Gutzkow an Jaegle´, 14. September 1837; Goethe- und Schiller-Archiv Weimar. Erstdruck in Ch[arles] Andler (Hrsg.): Briefe Gutzkows an Georg Büchner und dessen Braut. In: Euphorion. Zeitschrift für Litteraturgeschichte. [4. Jg.], 1897, 3. Ergänzungsheft, S. 181–193, hier S. 191 f. Nachgelassene Schriften von Georg Büchner (Anm. 3), S. 50; im Original gesperrt.

Zu einigen Besonderheiten der Briefkommentierung

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nur die zwölf Wochen von Januar bis Ende März, aus denen überhaupt Briefe überliefert sind, in Betracht, so müssten wir mit etwa 12 Briefe rechnen. Von diesen überlieferte Ludwig Büchner dann etwa 40 Prozent, die Gegenbriefe fehlen. Fragen wir weiter, warum Ludwig Büchner sich über Jaegle´s Verbot hinwegsetzte. Der eine (mindere) Grund hierfür war, dass nach seiner Auffassung Georgs Briefe an Wert über dem Woyzeck rangierten und – wie er später meinte – „wohl das Werthvollste des ganzen Nachlasses gewesen sein mögen“.13 Der wichtigere Grund für den Abdruck war, dass Ludwig Büchner meinte, er könne einen zentralen Teil der Biographie des Bruders nur mit Rückgriff auf die Brautbriefe verständlich machen. Er konnte sich nämlich nicht erklären, warum Büchner etwas so Unvorsichtiges wie den Hessischen Landboten habe schreiben können, und die Briefe schienen ihm hierfür der Schlüssel. Wie wir alle behalf er sich angesichts des schwer Erklärlichen mit Psychologie, und zwar wie üblich zum Nachteil des Betroffenen. So entwickelte er die schon skizzierte psychosomatische Erzählung, die er mit den gedruckten Briefexzerpten belegte. Der Anschein semantischer Kohärenz, den die Briefe erwecken, ist damit im Wesentlichen erklärt. Wenn diese Briefe wirken, als seien sie „eine Inszenierung als Leidens- und Krankengeschichte“,14 und wenn sie so erstaunlich frei sind von Bezügen auf die Welt außerhalb des Leidens zweier Liebender, so liegt das an dem Verfahren Ludwig Büchners. Dieser wählte aus den Briefen nur dasjenige aus, was zu seiner These passte. Infrage steht damit der eigentliche Status dieser Texte. Sie kommen daher als Teil eines Briefwechsels, sind aber tatsächlich eine Zitatensammlung zum Beleg einer biographischen These. Nehmen wir an, Goethes Faust sei als Ganzes verloren und überliefert seien uns nur FaustZitate im Aufsatz eines Germanisten der 1930er Jahre, der die Parteilichkeit des Faust für die Reinerhaltung der germanischen Rasse nachweisen wollte. Hätten wir dann eine Chance, diese These in Frage zu stellen? Die Situation, die Ludwig Büchner mit seiner Briefauswahl geschaffen hat, ist weniger dramatisch, aber doch vergleichbar, und es stellt sich die Frage, ob wir genötigt sind, Ludwig Büchners These auf Treu und Glauben anzunehmen, oder ob wir sie in ihrer Geltung einschränken und vielleicht widerlegen können. Ich zeige im Folgenden zwei Kommentierungsschritte: der erste ist ein Abgleich des in den Briefen Mitgeteilten mit anderen uns vorliegenden biographischen Informationen; der zweite ist ein Abgleich der in den Briefen verwendeten Wörter mit den verfügbaren Text-Thesauren.

13

14

So überliefert durch Hans Landsberg: Ein Frühverstorbener. In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde, 13. Jg., Heft 8, 15. Januar 1911, S. 7; vgl. Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. Königstein/Ts. 1985 (Büchner-Studien. 2), S. 299. Fortmann 2007 (Anm. 9).

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Abgleich mit der Realität Über Goethes Werther wissen wir nichts, außer was uns Goethe mitteilt. Ein Abgleich des Gesagten mit der Realität scheidet aus. Über Goethes Egmont wissen wir, dass sein historisches Vorbild zur Zeit der Hinrichtung kein jugendlicher Held, sondern ein 46 Jahre alter Mann war, der 12 Kinder im Ehebett gezeugt hatte. Ein Vergleich ist also möglich und hilfreich für die Einschätzung von Goethes Umgang mit den Gesetzen des historischen Dramas, aber ohne großen Belang für die Einschätzung der Dramenhandlung. Wenn Büchner den Eltern von einer in Gießen laufenden „Untersuchung wegen der Verbindungen“ berichtete und schrieb: „die Relegation steht wenigstens dreißig Studenten bevor“,15 so können wir diese Aussage überprüfen und stellen fest, dass keine Relegationen nachweisbar sind und Büchner sich also wohl irrte.16 Die Beurteilung subjektiver Aussagen über Erkrankungen – und noch dazu über psychische – ist mit dieser Genauigkeit nicht möglich. Erläuterungen der Umstände, unter denen Büchner seine Aussagen machte, können dennoch hilfreich sein. Beginnen wir mit der Frage, warum Büchner der Braut überhaupt von seinen psychischen und sonstigen Leiden berichtete? Er reagierte damit in erster Linie auf ihre mahnend-besorgten Briefe über eine Störung im Rhythmus der Korrespondenz. So schrieb er Mitte Januar: „Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben.“ Und Anfang März schrieb er: „Mein Schweigen quält dich wie mich, doch vermochte ich nichts über mich.“17 Ein Liebhaber psychosomatisch orientierter semantischer Ketten reagiert natürlich mit der Bemerkung: zwei Schreibblockaden in knapp zwei Monaten – wenn das nur nicht auf Depression deutet! So geht es mit serienweisem Unglück. Wenn ich anderen erzähle, dass ich vorgestern meine teure Gleitsichtbrille zerbrochen habe, dann zeigt man mir Mitgefühl; wenn ich erzähle, damit zerbreche mir nun schon die dritte Brille in vier Wochen, dann entwickelt man Hypothesen zu meinem mentalen Zustand. Oder in den Worten einer Figur in Oscar Wildes Komödie The Importance of Being Earnest: „To lose one parent may be regarded as a misfortune; to lose both looks like carelessness.“ Suchen wir aus diesem Zirkel psychosomatischer Semantisierung einen Ausweg und fragen wir, wie der Briefschreiber denn diese „Schreibblockaden“ aus seiner Sicht erklärte. Die vom Januar führte Georg auf eine Erschütterung zurück, in die ihn eine Lektüre zur Geschichte der Französischen Revolution versetzt habe. Diese Lektüre, so ließ er erkennen, hatte zur Folge, dass er zwar noch einem Straßburger Freund, nicht aber der Geliebten schreiben konnte.18 Warum konnte er dem Freund schreiben, 15 16 17 18

Brief vom 19. März 1834; MBA X.1, S. 37. Vgl. MBA X.2, S. 208 f. MBA X.2, S. 30 und 33. MBA X.2, S. 31: „B. wird dich über mein Befinden beruhigt haben, ich schrieb ihm.“

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der Braut aber nicht? Der Grund hierfür war wohl, dass jeder Brief an die Braut wie ein Blumenstrauß daherkommen musste. Wir wollen also die „Schreibblockade“ vom Januar – medizinisch gesehen – nicht allzu ernst nehmen; sie beschränkte sich anscheinend darauf, dass Büchner einen seinen hohen Standards entsprechenden Brautbrief nicht zustande brachte, während er mit anderen durchaus korrespondieren konnte. Die nächste Unterbrechung der Korrespondenz fiel anscheinend in den März. Büchner erklärte sie durch einen achttägigen Fieberanfall. Er schrieb: „Der erste helle Augenblick seit acht Tagen. Unaufhörliches Kopfweh und Fieber, die Nacht kaum einige Stunden dürftiger Ruhe. Vor zwei Uhr komme ich in kein Bett, und dann ein beständiges Auffahren aus dem Schlaf und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne vergehen. [...] Eben komme ich von draußen herein. Ein einziger, forthallender Ton aus tausend Lerchenkehlen schlägt durch die brütende Sommerluft“.19 Und woher rührte der Fieberanfall? Büchner erklärte ihn, wie schon gesagt, vier Wochen später gegenüber den Eltern psychosomatisch, nämlich als Folge von „Kummer und Widerwillen“. Viele Büchner-Biographen sind dem gefolgt und vermuten hieran anschließend eine über Monate fortlaufende schwere Depression. Der Skeptiker wird einwenden, dass Büchner nur von einem einwöchigen Fieber mit Kopfschmerzen und Schlafstörungen bei anscheinend föhnartigem Wetter berichtet und dass derartige Frühjahrsfieber auch heute – mehr als 110 Jahre nach der Patentierung des Aspirins – immer noch häufig auftreten. Büchner hatte – so bemerkte Thomas Michael Mayer sarkastisch – in den acht Krankheitstagen „vielleicht Grippe oder d[en] Pips“.20 Bei aller Skepsis aber bleibt die Tatsache, dass Büchner selbst im brieflichen Rückblick auf die letzten Wochen nicht von „Grippe“ oder „Pips“ sprach, sondern den Eltern schrieb: „doch war ich in tiefe Schwermuth verfallen [...]. Kummer und Widerwillen machen mich krank.“21 Betrachten wir also, um der Sache auf den Grund zu kommen, auch noch diesen Brief an die Eltern von Ende März. Büchner verfasste ihn und die darin enthaltene Selbstdiagnose „in tiefe Schwermuth verfallen“ in folgender Situation: Die Semesterferien begannen in Gießen am Sonntag, dem 23. März, und es war vereinbart, dass Büchner am Sonntagabend in Darmstadt eintreffen werde. Tat er aber nicht, sondern er erbettelte sich mit einer Lüge von einem Onkel 30 Gulden, fuhr mit dem Geld an Darmstadt vorbei direkt nach Straßburg zu der Geliebten und überraschte die Eltern am 29. März, also nach sechstägigem Abtauchen, mit einem Schreiben aus Straßburg, in dem er seine dortige Ankunft und vor allem seine Verlobung 19 20

21

MBA X.2, S. 33. Thomas Michael Mayer: Jan-Christoph Hauschilds Büchner-Biographie(n). Einwendungen zu Methode, Ergebnissen und Forschungspolitik. In: Georg Büchner Jahrbuch, Bd. 9 (1995–1999), 2000, S. 393. Vgl. Anm. 2.

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mit der den Eltern völlig unbekannten Pfarrerstochter Jaegle´ bekanntgab. Nehmen wir hinzu, dass das Großherzogtum ein Polizeistaat war, dass der zwanzig Jahre alte Büchner zur militanten Opposition gehörte und dass die Eltern in steter Sorge um seine Sicherheit lebten, und wir werden vielleicht verstehen, dass der Vater „in der äussersten Erbitterung“ auf diesen Brief reagierte,22 bevor er sich dann wieder beruhigte. Ich will nicht sagen, dass Büchner mit seiner psychosomatischen Erzählung die Unwahrheit sagte, aber doch zu bedenken geben, dass er diese Erzählung auch deshalb wählte, weil sie sich besser zur Rechtfertigung seines skandalösen Verhaltens eignete als die Sätze: Ich war in Gießen todunglücklich und dazu kam noch Anfang März eine virale Grippe.

Intertextuelle Thesaurus-Recherchen Wir haben die Briefbände – wie meist auch die übrigen Bände der Ausgabe – in einem arbeitsteiligen Verfahren hergestellt. Gerald Funk verantwortet den Text, Tilman Fischer die Erläuterungen, ich selbst den Editionsbericht. Jeder Mitarbeiter arbeitet selbstständig. Dieses arbeitsteilige Verfahren führt gelegentlich zu Widersprüchen, und zwar nicht weil wir unterschiedliche Subjekte sind, sondern weil jedes Verfahren seine eigene Methodik und Logik hat und jeder Mitarbeiter dieser Logik folgt. Wenn der Bearbeiter der Erläuterungen, um den Textsinn bemüht, feststellt, eine Stelle müsse so lauten, während der Textbearbeiter eine andere Lesung anbietet, müssen wir den Widerspruch abarbeiten, mit dem Ergebnis, dass entweder einer der Kontrahenten seine Ansicht revidiert oder aber der Widerspruch als nicht auflösbar an geeigneter Stelle protokolliert wird. In den hier diskutierten Fällen war wenig zu „lesen“, denn die Brieffragmente liegen nur in Drucküberlieferung vor, jedoch ergaben sich Widersprüche zwischen den eben skizzierten und im Editionsbericht dargestellten Recherchen zu den Entstehungsumständen und den Selektionsprozessen der Überlieferung auf der einen Seite und den Recherchen, auf denen die Stellenerläuterungen basieren, auf der anderen Seite. Seit Beginn unserer Arbeiten gleichen wir alle Texte Büchners systematisch, sozusagen nur auf Verdacht, mit den verfügbaren Textthesauren ab in der Absicht, auf diese Art – also durch die Ermittlung gleicher Wörter in anderen Texten – die zeitgenössische Bedeutung, die etwaige Zitatkodierung oder auch nur die Diskurszugehörigkeit von Begriffen und Wendungen zu bestimmen. Im zweiten nachchristlichen Millenium waren unsere Thesauren das Grimmsche Wörterbuch und unsere eigene Belesenheit, später außerdem die CD-Rom Von Lessing bis Kafka, im dritten Millenium vertrauen wir uns Google-Books an. Dieser Thesaurus bietet den immensen Vorteil, dass er 22

So der von dem Vater kontaktierte Straßburger Cousin Edouard Reuss in seinen handschriftlichen „Erinnerungen aus meinem Leben“ (Bd. 3, S. 181; vgl. Hauschild 1985 [Anm. 13], S. 325. Vgl. auch MBA X.2, S. 78).

