Fake News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter: Ein Handbuch 9783839450253

News journalism is under particular pressure in the age of digitalisation. Digital channels such as YouTube, Facebook or

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German Pages 568 Year 2020

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Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Chancen und Disruptionen des Nachrichtenjournalismus im Zeitalter der Digitalisierung
NACHRICHTENJOURNALISMUS UNDDIGITALER WANDEL
Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit
Überleben im digitalen Wandel
Vom Nachrichtentanker zum Schnellboot
Veränderung als Graswurzelbewegung
FAKE NEWS UND VERIFIKATION
Im Zeitalter von Fake News
Fact-Checking und Verifikation
Wissenschaft in den Nachrichten
DATEN UND ALGORITHMEN
Künstliche Intelligenz im Journalismus?
Editorial Analytics
Datenjournalismus
SEO im Newsroom
NACHRICHTEN UND SPRACHE
Framing im Nachrichtenjournalismus
Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Spracheim Journalismus
Inklusiver Journalismus
FORMATE UND PROJEKTE
The Time is Now: Rethink Journalism
News-WG – Nachrichten im Insta-Style
Die Demokratieexperimente von Zeit Online,oder wie Donald Trump unseren Journalismus verändert hat
funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF
MEDIEN UND PUBLIKUM
Customer Obsession
User first
Individual- statt Pauschallösungen
Journalismusausbildung breiter denken!
REDAKTION UND MANAGEMENT
Leadership first
Medienkonvergenz in Newsrooms alspermanenter Wandlungsprozess
News Nerds in der Redaktion
Hass im Netz
Autorinnen und Autoren
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Fake News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter: Ein Handbuch
 9783839450253

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Tanja Köhler (Hg.) Fake News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter

Digitale Gesellschaft  | Band 30

Tanja Köhler (geb. 1971) ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und Redaktionsleiterin Nachrichten Digital in der Abteilung »Zentrale Nachrichten« des Deutschlandfunks. Sie hat Bücher und Aufsätze u.a. zu den Themen digitaler Journalismus, Netzaktivismus sowie Unternehmens- und Krisenkommunikation veröffentlicht.

Tanja Köhler (Hg.)

Fake News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter Ein Handbuch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Ulf Müller Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-5025-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5025-3 https://doi.org/10.14361/9783839450253 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort Stefan Raue................................................................................................... 11

Chancen und Disruptionen des Nachrichtenjournalismus im Zeitalter der Digitalisierung Zur Einführung in diesen Band Tanja Köhler ................................................................................................. 13

NACHRICHTENJOURNALISMUS UND DIGITALER WANDEL Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit Lorenz Lorenz-Meyer ..................................................................................... 23

Überleben im digitalen Wandel Zehn Thesen zur Zukunft des Nachrichtenjournalismus Tanja Köhler ................................................................................................ 39

Vom Nachrichtentanker zum Schnellboot Die Tagesschau zwischen öffentlich-rechtlichem Auftrag und Marktanforderung Marcus Bornheim........................................................................................... 67

Veränderung als Graswurzelbewegung Innovationsmanagement à la taz Katrin Gottschalk........................................................................................... 79

FAKE NEWS UND VERIFIKATION Im Zeitalter von Fake News Warum sich der (Nachrichten-)Journalismus neu erfinden muss Alexander Sängerlaub.....................................................................................99

Fact-Checking und Verifikation Neue Formen des Faktenprüfens im Nachrichtenjournalismus Jenny Stern................................................................................................. 119

Wissenschaft in den Nachrichten Quadratur des Kreises? Annette Leßmöllmann.................................................................................... 151

DATEN UND ALGORITHMEN Künstliche Intelligenz im Journalismus? Was bedeutet Automatisierung für journalistisches Arbeiten? Wiebke Loosen und Paul Solbach ..................................................................... 177

Editorial Analytics Chancen und Herausforderungen für den digitalen Nachrichtenjournalismus Annika Sehl und Maximilian Eder .................................................................... 205

Datenjournalismus Vom Dilettantismus zum Expertentum Barnaby Skinner........................................................................................... 221

SEO im Newsroom Angriff auf redaktionelle Unabhängigkeit oder Sparringspartner im Nachrichtenalltag? Johannes Bornewasser ................................................................................. 239

NACHRICHTEN UND SPRACHE Framing im Nachrichtenjournalismus Hans-Bernd Brosius und Viorela Dan ............................................................... 265

Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Sprache im Journalismus Marieke Reimann ......................................................................................... 283

Inklusiver Journalismus Teilhabe und Chancengleichheit in der digitalisierten Gesellschaft Tanja Köhler ............................................................................................... 297

FORMATE UND PROJEKTE The Time is Now: Rethink Journalism Constructive News as the Media Answer to Democratic Trust Meltdown Ulrik Haagerup .............................................................................................319

News-WG – Nachrichten im Insta-Style Katrin Pötzsch ............................................................................................333

Die Demokratieexperimente von Zeit Online, oder wie Donald Trump unseren Journalismus verändert hat Philip Faigle ............................................................................................... 345

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF Mit Audience Engagement und Distribution via Social Media zu Relevanz in der Zielgruppe Viola Granow .............................................................................................. 363

MEDIEN UND PUBLIKUM Customer Obsession Ein Mittel gegen Desinformation? Tanit Koch..................................................................................................383

User first Wenn die Nutzer das journalistische Programm bestimmen Meinolf Ellers .............................................................................................. 401

Individual- statt Pauschallösungen Transparenzstrategien im Nachrichtenjournalismus und ihr Zusammenhang mit Rezipierendenvertrauen Laura Badura, Bernadette Uth und Katherine M. Engelke ..................................... 425

Journalismusausbildung breiter denken! Journalismuskompetenz in Zeiten von Digitalisierung und Vertrauenserosion Markus Beiler, Uwe Krüger und Juliane Pfeiffer ................................................. 447

REDAKTION UND MANAGEMENT Leadership first Redaktionen (gut) führen in der digitalen Medienwelt Alexandra Borchardt .................................................................................... 479

Medienkonvergenz in Newsrooms als permanenter Wandlungsprozess Sonja Kretzschmar....................................................................................... 495

News Nerds in der Redaktion »Von Superjournalist*innen, die zaubern können« Juliane A. Lischka, Manda Sokic und Julien N. Lattmann ...................................... 517

Hass im Netz Strategien im Umgang mit Nutzerkommentaren Leif Kramp und Stephan Weichert ................................................................... 537

Autorinnen und Autoren ....................................................................... 555

Vorwort Stefan Raue

Ein kluger und sehr sachkundiger Mensch wurde einmal gefragt, wie er sich den Dauererfolg der Tagesschau erkläre. Seit Generationen arbeitet sich die Konkurrenz an dieser Nachrichtensendung im ersten Programm der ARD ab, vergeblich. Ausgerechnet eine tägliche Nachrichtensendung, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht gerade durch überraschende Perspektiven, spannende Dramaturgie, Unterhaltsamkeit und mutige Experimente aufgefallen ist. Der Zeitgenosse wagte die Antwort, dass die vielen Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer über die eigentlichen Nachrichten hinaus jeden Abend erfahren, dass sich die Erde noch drehe. Die Form, die Nüchternheit, das Informationsritual, all das macht dem Publikum auch das Beunruhigende begreifbar. Noch 1982 konnte der damalige Nachrichtenchef des Deutschlandfunks, Hanns Gorschenek, behaupten: »Er (der Hörer – Anm. S.R.) reist durch die Informationslandschaft, um abzutasten, ob die Welt noch in Ordnung ist.« Ob Kriege in der Ferne, Krisen in der Nähe, wirtschaftliche Konjunkturen mit Auf und Ab, große Dramen um Prominente – das ganze Panorama der Ereignisse in wenigen Minuten Nachrichten präsentiert. So wird das große Durcheinander diskutier- und bedenkbar. Soweit die optimistische Sicht auf die Rolle der Nachrichten und der Medien überhaupt. Allerdings, bei allem Respekt gegenüber denen, die uns im Schichtbetrieb mit großer Professionalität auf dem Laufenden halten wollen, diese Zeiten scheinen vorbei. Denn da gibt es zum einen die Zeitgenossen, die Nachrichten meiden, weil ihnen die vielen unerklärlichen und verstörenden Nachrichten zu nahe treten. Die endlosen Bürgerkriege in Afrika und im Nahen Osten, das unübersehbare politische Unvermögen, Gefahren für die ganze Welt auch global zu begegnen, der Terrorismus nicht zu vergessen, der die Nachricht über sich selbst für seine beabsichtigte Wirkung benötigt, all das verunsichert viele. Und in Abwandlung des alten Merkspruchs könnte es für diese Gruppe

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Stefan Raue

heißen: Nur wenn ich die beunruhigenden Nachrichten ignoriere, kann ich das Gefühl bewahren, dass die Welt sich noch dreht. Die andere Gegenbewegung gegen die alten Nachrichtengewissheiten entwickelt sich aus den Neuen Medien, aus den globalen Kommunikationsnetzwerken und aus den großen Medienplattformen. Das Problem ist auch hier das der Fülle, der Unübersichtlichkeit. Die Menge an kleinen und großen Ereignissen gab es immer, im globalen Kommunikationsnetzwerk gibt es aber auf den ersten Blick niemand, der das filtert oder sortiert. Nichtiges neben Relevantem, Twitter, Facebook, Youtube oder Instagram bieten fast alles, allerdings anders und fast unscheinbar sortiert. Politik und Relevanz spielen nur eine geringe Rolle, das Sensationelle hat sich als Nachrichtenkategorie in den Vordergrund geschoben. Es gibt in dieser Welt kein Zuwenig an Nachrichten, aber sind wir durch diese Fülle besser informiert? Gelingt es uns besser, uns zu orientieren und mit abgewogenem Urteil zu politischen Entscheidungen zu kommen? Denn darum geht es ja nicht zuletzt. Ein breites Angebot gefilterter und gewichteter Nachrichten ist eine entscheidende Voraussetzung für die Orientierung und die Meinungsbildung in einer Demokratie. Wir dürfen uns daher nicht darauf beschränken, die Rolle der Nachrichten in der sich dynamisch verändernden Medienwelt zu analysieren. Wir müssen vielmehr im zweiten Schritt darüber nachdenken, wie es gelingen kann, die Nachrichtenberichterstattung so zu modernisieren, dass sie auch unter veränderten Bedingungen ihr Publikum findet. Ein Buch, in dem Journalismus- und Nachrichtenprofis unterschiedlicher Medien und Institutionen dem Bedeutungswandel der Nachrichten nachgehen, macht sich verdient, weil es Transparenz schafft. Im eigenen Interesse muss aber darüber hinaus versucht werden, eine Antwort darauf zu finden, auf welche Weise die professionelle und dem Gemeinwohl dienende Nachrichtenberichterstattung wieder zu alter Vertrauenswürdigkeit kommen kann. Ein dringend notwendiges Projekt, das alles andere als eine eitle Selbstbespiegelung der Medienbranche sein will.

Chancen und Disruptionen des Nachrichtenjournalismus im Zeitalter der Digitalisierung Zur Einführung in diesen Band Tanja Köhler »Die Zukunft gehört denen, die die Möglichkeiten erkennen, bevor sie offensichtlich werden.« Oscar Wilde

Die Digitalisierung durchdringt längst alle gesellschaftlichen Bereiche und verändert die Medienlandschaft ebenso massiv wie den Journalismus selbst. Von diesem grundlegenden Wandel ist der Nachrichtenjournalismus besonders stark betroffen, zumal er schon immer eine exponierte Stellung im Mediensystem hatte. Nachrichten gelten als Keimzelle des Journalismus: Sie bilden das »Rückgrat aller journalistischen Produktion«1 und sind die »Elementarform journalistischen Mitteilens«2 . Die Bedeutung von Nachrichten zeigt sich auch in ihrer Verbreitung und Rezeption. Ob Print, Radio, TV oder Online: In allen Medienangeboten machen Nachrichten den größten Anteil in der Berichterstattung aus.3 Nutzerinnen und Nutzer zählen Nachrichten darüber hinaus medienübergreifend zu den wichtigsten Inhalten und nutzen sie im Vergleich zu allen anderen journalistischen Darstellungsformen am meisten.4

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J. Widmann: Plädoyer für qualitätsvollen Journalismus, S. 278. K. Reumann: Journalistische Darstellungsformen, S. 131. J. Voigt: Nachrichtenqualität aus Sicht der Mediennutzer, S. 27. C. Zubayr/S. Geese: Die Informationsqualität der Fernsehnachrichten aus Zuschauersicht, S. 158; S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2019.

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Tanja Köhler

1.

Die Digitalisierung und ihre Folgen

Nachrichten können heutzutage zu jeder Zeit und an jedem Ort gelesen, gehört oder gesehen werden. Sie werden in unterschiedlichsten Ausspielwegen zur Verfügung gestellt, was zu einer unüberschaubaren Menge an Einzelnachrichten führt. Damit hat sich auch das Nutzungsverhalten der Rezipierenden geändert: Immer mehr Menschen informieren sich im Netz und in Sozialen Medien über das aktuelle Nachrichtengeschehen.5 Am häufigsten wird dafür inzwischen das Smartphone benutzt.6 Insbesondere für jüngere Menschen sind Soziale Medien wie Facebook, Youtube oder Instagram oft die Hauptquelle für nachrichtliche Informationen.7 Die veränderten Nutzungsgewohnheiten führen dabei zu einem sich ausdifferenzierenden Publikum und einer wachsenden Heterogenität der Publikumsinteressen. Hinzu kommt: Die Teilhabemöglichkeiten haben sich massiv verändert. In den frei zugänglichen digitalen Kommunikationsräumen kann prinzipiell jeder zum Sender werden, so dass nachrichtliche Informationen von immer mehr – auch nichtjournalistischen – Kommunikatoren verbreitet werden. Damit einher geht nicht nur eine Vermischung von Fakten und Meinung, sondern auch eine zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien und Fake News, die sich im Netz oft erfolgreicher verbreiten als seriöse Meldungen traditioneller Nachrichtenanbieter. So hatten im Jahr 2018 die acht erfolgreichsten Fake News auf Facebook mehr Interaktionen als fast alle Artikel der größten Nachrichtenseiten in Deutschland.8 Dabei sind Desinformationen in der Regel nicht (sofort) als solche erkennbar, was das Misstrauen in die Glaubwürdigkeit und Qualität von Quellen ebenso steigert wie die Medienskepsis. Diese Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverluste bekommen auch etablierte Medien zu spüren. Sie äußern sich in Lücken-, Lügenpresse- und Fake-News-Vorwürfen oder in einer pauschalen Kritik an den »MainstreamMedien«, der »Systempresse« und dem »Staatsfunk«. Die veränderten gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen haben auch zu mehr Interaktionen zwischen Publikum und Medienschaffenden und in Teilen zu einem vergifteten Kommunikationsklima geführt. Dieses findet

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S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2019, S. 5. Ebd., S. 37-39. Ebd., S. 6-7. K. Schmehl: Das sind 8 der erfolgreichsten Falschmeldungen auf Facebook 2018.

Chancen und Disruptionen des Nachrichtenjournalismus

seinen Ausdruck in Hasskommentaren und verbalen Angriffen, deren Ziel immer häufiger auch Journalistinnen und Journalisten und ihre Berichterstattung sind. Katharine Viner, die Chefredakteurin des Guardian, schlussfolgert vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen: »The circumstances in which we report, produce, distribute and obtain the news have changed so dramatically that this moment requires nothing less than a serious consideration of what we do and why we do it.«9 Nachrichtenorganisationen und -redaktionen befinden sich daher in einem erheblichen und umfassenden Transformationsprozess, um auf den digitalen Wandel zu reagieren. Sie reorganisieren Redaktionsstrukturen und -prozesse, entwickeln neue Ansprache- und Anwendungsformen, verändern Workflows und Arbeitsroutinen, experimentieren mit neuen Verbreitungsformen und Angebotsstrukturen und setzen zunehmend auf künstliche Intelligenz, Daten und Algorithmen in allen Bereichen der Nachrichtenproduktion. Durch die plattformspezifischen Präsentationsformen werden auch die Grenzen zwischen den journalistischen Darstellungsformen fließender. Nachrichten unterscheiden sich zwar weiterhin von meinungs- und unterhaltungsbetonten Darstellungsformen (wie Kommentaren oder Features) durch ihre strikt tatsachenorientierte Berichterstattung; sie variieren aber weitaus stärker in Aufbau und Länge als in der Vergangenheit, wodurch beispielsweise die Unterscheidung zwischen Meldung und Bericht an Trennschärfe verliert. Hinzu kommt: Es ist zwar immer noch ein – wenn auch zunehmend kleiner werdender – Unterschied, ob Nachrichten in einer Print-, Hörfunk- oder Fernsehredaktion entstehen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Medien lösen sich im digitalen Wandel aber zusehends auf. Traditioneller Journalismus ist inzwischen auch digitaler Journalismus. Nicht zuletzt führt die Digitalisierung zu einem gestiegenen Wettbewerbsdruck. Sinkende Anzeigenerlöse und andere rückläufige klassische Finanzierungsquellen befördern wirtschaftliche Herausforderungen, Sparmaßnahmen sind die Folge. Zeitdruck und mangelnde Ressourcen sind in vielen (Nachrichten-)Redaktionen inzwischen Alltag und wirken sich auf die Qualität und die nachrichtenjournalistische Arbeit aus. Qualitätsjournalismus aber ist im digitalen Zeitalter für funktionierende Demokratien wichtiger denn je, weil er Bürgerinnen und Bürgern mit vertrauenswürdigen Nachrichten Orientierung bieten kann in einem schier endlosen Meer aus 9

K. Viner: A mission for journalism in a time of crises.

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Tanja Köhler

Informationen und Desinformation. Die Sicherung und Förderung von Qualitätsjournalismus als »Vierter Gewalt« ist daher eine der zentralen Aufgaben in einer Gesellschaft, die von Disruptionen geprägt wird und in der sich die Kommunikationsbedingungen durch die Digitalisierung grundlegend verändern.

2.

Der vorliegende Band

Der Wandel des Nachrichtenjournalismus im Zeitalter der Digitalisierung ist ein komplexes Phänomen, das man nur angemessen erfassen kann, wenn man ihm interdisziplinär begegnet. Der vorliegende Sammelband betrachtet deshalb den Transformationsprozess, in dem sich der Nachrichtenjournalismus befindet, aus verschiedenen Perspektiven und stellt Entwicklungen und Projekte vor, die richtungweisend sein können für die Zukunft von Nachrichtenorganisationen und -redaktionen. Das Buch versammelt Beiträge von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln dem Thema nähern. Die Perspektiven der Praktikerinnen und Praktiker sind dabei ebenso vielseitig wie das Mediensystem: Sie arbeiten bei öffentlich-rechtlichen wie privaten Rundfunkanstalten, bei etablierten Verlagen und sogenannten »Digital-born-« bzw. »Digital-only«-Portalen. Einen Blick über den Tellerrand liefern diejenigen Autorinnen und Autoren, die nicht originär im klassischen Nachrichtengeschäft tätig sind. Im ersten Teil des Buches stehen allgemeine Überlegungen zur Theorie und journalistischen Praxis im Mittelpunkt. Lorenz Lorenz-Meyer analysiert die Herausforderungen für den Nachrichtenjournalismus im digitalen Zeitalter, plädiert unter anderem für eine Überprüfung seiner Relevanzkriterien und findet, er müsse vom Erfolg von Google & Co. lernen. Tanja Köhler untersucht, welche Faktoren für Nachrichtenorganisationen und -redaktionen ausschlaggebend sind, um das langfristige Überleben im digitalen Wandel zu sichern. Marcus Bornheim beschreibt, wie die wichtigste Nachrichtenmarke Deutschlands, die Tagesschau, erfolgreich in die Zukunft geführt werden soll, um auch künftig ein großes Publikum mit Qualitätsjournalismus zu erreichen. »Die taz steht an einem entscheidenden Wendepunkt«, schreibt Katrin Gottschalk, die Zeitung mache sich unabhängig vom Papier. Sie erklärt, welche Veränderungen dafür angestoßen wurden und gibt Einblicke in erfolgreiche neue Projekte der taz.

Chancen und Disruptionen des Nachrichtenjournalismus

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit Fake News sowie der Verifikation und Beurteilung von Informationen. Dafür betrachtet Alexander Sängerlaub die Wirkung und die politische Dimension von Fake News. Er zeigt, dass etablierte Medien eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Desinformationen spielen und erklärt, wie die Chancen der Digitalisierung für den Nachrichtenjournalismus nutzbar gemacht werden könnten. Wie Desinformationen sowie gefälschte Bilder und Videos erkannt und widerlegt werden können, erläutert Jenny Stern. Sie stellt in ihrem Beitrag neue Formen journalistisch-technischer Verifikation vor und gibt einen Überblick über die dafür zur Verfügung stehenden Tools und deren Einsatz in Nachrichtenredaktionen. Auf die zunehmende Berichterstattung über Wissenschaft und Forschung sowie deren Verbreitung in Sozialen Medien geht Annette Leßmöllmann ein. Sie erläutert in ihrem Beitrag, welchen unterschiedlichen Herausforderungen NachrichtenjournalistInnen gegenüberstehen, um die Qualität von Forschungsergebnissen beurteilen und inhaltlich korrekt über Studien berichten zu können. Der dritte Teil spürt dem Einfluss und den Auswirkungen von künstlicher Intelligenz, Daten und Algorithmen auf den Nachrichtenjournalismus nach. Wiebke Loosen und Paul Solbach beschreiben in ihrem Beitrag, wie weit künstliche Intelligenz und Automatisierung bereits in alle Phasen journalistischer Aussagenentstehung vorgedrungen ist und was das für journalistisches Arbeiten bedeutet. Annika Sehl und Maximilian Eder geben einen Überblick über das systematische Auswerten von Nutzungsdaten mittels Editorial Analytics und arbeiten dessen Potenziale und Risiken für den Newsroom heraus. Wie sich der Datenjournalismus in den letzten Jahren weiterentwickelt hat, erklärt Barnaby Skinner, der auch erläutert, warum Programmierkenntnisse für Medienschaffende immer wichtiger werden und wie sie selbst und der (Nachrichten-)Journalismus insgesamt davon profitieren. Für Johannes Bornewasser ist eine fehlende Suchmaschinenoptimierung in Nachrichtenorganisationen ein »fahrlässiges Versäumnis«. Er klärt in seinem Beitrag über die Notwendigkeit von SEO auf und beschreibt ihre verschiedenen Ausprägungen und ihren Nutzen für Newsrooms. Der vierte Teil des Buches rückt das wichtigste Gestaltungsmittel im Nachrichtenjournalismus in den Mittelpunkt: die Sprache. Hans-Bernd Brosius und Viorela Dan untersuchen, wie Nachrichtensprache den Blick auf gesellschaftliche Themen und Ereignisse prägt und welche Rolle Journalistinnen und Journalisten beim Verfassen von Frames spielen. Marieke Reimann erklärt die Notwendigkeit von geschlechtergerechter Sprache im

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digitalen Zeitalter und beschreibt die Herausforderungen bei deren Einführung in die Berichterstattung des Onlineportals ze.tt, die teils überraschende Auswirkungen hatte – sowohl bei Mitarbeitenden als auch beim Publikum. Tanja Köhler beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit inklusivem Journalismus sowie Nachrichten in Leichter und Einfacher Sprache. Mit deren Hilfe soll Menschen, die konventionellen Nachrichtenangeboten nicht folgen können, mehr Teilhabe in einer digitalisierten Gesellschaft ermöglicht werden. Der fünfte Teil des Buches stellt Projekte und Formate vor, die richtungweisende Impulse geben, wie etablierte Medien auf Vertrauensverluste reagieren und jüngere Zielgruppen erreichen können. »Rethink Journalism«, fordert Ulrik Haagerup, der erklärt, warum konstruktiver Journalismus eine Antwort auf Glaubwürdigkeits- und Vertrauenserosion sein kann, welche Rolle er international inzwischen spielt und wie sich das Constructive Institute an dessen Verbreitung und Qualitätssicherung beteiligt. Philip Faigle stellt in seinem Beitrag unterschiedliche Projekte und Experimente von Zeit Online vor, die nicht nur ein großer publizistischer Erfolg wurden, sondern auch innerhalb der Redaktion und im Newsroom zu einem veränderten Blick auf den Journalismus geführt haben. Katrin Pötzsch beschreibt, wie der Bayerische Rundfunk ein Projekt startete, um jüngere Menschen (besser) zu erreichen und dabei neue Herangehensweisen bei der Nachrichtenproduktion entwickelte. Viola Granow stellt das Content-Netzwerk funk von ARD und ZDF vor und erläutert, wie die Distribution über Soziale Medien und der Einbezug der Zielgruppe dazu führte, junge Menschen mit öffentlich-rechtlichen Angeboten zu erreichen. Im sechsten Teil stehen Rezipientinnen und Rezipienten im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund von Vertrauensschwund und Desinformation erläutert Tanit Koch, warum der Journalismus verstärkt die Bedürfnisse des Publikums in den Blick nehmen muss und welche Strategien RTL dabei verfolgt. Wie Verlage in Skandinavien die Berichterstattung an (individuelle) Publikumspräferenzen anpassen und damit nicht nur die Reichweite steigern, sondern auch die Redaktionskultur im Newsroom verändern, zeigt Meinolf Ellers, der auch skizziert, welche Anstrengungen deutsche Verlage in dieser Hinsicht unternehmen. Laura Badura, Bernadette Uth und Katherine M. Engelke beschäftigen sich mit Transparenz als neuer journalistischer Norm im digitalen Zeitalter und stellen dar, wie individuelle Transparenzstrategien im Nachrichtenjournalismus zum Aufbau von Vertrauen beim Publikum beitragen können. Markus Beiler, Uwe Krüger und Juliane Pfeiffer erörtern die Notwendigkeit der Vermittlung von Medien- und Nachrichtenkompetenz im digitalen Zeit-

Chancen und Disruptionen des Nachrichtenjournalismus

alter und stellen das »Zentrum Journalismus und Demokratie« vor, das die Ausbildung von Medienkompetenz als wichtige gesellschaftliche Aufgabe betrachtet und sich einer breiteren Journalismusausbildung widmet. Der siebte Teil des Buches umkreist das Thema Redaktionsmanagement. Alexandra Borchardt widmet sich dem oftmals vernachlässigten Bereich von Führung im digitalen Zeitalter und zeigt, welche Führungsqualitäten für ein langfristiges Überleben im digitalen Wandel für Medienhäuser zentral sind. Sonja Kretzschmar betrachtet die crossmedialen Entwicklungen im Newsroom und geht der Frage nach, wie Nachrichtenredaktionen auf die neuen Herausforderungen der Medienkonvergenz reagieren. Juliane A. Lischka, Manda Sokic und Julien N. Lattmann reflektieren die Rolle von Technikkompetenzen für die Zukunftsfähigkeit von Nachrichtenorganisationen und beschreiben dabei die neue Berufsgruppe der sogenannten »News Nerds« sowie deren Visionen für den Journalismus. Leif Kramp und Stefan Weichert gehen dem Phänomen von Hass im Netz nach und zeigen Strategien für Redaktionen im Umgang mit destruktiven und emotionsgeladenen Nutzerkommentaren.

3.

Dank

Mein herzlicher Dank gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren, ohne die der Sammelband nicht möglich gewesen wäre. Ihnen allen danke ich für die anregende Zusammenarbeit, die mir große Freude gemacht hat. Sie alle haben sich mit viel Engagement und Einsatzbereitschaft an dem vorliegenden Buch beteiligt, wie es nicht selbstverständlich ist. Ich danke auch den Chefredakteuren und Ressortleiterinnen, die mich während der Vorrecherche zu diesem Buch stets freundlich und offen empfingen. Sie alle nahmen sich auch im aktuellen Tagesgeschäft großzügig Zeit, um ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit mir zu teilen und mir Einblicke in ihre Arbeit und ihre Projektideen zu geben. Die zahlreichen persönlichen Gespräche mit ihnen und mit den beteiligten Autorinnen und Autoren haben mir nicht nur wertvolle fachliche Anregungen gegeben, sondern waren auch auf zwischenmenschlicher Ebene überaus angenehm. Bedanken möchte ich mich ebenfalls bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des transcript Verlags, allen voran Daniel Bonanati und Anke Poppen, die dieses Buchprojekt engagiert betreut haben. Ulf Müller gilt mein Dank für das gewissenhafte Lektorat des Buches, auch in Zeiten enger Deadlines.

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Meinen Freundinnen und Freunden Dr. Caroline Bohn, Ulrich Forster und Larissa Mohar danke ich für die liebe Unterstützung und die wertvollen Impulse. Mein größter und innigster Dank gilt Norbert Wank, der sich auf eine Weise an dem Buchprojekt beteiligte, als wäre es sein eigenes.

Literatur Hans-Bredow-Institut (Hg.): Medien von A-Z. Wiesbaden: VS-Verlag 2006. Hölig, Sascha/Hasebrink, Uwe: Reuters Institute Digital News Survey 2019. Ergebnisse für Deutschland. Arbeitspapiere des Hans-BredowInstituts Nr. 47. Hamburg: Verlag Hans-Bredow Institut Juni 2019. Siehe: https://hans-bredow-institut.de/uploads/media/default/cms/media/x52wfy2_AP47_RDNR19_Deutschland.pdf Reumann, Kurt: »Journalistische Darstellungsformen«, in: Elisabeth NoelleNeumann/Winfried Schulz/Jürgen Wilke (Hg.), Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. Frankfurt a.M.: Fischer 2009, S. 129-167. Schmehl, Karsten: »Das sind 8 der erfolgreichsten Falschmeldungen auf Facebook 2018«, in: Buzzfeed.com, siehe: https://www.buzzfeed.com/de/karstenschmehl/falschmeldungen-facebook-2018-fakes-luegen-fake-news Viner, Katharine: »A mission for journalism in a time of crises«, in: The Guardian, siehe: https://www.theguardian.com/news/2017/nov/16/amission-for-journalism-in-a-time-of-crisis vom 16.11.2017. Voigt, Juliane: Nachrichtenqualität aus Sicht der Mediennutzer. Wie Rezipienten die Leistung des Journalismus beurteilen können. Wiesbaden: Springer VS 2016. Widmann, Joachim: »Plädoyer für qualitätsvollen Journalismus«, in: Claudia Mast (Hg.), ABC des Journalismus. Ein Handbuch. Konstanz: UVK 2008, S. 274-278. Zubayr, Camille/Geese, Stefan: »Die Informationsqualität der Fernsehnachrichten aus Zuschauersicht«, in: Media Perspektiven 4 (2009), S. 158-173.

NACHRICHTENJOURNALISMUS UND DIGITALER WANDEL

Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit Lorenz Lorenz-Meyer

1.

Nachricht und Kontext

Viele Journalistinnen und Journalisten sehen in der Nachricht das zentrale und wichtigste Produkt ihres Geschäfts. Schnell, präzise, nüchtern und neutral hilft sie dem Publikum, im Weltgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben. Morgens, zum Einstieg in den Tag, abends, als sein Résumé, und dazwischen gelegentlich im Alarmmodus, wenn sich etwas Besonderes ereignet hat – der Fluss der Nachrichten fordert immer wieder unsere Aufmerksamkeit und belohnt uns dafür mit der Chance, informiert an einer gemeinsamen Öffentlichkeit teilzuhaben. Dabei sind Nachrichten eine journalistische Form, die immer des Kontextes bedarf. Denn sie beschreiben ausschließlich Ereignisse, und die Welt besteht nicht nur aus Ereignissen. Schon der große Bruder des Ereignisses, der länger währende Prozess, kommt in der Nachricht zu kurz (oder ist ihr zu lang). Ganz zu schweigen von den eher statischen Weltausschnitten, den Zuständen, Situationen, Lagen, in denen wir uns notwendigerweise befinden. Nachrichten leben vom Akuten, von der plötzlichen Änderung. Auch ihre Auswahl wird letztlich durch den Gang der Ereignisse bestimmt, und nicht durch ein ausgewogenes Bedarfsbild aller für das Publikum relevanten Lebensumstände. Der notwendige Kontext, ohne den die Nachrichten nur ein lückenhaftes Bild der Wirklichkeit vermitteln, besteht unter anderem aus einer Darstellung wichtiger Hintergründe und einer Einordnung des aktuellen Geschehens in diese Hintergründe sowie aus einer exemplarischen Bewertung. Der Journalismus trägt diesem Einordnungsbedarf Rechnung durch die Bereitstellung anderer journalistischer Formen, wie der ausführlicheren Hintergrundberichterstattung in Feature und Reportage, der Analyse und letztlich

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den wertenden Formen wie Kommentar und Leitartikel. Und im klassischen Journalismus findet die geschilderte Kontextualisierung im journalistischen Produkt oder Format selbst statt: Die Zeitung beispielsweise bettet die Nachricht unmittelbar in Hintergrundberichterstattung und Analyse ein und auf der Meinungsseite findet die Leserin exemplarische Bewertungen. Im informationsorientierten Rundfunk folgt auf die Nachrichtensendung das hintergründigere Magazin mit Einordnung und Bewertung. Was der Journalismus darüber hinaus selbst nicht zu leisten vermag, obliegt traditionell der Obhut der Bildungsinstitutionen, der Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen. Sie stellen das notwendige Allgemeinwissen bereit, das zum Verständnis journalistischer Inhalte vonnöten ist. Im traditionellen Idealbild einer offenen, demokratischen Gesellschaft entsteht auf diese Weise eine Öffentlichkeit, die jederzeit Zugriff auf die für Meinungsbildung und Entscheidungsfindung notwendigen Informationen hat.

2.

Journalismus um die Jahrtausendwende

Dieses Idealbild einer wohlinformierten Öffentlichkeit ist nicht allein aufgrund der aufkommenden Dominanz des Internets und der digitalen Kommunikationsmedien immer wieder gefährdet. Werfen wir deshalb zunächst einen kurzen Blick zurück auf den Journalismus im Deutschland des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Trotz weiterhin meist hervorragender Renditen sorgen im Bereich kommerzieller journalistischer Medien Gewinnorientierung und Zukunftsängste für einen schleichenden Abbau an rechercheintensiven, aufwendigen Formaten und öffnen den Journalismus für leicht zugängliche interessengesteuerte Inhalte aus der PR. Der Dotcomboom brachte der Branche Ende der 1990er Jahre zunächst eine unverhoffte Blüte, nicht nur des Anzeigengeschäfts. Umso schmerzlicher war dann der Einschnitt, als die Blase platzte. Viele in erster Euphorie getätigte Investments in neue Formate mussten die Medienunternehmen wieder zurücknehmen, statt der vorwärtsgewandten Strategen übernahmen die Controller das Geschäft. Von einer Herrschaft der »Nullen und Nadelstreifen« spricht in diesem Zusammenhang 2014 die Journalistin Katja Kullmann in ei-

Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit

nem gnadenlos sarkastischen Bericht über Kürzungen und Kündigungen bei Gruner + Jahr.1 Eigene Korrespondentennetze privater Medien werden abgebaut, generisches nachrichtliches Agenturmaterial ersetzt mehr und mehr die eigene Themenfindung und hintergründige Recherche, auch die Nachrichtenagenturen selbst unterliegen dem Schwund. Eine marktkonforme Orientierung an vermeintlichen Konsumentenbedarfen verzerrt zudem die Themenauswahl zugunsten ›leichter‹, emotionsgetriebener Kost. Die Finanzkrise 2007/2008 trägt einerseits zur weiteren Komplikation der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei und unterstreicht zum anderen die strukturelle Insuffizienz des Journalismus nach der Jahrtausendwende. In ihrer umfangreichen Studie »Wirtschaftsjournalismus in der Krise« untersuchen Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz die Leistung des tagesaktuellen deutschsprachigen Wirtschaftsjournalismus im Vorfeld und während des finanzwirtschaftlichen Zusammenbruchs und attestieren nicht nur den privaten, sondern auch den öffentlich-rechtlichen Medien ein katastrophales Versagen.2 Offensichtlich unterliegt auch der Versuch, den Unwägbarkeiten eines marktgetriebenen Journalismus durch die fortgesetzte Bereitstellung einer qualitätsgesicherten öffentlich-rechtlichen Medieninfrastruktur zu begegnen, zahlreichen Problemen. In Ermangelung allgemein nachvollziehbarer, besserer operativer Leitbilder und Erfolgskriterien werden auch hier die aufwendigen, relevanzgesteuerten journalistischen Informationsformate zunehmend der Quote, und das heißt: dem kurzfristigen Publikumsgeschmack geopfert. So kann man eine Boulevardisierung der politischen Magazinsendungen im Fernsehen beobachten, anspruchsvollere Dokumentarfilme werden auf Sendeplätze in der späten Nacht verbannt, im Radio sinkt der informierende Wortanteil. Zwar entstehen dort auch neue Infokanäle, doch in ihnen verdrängen Nachrichtensendungen in kurzer Taktung mehr und mehr die hintergründigeren Formate. Talkshows heben den Stammtisch auf die mediale Bühne und ersetzen echte Expertise. Eine allgemein zugängliche informationelle Grundversorgung ist somit zwar weiterhin gegeben, aber die Zugangsschwellen liegen hoch, zu hoch. Wer sich qualitativ hochwertig informieren will, muss Aufwand betreiben, 1 2

K. Kullmann: Nullen und Nadelstreifen. H.-J. Arlt/W. Storz: Wirtschaftsjournalismus in der Krise.

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muss die Nacht zum Tage machen, muss im kommerziellen Bereich viel Geld in die Hand nehmen, denn die Abos für Qualitätstitel im Printbereich sind längst richtig teuer geworden. Das Universalitätsprinzip, nach dem die meisten öffentlich-rechtlichen Medien sich nach der Gründung der BBC selbst verstehen, verspricht eine solidarfinanzierte, für jeden niedrigschwellig zugängliche Grundversorgung an relevanter Information und Bildung. Aber auch ARD und ZDF sind trotz vieler positiver Ansätze weit davon entfernt, diesem hehren Ideal zu entsprechen.

3.

Effekte des Internets

Das Internet und die mobilen digitalen Kommunikationsmedien haben die geschilderten Probleme im Laufe der vergangenen 20 Jahre massiv verschärft. Sie stellen den Journalismus heute vor gewaltige Herausforderungen. Es begann mit dem Versiegen klassischer Erlösquellen wie der Kleinanzeigenmärkte in den Printmedien, die nahezu rückstandslos ins Internet abwanderten und damit nachrichtlichen Medien wie den Tageszeitungen ein wesentliches geschäftliches Fundament entzogen. Weiterer Personalabbau in den Redaktionen und Korrespondentennetzen war die Folge, mit unmittelbaren Auswirkungen auf die journalistische Qualität. Die Journalistinnen und Journalisten verloren außerdem ihre privilegierte Rolle als Torwächter des öffentlichen Raumes, denn das Internet ermächtigte auch Amateure und andere, zum Beispiel kommerzielle Player, sich direkt an ihre Zielgruppen zu wenden. Diese Entwicklung betraf – wie schon der Einbruch in den Anzeigenmärkten – unmittelbar auch das Nachrichtengeschäft, denn über Soziale Medien wie Twitter oder Facebook wurden wichtige Ereignisse ungefiltert und in Echtzeit im Netz rapportiert – der Nachrichtenjournalismus bekam Konkurrenz und hat spürbar an Relevanz und Vertrauen verloren. Eine der dramatischsten Entwicklungen aber betrifft die Rezeptionsgewohnheiten vor allem des jüngeren Publikums. Während ihre Eltern die Nachrichten noch in einer Welt geschlossener journalistischer Produkte geliefert bekamen, ihre Tageszeitungen abonniert hatten und sich abends vor den TV-Nachrichten versammelten, konsumieren die Jugendlichen die News mittlerweile vor allem am Smartphone, als geteilte Einträge in den Timelines ihrer sozialen Netzwerke.

Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit

Die gelesene, gesehene oder gehörte Nachricht ist dort Bestandteil eines vielstimmigen Geschehens, eines lauten Marktplatzes verschiedener Akteurinnen und Akteure unterschiedlichster Provenienz und Seriosität. Und sie verliert dort ihren Kontext, der ursprünglich von der Redaktion in der unmittelbaren Nachbarschaft des Produktes bereitgestellt wurde: die Einordnung, die durch Hintergrundberichterstattung oder Analyse geliefert wird, geht ebenso verloren wie die Bewertung im Kommentar auf der Meinungsseite. Während der einzelnen Meldung also der produktionsseitig intendierte Kontext verloren geht, wird sie in der Timeline auf Rezeptionsseite re-kontextualisiert. Sie wird im Freundeskreis geteilt, kommentiert und bewertet, die Konsumenten erleben die unmittelbare Begeisterung oder Empörung, die sie auslöst. Für die Anbieter bedeutet diese Entwicklung vor allem einen Kontrollverlust. Nicht nur gehen sie dadurch zunehmend ihrer letzten Erlösquellen verlustig – im vielfältigen Mix medialer Angebote ist kaum noch ein Konsument bereit, sich per Abonnement an nur eine Quelle vertraglich zu binden –, sie müssen auch redaktionell und inhaltlich umdenken. Die neue digitale Öffentlichkeit, die auf diese Weise entsteht, ist vielfach noch unverstanden, und sie macht vielen Menschen gerade in der Medienbranche Angst. Insbesondere der Erfolg und die Rolle der sogenannten Intermediäre, also insbesondere der Anbieter der Suchmaschine Google und des sozialen Netzwerks Facebook mit ihren zahlreichen angeschlossenen Diensten (Youtube, Instagram, Whatsapp etc.), die die wesentlichen Ausspielplattformen für journalistische und andere Inhalte in der digitalen Sphäre sind, werden in der Branche mit einer merkwürdigen Mischung aus Neid und Entsetzen beobachtet.

4.

Die Rolle der Intermediäre

Kritikerinnen und Kritiker machen den genannten Intermediären unter anderem zwei Vorwürfe: (1) dass das Empfehlungsranking (Google, Youtube) und die Abfolge in den Timelines (Facebook) von undurchsichtigen Algorithmen gesteuert werde; und (2) dass die individuelle Anpassung dieser Algorithmen dazu führe, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich zunehmend nur noch unter ihresgleichen bewegen, mit Inhalten, die ihnen maßgeschneidert

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von der Suchmaschine oder den Plattformen zugespielt werden: Die Rede ist von sogenannten Filterblasen oder Echokammern. Schauen wir uns zunächst diese zwei Vorwürfe etwas genauer an: (1) Schon der Begriff des Algorithmus hat etwas Ominöses an sich. Wenn unser Leben von Algorithmen diktiert wird, dann haben, so scheint es, die Maschinen endgültig die Kontrolle über die Menschen übernommen. Dabei wird oft übersehen, dass Algorithmen im Normalfall nichts anderes sind als von Menschen formulierte Regeln, die dann automatisiert umgesetzt werden. Selbst wenn dabei neuere Techniken wie Machine Learning oder Deep Learning eingesetzt werden, bei denen die Mechanismen der Regelumsetzung nicht immer transparent sind, machen die Maschinen normalerweise genau die Fehler, die ihnen die Menschen bei ihrer Programmierung und Vorbereitung diktiert haben. Wir sollten also vielleicht weniger Angst vor Maschinen als vor den menschlichen Motiven ihrer Verwendung haben. Im Falle von Google und Facebook heißt dies: Vordergründig mag es bei den dort eingesetzten Algorithmen um den Mehrwert gehen, den die Nutzerinnen und Nutzer in der Verwendung dieser Systeme haben. Dahinter aber steckt die knallharte Businesslogik der Plattformanbieter: Die Nutzerinnen und Nutzer sollen möglichst lange auf der Plattform gehalten werden, so dass ihnen möglichst viel personalisierte Werbung zugespielt werden kann. Sie sind dabei weniger Kunden der Anbieter als vielmehr selbst die Ware, die verkauft wird. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Beobachtungen zeigen, dass die Empfehlungen auf der zu Google gehörenden Videoplattform Youtube an den Neigungen der einzelnen Nutzerinnen und Nutzer ansetzen, diese aber mit eskalierend emotionalisierten und radikalen Angeboten zu binden und zu befriedigen versuchen.3 So kann es passieren, dass ein Jugendlicher, der damit beginnt, sich simple Kampfsportvideos anzusehen, nach und nach immer brutalere Videos in der Seitenspalte angeboten bekommt, bis hin zu Filmen, die nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks, sondern auch des dieser Zielgruppe Zumutbaren überschreiten. Es geht hierbei nicht um echte Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer, es werden vielmehr Reiz-Artefakte eingesetzt, um diese zu binden – mit unkalkulierbaren Folgen für ihre psychosoziale Gesundheit.

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P. Lewis: ›Fiction is outperforming reality‹: how YouTube’s algorithm distorts truth; Z. Tufekci: YouTube, the Great Radicalizer.

Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit

Weniger die Algorithmen als die dahinterstehenden Geschäftsinteressen sind es also, die die mangelnde Transparenz der privaten Plattformanbieter zum Problem machen. Dies zeigt sich auch in der Angreifbarkeit und Ausnutzbarkeit der Plattformen für Formen verdeckter politischer Einflussnahme und digitaler Propaganda, wie wir sie etwa im Falle von Brexit und USPräsidentschaftswahlen im Jahr 2016 erlebt haben. Und es zeigt sich ganz generell an der rücksichtslosen Ausbeutung der Nutzerdaten und den fragwürdigen Kooperationen, die Anbieter wie Facebook fast ausschließlich hinter dem Rücken der Nutzerinnen und Nutzer eingehen. (2) Der Vorwurf, dass die Medienrezeption über Suchmaschinen und soziale Netze zu Echokammern und Filterblasen gleichgesinnter Milieus führe, wurde in den letzten Jahren vor allem von US-amerikanischen Autoren wie Cass Sunstein und Eli Pariser propagiert.4 Ihre Theorie erfreut sich, gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Polarisierung in den USA und in Großbritannien, weiterhin ungebrochener Beliebtheit. Dabei gibt es mittlerweile empirische Befunde (etwa von Autoren wie Yochai Benkler und Axel Bruns5 ), die Anlass zur Skepsis geben. Harte Polarisierung, so scheint es bei genauerem Hinsehen, ist weniger eine Folge als eine Ursache der Clusterbildung in den sozialen Netzen. Sie geht vor allem von Milieus aus, die sich nicht primär aus dem Internet und über soziale Netzwerke, sondern aus klassischen Rundfunkmedien informieren. Jüngere Zielgruppen in den digitalen Medien hingegen konsumieren keineswegs die erwartete einseitige Mediendiät, sondern haben eine relativ hohe Exposition auch gegenüber anderen Sichtweisen und Positionen.

5.

Wandel der Nutzungsformen

Was wissen wir also über diese jüngeren Nutzergenerationen und die neue digitale Öffentlichkeit, in der sie aufwachsen? Das Reuters Institute an der Universität Oxford führt seit dem Jahr 2012 jährlich internationale Vergleichsstudien durch, in denen das Nachrichtengeschäft in den digitalen Medien untersucht wird.6 Deren Befunde zeigen zunächst, dass es keine einheitli4 5 6

C. Sunstein: Echo Chambers: Bush v. Gore, Impeachment, and Beyond; E. Pariser: The Filter Bubble. What the Internet Is Hiding from You. Y. Benkler/R. Faris/H. Roberts: Network Propaganda: Manipulation, Disinformation and Radicalization in American Politics; A. Bruns: Are Filter Bubbles Real? Reuters Institute (Hg.): Digital News Report.

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che globale digitale Öffentlichkeit gibt. Die untersuchten nationalen Märkte unterscheiden sich zum Teil erheblich, in ihrem Anpassungstempo bei der Digitalisierung, aber auch in den individuellen Ausgestaltungen. So findet sich zum Beispiel in den skandinavischen Märkten eine deutlich höhere Zahlungsbereitschaft für Medieninhalte im Netz. Deutschland, Frankreich und die Schweiz erweisen sich als besonders schwerfällig in der Adaptation neuer Dienste und Verfahren. Weiterhin bestätigen die Studien über die Jahre einen krassen Generationenabriss. Während ältere Nutzerinnen und Nutzer ihre Nachrichten weiterhin gerne produkttreu rezipieren (direkt vom Anbieter), entsteht der Erstkontakt zu den Nachrichten bei den jüngeren Nutzerinnen und Nutzern fast ausschließlich über soziale Netzwerke. Während bei den jüngeren das Smartphone die bevorzugte Schnittstelle zur Aktualität ist, favorisieren die älteren zu diesem Zweck weiterhin den Rundfunk. Ein für die journalistischen Anbieter auf den ersten Blick beruhigender Befund der Reuters-Studien besagt, dass die Nutzer weiterhin großes Vertrauen in die bewährten traditionellen Medienmarken setzen. Weniger beruhigend ist hingegen die damit konfligierende Beobachtung, dass viele, gerade jüngere Nutzerinnen und Nutzer im Mix ihrer Timelines die spezifische Herkunft der einzelnen journalistischen Nachrichten gar nicht mehr differenzierend wahrnehmen. Das geäußerte Markenvertrauen scheint eher ein Nachhall eines traditionellen Qualitätsverständnisses zu sein als eine in der Medienrezeption gelebte Wirklichkeit. Eine mögliche Interpretation dieses Widerspruchs diagnostiziert eine Spannung zwischen der weiter zunehmenden Atemlosigkeit des digitalen Nachrichten- und Meinungskonsums und einem dabei zugleich empfundenen Orientierungsdefizit. Diese Interpretation wird gestützt durch eine weitere, im September 2019 erschienene Studie der Unternehmensberatung Flamingo über die Nachrichtenrezeption speziell junger Zielgruppen, die ebenfalls vom Reuters Institute in Auftrag gegeben wurde.7 Dort wird klar, dass die Jugendlichen ihre Nachrichten mittlerweile nicht nur fast ausschließlich mobil und nur noch selten direkt beim Anbieter, sondern auch in so gut wie jeder Lebenslage konsumieren. Sie erwarten von ihren News unter anderem leichte Zugänglichkeit, Nützlichkeit, einen konstruktiven Beitrag und soziale Anschlussfähigkeit.

7

L. Galan u.a.: How Young People Consume News.

Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit

6.

Bedeutung und Auftrag der öffentlich-rechtlichen Medien

Wie kann der Journalismus angemessen auf die beschriebenen Herausforderungen der Digitalisierung reagieren? Ihm wird – wie eingangs dargestellt – als ›vierter Gewalt‹ im Staate die Aufgabe zugeschrieben, die Bürgerinnen und Bürger zu informieren, bestehende Institutionen und gesellschaftliche Mächte zu kontrollieren, auf Missstände aufmerksam zu machen und diese zu kritisieren. Er soll allen Bürgerinnen und Bürgern Orientierung bieten und es ihnen ermöglichen, sich informiert eine eigene Meinung zu bilden, um am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Auch wenn wir bereits festgestellt haben, dass die Gefahr einer fragmentierten und polarisierten Öffentlichkeit weniger als befürchtet von den digitalen Medien selbst ausgeht, sollte andererseits klar sein, dass es Aufgabe des Journalismus sein muss, einer solchen Fragmentierung und Polarisierung, wo auch immer sie herrührt, entgegenzuwirken. Das Idealbild des informierten öffentlichen Diskurses setzt die Überwindung vorhandener gesellschaftlicher Grenzen und die Anschlussfähigkeit – auch in der Kontroverse – voraus. Dem widerspricht nicht nur die Businesslogik der Intermediäre, die ihren medialen Mix immer passgenauer auf spezifische Milieus zuschneiden. Auch beim kommerziellen Journalismus steht die Zielgruppenansprache im Zentrum des redaktionellen Marketings. In beiden Fällen liegt ein wesentlicher und struktureller Grund in den Anforderungen der Werbewirtschaft, für die ein segmentierter Markt wesentlich erfolgversprechender ist als ein integrierter. Noch in einer anderen Hinsicht bietet der privatwirtschaftlich organisierte Journalismus im Moment wenig Grund zur Hoffnung: Wegen der härteren Konkurrenz und Unsicherheit im digitalen Anzeigengeschäft ist er mehr als zuvor auf Vertriebserlöse angewiesen, die sich gerade im Internet nicht so recht einstellen wollen. Die Nachfrage nach qualitativ hochwertigem Journalismus ist weiterhin da, aber dieser wird so mehr und mehr zu einem in der Herstellung teuren und damit auch im Angebot hochpreisigen Luxusgut. Die breite Nutzerschaft wird mit einem weitgehend auf generische Nachrichten und Entertainment heruntergekochten Angebot abgespeist, das Abonnement einer Zeitung vom Niveau der FAZ oder Süddeutschen Zeitung, egal ob Print oder digital, kann sich die Mehrzahl der Haushalte kaum noch leisten. Beide Entwicklungen, die zunehmende Segmentierung des Medienmarktes anhand spezifischer Zielgruppen und die Einhegung des Qualitätsjournalismus in exklusive, hochpreisige Marktsegmente, sind strukturell in den

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Entwicklungen des Marktes angelegt. Um hier gegenzusteuern und eine integrierte digitale Öffentlichkeit zu sichern, kommt meines Erachtens den öffentlich-rechtlichen Medien eine besondere Aufgabe zu. Sie waren ja unter anderem mit just diesem Auftrag installiert worden: auch in Zeiten eines publizistischen Marktversagens verlässlich für eine qualitativ hochwertige Grundversorgung an Information, Bildung und Unterhaltung zu sorgen. Sie sollen ein publizistisches Angebot bereitstellen, das über eine erschwingliche Solidarfinanzierung gesichert und für alle erreichbar ist. Über die Gewichtung der inhaltlichen Anteile in diesem Versorgungsauftrag lässt sich streiten, aber Journalismus gehört gewiss zu den wesentlichen Säulen eines auftragsgemäßen öffentlich-rechtlichen Mediensystems auch in der digitalen Sphäre. Denn die digitale und mobile Medienwelt, die bereits jetzt gegenüber den klassischen Print- und Rundfunkmedien eine dominierende Rolle zu spielen beginnt, wird der wichtigste Schauplatz sein, auf dem ein zeitgemäßer Journalismus künftig seinen Beitrag zu einer informierten und aufgeklärten Öffentlichkeit zu leisten hat. Angesichts dieser Tatsache ist es ärgerlich, wenn die Verteilungskämpfe zwischen kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien immer noch in der Begrifflichkeit vergangener Zeiten (Presseähnlichkeit, lizenzpflichtige Kanäle etc.) diskutiert und letztlich auch entschieden werden. Und es ist besonders ärgerlich, wenn Politik und Anstalten die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien ohne Not auf klassische, rein audiovisuelle Formate beschränken. Die gesamte publizistische und journalistische Ökologie unterliegt einem so rabiaten Wandel, dass solche Festlegungen das Denken hemmen und für die digitale Öffentlichkeit schädlich sind. Denn was wir brauchen, ist die Freiheit für Visionen.

7.

Information und Orientierung

Kehren wir zurück zum Nachrichtenjournalismus. Ich hatte eingangs darauf hingewiesen, dass die Nachricht ihre segensreiche Wirkung nur im Zusammenhang mit einem elaborierten Kontext aus Hintergrundinformationen, Erläuterungen, Vertiefungen entfalten kann. In klassischen journalistischen Produkten und Umgebungen bemühen sich die Anbieter, diesen Kontext so gut es geht in greifbarer Nähe mitzuliefern. Wie wir gesehen haben, stören die digitalen Medien diesen intendierten Zusammenhang jedoch, indem sie die Nachrichten aus dem Produkt oder tra-

Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit

ditionellen Angebotsbündel (Zeitung, Kanal, Sendung) herauslösen und über verschiedene alternative Kanäle ausspielen, wie zum Beispiel Suchmaschinen oder die Timelines sozialer Netze. Die notwendige Kontextualisierung der Nachrichten gründet im Internet somit also eher in der inhaltlichen und sozialen Anschlussfähigkeit der Nachrichten in der jeweiligen Rezeptionssituation, daran, wie diese verlinkt, geteilt, diskutiert, in neue Zusammenhänge gestellt werden. Das alles sind Vorgänge, die bislang der Kontrolle der Anbieter weitgehend entzogen sind. Nun ist das Internet in Sachen Kontextualisierung ja keineswegs schlecht. Wenn ich – sagen wir auf Facebook – eine Nachricht lese, und mir begegnet in ihr ein unverstandener Begriff, so sind Google oder Wikipedia nur wenige Handgriffe entfernt und liefern mir gegebenenfalls eine Begriffserklärung oder weitere lexikalische Informationen. Will ich einer Spur wirklich nachgehen, kann ich mich in vielen Fällen ohne große Mühe bis zu deren Quellen vorarbeiten, sofern diese online verfügbar sind. Der kundigen Nutzerin bietet das Netz so viele Möglichkeiten, dass das Problem eher in einem Zuviel an weiterführender Information besteht als in deren Mangel. Aber die überbordende Quantität führt auch zu einem Problem mit der Qualität. Nicht jeder Nutzer ist kundig genug, die Relevanz und Verlässlichkeit weiterführender Informationen zu beurteilen. Für viele endet die weitere Recherche in einem Dschungel dubioser und unverstandener Fundstücke. Journalismus hat nicht nur die Aufgabe, zu informieren, er soll auch Orientierungshilfe bieten. Die große Herausforderung für den Nachrichtenjournalismus besteht nun darin, diese beiden Funktionen im Interesse der Wahrung und Sicherung einer kohärenten digitalen Öffentlichkeit zusammenzuführen. Herauszufinden, wie das im Einzelnen geschehen kann – darin besteht die eigentliche Herausforderung. Wir brauchen Labore und Testsituationen, in denen wir verschiedene Techniken und Strategien erproben. Im Anschluss ein paar Ideen.

8.

Öffentlich-rechtliche Plattformen

Wir hatten gesehen, dass die Kontextualisierung der Nachrichten unserer Kontrolle entzogen ist und immer mehr auf sozialen Plattformen wie Youtube oder Facebook stattfindet, die nach harten kommerziellen Prinzipien

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betrieben werden und nicht unbedingt daran interessiert sind, die Inhalte gemeinwohlorientiert auszuspielen. In dieser Situation bringt es nichts, die jungen Nutzerinnen und Nutzer auf unsere ursprünglichen Einzelangebote zurückzuzwingen. Wir sollten uns aber auch nicht darauf beschränken, unsere Inhalte dann eben zusätzlich auf den kommerziellen Plattformen auszuspielen und uns deren Prioritäten und Regeln zu unterwerfen. Ein Ziel müsste vielmehr sein, vom Erfolg von Google, Facebook und anderen Playern zu lernen und selbst dezentrale Plattformen, nun aber mit gemeinnütziger Ausrichtung, zu entwickeln. So etwas kann eigentlich grundsätzlich nur aus einer öffentlich-rechtlichen Struktur erwachsen, denn nur sie unterliegt nicht den Zwängen eines gnadenlosen Wettbewerbs, der immer dafür sorgen würde, dass rivalisierende Anbieter ausgeschlossen werden. Nur die öffentlich-rechtlichen Anbieter arbeiten im Rahmen eines für gemeinsame Plattformen notwendigen integrativen Auftrags. Die Idee einer öffentlich-rechtlichen Internetplattform ist nicht grundsätzlich neu. Bereits vor einigen Jahren hat der damalige Chef der Medienanstalt Berlin-Brandenburg, Hans Hege, eine öffentlich-rechtliche Suchmaschine vorgeschlagen.8 Ein etwas anderes Projekt wird seit einiger Zeit von dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler und ZDF-Fernsehratsmitglied Leonhard Dobusch propagiert. Er schlägt für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Internetintendanz sowie eine gemeinsame Plattform vor, die die öffentlich-rechtlichen Mediatheken zusammenfasst, aber auch für andere gemeinwohlorientierte Anbieter und sogar Nutzerinnen und Nutzer offen sein soll.9 Auch einzelne Intendanten wie der ehemalige ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm denken laut über eine gemeinsame, vielleicht sogar europaweit angelegte Mediathek der Sendeanstalten nach. Doch mit einem ›gemeinnützigen Netflix‹ ist es nicht getan. Wenn wir wirklich einen nachhaltigen, positiven Einfluss auf die Rezeptionsprozesse der nachwachsenden Nutzergenerationen nehmen wollen, müssen wir auch auf der Ebene der Community eigene, bessere Angebote machen, wir benötigen dann auch ein gemeinnütziges Facebook, Twitter oder Instagram. Ein

8 9

H. Hege: Internetsuche als öffentliche Aufgabe. Wir müssen Google Konkurrenz machen! Zum Beispiel L. Dobusch: Internetintendanz: Öffentlich-rechtliches Internet jenseits der Anstalten.

Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit

solcher Vorschlag wurde jüngst auch von den Grünen-Politikern Robert Habeck und Malte Spitz präsentiert.10

9.

Intelligente Metadaten

Ein weiterer Ansatz könnte darin bestehen, die Anschlussfähigkeit einzelner Nachrichten und anderer journalistischer Inhalte zu verbessern. Warum enthält eine im Netz geteilte Nachricht nicht automatisch Links zu ihrer Vorgeschichte sowie zu erklärenden Hintergründen oder zu qualifizierten Bewertungen? In den frühen 2000er Jahren hat der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, an der Idee eines »semantischen Webs« gearbeitet, das durch geschickt gesetzte, versteckte Verwaltungsinformationen (sogenannte Metadaten) solche inhaltlichen Verknüpfungen zwischen einzelnen Web-Inhalten automatisierbar machen würde.11 Das dafür erforderliche Know-how ist mittlerweile weitgehend vorhanden und wird in vielen Bereichen erfolgreich eingesetzt. Wie so oft hapert es bei der breiten Umsetzung, gerade im publizistischen Umfeld, an der Durchsetzung der erforderlichen Standards und am doch beträchtlichen Aufwand in der alltäglichen Arbeit. Mit einer verbesserten und vereinheitlichten semantischen Auszeichnung journalistischer Inhalte ließe sich zum Beispiel auch die Idee eines ›Gütesiegels‹ für Nachrichten von Anbietern umsetzen, die bestimmte ethische und qualitative Standards einhalten. Im Sinne besserer Transparenz könnte man solche Nachrichten auch mit ihren Quellen und ihrer Versionsgeschichte anreichern. Solche zusätzlichen Features müssten nicht auf den ersten Blick sichtbar sein und würden es auch nicht komplizierter machen, Nachrichten in sozialen Netzwerken zu rezipieren. Aber sie würden die Nachrichten mit einer zusätzlichen Funktionalität versehen, die es den Nutzerinnen und Nutzern einfacher macht, sich bei Bedarf zu orientieren und somit deren Vertrauen stärken.

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R. Habeck/M. Spitz: Grüne fordern Facebook-Alternative aus Rundfunkgebühren. T. Berners-Lee/J. Hendler/O. Lassila:The Semantic Web.

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10.

Journalistische Professionalität

Die Empfehlung, die mir jedoch am meisten am Herzen liegt, hat weniger mit Änderungen an Infrastruktur und Technik zu tun als mit einer allgemeinen Schärfung des journalistischen Profils. In einer gesellschaftlichen Situation, in der Propaganda, Halbwahrheiten und Irrationalismus mit traurigem Erfolg in die publizistische Öffentlichkeit eingedrungen sind, müssen wir Schluss machen mit einer falsch verstandenen Augenhöhe zwischen Journalismus und anderen Formen gesellschaftlicher Artikulation. Wir müssen unsere Professionalität unter Beweis stellen und die journalistischen Distinktionsmerkmale stärker herausarbeiten. Dazu gehören nicht nur gute Recherche und die exzellente Aufbereitung aktueller Themen, sondern auch ein strategisches Themenmanagement, das relevante Themen auch dann verfolgt, wenn diese nicht auf den ersten Blick ›sexy‹ sind. Dazu gehört darüber hinaus ein noch viel genauerer Blick für die realen Lebenswelten unseres Publikums. Ein Beispiel dafür liefert die sozialwissenschaftliche Studie »Rückkehr zu den politisch Verlassenen«, die das Progressive Zentrum unter der Leitung von Johannes Hillje gemeinsam mit französischen Partnern durchgeführt hat.12 Dafür wurden in Regionen, in denen rechtspopulistische Bewegungen wie die AfD und der ehemalige Front National ihre Stammwählerschaft haben, qualitative Interviews durchgeführt. Durch geschickte Fragetechnik gelang es den Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, hinter den altbekannten Unmutsäußerungen über Migration und Eliten eine zweite, verdeckte Schicht sehr viel nachvollziehbarerer Sorgen und Nöte aufzudecken. Hier scheint für mich die Möglichkeit eines Journalismus auf, der sich auch von derartigen Einsichten informieren lässt und der sich nicht treiben lässt vom Zirkus der öffentlichen Bühnen, von den Profis der Aufmerksamkeitssteuerung zur Sicherung von Macht und Geschäft. Mit einem geschärften Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge würde ein solcher Journalismus sich deutlicher als bisher in den Dienst seiner wichtigsten Zielgruppe, der Allgemeinheit, stellen. Zeit Online beispielsweise hat in den letzten Jahren mit Projekten wie #d17 oder »Deutschland spricht« Schritte in diese Richtung unternommen. Vom Nachrichtenjournalismus wiederum verlangt eine solche gesellschaftlich reflektiertere Herangehensweise vor allem eine ständige und 12

J. Hillje: Rückkehr zu den politisch Verlassenen.

Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit

genauere Überprüfung seiner Relevanzkriterien, denn Aktualität ist kein Selbstzweck. Wir werden die Kontrolle über den öffentlichen Raum, die klassische Rolle des »Gatekeepers« nicht zurückerobern, das wäre auch gar nicht wünschenswert. Umso wichtiger ist es aber, mit gründlicher Recherche, Wahrhaftigkeit und Relevanz zu trumpfen und deutlich zu machen, dass guter Journalismus immer dem Gemeinwohl dient.

Literatur Arlt, Hans-Jürgen/Storz, Wolfgang Storz: Wirtschaftsjournalismus in der Krise. Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik. Frankfurt: Otto-Brenner-Stiftung 2010. Benkler, Yochai/Faris, Robert/Roberts, Hal: Network Propaganda. Manipulation, Disinformation and Radicalization in American Politics. Oxford: Oxford University Press 2018. Berners-Lee, Tim/Hendler, James/Lassila, Ora: »The Semantic Web. A new form of Web content that is meaningful to computers will unleash a revolution of new possibilities«, in: Scientific American, siehe: https://www.sop.inria.fr/acacia/cours/essi2006/Scientific%20American_ %20Feature%20Article_%20The%20Semantic%20Web_%20May%202001. pdf vom Mai 2001. Bruns, Axel: Are Filter Bubbles Real? Oxford: Polity 2019. Dobusch, Leonhard: »Internetintendanz: Öffentlich-rechtliches Internet jenseits der Anstalten«, Vortrag auf der re:publica am 03.05.2018. Galan, Lucas/Osserman, Jordan/Parker, Tim/Taylor, Matt: How Young People Consume News. Oxford: Flamingo Group/Reuters Institute 2019. Habeck, Robert/Spitz, Malte: »Grüne fordern Facebook-Alternative aus Rundfunkgebühren«, in: T-Online, siehe: https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_86772838/facebook-gruene-fordern-alt ernative-aus-rundfunkgebuehren.html vom 08.11. 2019. Hege, Hans: »Internetsuche als öffentliche Aufgabe. Wir müssen Google Konkurrenz machen!«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, siehe: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/internetsuche-als-oeffentliche-aufgabe-wir-muessen-google-konkurrenz-machen-11874702.html vom 01.09.2012. Hillje, Johannes: Rückkehr zu den politisch Verlassenen. Berlin: Progressives Zentrum 2018.

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Kullmann, Katja: »Nullen und Nadelstreifen«, in: Der Freitag, siehe: https://www.freitag.de/autoren/katja-kullmann/nullen-und-nadelstreifen vom 09.11.2014. Lewis, Paul: »›Fiction is outperforming reality‹: how YouTube’s algorithm distorts truth«, in: The Guardian, siehe: https://www.theguardian.com/technology/2018/feb/02/how-youtubes-algorithm-distorts-truth vom 02.02.2018. Pariser, Eli: The Filter Bubble. What the Internet Is Hiding from You. New York: Penguin Press 2011. Reuters Institute (Hg.): Digital News Report. Oxford 2013ff. Siehe: www. digitalnewsreport.org/ Sunstein, Cass: Echo Chambers: Bush v. Gore, Impeachment, and Beyond. Princeton N.J.: Princeton University Press 2001. Tufekci, Zeynep: »YouTube, the Great Radicalizer«, in: New York Times, siehe: https://www.nytimes.com/2018/03/10/opinion/sunday/youtubepolitics-radical.html vom 10.03.2018.

Überleben im digitalen Wandel Zehn Thesen zur Zukunft des Nachrichtenjournalismus Tanja Köhler

»Oft ist die Zukunft schon da, ehe wir ihr gewachsen sind«, schrieb einst der Literaturnobelpreisträger John Steinbeck. Fast könnte man meinen, der Schriftsteller habe damit das Dilemma klassischer Nachrichtenorganisationen beschrieben. Die Digitalisierung erschüttert seit Jahren traditionelle Geschäftsmodelle, verändert die Nachrichtenproduktion und -distribution sowie Organisationsstrukturen und Arbeitsroutinen. Sie hat auch die Rolle des Journalismus verändert: Das Gatekeeper-Monopol klassischer Medien gibt es nicht mehr, JournalistInnen entscheiden nicht mehr allein, welche Informationen wichtig sind. Heute entscheiden darüber auch NutzerInnen, die ihre eigenen Inhalte publizieren, und Algorithmen, die Informationen automatisch selektieren und über verschiedene Kanäle ausspielen. Das führt zu einer Flut an Informationen, deren Qualität für den Einzelnen oft schwer nachprüfbar ist. Der Weg von der Information zur Desinformation kann bisweilen sehr kurz sein, wodurch die Zweifel gegenüber Inhalten und Quellen wachsen. Die veränderten digitalen Kommunikationsbedingungen ermöglichen es zudem jedem, auch zum Sender zu werden, was sich auf Debatten konstruktiv auswirken kann, aber auch zu Verschwörungstheorien und einer Verrohung der Kommunikation führt. Hatespeech sowie Fake-News-, Lügen- oder Lückenpresse-Vorwürfe belegen diese Entwicklung, die auch zu Diskussionen über Vertrauen in und Glaubwürdigkeit von (Nachrichten-)Journalismus geführt hat. Kurzum: Die Herausforderungen im digitalen Zeitalter sind vielschichtig und komplex, sie lassen sich nicht auf den Umgang mit Technologie reduzieren. Zehn Aspekte sind zentral, um das dauerhafte Überleben von Nachrichtenorganisationen zu sichern.

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1.

Nachrichtenjournalismus ist hybrid

Die Digitalisierung hat das Nutzungsverhalten beim Nachrichtenkonsum massiv verändert: Mobile Endgeräte, Social-Media-Netzwerke und Messenger-Dienste haben eine immer größere Bedeutung. Millionen von Menschen beziehen ihre Informationen inzwischen über Facebook, Youtube oder Instagram. Auf diese Veränderungen müssen Nachrichtenorganisationen reagieren. Sie müssen ihre Inhalte dort ausspielen, wo die NutzerInnen sind, um den Anschluss nicht zu verlieren und ein potenzielles, junges Publikum zu erreichen. Die unterschiedlichen digitalen Ausspielwege und -kanäle verändern dabei die Nachrichtenproduktion, weil Inhalte plattformspezifisch aufbereitet werden müssen. Sie setzen außerdem eine tiefgreifende Integration und Vernetzung von Technik und Journalismus voraus. Eine solche Vernetzung ist im digitalen Zeitalter von zentraler Bedeutung, zumal dem (Nachrichten-)Journalismus durch die zunehmende Verbreitung von Algorithmen und künstlicher Intelligenz (KI) weitere massive Veränderungen bevorstehen. Nachrichtenredaktionen sind bereits auf dem Weg, sich zu hybriden Newsrooms zu entwickeln, in denen Mensch und Maschine ihre jeweiligen Stärken miteinander kombinieren und auf allen Ebenen der Nachrichtenproduktion zusammenarbeiten. Diakopoulos spricht in diesem Zusammenhang vom »hybriden Journalismus«1 , die Nachrichtenagentur Reuters vom »kybernetischen Newsroom«2 . Dabei geht es bei der Automatisierung nicht darum, Menschen durch Maschinen zu ersetzen, sondern die einzelnen Schritte im Produktionsprozess anhand der jeweiligen Stärken aufzuteilen. Die Stärken von Maschinen liegen unter anderem in der Geschwindigkeit, mit der riesige Datenmengen durchforstet und skaliert werden können und in der Genauigkeit der Datenanalyse – während die Schwächen gleichzeitig die menschlichen Stärken sind: Kontingenz, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Interpretation sowie Einordnung und Erklärung.3 Algorithmen arbeiten JournalistInnen also zu, so dass mehr Zeit für anspruchsvollere Tätigkeiten, wie tiefgreifende(re) Recherche, bleibt. Die Automatisierung beginnt bereits bei der Themensuche und -selektion, wo Computerprogramme riesige Datenmengen in Echtzeit verarbeiten: Soft-

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N. Diakopoulos: Automating the News. R. Chua: The cybernetic newsroom: horses and cars. N. Diakopoulos: Automating the News, S. 9, 13-40.