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Zu einigen Besonderheiten der Briefkommentierung

zwei für germanistische Recherchen und für Thesauren wie das Grimmsche Wörterbuch typische Begrenzungen aufsprengt. Weder respektiert er die Hierarchien des Kanons noch räumt er literarischen oder philosophischen Texten Vorrang ein vor theologischen, juristischen, naturwissenschaftlichen oder auch tagespolitischen. Gerade für Briefkommentierungen ist dies ein nicht zu unterschätzender Gewinn. Mithilfe der Thesaurusrecherchen konnten wir bei Büchners Lenz ermitteln, wie sich dieser Text zur zeitgenössischen Melancholiediskussion verhält und welche Variante von Melancholie Büchner bei der Niederschrift der Erzählung vermutlich im Sinn hatte. Beim Hessischen Landboten überprüften wir ebenso, auf welche liberalen oder revolutionären, deutschen oder französischen Traditionen bestimmte Textsegmente verweisen. Nach diesem Muster haben wir auch die Brieftexte durch die Mühle von Google-Books getrieben. Kommentierungsverfahren im Allgemeinen und dieses im Besonderen sind vergleichsweise „ergebnisoffen“. Während der Verfasser des Editionsberichts gehalten ist, eine halbwegs kohärente – zum Beispiel genetische – „Erzählung“ zu liefern, arbeitet der Kommentator an punktuellem Textmaterial, das in der Regel noch nicht einmal einen ganzen Satz erfasst. Auch kann er nicht voraussagen und nicht beeinflussen, was ihm die Suchmaschine auf seine intertextuelle Anfrage hin anbieten wird. Die Ergebnisse dieser von Tilman Fischer durchgeführten Recherche lege ich im Folgenden kommentarlos vor. Die Sätze oder Satzfragmente in der linken Spalte stammen aus den fünf Briefen Büchners an Wilhelmine Jaegle´, die in der rechten Spalte stammen aus psychiatrischer Fachliteratur der 1820er bis 1840er Jahre.23 nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben

„Trotz aller Anstrengung ist der Kranke ausser Stande, gehörig nachzudenken, zu einem Resultate zu kommen, oder dieses in angemessene Worte zu fassen, und wenn er auch innerlich recht gut weiss, was er sagen oder schreiben will, so bemüht er sich vergebens, die Gedanken zu Tage zu fördern, passende Ausdrücke, Worte und Wendungen dafür zu finden“ (Busch u. a.)

Ich bin ein Automat

„Seine Existenz war die Existenz eines Automaten“ (Hoffbauer)

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Die Liste findet sich etwas ausführlicher und mit genauen bibliographischen Angaben in MBA X.2, S. 56–58.

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wenn man nur in einem Punkt leben kann und wenn man davon gerissen ist, und dann nur noch das Gefühl seines Elendes hat

„2) Melancholia erotica – eine durch unglückliche Liebe und Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Gegenstande derselben, begründete und unterhaltene Schwermuth die sich gern mit fixen Ideen verbindet“ (Busch u. a.)

in neuen Zeiten kann ich kaum Jemand starr anblicken, ohne daß mir die Thränen kämen. Es ist dies eine Augenwassersucht, die auch beim Starrsehen oft vorkommt.

„der Blick der Augen ist trübe, matt, unstät, scheu, oder starr, gräßlich; es findet oft unwillkührliches Weinen Statt“ (Conradi)

die Nacht kaum einige Stunden dürftiger Ruhe

„die oft ganz schlaflosen Nächte“ (Ideler)

Starrkrampf

„Starrkrampf des Geistes“ (Ideler)

Alle Menschen machten mir das hypokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs

„Es ist, als ob der Melancholische nur Leichenzüge, die bleichen Gespenster des Elends und der Noth vor sich erblickt“ (Ideler); „In dem blühendsten Antlitz der Seinigen sieht er den Tod“ (Ideler)

Alles verzehrt sich in mir selbst

„in leerer Sehnsucht wie an einem ungestillten Heißhunger sich verzehren“ (Ideler)

Wie ich hier zusammenschrumpfe

„Die Seele [...] schrumpft in sich zusammen“ (Ideler)

Ich hätte Herrn Callot-Hoffmann sitzen können, nicht wahr, meine Liebe?

„Zuweilen äussert er selbst einen gewissen sarkastischen Witz, in welchen er die Bitterkeit seiner Gefühle, die Pein der Selbstverachtung einkleidet“ (Ideler)

Unaufhörliches Kopfweh

„Kopfschmerzen sind besonders häufig“ (Hufeland; Busch u. a.)

Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne vergehen

„ein ununterbrochener Strom von Ideen“ (Busch u. a. XXII); „Ideenjagd oder Ideenflucht [...], so daß sich

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Zu einigen Besonderheiten der Briefkommentierung

eine grosse Menge und Mannigfaltigkeit von trüben und schmerzlichen Bildern und Vorstellungen in chaotischer Verwirrung im Bewusstsein drängen und treiben, und das Ergreifen und Festhalten eines bestimmten Gedankens unmöglich machen.“ (Busch u. a.) Meine geistigen Kräfte sind gänzlich zerrüttet

„völlige Zerrüttung des Verstandes [...]“ (Busch u. a.)

Arbeiten ist mir unmöglich

„klagt über [...] Unvermögen zu Arbeit und Thätigkeit“ (Busch u. a.)

ein dumpfes Brüten hat sich meiner bemeistert

„vor sich hinbrütend und in seine eignen Gedanken versenkt“ (Busch u. a.); „Der Melancholische [...] versenkt [...] sich in ein dumpfes Brüten“ (Umbreit)

kaum ein Gedanke noch hell

„in seinem verdüsterten Bewusstsein wie in einem verlöschenden Dämmerlichte“ (Ideler); „die ganze Welt erscheint ihm in finsterem Lichte, und [...] trüben Gedanken“ (Busch u. a.)

hätte ich einen Weg für mein Inneres [...] Schmerz [...] Freude [...] Seligkeit

„indem alle Triebe gleichsam nach innen gekehrt sind, und mehr oder weniger im Innern verschlossen bleiben“ (Busch u. a.)

Stummsein

„In den höheren Graden der Melancholie verstummt der Kranke gänzlich, spricht Wochen und Monate lang keine Sylbe“ (Busch u. a.)

ich sehe dich in jedem Traum

„Oft wird der Kranke durch Träume in seine Heimath und den Kreis geliebter Personen versetzt, um beim Erwachen in eine desto tiefere Traurigkeit zu versinken.“ (Busch u. a.)

Fieber

„in manchen Fällen, namentlich nicht selten bei Heimweh und der Schwermuth der Verliebten (Erotomania) ver-

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fallen die Kranken in ein nervöses Fieber“ (Baumgärtner) beständiges Auffahren aus dem Schlaf

„Dagegen haben sie oft einen unruhigen, durch häufiges Auffahren und schreckhafte Träume unterbrochenen Schlaf“ (Conradi)

Gefühl des Gestorbenseins

„In der apathischen Melancholie (M. attonita) scheint der Kranke für alle Gefühle wie abgestorben“ (Flemming)

Ich will hier von dem Privileg des Kommentators, der ja keine kohärente Erzählung oder stringente Thesen vorlegen muss, Gebrauch machen und beschränke mich darauf, einige der Erklärungsmöglichkeiten für diese unseres Erachtens auffälligen Übereinstimmungen der Brieftexte mit der Fachliteratur anzudeuten. 1. Büchner kannte die psychiatrische Literatur nicht und beschrieb seine Erfahrungen zufällig mit denselben Wörtern, die auch die Fachleute Idler, Busch und andere gebrauchten. 2. Büchner übte sich in den Briefen an künftigen literarischen Projekten, las dazu vorbereitend die Fachliteratur und übernahm aus ihr (bewußt oder nicht) die Wörter zur Beschreibung seiner Erfahrungen. Tatsächlich übernahm er einige Elemente aus diesen Briefen in seine literarischen Werke Danton’s Tod und Lenz. 3. Büchner maskierte sich in diesen Briefen spielerisch als Schwermütiger. Diesen spielerischen Charakter offenbarte er mit den Worten: „Und doch bin ich gestraft, ich fürchte mich vor meiner Stimme und – vor meinem Spiegel. Ich hätte Herrn Callot-Hoffmann sitzen können, nicht wahr, meine Liebe? Für das Modelliren hätte ich Reisegeld bekommen. Ich spüre, ich fange an, interessant zu werden.“24 In der Edition haben wir den sonst ungewöhnlichen Weg gewählt, die oben gebotene Liste aus dem Stellenkommentar, wo die Übereinstimmungen nur punktuell hätten vermerkt werden können, auszugliedern und sie stattdessen im 24

Brief etwa 8. März 1834; MBA X.1, S. 34.

Zu einigen Besonderheiten der Briefkommentierung

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Editionsbericht als zusammenhängendes Ganzes und zugleich als Kommentierungsproblem darzustellen. Wir protokollieren damit gleichzeitig den Widerspruch, der sich zwischen den anfangs präsentierten Recherchen zu Textgenese und Textüberlieferung einerseits und den eben dokumentierten IntertextualitätsRecherchen andererseits ergeben hatte. Ihn aufzulösen sei anderen überlassen.

Ulrike Leuschner Vom Brief zum Werk. Kongruenzen und Divergenzen der Präsentation und Kommentierung am Beispiel der Merck-Edition

1. Einleitung, anekdotisch: Ich zitiere aus Harald Freibergers Glosse Hurra, die neue Software kommt! Warum Entwickler und Anwender von Software und Computersystemen niemals zueinanderfinden werden in der Süddeutschen Zeitung vom 26. September 2011: „Was im richtigen Leben die Beziehung zwischen Mann und Frau ist, ist im Arbeitsleben die Beziehung zwischen Software-Entwickler und SoftwareAnwender: ein Verhältnis, das geprägt ist von tiefem gegenseitigen Unverständnis und – wenn es ganz schiefläuft – auch von großer Abneigung.“1

2. Einleitung, literarhistorisch: Im „Jahrhundert des Briefs“ ist die Grenze zwischen Brief und Werk durchlässig. Briefe als persönliche Nachrichten eines Schreibers an einen Empfänger überschreiten die Grenzen der rein privaten Mitteilung auf zweifache Weise: Zum einen werden sie im Zeichen des Freundschaftskultes der internen Öffentlichkeit geselliger Zirkel kommuniziert. Zum anderen profitiert die florierende Gattung des Publikationsbriefes von dem epistolaren Merkmal der Vorläufigkeit und Vertraulichkeit. Unter dem Vorwand eines ergebnisoffenen subjektiven Gesprächs kann hier vieles geäußert werden, was dem Zugriff stringenter Kritik entzogen werden soll.

I. Briefausgabe, Werkausgabe Der Edition der Werke Johann Heinrich Mercks, die in einem Drittmittelprojekt2 an der Technischen Universität Darmstadt gerade in Arbeit ist,3 ging die Aus1

2

Harald Freiberger: Hurra, die neue Software kommt! Warum Entwickler und Anwender von Software und Computersystemen niemals zueinanderfinden werden. In: Süddeutsche Zeitung vom 26. 9. 2011. Finanziert durch die Merck’sche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, hat die Forschungsstelle Merck den Auftrag, die Werke Mercks in Buchform zu edieren.