Überleben im digitalen Wandel

ware, wie ScatterBlogs oder Lynx Insight von Reuters, identifiziert Themen und Trends und schlägt JournalistInnen Ereignisse zur weiteren Bearbeitung vor. Algorithmen helfen zudem beim Fact-Checking und der Verifikation von Informationen. Der im (Nachrichten-)Journalismus bisher wohl meistdiskutierte Einsatzbereich künstlicher Intelligenz ist die automatisierte Texterstellung. Dabei schreiben Computerprogramme standardisierte Texte insbesondere aus den Bereichen, die durch Zahlen dominiert werden, wie Sport-, Finanz-, Verkehrs- und Wettermeldungen, Quartalsberichte oder Zusammenfassungen von Wahlergebnissen. Unternehmen wie Narrative Science, Retresco oder Arria bieten die Technik an, die Daten in Standardtexte umwandelt. Die US-Nachrichtenagentur AP steigerte beispielsweise mit einem Programm von Automated Insights die Anzahl ihrer Finanzberichte von jährlich 300 auf über 3700.4 Inzwischen arbeiten die meisten großen Nachrichtenagenturen, aber auch immer mehr Newsrooms mit derartigen Programmen, vom öffentlich-rechtlichen Sender Yle in Finnland über die Washington Post und Le Monde bis zu Radio Hamburg5 . Auf die zunehmende Bedeutung von Videos gibt es ebenfalls eine Antwort: Nachrichtentexte lassen sich mithilfe von Algorithmen automatisiert in Videos verwandeln, wie es zum Beispiel die Unternehmen Wibbitz und Wochit anbieten. Dafür analysiert eine Software die Texte, zieht sich das dazu passende Bildmaterial aus Datenbanken und überträgt den Text in gesprochene Computersprache. Die Automatisierung mündet schließlich in die Optimierung der Inhalte: Um die Reichweite von Artikeln zu prognostizieren, setzen einige Redaktionen auf automatisierte Testverfahren. Die Chicago Tribune etwa testet automatisiert bis zu zehn Überschriften, um diejenige zu finden, die die größte Reichweite verspricht.6 Dashboards wie Chartbeat oder Google Analytics messen die Benutzeraktivitäten teilweise in Echtzeit: Wie oft wurde eine Meldung aufgerufen, ab wann ist der/die LeserIn abgesprungen, hat er/sie ein Abo abgeschlossen? Kurzum: Die Einsatzmöglichkeiten von KI und Algorithmen sind bereits enorm. Die wenigsten Nachrichtenorganisationen und -redaktionen sind auf diese massive Veränderung vorbereitet, die Einfluss nimmt auf Individuen,

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J. Peiser: The Rise of the Robot Reporter. M. Haim/A. Graefe: Automatisierter Journalismus, S. 143. N. Diakopoulos: Automating the News, S. 185.

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Strukturen, Prozesse, Redaktionskultur und rechtliche Rahmenbedingungen. Medienhäuser benötigen in weitaus größerem Umfang Personal mit technischen Kompetenzen und interdisziplinäre Teams in den Redaktionen. Der Umgang mit künstlicher Intelligenz muss zudem transparent und verantwortungsvoll erfolgen. Dafür bedarf es Regeln, Richtlinien und Regulierungen, weil Algorithmen in Entscheidungsprozesse eingreifen und damit Wirklichkeitskonstruktionen beeinflussen, die im journalistischen Kontext große gesellschaftliche Relevanz besitzen. Damit stellen die Integration und Vernetzung von Journalismus und Technik sowie Automatisierung und der Einsatz von KI eine der größten Herausforderungen für Nachrichtenorganisationen im digitalen Wandel dar.

2.

Berichterstattung muss vielfältiger werden

Ein beträchtlicher – und wachsender – Teil der Gesellschaft hat wissenschaftlichen Umfragen zufolge den Eindruck, JournalistInnen verlören den Bezug zur Lebenswelt der BürgerInnen. Dieser Teil der Bevölkerung ist außerdem unzufrieden mit der medialen Auswahl und Darstellung von Themen.7 Dabei sind Auswahl und Selektion nötig, sie reduzieren Komplexität und schaffen Orientierung. Die Nachrichtenauswahl ist dabei nicht beliebig, sondern richtet sich nach professionell-journalistischen Kriterien und ethischen Standards. Trotzdem kommen bisweilen manch wichtige, gesellschaftlich relevante Themen und Ereignisse in den Nachrichten nicht vor. Die Gründe hierfür können unterschiedlich sein: Ressourcenknappheit oder Zeitdruck, aber auch homogen zusammengesetzte Redaktionen. Die Chefredakteurin des Guardian, Katharine Viner, schlussfolgert: »If journalists become distant from other people’s lives, they miss the story, and people don’t trust them.«8 Die mangelnde Vielfalt in der Berichterstattung wird aber nicht nur für Vertrauensverluste verantwortlich gemacht, sondern auch als existenzielle Bedrohung für die Zukunft traditioneller Nachrichtenorganisationen gesehen.9 Dabei ließe sich mit mehr Vielfalt nicht nur die Qualität, sondern auch die Reichweite steigern, weil unterschiedliche Zielgruppen nur

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N. Jackob u.a.: Medienvertrauen im Zeitalter der Polarisierung. K. Viner: A mission for journalism in a time of crises. J. Sanders: How Racism and Sexism Killed Traditional Media; H. Jones: Journalism’s lack of diversity threatens its long-term future.

Überleben im digitalen Wandel

dann erreicht werden können, wenn sie sich in der Berichterstattung unvoreingenommen repräsentiert sehen. Wie aber kann das Nachrichtenangebot vielfältiger und diverser werden?  

(1) Die eigene Filterblase verlassen Es ist wichtig, Auswahl und Darstellung der Inhalte immer wieder zu hinterfragen: Welche unterschiedlichen Sichtweisen gibt es auf ein Thema, etwa von Menschen mit anderem sozialen Hintergrund, anderem Bildungsgrad, unterschiedlichen Alters und Geschlechts, mit oder ohne Migrationshintergrund? Welche Rollenstereotype werden verwendet? Wird zum Beispiel genug über Altersarmut, steigende Mieten und über den Einfluss von Algorithmen berichtet und/oder zu viel über die Tweets von Donald Trump, den Dieselskandal und die AfD? Kommen auch Menschen aus sozial schwächeren Schichten zu Wort und werden Expertinnen ebenso häufig zitiert wie Experten?  

(2) Erklären und einordnen Selbst wenn Meldungen handwerklich korrekt sind, reicht die bloße Aneinanderreihung von Fakten (vielen NutzerInnen) nicht mehr aus. NachrichtenjournalistInnen müssen vielfältige Standpunkte und Alternativen präsentieren, die oft unübersichtlichen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Verhältnisse erklären und einordnen. Das reicht weit über den aktuellen Tagesbezug hinaus, an dem sich die Nachrichtenauswahl oft viel zu starr orientiert.  

(3) Lösungsorientiert berichten Die Berichterstattung sollte die Welt nicht nur negativ darstellen, sondern auch Lösungsansätze und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen sowie positive Seiten hervorheben. Initiativen wie das Constructive Institute aus Dänemark oder das US-amerikanische Solutions Journalism Network setzen sich für einen konstruktiven bzw. lösungsorientierten Nachrichtenjournalismus ein. Aus der Praxis gibt es bereits einige Beispiele: Das Format »Lösungsfinder« der Tagesthemen, die »Daily Good News« von WDR Cosmo oder die Rubrik »Fixes« der New York Times.  

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(4) Projekte und Initiativen starten Die BBC erhöhte beispielsweise mit einem internen Wettbewerb den Frauenanteil an und in der Berichterstattung massiv.10 Der britische Telegraph gründete die Redaktion »Telegraph Women’s Sport« (TWS), um den Frauensport in allen analogen und digitalen Medien des Verlags sichtbar(er) zu machen. Die Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks sucht gemeinsam mit der »Initiative Nachrichtenaufklärung« (INA) nach Themen, über die in etablierten Nachrichtenangeboten nicht oder wenig berichtet wurde.  

(5) Daten und Algorithmen nutzen Datenanalysen können helfen, Vorurteile sichtbar zu machen und eine größere Themenvielfalt zu erzielen. Die Rheinische Post entwickelte zum Beispiel das »Listening-Center«, das die Redaktion bei der Themensuche unterstützt: Ein Algorithmus analysiert in Echtzeit, welche Themen und Personen im regionalen Verbreitungsgebiet im Netz eine Rolle spielen.11 Die New York Times entwickelte ein Statistik-Tool, um die Nachrufe auf bedeutende Persönlichkeiten hinsichtlich Geschlecht und Hautfarbe vielfältiger zu gestalten. Eine Software wertet dafür den Anteil an Männern, Frauen und nichtbinären Menschen in den Artikeln aus und präsentiert der Redaktion in einer App den Grad an Diversität in ihren Berichten. Ähnlich arbeitet der sogenannte »Gender Robot« der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, der den Männer-Frauen-Anteil in Texten analysiert.

3.

Diversität im Team erfordert neue Regeln

Der Journalismus in Deutschland hat sich in Richtung sozialer Exklusivität entwickelt:12 Die meisten JournalistInnen sind AkademikerInnen, stammen aus der Mittelschicht und haben darüber hinaus in ihrem Privatleben kaum Kontakt zu anderen Lebensrealitäten.13 Das hat Einfluss auf die Berichterstattung, weil soziale Herkunft auch den Blick auf die Welt prägt. Wer eine größere Vielfalt in der (Nachrichten-)Berichterstattung anstrebt und mit ihr ein breiteres Bild der Gesellschaft abbilden will, kommt deshalb nicht umhin, 10 11 12 13

BBC: 50:50-Project. K. Rüsberg: Rheinische Post: Neue Multimedia-Erzählformen für die Lokalzeitung. A. Borchardt u.a.: Wer wird heute noch Journalist?, S. 4. K. Meier: Journalistik, S 222.

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auch im Team für größtmögliche Vielfalt zu sorgen. Diese Erkenntnis hat sich zwar herumgesprochen: Kein Medienhaus, das nicht den Willen bekundet, Diversität in Redaktionen und auf allen hierarchischen Ebenen herbeiführen zu wollen. Allerdings mit mäßigem Erfolg: Die Führungsebenen deutscher Radio- und Fernsehanstalten sowie Tages- und Wochenzeitungen werden nach wie vor von Männern dominiert.14 Menschen mit Migrationshintergrund und sozial schwächere Schichten sind in Redaktionen kaum repräsentiert.15 Zurückzuführen ist diese fehlende Diversität auf die massive Benachteiligung, die Frauen und andere traditionell benachteiligte Gruppen in (Nachrichten-)Organisationen bei der Einstellung und Beförderung erfahren. Die Verhaltensökonomin und Harvard-Professorin Iris Bohnet macht dafür verzerrte soziale Wahrnehmungen verantwortlich, die auf Vorurteile und unbewusste Vorbehalte zurückzuführen sind.16 Stellvertretend für alle benachteiligten Gruppen macht Bohnet dies anhand einer beeindruckenden Vielzahl an Forschungsergebnissen zur Gleichstellung zwischen Mann und Frau deutlich.17 Demnach werden Frauen im beruflichen Kontext anders bewertet als Männer, wenn sie sich nicht stereotyp verhalten: Frauen werde verübelt, wenn sie widersprechen, da ein solches Verhalten nicht der klassischen Rollenerwartung entspricht, während Männern insgesamt mehr (Führungs-)Potenzial zugesprochen wird.18 Frauen, die Personen im Gespräch unterbrechen, gelten als aggressiv während das gleiche Verhalten bei Männern als Teil einer engagierten Diskussion toleriert werde.19 Kompetente Frauen werden zudem als unsympathischer wahrgenommen.20 Derartige Wahrnehmungen und Vorurteile beeinflussen unsere Bewertungen und Entscheidungen selbst dann, wenn wir glauben, wir handelten objektiv.21 Mit drastischen Konsequenzen für die Betroffenen: Verzerrte Wahrnehmungen 14 15 16 17

18 19 20 21

Pro Quote: Welchen Anteil haben Frauen an der publizistischen Macht in Deutschland? R. Geißler: Mediale Integration von ethnischen Minderheiten, S. 15; K. Meier: Journalistik, S. 222. I. Bohnet: What works. I. Bohnet weist darauf hin, dass Forschungserkenntnisse hinsichtlich der Gleichstellung der Geschlechter auch im Umgang mit anderen benachteiligten Gruppen hilfreich sein können, sich diese aber nicht verallgemeinern lassen. Siehe I. Bohnet: What works, S. 22-23. Ebd., S. 125. A. Steck/F. Pfister: Star-Ökonomin Iris Bohnet. Ebd. I. Bohnet: What works.

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führen Bohnet zufolge unter anderem dazu, dass Männer eher befördert werden, selbst wenn die Leistungen von Frauen und Männern identisch bewertet werden.22 Insbesondere in solchen (Nachrichten-)Organisationen scheint zudem die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen verstärkt zu werden, in denen Frauen nicht oder in sehr geringem Maße in Führungsverantwortung stehen – und zwar selbst dann, wenn die Organisation sich Gleichstellung zum Ziel gesetzt hat.23 Der Grund: In Organisationen, in denen es nur wenige Frauen in Führungspositionen gibt, passen sich diese der männlichen Mehrheit an und gehen auf Distanz zum eigenen Geschlecht.24 So wirkt es sich laut Bohnet vor allem für besonders kompetente Bewerberinnen negativ aus, wenn das Einstellungsgespräch von einer Frau geführt wird, da die Bewerberin als potenzielle Konkurrentin wahrgenommen wird und Angst vor Wettbewerb besteht. Geringer qualifizierte Bewerberinnen profitieren von dieser Konstellation.25 Bohnet warnt, derartige Verzerrungseffekte schadeten nicht nur kompetenten Frauen, sondern insbesondere der Organisation, die schließlich »die besten Talente einstellen und befördern möchte«26 . Zusätzlich sinke die Motivation aller Mitarbeitenden: Diskriminierte erkennen, dass Leistung sich nicht auszahlt, Bevorzugte, dass sie nicht nötig ist.27 Um zu erreichen, dass qualifizierte und kompetente Personen eingestellt bzw. befördert werden, sind herkömmliche Strategien, wie Appelle, Aufklärungskampagnen, Diversitätstrainings und/oder Förderprogramme, meist keine Lösung, da Studien belegen, dass Benachteiligung auch von Männern und Frauen ausgeht, die von sich behaupten, stets objektiv zu handeln.28 Unsere (unbewussten) Vorurteile und Wahrnehmungen sind hartnäckig und lassen sich nicht überlisten.29 Um mehr Gleichberechtigung und Diversität in Nachrichtenorganisationen zu erreichen, empfiehlt Bohnet unter anderem:

22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 124. Ebd., S. 234. Ebd., S. 255. Ebd., S. 235. Ebd., S. 236. Ebd., S. 127. Ebd., S. 55-60. Ebd.

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• • •

Stärkere Einbeziehung von Datenanalysen, um Ungerechtigkeiten bei Einstellungen, Beförderungen und Gehältern zu erkennen und zu beseitigen, vergleichende Bewertungen und strukturierte Interviews, um gerechtere Entscheidungen in Auswahlprozessen herbeizuführen, Offenlegungsvorschriften und Rechenschaftspflichten, um Erfolge bei der Umsetzung von Gleichberechtigung hervorzuheben, Rankings, um für das Wetteifern um mehr Gleichstellung zu ermutigen.30

Digitale Talente und andere qualifizierte Mitarbeitende an sich zu binden und zu befördern sowie eine größere Vielfalt in der Berichterstattung zu erzielen, ist für Nachrichtenorganisationen im Zeitalter der Digitalisierung von zentraler Bedeutung. Medienunternehmen kommen deshalb nicht umhin, ihre Regeln bei der Einstellung und Beförderung zu ändern, um mehr Diversität auf allen hierarchischen Ebenen zu erreichen. Hiervon hängen letztlich auch ihr wirtschaftlicher Erfolg sowie ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Glaubwürdigkeit ab.

4.

Transparenz muss zum festen Bestandteil journalistischen Handwerks werden

Seit dem Aufkommen der Lügenpresse- und Fake-News-Vorwürfe wird insbesondere mit Blick auf etablierte Medien viel über eine Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise diskutiert. Für den (Nachrichten-)Journalismus ist Vertrauen von existenzieller Bedeutung. Das Publikum muss darauf vertrauen, dass die Berichterstattung korrekt ist, da die meisten Informationen vom Einzelnen nicht direkt nachgeprüft werden können. Vertrauen ist deshalb ein zentraler Faktor in der Aussagengestaltung. Bentele hat in seiner Theorie öffentlichen Vertrauens mehrere Faktoren herausgearbeitet, die zum Aufbau oder zum Verlust von Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei Organisationen und Institutionen führen können.31 Zu hohen Vertrauenswerten führen unter anderem Transparenz, eine offene, adäquate und konsistente Kommunikation sowie Sach- und Problemlösungskompetenz, während umgekehrt kommunikative Intransparenz, Geschlossenheit, Diskrepanz sowie mangelnde Sach30 31

Ebd., S. 115-309. G. Bentele: Öffentliches Vertrauen.

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und Problemlösungskompetenz zu niedrigen Vertrauenswerten bzw. Vertrauensverlusten führen.32 Bezogen auf Nachrichtenredaktionen können Transparenz und Offenheit dazu führen, (weitere) Vertrauensverluste zu verhindern oder im besten Fall verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Transparenz muss dabei auf zwei Ebenen hergestellt werden: (1) Offenlegung des Zustandekommens der Nachrichtenproduktion und Berichterstattung, (2) Offenlegung von Fehlern und möglichen Interessenkonflikten. Das Publikum bewusst in journalistische Arbeitsweisen und in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen sowie über journalistische Qualitätsstandards aufzuklären, kann Zweifel an der Berichterstattung minimieren und ungerechtfertigte Kritik entkräften. Lügenpresse-Vorwürfe verfangen gar nicht oder zumindest weniger stark, wenn dem Publikum erklärt wird, warum und wie es zu einer Nachrichtenmeldung kam. Das gilt im Übrigen auch für Automatisierungsprozesse: Werden Nachrichten durch Algorithmen erstellt, muss dies ebenso kenntlich gemacht werden wie der Ursprung der Daten, auf denen die Artikel basieren. Auch die Offenlegung von Fehlern und das Veröffentlichen von Korrekturen kann vertrauensfördernd wirken und im Zweifel Vertuschungsvorwürfe entkräften. Pörksen bezeichnet ein solches Vorgehen in Anlehnung an das klassische Gatekeeping als »Gatereporting«33 . Transparenz kann allerdings nur dann vertrauens- und glaubwürdigkeitsbildend wirken, wenn sie von Redaktionen konsequent und kontinuierlich geschaffen wird. Die Offenlegung redaktioneller Arbeitsweisen und Entscheidungsprozesse, von Fehlern und Schwächen muss sich deshalb zum festen Bestandteil journalistischen Handwerks und täglicher Arbeitsroutinen entwickeln. Dass eine solche Transparenzstrategie beim Publikum einen Nerv trifft, zeigt der tägliche Podcast »The Daily« der New York Times, in dem JournalistInnen der Zeitung erklären, wie die Berichterstattung zustande kommt. Der Podcast ist inzwischen einer der weltweit erfolgreichsten NachrichtenPodcasts, der anderen Formaten als Vorbild diente: Seit Januar 2019 veröffentlicht die New York Times auch den wöchentlichen Newsletter »The Daily«, im Juni 2019 startete die wöchentliche TV-Dokumentation »The Weekly«. Junge Nachrichtenportale wie De Correspondent oder Tortoise-Media erklären zudem größtmögliche Transparenz zum Leitmotiv ihrer Arbeit. 32 33

Ebd. S. 145 B. Pörksen: Die große Gereiztheit. S. 211-212.

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NutzerInnen profitieren dadurch im besten Fall zweifach: (1) Sie erhalten die Möglichkeit, die Qualität der Berichterstattung nachzuvollziehen und einzuschätzen. (2) Sie können ihre Nachrichten- und Medienkompetenz steigern, wodurch Nachrichtenredaktionen und Medienschaffende auch zu aktiven AkteurInnen bei der Vermittlung von Nachrichtenkompetenz werden. Die Herstellung von Transparenz wird damit zu einer entscheidenden Schlüsselkompetenz von Medienschaffenden, Nachrichtenredaktionen und -organisationen, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit in journalistische Arbeitsweisen und Produkte zu festigen bzw. zurückzugewinnen, aber auch um sich an der zutiefst demokratischen Aufgabe zu beteiligen, BürgerInnen Nachrichtenkompetenz aktiv zu vermitteln.

5.

Nachrichtenjournalismus verlangt nach Dialog

Die Digitalisierung hat das Verhältnis zwischen Journalismus und Publikum massiv verändert. Reichten JournalistInnen als sogenannte Gatekeeper in der Vergangenheit ihre Nachrichten an ein weitgehend passives Publikum weiter, wird das Publikum im digitalen Zeitalter zum gleichberechtigten Kommunikationspartner. Die Chefredakteurin des Guardian, Viner, spricht deshalb von einem »grundlegend neuen Entwurf unseres Verhältnisses zum Publikum und unserer Rolle in der Gesellschaft«34 . Damit muss sich auch das journalistische Selbstverständnis ändern: Medienschaffende müssen sich vom klassischen Gatekeeper-Denken lösen und den Journalismus dialogorientierter und diskursiver gestalten. Die Kommunikation mit den NutzerInnen ist als wechselseitiger Prozess zu verstehen. In diesem Prozess werden NachrichtenjournalistInnen zu Community-ManagerInnen, die den Diskurs kuratieren und moderieren. Sie loten zusammen mit den NutzerInnen Themen aus, stellen Thesen zur Debatte und tauschen Wissen, Informationen und Sichtweisen aus.35 Ein solch dialogorientierter, diskursiver (Nachrichten-)Journalismus kann vertrauens- und glaubwürdigkeitsbildend wirken, weil er Transparenz und Nähe schafft und eine Beziehung zwischen JournalistInnen und NutzerInnen herstellen kann.

34 35

K. Viner: Der Aufstieg des Lesers. K. Meier: Journalistik, S. 268, B. Pörksen: Die große Gereiztheit, S. 208-212.

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Nicht zuletzt bereichert ein diskursiver Nachrichtenjournalismus36 die Berichterstattung. »Our readers help us by bringing us stories and ideas, and they help us understand where we may need to change our approach to a story«, betont Viner.37 Der Austausch mit dem Publikum kann neue Aspekte, unterschiedliche Sichtweisen, Einstellungen und Interessen in die Redaktion tragen und damit Einfluss auf Ansichten und Denkmuster der JournalistInnen nehmen – und natürlich auch auf die NutzerInnen, denn Diskurs ist keine Einbahnstraße. Journalistische Produkte können dadurch an Tiefe gewinnen oder durch sie erst entstehen – und damit auch die Vielfalt und Qualität der Berichterstattung steigern. Das Nachrichtenportal »De Correspondent« bindet beispielsweise seine LeserInnen in den gesamten Arbeitsprozess und die Wissensproduktion ein. »We don’t see you as a mere news consumer, but as a knowledgeable contributor of expertise«, ist eines von zehn Prinzipien des Onlineportals.38 Nach ähnlichem Prinzip arbeitet die NewsWebseite »Tortoise Media« aus London, die unter anderem JournalistInnen, ExpertInnen und LeserInnen in offenen Redaktionskonferenzen, sogenannten »ThinkIns«, zusammenbringt, um vor der Veröffentlichung eines Themas möglichst viele Sichtweisen zu sammeln. Der Dialog hat allerdings auch negative Seiten, da neben den konstruktiven Austausch auch Beleidigungen, Drohungen und Hasskommentare treten. Aggressive, beleidigende und unsachliche UserInnen-Reaktionen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den VerfasserInnen solcher Äußerungen um eine Minderheit handelt, die durch ihre Lautstärke oftmals den Eindruck vermittelt, als handele es sich um die Mehrheit.39 Hasskommentare sollten deshalb nicht dazu führen, den Dialog infrage zu stellen, sondern dazu, dem Community-Management eine größere Bedeutung beizumessen. Dieses lässt sich auch durch Computerprogramme unterstützen: Die Software »Perspective« unterstützt zum Beispiel Moderationsprozesse, indem sie Publikumskommentare hinsichtlich ihrer »Toxizität« bewertet und

36

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Für die aktive Einbeziehung des Publikums in die Berichterstattung kursieren – je nach Partizipationsmöglichkeit – unterschiedliche Bezeichnungen. Gesprochen wird unter anderem von Open Journalism (Rusbridger 2012), dialogischem Journalismus (Pörksen 2018: S. 208-212), partizipativem Journalismus, Liquid Journalism oder Prozessjournalismus (Meier 2018: S. 200, 268) L. Glendinning: Katharine Viner. Siehe: thecorrespondent.com/principles D. Schmidt: Was wir aus 70 Millionen Leserkommentaren lernen können.

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filtert. Darüber hinaus sollten Medienhäuser die Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden intensivieren, damit strafrechtlich relevante Äußerungen sanktioniert werden können. Denn im Diskurs mit dem Publikum müssen die Grenzen klar und deutlich formuliert werden: (Nachrichten-)Journalismus tritt für Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Menschenwürde ein, sich daran zu halten, gilt für jedes Mitglied in Demokratien. Im Zeitalter der Digitalisierung müssen auch der Dialog mit NutzerInnen und das Community Management zum festen Bestandteil journalistischen Handwerks werden. Als vertrauensbildender Faktor kann dieser Dialog den Aufbau bzw. Erhalt von Vertrauen und Glaubwürdigkeit fördern sowie Vielfalt und Qualität der Berichterstattung steigern.

6.

Präzise Nachrichtensprache wird noch wichtiger

Sprache ist eines der wichtigsten Qualitätskriterien im Nachrichtenjournalismus. Umso erstaunlicher, dass im digitalen Zeitalter zwar viel über neue Formen und Formate nachgedacht, aber selten die Verwendung von Sprache problematisiert wird. Dabei schließen NutzerInnen von ihr auf die Gesamtqualität des Angebots: Werden RezipientInnen gebeten, positive oder negative Aspekte einer Nachricht zu benennen, bezieht sich ihr Urteil vor allem auf die Wortwahl.40 Deren Qualität lässt allerdings bisweilen zu wünschen übrig. »Es gab grünes Licht«, weshalb »wir auf einem guten Weg sind« – Nachrichtenmeldungen sind oft voller Phrasen und Allgemeinplätze, die bisweilen auch inhaltlich falsch sind, denn niemand ist krank, wenn sie oder er »fieberhaft« nach etwas sucht. Das preisgekrönte Onlineprojekt Floskelwolke macht auf derartige »Sprachpanscherei« aufmerksam und stellt täglich die in deutschsprachigen Medien meistbenutzten Floskeln und Phrasen ins Netz. Dabei geht es den Machern nicht nur um ungelenke Formulierungen, sondern auch um inhaltlich falsche Redewendungen und um problematische Verwendungen propagandistischer Begriffe. Denn von ganz anderer Qualität als sprachliche Nachlässigkeit sind Sprachmanipulationen, die die Wirklichkeit im Sinne des Kommunikators umdeuten. Das alles ist zwar kein neues Phänomen. Durch die Digitalisierung hat die Verbreitung von Propaganda und inhaltlich falschen Verkür40

J. Voigt: Nachrichtenqualität aus Sicht der Mediennutzer: S. 266.

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zungen und Vereinfachungen aber stark zugenommen. Beinahe jede Partei verfügt heutzutage über eigene »Newsrooms«. Viele Parteien, Unternehmen, Vereine und andere gesellschaftliche Interessengruppen verbreiten darüber hinaus ihre PR über eigene Kanäle wie Youtube, Facebook, Twitter und Instagram. Denn es ist bei weitem nicht nur der politische Betrieb, der für eigene Ansichten öffentliche Aufmerksamkeit schaffen will und dafür eigene Standpunkte in den Vordergrund rückt, während er andere vernachlässigt.41 Beispiele dafür gibt es viele, manche haben sich sogar fest im Sprachgebrauch verankert. Wer weiß schon, dass der »Wirtschaftsnobelpreis« nichts mit den von Alfred Nobel gestifteten Nobelpreisen zu tun hat? Die Auszeichnung wurde 1968 von der schwedischen Reichsbank ins Leben gerufen, die sie »Preis der Schwedischen Reichsbank in Wirtschaftswissenschaft zur Erinnerung an Alfred Nobel« nannte. Da der Preis parallel zu den Nobelpreisen verliehen wird, wurde aus dem Wortungetüm der »Wirtschaftsnobelpreis«. Eine inhaltlich falsche Verkürzung, die jedes Jahr aufs Neue in die Berichterstattung einfließt. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind das »Gute-Kita-Gesetz« von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey oder der Begriff »Masterplan«, mit dem Bundesinnenminister Horst Seehofer eines seiner Konzeptpapiere bezeichnete. Nicht immer geht es den AkteurInnen um eine positive Umdeutung, was Begriffe wie »Asyltourismus«, »Flüchtlingstsunami«, »Messermigration« oder »Steuerbürde« deutlich machen.42 Für Nachrichtenredaktionen ist es problematisch, wenn sprachliche Manipulationen, inhaltlich falsche Verkürzungen, abwertende Stereotypisierungen, beschönigende Ausdrücke oder gar das Verharmlosen komplexer Zusammenhänge in die Berichterstattung eingehen. Die DeutschlandfunkNachrichtenredaktion spricht deshalb zum Beispiel vom »neuen Kita-Gesetz« und vom »sogenannten Wirtschaftsnobelpreis« und klärt über dessen Entstehungsgeschichte auf. T-Online setzt eine Software ein, die Artikel auf Phrasen und Floskeln durchforstet. Der Guardian hat einen Styleguide für den Umgang mit Sprache entwickelt, in dem beispielsweise empfohlen wird, den Begriff »Klimakrise« statt des Begriffs »Klimawandel« zu verwenden, um wissenschaftlich präziser über Umweltprobleme zu berichten.43

41 42 43

T. Köhler: Warum Nachrichtensprache im digitalen Zeitalter noch wichtiger wird. Ebd. D. Carrington: Why the Guardian is changing the language it uses about the environment.

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Das wiederum macht deutlich: »Framing«, das heißt, der einseitige Blickwinkel auf ein Thema, der manche Informationen in den Vordergrund rückt und andere nicht berücksichtigt44 , kann nie ganz verhindert werden. Man kann nicht nicht framen. Ist das Glas halb voll oder halb leer? Die Fakten sind in beiden Fällen identisch, die Bewertung eine jeweils andere. Ein weiteres Beispiel: Ist nicht schon das »generische Maskulinum«, also die Verwendung der maskulinen Form für beide Geschlechter, bereits Framing, weil es die Wirklichkeit rein männlich darstellt? Eine grammatikalische Regel ist es – wie oft behauptet wird – jedenfalls nicht. Für Stefanowitsch ist deshalb schon das »Bemühen um eine nicht diskriminierende Sprache […] ein Zeichen, dass wir überhaupt Gleichheit wollen«45 . Insofern stellt eine diskriminierungsfreie Sprache auch einen Beitrag zur Vielfalt in der Berichterstattung dar, die für eine größere Reichweite sorgen kann, weil sie mehr Menschen anspricht. Die Bedeutung von Sprache ist im digitalen Zeitalter, in dem die Verbreitung diskriminierender Äußerungen, von Propaganda und inhaltlich falschen Verkürzungen zunimmt, gewachsen. JournalistInnen sind deshalb besonders gefordert – auch unter Zeitdruck und im tagesaktuellen Betrieb – Begriffe und Wörter zu hinterfragen, umzuformulieren oder sie im Zweifel zu erklären und einzuordnen.

7.

Digitaler Wandel verlangt die Balance zwischen Stabilität und Innovation

Der digitale Wandel zeigt durchaus einen Hang zum Paradox: Medienunternehmen müssen sich einerseits zu multi- und crossmedial arbeitenden Konzernen transformieren, die sich den verändernden Nutzungsgewohnheiten eines zunehmend fragmentierten Publikums anpassen, andererseits dürfen sie dabei das traditionelle Kerngeschäft nicht aus den Augen verlieren. Denn obwohl der Nutzungstrend eindeutig zum Digitalen weist46 , sind viele gedruckte Zeitungen und lineare Fernseh- und Radioangebote immer noch erfolgreiche Produkte mit entsprechender Reichweite.47 Um in derart paradoxen Umweltanforderungen erfolgreich und überlebensfähig zu bleiben, müssen es Medienunternehmen schaffen, einerseits bestehende, stabilisierende 44 45 46 47

J. Matthes: Framing, S. 12. A. Stefanowitsch: Eine Frage der Moral, S. 62. N. Beisch u.a.: ARD/ZDF-Onlinestudie 2019. S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Survey 2019.

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Kernkompetenzen zu nutzen und andererseits flexibel auf den Wandel zu reagieren. Die Herausforderung besteht also darin, Stabilität und Effizienz mit Innovation und Flexibilität ins Gleichgewicht zu bringen. Für die beiden entgegengesetzten Pole werden die Fachbegriffe Exploitation und Exploration verwendet.48 Exploitation bedeutet, bestehendes Wissen und bestehende Kompetenzen und Routinen zu nutzen sowie Stabilität und Effizienz sicherzustellen.49 Exploration meint das Generieren neuen Wissens, den Aufbau neuer Kompetenzen sowie die Schaffung von Innovation, Flexibilität und Veränderungsfähigkeit.50 Die Fähigkeit, Exploitation und Exploration in Einklang zu bringen, wird als Ambidextrie (»Beidhändigkeit«) bezeichnet. Sie dient dazu, Nachrichtenorganisationen Stabilität zu verleihen und ihnen gleichzeitig Innovationen und Flexibilität zu ermöglichen. Für Medienhäuser ist Ambidextrie von zentraler Bedeutung, da sie den Organisationserfolg positiv beeinflusst.51 Ein längerfristiges Ungleichgewicht zwischen Exploitation und Exploration wirkt sich hingegen negativ auf den Erfolg aus und kann bis zum vollständigen Zusammenbruch der Organisation führen.52 Um Ambidextrie zu entwickeln und zu fördern, müssen Nachrichtenorganisationen spezifische Rahmenbedingungen schaffen. Faktoren, die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Stabilität und Innovation fördern, sind die Organisationskultur und -struktur sowie organisationale Lernprozesse.53 Alle drei Faktoren sind durch stabilitäts- wie innovationsförderliche Merkmale gekennzeichnet (träge vs. offene Kultur, starre vs. flexible Struktur, adaptive vs. generative Lernprozesse), die in ambidexteren Organisationen koexistieren.54 Um Stabilität (Exploitation) und Innovation (Exploration) miteinander zu verbinden, sind Differenzierung und Integration notwendig: Differenzierung meint die Trennung von Stabilität und Innovation, indem duale Organisationsstrukturen geschaffen werden, etwa durch unterschiedliche Funktionalbereiche, Projekte oder separate Geschäftseinheiten. Integration meint

48 49 50 51 52 53 54

W. Güttel/S.W. Konlechner: Ambidexterity, S. 243; J. Wollersheim: Exploration und Exploitation als zwei Seiten derselben Medaille, S. 7. Ebd. Ebd. J. Wollersheim: Exploration und Exploitation als zwei Seiten derselben Medaille; W. Güttel/S.W. Konlechner: Ambidexterity; J. Hafkesbrink/K. Shire: Vorwort. W. Güttel/S.W. Konlechner: Ambidexterity, S. 245. J. Wollersheim: Exploration und Exploitation als zwei Seiten derselben Medaille. Ebd.