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Ulrike Leuschner

gabe von dessen Briefwechsel voraus.4 Dies ist schon deshalb von Vorteil, weil durch die Kommentierung der Briefe das schriftstellerische Werk Mercks in seiner Gesamtheit wie im Detail fassbare Konturen erhielt. An einigen Stellen ergeben sich Überschneidungen zwischen Brief und Werk, so im Falle von vier empfindsamen Gedichten,5 einer Fabel,6 einer Verssatire7 und einem Reisebericht,8 die, datiert und adressatenbezogen, in doppelter Funktion auftreten und in beiden Ausgaben zum Abdruck gelangen. Ausschließlich als Werke dagegen werden die großen Essays und Studien bewertet, die Merck in epistolarer Form verfasst hat, als Briefe „An den Herausgeber des T. M.“9 – an Wieland, den Herausgeber des Teutschen Merkur (in den 3

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Bereits erschienen: Johann Heinrich Merck: Gesammelte Schriften. Bd. 1: 1760–1775. Bd. 3: 1776–1777. Beide Bände hrsg. von Ulrike Leuschner unter Mitarbeit von Ame´lie Krebs. – Fortan: MGS. Johann Heinrich Merck: Briefwechsel. Hrsg. von Ulrike Leuschner in Verbindung mit Julia Bohnengel, Yvonne Hoffmann und Ame´lie Krebs. 5 Bde. Göttingen 2007. – Fortan: MBW. „Antwort“: MGS 1, S. 100 f., Druck nach dem Gedichtheft (ebd., S. 402–405); zweite Fassung: MBW 1, S. 173 f., ohne Titel [„Der du sendest aus der Schmertzenhöle“], an Johann Gottfried Herder, Darmstadt, Ende Oktober 1770, Druck nach einer Separatabschrift im Herder-Nachlass, Krako`w, Biblioteka Jagiellon´ska, ehemals Staatsbibliothek Berlin. – „An HErrn LeibMed. L. den 8ten Jan. 1771.“: MGS 1, S. 95 f.; MBW 1, S. 189 f., an Johann Ludwig Leuchsenring, Darmstadt, 8. Januar 1771, beide Drucke nach dem Gedichtheft. – „den 18ten Jan. Bey einer Schlittenfahrt. An ... Ballade“: MGS 1, S. 96–98, Druck nach dem Gedichtheft; zweite Fassung: MBW 1, S. 197–199 [„Ballade den 16t Jan. 1772“], an Karoline Herder, Darmstadt, 17. Januar 1771, Druck nach einer Separatabschrift im Herder-Nachlass, Krako`w, Biblioteka Jagiellon´ska, ehemals Staatsbibliothek Berlin. – „An Psyche. den 25ten August“: MGS 1, S. 128; MBW 1, S. 330, an Karoline Flachsland, Darmstadt, 25. August 1772, beide Drucke nach einem Autograph im Herder-Nachlass, Krako`w, Biblioteka Jagiellon´ska, ehemals Staatsbibliothek Berlin. „Die beyden Baumeister“: MGS 1, S. 68 f., Druck nach dem Fabelheft (siehe ebd., S. 350–353); MBW 1, S. 218 f., Druck nach einer Separatabschrift im Herder-Nachlass, Krako`w, Biblioteka Jagiellon´ska, ehemals Staatsbibliothek Berlin. „Paroxismus von gestern Abend den 9ten Jun. 1776. An Wieland.“: MGS 3, S. 17–21; MBW 1, S. 656–659, an Christoph Martin Wieland, Darmstadt, etwa 20. Mai 1776, beide Drucke nach einer eigenhändigen Abschrift Mercks im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur 25/XXXIV, 14.2, „Tiefurter Späße“, „Merckiana“, aus Goethes ehemaligem Konvolut „Varia Conservanda“ (siehe MGS 3, S. 195 f.). „Reise Journal den 13ten July 1779“: MBW 2, S. 242–250, an Luise von Göchhausen, 13. bis 22. Juli 1779, Druck nach einer Abschrift der Empfängerin im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Signatur 24/I,2, danach aufzunehmen in MGS 5. An den Herausgeber des T. M. [Ueber Kunst und Künstler]. In: TM 1777 III, S. 49–59, MGS 3, S. 109–113; Ueber die Landschaft-Mahlerey, an den Herausgeber des T. M. In: TM 1777 III, S. 273–280, MGS 3, S. 114–118; Aus einem Schreiben an den H. über die Frage: wie eine Kupferstichsammlung anzulegen sey? In: TM 1778 II, S. 170–175, MGS 4, in Vorbereitung; Eine mahlerische Reise nach Cöln, Bensberg und Düsseldorf. Auszüge aus Briefen an den Herausgeber. In: TM 1778 III, S. 113–128, MGS 4, in Vorbereitung; An den Herausgeber des T. Merkurs. [Ueber den engherzigen Geist der Deutschen im letzten Jahrzehend]. In: TM 1779 II, S. 25–36; Ueber einige Merkwürdigkeiten von Cassel. Aus einem Schreiben an den Herausgeber des T. M. In: TM 1780 IV, S. 216–229; An den Herausgeber des T. M. [Errichtung eines Poetenstifts]. In: TM 1781 II, S. 139–146; Ueber die Schwierigkeit, von der Kunst der Alten, besonders in geschnittenen Steinen, aus Büchern zu urtheilen. An den Herausgeber des T. M. In: TM 1781 II, S. 216–226; An den Herausgeber des T. Merkurs. [Über die Entstehungsbedingungen von Kunstwerken]. In: TM 1781 III, S. 179–185; Ueber den Styl. An den Herausgeber des T.

Vom Brief zum Werk. Kongruenzen und Divergenzen der Präsentation und Kommentierung

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Anmerkungen zitiert als TM) –, an die Weimarer Herzogin Anna Amalia, die Merck 1778 auf einer Kunstreise den Rhein hinab begleitete,10 an den Düsseldorfer Galeriedirektor Lambert Krahe,11 aber auch als „Lettres“ oder „Schreiben“ an den Petersburger Naturforscher Karl Friedrich von Kruse,12 an Georg Forster13 oder an den Münzsammler Alexander von Seckendorff.14 Hier stehen die Adressaten stellvertretend für ein Publikum, die persönliche Nachricht weitet sich auf die Öffentlichkeit hin aus. Mehr noch als die drei Erzähltexte Geschichte des Herrn Oheims,15 Eine Landhochzeit16 und Akademischer Briefwechsel17 zeigen die Briefessays die Funktion von Epistolarität auf: Macht sich der Roman, die bürgerliche Epopöe, als Briefroman den spezifischen Gefühlstransfer des privaten Briefs zu eigen, so gestattet in den Briefessays die sich als private Mitteilung gerierende Form Aussagen im Vorfeld wissenschaftlicher Disziplinen, die sich erst auszudifferenzieren beginnen. Die Hybridisierung der Gattungen erweist sich geradezu als Merkmal von Mercks Schreiben. Die Gattungsgrenzen sind fließend: Rezensionen, einige mit

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Merkurs. In: TM 1781 III, S. 263–269; An den Herausgeber des T. M. über den Ursprung der Fossilien, in Teutschland. In: TM 1784 I, S. 50–63; Auszüge aus einer wenig bekannten Camperischen Schrift. An den Herausgeber des T. Merk. In: TM 1785 I, S. 24–41, Fortsetzung und Schluss S. 193–210; Auszug aus einem Schreiben eines Reisenden an den Herausgeber dieses Journals. [Über das Paris der Revolutionszeit]. In: Neuer Teutscher Merkur 1791, Bd. 1, S. 417–422. Briefe über Mahler und Mahlerey an eine Dame. In: TM 1779 IV, S. 31–40, Fortsetzung und Schluss S. 104–112; An die Herausgeber des T – r Journals. In: Journal von Tiefurt, 4. St. vom 3. September 1781, handschriftlich verbreitet; vgl. Jutta Heinz, Jochen Golz (Hrsg.): „Es ward als ein Wochenblatt zum Scherze angefangen“. Das Journal von Tiefurt. Unter Mitarbeit von Cornelia Ilbrig, Nicole Kabisius und Matthias Löwe. Göttingen 2011, S. 77–79. Schreiben eines Freundes der Kunst an den Herrn Gallerie Director Krahe in Düsseldorf, die Beleuchtung eines Gemähldes vorzüglich betreffend. In: TM 1782 III, S. 223–234. Die ersten beiden der sogenannten Knochenbriefe, erschienen in Mercks Eigenverlag: LETTRE A MONSIEUR DE CRUSE, Conseiller d’Etat & Premier Mede´cin de S. A. I. Monseigneur le Grand-Duc de toutes les Russies. SUR LES OS FOSSILES D’E´LEPHANS ET DE RHINOCEROS QUI SE TROUVENT DANS LE PAYS DE HESSE-DARMSTADT. Darmstadt 1782; SECONDE LETTRE A MONSIEUR DE CRUSE, Conseiller d’Etat actuel et Premier Mede´cin de S. A. J. Monseigneur le Grand-Duc de toutes les Russies. SUR LES OS FOSSILES D’ELEPHANS ET DE RHINOCEROS QUI SE TROUVENT EN ALLEMAGNE ET PARTICULIEREMENT DANS LE PAYS DE HESSE-DARMSTADT. Darmstadt 1784. Der dritte Knochenbrief: TROISIEME LETTRE SUR LES OS FOSSILES D’ELEPHANS ET DE RHINOCEROS QUI SE TROUVENT EN ALLEMAGNE ET PARTICULIEREMENT DANS LE PAYS DE HESSE-DARMSTADT. ADDRESSEE A MONSIEUR FORSTER, Conseiller prive´ de S. Majeste´ Polonaise et Professeur d’histoire naturelle de l’Universite´ de Wilna en Lithuanie. Darmstadt 1786. Schreiben an den Herrn Baron von S. in B. über einige höchst seltne antike Münzen. In: Hessische Beiträge für Gelehrsamkeit und Kunst 1, 1785 [recte: 1784], S. 31–35. Geschichte des Herrn Oheims. In: TM 1778 I, S. 30–48, fortgesetzt S. 151–172, TM 1778 II, S. 51–65 und S. 212–227, TM 1778 IV, S. 27–37, Schluss TM 1778 IV, S. 239–248 [recte: 241–250]; MGS 4, in Vorbereitung. Eine Landhochzeit. In: TM 1779 IV, S. 193–207. Akademischer Briefwechsel. Erster Heft. In: TM 1782 II, S. 101–117; Zweyter Heft. In: Ebd., S. 220–232; Dritter Heft. In: TM 1782 III, S. 47–58; Vierter Heft. In: Ebd., S. 116–128.

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fingierten Briefschreibern,18 lösen sich vom engen Gegenstand hin zu grundsätzlichen Aussagen, Essays werden fiktionalisiert19 oder dialogisch inszeniert,20 belletristische Texte enthalten im Geiste der Spätaufklärung intentionale Passagen. Die literarhistorische Kontextualisierung bestimmt die editorische Vorgehensweise. An der Etablierung des emphatischen Werkbegriffs der Genieästhetik war Merck unmittelbar beteiligt – im November 1772 und vordatiert auf 1773 erschien in seinem Darmstädter Eigenverlag mit Goethes hymnischer Abhandlung Von Deutscher Baukunst deren erster programmatischer Text, gefolgt im Juni vom Götz von Berlichingen. Gleichwohl stand Merck dem Geniekult skeptisch gegenüber. Sein Schreiben verdankt sich weitgehend dem pragmatischen Tagesgeschäft und lässt sich in abgrenzbare Perioden gliedern. Die ersten größeren Arbeiten sind Mitte der 1760er Jahre drei am Bedarf des Buchmarkts ausgerichtete Übersetzungen sehr unterschiedlicher englischer Werke.21 Erste eigene Dichtungen sind, angeregt von Gellert, dessen Vorlesungen Merck im Sommersemester 1764 besucht hatte, Fabeln, von denen 1769 mehr als 80 in einem Heft versammelt waren.22 Die ,Darmstädter Empfindsamkeit‘ 1771–1773 verführte Merck zum Abfassen sentimentaler Gedichte und Bardiete,23 damit einher gingen Nachdichtungen englischer Romanzen aus Percys Anthologien Reliques of Ancient English Poetry.24 Auch zu diesen beiden Werkbestandteilen existieren Sammelhefte. In den Jahren bis etwa 1782 erkundete Merck die Literatur seiner Zeit in ihrer ganzen Breite und wurde zu deren vielseitigstem Rezensenten. Nach der Schriftleitung des schon bei den Zeitgenossen berühmten 1772er Jahr18

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Schreiben eines Landedelmanns über eine Stelle aus dem dritten Theil der Könige von Scheschian. an Herrn R. R. L. M. in A. In: TM 1778 IV, S. 47–54 (MGS 1, S. 139–142); Ohne Titel [Über Herders „Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts“], MGS 1, S. 219–225. An den Herausgeber des T. Merkurs. W. im Frankenlande den 20sten October 1781 [über Kameralistik]. In: TM 1781 IV, S. 236–253; Schreiben eines Landedelmanns aus dem Pais de Vaud. In: TM 1780 III, S. 177–183; Antwortschreiben auf den Brief des Landedelmanns aus dem Pais de Vaud [über Kulturpolitik]. In: TM 1780 IV, S. 17–25. Ueber die Schönheit. Ein Gespräch zwischen Burke und Hogarth. In: TM 1776 I, S. 131–141; MGS 1, S. 7–13; Ein Gespräch zwischen Autor und Leser. In: TM 1780 II, S. 51–57; Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in * *. In: TM 1781 IV, S. 167–178. – [Fortsetzung] Beschluß des Gesprächs in der Gallerie zu * *. In: TM 1781 IV, S. 261–270. Franz Hutchesons, der Rechte Doctors und der Weltweisheit Professors zu Glasgow, Untersuchung unsrer Begriffe von Schönheit und Tugend in zwo Abhandlungen. I. Von Schönheit, Ordnung, Uebereinstimmung und Absicht. II. Von dem moralischen Guten und Uebel. Aus dem Englischen übersetzt. Frankfurt und Leipzig, in der Fleischerischen Buchhandlung, 1762; Cato ein Trauerspiel von Addison. Aus dem Englischen. Frankfurt und Leipzig, in der Fleischerischen Buchhandlung, 1763; Herrn Thomas Shaws, Königl. Professors der griechischen Sprache, und Rectors des Collegii des heil. Edmunds zu Oxford, Reisen oder Anmerkungen verschiedene Theile der Barbarey und der Levante betreffend: Nach der zweyten engländischen Ausgabe ins Deutsche übersetzt und mit vielen Landcharten und andern Kupfern erläutert. Leipzig, verlegt durch Bernh. Christoph Breitkopf und Sohn, 1765. MGS 1, S. 25–94. MGS 1, S. 95–130. MGS 1, S. 144–196.

Vom Brief zum Werk. Kongruenzen und Divergenzen der Präsentation und Kommentierung

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gangs der Frankfurter gelehrten Anzeigen engagierte Merck sich für drei Jahre in Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek, ehe er ab 1776 in Wielands Teutschem Merkur das ihm rundum passende Organ fand; war doch die „erste deutsche Kulturzeitschrift“ darauf angelegt, sich ihren Leserstamm erst heranzubilden. Von 1776 bis 1780 übernahm Merck fast alle Beiträge im ,Kritischen Fach‘. Rezensierte Werke regten ihn zu eigenen Arbeiten an, wie umgekehrt deren Auswahl seinen vorherrschenden Interessen folgte. 1778 bis 1782 steuerte er fünf Erzählungen zum Teutschen Merkur bei,25 dann verlagerte sich sein Interesse auf die Naturwissenschaften. Als Autodidakt erlangte er derart gründliche Kenntnisse in Mineralogie und Geologie,26 Paläontologie und Anatomie,27 dass der „simple amateur“ den führenden Fachleuten seiner Zeit ein ernstzunehmender Gesprächspartner wurde. Durchgängig blieb einzig sein Interesse an der Kunst, das sich in großen Studien wie in kleinen annotierten Katalogen niederschlug. Im Zuge der Werkausgabe neu entdeckt wurden mehr als fünfzig Artikel zur Kunst für die ehrgeizige, nie zu Ende geführte Deutsche Encyclopädie.28 Vorübergehend tauchen auch Darmstädter Spezifika auf,29 besonders als Merck nach der unrühmlichen Entlassung des Landespräsidenten und bedeutenden Kameralisten Friedrich Karl von Moser von seinem bescheidenen Amt als Kriegsrat in eine höhere Funktion aufzusteigen suchte.30 Die Beschäftigung mit 25

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Außer den drei genannten (siehe Anm. 15, 16, 17): Herr Oheim der Jüngere, eine wahre Geschichte. In: TM 1781 IV, S. 144–166, Fortsetzung S. 193–211, Schluss TM 1782 I, S. 123–138; Lindor eine bürgerlich-teutsche Geschichte. In: TM 1781 III, S. 107–123. Bemerkung aus der Naturgeschichte. In: TM 1779 I, S. 73 f.; Mineralogische Spaziergänge. In: TM 1781 III, S. 72–80. Außer der Abhandlung „über den Ursprung der Fossilien, in Teutschland“ (Anm. 9) und den Knochenbriefen (Anm. 12 und 13): Nachricht von einigen im Hessen-Darmstädtischen ausgegrabenen Elephanten und Rhinoceros-Knochen. In: TM 1782 IV, S. 48–57; Nachtrag verschiedener Anmerkungen über merkwürdige ausgegrabene Thier-Knochen u.s.w. In: TM 1783 I, S. 204–215; Nachricht von einigen zu Alsfeld im Hessen-Darmstädtischen gefundenen, ausserordentlichen, Menschenknochen. In: Hessische Beiträge zur Gelehrsamkeit und Kunst 1, 1785 [recte: 1784], S. 35–39; Von dem Krokodil mit dem langen Schnabel. Crocodilus maxillis elongatis teretibus subcylindicis. In: Hessische Beiträge für Gelehrsamkeit und Kunst 2, 1787 [recte: 1786], S. 73–87; Von den Cetaceen. In: Hessische Beiträge für Gelehrsamkeit und Kunst 2, 1787 [recte: 1786], S. 297–312; Me´moire sur les ce´tace´s. In: Histoire et Memoires de la Societe´ des Sciences physiques de Lausanne 2, 1787 [recte: 1790], S. 339–344; weitere noch ungedruckte Abhandlungen im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar und im Archiv Rossijskoj Akademii Nauk, Filial St. Petersburg. Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten. 23 Bde. Frankfurt am Main 1778–1804; Kupferstichband ebd. 1807. – Die wohlbegründete Zuschreibung an Merck und die Kontextualisierung der Lexikonartikel innerhalb von Mercks kunstkritischem Schaffen sind Gegenstand der Doktorarbeit von Ame´lie Krebs, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Forschungsstelle Merck verfasst. Beschreibung der vorzüglichsten Gärten um Darmstadt. In: Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 2. Leipzig 1780, S. 157–160. Erweiterte Fassung: Beschreibung der vorzüglichsten Gärten um Darmstadt. In: Hoch-Fürstlich Hessen-Darmstädtische Staats- und Adreßkalender, auf das Jahr 1781, Anhang S. 9–19. Der Anfang der Moser’schen Administration (1772) und die daher zu ahnenden angenehmen

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künstlerischen Themen trug auch noch über die psychosomatische Krise des Jahres 1788 hinweg,31 als Mercks umfangreiche Naturaliensammlung in Unordnung geriet und seine Passion zur Erkundung der Fossilien ein jähes Ende fand. Die editorischen Entscheidungen, die aufgrund dieser Befunde zu fällen waren, betrafen die Wahl des Titels wie die Anordnung der Texte. Die Heterogenität der Interessensfelder, die Entdeckung bisher unbekannter32 oder ungedruckter33 wie die Abschreibung bisher Merck zugeordneter Texte34 bestimmten den Titel Gesammelte Schriften, die Hybridisierung der Gattungen und das Ineinandergreifen der Themen ließen eine chronologische Anordnung als einzig sinnvoll erscheinen. Nicht zuletzt entbindet die repräsentative Gleichsetzung aller Texte von der notorischen Hierarchisierung, derzufolge Rezensionen einen niederen Status einnehmen. Mit rund 400 kritischen Arbeiten, die oft die Gattungsgrenzen überschreiten, machen sie einen großen Teil von Mercks Werk aus, und besonders hier positioniert sich der unkanonisierte ,poeta minor‘ als ein Wortführer im literarischen Feld der Spätaufklärung.

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Folgen derselben. In: Karl Wagner (Hrsg.): Briefe aus dem Freundeskreise von Goethe, Herder, Höpfner und Merck. Eine selbständige Folge der beiden in den Jahren 1835 und 1838 erschienenen Merckischen Briefsammlungen. Aus den Handschriften hrsg. Leipzig 1847, S. 206–226. In seiner im Darmstädter Vorort Arheilgen eingerichteten Kupferstichwerkstatt arbeitete Merck nach neuesten Methoden; vgl. MBW 1, S. 421. 1789 brachte er einen preiswerten zweibändigen Neudruck von John S. Millers Illustratio systematis sexualis Linnaeani heraus, von der nach seinem Freitod eine handkolorierte Prachtausgabe erschien, mit Johann Gottlieb Prestel verhandelte er die Übernahme von Druckstöcken (vgl. MBW 4, S. 621 f.). Bd. 1: Im Nachlass des Merck-Freundes Ernst Schleiermacher (Karlsruhe, Privatbesitz), den ich dankenswerter Weise auswerten durfte, fanden sich von Mercks Hand die Fabel „Der Derwisch“, MGS 1, S. 92–94, und ein Gedichtfragment (ohne Titel [„Komm säusle mich ein“]), ebd., S. 130. Im Merck-Nachlass (München, Privatbesitz) fand sich die eigenhändige Besprechung von James Macphersons An Introduction to the History of Great Britain and Ireland, MGS 1, S. 260–263. Von besonderem Reiz ist die Wiederentdeckung von Mercks Romanzenheft in der Biblioteka Jagiellon´ska Krako`w, ehemals Staatsbibliothek Berlin, das neun bislang unbekannte Nachdichtungen Mercks zu Thomas Percys Reliques of Ancient English Poetry lieferte (MGS 1, S. 144–196 und 458–468). In den Bänden 5, 6 und 7 werden weitere neuaufgefundene MerckTexte zum Abdruck kommen. Die Zuschreibung der zumeist anonymen Rezensionen stützt sich in allen Bänden zunächst auf Thomas C. Starnes’ Der Teutsche Merkur. Ein Repertorium. Sigmaringen 1994, dessen Merck-Bestand aufgrund der Auswertung der epistolaren Quellen und der eigenen Erfahrung erheblich erweitert werden konnte und kann. Als Amtliche Schrift im Anhang von Band 1 wurde Mercks Abrechnung der Russlandreise 1773 aufgenommen („Reise-Cassa-Rechnung“, MGS 1, S. 264–298), ein exquisites kulturhistorisches Dokument über das Reisen im 18. Jahrhundert. Julia Bohnengel gelang der Nachweis, dass die seit Karl Wagners Ausgabe (Anm. 30, hier S. 73–83) Merck zugeschriebene Beantwortung der Preisfrage „Re´ponse a` cette question: ,Est-il avantageux pour un e´tat, que le paysan posse´de en propre du terrain, ou qu’il ait pre´cise´ment des biens meubles? Et jusqu’ou` le droit du paysan devroit-il s’e´tendre sur cette proprie´te´ pour l’avantage de l’e´tat?’“ von Jean-Franc¸ois Marmontel stammt.

Vom Brief zum Werk. Kongruenzen und Divergenzen der Präsentation und Kommentierung

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II. Unterschiede zwischen Brief- und Werkausgabe bei der Präsentation in Buchform Nachdem der wissenschaftliche Zeitgeist sich vom Heroenkult abgewandt hat, gelten unter der Prämisse von Kultur- und Mentalitätsgeschichte Briefe als historische Dokumente. Die Edition von Mercks Briefwechsel trug dem mit der von den Monumenta Germaniae Historica erarbeiteten Methode Rechnung, textkritische Anmerkungen durch hochgestellte kleine Buchstaben und Stellenerläuterungen durch hochgestellte Ziffern im Brieftext zu annoncieren. Jeder Brief ist als Einheit wiedergegeben: Ein Rubrum liefert als Herausgebertext die laufende Briefnummer, den Namen des Schreibers respektive Empfängers, den Schreibort und – gegebenenfalls als erschlossenes – das Datum. Am Ende des Brieftexts gibt ein quellenkritischer Absatz Auskunft über Besonderheiten und Zusätze der Handschrift, führt die wissenschaftlich wie wirkungsgeschichtlich relevanten Drucke auf und diskutiert gegebenenfalls Briefstatus, Schreiber oder Empfänger und Datierungsgrundlagen. Es folgen bei handschriftlichen Vorlagen die textkritischen Apparate und abschließend die Stellenerläuterungen. Vorausgesetzt, dass wir literarischen Werken einen genuin ästhetischen Gehalt zuerkennen, empfiehlt sich bei ihrer Präsentation ein anderes Verfahren. In der Edition von Mercks Gesammelten Schriften wird von Markierungen im Text Abstand genommen, die Zuweisung erfolgt hier über einen Zeilenzähler. Textkritische Apparate stehen am Fuß der jeweiligen Seite, Stellenerläuterungen mit Anbindung durch Seiten- und Zeilenangaben im separaten Kommentar, der den zweiten Teil des jeweiligen Bandes einnimmt. Neben Archiv- und Druckberichten finden sich dort auch literar- und wissenschaftshistorische Einleitungen zu dem jeweiligen Abschnitt von Mercks Schaffen. Gleich bleibt die Sorgfalt der Textkonstitution. Varianten in den Handschriften werden sämtlich verzeichnet, von Emendationen und Konjekturen wird äußerst sparsam Gebrauch gemacht, wobei ausnahmslos alle Eingriffe nachgewiesen werden. Auch dies ist als editorische Aussage zu verstehen. Prinzipiell wird die exakte Wiedergabe der Texte als wichtigste Aufgabe einer Edition angesehen.