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die Koordination und Zusammenführung der Ergebnisse aus den exploitativen und explorativen Bereichen, zum Beispiel auf hierarchischer Ebene, auf Ebene der Mitarbeitenden in Projekten oder auf Ebene einer integrativen Unternehmenskultur.55 Ambidextrie wird demnach durch strukturelle, kulturelle und individuelle Faktoren beeinflusst. Traditionelle Nachrichtenorganisationen sind in der Regel eher unflexibel und träge, weshalb bei ihnen Veränderungs- und Innovationsfähigkeit gefördert werden sollte.56 Als innovationsfördernd zählen neben den oben genannten Elementen unter anderem autonome Innovationsbereiche57 , die Beteiligung aller Mitarbeitenden an Innovationsprozessen58 , autonome Nachrichtenredaktionen59 , innovative Individuen60 , starke Führung/starkes Management61 , Kooperationen mit externen Organisationen62 . Da Ambidextrie von unterschiedlichen Faktoren innerhalb der Organisation beeinflusst wird, hängt deren konkrete Umsetzung von der jeweiligen Organisation ab. Die nachhaltige Gestaltung von Ambidextrie ist aber für alle Medienunternehmen ein überlebenswichtiger Erfolgsfaktor. Küng, die mehrfach digital erfolgreiche Nachrichtenorganisationen untersuchte, konstatiert deshalb: Traditionelle Nachrichtenorganisationen »need to put as much effort into transforming their organisations as they do into transforming their product. This is the only route to sustainability«63 .

8.

Innovation benötigt Freiräume für Experimente

Nachrichtenredaktionen sind von der Beschleunigung, zu der die Digitalisierung geführt hat, besonders betroffen, weil sie unter einem ungleich höheren

55 56 57 58 59 60 61 62 63

W. Güttel/S.W. Konlechner: Ambidexterity, S. 251-262. J.A. Lischka: Nachrichtenorganisationen, S. 282-285; Steensen: What’s stopping them? W. Güttel/S.W. Konlechner: Ambidexterity; L. Küng: Innovators in digital news, S. 103105; L. Timm: Das Geheimnis liegt in der Zusammenarbeit. Ebd. S. Steensen: What’s stopping them? Ebd. Ebd., W. Güttel/S.W. Konlechner: Ambidexterity; L. Küng: Innovators in digital news, S. 94-95; L. Küng: Going digital, S. 39-41. L. Kramp/S. Weichert: Innovationsreport Journalismus, S. 14; K. Meier: Journalistik, S. 274; L. Timm: Das Geheimnis liegt in der Zusammenarbeit, S. 29. L. Kueng: Going digital, S. 42.

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Aktualitätsdruck stehen als andere Redaktionen. In einem derart schnell getakteten Umfeld braucht es deshalb Inseln der Entschleunigung, weil die zunehmende Beschleunigung der Reflexion und Selbstvergewisserung bedarf. Im aktuellen Tagesgeschäft bleibt jedoch für grundsätzliche handwerkliche und berufsethische Fragen in der Regel keine oder nur wenig Zeit. Wer die Digitalisierung aber als Prozess begreift, dessen einzige Konstante der Wandel ist, kommt nicht umhin, das eigene Tun immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen und zu reflektieren: Wie kann die Arbeit (noch) vielfältiger und transparenter gestaltet werden? Welche neuen journalistischen Formen, Formate und/oder Kanäle müssen adaptiert werden? Was bedeuten FacebookLikes und die Anzahl von Twitter-Followern, wenn man sich diese für wenig Geld kaufen kann? Kurzum: Was soll, kann, muss verändert werden und wo liegen die Herausforderungen? Um über solche und andere Fragen nachdenken und Lösungen entwickeln zu können, benötigen Redaktionen Zeit zum Innehalten, Räume der Entschleunigung. Nur so kann die journalistische Qualität im digitalen Wandel gehalten bzw. erhöht werden. Neben Freiräumen, in denen über handwerkliche und berufsethische Fragen reflektiert und gesprochen wird, braucht es auch mehr Zeit zum Experimentieren. Auch Innovationen erfordern Freiräume, um neue Dinge auszuprobieren, auch auf die Gefahr hin zu scheitern. Eine Lernumgebung, die kreative Ideen anregt, deren Implementierung unterstützt und sich durch die Akzeptanz zu experimentieren auszeichnet, gilt als Voraussetzung, um Innovationsfähigkeit im Rahmen organisationaler Ambidextrie zu fördern.64 Innovationen erfordern allerdings personelle und zeitliche Ressourcen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht immer zur Verfügung stehen. Deshalb werden auch Kooperationen empfohlen: branchenübergreifend mit anderen Organisationen65 oder mit journalistischen Forschungsstätten (Universitäten, Journalistenschulen etc.). Der Vorteil insbesondere in der Zusammenarbeit mit Bildungsträgern liegt darin, ohne Produktions- und Kostendruck Innovationen entwickeln und auf ihre Praxistauglichkeit hin erproben zu können.66 Die Washington Post arbeitet zum Beispiel mit dem Computational Journalism Lab der Northwestern University zusammen, um zu experimentieren, wie der Einsatz von KI und Algorithmen die Berichterstattung über die

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J. Wollersheim: Exploration und Exploitation als zwei Seiten derselben Medaille, S. 1516; W. Güttel/S.W. Konlechner: Ambidexterity, S. 251. L. Timm: Das Geheimnis liegt in der Zusammenarbeit. L. Kramp/S. Weichert: Innovationsreport Journalismus, S. 14; Meier: Journalistik, S. 274.

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US-Präsidentschaftswahl 2020 unterstützen kann.67 Die Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks hat mit Kooperationen bereits gute Erfahrung gemacht: Eines der erfolgreichsten Onlineprojekte der Redaktion, das inklusive und preisgekrönte Angebot »nachrichtenleicht«68 , ist aus einer Zusammenarbeit mit dem Studiengang Onlinejournalismus der Technischen Hochschule Köln hervorgegangen. Innovationsfähigkeit ist eine Schlüsselkompetenz im digitalen Transformationsprozess, weshalb Nachrichtenorganisationen die zeitlichen und personellen Ressourcen sowie die strukturellen, kulturellen und individuellen Voraussetzungen schaffen müssen, um dauerhaft zukunftsfähig zu bleiben.

9.

Führung ist eine Managementaufgabe

Traditionelle Geschäftsmodelle, Strukturen, Produktions- und Distributionsprozesse, Workflows sowie Tätigkeitsfelder und Kompetenzanforderungen an Mitarbeitende – all das steht im digitalen Zeitalter auf dem Prüfstand, wird verändert, neu definiert und reorganisiert. Kurzum: Den digitalen und damit organisatorischen Wandel zu gestalten ist eine komplexe Managementaufgabe. Küng, die innovative Nachrichtenorganisationen auf ihre Erfolgskriterien hin untersuchte69 , schlussfolgert: »Transformation requires tremendously strong leadership.«70 Für Küng sind Führungskräfte deshalb das wichtigste Kriterium, um den Transformationsprozesses in Nachrichtenorganisationen erfolgreich zu gestalten.71 Sie identifiziert dabei drei Eigenschaften, die erfolgreiche EntscheidungsträgerInnen besitzen: 1. tiefgreifendes Verständnis für die digitalen Herausforderungen und darauf aufbauend eine klare, überzeugende Vision und Strategie, 2. wesentliches Verständnis für Medientechnik sowie gleiche Anerkennung von technischen und journalistischen Fähigkeiten, 3. ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit, um Mitarbeitende von ihrer Vision und Strategie zu überzeugen. Bei fortgeschrittenem Transformationsprozess verschiebt sich der Blickwinkel: Nicht mehr die digitale Vision

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C. Beckett: New powers, new responsibilities, S. 79. Nachrichtenleicht bietet Nachrichten in Einfacher Sprache an. Siehe dazu auch den Beitrag »Inklusiver Journalismus« in diesem Band. L. Küng: Innovators in digital news; L. Kueng: Going Digital. Ebd. S. 41. L. Küng: Innovaters in digital news, S. 94-95.

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steht im Fokus, sondern die daraus abgeleiteten strategischen Ziele und deren Implementierung.72 Die Kommunikationsfähigkeit ist dabei nicht zu unterschätzen, weil Führung im digitalen Zeitalter durch komplizierte Vermittlungstätigkeiten bestimmt wird. Scheinbar ambivalente Ziele (Stabilität und Innovation) müssen im Transformationsprozess in Einklang gebracht werden. Das geht nicht ohne Spannungen, denn »it is a journalist’s job to be articulate, to be critical, to question those in authority. Such a workforce can erect formidable cultural blocks to digital transition, especially when the path of digital media evolution is uncertain«73 . Dass alle Mitarbeitenden Veränderungsprozesse mittragen, ist nicht die Regel. Gerade in traditionellen Medienorganisationen sind professionelle Arbeitsweisen in der Nachrichtenproduktion oft tief verankert, was häufig zu Abwehrreaktionen hinsichtlich neuer Routinen und Regeln führt.74 Allerdings wird der Grad des Widerstands auch von der Kommunikationsfähigkeit von EntscheidungsträgerInnen beeinflusst: Larrondo u.a. weisen für öffentlich-rechtliche Sender nach, dass die bisweilen optimierungsbedürftige interne Kommunikation der Führungskräfte über Inhalte und Ziele des Veränderungsprozesses maßgeblich für den zum Teil aggressiven Widerstand der Mitarbeitenden verantwortlich war.75 EntscheidungsträgerInnen kommt beim Management von Krisen, Konflikten, Spannungen und Widersprüchen daher eine herausragende Bedeutung zu. Die Förderung nachhaltiger Ambidextrie gilt deshalb als Führungsaufgabe und als Schlüsselkompetenz von Führungskräften. Eine weitere ist die Anwendung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse, um Gleichberechtigung und Diversität sowie das Einstellen und Befördern von digitalen Talenten und qualifiziertem Personal erfolgreich zu managen.76 Die vielfältigen Fähigkeiten, die für professionelle und effektive Führung in digitalen Transformationsprozessen erforderlich sind, basieren dabei nicht auf »angeborenem Talent«. Führungskompetenz ist erlernbar, deren Entwicklung und Weiterentwicklung ist ein fortdauernder Prozess. Verschiedene Medienhäuser haben diese Bedeutung erkannt. Der norwegische Medienkonzern Schipsted hat beispielsweise ein komplexes Führungskräfte-

72 73 74 75 76

L. Kueng: Going Digital, S. 41. L. Küng: Innovators in digital news, S. 95. J.A. Lischka: Nachrichtenorganisationen, S. 279. A. Larrondo u.a.: Opportunities and Limitations of Newsroom Convergence, S. 293-295. I. Bohnet: What works, S. 313.

Überleben im digitalen Wandel

Trainingsprogramm für 250 Mitarbeitende in leitender Position installiert.77 Dabei spielt auch Selbstanalyse eine Rolle. Denn: Führungskräfte müssen sich selbst führen können, um führen zu können. Dazu bedarf es einer ausgeprägten Selbstreflexion, die Küng ebenfalls als ein Erfolgskriterium von Führungskräften ausmacht.78 Deren Bedeutung belegen auch Larrondo u.a., die feststellen, dass EntscheidungsträgerInnen in öffentlich-rechtlichen Sendern Veränderungsprozesse zwar positiv bewerten, dem Wandel aber trotzdem skeptisch gegenüberstehen.79 Selbstanalyse und kritische Selbstreflexion stellen daher ebenfalls eine herausragende Schlüsselkompetenz dar. Die Gestaltung des digitalen Transformationsprozesses ist eine komplexe Managementaufgabe, die von Führungskräften unterschiedliche Schlüsselkompetenzen erfordert. Der Erwerb und die kontinuierliche Weiterentwicklung dieser spezifischen Kompetenzen ist eine der wichtigsten Herausforderungen für Führungskräfte in Nachrichtenorganisationen, weil sie für den Erfolg des Transformationsprozesses im digitalen Zeitalter maßgeblich verantwortlich sind.

10.

Digitalisierung setzt Investitionen in Kompetenzen voraus

Der digitale Wandel betrifft Mitarbeitende besonders stark, weil von ihnen neben journalistischen auch immer mehr technische Kompetenzen erwartet werden. Vielfach ist die Rede von »Multiskilling«-Kompetenz, die die Fähigkeit umfasst, den gesamten konvergenten, crossmedialen Produktionsprozess auszuführen bzw. Multiplattform-Management zu betreiben oder gar beides zu übernehmen.80 Durch die zunehmenden Automatisierungsprozesse wird zudem eine »algorithmische Medienkompetenz« gefordert, die es JournalistInnen ermöglicht, die Nachrichtenproduktion mit algorithmischen Systemen in Einklang zu bringen und den Umgang mit Daten professionell zu gestalten.81 Darüber hinaus müssen Mitarbeitende dazu befähigt werden, Innovationsprozesse anzustoßen, damit Innovations- und Veränderungsfähigkeit im 77 78 79 80 81

L. Kueng: Going Digital, S. 34. L. Kueng: Going Digital, S. 41. A. Larrondo u.a.: Opportunities and Limitations of Newsroom Convergence, S. 296. G. Nygren: Multiskilling in the newsroom. N. Diakopolis: Automating the News, S. 248-251.

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Rahmen nachhaltiger Ambidextrie erfolgreich gefördert werden kann. Ein solcher Kompetenzaufbau beeinflusst den Erfolg dieser Prozesse positiv.82 In diesem Zusammenhang sind auch Kenntnisse über Medieninnovationen entscheidend. Einige Start-ups und Projekte beschreiten zum Beispiel neue Wege in der Nachrichtendistribution: »Newsadoo« stellt Informationen unterschiedlicher Medien zusammen und funktioniert wie eine Art Spotifiy für News, das Portal »The Buzzard« bündelt Nachrichten thematisch und präsentiert unterschiedliche Sichtweisen auf ein Thema, die App »xMinutes« passt Nachrichten den Bedürfnissen der NutzerInnen an, das Unternehmen Urbs.Media erstellt automatisiert »Daily News« für regionale Anbieter. Wer also selbst mit neuen Technologien, Formen, Formaten, Produktions- und Publikationsmöglichkeiten experimentieren und Innovationen vorantreiben will, muss Kenntnisse darüber besitzen, wie Nachrichteninhalte schon jetzt neu und anders produziert und verbreitet werden und mit welchen innovativen Projekten experimentiert wird. Das alles erfordert einen kontinuierlichen Aufbau und Erhalt von Kompetenzen der eigenen Belegschaft, auch weil die Rekrutierung von (digitalen/technischen) Talenten durch die Konkurrenz mit Tech-Konzernen und Mitbewerbern immer schwieriger wird. Einige Medienhäuser reagieren auf diese Herausforderung bereits mit unterschiedlichen Weiterbildungsstrategien: Die New York Times und der norwegische Medienkonzern Schibsted setzen interne Ausbildungsteams (»embedded training teams«) ein, die Mitarbeitende direkt am Arbeitsplatz schulen.83 Der SWR hat mit »Campus« eine preisgekrönte digitale Lern- und Wissensplattform entwickelt, die kurze bis zu anderthalbstündige Videotutorials mit dem Schwerpunkt »Multimedia« bereitstellt. Auch der Wissensaustausch über Unternehmensgrenzen hinweg (Redaktionsbesuche etc.) erweitert den Horizont und kann für die Notwendigkeit von Veränderungen sensibilisieren. Dabei müssen nicht zwangsläufig hauseigene Schulungsangebote zur Verfügung gestellt werden. Vorteilhaft ist sicherlich eine Kombination aus interner und externer Weiterbildung. Neben einschlägigen Medienakademien können auch virtuelle Onlinekurse, sogenannte Massive Open Online Courses (MOOC), interessant sein. Anbieter wie Coursera oder Udacity haben auch Vorlesungen und Trainings zu Technologie- und KI-Themen im Portfolio. Akademien wie das Knight Center for Journalism wenden sich speziell an 82 83

L. Timm: Das Geheimnis liegt in der Zusammenarbeit, S. 29. L. Küng: Digital Report, S. 33.

Überleben im digitalen Wandel

Medienschaffende und bieten MOOCs unter anderem zu Automatisierung und KI im Journalismus, Nachrichtenalgorithmen oder Datenjournalismus an.84 Die massiven Veränderungen, die der digitale Wandel mit sich bringt, machen Investitionen in spezifische Kompetenzen für alle Mitarbeitenden erforderlich. Von erweiterten Fähigkeiten und Kompetenzen profitieren dabei nicht nur Medienhäuser, sondern auch Medienschaffende. Untersuchungen zeigen: Arbeiten JournalistInnen crossmedial und konvergent, steigt trotz zusätzlicher Arbeitsbelastung die Arbeitszufriedenheit, sie empfinden zudem eine Qualitätssteigerung der journalistischen Produkte.85 Der Aufbau und der Erhalt von Kompetenzen der Mitarbeitenden ist eine existenzielle Herausforderung im digitalen Zeitalter. Sie betrifft dabei nicht nur RedakteurInnen, sondern alle Mitarbeitenden in Nachrichtenorganisationen bis hin zu EntscheidungsträgerInnen. Sie mag arbeits- und kostenintensiv sein. Aber eine kontinuierliche Weiterbildung von Mitarbeitenden sollte als das betrachtet werden, was sie ist: Eine Investition in das langfristige Überleben von Medienunternehmen im digitalen Zeitalter.

11.

Fazit

Die Digitalisierung verändert den Nachrichtenjournalismus grundlegend und zwar auf organisationsstruktureller und -kultureller sowie auf inhaltlicher und individueller Ebene. Um die dauerhafte Zukunftsfähigkeit von Nachrichtenorganisationen zu sichern, müssen deshalb alle Einflussfaktoren im Rahmen des Transformationsprozesses berücksichtigt werden, da sie einander bedingen und beeinflussen. Nachrichtenorganisationen können allerdings auch mit der besten journalistischen Strategie nicht alle Probleme und Herausforderungen (alleine) lösen, die die Digitalisierung mit sich bringt. Ob Nachrichtenjournalismus traditioneller Medien noch alle Menschen uneingeschränkt erreichen kann, darf bezweifelt werden. Zu sehr haben manche NutzerInnen ihre fundamentale Medienkritik verinnerlicht.86 Trotzdem oder gerade deshalb ist es wich-

84 85 86

Siehe: https://journalismcourses.org T. Bettels: Ein gemischtes Stimmungsbild; S. Wallace: The complexities of convergence. Jackob u.a.: Medienvertrauen im Zeitalter der Polarisierung, S. 219.

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tig – vor allem für öffentlich-rechtliche Sender – allen Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildungshintergrund seriöse, professionelle Nachrichtenangebote zielgruppen- und plattformgerecht dort zur Verfügung zu stellen, wo sie bestmöglich erreicht werden können. Denn durch die zunehmende Verbreitung von Desinformationen und Fake News und dem damit steigenden Misstrauen gegenüber Quellen wächst auch die Bedeutung von Qualitätsjournalismus für eine funktionierende Demokratie.

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Überleben im digitalen Wandel

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Vom Nachrichtentanker zum Schnellboot Die Tagesschau zwischen öffentlich-rechtlichem Auftrag und Marktanforderung Marcus Bornheim

1.

Ausgangslage

Es ist noch gar nicht so lange her, dass der Arbeitstag mit einem Blick auf die Einschaltquoten des Vortages begann. Um 8.30 Uhr werden sie in der Regel verschickt und auch bei öffentlich-rechtlichen Nachrichtenredaktionen gehörte dieser Blick mit zum Ritual. Aus Sicht der Tagesschau war dies immer ein erhebender Moment: Die 20-Uhr-Ausgabe gehört Tag für Tag zu den meistgesehenen Sendungen. 2017 erreichte die Tagesschau den höchsten gemessenen Wert in ihrer Geschichte mit 10,16 Millionen Zuschauer*innen pro Tag. 2018 waren es 9,6 Millionen. Damit erreicht die 20-Uhr-Ausgabe mehr Zuschauer*innen als alle Mitbewerber zusammen. Nicht, dass man daran die journalistische Qualität gemessen hat, aber es signalisierte einem den Zuspruch beim Publikum und mit das Wichtigste, was Nachrichtenredaktionen haben: Vertrauen. Diese Währung – nämlich das Vertrauen – ist auch heute die entscheidende, um im Zeitalter des medialen Wandels zu bestehen. Unsere Zuschauer*innen und Nutzer*innen schenken uns ihr Vertrauen. Punkt 20 Uhr sitzen sie derzeit noch in großer Zahl auf dem Sofa, aber sie tun dies nicht nur im klassischen Fernsehen, sondern auch auf unseren digitalen Plattformen: Auf unserer Homepage tagesschau.de, aber auch in den Social-Media-Kanälen und weiteren Ausspielkanälen. Zwar sind wir im Kern und in unserer DNA eine Fernsehredaktion, aber die Zukunft entscheidet sich im Digitalen. Aus der ARD/ZDF-Onlinestudie 2018 kann man ziemlich genau den Generationenverlauf der Mediennutzung erkennen. Ab 50 Jahren steigt die TV-Nutzung deutlich an. Bis 49 Jahre aller-

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dings verbringen die Menschen mehr Zeit im Onlinebereich als vor dem Fernseher. Inzwischen haben Youtube und Netflix den gesamten Fernsehmarkt bei den Jungen überholt. Nicht nur einzelne Sender, sondern alle!1 Was heißt das für eine öffentlich-rechtliche Nachrichtenmarke? Unsere Zielgruppe sind alle. Nicht junge Singles, nicht Familien, keine Gutverdiener oder Akademiker*innen, nicht ausschließlich Frauen oder Männer, sondern alle. Wenn man eine genaue Zielgruppe hat, dann kann man sich sehr gut fokussieren und mit einer guten Marktanalyse den Content über den passenden Ausspielweg an die entsprechende Gruppe bringen. Wenn man aber alle erreichen will, dann ist man dazu gezwungen, seine Strategie möglichst breit aufzustellen. Wir müssen die älteren erreichen und die jüngeren, wir müssen die Städter und die Menschen auf dem Land, die Akademiker und die ohne Schulbildung erreichen. Das macht es enorm kompliziert. Eine Grundannahme hat sich bei uns verfestigt: Die Wege, wie man die Menschen erreicht, werden immer fragmentierter. Der Fernsehmarkt zerfasert, weil die kleinen und Kleinstsender mit Spartenprogrammen ihre jeweilige Zielgruppe sehr gut erreichen. Aber auch auf digitalen Distributionswegen müssen wir unterschiedlich agieren. Facebook, Twitter, Instagram sind derzeit die wichtigsten Social-Media-Kanäle. Youtube erweist sich als starke Konkurrenz zu herkömmlichen Fernsehgewohnheiten und bei der Gruppe der unter 29-Jährigen ist das die Hauptplattform überhaupt. Aber die Nutzungsgewohnheiten differenzieren sich zwischen den Ausspielwegen. Die Konsequenz: Jede Plattform hat ihre eigene Sprache. Jede muss mit einer eigenen Strategie erobert werden, um dort erfolgreich zu sein. Daher ist der Oberbegriff Social Media irreführend, weil zu grob. Wer erfolgreich sein will, muss sich spezialisieren.

2.

Unsere Rolle in der Gesellschaft

Wir leben in einer Welt tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche. Viele Gesellschaften weltweit driften auseinander, nicht selten stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber. Der gesellschaftliche Grundkonsens und der Zusammenhalt schwinden. Die Fähigkeit zum friedlichen und respektvollen Wettbewerb der Meinungen, d.h. zum demokratischen Diskurs, geht zurück.

1

B. Frees/W. Koch: ARD/ZDF-Onlinestudie 2018.

Vom Nachrichtentanker zum Schnellboot

Sogar die Bereitschaft zu streiten nimmt ab, da sich viele dieser Auseinandersetzung entziehen, sich in das private zurückziehen und bisweilen lieber auf Social-Media-Kanälen innerhalb ihrer Filterblase sich ihre Meinung bestärken lassen. Diese Entwicklung hat sich in Deutschland langsamer vollzogen als in vielen anderen europäischen Staaten. Dennoch sind entsprechende Tendenzen auch in Deutschland unübersehbar und werden unter den Bedingungen einer sich abkühlenden Konjunktur zunehmen. Die Bundesrepublik steht mit dem Erstarken des Populismus möglicherweise vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte. Zudem versuchen einflussreiche Kräfte durch Halbwahrheiten oder gezielte Desinformation Unsicherheit darüber zu schaffen, was wahr oder unwahr ist. Dadurch sollen nicht unbedingt bestimmte Sichtweisen propagiert werden. Vielmehr soll das Vertrauen in etablierte Institutionen untergraben werden. Und dies trifft auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Nichts und niemand soll mehr sicher sein. Angesichts einer sich rasant verändernden Welt mit Phänomenen wie Digitalisierung und Globalisierung und einer großen Zahl von verunsicherten Menschen sind solche Strategien sehr erfolgreich. In dieser Situation kommt der Tagesschau eine besondere Rolle zu. Zum einen soll die Tagesschau durch Informationen über relevante Themen die Menschen zur Urteilsbildung in gesellschaftlich bedeutsamen Fragen befähigen und es ihnen dadurch ermöglichen, am demokratischen Diskurs teilzunehmen. Zum anderen soll die Tagesschau durch unvoreingenommene Informationen den offenen und respektvollen Dialog über ideologische Grenzen hinweg in Gang halten und mit eigenen Dialogangeboten dazu beitragen, den gesellschaftlichen Dialog nicht abreißen zu lassen. Die Tagesschau ist einer lebendigen Demokratie verpflichtet. Daher ist es wichtig, die Relevanz der Themen auf ihre gesellschaftliche Dimension hin abzuklopfen. Gerade in Zeiten großer Verunsicherung suchen die Menschen nach Institutionen, denen sie Vertrauen. Eine solche Institution ist in Deutschland die Tagesschau mit ihrer Funktion des gesellschaftlichen Lagerfeuers. Nur die Tagesschau vermag es, allabendlich etwa ein Sechstel der Gesamtbevölkerung gleichzeitig zu erreichen und ist damit die erfolgreichste Nachrichtensendung. Dies gilt auch für den Auftritt in Social-Media-Kanälen. Auch hier muss die Tagesschau der Leuchtturm sein, eine Art Ordnungsmacht, um die auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Strömungen zu sortieren. Da sich dort

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die gesellschaftliche Spaltung besonders deutlich zeigt, muss dort auch eine Institution wie die Tagesschau noch stärker werden.

3.

Unsere Strategie

a) Die Marke Unser Alleinstellungsmerkmal ist die Qualität unserer Nachrichten. Deshalb wollen wir die journalistische und publizistische Kraft unserer Flaggschiffe stärken. Die Flaggschiffe sind die Tagesschau 20 Uhr, die Tagesthemen sowie tagesschau.de/App. Unsere Marke steht für • • • •

Relevanz der Themenauswahl, Unabhängigkeit der Redaktion, Verlässlichkeit der Recherche, verständliche Erklärung einer komplizierter werdenden Welt.

Gerade auf letzteres müssen wir in Zukunft noch stärker achten: Das Reuters Institute hat in seinem im September 2019 veröffentlichten Report beschrieben, dass die öffentlich-rechtlichen Medien die formal weniger Gebildeten nur noch zu 13 Prozent erreichen.2 Dadurch entsteht der Eindruck, dass auch die Tagesschau ein Elitenprogramm ist, das den Kontakt zur Gesellschaft verliert. Die Methodik erfasst die Verwendung der Tagesschau auf Drittplattformen zwar nicht korrekt, geschweige denn die ARD und ihre Regionalität in ihrer Verschiedenheit. Dennoch ist es wichtig, alle in der Gesellschaft zu erreichen. Hierfür müssen wir in Zukunft noch mehr Kräfte investieren, um verständlicher, klarer und zugänglicher zu werden. Niemals mit erhobenem Finger, sondern nah am Menschen. Darüber hinaus steht die Marke Tagesschau für Glaubwürdigkeit. Diese Zustimmung hilft uns, im Meer der unseriösen Anbieter mit Verschwörungstheorien der Leuchtturm für diejenigen zu sein, die auf der Suche nach glaubwürdigen Nachrichten sind. Daher muss der Nachrichtenkern, egal auf welcher Plattform wir unterwegs sind, immer sichtbar sein.

2

A. Schulz/D.A.L. Levy/K. Nielsen: Old, Educated and Politically Diverse.

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b) Neue Plattformen Die Marke Tagesschau wollen wir sehr klar halten und unsere Nachrichtenphilosophie dem Publikum überall anbieten, wo es Nachrichten erwartet. Deshalb ist es unsere Verpflichtung gegenüber den Millionen Beitragszahler*innen, auf möglichst vielen Plattformen präsent zu sein. Wir sind sicher, dass das lineare Fernsehen noch lange das Medium mit der größten Reichweite bleiben wird. Aber es ist eine Binsenweisheit, dass digitale Plattformen rasant an Bedeutung gewinnen und viele gesellschaftlich relevante Diskussionen im Netz oder in sozialen Netzwerken stattfinden. Deshalb werden wir neben der Stärkung unserer linearen Leuchttürme unsere Digitalangebote ausbauen. Dazu müssen wir Ressourcen (Personal und Geld) verlagern. Wir streben an, im Jahr 2024 etwa 50 Prozent der redaktionellen Kapazitäten für digitale journalistische Produkte einzusetzen. Der Bereich der digitalen Medien ist ungemein dynamisch, so dass Veränderungen, die früher viele Jahre dauerten, sich heute in viel kürzeren Zeiträumen vollziehen. Nicht selten sind neue technologische Entwicklungen der Treiber für neue journalistische Angebote (zum Beispiel Smartphone). Deshalb ist die permanente Arbeit an Innovationen heute für uns Pflicht. Daher gibt es bei der Tagesschau die Abteilung Innovation und Strategie, die losgelöst vom Tagesgeschäft nach Kooperationen mit Geräteherstellern, Dienstleistern von Inhaltsangeboten und Plattformen arbeitet und versucht, bei möglichst vielen erfolgreich zu sein. Das Motto ist: Wir machen die Republik blau! Wir müssen auch scheitern dürfen. Ausprobieren, hinfallen, aufstehen und daraus lernen. Ohne Fehler lernt man nichts. Diese Kultur müssen wir etablieren, die einen Wandel in den Köpfen erfordert. Gerade weil neue Plattformen neues Storytelling verlangen, müssen wir eine Fehlerkultur haben. Wer sich aus Angst vor dem Scheitern nichts mehr traut, wird in Zukunft ein Problem haben.

c) Ressourcen Um in Qualitätssteigerung, neue Formate und Innovationen investieren zu können, brauchen wir Personal- und Finanzressourcen. Sie werden maximal gleich bleiben und die Tendenz wird eher rückläufig sein, zumal die entsprechenden Tarifabschlüsse abgebildet sein müssen.

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Deshalb wird es die Hauptaufgabe sein, die notwendigen Kapazitäten intern umzuschichten. Wir nehmen dazu in bestimmten Redaktionsbereichen Kraft heraus. Dies gilt insbesondere für die linearen Produkte zwischen 0.00 und 12.00 Uhr. Dies bedeutet nicht, dass die bisher geleistete Arbeit nicht gut oder unwichtig war. Wir brauchen die Kapazitäten jetzt aber in verstärktem Maße an anderer Stelle. Zugleich werden wir, wo immer es möglich ist, versuchen, ressourcensparender zu produzieren. Dies gilt etwa für den Einsatz im Studiobetrieb, der heute fast überall noch mit großem Personalbedarf abgedeckt wird. Wir müssen auch lernen, bestimmte Veröffentlichungen sein zu lassen, wenn Ertrag und Aufwand in keinem angemessenen Verhältnis stehen. Selbstverständlich werden wir uns nicht nur an Quote, Reichweite oder Follower*innen-Zahl orientieren, sondern auch auf die gesellschaftliche Relevanz achten. Nur so schaffen wir es, die Tagesschau stark zu halten und den Menschen dort unser Nachrichtenangebot zu unterbreiten, wo sie es erwarten.

d) Von Nutzer*innen-Seite her denken Früher lag die Entscheidung darüber, wann wie viel Nachrichten angeboten werden, ausschließlich bei den Sendern. Heute müssen wir viel stärker danach gehen, wann die Nutzerschaft wie viele Nachrichten in welcher Darreichungsform haben will. Dabei behalten wir weiterhin die Hoheit über unsere Nachrichtengebung. Wir entscheiden, welche Nachrichten wir verbreiten, aber wir berücksichtigen in viel höherem Maße das Bedürfnis und das Nutzungsverhalten der User*innen. Das schließt auch ein, dass wir dafür sorgen, dass unsere Inhalte leicht aufgefunden werden. Die neue ARD-Digitalstrategie gibt der Tagesschau dabei größere Möglichkeiten und weist uns zugleich eine höhere Verantwortung zu. Die Tagesschau ist eine von nur noch fünf starken ARD-Marken, die künftig die wertvollen journalistischen Leistungen der ARD-Journalist*innen transportieren. Die »Big Five« sind Tagesschau, Sportschau, Mediathek, Audiothek und Kinderangebote. Die Tagesschau wird dabei ein Nachrichten-Hub, der viele gelernte Marken der ARD unterhakt und ihnen mehr Sichtbarkeit und Wirkung verschafft. Seit April 2018 haben wir dies mit dem Investigativressort bei tagesschau.de vorgemacht. Wir haben intern Kräfte zusammengelegt und in Zusammenar-

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beit mit den Rechercheverbünden innerhalb der ARD ein Angebot geschaffen, dass die wertvollen Recherchen sichtbar macht. Bis dahin war es häufig so, dass jedes Thema mit viel Aufwand erarbeitet wurde, aber eben nicht die Durchschlagskraft entwickelte, den sich die Rechercheure gewünscht hätten. Es fehlte die Reichweite einer Onlinemarke wie tagesschau.de. Jetzt haben wir es geschafft, dass nahezu alle Landesrundfunkanstalten zuliefern, dazu kommen die renommierten Politikmagazine der ARD und die etablierten Rechercheverbünde wie NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung. So ähnlich wollen wir es in Zukunft auch mit anderen Inhalten machen: Die Auslandsberichterstattung und die Wirtschaftsberichterstattung sind neben den investigativen Berichten ein Kernthema des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und zentraler Baustein der ARD-Familie. Diesen wird in Zukunft unser Hauptaugenmerk gelten.

e) Personalstrategie Die Zukunftsfrage schlechthin: Woher bekommt man das Personal, das all diese Aufgaben bewältigen will? Wir haben früh erkannt, dass der/die Redakteur*in als »eierlegende Wollmilchsau«, als jemand, der/die alles gleich gut kann, nicht funktionieren wird. Diese Vorstellung ist illusorisch. Warum? Weil man immer zu der Frage der Priorisierung kommt. Nachrichtenanbieter müssen schnell sein. Aber was macht man zuerst? Den Tweet? Die Bewegtbilder verschicken? Oder doch erst eine Hörfunkminute? Oder schreibt man schnell eine Meldung? All das müsste der/die ideale crossmediale Redakteur*in quasi gleichzeitig machen. Diejenigen, die das können, werden relativ schnell im Burn-out landen. Zudem wird dabei aller Voraussicht nach die Qualität der Einzelprodukte sinken. Dennoch wird sich das Berufsfeld der Nachrichtenredakteur*innen bei ARD-aktuell verändern. Wir brauchen keine Strategie »alle-machen-alles«, aber dennoch eine Bewegung hin zu »viele-müssen-mehr«. Daher wird es für die Zukunft wichtig sein, eine Qualifizierungsmatrix für eine Redaktion zu erstellen. So kann sich die Redaktionsleitung vergewissern, welche Qualifikationen bereits vorhanden sind, diese mit den Zielen zu synchronisieren und gegebenenfalls eine Qualifizierungsoffensive angehen, um die Möglichkeit des crossmedialen Einsatzes der Mitarbeitenden zu erhöhen.

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Dies trifft auch auf die Tagesschau-Redaktion zu. Wir stehen vor einer riesigen Qualifizierungswelle, um die Redaktion fit zu machen für die Zukunft. Die Zahl der Mitarbeitenden, die nur eine Tätigkeit können – auch wenn sie diese sehr gut können – wird in Zukunft abnehmen. Die Zukunft bei der Tagesschau wird sein, dass man sowohl im linearen als auch im nonlinearen zu Hause sein muss. Darüber hinaus müssen wir ein größeres Technik-Know-how in die Redaktion bekommen. Das ergibt sich aus zwei Zielen: Erstens brauchen wir eine Technikoffenheit, die bei Redakteur*innen dafür sorgt, das Interesse an neuen Plattformen, Ausspielwegen und neuen Verbreitungstechnologien zu wecken. Zudem müssen wir Redakteur*innen haben, die beispielsweise auch programmieren können. Immer wieder bekommen wir Anforderungen von außen, die Tagesschau-Inhalte auf neuen »Devices« ausspielen wollen. Der Weg dorthin muss zumeist technisch gelöst werden, deshalb sind Redakteur*innen mit technischen Kenntnissen und Webmaster mit redaktionellem Blick wichtig für die öffentlich-rechtliche Zukunft.

f) Architektur und neuer Newsroom Die Tagesschau ist in ein neues Gebäude gezogen. Und wie das so ist, wenn man umzieht, man trennt sich von Althergebrachtem und sortiert sich neu. Dies geht derzeit auch der Tagesschau-Redaktion so. Um wirklich crossmedial zu arbeiten, braucht es einen crossmedialen Newsroom. Aus Nähebeziehungen ergeben sich Workflows und aus Workflows ergeben sich Nähebeziehungen. Lange Zeit war die Tagesschau auf mindestens vier große und mittelgroße Newsrooms verteilt. Die frühen Sendungen, die Onlineredaktion, die Tagesthemen und die Hauptausgaben der Tagesschau. Zwischendrin noch Tagesschau24 und das Social-Team, das quasi als Untermieter bei der Homepage unterkam. Dies hat sich geändert. Die Redaktion muss mehr miteinander reden, um sich gegenseitig mit Ideen zu motivieren und auch um eine Diskussionskultur zur Einschätzung von Nachrichten zu etablieren. Dies ist ein Kulturwandel, der der neuen Architektur folgt. Mit 72 Arbeitsplätzen in einem großen Newsroom, der in einem 24/7-Betrieb ausgelastet sein wird, wollen wir für eine bessere Kommunikation sorgen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss primär bei Breaking-NewsSituationen liefern und schnell, gut recherchiert und seriös Nachrichtenlagen

Vom Nachrichtentanker zum Schnellboot

einschätzen und bewerten. Dafür braucht man einen lebendigen, miteinander kommunizierenden Newsroom. Dafür haben wir eine sogenannte Center Unit gebaut. Scherzhaft heißt sie bei uns: »Die ständige Redaktionskonferenz«. Die Chefinnen und Chefs vom Dienst (CvD) entscheiden dort über die Relevanz und die Dringlichkeit einer Nachricht. Dies sind zur Hochzeit etwa 15 Frauen und Männer. Das Herzstück der Redaktion. Das wichtigste aber ist, dass sie die Ressource Korrespondent*in steuern. In Breaking-News-Situationen ist der/die Korrespondent*in vor Ort häufig am Limit seiner/ihrer Kraft. Sich selbst zu organisieren, selber die Entscheidung zu treffen, für welchen Ausspielweg er oder sie was macht, überfordert die meisten Kolleg*innen. Deshalb ist es gut, dass zuerst in der Center Unit entschieden wird, welcher Ausspielweg Vorrang hat. Von der Center Unit aus bewegen sich die einzelnen Redaktionsteams in den Newsroom hinein, damit keine Distanz zwischen Redakteur und CvD länger ist als fünf Meter. Ursprüng-lich hat die Redaktion noch radikaler gedacht und sich als Ordnungsprinzip S-, M-, L- und XL-Formate vorgenommen. In einem Cluster sollten S wie Small-Formate sortiert werden, also Kurznachrichten oder kurze Videos. M wären demnach längere Texte und Meldungen, L-Formate sind Reporterbeiträge und XL-Formate sind lange Hintergrundtexte für die Seite oder auch Tagesthemen-Stücke. Allerdings sind die Abhängigkeitsbeziehungen derzeit zwischen verschiedenen Formaten zu groß und Nachrichtensendungen sind immer eine Mischung aus S- und M-Formaten. Daher haben wir uns für ein anderes Ordnungsprinzip, nämlich die sogenannte Center Unit als Kern des Newsrooms entschieden. Es ist ein Experiment, von dem wir aber glauben, dass es funktioniert.

g) Dialog und Transparenz Die Tagesschau hat nach wie vor die besten Werte in der Rubrik »Glaubwürdigkeit«. Diese Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut, das wir besitzen. Um dies zu stärken und auszubauen, brauchen wir den Dialog und die Transparenz. Wir müssen Beitragszahler*innen Teil haben lassen, an »Ihrer« Tagesschau. Wir müssen Einblicke in redaktionelle Abläufe zulassen und in den Dialog gehen. Wir brauchen Formate und Foren, um diesen Austausch mit den Beitragszahler*innen zu organisieren. Dafür müssen wir raus aus der

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Komfortzone und hin zu den Menschen. Um nach außen klar zu machen, wie wir redaktionelle Entscheidungen treffen, wollen wir non-lineare Möglichkeiten schaffen, um diese Transparenz zu verdeutlichen. Wir müssen uns und unsere Arbeit stärker erklären. Aktionen wie »Tagesschau on Tour« sind Beispiele, wie wir in die Regionen kommen und in den Dialog mit den Bürger*innen einsteigen können. Dies hilft der Redaktion, um über die Interessen, Wünsche und Anregungen der Zuschauer*innen/User*innen mehr zu erfahren. Ebenso über das Nutzungsverhalten unserer Produkte. Ziel ist es, eine enge Verbindung zwischen Beitragszahler*innen und der Tagesschau herzustellen. Im Idealfall muss es »Ihre« Tagesschau werden, die als wichtiger Bestandteil der Gesellschaft empfunden wird. Die Schattenseite des Erfolgs im Social-Media-Bereich sind die vielen Hass-Kommentare, die auch die Tagesschau erreichen. Hier müssen wir stärker reagieren, mit den Staatsanwaltschaften zusammenarbeiten, die sich immer stärker auf die Verfolgung dieser Straftaten konzentrieren, und technische Tools einsetzen, die die schlimmsten Mails herausfiltern. Natürlich gibt es auch viele konstruktive Anregungen. Mit diesen Menschen wollen wir über ein besseres »Community Management« ins Gespräch kommen. Wir wollen den Zuschauer*innen/Nutzer*innen auf Augenhöhe begegnen. Derzeit laufen pro Tag circa 10.000 bis 20.000 Kommentare bei uns ein. Ein Zeichen dafür, dass die Menschen mit uns kommunizieren wollen.

h) Das Prinzip der Ambidextrie Die Tagesschau steht mit beiden Beinen fest im linearen Fernsehen. Dort feiert die Tagesschau ihre größten Erfolge. Über den Tag sind es circa 15 Millionen Zuschauer*innen, die die Tagesschau-Ausgaben im linearen Fernsehen konsumieren. Dieses Angebot wird von einem Großteil der Redaktion produziert. Daran beteiligt sind neben Redakteur*innen auch Techniker*innen, Cutter*innen und Studiotechniker*innen. Dies braucht viele Ressourcen. Da wird uns die Technik in Zukunft helfen, Abläufe effizienter zu gestalten, Workflows zu optimieren und damit ressourcenschonender zu produzieren. Dies wird ein Weg sein, im klassischen Markt erfolgreich zu sein. Diesen Bereich müssen wir weiter stärken und dürfen nicht nachlassen, da dies derzeit ein Stück weit unsere Akzeptanz in der Bevölkerung garantiert und uns gesellschaftlich absichert.

Vom Nachrichtentanker zum Schnellboot

Auf der anderen Seite müssen wir im Digitalen flexibel und agil sein. Wir müssen ausprobieren, Fehler machen, Piloten kreieren und in verschiedenen Prozessen auch mal scheitern. Das müssen wir einkalkulieren. Insofern trifft das Prinzip der Ambidextrie auf uns zu. Wir sind ein »beidhändiger Betrieb«. Eine Seite ist das starke lineare Fernsehen – erfolgreich und etabliert – und ebenso die Homepage tagesschau.de, die sich ihren Platz mit einer frontalen Nachrichtenberichterstattung erobert hat. Auf der anderen Seite der agile Teil der Redaktion, der schnell auf Marktveränderungen reagieren, der sich auf Algorithmusänderungen einstellen muss, der im Zweifel innerhalb von Tagen Text gegen Videos eintauschen muss, wenn der/die Nutzer*in es will. Dieser Bereich muss »frei fliegen« können, ohne die Last des Alltagsdrucks. Kreativ, disruptiv und verrückt. Hier lebt und entfaltet sich der Kulturwandel im Kopf. Da ist es wichtig, dass die Leitung nicht mit handelsüblichen betriebswirtschaftlichen Blicken auf diese Einheit schaut. Dieses Labor muss man sich leisten können, auch wenn der Gewinn an anderer Stelle auftaucht.

4.

Schlussfolgerungen

Was auch immer für technische Anforderungen, neue Ausspielwege und Möglichkeiten auf die Tagesschau in Zukunft zukommen, am Ende muss es möglich sein, überall unsere Nachrichten ideal für den Ausspielweg aufbereitet hinzubekommen. Für alle Eventualitäten müssen wir gerüstet sein. Allerdings ist auch klar, dass derzeit keiner weiß, wie es in fünf Jahren aussieht. Keiner weiß, welche Tools wir brauchen, welche Social-Media-Plattform mehrheitlich genutzt wird und ob wir unsere Redaktionsaufstellung noch einmal neu durchdenken müssen. Klar ist, für neue Aufgaben wird es kein zusätzliches Personal geben. Wir müssen unsere Mitarbeitenden weiterqualifizieren. Wir müssen technikoffen sein. Und wir müssen Berufsbilder verändern. Wenn wir das alles hinbekommen, haben seriöse und glaubhafte Nachrichten auch im digitalen eine sehr gute Chance ein großes Publikum zu finden.

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Literatur Frees, Beate/Koch, Wolfgang: »ARD/ZDF-Onlinestudie 2018: Zuwachs bei medialer Internetnutzung und Kommunikation«, in: Media Perspektiven 9 (2018), S. 398-413. Schulz, Anne/Levy, David A.L./Nielsen, Kleis: Old, Educated and Politically Diverse: The Audience of Public Service News. Reuters Institute Report. September 2019. Siehe: https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/sites/default/files/2019-09/The_audience_of_public_service_news_FINAL.pdf

Veränderung als Graswurzelbewegung Innovationsmanagement à la taz Katrin Gottschalk

1.

Ausgangslage

Eine »Linke Tageszeitung für die BRD und Westberlin«. So wurde die taz vor 40 Jahren auf dem Tunix Kongress 1978 in Berlin angekündigt. Den Medien, die sich im Deutschen Herbst 1977 freiwillig an die Nachrichtensperre der Bundesregierung gehalten hatten, wollten die Gründer*innen linken, unabhängigen und undogmatischen Journalismus entgegensetzen. Seit April 1979 erscheint die taz jeden Tag. Mittlerweile sind die Medien andere, und auch die Bundesrepublik ist eine andere als 1978. Eine rechtsradikale Partei sitzt im Bundestag, Mieten werden unbezahlbar, Digitalkonzerne bestimmen die Öffentlichkeit im Internet. Heute wie damals braucht es ein Medium, das den Status Quo bedingungslos kritisiert und nach Utopien sucht, das den Fokus auf Themen und Länder richtet, auf die andere nicht schauen. Das ist die taz. Unsere Arbeit braucht es heute genauso wie vor 40 Jahren. Aber sind die Weichen für die nächsten 40 Jahre richtig gestellt? Diese Frage stellen wir uns bei der taz. Die taz ist stabil. Die letzte Rettungskampagne der taz ist fast 20 Jahre her. Unsere IVW-Zahlen1 , die Zeitungsverkäufe im Abo und im Einzelverkauf, sanken im dritten Quartal 2019 lediglich um 1,0 % im Vergleich zum dritten Quartal 2018, auf 41.334 Exemplare. Bei der Bild waren es im gleichen Zeitraum 9,9 %, bei der Welt 13,1 %, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

1

Die Informationsgemeinschaft zur Feststellung zur Verbreitung von Werbeträgern e.V. (IVW) ist eine unabhängige, nicht kommerzielle Prüfinstitution, die unter anderem die Auflagenhöhe von Zeitungen, Zeitschriften und weiteren periodisch erscheinenden Presseerzeugnissen erhebt und quartalsweise veröffentlicht. Siehe: www.ivw.eu.

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4,9 %.2 Über 17.800 Leser*innen unterstützen regelmäßig mit »taz zahl ich« unseren Journalismus im Netz (Stand: November 2019).3 2018 bekamen etwa 365 Mitarbeiter*innen an den Standorten Berlin, Bremen und Hamburg ein regelmäßiges Entgelt von der taz. Die Gehälter sind zwar noch immer fast so schlecht, wie man sagt. Aber seit einigen Jahren können sie jedes Jahr um 2,5 % angehoben werden. Seit 1992 sichert die Genossenschaft mit mittlerweile über 19.000 Mitgliedern (Stand: November 2019) unsere journalistische Arbeit. Unser Eigenkapital wächst jedes Jahr kontinuierlich. Wir müssen nicht darüber nachdenken, verkauft zu werden. Erst im Herbst 2018 sind wir in ein neues, selbst gebautes Haus in der südlichen Friedrichstraße mitten in Berlin gezogen. Das alte Haus auf der Rudi-Dutschke-Straße gehört weiterhin der taz und wird vermietet. Die Rahmenbedingungen sind also stabil – aber haben wir auch genügend Geld, um in die richtigen Dinge zu investieren? Journalismus ist unser Kerngeschäft. Wir haben zwar auch ein öffentliches Gastronomie-Angebot, die »taz Kantine«, einen Shop, machen Veranstaltungen und Reisen. Aber unser Geld verdienen wir weiterhin überwiegend mit Journalismus. Die größte Einnahmequelle der taz ist nach wie vor die täglich gedruckte Zeitung. Das unterscheidet die taz von vielen anderen Medien. Diese haben früher vor allem mit Anzeigen ihr Geld verdient, ein Digitalkonzern wie die Axel Springer SE macht inzwischen einen Großteil seines Geschäfts mit Onlineportalen wie immowelt.de. Andere Verlage orientieren sich seit der Anzeigenkrise verstärkt auch auf Abomodelle – und versuchen sich zugleich im Event-Business oder anderen sogenannten Nebengeschäften. Bei uns muss sich der Journalismus rechnen. Und weil das so ist, geht ein großer Veränderungsdrang in der taz von den Mitarbeiter*innen selbst aus. In der taz ist Innovation eine Graswurzelbewegung. Diese Basisbewegung wird von vielen getragen. Ziel ist dabei immer eine grundsätzliche Veränderung des Status Quo. Dazu passt ein Satz, der in der taz sehr oft zu hören ist: »Wir müssen das ganz neu denken.« »Das«, damit ist unser Journalismus in digitaler Form gemeint. Für den gemeinsamen Veränderungsdrang steht der »taz Report 2021«, der von acht Mitarbeiter*innen mit Informationen aus dem ganzen Haus zusammengestellte Innovationsreport, der transparent und schonungslos auf 2 3

K. Alexander: IVW 3/2019: So hoch ist die »Harte Auflage« wirklich. Aktuelle Abo-Zahlen der taz, siehe: https://taz.de/Info/Ueber-uns/Bull-Analyse/! p4894/

Veränderung als Graswurzelbewegung

den Stand der digitalen Entwicklung der taz blickt.4 Mit der Veröffentlichung des Reports im März 2018 wurde der Wunsch der Mitarbeitenden nach Veränderung so sichtbar, dass die digitale Entwicklung der taz seitdem als besonders dringlich gilt. Veränderungsdrang kommt auch von der Führungsebene. 2016 starteten Chefredakteur Georg Löwisch sowie Barbara Junge und ich als stellvertretende Chefredakteurinnen als neues Leitungsteam der taz. Wir kamen in ein Haus, das sich bereits auf den Weg gemacht hatte. 2011 erarbeitete die damalige Führungsebene der taz ein Papier, in dem der gedruckten Tageszeitung nur noch eine Lebenszeit von zehn Jahren gegeben wurde.5 Daraufhin folgte eine Diversifizierungsstrategie. Bereits seit 2009 hatte die taz mit der »sonntaz« eine starke Wochenzeitung gelauncht, 2013 wurde sie zur »taz am Wochenende« weiterentwickelt. Nach ersten Monaten des Ankommens begannen wir als Chefredaktion das Jahr 2017 mit dem Ziel: »taz-Journalismus dringt durch«. Und zwar auf vielen Kanälen: stündlich im Netz, täglich digital in der tageszeitungs-App, täglich gedruckt auf Papier und in der Wochenendausgabe – aber auch mit Diskussionsveranstaltungen auf der Bühne, in sozialen Netzwerken oder als Referenz in anderen Medien. Im Frühjahr 2017 starteten wir vier Arbeitsgruppen: eine für den Relaunch der gedruckten Tageszeitung, der im Herbst 2017 umgesetzt wurde, eine für die Struktur unserer Konferenzen und Planungsabläufe, eine für unseren Journalismus auf der Bühne – und eine für einen Innovationsreport. Ein Innovationsreport schien der richtige Weg zu sein, um eine gemeinsame Gesprächsgrundlage für die digitale Transformation in der taz zu schaffen, für die ich in der Chefredaktion angetreten bin. In unserem Team verantworte ich die digitalen Produkte der taz und deren Entwicklung. Wichtig für die Entwicklung ist mir, dass Ideen und Verantwortung von möglichst vielen Kolleg*innen kommen. Nur im Austausch und in der Auseinandersetzung miteinander können Veränderungen gelingen. Für einen digitalen Entwicklungsdrang steht auch das Szenario 2022, das Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch im Sommer 2018 veröffentlichte.6 Die Analyse: Die Abonnements der gedruckten Ausgabe sinken seit Jahren

4 5 6

Webseite des »taz Report 2021«, siehe: https://taz.de/report2021/ K.H. Ruch: Was macht die taz, wenn gedruckte Zeitungen aussterben? K.H. Ruch: Zur Zukunft der taz. Szenario 2022; vgl. auch A.K. Liedtke: Die taz im digitalen Wandel.

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konstant. Gleichzeitig nehmen die Kosten für Vertrieb und Druck zu. Das Szenario: 2022 erscheint die taz nicht mehr als täglich gedruckte Tageszeitung. Das finanzielle Loch, das so entstehen würde, könnte gedeckt werden, indem die zukünftig wichtigsten Erlösquellen der taz jeweils auf die Zahl 20.000 gebracht werden: 20.000 Abos der gedruckten taz am Wochenende, 20.000 Abos der tageszeitungs-App mit einer täglichen digitalen Ausgabe, 20.000 Abos mit einer Kombination aus der täglichen digitalen Ausgabe und der gedruckten Ausgabe am Wochenende und 20.000 »taz zahl ich«-Unterstützer*innen. Es sind also unbequeme Fragen, mit denen sich das Szenario 2022 beschäftigt: Müssen wir vielleicht bald etwas sein lassen? Müssen wir die gedruckte Zeitung an Werktagen einstellen? In der taz sind Ideen, die Antworten auf unsere Fragen im Kleinen wie im Großen liefern könnten, im Überfluss vorhanden. Bücher über Innovationsmanagement betonen häufig, dass für Innovationen Strukturen aufgeweicht werden müssten, Unternehmen müssten durchlässiger für gute Ideen werden. Bei der taz verhält es sich genau anders. Bei uns gilt das Prinzip: Wer Verantwortung trägt, entscheidet. In der Redaktion gibt es eine Chefredaktion und Ressortleiter*innen, die jeweils weisungsbefugt sind. Die Frage ist, auf welcher Grundlage und mit wie viel Einbindung entschieden wird. Geübte Praxis ist es, breite Beteiligungsprozesse zu ermöglichen, sehr offen miteinander zu sprechen und Arbeiten in hoher Eigenverantwortlichkeit zu unterstützen. Viele kreative Köpfe in der taz haben Projektideen, die uns als Ganzes voranbringen. Etwa die Idee, im Sommer 2019 für sechs Wochen im Rahmen der »taz Ost« einen Teil der Redaktion nach Dresden zu verlagern, wo Anfang September Landtagswahlen stattfanden. Allerdings sind solche Sonderprojekte jedes Mal ein Kraftakt. Sind Projekte journalistisch erfolgreich, fällt es oft schwer, sich von ihnen zu verabschieden und die Versuchung besteht, ein Projekt auch ohne nachhaltige Finanzierung und Konzept in den Regelbetrieb zu nehmen. Auf diese Weise entsteht Ermüdung. In hausinternen Diskussionen über die Zukunft der taz ist deshalb ein Satz sehr häufig zu hören: Wir müssen Dinge auch sein lassen können. Veränderung braucht Fokus. Innovation bedeutet für uns deshalb nicht, neue Nebenboote zu entwickeln, sondern, wie Geschäftsführer Andreas Bull es formulierte: eine Operation am offenen Herzen. Eine erweiterte Steuerungsrunde aus Chefredaktion, Geschäftsführung, gewähltem Vorstand und Leitenden aus Verlag und Redaktion hat das Szenario 2022 von Karl-Heinz Ruch zum Konzept ausgebaut.

Veränderung als Graswurzelbewegung

Wir setzen auf die Entwicklung von vier tragenden Säulen für die Zukunft: (1) die taz im Netz, (2) die tageszeitungs-App, (3) die gedruckte taz am Wochenende und (4) ein neues Community Management. Unter Einbeziehung aller Gremien der taz haben wir für das Gelingen dieser Operation im Jahr 2019 eine Struktur geschaffen: Im März 2019 starteten fünf Kolleg*innen ihre Arbeit, um die vier genannten Bereiche weiterzuentwickeln.

2.

Report

Als ich mit sieben Kolleg*innen am »taz Report 2021« arbeitete, wollten wir bewusst das Wort »Innovationsreport« vermeiden. Zu groß erschien uns die Fallhöhe bei derartigen Reports, die man bis dahin von der New York Times kannte. Auch der Spiegel und die Zeit erstellten solche Innovationsreporte, allerdings nicht öffentlich. Initiiert hatte ich die Gruppe, um auf die nächsten fünf Jahre taz zu schauen. Autor*innen des Reports waren Ingo Arzt, Svenja Bergt, Sebastian Erb, Bert Schulz, Nicola Schwarzmaier, Luise Strothmann und Harriet Wolff. Während der Arbeit an dem Report merkten wir recht schnell, dass es weniger um die Zukunft als vielmehr um das Hier und Jetzt gehen muss. Prognosen in die Zukunft erweisen sich zu schnell als überholt. Vor wenigen Jahren noch erschien es einigen Verlagen dringlich geboten, bei Facebook Instant Articles zu erstellen. Mittlerweile haben Medien wie die New York Times oder der Guardian diese Arbeit wieder eingestellt. Auch von Drohnenjournalismus und Virtual Reality Storytelling hört man kaum noch etwas. Der Blick, der fünf Jahre in die Zukunft reichen sollte, barg auch die Gefahr, den Eindruck zu vermitteln, als hätten wir noch genug Zeit, als müssten wir nicht sofort handeln. Der Report sollte deshalb vor allem zwei Ziele erreichen: einen gemeinsamen Wissensstand schaffen und gleichzeitig den Handlungsdruck klarmachen, der immer deutlicher wird. Ein Bewusstsein für die Notwendigkeiten von Veränderungen ist in der taz zwar vorhanden. Aber die nötigen Veränderungen drohen im Alltag oft unterzugehen. Manche kennen das am Beispiel der Steuererklärung: Der Druck ist vorhanden, die Uhr tickt, nur mit dem Machen hapert es. Erst wenn die Mahnung des Finanzamts im Briefkasten liegt, beginnt man mit der Arbeit. Äußere Faktoren helfen also. Im Februar 2018 besprachen wir den Report zunächst intern, im März 2018 machten wir ihn öffentlich zugänglich, letzteres aus Prinzip: Denn

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Transparenz ist unser Leitmotiv. Auch die jährlichen Bilanzen der taz Verlagsgenossenschaft eG sind online für jede*n einsehbar. Wir verbergen nichts – auch nicht die vielen guten Ideen, die in diesem Report stehen. Wir bauten dafür eine Microsite, die bis heute unter taz.de/report2021 erreichbar ist und auf der Interessierte einen Monat lang Abschnitt für Abschnitt kommentieren konnten. Der Report ist auch deshalb öffentlich, weil die taz ihren Leser*innen gehört. Wir sind keinen Konzerninteressen oder einzelnen Verleger*innen verpflichtet, sondern unseren Eigentümer*innen und Leser*innen. Diese finanzieren einen Journalismus, der sich – auch das gehört zur Unabhängigkeit dazu – selbst infrage stellt. Diese Menschen sollten unsere Pläne kennen und die Möglichkeit haben, uns ihr Feedback und zusätzliches Wissen zu unseren Vorschlägen zu geben. Wir haben den Report aber auch veröffentlicht, um uns selbst nachhaltig zur Veränderung zu verpflichten: Wenn jede*r nachlesen kann, wie gut wir unsere Schwachstellen analysieren und dann nicht handeln, wird es schnell peinlich. Unsere Transparenz hatte dabei einen interessanten Effekt: Die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der wir auf die taz blickten und diesen Blick auch allen Interessierten ermöglichten, führte dazu, dass Menschen gerne zu uns kommen möchten. Immer wieder beziehen sich Bewerber*innen in Vorstellungsgesprächen positiv auf den Report. Der »taz Report 2021«, das waren für uns neun Monate Arbeit und am Ende 225.000 Zeichen Text. Im Frühjahr 2017 begannen wir neben der täglichen Arbeit mit unserer Recherche. Wir zogen dafür bereits existierende Leser*innenbefragungen heran, durchleuchteten Erlöstabellen, führten eine Umfrage unter allen Mitarbeitenden der taz durch, bildeten Fokusgruppen und sprachen mit vielen einzelnen taz-Mitarbeiter*innen, Branchen-Expert*innen und Mitgliedern der taz-Genossenschaft. Entstanden sind schließlich sechs Thesen, die sich mit den Inhalten des taz-Journalismus beschäftigen, der Finanzierung, der taz als Onlinemedium, der internen Arbeitsstruktur, dem Personal und der Kommune – also denjenigen, die die taz überhaupt erst möglich machen, den Genoss*innen, Unterstützer*innen und Leser*innen. Die Kapitel lauten: (1) »Dafür wurde die taz gegründet – Wie wir früher erkennen, was morgen unsere Themen sind«, (2) »Mehr Kapitalismus wagen – Wie wir mit Journalismus genügend Geld verdienen«, (3) »Wir sind keine Zeitung mehr – Wie wir die taz im Netz neu gründen«, (4) »Der Tag hat 24 Stunden – Wie wir unsere Arbeitsweise an die Gegenwart anpassen«, (5) »Kei-

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ne Strukturen sind auch keine Lösung – Wie wir Personalentwicklung ernst nehmen« und (6) »Die taz ist eine Kommune – Wie wir die Gemeinschaft mit unseren Leser*innen neu definieren«. Eine Frage, die sich durch alle Thesen zieht, ist die nach der digitalen Zukunft der taz. In einem kurzen Film zum Report formuliert es eine junge Redakteurin so: »Ich will, dass die taz für meine Generation ein Zuhause wird, genauso, wie sie jetzt schon für die Gründergeneration ein Zuhause ist. Und das geht nur online.« Im Netz hatte die taz zu diesem Zeitpunkt allerdings niedrigere Page Impressions (Seitenaufrufe) als etwa 2012. Während andere Webseiten wuchsen, schien taz.de zu schrumpfen. Dazu kam immer mal wieder das Feedback während der täglichen Arbeit von jüngeren Praktikant*innen, dass unsere Webseite »langweilig« aussehe, von den Redakteur*innen wird die Seite als sehr beengend in der Gestaltung wahrgenommen. Im Report haben wir uns gefragt, was die taz wäre, würde man sie heute neu erfinden. Sie wäre mit Sicherheit keine gedruckte Tageszeitung. Sie wäre viel eher ein Digitalkollektiv, das einfach mal ausprobieren würde, wie man in diesem Internet qualitativ hochwertigen Journalismus mit Kanten und Humor machen kann. Sie würde sich mit den gleichen Themen wie damals beschäftigen und darüber streiten, ob ein Fokus auf Feminismus nun links ist oder nicht. Sie würde experimentieren und neue Formate ausprobieren, von denen andere sagen: »Was ist das denn bitte?«. Wir schlugen also vor, die taz im Netz neu zu gründen, indem wir anders arbeiten und die taz online überarbeiten. Etwa indem wir den taz-Moment von der Titelseite der Zeitung auf die Webseite übertragen und temporäre thematische Schwerpunkte wie Sonderseiten im Blatt auch auf taz.de darstellen, oder indem wir es jeden Tag schaffen, dass neue Leser*innen im Netz zu uns finden. Schließlich sind unsere Kernthemen wie Feminismus, Migration oder Umweltschutz so aktuell wie vor 40 Jahren. Deshalb spielt der Report auch mit neuen Ideen wie einer »taz tinder App« (nach links wischen heißt: gefällt mir). Alle im Report genannten Maßnahmen waren die Grundlage für die nun beginnende gemeinsame Diskussion mit Genoss*innen, Leser*innen und Mitarbeiter*innen. Insgesamt erreichten uns etwa 200 E-Mails und Kommentare auf der Webseite. Die Wochen nach dem Report verbrachten wir damit, alle Ressorts und Abteilungen zu treffen. Wir haben im Zuge des Reporting-Prozesses festgestellt, dass eine breite Einbindung zentral für die spätere Akzeptanz der ganzen Entwicklung ist. So waren in der

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Recherchephase nicht alle wichtigen Stakeholder gehört worden, nicht jeder Vorschlag wurde von verlässlichen Prozessverantwortlichen begleitet. Es gab viele Ideen, die wir protokollierten und archivierten. Ein weiterer Prozess, der sich direkt an die Veröffentlichung des Reports anschloss, war ein Überdenken der Redaktionsstrukturen. Zwei Monate nach Vorstellung und Veröffentlichung des Reports kamen Chefredaktion und Ressortleiter*innen auf einer Klausurtagung zusammen, um über die taz im Netz zu sprechen. Online sollte zur Sache des ganzen Hauses werden. Diesen Prozess steuere ich mit meiner Kollegin Barbara Junge. In einer Arbeitsgemeinschaft entwickelten wir mit Kolleg*innen im Sommer 2018 das publizistische Konzept der taz im Netz, zu Beginn des Jahres 2019 testeten wir neue Produktionsabläufe und passten das Konzept den Erfahrungen an. Seit Herbst 2019 sind alle Fachressorts auch für ihre Inhalte im Netz verantwortlich. Dieser Prozess ist eine Herausforderung. Seit vielen Jahrzehnten eingeübte Abläufe werden verändert, oder anders: Altbekanntes muss in Einklang mit neuen Aufgaben gebracht werden. Mit einer Redaktion, kleiner als die von Spiegel Online, bestücken wir von Montag bis Freitag eine gedruckte, 24-seitige Zeitung, eine App, eine Newsseite online und eine 56-seitige Wochenendausgabe.

3.

Einzelne Projekte

Ganz ohne Projekte arbeiten wir natürlich auch weiterhin nicht. Es gibt solche, die sind einmalig, etwa das bereits erwähnte Sonderprojekt »taz Ost«. In den Wochen vor den Landtagswahlen 2019 in Brandenburg und Sachsen verlegten wir einen Teil der Redaktion nach Dresden und berichteten gemeinsam mit dem Korrespondenten vor Ort verstärkt aus Sachsen. Nach der Landtagswahl endete das Projekt. Es gibt aber auch Projekte, die zeitlich begrenzt beginnen, deren Fortführung und Dauer ist auf lange Sicht aber zu Beginn noch offen. Diese wählen wir mit Bedacht und klaren Anforderungen und Ergebniserwartungen aus. Jedes Projekt muss außerordentlich gut begründet sein und in Zahlen auf das Großprojekt taz einzahlen. Organisatorisch ist die wichtigste Herausforderung, dass Projekte zu keiner dauerhaften Stellenerweiterung führen. Das Ziel ist also immer, die Aufgaben nach einer Projektphase in den Regelbetrieb zu integrieren. Dass dies

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nicht direkt geschieht, trägt dem eben beschriebenen Umstand Rechnung, dass ein Team nur begrenzt neue Aufgaben in die bestehenden Abläufe integrieren kann.

3.1

Search Engine Optimization (SEO)

Es war eine Erfahrung, die viele Redaktionskolleg*innen umtrieb: taz-Artikel, selbst exklusive Recherchen, tauchten in der Google-News-Suche kaum unter den ersten Treffern auf. In unserem publizistischen Konzept über die »taz im Netz« von 2018 sagen wir ganz klar: Ja, wir wollen als Redaktion erfolgreich sein und dazu zählt für uns die Resonanz von Entscheider*innen und Leser*innen, aber auch die Reichweite und Sichtbarkeit der Webseite. Reichweite ist dabei auch für das Team von »taz zahl ich« von großer Bedeutung. Steigt diese, gewinnen wir mehr Unterstützer*innen für unser freiwilliges Bezahlmodell »taz zahl ich«. Im September 2018 starteten wir deshalb ein Editorial-Search-EngineOptimization-Projekt, um die publizistische Durchschlagskraft der taz im Netz zu erhöhen.7 Die Journalistinnen Malaika Rivuzumwami und Marlene Halser, beide bereits vorher taz-Mitarbeiterinnen, optimierten jeweils im Umfang von 50 Prozent einer Vollzeitstelle mit unseren technischen Entwickler*innen ein Jahr lang die Auffindbarkeit des taz-Journalismus in Suchmaschinen in enger Zusammenarbeit mit einer Agentur. Suchmaschinen sind für unseren digitalen Journalismus der Kiosk im Netz, weshalb wir in der Redaktion das Projekt direkt im Geschäftsbereich der Chefredaktion angesiedelt haben. Die interne Besetzung der Stellen war wichtig, da das Verhältnis der taz zu Suchmaschinenoptimierung nicht konfliktfrei ist. Einer Umsetzung nach Schema F widerspricht unser kritisches Verhältnis zu einem Digitalkonzern wie Google, dem wir nicht unsere Analysedaten überlassen wollen. Es entspricht außerdem unserem Wunsch, Reichweite zu steigern, ohne gleich einen publizistischen Schwerpunkt zu Polyamorie oder Kürbissuppe einzurichten. Hier ist es wichtig, mit Kolleg*innen zu arbeiten, die wissen, wofür die taz bereit ist und wofür nicht. Branchenkolleg*innen lächeln häufig ein bisschen, wenn ich von unserem SEO-Projekt im Jahr 2018 erzähle. Erstens: 2018? Zweitens: Projekt? Zu wenig, zu spät – das sind berechtigte Kritikpunkte. Aber wir sehen: Es funktioniert. 7

K. Gottschalk: Mitarbeiter*innen. Vier Fäuste für Editorial SEO.

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Im Juni 2019 war die Reichweite von taz.de um 33,4 Prozent höher als im Jahr zuvor. Das Projekt wird weitergeführt.

3.2

Podcasts

In den Fokusgruppenbefragungen des »taz Report 2021« wurde die taz als Stimme in der neuen Podcast-Welt vermisst. Dabei hatte die taz schon einmal Podcasts produziert, allerdings vor über zehn Jahren, als Podcasts eine Zeit lang angesagt waren. Der Hype verpuffte damals recht schnell. Die aktuelle Entwicklung scheint allerdings nachhaltig(er) zu sein. Auch in Redaktion und Verlag gab es den großen Wunsch, mit diesem Format zu experimentieren. Nach Erscheinen des »taz Report 2021« starteten deshalb zwei tazRedakteur*innen direkt mit dem Podcast »Lokalrunde«. Ein zweiwöchentliches Format, in dem Erik Peter und Katharina Schipkowski über Aktivismus in Hamburg und Berlin sprechen.8 Allerdings haben Projekte, die spontan starten, oft keine Finanzierung und selten Orientierung. Wer gibt Feedback? Ist das journalistisch interessant? Welche Folge war besonders gut? Was bringt das der taz? Aus diesen Überlegungen heraus starteten wir im Januar 2019 ein Podcast-Projekt, das in seinem Aufbau einer Idee des Innovationsreports folgt: »Quasi täglich wachsen in der taz neue Ideen und Projekte. Einen Überblick hat niemand. Manche Projekte enden einfach, weil die verantwortliche Person das Haus verlässt. Manche hängen an einer Person, ohne dass irgendjemand davon Kenntnis hat. Manche laufen gut, manche laufen schlecht. Die Gründe kennen wir nicht, aus Erfolgen wie Misserfolgen können wir nicht lernen. Was wir liebevoll »Orchideengarten« nennen, muss auch gepflegt werden. Was wird neu gepflanzt und welche Blume ist schon so verwelkt, dass man sie rausnehmen muss? Wir sollten uns gemeinsam für oder gegen Projekte entscheiden.«9 Seit Januar 2019 verantwortet Anne Fromm, taz-Redakteurin für Medien und Gesellschaft, im Umfang von 20 Prozent einer Vollzeitstelle die Podcasts der taz.10 Gemeinsam mit der Redaktion entwickelte sie Themen und Formate. Technischer Leiter des Projektes ist Nicolai Kühling, Mitarbeiter im »taz zahl

8 9 10

Lokalrunde: Der 1. Mai im Villenviertel und Racial Profiling auf St. Pauli. taz Report 2021, These 4, siehe: https://taz.de/report2021/#these-4 K. Gottschalk: Personalie. Die Podcast-Pilotin.