III. Chancen und Probleme der Digitalisierung Die editionsphilologische Basisarbeit geht jeder Präsentationsform voraus. Textkonstitution und Recherche nach allen Richtungen mit den dazu nötigen zum Teil hochspezialisierten Kenntnissen müssen auch in Zukunft unverzichtbar sein. Zu den Aufgaben des Editors resp. der Editorin gehört es weiter, hierarchische Strukturen zu schaffen, die dem Benutzer der Ausgabe die Orientierung ermöglichen. Bei der Digitalisierung von Briefausgaben hat das, was die Anordnung

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der Texte angeht, vordergründig kaum Konsequenzen. Man wird aller Voraussicht nach die Chronologie walten lassen und dem Benutzer den bequemen Zugriff auf andere Reihenfolgen, etwa nach Korrespondenten oder Themen, über Verschlagwortung per Volltextsuche oder über Koordinaten im Menü an die Hand geben. Nicht zuletzt wegen dieser transparenten Handhabbarkeit genießt wohl die Digitalisierung von Briefen Vorrang in derzeit vorbereiteten Projekten. Für die Werkausgabe – ich bleibe beim Beispiel Merck – gilt aber, dass die chronologische Präsentation der Texte schon ein spezifisches Werkverständnis liefert. Durch diese begründete Vorgabe wird der Aufbau der Edition zum Lenkungsinstrument. Konnte das Verschwinden des Autors im Editionswesen nur begrenzt Platz greifen, etwa wenn Zuschreibungsfragen Analysen von Habitus und Stil bedingen oder die Erkundung der Textgenese die Beachtung biographischer Umstände erfordert, so gilt es jetzt, das Verschwinden des Editors zu verhindern. Gefragt sind Programme, die den erarbeiteten Aufbau vorhalten. Andernfalls begeben wir uns der Bedeutungsmacht unserer Zunft, die eine philologisch begründete Werkherrschaft ist und die Jean Starobinski unter die Überschrift Diese Entscheidung ist eine Sache von Leben und Tod gestellt hat.35 Der unbestreitbare Vorzug digitaler Editionen ist ihre permanente Aktualisierbarkeit. Editionen mit dem Anspruch auf Vollständigkeit zumindest des überlieferten Bestandes locken, kaum gedruckt, neue Funde regelrecht hervor,36 und Zuund Abschreibungen anonymer Texte – und fast alle Texte Mercks erschienen anonym – enthalten immer einen Rest von Unsicherheit. Hier ergänzen und revidieren zu können, ohne dass eine gedruckte Ausgabe alsbald der Addenda und Corrigenda bedarf, erscheint bezwingend. Das gilt mehr noch für den Kommentar. Besonders Stellenerläuterungen sind unter Umständen schon nach kurzer Zeit durch eigene und fremde Forschungen zumindest partiell überholt, in einzelnen Punkten gar falsifiziert. In digitalen Editionen lassen sich neue Ergebnisse und Korrekturen aktuell einarbeiten. Einen anderen Fortschritt bietet die Möglichkeit der Verlinkung, wie sich am Beispiel des Rezensenten Merck unschwer nachvollziehen lässt: Viele der von ihm besprochenen Werke, oft genug Rara in den Bibliotheksbeständen, sind mittlerweile als Digitalisate im Netz abzurufen, fast täglich werden es mehr. Doch ist es mit der Verlinkung getan? Wird mit dieser für den Kommentator bequemen Lösung nicht der Benutzer ins Uferlose geführt? Es besteht die paradoxe Gefahr, dass in der Fülle der Angebote die Komplexität verlorengeht. Hier, scheint mir, ist ein weiteres Mal das Selbstverständnis des Editors tangiert. 35

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Jean Starobinski: Diese Entscheidung ist eine Sache von Leben und Tod. Auswählen, wiederherstellen, deuten: Die drei historischen Wurzeln der Kritik. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 136 vom 15./16. 6. 2002, S. 18. Aus dem Französischen von Sonja Asal. Wieder in: Ursula Renner (Hrsg.): Häutung. Lesarten des Marsyas-Mythos. München 2006, S. 93–99. Zu Mercks Briefwechsel sind bald nach Erscheinen der Ausgabe 2007 zwölf neue Briefe aufgetaucht, die zu gegebener Zeit – weitere mögen hinzukommen – nachgeliefert werden.

Vom Brief zum Werk. Kongruenzen und Divergenzen der Präsentation und Kommentierung

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Kommentieren heißt auswählen, pointieren, problematisieren, heißt, im Bedarfsfall, Forschungslücken aufzeigen und Forschungsfragen formulieren. Kommentieren ist nicht zuletzt auch Dienst an der Wissenschaft, und genau hier könnte eine sinnvolle Nahtstelle liegen: Denkbar wäre es, dass durch elektronische Präsentationsformen HistorischKritische Ausgaben entlastet und damit, jedenfalls soweit es die Verlagskalkulationen betrifft, bezahlbar gemacht werden könnten. Der nach sorgfältiger Textkonstitution gesicherte Textteil stünde zwischen zwei Buchdeckeln, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte sowie Stellenerläuterungen, soweit sie nicht zum Werkverständnis unmittelbar beitragen, ließen sich aus dem gedruckten Werk ausgliedern und in vollem Umfang im Netz zur Verfügung stellen, mit den erwähnten Vorzügen steter Aktualisierbarkeit. Das klingt verlockend, doch ist das notorische „Ehrengrab“ als ein digitales unter den derzeitigen Speicherbedingungen von einem monumentum aere perennius noch weit entfernt. An physischer Dauerhaftigkeit ist das Buch vorerst nicht zu ersetzen, von der Verarmung unserer Kultur durch die Reduktion der Verlagsprogramme, durch den Wegfall ganzer Verlage gar, und von der Deprivation spezifischer Berufsgruppen ganz zu schweigen.

Angela Steinsiek Alles Wikipedia? Kommentieren heute am Beispiel der Jean Paul-Brief-Edition

Die Jean Paul-Edition an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet seit den frühen neunziger Jahren, und seit 2008 in neuer personeller Besetzung, die kommentierte Gesamtausgabe sämtlicher etwa 2200 Briefe an Jean Paul. Seither haben sich die Voraussetzungen für diese Arbeit grundlegend geändert. Ein Schwerpunkt in der Kommentierung der durchgehend privaten, d. h. nicht für die Veröffentlichung vorgesehenen Korrespondenz von Jean Paul liegt in der Bereitstellung von biographischem Wissen. Was aber sind in digitalen Zeiten die Quellen unserer Informationen? Verbrachten wir noch vor wenigen Jahren die meiste Arbeitszeit in Bibliotheken, arbeiten wir mittlerweile weitgehend am Computer. Auf der einen Seite stellt das Internet, namentlich google books, uns viele der erforderlichen Quellenschriften am Monitor bereit, auf der anderen Seite verleitet das Internet, namentlich Wikipedia, uns mit einer Vielzahl von Informationen zu beschäftigen, deren Provenienz, könnten wir sie direkt nachvollziehen und -prüfen, uns an der Zuverlässigkeit der Angaben noch mehr zweifeln ließe, als es dies der wissenschaftlich geschulte Instinkt ohnehin tut. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Der Autor mehrerer biographischer Wikipedia-Artikel bat mich um Belegstellen aus den Briefen von und an Jean Paul zu seinen Vorfahren, mit denen die Richters in Bayreuth freundschaftlichen Umgang pflegten: nämlich zum Bayreuther Kammerpräsidenten und preußischen Minister Karl Friedrich Christoph von der Kettenburg (1735–1809)1 und zu seiner Ehefrau Sophie Charlotte Eleonore, geb. von Dobeneck (1743–1832)2. Zugleich schickte er mir die Kopie eines Taufregisterauszugs, den er als Quelle für die Geburt eines vorehelich gezeugten Kindes ansah: Montag, d. 7. Febr. [1763] nachts um 8 Uhr wurde Fr. Maria Burketin geborene Wölfing, welche sich im Burggut allhier aufgehalten ein Söhnlein gebohren. Der Vater soll seyn Christoph von Burket, Wachmeister unter dem G’ens d’armes Re1

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Carl Friedrich Christoph von der Kettenburg, 1769 Hofrat, 1772 zudem Kammerherr und Hofrichter, 1786 Geheimer Rat, ab 1791 Regierungspräsident in Bayreuth (StA Nürnberg, Ansbachische Beamtenkartei). Die Todesanzeige in: Königlich Bayerisches Intelligenz-Blatt für den Ober-Main-Kreis, Nr. 84, 14.7.1832, S. 712.

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giment von der Compagnie [...] deß Majors Ludwig von Waldenfels, Ihro durchl[auchtigsten] Herzog von Württemberg Leib Reg[iment] in Stuttgardt.

Am linken Rand dieses Taufregistereintrags wurde von derselben Hand als Name des Kindes verzeichnet: „Carl Friedrich Adam von Burgketten“, darunter der Vermerk – soweit aus der Kopie ersichtlich zeitgleich – „retro Kettenburg“. Hieraus hatte der Wikipedia-Autor geschlossen: „[...] bei dem Namen Burgketten handelt es sich um eine Umkehrung des Namens Kettenburg, den das hier als geboren verzeichnete Kind Carl Friedrich Adam als vorehelicher Sohn des Ministers annahm und unter dem er in Augsburg eine bürgerliche Existenz begründete.“ Es sei nämlich dieses Kind der erste Sohn besagter Sophie von Dobeneck, die sechs Wochen später den Bayreuther Kammerherrn Friedrich Wilhelm Philipp von Lindenfels heiratete, obwohl dieses Kind mit dem besagten späteren Bayreuther Minister und Kammerpräsidenten Karl Friedrich Christoph von der Kettenburg gezeugt worden sei, den sie erst in zweiter Ehe heiratete – nachdem sie ein weiteres Kind mit Lindenfels, ihrem ersten Mann, bekommen habe. Nun lässt sich zwar ein Karl Friedrich Burgett (†1848) mit dem Geburtsjahr 1763 als Kaufmann und Kunstmühlenbesitzer in Augsburg nachweisen, nicht aber irgendeine verwandtschaftliche Beziehung von ihm zu den Nachkommen aus den beiden Ehen der Sophie von Dobeneck – in der umfangreichen Familiengeschichte der Familie Dobeneck werden ihre Kinder nicht namentlich genannt.3 Woraus der Wikipedia-Autor die Erkenntnis gewann, dass die im Taufregister als Mutter genannte Maria Burketin, geb. Wölffing mit Sophie von Dobeneck, später verheiratete Lindenfels bzw. Kettenburg, identisch sein soll und der als Vater genannte Christoph von Burket mit dem späteren Bayreuther Kammerpräsidenten und Minister Karl Friedrich Christoph von der Kettenburg, blieb mir schleierhaft. Was mich aber stutzig machte, waren die zahlreichen Ungereimtheiten im Taufregistereintrag. Zunächst einmal fällt ja das Durcheinander an Namen auf: Als Mutter wird eine Maria Burketin angegeben, die mit der Endung -in gebildete weibliche Form von Burket – also die Ehefrau des als Vater verzeichneten Christoph von Burket; der Nachname des Kindes wird aber als Burgketten angegeben, wobei die Nachnamen der Mutter und des Sohnes von Schreiberhand verbessert sind. Merkwürdig schien mir auch, dass der im Taufregister genannte Vater Christoph von Burket trotz seiner adeligen Herkunft mit 28 Jahren noch immer einfacher Wachtmeister in einem mehr als 300 Kilometer entfernten Stuttgarter Regiment sein soll – mein von der Kettenburg aus 3

Vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Begründet von Eduard Berend. Weimar, später Berlin 1927 ff., Abt. III, Bd. 5 (Berlin 1961), Nr. 137, S. 56,6–7, Abt. IV, Bd. 6 (Berlin 2012), Nr. 162, S. 256,31–32, und Abt. III, Bd. 8 (Berlin 1955), Nr. 492, S. 285; Alban von Dobeneck: Geschichte der Familie von Dobeneck. Berlin 1906, S. 247, 507 und Stammtafel III, Nr. 98; Erhardt Christian von Hagen: Über Jean Pauls Aufenthalt in Bayreuth und dessen Lieblingsplätze. In: Archiv für Geschichte und Alterthumskunde von Oberfranken, H. 1, 1857, S. 71.