Veränderung als Graswurzelbewegung

ich«-Team. Anfangs konnten sich Redakteur*innen mit einer Formatidee für Workshops bewerben, in denen jeweils eine Pilotfolge aufgenommen wurde. Welche der schließlich zwölf Podcasts weiterverfolgt werden sollten, darüber stimmte eine Jury ab. Die Mitarbeiter*innen wurden durch eine Onlineumfrage beteiligt. Im Mai veröffentlichten wir schließlich eine Miniserie zum »Angriff Europa«11 durch rechte Parteien, danach startete das Diskussionsformat »Specht hat Recht«12 und schließlich starteten wir den bisher erfolgreichsten Podcast »Weißabgleich«13 , ein Podcast von Personen of Colour für Personen of Colour. Für die Aufnahmen richteten wir einen Raum ein, organisierten Technik und nahmen Einspieler für eine »taz zahl ich«-Werbung auf. Ende 2019 legte die Projektleitung einen Bericht der Geschäftsführung und Chefredaktion vor, aus dem hervorgeht, was wir mit dem Projekt erreicht haben und ob Aufwand und Nutzen in richtigen Verhältnis zueinander stehen.

3.3

Livestreams

Die Livestreams der taz sind ein gutes Beispiel dafür, wie wichtige publizistische Entwicklungen noch immer nicht gleich erkannt werden, selbst wenn man Teil davon ist. In unserem Innovationsreport erwähnen wir beispielsweise Livestreams als wichtigen Ausspielkanal der taz nicht. Dabei berichtete der damalige taz-Redakteur Martin Kaul bereits im Sommer 2017 live mit seinem Smartphone von den G20-Protesten.14 Sehr informiert, sehr ruhig. Im Sommer 2018 folgten Kauls Berichte aus Köthen und etwa zeitgleich berichtete Anett Selle aus dem Hambacher Forst. Mit Erfolg und schnell wachsender Fangemeinde: Anett Selle wurde mit ihrer »Selle-Kelle« bekannt, einer zu einem Selfiestick umfunktionierten Suppenkelle, an die sie ihr Smartphone mit Tape klebte. Ihr wurden Carepakete in die Redaktion geschickt: mit Süßigkeiten und einem Kochtopf darin, zwei Walkie-Talkies, einem Satz Bat-

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Webseite des Podcasts »Angriff auf Europa«, siehe: https://taz.de/Podcast-zu-EuropasRechtspopulisten/!168639/ Webseite des Podcasts »Specht hat Recht«, siehe: https://taz.de/Ein-Podcast-uebersRecht-haben/!169036/ Webseite des Podcasts »Weißabgleich«, siehe: https://taz.de/Ein-Podcast-von-Peopleof-Color/!168802/ M. Schade: G20-Demos: Wie ein taz-Reporter mit seinem Handy-Livestream zum Leitmedium der Krawallnacht wurde.

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terien, zwei Ladekabeln und Hunderten Espressobohnen. Der Kochtopf sollte Anett Selle als Helm dienen, passend zur Suppenkelle.15 Erst dieses Feedback verdeutlichte die Relevanz der Livestreams – und wir verstanden, dass sich diese Form des Journalismus tatsächlich auszahlt: Im September 2018 meldeten sich so viele Menschen wie noch nie in einem Monat bei »taz zahl ich« an. Viele einzelne Direktnachrichten geben Hinweise, dass diese Zahlen durchaus auf die Live-Berichterstattung von Martin Kaul und Anett Selle in diesem Sommer via Periscope auf Twitter zurückzuführen sind. Hier setzen wir vor allem auf eine Verbreitung in den Sozialen Netzwerken. Dieser Erfolg geht also maßgeblich auf die Initiative eines einzelnen Redakteurs zurück, der einfach mal loslegte. Mittlerweile ist Livestreaming eine Kompetenz vieler im Haus. Die beiden Kolleg*innen gaben ihr Wissen in Form von Workshops an andere im Haus weiter, inzwischen streamen auch andere von Demonstrationen wie etwa die Kolleg*innen Jasmin Kalarickal (BerlinRessort und taz eins) und Kersten Augustin (Wochenendressort).

4.

Szenario

Eine integrierte Redaktion, Podcasts, Suchmaschinenoptimierung und Livestreams ergeben in der Summe noch keine finanzielle Grundlage. Der »taz Report 2021« rechnete vor, wie viel weniger die taz 2021 einnehmen würde, wenn die Zahl der Abonnent*innen der täglich gedruckten Ausgabe weiterhin so sinkt wie bisher. Die Frage, die sich viele im Haus stellten, war: Wie gehen wir damit um, dass uns in drei Jahren womöglich 3,5 Millionen Euro fehlen würden? Im Juni 2018 gaben auf einer Versammlung der Mitarbeitenden Geschäftsführung und Chefredaktion Auskunft über ihre Lehren aus dem Report. Karl-Heinz Ruch präsentierte das Szenario 2022. Denn die große Frage, die der Report laut Ruch unbeantwortet lasse, sei: Lohnt sich bei einer Auflage von 22.000 Exemplaren das Drucken überhaupt noch? Die taz hat für eine überregionale Tageszeitung eine besonders niedrige Printauflage von 25.500 Exemplaren unter der Woche. Am Wochenende sind es 36.700 gedruckte Exemplare. Wir besitzen keine eigene Druckerei und ha-

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M. Kaul: Die taz im Livestream. Ein Kochtopf für den Kopf.

Veränderung als Graswurzelbewegung

ben kein eigenes Vertriebsnetz. Mit anderen Worten: Wir sind auf andere angewiesen. Und die werden immer weniger verlässlich. Kontinuierlich steigende Papier-, Druck- und Vertriebskosten decken wir mit einer Steigerung des Abopreises. Wenn aber ein ganzes Pressevertriebsunternehmen wegbricht wie neulich in Österreich16 , dann werden auch leichte Erhöhungen künftig nicht mehr reichen. Also müssen wir uns auf einen Tag vorbereiten, an dem wir keine täglich gedruckte Tageszeitung mehr produzieren. Das Interessante: Rechnerisch funktioniert es. Das Szenario 2022 mit den Zielgrößen »20.000 – 20.000 – 20.000 – 20.000« klingt rund. Nur: Wie kommen wir da hin? Auf einer erweiterten Steuerungsrunde aus Geschäftsführung, Vorstand, Chefredaktion sowie Abteilungs- und Ressortleiter*innen beschlossen wir im Dezember 2018, Kolleg*innen zu suchen, die die Zukunftsprodukte taz am Wochenende, tageszeitungs-App und taz im Netz entwickeln und eine*n Kolleg*in, die*der sich explizit mit dem Thema Community beschäftigt. Zusätzlich war uns wichtig, internes Wissen einzubinden und Kolleg*innen zu finden, die bereits für die taz arbeiten und die Möglichkeit nutzen wollten, die taz aus einer anderen Perspektive voranzubringen.

5.

Produktentwicklung

Ein fünfköpfiges interdisziplinäres Team verantwortet seit Mitte März 2019 die Entwicklung der vier Zukunftsbereiche der taz: die Produkte taz im Netz, taz am Wochenende und tageszeitungs-App sowie das CommunityManagement.17 Ziel des Teams war es zunächst, ein Briefing für die Entwicklung der Produkte zu erarbeiten. Mitte September stellten Jan Kahlcke, Lena Kaiser, Jörg Kohn, Jürn Kruse und Luise Strothmann ihre Konzepte auf der Genossenschaftsversammlung der taz im September 2019 vor. Zuvor organisierten die Entwickler*innen Workshops in Hamburg und Berlin mit den Genoss*innen, um deren Ideen in den Prozess miteinzubeziehen. Die Umsetzung der jeweiligen Projekte ist bis Mitte 2021 geplant. Für die Produktentwicklung konnten wir überaus erfahrene Kolleg*innen gewinnen. Jürn Kruse etwa war zuvor Ressortleiter des Medien- und Ge16 17

APA: Morawa stellt Tochterfirma Morawa Pressevertrieb Ende 2018 ein. K. Gottschalk: Im Aufbruch. Fünf für die taz von morgen.

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sellschaftsressorts taz zwei, Luise Strothmann stellvertretende Ressortleiterin der taz am Wochenende. Für die Projektzeit von zwei Jahren werden sie sich ausschließlich der Produktentwicklung widmen. Dies ist wiederum eine Chance für andere Redakteur*innen innerhalb der taz, für eine begrenzte Zeit in eine Verantwortungsposition zu gehen und dort Erfahrungen zu sammeln. Veränderung braucht Talente. Jeweils eine Person aus Geschäftsführung und Chefredaktion ist als Auftraggeber*in mit den Entwickler*innen zu strategischen Zielvorgaben und einzelnen Schritten im Austausch. Auf regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen werden die Felder aufeinander abgestimmt, es gibt regelmäßig Rückkopplungen an die Gremien der taz sowie eine erweiterte Steuerungsrunde, um möglichst viele Mitarbeiter*innen auf dem aktuellen Entwicklungsstand zu halten. Dieser Prozess sendete ein starkes Signal ins Haus. Auf die Verkündung der Stellenbesetzung im Februar 2019 reagierten die Mitarbeitenden sehr positiv. »Ich bin als Mitautor des Innovationsreports selig«, meinte Redakteur Ingo Arzt. »Andere Verlage hätten externe Unterstützung eingekauft. Wir können und wir machen das selbst, mit unseren Kolleginnen und Kollegen, in einem offenen Prozess.« Dieser Prozess hat drei wesentliche Merkmale, die im Folgenden vorgestellt werden.

5.1

Fokus auf die Community

Für jedes unserer journalistischen Produkte haben wir im Sommer eine umfassende Leser*innenbefragung zusammen mit Prof. Dr. Bernd Blöbaum und seinen Studierenden von der Universität Münster durchgeführt. In der Mitgliederinformation der Genossenschaft schreibt er im Herbst 2019: »Die taz Gemeinschaft von 2019 ist nicht identisch mit der von 1979, als das Abenteuer taz begann, oder der von 1993, als wir die erste Umfrage machten und das Milieu der Leserschaft beschrieben haben. Aber unabhängig von den Individuen sind die mit der taz verbundenen Werte gleich geblieben: Die Beziehung zwischen taz und Publikum ist damals wie heute stark geprägt von sozialer Solidarität. Diese praktizierte Solidarität beruht darauf, was Nutzer und Leser mit der taz verbinden: ein Medium der Gegenöffentlichkeit und eine Haltung, die nicht Mainstream ist.«18

18

B. Blöbaum: Umweltgründe sind am wichtigsten.

Veränderung als Graswurzelbewegung

Wir wissen also, wie unsere Leser*innen ticken. Und wir wissen, dass es noch viel mehr von dieser Sorte gibt, als wir bisher mit unserem Journalismus erreichen. Zwar ist der Name »taz« unter Jüngeren noch bekannt, aber gelesen wird sie nur noch zufällig. Wie wir diese Zufälle herbeiführen und dadurch Interessierte an uns binden können, müssen wir über Befragungen und Testings kontinuierlich erproben. Besonders in der Entwicklung der tageszeitungs-App und der taz im Netz beziehen wir früh Leser*innen und Fokusgruppen ein. Denn, dass erst entwickelt und danach getestet wird, ist eine veraltete Strategie. Gerade im Digitalen ist es wichtig, so früh wie möglich Verständnishürden abzubauen. Wir beziehen auch Genoss*innen aktiv in den Entwicklungsprozess mit ein. Mit sehr konkreten Fragestellungen und einem sehr konkreten Rahmen. Beteiligung muss organisiert sein, um keine Enttäuschungen zu erzeugen mit Ideen, die ins Leere laufen.

5.2

Fokus auf Transparenz

Der Logik folgend, dass nicht erst etwas erdacht, gemacht und dann getestet wird, veröffentlichen wir auch kleinere Veränderungen am Produkt Stück für Stück transparent als Prozess. Wir dokumentieren diese auf einem dafür eingerichteten Blog auf taz.de. Für die taz im Netz heißt das etwa: Im November 2019 veröffentlichten wir ein neues Longreadformat, das sich zwar in das jetzige taz.de-Design einpasst, sich aber dennoch grundlegend von diesem unterscheidet. Das sieht zunächst einmal ungewohnt aus, aber wir haben uns entschieden, offen damit umzugehen, dass taz.de zu einer Baustelle wird. In der App-Entwicklung kommen wir bereits im Frühjahr 2020 mit einer erneuerten tageszeitungs-App auf den Markt, die unabhängig von pdf-Seiten funktioniert, also kein reines ePaper mehr ist. Auf diese Grundstruktur bauen wir dann weitere Funktionen auf.

5.3

Fokus auf die Substanz

Eine der härtesten Prämissen für den Prozess der Produktentwicklung ist der Fokus auf die Kernprodukte mit einem Kernteam. Aus potenziellen Neuerungen darf kein Mehrbedarf an Stellen entstehen, also müssen die Kompetenzen und Aufgaben klug verteilt werden. Für diese Planung wurde das

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Produkt- und Projektentwicklungsteam im Januar 2020 um einen Mitarbeiter verstärkt, der sich mit dem Gebiet Arbeitsstrukturen beschäftigt. Während wir als Redaktion bereits integriert für Print und Online arbeiten, ist die Grundlage bisher noch immer die täglich gedruckte Zeitung. Wenn es diese aber nicht mehr gibt und die Seitenanzahl nicht mehr vorgibt, wie viele Zeichen am Tag geschrieben werden, wir aber trotzdem in der tageszeitungs-App ein geschlossenes Produkt präsentieren wollen – nach welchen Kriterien entscheiden wir dann? Wie muss sich die Wochenendausgabe verändern? Wie müssen sich die Abläufe verändern? Welches Wissen brauchen wir im Haus? Welche Schulungen bieten wir dafür an? Das sind die großen Fragen, die die taz umtreibt.

6.

Ausblick

In seinem Text »Die Lücke im Innovationsreport«19 stellte Lorenz Matzat die Frage, ob wir für den nötigen Wandel in der taz überhaupt das nötige Personal haben. Ich würde sagen: ja. Die hier beschriebenen Projekte, Prozesse und Personalia sind der Beweis. Neue Kolleg*innen bringen zwar Wissen in ein Unternehmen mit, an einer zentralen Kompetenz mangelt es ihnen aber: die Kenntnis und das tiefe Verstehen einer Unternehmenskultur. Dass die taz in dieser Hinsicht besonders ist, habe ich beschrieben. Mir erscheint der Ansatz, dass sich Mitarbeiter*innen weiterentwickeln dürfen, auch nachhaltig zu sein. Journalismus ist Teamarbeit. Je besser Teammitglieder wissen, wie ihre Kolleg*innen arbeiten, desto stärker wird das Team. Wenn also eine Kollegin aus der Redaktion für zwei Jahre in die Lage versetzt wird, sich grundsätzlich mit der Finanzierungsstrategie der taz, den Ansätzen und Konsequenzen in anderen Häusern und den ganz konkreten Herausforderungen im täglichen Arbeiten zu beschäftigen, wird sich diese Kollegin, wenn sie in ihren Arbeitsalltag zurückkehrt, noch stärker als Teil des Teams verstehen. Es fällt schwerer zu sagen, diese oder jene Abteilung sollte einmal dies und das machen, wenn man weiß, vor welchen strukturellen Herausforderungen diese Abteilung steht. Die Verantwortlichkeit für nachhaltige Innovationen in der taz ist breit verteilt. Und nur so kann sie gelingen.

19

L. Matzat: Die Lücke im Innovationsreport.

Veränderung als Graswurzelbewegung

Drei zentrale Fragen für den Prozess stellen sich dennoch. Der Bedarf an technischen Ressourcen ist für den digitalen Bereich quasi unendlich – die finanziellen Ressourcen dafür in jedem Medienhaus endlich. Wie gehen wir mit dem chronischen Mangel an technischer Entwicklung um? Zusätzlich müssen wir fragen: Wie können wir mit unserem Kerngeschäft, mit Journalismus, Geld verdienen? Denn Innovation ist kein Wert für sich. Und schließlich: Wie halten wir während der Entwicklung den Status Quo aufrecht? Die taz steht an einem entscheidenden Wendepunkt. Wir machen uns unabhängig vom Papier, vom bisherigen Kernprodukt der taz. Wir sind die Zeitung mit der berühmten Seite 1. Die taz ist und war aber nie nur die Zeitung mit der amüsanten Titelseite. Georg Löwisch sagte in seiner Rede zur Generalversammlung der Genossenschaft im Herbst 2019: »Der taz-Journalismus findet längst nicht nur morgens in der Zeitung auf Papier statt. Sondern unter der Woche auch als digitale Tageszeitung. In der taz am Wochenende. Auf der Website. Auf Twitter. Bei Facebook. In Podcasts. Auf der Bühne. Im Livestream. Wir wollten auf allen Kanälen spielen. Wir spielen auf allen Kanälen. Wir wollten durchdringen. Wir dringen durch.« Was uns in der taz antreibt, von der Redaktion bis zum Verlag, ist immer der Wunsch, unseren Journalismus weiterhin zu ermöglichen. Darauf konzentrieren wir uns, das ist die Herausforderung. Dabei sind wir auf einem guten Weg. Vor 40 Jahren startete die taz mit dem Spontispruch »Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie«. Inzwischen haben wir viele Chancen, wir dürfen uns jetzt nur nicht verzetteln.

Literatur APA: »Morawa stellt Tochterfirma Morawa Pressevertrieb Ende 2018 ein«, in: Der Standard, siehe https://www.derstandard.at/story/2000081378826/morawa-stellt-tochterfirma-morawa-pressevertriebende-2018-ein vom 11.06.2019. Blöbaum, Bernd: »Umweltgründe sind am wichtigsten«, in: Genossenschaftsund Mitgliederinfo der taz, S. 6-7, siehe: https://download.taz.de/Genoinfo_2-2019.pdf vom 13.08.2018. Gottschalk, Katrin: »Im Aufbruch. Fünf für die taz von morgen«, in: taz hausblog, siehe: https://blogs.taz.de/hausblog/fuenf-fuer-die-zukunft/vom 06.03.2019.

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Gottschalk, Katrin: »Personalie. Die Podcast-Pilotin«, in: taz hausblog, siehe: Podcasts: https://blogs.taz.de/hausblog/die-podcast-pilotin/vom 16.01.2019. Gottschalk, Katrin: »Mitarbeiter*innen. Vier Fäuste für Editorial SEO«, in: taz hausblog, siehe: https://blogs.taz.de/hausblog/vier-faeuste-fuereditorial-seo/ vom 21.08.2018. Kaul, Martin: »Die taz im Livestream. Ein Kochtopf für den Kopf«, in: taz hausblog, siehe: https://blogs.taz.de/hausblog/ein-kochtopf-fuerden-kopf/ vom 12.10.2018. Krei, Alexander: »IVW 3/2019: So hoch ist die ›harte Auflage‹ wirklich«, in: DWDL, siehe: https://www.dwdl.de/ zahlenzentrale/74547/ivw_32019_so_hoch_ist_die_harte_auflage_wirklich/ ?utm_source=&utm_medium=&utm_campaign=&utm_term= vom 17.10.2019. Liedtke, Ann-Kathrin: »Die taz im digitalen Wandel. ›Wir werden nicht in Schönheit sterben‹«, in: taz hausblog, siehe: https://blogs.taz.de/hausblog/wir-werden-nicht-in-schoenheit-sterben/ vom 17.09.2018. Lokalrunde: »Der 1. Mai im Villenviertel und Racial Profiling auf St. Pauli«, in: taz hausblog, siehe: https://blogs.taz.de/lokalrunde/2018/04/29/der-1mai-im-villenviertel-und-racial-profiling-auf-st-pauli/ vom 29.04.2018 Matzat, Lorenz: »Die Lücke im Innovationsreport«, in: Medium, siehe: https://medium.com/@lorz/die-lücke-im-innovationsreport-der-taz5c21d64d2a8 vom 10.03.2018. Ruch, Karl-Heinz: »Zur Zukunft der taz. Szenario 2022«, in: taz hausblog, siehe: https://blogs.taz.de/hausblog/szenario-2022/ vom 13.08.2018. Ruch, Karl-Heinz: »Zukunft: Was macht die taz, wenn gedruckte Zeitungen aussterben?«, in: taz hausblog, siehe: https://blogs.taz.de/hausblog/zukunft-was-macht-die-taz-wenn-gedruckte-zeitungen-aussterben/ vom 06.09.2012. Schade, Marvin: »G20-Demos: Wie ein taz-Reporter mit seinem HandyLivestream zum Leitmedium der Krawallnacht wurde«, in: Meedia, siehe: https://meedia.de/2017/07/07/g20-gewalt-wie-ein-taz-reportermit-seinem-handy-livestream-zum-leitmedium-der-krawallnachtwurde/ vom 07.07.2017.

FAKE NEWS UND VERIFIKATION

Im Zeitalter von Fake News Warum sich der (Nachrichten-)Journalismus neu erfinden muss Alexander Sängerlaub

Beschäftigt man sich mit Desinformation, Fake News und dem Medienzeitalter des 21. Jahrhunderts, kommt man um einen Mann nicht herum: Donald John Trump, 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Seit Beginn seines Wahlkampfes im Jahr 2016 attackiert Trump neben der Demokratischen Partei vor allem etablierte Medien. Genauer gesagt: diejenigen Medien, die kritisch über ihn berichten. In Erinnerung geblieben ist seine erste Pressekonferenz als amerikanischer Präsident, in der sich Trump weigerte, eine Frage des CNN-Journalisten Jim Acosta zu beantworten mit der Begründung: »You are fake news!« Weltweit wird seither intensiv über Fake News, deren Einfluss und Wirkung sowie über die Gefahren, die von ihnen ausgehen, gesprochen. Die Diskussion mag auf den ersten Blick viel mit Donald Trump zu tun haben, der sicherlich ein wichtiger Auslöser für die Karriere des Begriffs war. Dennoch wird man dem Phänomen Fake News nicht gerecht, reduzierte man die Debatte auf den US-Präsidenten. Die Diskussion um Fake News und Desinformation ist vielmehr Ausdruck eines tiefgreifenden Veränderungsprozesses im Mediensystem, der durch die Digitalisierung ausgelöst wurde, die die private und öffentliche Kommunikation massiv verändert hat.

1.

Von Fake News, Desinformation und Poor Journalism

Als das Wort »Fake News« zum »Anglizismus des Jahres« 2016 gewählt wurde, wies die Jury darauf hin, dass es sich dabei keinesfalls um einen Neologismus neueren Datums handelt: Der Begriff wurde im Englischen schon Ende des

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19. Jahrhunderts benutzt, um bewusste Falschmeldungen in Zeitungen zu bezeichnen.1 Ab dem Jahr 2000 wurden der Jury zufolge dann satirische Nachrichtenmagazine wie »The Daily Show« mit dem Begriff bedacht. Mit der zunehmenden Verbreitung und Bedeutung Sozialer Medien wurden schließlich auch »erfundene Nachrichten (etwa Todesanzeigen von Prominenten), mit denen Menschen auf bestimmte Webseiten gelockt oder zu Unterhaltungszwecken in die Irre geführt werden sollten«, als Fake News bezeichnet.2 Damit wird deutlich: Der Begriff »Fake News« ist extrem schwammig, weil er für die Bezeichnung vieler unterschiedlicher Phänomene verwendet wird. Inzwischen haben sich für den Terminus zwei verschiedene Verwendungsmöglichkeiten etabliert: (1) Fake News als politische Dimension und Kampfbegriff gegen etablierte Medien, wie ihn beispielsweise Donald Trump sowie vorrangig Rechtspopulistinnen und -populisten im Kampf gegen eine ungeliebte kritische Presse verwenden, (2) die Definition des Duden, die dessen Redaktion im August 2017 in seine neue Auflage aufnahm und »Fake News« als »in den Medien und im Internet, besonders in den Social Media, in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen« beschreibt.3 Ähnlich dem Duden definiert der unabhängige Berliner Think Tank Stiftung Neue Verantwortung Fake News als »gezielt verbreitete falsche oder irreführende Informationen, die jemandem (Person, Gruppe oder Organisation) Schaden zufügen soll.«4 Genau für diese Form der gezielt verbreiteten Falschinformation gibt es einen weniger schwammigen Begriff: Desinformation. Dieser Begriff hat sich inzwischen auch im politischen und wissenschaftlichen Diskurs etabliert. Er ermöglicht, die unterschiedlichen Begrifflichkeiten unmissverständlich voneinander abzugrenzen. Semantisch gesehen ist damit die Intention einer Aussage der wichtigste Unterschied zwischen Desinformation (also Fake News) und anderen in diesem Zusammenhang genannten Begriffen, mit denen Fake News oftmals gleichgesetzt wird (s. Abb. 1). Satire ist demnach keine Fake News, weil hier keine böswillige Absicht dahintersteht. Bei satirischen Nachrichtenformaten wie der »heute show«, den »Postillon24 Nachrichten« oder den »Postillon Hörfunknachrichten« handelt

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O. Autor/in: Anglizismus des Jahres 2016. Ebd. Duden: Fake News, Fake-News, Fakenews. A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes, S. 11.

Im Zeitalter von Fake News

Abb. 1: Was Fake News sind – und was nicht.

es sich um eine Überspitzung von (politischen) Inhalten zur Gesellschaftskritik, die als solche erkennbar ist. Allerdings hat Satire das Potenzial zu Fake News im Sinne von Desinformation bzw. falsch interpretierten Informationen (misinterpreted content) zu werden. Ein Beispiel hierfür ist der Besuch von Kanzlerin Merkel in Saudi-Arabien im Mai 2017. In den Sozialen Netzwerken verbreiteten sich damals Bilder der Kanzlerin, auf denen ihre Haare angeblich im saudi-arabischen Fernsehen verpixelt wurden. Die Bilder stammten allerdings von einer saudi-arabischen Satiresendung. Da man in Europa jedoch die mangelnden Frauenrechte in Saudi-Arabien im Kopf hatte und das Logo der saudi-arabischen Satiresendung dem des Nachrichtensenders CNBC ähnelt, wurde die Satire im deutschen Kulturkontext nicht als solche verstanden und erkannt. Auch die journalistische Falschmeldung, umgangssprachlich »Ente« genannt, bei der Medien versehentlich falsche Informationen veröffentlichen, fällt nicht unter den Begriff »Fake News«. Die Falschmeldung lässt sich vielmehr dem Bereich »Poor Journalism« zuordnen. Der Unterschied zur Desinformation (Fake News) liegt in der Intention: Während es sich bei Desinformationen um Falschmeldungen handelt, die in bewusster und manipulativer Absicht verbreitet werden, ist die Falschmeldung im Poor Journalism eine nicht intendierte Falschinformation, die aufgrund journalistischer Fehler

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verbreitet wird. Der Unterschied zur Desinformation wird auch in der Fehlerkultur offensichtlich: »Meist erfolgt bei einer Falschmeldung seriöser, journalistischer Medien eine zeitnahe Berichtigung, beispielsweise in Form eines Disclaimers5 oder in Form einer Gegendarstellung«6 , so dass die Korrektur Leserinnen und Lesern klar kenntlich gemacht wird. Allerdings hat auch Poor Journalism das Potenzial, zu Fake News zu werden. Denn: Erfolgt keine Korrektur – auch nicht auf Nachfrage –, kann eine Absicht unterstellt werden, womit die Falschmeldung zu Fake News wird. Damit wird auch der semantische Unterschied zwischen »Falschmeldung« und »Fake News« deutlich. Die Übersetzung des englischen Begriffs »Fake News« mit dem deutschen Wort »Falschmeldung« ist daher unpräzise. Ebenfalls unter Poor Journalism fällt das Clickbaiting. Das mit »Klickköder« übersetzbare Phänomen beschreibt vor allem eine Praxis, die in sozialen Netzwerken angewandt wird: Die Nutzerinnen und Nutzer sollen durch überspitzt formulierte Überschriften auf die Webseite eines Mediums gelockt werden. Denn: Viele Nachrichtenwebseiten erwirtschaften einen Teil ihrer Einnahmen durch Werbung, die wiederum von Klickzahlen abhängig sind. Problematisch wird Clickbaiting vor dem Hintergrund aktueller Studienergebnisse, die belegen, dass über 60 Prozent der Leserinnen und Leser meist nur die Überschrift lesen.7 Selbst wenn also der überspitzte Inhalt unter Umständen im Text wieder entkräftet wird, bleibt Leserinnen und Lesern vor allem die Überschrift in Erinnerung. Die Dimensionen von Desinformationen (Fake News) werden allerdings bisweilen überschätzt: So wies beipielsweise der amerikanische Politikwissenschaftler Brendan Nyhan nach, dass selbst konservative, weiße, ältere Republikaner im Trump’schen Wahlkampf nur wenigen Fake News ausgesetzt waren.8 Die Stiftung Neue Verantwortung zeigte in einer Studie zur Bundestagswahl 2017 in Deutschland, dass Fake News zwar in Umlauf, die Dimensionen aber überschaubar waren. Ein weiteres Ergebnis: Fake News gehen vor allem von Rechtsextremen sowie Rechtspopulistinnen und -populisten aus. Die AfD spielte bei der Verbreitung von Desinformationen (Fake News) im 5

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Disclaimer auf Online-Nachrichtenseiten wie zum Beispiel Spiegel Online weisen am Ende eines journalistischen Beitrags in meist kursiv gesetzter Schrift auf vorgenommene Änderungen hin, im Sinne von »In einer ersten Version des Artikel stand, dass … Wir haben dies berichtigt und bitten den Fehler zu entschuldigen.« A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes, S. 12. M. Gabielkov u.a.: Social Clicks: What and Who Gets Read on Twitter. B. Nyhan: Reasonable Doubt. Why Fears of Fake News Are Overhyped.

Im Zeitalter von Fake News

Untersuchungszeitraum eine dominierende Rolle: In sieben von zehn untersuchten Fällen war die Partei der reichweitenstärkste Verbreiter.9 Im Vergleich zu klassischen Nachrichten etablierter Medien erzielten Fake News der Studie zufolge allerdings keine große Reichweite. Es sei denn, klassische Medien sind an deren Verbreitung beteiligt. Dabei spielen traditionelle Medienhäuser eine Rolle mal als »versehentlicher Katalysator, mal als bewusster Auslöser, zumeist allerdings als kritisches Korrektiv und Richtigsteller falscher Informationen, wie Süddeutsche.de oder der Faktenfinder der ARD. Andere Medien dagegen machen sich auffallend oft zum Verbreiter von Fake News, wie Bild.de oder Welt.de.«10 Bei der Betrachtung von Fake-News-Fällen während der Bundestagswahl 2017 stellte die Stiftung Neue Verantwortung außerdem fest, dass es nur wenige Akteurinnen und Akteure sind, die einen Großteil der Reichweite zu einem Thema erzielen. »Die großflächige Verbreitung von Fake News erfolgt also nicht durch eine große Zahl regulärer Internetnutzer:innen, sondern maßgeblich durch wenige meist professionelle Akteure, die auch sonst reichweitenstark kommunizieren (Medien, Parteien, einzelne Politiker:innen etc.).«11 Vor dem Hintergrund, dass etablierte Medien bei der Verbreitung von Desinformationen eine zentrale Rolle spielen und für deren große Reichweite mitunter verantwortlich sind, muss daher auch der Journalismus lernen, wie er künftig mit Populismus umgeht, welche Themen er aufgreift und weiterverbreitet.

2.

Die politische Dimension von Fake News

Die politische Dimension von Fake News als Kampfbegriff, um Journalistinnen und Journalisten sowie Medienhäuser zu diffamieren oder zu diskreditieren, fällt ebenfalls aus den oben genannten Definitionen von Fake-News heraus, ist aber nicht weniger gefährlich. Der Terminus »Fake News«, wie er von Trump und anderen Rechtspopulistinnen und -populisten weltweit verwendet wird, um das Vertrauen gegen ihnen nicht genehme etablierte Medien zu erschüttern, entspricht dabei ungefähr dem deutschen Begriff »Lügenpresse«.

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A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes, S. 3. A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes, S. 3. Ebd. S. 4.

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Das stetige Untergraben des Vertrauens in das Mediensystem durch USPräsident Trump scheint in den USA nicht ohne Wirkung zu bleiben. Zahlen des Pew Research Center aus dem Mai 2017 zeigen, dass gerade in den USA extreme Unterschiede im Vertrauen zu Nachrichtenorganisationen zwischen Anhängerinnen und Anhängern der Republikaner (11 %) im Vergleich zu den Demokraten (34 %) existieren.12 Fake News als Kampfbegriff ist dabei kein rein US-amerikanisches Phänomen. In vielen Ländern bemühen rechtspopulistische Parteien und deren Politikerinnen und Politiker das Fake-News-Narrativ, um Misstrauen in Medien und Medienschaffende sowie in Politik und demokratische Institutionen zu schüren. Ob in Deutschland die AfD oder die FPÖ in Österreich – überall versuchen Extremisten und Populistinnen den Kampf um die Deutungshoheit zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Sozialen Medien sind für Parteien und deren Politikerinnen und Politiker bestmögliche Kanäle, um die eigenen Informationen ungefiltert zu verbreiten. Inzwischen planen sie gar eigene »Newsrooms«, deren Arbeitsweise klassischen Redaktionen ähneln soll und in denen eigene »Nachrichten« produziert werden sollen. Davon sprechen allerdings nicht nur populistische Parteien wie die AfD, sondern beispielsweise auch SPD und CDU. Die Sozialen Netzwerke werden daher immer professioneller bedient. Die FPÖ besitzt zum Beispiel einen eigenen Übertragungswagen und postet unter anderem auf dem Youtube-Kanal »FPÖ-TV« eigene Beiträge. Mit diesen durchaus fragwürdigen Formen von Social-Media-Redaktionen verwischen zunehmend die Grenze zwischen »Journalismus« und »Propaganda«, zwischen »Nachricht« und »politischer Werbung«. Fake News und Desinformation werden vor allem von populistischen Parteien und deren Politikerinnen und Politikern als eigene Kommunikationsstrategie genutzt, um die eigene Anhängerschaft direkt zu erreichen.13 Soziale Netzwerke spielen dabei eine große Rolle, weil es falsche Informationen und Fake News in der Regel nicht in die klassischen Nachrichten etablierter Qualitätsmedien schaffen. Die via Twitter verkündete Politik erreicht dabei ein Millionenpublikum, ohne das diese Information irgendeine Form von journalistischer Aufbereitung, kritischer Einordnung, Kontextualisierung oder Verifikation erfahren hat.

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Pew Research Center: Trust in the news media. A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes; S. 76, 95.