Alles Wikipedia? Kommentieren heute am Beispiel der Jean Paul-Brief-Edition

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den Jean Paul-Briefen war Jurist und zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes als Regierungsrat im 50 Kilometer entfernten Bayreuth tätig, aus dem auch seine spätere Frau, die Kindsmutter, stammte. Möglich ist immerhin, dass alle Namen hier pseudonym sind, um eine uneheliche Geburt zu vertuschen. Dafür sprechen vielleicht die Angaben, dass die Mutter sich nur zur Niederkunft am Ort des Taufeintrags aufgehalten habe und dass sie den Namen des Vaters angegeben habe. Zwar war es bekanntermaßen nicht unüblich, dass adelige Herren für ihre natürlichen Kinder einen Stellvertreter entsandten, der die nicht adelige Kindsmutter ehelichte und das Kind anerkannte. Unüblich war aber, dass eine Frau von Adel (und Sophie von Dobeneck war adelig) nur 50 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt ein uneheliches Kind anonym entbindet. Letztendlich erscheint aber die Deutung, dass alle Namen in einem solchen Dokument einerseits pseudonym sind, andererseits durch einen geheimnisvollen Zusatzeintrag aufgelöst werden, doch eher als die Vorstellung des Nachgeborenen aus einem Kolportageroman des 19. Jahrhunderts. Für keine der Auflösungen gibt es einen Beleg, entsprechend ist mit ihnen, ohne weitere Belege, allenfalls als Hypothesen umzugehen. Der biographische Wikipedia-Eintrag, von dem hier die Rede ist, ist noch nicht geschrieben (der Artikel des Wikipedia-Autors lautet nicht Kettenburg), aber man kann sich vorstellen, wie er, die Zweifel beim Kirchenbucheintrag beiseite lassend, aussehen wird. Wie immer die familiären Verhältnisse tatsächlich gewesen sein mögen: Dieses Beispiel mag als Beleg dafür dienen, mit welcher Vorsicht die Wikipedia (bei der Vorbereitung habe ich gelernt, dass Wikipedia weiblich ist) zu nutzen ist. Es finden sich hier alle Spielarten von Richtigkeit und Unrichtigkeit. Nun ist aber oft mit den überkommenen Instrumentarien den sich wandelnden – sprich wachsenden – Anforderungen unseres Metiers schon aus Zeitgründen nicht mehr gerecht zu werden. Soll ein Band von 250 bis 300 Briefen mit einer Stelle in zwei Jahren kommentiert vorliegen, erfordert dies eine Effizienz, die eben nur mit den modernen Medien zu leisten ist. Für historische Zusammenhänge und ihre Protagonisten sind die sogenannten Wissensportale eine unschlagbar schnelle Orientierungshilfe. Allein aus Gründen der Ökonomie wird sich inzwischen wohl jeder des breiten Angebots der Wikipedia und anderer OnlineEnzyklopädien als Stichwortgeber bedienen, um von dort aus entweder auf die zugrunde liegenden Quellen zurückzugehen oder aber in verlässlicheren Sekundär-Texten die gefundenen Informationen zu überprüfen und gegebenenfalls zu vertiefen – allerdings haben sich die neuen Wissensportale und die klassische Wissenschaft längst gegenseitig durchdrungen, meist bis zur Unkenntlichkeit auf beiden Seiten. Jenseits der problematischen Frage nach dem Urheberrecht ist damit eine Dezentralisierung der Wissensproduktion Realität geworden: An die Stelle der hergebrachten akademischen Standards tritt in den elektronischen Wissensportalen der Konsens als Modell der digitalen Wissensgesellschaft,4 der

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auch an den Diskussionsforen dieser Portale mit Händen zu greifen ist, ein Prozess, der in Anlehnung an die Erfindung der Buchdruckerkunst mal kritisch, mal euphemistisch – je nach Standpunkt – als eine „Demokratisierung des Wissens“5 bezeichnet wurde. Uns als Spezialisten stellen die mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Medien (Wikipedia beispielsweise gibt es immerhin seit 2001) eine wahre Informationsflut bereit, die ganz neue Herausforderungen an unser Urteilsvermögen bezüglich Relevanz und Zuverlässigkeit stellt. Schon dieser Umstand spricht gegen die schnell ausgesprochene These des von allen immer verfügbaren Wissens: Ohne die entsprechende Sachkenntnis bzw. ohne die richtigen Fragen an den Text, kann ein Kommentar weder mit konventionellen Medien noch mit Hilfe des Internets erstellt werden. Neben diesen inhaltlichen Fragen hat sich für uns aber vor allem die Methodik der Recherche verändert: Ein jedem unmittelbar einleuchtendes, wenn auch kein neues Beispiel für den zusätzlichen Nutzen, den die neuen Medien bieten, ist das schnelle Auffinden von Textstellen, weil eben dieser Teil der Arbeit zuvor so zeitaufwendig war. Für uns wichtiger als bei der Kommentierung der Briefe war diese Möglichkeit der schnellen Recherche bei der Erstellung des Nachlassverzeichnisses von Jean Paul. 2010 hat unsere Arbeitsstelle – auf Veranlassung von Jutta Weber – die einst von der DFG geförderte Inventarisierung des Jean PaulNachlasses übernommen, der in der Staatsbibliothek Berlin aufbewahrt wird. Er enthält u. a. die riesige Exzerptensammlung Jean Pauls und seine Studienhefte und Skizzen zu den zu Lebzeiten erschienenen Romanen sowie die Studien und Bausteine zu den Beiträgen für Cottas Morgenblatt und zum Taschenbuch für Damen oder für die Rezensionen in den Heidelberger Jahrbüchern und zu den politischen Beiträgen. Der erste von zwei Katalogbänden war, bearbeitet von Ralf Goebel, 2002 erschienen, der von uns fertiggestellte zweite Band ist soeben ausgeliefert worden.6 In den insgesamt 11 überlieferten Faszikeln waren die Aufzeichnungen den Vorarbeiten zu einzelnen Werken zuzuordnen. Das war letztlich schon der schieren Menge wegen nur mit Hilfe einer von der Jean Paul4

5

6

Vgl. Daniela Pscheida: Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert. Bielefeld 2010. „Digitale Demokratisierung des Wissens. Kostenlose Internetinhalte verändern Lernen und Geschäftsmodelle“ lautete die Überschrift eines anonymen Artikels in der Online-Ausgabe der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 19. November 2007; die positive Deutung beispielsweise bei Christoph Zotter: Der Experte ist tot, es lebe der Experte: Der Einfluss des Internets auf die Wissenskultur am Beispiel der Wikipedia. Wien 2009, S. 52, und Roland Schimmel: Wissenschaft mit Wikipedia – warum eigentlich nicht? In: Gedächtnisschrift für Manfred Wolf, hrsg. von Jens Dammann [u. a.]. München 2011, S. 725–739; eine Diskussion dieses Schlagworts bei Daniela Pscheida 2010 (Anm. 4), S. 291ff. Der handschriftliche Nachlass Jean Pauls und die Jean Paul-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, bearb. von Ralf Goebel. Bd. 1: Faszikel I bis XV, Wiesbaden 2002. – Bd. 2: Faszikel XVI bis XXVI, hrsg. von Markus Bernauer, bearb. von Lothar Busch, Ralf Goebel, Michael Rölcke und Angela Steinsiek. Wiesbaden 2011.

Alles Wikipedia? Kommentieren heute am Beispiel der Jean Paul-Brief-Edition

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Arbeitsstelle in Würzburg bereitgestellten Suchmaske zu bewältigen: dort werden als zweite Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe7 die Exzerpte Jean Pauls ediert und zum Teil in elektronischer Form zur Verfügung gestellt – und zwar, und das war und ist für uns das Entscheidende: zusammen mit den bei Gutenberg weitgehend erfassten Werken Jean Pauls, was einen effizienten Abgleich mit den handschriftlichen Notaten in nützlicher Frist erst ermöglichte. Unter der Überschrift Synergien steht auch ein weiteres spezifisches Arbeitsinstrument für die Erschließung der Briefe an Jean Paul: Um sämtliche Briefe abteilungsübergreifend zu erschließen, bis der neunte und letzte Band der „Briefe an Jean Paul“ mit einem Gesamtregister in gedruckter Form vorliegt, wurde bereits von unseren Vorgängern damit begonnen, ein Online-Register zu erstellen. Den Grundstein hierzu bildete die elektronische Erfassung des Registerbandes zur gesamten dritten Abteilung, also der Briefe von Jean Paul, die sukzessive um die Register der erscheinenden Bände der vierten Abteilung, der Briefe an Jean Paul, ergänzt wird. Das einst in einfacher tabellarischer Ansicht begonnene Register, das nur eine einsinnige Suche erlaubte, konnte inzwischen mit einer benutzerfreundlichen, zeitgemäßen Maske aufbereitet werden, die sowohl eine systematische als auch eine Volltextsuche erlaubt. Damit können auch wir als Bearbeiter der Briefe uns nicht nur schnell über Personen, Verwandtschaftsverhältnisse, Orte und Werke informieren – ein wertvolles Hilfsmittel ist es überdies deshalb, weil in unserer Ausgabe über den reinen Sachkommentar hinaus die Briefe und Briefkonvolute eines Korrespondenten in ihrer Stellung in der Gesamtkorrespondenz des Dichters erörtert werden, was einen Überblick über Dauer und Umfang der Korrespondenz voraussetzt, den die Datenbank bereitstellt. Ähnlich wie im Falle der überaus hilfreichen biographischen OnlineDatenbank der Regestausgabe der Briefe an Goethe ist das Online-Register der Jean Paul-Briefe zudem als biographischer Fundus für die Jean Paul-Forschung und zugleich als zeitgeschichtlicher Datenpool ein sinnvolles und effektives Instrument. Am Schluss möchte ich Ihnen jenseits dieser für die Jean Paul-Briefe spezifischen Instrumente noch ein konkretes Beispiel geben, das die veränderte Methodik der Recherche allgemeiner illustriert: Am 5. Juni 1810 schrieb Karl August Varnhagen an Jean Paul aus Prag, wo er sich als Soldat der österreichischen Armee aufhielt, von einem Mediziner namens Katzenberger, der dort als Badearzt und als Leibarzt des aus Böhmen stammenden preußischen Generals Ferdinand Johann Nepomuk Kinsky (1781–1812) praktiziere.8 Dem Jean Paul-Leser ist natürlich gleich klar, worauf 7

8

Ein erster Band mit den Texten aus dem Nachlass erschien 1928: Jean Pauls Sämtliche Werke (Anm. 3). Abt. II: Nachlaß, Bd. 1: Ausgearbeitete Schriften (1779–1782). Hrsg. von Eduard Berend. Weimar 1928. Vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke (Anm. 3). Abt. IV, Bd. 4 (Berlin 2010), Nr. 82, S. 109,18–23.

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Varnhagen mit dieser Information hinaus will: auf den Titelhelden von Jean Pauls 1809 erschienenem Roman D. Katzenbergers Badereise. Mit eben diesem Prager Arzt als dem vermeintlichen Urbild für die Romanfigur verbindet sich auch eine von dem Berliner Altertumsforscher Gustav Parthey (1798–1872) kolportierte Anekdote, in der es um Jean Pauls angebliche Behauptung geht, er habe die Namen seiner Figuren, und eben auch den des Katzenberger, frei erfunden: Parthey berichtet, der mit dem Dichter befreundete Bayreuther Medizinalrat Johann Gottfried Langermann habe Jean Paul erzählt, dass er das Urbild des Jean Paulschen Anatomieprofessors Katzenberger ausfindig gemacht habe. Von diesem Katzenberger habe Langermann sich die Doktorarbeit besorgt, die noch dazu dasselbe Thema hatte wie das Spezialgebiet des Jean Paulschen Katzenberger: menschliche Abnormitäten. Diese Dissertation habe Langermann zusammen mit einem fingierten, bitterbösen Schreiben Katzenbergers, in dem sich dieser über den Missbrauch seines Namens beschwerte, an Jean Paul gesandt.9 So weit die Quellenlage. Über google books stößt man in der von Lorenz Oken herausgegebenen enzyklopädischen Zeitschrift Isis im Jahrgang 1822 auf die Biographie eines aus dem Bambergischen stammenden Arztes namens Johann Adam Katzenberger (1779–1855),10 der ab 1808 als ein „geschätztester Praktiker“ in Prag ansässig war, bis er ebendort am 29. Januar 1855 an einer Lungenentzündung verstarb, wie ich der ebenfalls bei google gescannt vorliegenden Vierteljahrschrift für die praktische Heilkunde11 entnehmen konnte, in der seine Todesanzeige erschien. Andere Quellen für den Brief Varnhagens und die Anekdote Partheys gibt es nicht, der Brief Langermanns ist nicht überliefert; auch lässt sich aus den bei google books gefundenen Materialen natürlich in keiner Weise entnehmen, dass der in Prag praktizierende Arzt tatsächlich das Urbild der Jean Paulschen Figur ist. Was mit diesen Quellen aber zu belegen ist, ist, dass es sich in der von Parthey erzählten Begebenheit um denselben Arzt handelt, den Varnhagen in Prag kennenlernte. Dass Berend, der die Anekdote Partheys übrigens für frei erfunden hielt, in seiner Einleitung zum Katzenberger 1935 auf einen westfälischen Arzt namens F. Heinrich J. Katzenberger (1767–1836) als mögliches Urbild verwies, weil dieser in einem von Jean Paul exzerpierten Buch genannt wird,12 ist beispielhaft, denn Berend hatte nach seinem Fund im Nachlass des Dichters den Arzt bei seiner systematischen Suche im Medicinischen Schriftsteller-Lexicon von 1841 ausfindig gemacht,13 während der Nachweis 9

10 11

12

Vgl. Gustav Parthey: Jugenderinnerungen, Bd. 2. Berlin 1871, S. 136 f., sowie Einleitung zu Jean Pauls Sämtliche Werke (Anm. 3). Abt. I, Bd. 13 (Weimar 1935), S. XLVII, und Eduard Berend: Die Personen- und Ortsnamen in Jean Pauls Werken. In: Hesperus. Blätter der Jean-Paul-Gesellschaft, Bd. 14, 1957, S. 24. Isis, Bd. 1, H. 6, 1822, Sp. 623–625. Vierteljahrschrift für die praktische Heilkunde, hrsg. von der medizinischen Facultät in Prag, Jg. 12, Bd. 3, 1855, Miscellen, S. 8. Melchior Adam Weikard: Denkwürdigkeiten aus seiner Lebensgeschichte, Frankfurt, Leipzig 1802, S. 434.

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meines von Berend nicht nachgewiesenen Katzenberger auf Quellen beruht, die ich aktiv weder gesucht noch gefunden hätte. Dass dieser zugegebenermaßen auf Zufall beruhende Fund im Zweifel nicht der hergebrachten, systematischen Recherche enthebt, versteht sich – das Beispiel zeigt aber, dass wir mit den neuen Medien v. a. ein zusätzliches Instrument an die Hand bekommen haben, das schneller und eben manchmal auch deutlich überlegen ist. Der Möglichkeit der Volltextsuche in den Werken, der Suche im Online Register der Jean Paul Briefe und dem zuletzt beschriebenen Beispiel ist gemeinsam, dass in digitalen Medien die Systematik mittlerweile variabel durch den Benutzer bestimmt werden kann, während gedruckte Medien nur vorherbestimmte Suchabläufe gestatten – der Vorteil liegt in dem Unterschied zwischen einem Register, das eine geschlossene bzw. fixierte Ordnung des Wissens bereitstellt, und einer Datenbank, für die eine offene, vom Benutzer mitbestimmte Ordnung des Wissens kennzeichnend ist.

13

Vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke (Anm. 3). Abt. I, Bd. 13 (Weimar 1935), S. XLVII, FN 2; hier Berends Verweis auf: Medicinisches Schriftsteller-Lexicon, hrsg. von Adolph Carl Peter Callisen, Bd. 29 (Kopenhagen 1841), S. 214 f., sowie Eduard Berend 1957 (Anm. 9), S. 24.

Andreas Mielke Ein Textilfabrikant, ein Theaterdirektor ...: Erfahrungen mit dem Internet bei der Personen-Recherche für die Wagner-Briefausgabe Die Form, in der die drei hauptamtlichen Mitarbeiter der seit 2009 am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg angesiedelten Richard-WagnerBriefausgabe ihre Edition der Sämtlichen Briefe des Komponisten1 vorlegen, ist zwar nach wie vor das gedruckte Buch – jeder Band ca. 750 Seiten, Leinen, mit Schutzumschlag und zwei Lesebändchen –, die einzelnen Arbeitsschritte jedoch, die zu diesem Produkt führen, sind durch und durch vom digitalen Zeitalter geprägt, wie hier an einem kleinen, doch nicht unwichtigen Bereich der täglichen Arbeit gezeigt werden soll. Am 15. Oktober 1869 bittet Richard Wagner in einem Brief an seinen Freund Charles Nuitter in Paris um die Begleichung einer Rechnung bei „Herrn W. Chocqueel, Teppiche und Stoffe, Rue Vivienne 18 & 20“. Wagner hatte – das ergibt sich aus anderen Briefen – während seines gut einwöchigen Aufenthalts in Paris Ende Oktober/Anfang November 1867 in verschiedenen Geschäften eingekauft, u. a. bei Chocqueel; mit der Bezahlung der Waren ließ er sich, nach alter Gewohnheit, viel Zeit. Der augenblicklich vorbereitete Band 21 der Edition2 präsentiert den im Original französisch geschriebenen Brief folgendermaßen (die betreffende Textstelle ist hervorgehoben).

1

2

Richard Wagner: Sämtliche Briefe. Hrsg. im Auftrag der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth. Leipzig, später Wiesbaden 1967ff. Richard Wagner: Sämtliche Briefe (Anm. 1). Briefe des Jahres 1869. Hrsg. von Andreas Mielke [in Vorbereitung].

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Andreas Mielke

Den editionswissenschaftlichen Standards entsprechend werden die in einem Band der Wagner-Briefausgabe vorkommenden Personen sämtlich im Register des Bandes nachgewiesen, die in den Briefen selbst genannten (mit Brief- und Zeilennummer, hier z. B. Nr. 307, Z. 7) und auch die in den Kommentaren erwähnten. Die Mindestangaben dabei sind: (1) Nachname und Vorname – (2) Lebensdaten (Geburts- und Todesjahr) – (3) Beruf, Funktion, Verwandtschaftsbeziehung u. Ä. Für „Herrn W. Chocqueel“ sind die von Wagner selbst in dem Brief gemachten Angaben zu überprüfen und mit dem Vornamen und den Lebensdaten zu vervollständigen. Bei der Recherche zu einer Person liegt es nahe, ein biographisches Nachschlagewerk zu konsultieren – im digitalen Zeitalter selbstverständlich kein Buch, sondern eine Datenbank im Internet. Die Datenbank-Infosysteme (DBIS) der Universitätsbibliotheken oder anderer Institutionen (z. B. der Bayerischen Staatsbibliothek)3 eröffnen auf der Seite 3

http://www.bsb-muenchen.de/Datenbank-Infosystem-DBIS.91.0.html.

Ein Textilfabrikant, ein Theaterdirektor ...

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„Fachübersicht: Allgemein / Fachübergreifend“ den Zugang zu Dutzenden von „Biographischen Datenbanken“, mit unterschiedlichen, zumeist räumlichen Bezügen, von der „American National Biography“ über das „Biographische Lexikon für Ostfriesland“ bis zum „World Biographical Information System“. Für „Herrn W. Chocqueel“ erfolgt die erste Recherche über das „World Biographical Information System“ (WBIS), das nach dem Betreiber, dem Münchener Verlag De Gruyter, überhaupt die „umfassendste biographische Datenbank“ ist.4

Das WBIS ist gegliedert in 30 (ein- bis vierteilige) Einzelarchive, die zumeist verschiedenen Nationen, Ländern und geographischen Räumen zugeordnet sind (z. B. Deutsches Biographisches Archiv / Biografisch Archief van de Benelux / Canadian Biographical Archive). Zur Zeit enthält es insgesamt 6 Millionen Personen aus der Zeit vom 8. Jh. v. Chr. bis zur Gegenwart; dafür wurden 9590 biographische Nachschlagewerke ausgewertet, das älteste ein 1559 gedrucktes Verzeichnis bedeutender Angehöriger des Universität Wien,5 das jüngste der letzte Band der 4. Auflage von Religion in Geschichte und Gegenwart (1998–2007).6 Für jede einzelne Person werden im WBIS nicht nur die betreffenden Nachschlagewerke bibliographisch genau nachgewiesen, sondern auch – ein unschätzbarer Vorteil – die Artikel aus diesen Nachschlagewerken als Faksimile angeboten. 4 5 6

http://db.saur.de/WBIS/login.jsf. Georg Eder: Catalogus rectorum et illustrum virorum archigymnasii Viennensio. Wien 1559. Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hrsg. von Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski und Eberhard Jüngel, 9 Bde. Tübingen 41998–2007.

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Andreas Mielke

Die Funktion „Einfache Suche“ mit dem in die Suchmaske eingegebenen Namen „Chocqueel“ ergibt zwei Treffer; auf der Seite mit den „Ergebnissen“ wird zu den gefundenen Personen außer dem vollen „Namen“ auch der „Beruf“ angegeben, dazu ein „Jahr“ (in der Regel das Geburtsjahr, sonst das Sterbejahr oder ein sog. „Erwähnungsjahr“) und das betreffende „Archiv“. So kann sofort dem oder den wahrscheinlichsten Treffern nachgegangen werden – hier dem „directeur de manufacture de tapis et tapisseries“ (Direktor einer Fabrik für Teppiche und Wandbehänge) in den „Archives Biographiques Franc¸aises“. Das zu dem Treffer gehörige „Biographische Dokument“ enthält u. a. nochmals den „Namen“, das „Jahr“ (es erweist sich hier als „Erwähnungsjahr“), den „Beruf“ und das „Archiv“ und außerdem die „Quelle(n)“, d. h. das oder die herangezogenen Nachschlagewerke mit genauer Angabe der bibliographischen Daten. Im vorliegenden Fall ist es nur ein einziges Nachschlagewerk, ein biobibliographisches Lexikon der Autoren der Stadt Le Creuzot (De´partement Saoˆne-et-Loire) und Umgebung (Ame´de´e Carriat, Dictionnaire bio-bibliographique des auteurs du pays creusois et des e´crits les concernant, des origines a` nos jours, Gue´ret 1964).

Im „Biographischen Dokument“ leitet der Link „Artikel aus Biographischem Archiv anzeigen“ direkt zu der oder den „Faksimile-Seite(n)“.

Ein Textilfabrikant, ein Theaterdirektor ...

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Es lassen sich das „Biographische Dokument“ ausdrucken und die „FaksimileSeite(n)“ als PDF-Datei herunterladen und ausdrucken. Dass es sich bei „Winoc Chocqueel“ um den Gesuchten handelt, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher; was in dem Nachschlagewerk-Artikel fehlt, sind ein Hinweis auf Paris als Wirkungsstätte und die Lebensdaten. Bei der Fortsetzung der Internet-Recherche werden die neugewonnenen Informationen eingesetzt, d. h. der Vorname und weitere Hinweise. So lässt die in dem Artikel erwähnte Tätigkeit Chocqueels als Fachautor eine Anfrage im Online-Katalog der Bibliothe`que nationale de France (BnF)7 sinnvoll erscheinen, da diese Bibliothek zu denen gehört, die neben den bibliographischen Daten zu den Schriften eines Autors vielfach Informationen zum Autor selbst bereithalten. Die drei in dem Artikel genannten Bücher bzw. Broschüren sind wirklich im Katalog der BnF zu finden; zu ihrem Verfasser wird jedoch nichts als die bereits bekannte Tätigkeit angegeben („Fabricant de tapis et de tapisseries ...“). Im nächsten Recherche-Schritt soll eine Internet-Suchmaschine zum Einsatz kommen, die bekannteste, deren Name es bis zur Konjugierbarkeit im Deutschen und einem Eintrag im Rechtschreib-Duden gebracht hat („ich googele, du googelst ...“ usw.). Der letzten offiziellen Angabe der Betreiberfirma aus dem Jahre 2008 zufolge betrug die Anzahl der auffindbaren Internet-Seiten damals mehr als eine Billion.8

7 8

http://catalogue.bnf.fr. Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Google.

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Die Google-Suche nach dem doch etwas ungewöhnlichen und sperrigen Namen „Winoc Chocqueel“ (als Wortgruppe) erbringt wider Erwarten „Ungefähr 9.280 Ergebnisse“, die, wie sich schnell herausstellt, hauptsächlich von einer nach der Person benannten Straße in der nordfranzösischen Stadt Tourcoing verursacht werden. Die verfeinerte Suche mit Hinzufügung des Schlüsselbegriffs „Aubusson“ – dies ist einer der in dem Artikel genannten Wirkungsorte von Chocqueel – fördert 26 Ergebnisse zu Tage, gleich an erster Stelle eine eingescannte Seite aus einem Buch über die Geschichte der Stadt Tourcoing (Histoire de Tourcoing, hrsg. von Alain Lottin, Dünkirchen 1986, Histoire des villes du Nord / Pas-deCalais, 12). Die Buchseite wird von Google-books – einer Unterabteilung von Google – präsentiert, in der sog. „Vorschau“ (oder „Voransicht“) zu einem Buch, bei der dieses ganz durchgeblättert werden kann, zwischendurch aber immer wieder eine oder mehrere Seiten ausgelassen sind; man kann auch nichts herunterladen, weder eine einzelne Seite noch das ganze Buch, doch ist natürlich – wie hier zu sehen – ein screenshot möglich (Ausschnitt).