Im Zeitalter von Fake News

Reichweite ist im digitalen Zeitalter dabei eine zentrale Dimension, deren Bedeutung man anhand von Zahlen deutlich machen kann: Kommt die New York Times – das Flaggschiff des US-amerikanischen Journalismus – auf mehr als 44 Millionen Twitter-Followerinnen und Follower, folgen Donald Trump auf Twitter über 66 Millionen Menschen.14 Followerinnen und Follower sind neben »Engagement« (= die Summe aus Shares, Likes und Comments) das digitale Reichweitenmaß, ungefähr vergleichbar mit den Abonnentenzahlen der Tageszeitungen. Im analogen Medienzeitalter war es allerdings nicht möglich, Trump zu »abonnieren«, noch konnte er mittels eines Klicks und mit maximal 280 Zeichen ziemlich genau die Einwohnerzahl von Frankreich direkt erreichen. Hinzu kommt: Was Trump auf seinem Account twittert, ist nicht nur Politik, es sind auch Nachrichten, denn in den sozialen Netzwerken verschwimmen die Formen der Information. Für Nutzerinnen und Nutzer ist es mitunter schwer, die Art und Qualität einer Information in sozialen Netzwerken zu erkennen. Denn auf Plattformen wie Facebook ist die Desinformation eines Populisten im Zweifel nicht zu unterscheiden von dem Werbepost eines Unternehmens, der Nachricht eines Qualitätsmediums oder einer Bekannten, weil sie alle im gleichen Design der Plattform ausgespielt werden.15 Hinzu kommt: Beinahe jeder halbwegs skandalöse Tweet des US-Präsidenten schafft es auch in die Berichterstattung klassischer Medien, die damit die Reichweite seiner Äußerungen vergrößern. Denn über die eigenen Medienkanäle wollen Populistinnen und Populisten nicht nur die eigenen Wählerinnen und Wähler mobilisieren, es geht auch darum, die Diskurse der klassischen Medien mit eigenen Themen zu besetzen. Dazu bedienen sich die Parteien zuweilen falscher Informationen, wie die Stiftung Neue Verantwortung zur Bundestagswahl 2017 in Deutschland für die AfD nachweisen konnte16 . Populisten wie Trump haben die Disruptionen und die Aufmerksamkeitsökonomie des Journalismus mit am besten verstanden. Sie wissen, wie sie sich ihren Platz auf den Titelseiten sichern und wie sie das Vertrauen in demokratische Institutionen und die freie Presse erschüttern können. Fake News mit Faktenchecks zu bekämpfen zeigt dabei oft nur begrenzte Wirkung. Wie

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Trumps Amtsvorgänger kommt auf etwa so viele Followerinnen und Follower, wie Trump und die New York Times zusammen: Barack Obama folgen über 110 Millionen auf Twitter. Alle Zahlen stammen aus dem November 2019. A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes, S. 96. A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes.

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die Untersuchung der Stiftung Neue Verantwortung zur Bundestagswahl 2017 ergab, erzielten fast alle untersuchten Fake News deutlich höhere Reichweiten als die Richtigstellung durch den jeweiligen Faktencheck. »Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die Funktionslogik der Sozialen Medien, die affektive Handlungen eher anregen als kognitive, spielt sicherlich eine tragende Rolle. Das heißt, dass sich emotionale, sensationelle Nachrichten deutlich schneller verbreiten als nüchterne Richtigstellungen. Auch die Tatsache, dass ein umfangreiches Debunking17 Zeit braucht, so dass es in der Regel erst 24 bis 72 Stunden später erfolgt, ist ein weiterer Faktor.«18 Dennoch ist Fact-Checking nicht überflüssig, im Gegenteil. Es ist keine Option, Desinformationen unkorrigiert stehen zu lassen. Zudem erfüllt Fact-Checking weitere Funktionen: Die Öffentlichkeit wird über Desinformationskampagnen in Kenntnis gesetzt und das Fact-Checking vermittelt Medienkompetenz.19

3.

Wie der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit das Mediensystem verändert

Selbstverständlich haben zu jeder Zeit politische Akteurinnen und Akteure versucht, die öffentliche Meinung mit Manipulationen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Lüge war schon immer ein Instrument politischer Propaganda. »Fake News« verbreiteten schon die alten Römer, nur nannten sie es damals anders. In den Geschichtsbüchern finden sich zahllose Beispiele für Desinformationskampagnen. In der Sowjetunion setzte beispielsweise der KGB sogenannte »aktive Maßnahmen« ein, zu denen auch die Verbreitung von Desinformation, Propaganda und die Diskreditierung einzelner Personen gehörten. Unter anderem sollte eine für die UdSSR wohlwollende Berichterstattung erzielt werden. Die Stasi versuchte seit Anfang der 1950er Jahre, Willy Brandt mittels Desinformationen zu diffamieren, die auch in der Berichterstattung der Bundesrepublik auftauchten.20 Die Hürden, Desinformationen mit entsprechender Reichweite und Wirkung zu verbreiten, waren allerdings im analogen Zeitalter deutlich höher, weil der Zugang zu öffentlicher Kommunikation schwieriger war. Im Zeitalter

17 18 19 20

Mit Debunking wird das Aufdecken von Fake News und Desinformation bezeichnet. A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes, S. 4. A. Sängerlaub: Feuerwehr ohne Wasser?, S. 18. D. Münkel: Kampagnen, Spione, geheime Kanäle. Die Stasi und Willy Brandt.

Im Zeitalter von Fake News

der Digitalisierung hat sich die Art und Weise, wie wir Informationen erstellen, verbreiten und konsumieren, vielleicht so stark gewandelt, wie zuletzt mit dem Buchdruck. Die Digitalisierung löste einen Strukturwandel der Öffentlichkeit aus, der die private und öffentliche Kommunikation radikal verändert hat. Wie sich dieser Strukturwandel – den man im Habermas’schen Sinne heute am treffendsten als »digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit« bezeichnen kann – in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, lässt sich anhand zweier Zitate verdeutlichen: Paul Sethe, Gründungsherausgeber der FAZ, schrieb 1965 in einem Leserbrief an das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, »Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.«21 Über 50 Jahre später formulierte Armin Wolf, stellvertretender Chefredakteur der ORF-TV-Information und Moderator der Nachrichtensendung ZIB 2, das Sethe-Zitat um, indem er schrieb: »Pressefreiheit ist heute die Freiheit von drei Milliarden Menschen mit Internetzugang, ihre Meinung – und zwar wirklich jede Meinung – ins Netz zu knallen.«22 Wer heute – im journalistischen Sinne – eine Nachricht veröffentlichen möchte, braucht im Zweifel nicht mehr als einen Twitter-Account. Davon profitieren – Gott sei Dank – nicht nur Populisten. Der Kern der Veränderung liegt also vor allem darin, dass sich die Zugangsvoraussetzungen, um Teil öffentlicher Kommunikation zu werden, extrem minimiert haben: räumlich, zeitlich und finanziell. Wer selbst Nachrichten teilen, kommentieren oder ergänzen will, findet in den sozialen Netzwerken den Ort dafür. Auch Blogspot, Wordpress oder Youtube bieten jedem die Möglichkeit, selbst Informationen zu erstellen oder weiterzuverbreiten. Die Konkurrenz für journalistische Produkte ist seit der Eroberung unserer Wohnzimmer und mobilen Telefone durch die Digitalisierung und der dazugehörigen Technologie massiv gewachsen. Die daran anschließende ökonomische Krise des Journalismus trifft demnach auch beide Säulen der alten Finanzierungsmodelle: Die Auflagen der Tageszeitungen, die seit Jahren sinken, und die Anzeigenerlöse, die immer mehr zu den großen Tech-Giganten, allen voran Google und Facebook, wandern. In den sozialen Netzwerken wiederum bestimmen Algorithmen auf Basis unseres Nutzungsverhaltens, welche Nachrichten – die häufig auch nur »Beifang« zwischen unterhaltenden, privaten oder werblichen Inhalten sind

21 22

R. Augstein: Abschied von Paul Sethe. A. Wolf: Demokratischer Diskurs ist kein safe space.

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– uns erreichen. Die journalistische Gatekeeper-Funktion, Inhalte (vor-)zusortieren, nach Relevanz zu ordnen und über deren Veröffentlichung und Qualität zu entscheiden, hat sich heute viel mehr auf die Nutzenden im Zusammenspiel mit Algorithmen verlagert. Das bedeutet: Jeder ist sein eigener Chefredakteur bzw. jede ist ihre eigene Chefredakteurin in den Timelines der sozialen Netzwerke und entscheidet darüber, wem er/sie folgt und wer ihn/sie mit Informationen versorgt. Algorithmen übernehmen die Sortierung und streuen zusätzlich passgenaue Werbung ein. Ob uns diese neue redaktionelle Verantwortung für den eigenen Informationskosmos überhaupt bewusst ist, steht auf einem anderen Blatt. Der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen spricht in diesem Zusammenhang von der »redaktionellen Gesellschaft«, weil heutzutage alle zu Beteiligten öffentlicher Kommunikation geworden sind.23 In dieser »redaktionellen Gesellschaft« werden nach Pörksen »die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum Bestandteil der Allgemeinbildung«. Denn genau wie Demokratie und ihr wesentlichster, partizipatorischster Akt – das Wählen – nur gelingen kann, wenn die Wählenden ein Grundverständnis des Wahlprozesses haben, ist für das Gelingen einer »redaktionellen Gesellschaft« Medienkompetenz erforderlich. Doch was wird in Schulen über Informations- und Nachrichtenkompetenz gelehrt, was über Journalismus, über Algorithmen, über gute und schlechte Nachrichtenquellen? Wer befähigt Bürgerinnen und Bürger im Umgang mit sozialen Netzwerken als Informationsquelle und hilft, »Fake News« von »Real News« zu unterscheiden? Medienkompetenz als Schulfach und in der Erwachsenenbildung scheint im sogenannten »Fake-News-Zeitalter« eine demokratische Notwendigkeit. Währenddessen kämpfen klassische Medien mitunter um ihr Überleben. Dabei trifft es nicht nur den Lokaljournalismus, sondern auch überregionale Titel, wie die Schließung der Financial Times Deutschland und die Insolvenz des Druck- und Verlagshauses Frankfurt a.M. GmbH zeigt, die die Frankfurter Rundschau verlegte. Die traditionellen Medienhäuser müssen ihre alten Geschäftsmodelle überdenken, stehen den digitalen Herausforderungen aber oft rat- und mutlos gegenüber. Man muss sich nur die Mediennutzung der Millennials und nachfolgender Generationen anschauen: Dort wird keine Tageszeitung abonniert, kein öffentlich-rechtliches Fernsehen geschaut und kaum Radio gehört. Informationsquellen sind Influencer auf Youtube oder Instagram, ein vermeintlich 23

B. Pörksen: Umgang mit Medien. Alle müssen Journalisten sein.

Im Zeitalter von Fake News

besseres Fernsehen gibt es bei Netflix, und Podcasts werden über Spotify gestreamt.24 Die Nutzung findet dabei hauptsächlich über das Smartphone statt.25 Traditionelle Medien haben inzwischen erhebliche Schwierigkeiten, junge Menschen mit ihrem Nachrichtenangebot zu erreichen.26 Und doch sind die Millennials über den Klimawandel besser informiert als mancher FDP-Politiker. Die Verschiebung der Quellen für Informationen bedeutet nicht zwangsläufig ein Informationsvakuum. Die Medienwirklichkeiten zwischen den Alterskohorten in unserer Gesellschaft könnten nicht verschiedener sein. Das Publikum wird zunehmend fragmentierter. Es gibt weitere Veränderungsprozesse: Die Verbreitung von Nachrichten ist im digitalen Zeitalter zunehmend schneller geworden. Der Geschwindigkeitsdruck, dem Nachrichtenredaktionen unterliegen, bildet mit dem finanziellen Druck eine unheilige Allianz, die auch die Anfälligkeit erhöht, Falschmeldungen zu produzieren. Zwei Beispiele: Im sogenannten Fall »Schorndorf« bilanzierte die Polizei in einer Pressemeldung ein Volksfest. Sie gab an, dass sich 1000 Jugendliche auf dem Stadtfest im baden-württembergischen Schorndorf versammelten und einige von ihnen randalierten. Die Nachrichtenagentur dpa verbreitete daraufhin eine Meldung, in der es hieß, dass 1000 junge Leute in Schorndorf randalierten und es sich bei einem Großteil um Personen mit Migrationshintergrund handele.27 Aus 1000 Jugendlichen wurden in der dpa-Meldung 1000 randalierende Jugendliche, die größtenteils einen Migrationshintergrund aufwiesen. Die dpa-Meldung wurde ungeprüft in diversen Medien veröffentlicht, darunter die Stuttgarter Nachrichten, Welt-Online und der SWR.28 Die AfD warnte daraufhin vor Zuständen wie in Köln und verbreitete auf Facebook das Gerücht von einer angeblichen »islamischen Grabschparty«.29 Im sogenannten Fall der »107 Lungenärzte«, konnte der Lungenarzt Dieter Köhler in vielen etablierten Medien, von Anne Will über Stern TV bis zum heute journal, ohne Expertise oder empirische Fakten den gesamten Forschungsstand zur Schädlichkeit

24 25 26 27 28 29

Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest: JIM-Studie 2019. L. Kramp: Was junge Menschen von Nachrichtenmedien erwarten, S. 161. Ebd., S. 153. A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes, S. 36-37. Ebd., S. 37. A. Schulz: Stadtfest in Verruf; siehe auch A. Sängerlaub/M. Meier/W.-D. Rühl: Fakten statt Fakes, S. 36-41.

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von Luftschadstoffen infrage stellen. Erst Wochen später fand die taz heraus, dass keine von den verbreiteten Behauptungen stimmte.30 Die Beispiele machen deutlich: Der zunehmende Geschwindigkeitsdruck und der finanzielle Druck führen auch bei Qualitätsmedien bisweilen dazu, mehr auf Masse statt auf Klasse zu setzen. Dadurch besteht die Gefahr, der gleichen Aufmerksamkeitsökonomie zu unterliegen, wie der qualitätsagnostische Boulevard. Währenddessen fordern soziale Netzwerke die Komplexität der Welt heraus, indem ihr, wie bei Twitter nur noch 280 Zeichen und dadurch eine deutliche Zuspitzung komplexer Sachverhalte verordnet wird. Ist das immer hilfreich für den demokratischen Diskurs? Für die Publizistin und Journalistin Carolin Emcke wirft der Strukturwandel der Öffentlichkeit die Frage auf, wie in offenen, demokratischen Gesellschaften Wissen (anstatt Desinformation) vermittelt werden könne. Sie kommt zu dem Schluss: »Die Monopolisierung der Distribution von Informationen durch Unternehmen wie Facebook, die intransparente Agitation von Lobbyorganisationen und Geheimdiensten – das ist die eigentliche Herausforderung. Öffentlichrechtliche Sender gehören massiv kritisiert für ihre bürokratische Lethargie, ihr mitunter fahrlässig trashiges Programm, ihre voyeuristische Lust am populistischen Eklat, ihren Quoten-Fetischismus und ihre fehlende Diversität. Aber gäbe es sie nicht schon, müsste man sie erfinden. Ohne Institutionen, die der Allgemeinheit verpflichtet sind, die die Würde des Menschen zu achten haben, die Informationen prüfen und gewichten müssen, wäre die Auseinandersetzung um das, was gerecht, was begründbar, was universal gültig ist, schon verloren.«31 Im digitalen Zeitalter braucht es daher journalistische Instanzen, die mit Qualitätsjournalismus Orientierung, Kontextualisierung und Einordnung bieten und die dem Schrillen der sozialen Netzwerke etwas entgegenstellen können.

30 31

M. Kreutzfedt: Lungenarzt mit Rechenschwäche. C. Emcke: Gemeinnutz.

Im Zeitalter von Fake News

4.

Alles noch immer »Neuland«: Die Chancen der Digitalisierung für Journalismus nutzen

Die Vermittlung von Medienkompetenz ist sicherlich eine Notwendigkeit, sie allein wird aber nicht ausreichen, um den Herausforderungen des sogenannten »Fake News-Zeitalters« zu begegnen. Neben Überlegungen, Medienplattformen wie Facebook & Co. zu regulieren sowie nicht-kommerzielle, öffentliche Alternativen zu initiieren, müssen auch etablierte Medien erfolgreiche (Nachrichten-)Angebote entwickeln, um ihr Publikum – und dazu gehören auch junge Menschen – zu erreichen. Die Digitalisierung bietet für die Weiterentwicklung des Formats Nachricht zahlreiche Möglichkeiten, die – auch das gehört zur Wahrheit – von den meisten Medienhäusern weitgehend verschlafen wurden und noch immer werden. Das Netz sprengt die Grenzen bei der Aufbereitung von Nachrichten und trotzdem werden vielfach Zeitungsmeldungen oder Fernsehbeiträge immer noch eins zu eins ins Digitale übertragen. Außerdem sollte die Depublikationspflicht der öffentlich-rechtlichen Sender abgeschafft werden. Deren Beiträge werden aus medienrechtlichen Gründen noch immer zum Teil nach einem Jahr wieder gelöscht, in manchen Fällen sogar nach sieben Tagen! Was für eine Verschwendung der Ressourcen und Möglichkeiten der digitalen Wissensgesellschaft. Doch es gibt auch Leuchtturmprojekte, die zeigen, wie die multimedialen und interaktiven Möglichkeiten genutzt werden können, um die Berichterstattung neu und anders aufzubereiten.

4.1

Correctiv und Tagesspiegel: Wem gehört Berlin?

Wohnen ist längst zur sozialen Frage unserer Zeit geworden, die die Menschen umtreibt und das nicht nur in den urbanen Ballungszentren des Landes. Vor diesem Hintergrund entstand das Projekt »Wem gehört Berlin?«. Dabei handelt es sich um ein gemeinsames Rechercheprojekt vom Tagesspiegel und dem Recherchenetzwerk Correctiv. 2018 riefen sie die Bürgerinnen und Bürger der Stadt auf, an einem aufwendig konzipierten Datenprojekt (»Crowdrecherche«) mitzuwirken. Ziel war es, Informationen von Mieterinnen und Mietern über deren Vermieterinnen und Vermieter zu sammeln, um die dahinterliegenden Eigentümerstrukturen der Stadt ersichtlich zu machen.

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Abb. 2: Screenshot des Multimedia-Erklärstücks von Correctiv/Tagesspiegel/FH Potsdam aus dem Gesamtprojekt »Wem gehört Berlin?«.

Dabei entstanden unterschiedliche journalistische Formate, Tools und Beiträge, die auf der Landingpage32 des Projekts gesammelt wurden. Die Ergebnisse der Recherche wurden vielschichtig aufbereitet und ergeben in ihrer Summe ein äußert differenziertes Gesamtbild: Interaktive Karten und Tools zu den Besitzverhältnissen der Stadt, eine Suchmaschine für Eigentümerinnen und Eigentümer, Interviews mit Politikern und Expertinnen sowie Videos und zahlreiche Texte mit Hintergrundinformationen. In Kooperation mit der FH Potsdam entstand dabei auch das multimediale Erklärstück »Wem gehört(e) der Boxi?«33 , das die Besitzverhältnisse des Friedrichshainer Boxhagener Platzes von der Zeit der Hyazinthenfelder (1786) bis in die Gegenwart offenlegt.

4.2

Süddeutsche Zeitung: Der SZ-Koalitionstracker

Die Süddeutsche Zeitung machte mit dem Koalititonstracker34 ein eher sperriges Thema zugänglich: Den Koalitionsvertrag der großen Koalition. Ein interaktives Tool listet die 140 Vorhaben der Regierung auf, verfolgt deren Zwi-

32 33 34

Tagesspiegel: Wem gehört Berlin? D. Amacher u.a.: Wem gehört(e) der Boxi? M. Balser u.a.: SZ.Koalitionstracker. Welche Vorhaben die Regierung bisher umgesetzt hat – und welche nicht.

Im Zeitalter von Fake News

schenstand und kategorisiert diese in fünf Bereiche: »Noch nicht begonnen«, »In Arbeit«, »Teilweise umgesetzt«, »Umgesetzt« und »Gescheitert«. Der Tracker liefert eine unkomplizierte Sicht darauf, in welcher Zeit die Koalition ihre Vorhaben realisiert. Wer im Tool navigiert, kann sich die einzelnen Projekte nach Arbeitsstand anschauen oder sich die Vorhaben nach Politikfeldern respektive Ressorts anzeigen lassen. Der Koalitionstracker integriert dabei auch die aktuelle Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung: Verlinkungen verweisen innerhalb der Vorhaben auf die letzten Artikel zum jeweiligen Thema.

Abb. 3: Screenshot des interaktiven Tools »SZ-Koalitionstracker« der Süddeutschen Zeitung, der den Stand der Umsetzung der Regierungsprojekte der großen Koalition des IV. Kabinetts Merkel zeigt.

4.3

Zeit Online: Deutschland spricht

Die Vernetzung der Menschen muss nicht alleine den Großkonzernen im Silicon Valley überlassen werden. Zeit Online hat als Initiator der Kampagne »Deutschland spricht« unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten

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weltweit Beachtung und Nachahmer gefunden. Auf Basis eines kurzen Fragebogens zu sieben kontroversen politischen Fragen (zum Beispiel Kümmert sich Deutschland zu wenig um die Ostdeutschen?) wurden im ganzen Land Menschen miteinander »gematcht«, die möglichst unterschiedliche politische Einstellungen haben. Sie wurden anschließend zu einem persönlichen Gespräch in der analogen Welt gebeten. Allein im Jahr 2018 trafen sich so 28.000 Menschen zum politischen Zwiegespräch. In zahlreichen multimedialen Berichten wurde über die ungleichen Paarungen berichtet, Wissenschaftler unter anderem der Universität Bonn begleiteten das Projekt und kamen zu interessanten Effektmessungen. »Ihr Fazit: Ein Gespräch zwischen Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Ansichten kann dazu beitragen, die Polarisierung der Gesellschaft zu reduzieren. Das persönliche Treffen baue Vorurteile gegenüber Andersdenkenden ab.«35

Abb. 4: Screenshot der Kampagne von Zeit Online »Deutschland spricht«. Dem zweiten Durchlauf im Jahr 2019 haben sich inzwischen weitere Medienhäuser angeschlossen.

35

Zeit Online: Deutschland spricht.

Im Zeitalter von Fake News

5.

Fazit: Die Chancen des Digitalen sehen, mehr Mut wagen

In Zeiten von »Fake News« und »Desinformation« wird ein qualitativ hochwertiger Journalismus dringender gebraucht denn je. Überall dort, wo Hintergründe, Perspektiven und größere Zusammenhänge erklärt und aufgezeigt werden, werden Nachrichten auch künftig Menschen erreichen. Das belegen beispielsweise die steigenden Auflagenzahlen der Wochenzeitung Die Zeit. Allerdings bedarf es dazu neuer Ansätze der Kooperation, neuer Konzepte und Ideen. Und es braucht Mut, den Sprung ins digitale Zeitalter wirklich zu wagen, anstatt den Journalismus des letzten Jahrhunderts einfach nur hochzuladen. Wer junge Menschen erreichen will, muss digital denken, ohne den plumpen Verlockungen der reinen Aufmerksamkeitsökonomie oder den lauten, dumpfen Tabubrüchen von Populistinnen und Populisten zu erliegen. Demokratische und »redaktionelle Gesellschaften« brauchen funktionierenden und hochwertigen Journalismus. Die gute Nachricht: Die Menschen dort draußen wissen das.36

Literatur Amacher, David/Berton, Dominik/Gegg, Michael/Jaekel, Felix/Lehmann, Hendrik/Meidinger, David/Schwöbel, Léonie/Wittlich, Helena: »Wem gehört(e) der Boxi?«, in: Tagesspiegel, siehe: https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/wem-gehoert-der-boxi/vom 21.10.2019. Augstein, Rudolf: »Abschied von Paul Sethe«, in: Die Zeit Nr. 26, 30.06.1967, siehe: https://www.zeit.de/1967/26/abschied-von-paul-sethe Balser, Markus/Bauchmüller, Michael/Brössler, Daniel/von Bullion, Constanze/Gammelin, Cerstin/Ludwig, Kristiana/Roßbach, Henrike/Roßmann, Robert/Schneider, Jens/Szymanski, Mike/Brunner, Katharina/Ebert, Felix/Kostrzynski, Manuel/Endt Christian/Witzenberger, Benedict: »SZ-Koalitionstracker. Welche Vorhaben die Regierung bisher umgesetzt hat – und welche nicht«, in: Süddeutsche Zeitung, siehe:

36

In einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Allensbach aus dem Jahr 2017 sagen neun von zehn Menschen, dass sie »qualitativ hochwertigen Journalismus als wichtig für die Demokratie und die Gesellschaft in Deutschland ansehen«. Verband Deutscher Zeitschriftenverleger: Allensbach-Studie: Journalistische Qualität essenziell für Demokratie und Gesellschaft in Deutschland.

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https://www.sueddeutsche.de/politik/bundesregierung-aufgaben-grosse-koalition-1.3959524 vom 06.11.2019. Duden: »Fake News, Fake-News, Fakenews, die«, in: duden.de, siehe: https:// www.duden.de/rechtschreibung/Fake_News Emcke, Carolin: »Gemeinnutz«, in: Süddeutsche Zeitung, siehe: https://www.sueddeutsche.de/politik/kolumne-gemeinnutz-1.3832600 vom 19.01.2018. Gabielkov, Maksym/Ramachandran, Arthi/Chaintreau, Augustin/Legout, Arnaud: Social Clicks: What and Who Gets Read on Twitter?, ACM SIGMETRICS/IFIP Performance 2016, Jun 2016. Siehe: https://hal.inria.fr/ hal-01281190/document Kreutzfeldt, Malte: »Falsche Angaben zu Stickoxid. Lungenarzt mit Rechenschwäche«, in: taz, siehe: https://taz.de/Falsche-Angaben-zuStickoxid/!5572843/vom 13.02.2019. Kramp, Leif: »Was junge Menschen von Nachrichtenmedien erwarten. Das journalistische Ringen um die Gunst von Jugendlichen und jungen Erwachsenen«, in: Hektor Haarkötter/Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Nachrichten und Aufklärung. Medien- und Journalismuskritik heute: 20 Jahre Initiative Nachrichtenaufklärung. Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 153-186. Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest: JIM-Studie 2018, siehe: https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/2018/ Münkel, Daniela: Kampagnen, Spione, geheime Kanäle. Die Stasi und Willy Brandt. Berlin 2015. Schriftenreihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Siehe: https://www.bstu.de/assets/bstu/de/Publikationen/BFi32_Muenkel_Stasi_und_Brandt.pdf Nyhan, Brendan: »Reasonable Doubt. Why Fears of Fake News Are Overhyped«, in: Medium, siehe https://gen.medium.com/why-fears-of-fakenews-are-overhyped-2ed9ca0a52c9 vom 04.02.2019. O. Autor/in: »Anglizismus des Jahres 2016«, siehe: www.anglizismusdesjahres.de/anglizismen-des-jahres/adj-2016/ Pew Research Center: »Trust in the news media«, in: Pew Research Center, siehe: www.journalism.org/2017/05/10/americans-attitudes-about-thenews-media-deeply-divided-along-partisan-lines/pj_2017-05-10_mediaattitudes_a-05/ vom 09.05.2017. Pörksen, Bernhard: »Umgang mit Medien. Alle müssen Journalisten werden«, in: Die Zeit Nr. 8/2018, 15. Februar 2018, siehe:

Im Zeitalter von Fake News

https://www.zeit.de/2018/08/umgang-medien-fake-news-propagandajournalismus Sängerlaub, Alexander: Feuerwehr ohne Wasser? Möglichkeiten und Grenzen des Fact-Checkings als Mittel gegen Desinformation. Berlin: Stiftung Neue Verantwortung Juli 2018. Siehe: https://www.stiftungnv.de/sites/default/files/grenzen_und_moeglichkeiten_fact_checking.pdf Sängerlaub, Alexander/Meier, Miriam/Rühl, Wolf-Dieter: Fakten statt Fakes. Verursacher, Verbreitungswege und Wirkungen von Fake News im Bundestagswahlkampf 2017. Berlin: Stiftung Neue Verantwortung 2018. Siehe: https://www.stiftung-nv.de/sites/default/files/snv_fakten_statt_fakes.pdf Schulz, Alexander: »Stadtfest in Verruf«, in: Spiegel Online, siehe: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/randale-in-schorndorf-was-geschah-im-schlosspark-a-1158468.html vom 18.07.2017. Tagesspiegel: »Wem gehört Berlin?«, in: Tagesspiegel, siehe: https://interaktiv.tagesspiegel.de/wem-gehoert-berlin/ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger: »Allensbach-Studie: Journalistische Qualität essenziell für Demokratie und Gesellschaft in Deutschland«, in: Verband Deutscher Zeitschriftenverleger, siehe: https://www.vdz.de/nachricht/artikel/allensbach-studie-journalistischequalitaet-essenziell-fuer-demokratie-und-gesellschaft-in-deutschlan/vom 06.11.2017. Wolf, Armin: »Demokratischer Diskurs ist kein safe space«, in: Webseite von Armin Wolf, siehe: https://www.arminwolf.at/2018/10/27/demokratischer-diskurs-ist-kein-safe-space/vom 27.10.2018. Zeit Online: »Deutschland spricht«, in: Zeit Online, siehe: https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-08/deutschland-spricht-2019diskussion-anmeldung vom 15.08.2019.

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Fact-Checking und Verifikation Neue Formen des Faktenprüfens im Nachrichtenjournalismus Jenny Stern

»Fakten checken wir als Journalist*innen ja ohnehin«: Diesen Satz hörte das Verifikations-Team von BR24, dem digitalen Nachrichtenangebot des Bayerischen Rundfunks, gerade zu Beginn recht häufig. Das war im Mai 2017. Seitdem hat sich der Faktencheck in vielen Medienhäusern als eigenes journalistisches Format etabliert – bei BR24 unter dem Label Faktenfuchs. Was aber unterscheidet die Arbeit sogenannter Fact-Checker*innen nun von der »klassischer« Journalist*innen? Zunächst einmal nehmen sich Faktenprüfer*innen vor allem unseriöse Quellen vor, etwa Websites, die bereits in der Vergangenheit durch das Verbreiten von falschen Informationen aufgefallen sind. Im redaktionellen Alltag wurden diese zuvor weitgehend ignoriert. Außerdem setzen Faktenchecker*innen im Bereich der Verifikation neue Methoden und Werkzeuge ein, um digitale Inhalte zu prüfen. Das hängt damit zusammen, dass in sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram oder Youtube jeder Mensch gleichermaßen zum*r Sender*in und Empfänger*in werden und Behauptungen, Fotos oder Videos ungeprüft platzieren kann. Damit hat sich das Aufkommen und die Verbreitung falscher Informationen erhöht – auch wenn es sie schon immer gab und das Phänomen sogenannter Fake News keinesfalls neu ist. Die Fact-Checking-Community ist sich weitgehend darin einig, den Ausdruck »Fake News« aus den Diskussionen um das Thema zu verbannen, da er sich zum politischen Kampfbegriff entwickelt hat und teilweise Politiker*innen oder Personen des öffentlichen Lebens dafür dient, unliebsame Berichterstattung herunterzuspielen. Journalist*innen, die sich mit absichtlich fal-

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schen, irreführenden oder manipulierten Inhalten auseinandersetzen, sprechen deshalb lieber von Desinformation. Um diese Desinformation, also Lügen, Gerüchte oder Halbwahrheiten, zu widerlegen und einzuordnen, haben sich weltweit Hunderte von Faktencheck-Teams gegründet. Reportersʼ Lab, ein Projekt der US-amerikanischen Duke University, zählt auf einer Karte weltweit 194 Faktencheck-Projekte.1 Einige aus Deutschland sollen in diesem Beitrag vorgestellt werden.

1.

Der Unterschied zwischen Fact-Checking und Verifikation

Die Begriffe Fact-Checking und Verifikation werden im Alltag oft synonym verwendet. Auch innerhalb der Fact-Checking-Community kursieren unterschiedliche Definitionen. Der ehemalige Direktor des International Fact-Checking Network (IFCN), Alexios Mantzarlis, versteht Fact-Checking und Verifikation als »unterschiedliche, doch ähnliche journalistische Vorgehensweisen«2 : Bei der Verifikation wird mithilfe bestimmter Techniken untersucht, wie glaubwürdig der Ursprung einer Aussage ist (Verifikation der Quelle, des Datums und des Ortes), während sich Fact-Checking auf die Logik, Kohärenz und den Kontext einer Aussage bezieht. Relevant ist dabei auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung: Taucht eine Behauptung in den sozialen Netzwerken gerade erst auf und wird von Journalist*innen geprüft – das ist der sogenannte User Generated Content (UGC oder nutzergenerierte Inhalt) – spricht Mantzarlis von Verifikation, von FactChecking hingegen, wenn eine Behauptung schon von Medien aufgegriffen und zur Nachricht gemacht wurde. In beiden Fällen sollen Behauptungen mithilfe von objektiven Fakten überprüft und nachvollzogen und am Ende als wahr oder falsch eingeordnet werden. Dort, wo sich Fact-Checking und Verifikation überschneiden, steht für Mantzarlis das Debunking, das Aufdecken oder Entlarven falscher Informationen.

1 2 3

Vgl. Duke Reportersʼ Lab, Global Fact-Checking sites: https://reporterslab.org/fact-checking/. Diese und alle folgenden URLs wurden zuletzt abgerufen am 05. Oktober 2019. A. Mantzarlis: Will verification kill fact-checking? A. Mantzarlis: Module 5: Fact-checking 101.

Fact-Checking und Verifikation

Abb. 1: Der Unterschied zwischen Fact-Checking und Verifikation.3

1.1

Was ist Fact-Checking?

Ursprünglich waren Fact-Checker*innen jene Personen in Redaktionen, die journalistische Artikel Korrektur gelesen und auf ihre Richtigkeit geprüft haben. In den USA hat dieses Vorgehen eine lange Tradition, während es in Deutschland nur von wenigen Medienhäusern wie dem Magazin Der Spiegel praktiziert wird.4 Sprechen Journalist*innen heutzutage von Fact-Checking, meinen sie in der Regel nicht mehr das sogenannte interne Fact-Checking. Meistens geht es um die inhaltliche Auseinandersetzung mit einer Behauptung von Politiker*innen oder mit Gerüchten in sozialen Netzwerken, die bereits veröffentlicht wurden, also um externes Fact-Checking. Fact-Checker*innen untersuchen dann, ob eine Aussage korrekt ist, indem sie den ursprünglichen Zusammenhang der Zitate suchen, Expert*innen befragen oder wissenschaftliche Studien heranziehen. Am Ende gelangen sie zu einer Bewertung, die dem Publikum helfen soll, eine öffentlich getätigte Behauptung zu verstehen und richtig einzuordnen.

4

Vgl. A. Mantzarlis: Module 5: Fact-checking 101, S. 86ff.

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In den USA ist das Angebot groß. Websites wie FactCheck5 oder Politifact nehmen sich der Statements von Politiker*innen an, und Snopes7 oder TruthOrFiction8 jagen Mythen und Gerüchte aus sozialen Netzwerken.9 In Deutschland widmen sich dem Fact-Checking zum Beispiel das Recherchenetzwerk Correctiv10 , die Deutsche Presse-Agentur dpa11 (beide checken Fakten auch für das US-amerikanische Unternehmen Facebook), der ARD-faktenfinder der Tagesschau12 oder der Faktenfuchs von BR2413 . 6

1.2

Was ist Verifikation?

Bei der Verifikation geht es um das journalistische Handwerk, Quellen, Fotos oder Videos auf ihre Echtheit zu prüfen, mittlerweile vor allem mithilfe technischer Tools. Da in der digitalen Welt jede*r Nutzer*in Inhalte ungeprüft veröffentlichen und viele Menschen damit erreichen kann, wird gerade das Verifizieren solcher Inhalte immer wichtiger. Bei sogenannten Breaking-News-Lagen spielt das Material für Journalist*innen, die in den Redaktionen sitzen und nicht am Ort des Geschehens sein können, eine große Rolle. Ihre Aufgabe ist es, einzuschätzen, ob die im Internet präsentierten Bilder authentisch sind und ob ihre Redaktion sie – nach Absprache mit dem*der Urheber*in – veröffentlichen kann oder nicht. Für die Verifikation helfen Werkzeuge, von denen viele im Internet frei und kostenlos verfügbar sind. Die wohl größte Sammlung solcher Tools hält das internationale investigative Recherchenetzwerk Bellingcat bereit. Das Bellingcat-Team wertete zum Beispiel Bildmaterial aus dem syrischen Bürgerkrieg aus, das es in sozialen Netzwerken fand15 , oder analysierte rus5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Siehe Website von FactCheck: https://www.factcheck.org/. Siehe Website von Politifact: https://www.politifact.com/. Siehe Website von Snopes: https://www.snopes.com/. Siehe Website von TruthOrFiction: https://www.truthorfiction.com/. Vgl. C. Silverman: Verification Handbook, S. 4ff. Website des Correctiv-Faktenchecks: https://correctiv.org/faktencheck/. Vgl. Deutsche Presse-Agentur: dpa stärkt Faktencheck: Neue Position des Verification Officers für Stefan Voß. Siehe Website des ARD-faktenfinders der Tagesschau: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/. Siehe Website des BR24-Faktenfuchs: www.br.de/faktencheck. Bellingcat: Bellingcat’s Online Investigation Toolkit: https://docs.google.com/document/d/1BfLPJpRtyq4RFtHJoNpvWQjmGnyVkfE2HYoICKOGguA/edit. Vgl. Bellingcat Investigation Team: Open Source Survey of Alleged Chemical Attacks in Douma on 7th April 2018.