Die gefundene Buchseite, auf der Google die Suchbegriffe farbig markiert hat, ist Teil eines Kapitels zur Industriegeschichte der Stadt Tourcoing, einer weiteren Wirkungsstätte von Chocqueel; man erfährt u. a., dass Chocqueel in Paris, Rue Vivienne, einen Laden zur Ausstellung und zum Verkauf seiner Waren unterhielt, dazu einiges Biographisches, darunter die Lebensdaten: geboren 1812 im nordfranzösischen Bergues, gestorben 1871 in Lille.

Ein Textilfabrikant, ein Theaterdirektor ...

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Die Suche nach einer Person, von der nicht der Name bekannt ist, sondern nur einige biographische Einzelheiten, wie Art und Ort der Tätigkeit, ungefähre Lebenszeit u. Ä. gestaltet sich naturgemäß etwas komplexer. Im Zusammenhang mit der Kopenhagener Erstaufführung von Lohengrin schreibt Wagner am 3. Juni 1869 an die Musikverleger und -händler Horneman & Erslev, er überlasse die genaue Höhe seines Honorars „einzig dem Anstandsund höherem Gerechtigkeitsgefühl der Königl. Direction [...] hier heißt es: Die königliche Direction will mich für meinen Lohengrin honorieren, oder sie will es nicht. Beides steht bei ihr. Ich aber habe nicht darüber zu verhandeln, da meine Werke für mich keine Waare sind.“9 Die Editionsrichtlinien der Wagner-Briefedition sehen bei solch einer indirekten Nennung einer Person – hier: Direktor des Kopenhagener Königlichen Theaters um 1869 – einen Hinweis im Kommentar und einen Nachweis im Personenregister vor, auch wenn gar nicht sicher ist, dass Wagner selbst die Person kannte. Der erste Treffer einer Google-Suche mit den kombinierten Begriffen „Kopenhagen“ und „Königliches Theater“ ist die Hauptseite dieses Theaters (dän. „Det Kongelige Teater“), von der man auf eine Unterseite zur Geschichte des Hauses gelangt. Wer um 1869 Direktor des Theaters war, erfährt man hier jedoch ebenso wenig wie durch den zweiten Treffer, den Artikel „Det Kongelige Teater“ der deutschen Ausgabe der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Mit der Option „Dansk“ in dem Menu „In anderen Sprachen“ am linken Rand der Wikipedia-Seite läßt sich jedoch direkt zum gleichnamigen, aber erheblich ausführlicheren Artikel der dänischen Wikipedia-Ausgabe durchschalten, dessen Abschnitt „Teaterdirektører“ zwar im Ganzen unvollständig ist, nicht aber für den fraglichen Zeitraum: Direktor des Königlichen Theaters in Kopenhagen in den Jahren 1866 bis 1876 war Andreas Conrad Putscher Linde. Die beiden im „World Biographical Information System“ zu Andreas Conrad Putscher Linde vorhandenen Artikel bestätigen seine Tätigkeit als Theaterdirektor und liefern auch seine Lebensdaten (1814–1888). Ähnliche Recherchen bei unbekanntem Namen, doch bekannten biographischen Einzelheiten sind grundsätzlich auch im WBIS möglich, über die Funktion „Biographische Suche“. In der Suchmaske werden hier etwa im Feld „Land“ der Begriff „Dänemark“ eingegeben und im Feld „Beruf“ der Begriff „theatre director“ (das WBIS verwendet bei der Auswertung von Nachschlagewerken in weniger verbreiteten Sprachen englische Begriffe). Die 158 Treffer lassen sich chronologisch sortieren; für die zeitlich in Frage kommenden Personen – das sind die zwischen etwa 1800 und 1840 Geborenen – sind es immer noch 30 Treffer, vermindert um einige vor 1869 Verstorbene. 9

Richard Wagner: Sämtliche Briefe (Anm. 2), Nr. 166.

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Den verbleibenden Personen und den zugehörigen, bis zu sieben verschiedenen Artikeln weiter nachzugehen, wäre aber vergeblich gewesen: Bei Andreas Conrad Putscher Linde steht nämlich unter „Beruf“ nichts, was auf seine Tätigkeit als Theaterdirektor hindeutet, sondern „government department head“ – Linde bekleidete nämlich jahrzehntelang unterschiedlichste Führungspositionen im Staatsdienst, darunter im Kultusministerium und darunter eben auch die des Direktors des Königlichen Theaters. Die Suchergebnisse für die beiden Personen erscheinen im Namensregister des Bandes 21 von Wagners Sämtlichen Briefen in folgender Form (auf Auswahl und Formulierung der Informationen sei hier nicht näher eingegangen).

Hätte man im vor-digitalen Zeitalter zum selben Ergebnis kommen können, und, wenn ja, auf welchen Wegen? Im vor-digitalen Zeitalter führte einer der Wege sicher in die Bibliothek eines Universitätsinstituts oder in die Lesesäle einer Universitätsbibliothek; man strich an den Regalen vorbei und blätterte – abhängig von den jeweils bereits vorhandenen Kenntnissen zu einer Person – in allgemeinen oder national, regional und fachlich ausgerichteten biographischen Nachschlagewerken, Lexika, Handbüchern, Monographien ... Bei ausbleibendem Resultat ermittelte man, gebeugt über Karteikästen und Mikrofiche-Lesegeräte, weitere Literaturtitel, für die dann, soweit nicht am Ort vorhanden, Bestellzettel für die Fernleihe ausgefüllt wurden. Als weiteren Weg gab es nun noch die schriftliche Anfrage an Archive, Bibliotheken usw. oder an einzelne Experten eines Fachs. Vor und während dieser Recherche-Tätigkeit stellte sich natürlich unabweislich die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Nutzen.

Ein Textilfabrikant, ein Theaterdirektor ...

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„Herr W. Chocqueel“ schien ja zunächst, ausgehend von Wagners Brief, nur einer von Hunderten oder gar Tausenden von Pariser Kaufleuten um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein; bei der Recherche nach in gedruckter Form veröffentlichten Informationen hätte man kaum einen Ansatzpunkt gehabt. (Dass Chocqueel als Fachautor in einem Autoren-Lexikon einer bestimmten Region und als bedeutender Unternehmer in einer Stadtgeschichte verzeichnet ist, war nicht zu ahnen, und schon gar nicht bezüglich welcher Region und welcher Stadt.) Und so hätte man den Weg der schriftlichen Anfrage beschreiten müssen. Aber: Wenngleich ein flüchtiger persönlicher Kontakt zwischen Wagner und Chocqueel im Herbst 1867 durchaus denkbar ist, dürfte die Bedeutung des Textilhändlers für das Leben und Werk des Komponisten doch gegen Null tendieren. Der zunächst unbekannte Direktor des Kopenhagener Königlichen Theaters dagegen wäre mit vertretbarem Aufwand zu finden gewesen, z. B. in einem Werk zur dänischen Theatergeschichte,10 die Lebensdaten dann in einer dänischen Nationalbiographie, etwa dem 1887–1905 erschienenen Dansk biografisk Lexikon (das auch in das WBIS eingegangen ist).11 Auf Grund der Abwägung von Aufwand und Nutzen hätte man die Recherche zu dem Textilhändler möglicherweise erst gar nicht begonnen bzw. bei mangelndem Erfolg frühzeitig eingestellt, die zu dem Theaterdirektor hingegen, in dessen Amtszeit immerhin die dänischen Erstaufführungen von drei Wagner-Opern fallen, bis zu einem brauchbaren Ergebnis durchgeführt. Die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Nutzen stellt sich bei der Recherche im digitalen Zeitalter insofern ganz neu, als in viel kürzerer Zeit und mit viel geringerer Mühe – man lasse sich durch die vorangegangene detaillierte Beschreibung der Suchvorgänge nicht täuschen – ein viel größerer Bestand an Informationen zugänglich ist. Doch muss die Frage auch heute für jeden neuen Fall neu gestellt und beantwortet werden. Stürzt man sich bei der Personen-Recherche mit Google in die unendlichen Weiten des World Wide Web, so gibt es nichts, was es nicht gibt: Das reicht von den dürftigsten Informationen von Wichtigtuern und selbsternannten Experten bis zu einer im Ausdruck 24seitigen, detaillierten und quellenmäßig belegten Darstellung zum Leben und Wirken des Sängers Alfred Giraudet,12 für den das WBIS keine Lebensdaten nennt, ja nicht einmal den Vornamen; diese Seite gehört zum „Corpus Artistique E´tampois“, mit Beiträgen verschiedener Autoren zur Geschichte von E´tampes, dem etwa 50 km südwestlich von Paris gelegenen Geburtsort des Sängers.13 10

11 12

Siehe z. B. F. Zachariae (Hrsg.): Den danske skueplads’ historie fra dens oprindelse i 1722 til 1900. Kopenhagen 1917, S. 80. C. F. Bricka (Hrsg.): Dansk biografisk Lexikon. 19 Bde. Kopenhagen 1887–1905. Mitwirkender der französischen Erstaufführung von Wagners früher Oper Rienzi am 6. April 1869 (Paris, The´aˆtre Lyrique).

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Äußerst hilfreich bei der Personen-Recherche können auch genealogische und familiengeschichtliche Internet-Seiten sein, angelegt oftmals von interessierten und engagierten Mitgliedern einer Familie und nicht selten unter Verwendung von unveröffentlichten Dokumenten. „This site is about the Porges families worldwide – From Prague, 1600, to present – 400 years of Porges history“ – so liest man zu Beginn einer Seite, die ein bescheiden nur mit seinem Nachnamen zeichnendes Familienmitglied im Jahre 1992 initiiert hat.14 Heinrich Porges, ein Freund und Anhänger Wagners, hat seinen eigenen Eintrag in zahlreichen Musikund anderen Lexika, doch zu seinen Angehörigen, dem Vater Simon, dem Bruder Friedrich und der Ehefrau Wilhelmine, die Wagner alle einmal oder mehrmals in Briefen erwähnt, bietet die Internet-Seite über die Familie Porges Informationen, die sonst nur schwer zu beschaffen wären. Immer häufiger stößt man als Ergebnis einer Google-Suche auf komplett eingescannte und u. a. im PDF-Format herunterladbare Bücher, in denen irgendwo, an einer oder mehreren Stellen, der Name der nachgesuchten Person aufgefunden wurde; dies ist, im Vergleich zum vor-digitalen Zeitalter, eine grundsätzlich neue, genuin digitale Errungenschaft, die das Suchen und Finden einer Person in Büchern nicht bloß erleichtert und beschleunigt, sondern überhaupt erst ermöglicht (von alphabetisch angeordneten Werken, z. B. biographischen Lexika, und solchen mit Personenregistern einmal abgesehen). Unter den eingescannten Büchern sind zahlreiche biographische Nachschlagewerke, die nicht ins WBIS und womöglich auch nicht in andere Datenbanken eingegangen sind. Zu den größten Anbietern solcher Buchscans zählen das Internet Archive, mit zur Zeit etwa 3 Millionen Texten, und das in verschiedenen Ländern – auch in Deutschland – angesiedelte Projekt Gutenberg.15 Bei einer in die Größenordnung von Billionen reichenden Menge an InternetSeiten, die von einer Suchmaschine wie Google aufgespürt werden können, stellt man sich kaum vor, dass die Daten zu einer historischen Person mit einer auch nur halbwegs bedeutenden Tätigkeit und Position nicht von irgendwoher herbeizugoogeln wären. Bei dem Schwiegervater von Wagners jungem Freund E´douard Schure´, einem protestantischen Pfarrer im elsässischen Barr, waren sie es nicht bzw. nur unvollständig. (Wagner plante eine Zeitlang, seine Trauung mit Cosima von Bülow von ihm vollziehen zu lassen.) Eine Reihe von Google-Suchen mit unterschiedlichen, einzelnen und kombinierten Stichwörtern erbringt, dass die gesuchte Person mit Nachnamen „Neßler“ heißt, mit Vornamen „Carl Ferdinand“, und dass sie Autor von mindestens vier Druckschriften ist. Doch welche von den Billionen Seiten des World Wide Web enthält die zugehörigen Lebensdaten? 13

14 15

http://www.corpusetampois.com/cae–19-giraudet.html (Bernard Gineste, Alfred Giraudet, chanteur lyrique e´tampois – 1845–1911). http://www.porges.net. http://www.archive.org; http://www.projekt.gutenberg.de.

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Die stellen sich schließlich auf einem ziemlich vor-digitalen Wege ein: durch eine schriftliche Anfrage an die Stadtverwaltung von Barr und die schriftliche Antwort einer Angestellten im Bürgermeisteramt; digital sind dann aber doch noch der Versand von Anfrage und Antwort in Form einer E-Mail – und die PDF-Dateien im Anhang der Antwort, darunter die originale Sterbeurkunde Neßlers.