Fact-Checking und Verifikation

Abb. 2 Open Source Intelligence/OSINT Landscape von Bellingcat.14

sische Satellitenbilder der 2014 über der Ostukraine abgeschossenen Passagiermaschine MH1716 . Zahlreiche Anleitungen und Tipps zum Verifizieren von Fotos17 und Videos18 liefert auch das internationale Projekt First Draft, das vom USamerikanischen Unternehmen Google ins Leben gerufen wurde und sich dem Kampf gegen Falschmeldungen und Desinformation verschrieben hat. In Deutschland forscht und arbeitet vor allem die Deutsche Welle (DW) an Tools zur Verifikation. Mit Truly Media hat das DW-Forschungsteam eine Plattform geschaffen, auf der sich Nutzer*innen über ihre VerifikationsErgebnisse austauschen und bei der Recherche wichtige Zeit sparen können. Ein weiteres Tool, InVid, vereint mehrere Werkzeuge in einem und soll das Prüfen von Inhalten aus sozialen Netzwerken erleichtern.

2.

Fakten checken beim Faktenfuchs von BR24

Fact-Checking und Verifikation lassen sich zwar theoretisch voneinander abgrenzen. Claire Wardle von First Draft und Will Moy von der britischen Fact16 17 18

Vgl. Bellingcat Investigation Team: MH17 – The Open Source Investigation, Three Years Later. A. Reid: Visuelle Kurzanleitung zur Verifizierung von Fotos. A. Reid: Visuelle Kurzanleitung zur Verifizierung von Videos.

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Checking-Organisation Full Fact weisen allerdings darauf hin, dass es kaum möglich ist, diese Trennung im Newsroom tatsächlich beizubehalten.19 Es bedürfe Teams, die beide Fähigkeiten vereinen. Schließlich unterscheide das Publikum auch nicht zwischen Fact-Checking und Verifikation, es wolle lediglich wissen, »was richtig und was falsch«20 sei. Aus diesem Grund werden beim Faktencheck-Format Faktenfuchs von BR24 die Redakteur*innen dahingehend fortgebildet, dass sie Fact-Checking und Verifikation gleichermaßen beherrschen. In sozialen Netzwerken gehen sie verdächtigen Inhalten nach und prüfen Gerüchte, Lügen, manipulierte Zitate und Videos. Dabei begreift sich das Team als externer Faktenprüfer: Es nimmt sich falscher Informationen an, die bereits veröffentlicht wurden und von Nutzer*innen auf Facebook, Twitter, Instagram oder Youtube herumgereicht werden. Vor und nach Wahlen weitet sich das Aufgabenfeld, denn dann stehen besonders die Aussagen von Politiker*innen im Fokus. Über die Website und Social-Media-Accounts von BR24 werden die Onlineartikel, häufig ergänzt durch Webvideos, ausgespielt. Eine Sammlung der Faktenchecks und weiterer Hintergrund- und Erklärstücke gibt es unter dem Link br24.de/faktencheck, zum Beispiel zur Debatte um Seenotrettung21 oder den Beitrag des Menschen am Klimawandel22 . Momentan ist der BR24-Faktenfuchs mit zwei bis drei Redakteur*innenschichten am Tag besetzt, zwischen 7 und 17 Uhr und gegebenenfalls zu Breaking-News-Lagen. Auch im Vorfeld von Wahlen oder zu anderen großen Ereignissen ist das Team im Einsatz.

2.1

Fakes suchen, Fakten verbreiten

An Themen für ihre Faktenchecks gelangen die Redakteur*innen vom Faktenfuchs auf drei Arten: durch • • •

19 20 21 22

das sogenannte Social Listening, also das »Reinhorchen« ins Netz, Kommentare von BR24-Nutzer*innen und tagesaktuelle Debatten.

Vgl. C. Wardle/W. Moy: Is that actually true? Ebd. G. Wolf: Seenotrettung im Mittelmeer. M. Stumpfe: #Faktenfuchs: Wenig CO2, große Wirkung.

Fact-Checking und Verifikation

Mit speziellen Social-Listening-Tools, derzeit sind das Realtrax und Facebooks Crowdtangle, blicken die Redakteur*innen noch tiefer in soziale Netzwerke, Foren, Websites und Blogs, um zu erfahren, welche Themen die Menschen im Internet bewegen und wie sie darüber diskutieren. Mit den Tools stößt das Team aber auch auf Desinformation: auf falsche Behauptungen und aus dem Kontext gerissene Zitate oder Gerüchte, die besonders erfolgreich sind, also häufig geteilt, geliked und kommentiert werden. Den Impuls für die Themen geben häufig auch BR24-Nutzer*innen selbst – für das Format Faktenfuchs ein wesentlicher Baustein. Die Social-MediaRedakteur*innen scannen die Kommentare auf Facebook, Twitter, Instagram und Youtube und weisen das Faktencheck-Team auf interessante Perspektiven oder neue Fragestellungen hin. Direkt anschreiben kann man den Faktenfuchs auf Twitter.23 Wo immer möglich, werden im Artikel die Nutzer*innen-Kommentare in einem Screenshot eingeblendet, die den Anlass für die Recherchen lieferten. Kürzlich war die Frage, ob der Antrieb mit Wasserstoff eine Alternative zu Elektromobilität darstellen könne24 . Mehrere Nutzer*innen hatten sich das zuvor in den BR24-Kommentarspalten auf Youtube und Facebook gefragt. Nicht zuletzt können tagesaktuelle Debatten Fragen aufwerfen, denen sich das Faktencheck-Team annimmt. So holte die Autorin des Artikels »Was bringt Scheuers Verkehrsreform?« Stimmen von Expert*innen ein, die die Vorschläge des Bundesverkehrsministers für eine neue Straßenverkehrsordnung bewerteten.25 Ob die Redaktion ein Thema aufgreift, besprechen die Journalist*innen für jeden Fall aufs Neue. Dafür orientieren sie sich an bestimmten Kriterien: In erster Linie muss eine Behauptung bereits viele Menschen erreicht haben (auch außerhalb der Gemeinschaft, in der sie entstand26 ) und sie muss aktuell und relevant für das BR24-Publikum sein. Innerhalb der vergangenen Jahre stießen die Redakteur*innen vor allem auf Falschmeldungen zu den Themen

23 24 25 26

Der BR24-Faktenfuchs ist auf Twitter unter dem Handle @Faktenfuchs zu finden. G. Wirth: #Faktenfuchs: Wasserstoff fürs Auto – eine Alternative? J. Ley: #Faktenfuchs: Was bringt Scheuers Verkehrsreform? Vgl. W. Phillips: The Oxygen of Amplification, S. 6ff.

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Abb. 3: Leser*innen-Kommentare auf der BR24-Seite von Facebook und Youtube zu Wasserstoff als Antrieb.

Migration. Zuletzt beantworteten sie aber auch immer häufiger Fragen zum Klimawandel27 , zur Elektromobilität28 oder zu gesundheitlichen Themen29 . Die Recherchen für die Faktencheck-Artikel entsprechen dem klassischen journalistischen Vorgehen, bei dem alle Perspektiven angehört und unabhängige Quellen wie wissenschaftliche Studien, (historische) Dokumente oder die Einschätzung von Expert*innen eingeholt werden. In dem Artikel »Ja, es gibt den Klimawandel – trotz schlechten Wetters«30 waren das zum Beispiel der Wetterexperte des Bayerischen Rundfunks, der Klima-Report des bayerischen Umweltministeriums, eine Klimatologin und der Deutsche Wetterdienst. Die Redakteur*innen bemühen sich dabei um höchstmögliche Transparenz: Primärquellen wie Studien, Beschlüsse oder Pressemitteilungen werden,

27 28

29 30

P. Kramliczek: #Faktenfuchs: Nein, Fliegen ist nicht billiger als Zugfahren; J. Ley: Ja, es gibt den Klimawandel – trotz schlechten Wetters. P. Kramliczek: #Faktenfuchs: Wie umweltfreundlich sind Elektroautos?; P. Kramliczek: E-Mobilität: Warum das Batterie-Recycling so schwierig ist; J. Ley: #Faktenfuchs: Was bringen E-Scooter für die Umwelt?. N. Nützel: Zahlen Krankenkassen notwendige Medikamente nicht mehr?; S. Rohrmeier: #faktenfuchs: Warum stechen Mücken manche Menschen lieber?. J. Ley: Ja, es gibt den Klimawandel – trotz schlechten Wetters.

Fact-Checking und Verifikation

wenn möglich, genannt und verlinkt, damit der*die Leser*in das Geschriebene nachvollziehen und seine*ihre eigenen Schlüsse ziehen kann. Dabei hilft auch der spielerische Charakter des Faktenfuchses selbst: Er möchte dem Publikum auf Augenhöhe begegnen, seine Bedürfnisse und Fragen ernst nehmen und nicht dozierend oder belehrend wirken. Die Faktenchecks wollen nicht bewerten, sondern einen Überblick über die Positionen und den Verlauf einer Debatte liefern. Damit verbunden ist auch, dass die Redakteur*innen relevante E-Mails, Zitate, Notizen zu Gesprächen und Screenshots von Social-Media-Beiträgen als Belege sammeln und bei Nachfrage vorlegen können. Abgenommen werden die Artikel von mindestens zwei weiteren Kolleg*innen. Die Faktenchecks schließen in der Regel mit einem Fazit, das die gewonnenen Erkenntnisse zusammenfasst. Das Team hat sich dabei bewusst gegen eine Bewertungsskala zwischen »richtig« und »falsch« entschieden, da viele der behandelten Themen zu komplex sind, als dass sie eindeutig in ein Schwarz-Weiß-Schema eingeordnet werden könnten. Eine abschließende Bewertung soll den Leser*innen überlassen sein. Faktencheck-Artikel und -Videos zu veröffentlichen ist aber nur der erste Schritt. Mindestens genauso wichtig ist es, die Inhalte beständig in die Kommentarspalten der sozialen Netzwerke zu verteilen – der Ort, an dem sich besonders viel Unwissen tummelt. Genau hier greift die Software Factfox – ein digitaler Helfer für Social-Media-Redakteur*innen, den BR24 mitentwickelt hat.31 Hinter dem Tool, einer Browser-Erweiterung, steckt eine Datenbank, die die Faktenfuchs-Redaktion mit Zahlen und Fakten füttert. Die Kolleg*innen, die die sozialen Netzwerke betreuen, können mit einem Mausklick auf sie zugreifen und nach Stichworten, zum Beispiel Zahlen zur aktuellen Kriminalstatistik, suchen. Verifizierte Inhalte können sie dann schnell und gezielt auf Facebook, Twitter, Instagram oder Youtube verteilen.

2.2

Faktenchecks zur Europawahl 2019

Besonders zu Wahlzeiten haben Falschmeldungen Hochkonjunktur: In sozialen Netzwerken fand die Faktenfuchs-Redaktion zur Europawahl 2019, zur Landtagswahl in Bayern 2018 und zur Bundestagswahl 2017 gefälschte Wahlplakate und Statistiken, irreführende Behauptungen und Hetze gegen Politi31

G. Riedl: Der schlaue Fuchs im Social Media-Wald.

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ker*innen und Parteien oder Beiträge, die das demokratische System an sich in Misskredit bringen sollten. Von den bayerischen Europawahl-Kandidat*innen wollte die FaktencheckRedaktion wissen, ob sie sich bereits persönlich mit Falschinformationen konfrontiert sahen.32 Der damalige Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei EVP, Manfred Weber, teilte mit, er sei »permanent« Ziel falscher Informationen geworden, und schickte zwei Beispiele. Im ersten kombinierte ein*e unbekannte*r Urheber*in das Logo der CDU mit der Europa-Flagge und einem Foto Webers mit der vermeintlichen Aussage, die Partei wolle ein elitäres Europa schaffen.

Abb. 4: Eine während des Europawahlkampfes 2019 verbreitete Falschmeldung über den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber.

In einem zweiten Beispiel wurde Weber mit dem erfundenen Satz »Ich liebe die EU mehr als meine Heimat Bayern« zitiert. Indem das Logo des ZDF und die Fernsehsendung Markus Lanz samt Sendedatum genannt wurden, sollte suggeriert werden, dass der Satz authentisch sei. Doch auch dieses Statement war gefälscht und in der Talkrunde nie gefallen. Die Europäische Union sei zu teuer, ein Abstellgleis für gescheiterte Politiker, sie reguliere zu viel und immer mehr: Im Vorfeld der Europawahl hat

32

J. Stern: #Faktenfuchs: Fakes über bayerische Europawahl-Kandidaten.

Fact-Checking und Verifikation

Abb. 5: Ein gefälschtes Zitat, das angeblich von dem EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber stammen und in der ZDF-Sendung Markus Lanz gefallen sein soll.

sich der Korrespondent des Bayerischen Rundfunks in Brüssel mit den Mythen rund um die EU beschäftigt.33 Auch einen Überblick darüber, was die sozialen Netzwerke im Kampf gegen Desinformation tun, lieferte der BR24-Faktenfuchs. Facebook, Twitter und Google hatten sich freiwillig verpflichtet, gefälschte Accounts und Social Bots zu sperren, Fake-Verbreiter*innen die Werbeeinnahmen zu entziehen und Forschung zu erleichtern.34 Zusätzlich zu Gerüchten aus dem Netz prüften die Journalist*innen die Aussagen aller sieben Politiker*innen, die in den Wahlsendungen des Bayerischen Rundfunks zur Europawahl auftraten. Etwa die Behauptung, 80 Prozent der deutschen Gesetze würden »aus Brüssel« stammen.35 Dieser Annahme liegt ein Mythos zugrunde, der seinen Ursprung wohl in den 1980er Jahren hat. Das Ausmaß, in dem nationale Gesetzgebung von der EU vorgegeben wird, ist deutlich geringer als der »80-Prozent-Mythos« andeuten mag und variiert bezogen auf die einzelnen Politikfelder stark.

33 34 35

H. Romann: #Faktenfuchs: Die fünf größten EU-Mythen. J. Stern: Europawahl: Was machen soziale Netzwerke gegen Fakes? C. von Eichhorn/J. Röhmel/J. Stern: #Faktenfuchs zur BR Wahlarena: Der AfD-Kandidat im Faktencheck.

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Wie bei der Bundestagswahl 2017 und der Landtagswahl in Bayern im Jahr darauf konnte die Faktencheck-Redaktion bei der Europawahl beobachten, wie von rechten Social-Media-Accounts versucht wurde, gezielt Stimmung gegen die Wahl zu machen und deren Ergebnisse infrage zu stellen. Der Faktenfuchs forschte in den Wahllokalen, sprach mit dem Landes- und dem Bundeswahlleiter und stellte wie in den Jahren zuvor fest: Es ging alles mit rechten Dingen zu.36

2.3

Arbeiten mit Verifikations-Tools: Quellen, Bilder und Videos checken

Im Redaktionsalltag bei BR24 kommt die inhaltliche Prüfung einer Aussage (das Fact-Checking) häufiger vor, während sich die Verifikation fast ausschließlich auf sogenannte Breaking-News-Lagen beschränkt: Das Faktenfuchs-Team scannt in einer solchen Situation die Timelines vor allem auf Twitter und Tweetdeck auf der Suche nach Falschinformationen. Geschieht zum Beispiel ein Anschlag oder eine Naturkatastrophe, gibt es häufig Internetnutzer*innen, die die unübersichtliche Lage ausnutzen wollen, um Verwirrung zu stiften und Aufmerksamkeit zu erlangen. Diese bringen dann Fotos oder Videos aus einem ursprünglich anderen Zusammenhang in Umlauf. Wie falsche Informationen in sozialen Netzwerken die Wahrnehmung von Realität verändern können, zeigte der rechtsextremistisch motivierte Anschlag in München 2016. Am Ende zählte die Polizei aufgrund zahlreicher Gerüchte und Spekulationen über weitere angebliche Schüsse 73 »Phantomtatorte« in der Stadt, an denen gar nichts passiert war.37 Die Falschmeldungen hatten sich auch über Twitter und private Messenger-Dienste wie Whatsapp verbreitet. Unter den Hashtags #Amoklauf und #OEZ (der Ort des Anschlags war das Olympia-Einkaufszentrum, kurz OEZ, in München) tauchte auf Twitter ein Foto auf, das Verletzte auf einem blutverschmierten Boden zeigte. Mit einer sogenannten Bilder-Rückwärtssuche, zum Beispiel von den Anbietern Google38 oder TinEye39 , ließ sich schnell herausfinden, dass das Foto nicht aus München, sondern aus Johannesburg vom Jahr zuvor stammte. 36 37 38 39

B. Oswald: #Faktenfuchs: Was ist bei der Europawahl schiefgelaufen? Vgl. R. Scharold: Amoklauf vor einem Jahr: »73 Phantom-Tatorte in München«. Bilder-Rückwärtssuche mit Google, siehe: https://images.google.de. Reverse Image Search mit TinEye, siehe: https://www.tineye.com/.

Fact-Checking und Verifikation

Solch eine Bildersuche zeigt an, wann eine Aufnahme im Internet zum ersten Mal aufgetaucht ist. Liefert die Suche Ergebnisse, die bereits einige Jahre zurückliegen, ist das ein Beleg dafür, dass die Aufnahme nicht aktuell sein kann.

Abb. 6: Mit einer Bilder-Rückwärtssuche lassen sich alte Fotos und Videos häufig schnell als solche entlarven.

Da jede Suchmaschine unterschiedliche Ergebnisse liefert, ist es sinnvoll, für eine Recherche mehrere gleichzeitig zu verwenden. Ein hilfreiches Tool hierfür ist das Browser-Add-on RevEye Reverse Image Search, das – einmal installiert – Suchen für Google, Bing, TinEye, die russische Suchmaschine Yandex und die chinesische Suchmaschine Baidu parallel ausführt. Ob hinter einem Account ein echter Mensch steckt, verrät häufig schon ein erster Blick auf das Profil. Folgende Fragen sollten sich Journalist*innen auf jeden Fall stellen: Wie lange existiert der Account bereits, wie viel und zu welchen Themen postet er, wie gut ist der Account vernetzt, ist eine Website oder E-Mail-Adresse angegeben, ist der Nutzername auch auf anderen sozialen Netzwerken zu finden? Tools wie Foller.me40 oder Followerwonk41 analysieren, zu welchen Zeiten ein Account am häufigsten Beiträge veröffentlicht,

40 41

Vgl. Twitter Analytics mit Foller.me: https://foller.de/. Siehe Website von Followerwonk: https://followerwonk.com/analyze.

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welche Hashtags benutzt werden und mit welchen Nutzer*innen der Account in der Vergangenheit interagierte. Bei den Themen, die der BR24-Faktenfuchs bearbeitet, achten die Redakteur*innen darauf, dass sie möglichst einen Bezug zu Bayern und den Menschen dort haben. Es gibt aber Ausnahmen: Als im Sommer 2018 ganz Deutschland über ein Video aus Chemnitz und mögliche Hetzjagden diskutierte, analysierten die BR24-Redakteur*innen dieses Video ebenso.42 Mithilfe bestimmter Tools fanden sie heraus, dass das Video tatsächlich in Chemnitz und zu hoher Wahrscheinlichkeit am 26. August 2018 aufgenommen wurde. Die ersten Ergebnisse hierzu lieferte eine Community von Verifikationsexpert*innen um den Account @Quiztime43 auf Twitter.44 Doch wie funktionierte das? Zunächst einmal mussten die Redakteur*innen das Material wieder und wieder ansehen, um markante Punkte auf den Bildern ausfindig zu machen: eine große, vierspurige Straße, einen Parkplatz dahinter, einen Kirchturm und eine Bushaltestelle im Hintergrund, ein gelbes Straßenschild. Auf Twitter fanden sich an besagtem Tag unter dem Hashtag #c2608 Hinweise darauf, dass es sich um den Johannisplatz in Chemnitz handeln könnte. Ein Abgleich der markanten Positionen mit Satellitenbildern auf Google Maps führte zur Bahnhofstraße zwischen Johannisplatz und Johanniskirchenplatz – die Szene aus dem Video musste sich also tatsächlich in Chemnitz abgespielt haben. Die Datenbank Wolfram Alpha45 stellte schließlich relevante Informationen zum Wetter an dem Tag bereit: Es hatte 19 Grad und war bewölkt. Da die Menschen im Video teilweise T-Shirts, teilweise leichte Jacken tragen, könnte das einen weiteren Hinweis für die Echtheit des Videos liefern. Seiten wie Sonnenverlauf.de46 zeigten den genauen Sonnenstand für den 26. August 2018 gegen 17 Uhr an. Zu diesem Zeitpunkt wurde einer der ersten Tweets abgesetzt, die von »Hetzjagden« in Chemnitz berichteten. Vergleicht man den

42 43 44

45 46

S. Rohrmeier/B. Oswald: Was wir über das strittige »Hetzjagd«-Video aus Chemnitz wissen. Account @Quiztime auf Twitter, siehe: https://twitter.com/quiztime Vgl. insbesondere die Recherchen von @MeKassab und @y_vdw, zusammengefasst im Twitter-Thread von Lars Wienand, siehe: https://twitter.com/LarsWienand/status/1034502601398800386. Siehe Website von Wolfram Alpha, siehe: https://www.wolframalpha.com/. Siehe Website von Sonnenverlauf.de, siehe: https://www.sonnenverlauf.de.

Fact-Checking und Verifikation

Abb. 7: Das Video zeigt die Bahnhofstraße in Chemnitz: Markante Punkte wie die Bushaltestelle, eine Kirche und das gelbe Straßenschild lassen sich mit Satellitenbildern abgleichen.

angezeigten Stand der Sonne im Tool mit den Ausschnitten aus dem Video, wird deutlich: Der Schatten fällt in die richtige Richtung, Richtung Osten. Im Falle des Chemnitz-Videos war – auch wegen weiterer Hinweise – relativ schnell klar, dass es sich um authentisches Material handelte. Ganz so eindeutig sind die Ergebnisse bei der Verifikation von Fotos und Videos aber selten. Denn die Redakteur*innen können stets nur Belege sammeln, die in ihrer Gesamtheit für oder gegen die Echtheit des Materials sprechen. Das BR24-Faktenfuchs-Team hat in folgender Übersicht (Abb. 8) jene Tools zusammengestellt, die es selbst bei seinen Recherchen verwendet.47

3.

Confirmation Bias und Deepfakes: Herausforderungen für Faktenprüfer*innen

Vor Herausforderungen stehen Faktenprüfer*innen ständig: Das fängt schon damit an, dass sie eine Lüge wiederholen müssen, um sie zu widerlegen. Je 47

Verifikations-Toolkit des BR24-Faktenfuchs, siehe: https://start.me/p/xbk65R/verifikations-toolkit-br24-faktenfuchs

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Abb. 8: Das Verifikations-Toolkit vom BR24-Faktenfuchs sammelt die in der Redaktion verwendeten technischen Hilfsmittel.

öfter eine falsche Information jedoch wiederholt wird, desto besser bleibt sie im Gehirn haften. Ob eine Information wahr oder falsch ist, diese Einordnung verschwimmt psychologischer Forschung zufolge im Laufe der Zeit.48 Mit dem Aufgreifen einer Lüge in die Berichterstattung verbreiten Medien sie zudem weiter und verschaffen ihr mehr Aufmerksamkeit. Ein weiteres Problem: Werden Menschen, die eine vorgefertigte Meinung zu einem Thema haben, mit Gegenargumenten konfrontiert, neigen sie dazu, in ihrer ursprünglichen Meinung zu verharren und diese zu verfestigen.49 Der in diesem Zusammenhang häufig genannte »Confirmation Bias«, ein kognitiver Prozess, sorgt dafür, dass Menschen gezielt jene Informationen suchen, die bereits ihrem eigenen Weltbild entsprechen und dieses bestätigen. Damit einher geht, dass die BR24-Faktenchecks vor allem jene Menschen lesen, die das Angebot des Bayerischen Rundfunks ohnehin wahrnehmen. Andere gesellschaftliche Gruppen, zum Beispiel die der Klimaleugner, werden

48 49

Vgl. J. Cook/St. Lewandowsky: The Debunking Handbook, S. 2. Ebd., S. 4.

Fact-Checking und Verifikation

den bereits erwähnten Artikel »Ja, es gibt den Klimawandel – trotz schlechten Wetters« wohl nie lesen, geschweige denn den dort aufgeführten Fakten Glauben schenken. Das »Debunking Handbook«50 behandelt genau diese negativen Effekte und bietet drei Lösungen für Faktenchecker*innen, die auch der BR24Faktenfuchs im Redaktionsalltag versucht umzusetzen: •





Das Hauptaugenmerk des Faktenchecks muss auf den Fakten liegen. Das heißt, in der Überschrift und den ersten Absätzen sollen die wesentlichen Fakten wiederholt werden und nicht die Lüge, die den Anlass für die Berichterstattung lieferte. Die falsche Information wird so nicht unnötig verfestigt. Bevor Faktenchecker*innen eine Lüge oder ein manipuliertes Foto präsentieren, müssen sie davor warnen, dass die nachfolgende Information falsch sein wird. Entlarven Journalist*innen eine Information als Lüge, entsteht im Gehirn eine Lücke, die gefüllt werden muss. Eine Widerlegung soll deshalb immer auch eine alternative Erklärung bieten.

Claire Wardle von First Draft stellt in einem Artikel in der Zeitschrift Scientific American51 fest, dass die erfolgreichsten Falschmeldungen nicht ausschließlich erfunden seien, sondern immer auf einem Fünkchen Wahrheit beruhten – eine Strategie, die auch die BR24-Faktenchecker*innen bei ihrer Arbeit beobachten. Die Verbreiter*innen von Desinformation wählen für eine Nachricht lediglich jene Informationen aus, die in das eigene Weltbild passen. Dadurch entsteht eine einseitige und verzerrte Wahrnehmung der Realität. Diesen wenig komplexen Darstellungen kommt zugute, dass sie häufig eingängige Bilder vermitteln und Emotionen hervorrufen. Das spielt dem Mechanismus Sozialer Medien entgegen: Denn einen Beitrag, der Nutzer*innen wütend macht oder aufregt, teilen sie eher als einen nüchtern geschriebenen Artikel. Technische Grenzen sind den BR24-Faktenchecker*innen bei der Verifikation von Bildmaterial besonders bei den sogenannten »Deepfakes« gesetzt, also gefälschten Videos, die mithilfe von künstlicher Intelligenz produziert

50 51

Ebd. Vgl. C. Wardle: Misinformation Has Created a New World Disorder.

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werden und teils täuschend echt wirken. Politiker*innen oder anderen Personen des öffentlichen Lebens können auf diese Weise Zitate zugeschoben werden, die sie nie gesagt haben.

4.

Weitere Angebote in Deutschland

In den Monaten vor der Bundestagswahl 2017 starteten gleich mehrere Fact-Checking-Angebote in Deutschland: Neben dem BR24-Faktenfuchs zum Beispiel der ARD-faktenfinder der Tagesschau. Auch das Recherchenetzwerk Correctiv und die Deutsche Presse-Agentur dpa investierten in Einheiten mit den Schwerpunkten Faktencheck und Verifikation.

4.1

Der ARD-faktenfinder der Tagesschau

Die Amokfahrt in Münster 2018, die Attacke am Frankfurter Hauptbahnhof52 im Juli 2019 oder die Brände im Amazonasgebiet53 im August 2019: In unübersichtlichen Lagen haben Gerüchte und Spekulationen im Netz leichtes Spiel. Denn sie füllen ein Vakuum, das entsteht, wenn Informationen noch nicht gesichert sind, die Polizei erst ermitteln muss und seriöse Medien das tun, was sie tun müssen: abwarten. Der ARD-faktenfinder der Tagesschau54 sammelt in solchen Situationen falsche und irreführende Meldungen und ordnet sie ein: Welche Informationen gelten als gesichert, welche nicht? Wer steckt hinter einem bestimmten Account, ist er vertrauenswürdig oder ein Fake? Wie sich Falschmeldungen verbreiten, können Redakteur*innen in Echtzeit besonders gut auf Twitter verfolgen. Als die Kathedrale Notre-Dame in Paris im April 2019 in Flammen aufging, verbreiteten sich schnell unzählige Fotos und Videos im Netz – und genauso schnell kursierten die Gerüchte und unbelegten Behauptungen. So streuten rechte Blogs Spekulationen über einen Anschlag mit islamistischem Hintergrund. Der ARD-faktenfinder schrieb: »Es ist bereits ein Ritual geworden: Schon kurz nach den ersten Eilmeldungen wird im Netz versucht, große 52 53 54

Vgl. K. Schwarz/P. Gensing: Nach Attacke in Frankfurt: Fake-Account schürt gezielt Hass. Vgl. P. Gensing: Amazonas-Brände: Eine Verschwörungslegende und falsche Bilder. Siehe Website des ARD-faktenfinders der Tagesschau, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/.

Fact-Checking und Verifikation

Ereignisse oder Katastrophen umgehend im eigenen Sinne zu interpretieren und zu instrumentalisieren.«55 Ein Anschlag steckte hinter dem Brand in Paris jedenfalls nicht. Die Ermittler sehen bis heute keine Hinweise auf Brandstiftung und gehen davon aus, dass es sich um einen Unfall handelte.56 Auch das im Sommer 2018 viel diskutierte Video aus Chemnitz nahm sich der ARD-faktenfinder vor und bewies, dass es sich nicht um eine Fälschung handelte, wie der damalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, behauptet hatte. Wie der ARD-faktenfinder zeigte57 , ließen sich der Ort, die Bahnhofstraße in Chemnitz, und die Zeit, der 26. August 2018 gegen 17 Uhr, genau bestimmen. Ein Abgleich mit weiteren Videos auf Twitter und Aussagen von Zeugen bekräftigten diese Annahme. Das ARD-Projekt startete im April 2017 einige Monate vor der Bundestagswahl. Die erste Bewährungsprobe folgte mit dem G20-Gipfel in Hamburg, während dem zahlreiche Falschmeldungen, etwa zu angeblichen Panzereinsätzen der Bundeswehr, im Netz die Runde machten. Rund um die Bundestagswahl deckte der ARD-faktenfinder dann rechte Troll-Netzwerke auf und analysierte, wie die öffentliche Debatte und Meinungsbildung gezielt manipuliert werden sollten.58 Auch gefälschte Zitate sind immer wieder ein Thema, beispielsweise verbreitete ein AfD-Bundestagsabgeordneter im August 2019 bei einer »Pegida«Veranstaltung mehrere gefälschte Aussagen, die angeblich von Politiker*innen der Grünen stammen sollten.59 Derzeit ist der ARD-faktenfinder mit einer Vollzeitstelle besetzt, unterstützt wird das Projekt durch Beiträge und Recherchen von freien Mitarbeiter*innen, Auslandskorrespondent*innen und Fachredaktionen der ARD.

4.2

Faktencheck-Redaktion beim Recherchenetzwerk Correctiv

Die Faktenprüfer*innen vom Recherchenetzwerk Correctiv waren 2017 die ersten und über zwei Jahre die einzigen Anbieter, die in Deutschland Falschmeldungen für Facebook prüften.

55 56 57 58 59

P. Gensing/S. Stöber: Feuer in Notre-Dame: Gerüchte und Spekulationen im Netz. Vgl. Tagesschau: Notre-Dame: Parlament stimmt für schnelle Restaurierung. Vgl. P. Gensing: Videos aus Chemnitz: Keine Indizien für Fälschung. Vgl. P. Gensing: Rechte Trollfabrik: Infokrieg mit allen Mitteln. Vgl. P. Gensing: AfD-Rede bei »Pegida«: Festival der Fake-Zitate.

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Für den Correctiv-Faktencheck siebt ein von der US-Plattform bereitgestelltes Tool solche Meldungen heraus, von denen der Algorithmus annimmt, es handele sich um falsche Informationen. Facebook gelangt an diese Posts zum Beispiel durch Hinweise von Nutzer*innen und verbessert damit seine automatisierte Suche. Aufgabe der derzeit vier festen Redakteur*innen beim Correctiv-Faktencheck und seiner Community ist es, Falschmeldungen zu identifizieren und die Fakten zu recherchieren. Die Ergebnisse präsentiert die Redaktion in Form von Onlineartikeln auf ihrer Seite.60 Zu den Waldbränden im Amazonas-Regenwald entlarvte Correctiv viele Bilder, die dazu im Internet in Umlauf waren, als falsch. Ein Foto, das eine Brandschneise durch ein Waldgebiet abbildete, stammte zum Beispiel aus dem Jahr 1989, viele andere ebenfalls aus früheren Jahren.61 Herausgefunden wurde dies mit einer Rückwärtssuche mit der Bilder-Suchmaschine TinEye. Die Ergebnisse führten auf Seiten, die das Bildmaterial schon viel früher verwendet hatten und auf denen das korrekte Datum genannt war. Viele Falschmeldungen, auf die das Faktencheck-Team von Correctiv auf Facebook stößt, drehen sich um die Themen Geflüchtete und Migration. Auch die Behauptung, dass angeblich 770.000 Syrer*innen in Deutschland von Steuergeldern lebten, nahmen sich die Faktenprüfer*innen vor.62 Demnach lebten im Juni 2019 etwa 770.000 Menschen mit syrischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Doch davon gehe der Großteil einer Beschäftigung nach, habe einen Minijob, befinde sich in Ausbildung oder sei nicht erwerbsfähig, weil es sich um Kinder handelt oder um Eltern, die Kleinkinder pflegen, so das Ergebnis des Artikels. Beiträge, die Correctiv und Faktenchecker*innen in weiteren Ländern als falsch entlarven, werden Facebook zufolge63 nachrangig in den Timelines ausgespielt und erreichen dadurch deutlich weniger Menschen. Möchte ein*e Nutzer*in einen als falsch markierten Beitrag teilen, wird er*sie über die Einordnung der unabhängigen Faktenprüfer*innen informiert. Zusätzlich werden ihm*ihr alternative Artikel vorgeschlagen, die sich mit demselben Thema befassen, aber korrekt sind.

60 61 62 63

Siehe Webseite des Correctiv-Faktenchecks, https://correctiv.org/faktencheck/. Vgl. C. Helberg: Nein, diese Bilder zeigen nicht die aktuellen Brände im Amazonasgebiet. Vgl. T. Eckert: Nein, in Deutschland leben nicht 770.000 Syrer von unserem Steuergeld. Vgl. Facebook Business, Fact-Checking on Facebook: What Publishers Should Know, https://www.facebook.com/help/publisher/182222309230722.

Fact-Checking und Verifikation

Zur besseren Einordnung der Rechercheergebnisse arbeitet Correctiv mit einer siebenstufigen Bewertungsskala64 – von »richtig« über »nicht überprüfbar« zu »frei erfunden«: Ein Pinocchio mit einer kurzen Nase bedeutet, eine Behauptung ist »größtenteils richtig«, während ein Pinocchio mit einer besonders langen Nase auf eine falsche Aussage hinweist. Correctiv ist mit anderen, internationalen Fact-Checking-Angeboten gut vernetzt. Um in den Kreis der Faktenchecker*innen bei Facebook aufgenommen zu werden, muss das unabhängige International Fact-Checking Network (IFCN) ein Faktencheck-Angebot zunächst verifizieren. Das IFCN gehört zum Poynter Institute, einer renommierten, gemeinnützigen Journalistenschule mit Sitz in Florida, USA. Kriterien für eine Aufnahme sind laut Correctiv zum Beispiel, dass die jeweilige Organisation unabhängig arbeitet, ihre Quellen offenlegt und die Finanzierung transparent ist.65 Weitere Mitglieder des Netzwerks sind die Faktenprüfer*innen der französischen Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP), der USamerikanischen Associated Press (AP) oder auch FactCheck und PolitiFact aus den USA.66 Zur Europawahl 2019 kooperierte Correctiv mit 18 weiteren europäischen Fact-Checking-Organisationen im gemeinsamen Projekt FactCheckEU67 und enthüllte Falschmeldungen, die im Vorfeld der Wahl in sozialen Netzwerken auftauchten.68

4.3

Fakten checken bei der Deutschen Presse-Agentur69

Das Faktencheck-Team bei der Deutschen Presse-Agentur konzentriert sich darauf, Inhalte aus dem Internet zu prüfen. Bei Breaking-News-Lagen wie Naturkatastrophen oder Terroranschlägen ermitteln die Redakteur*innen mittels sogenannter Geolocation, ob in Sozialen Medien aufgetauchte Bilder tatsächlich an besagtem Ort aufgenommen wurden. Oder sie suchen auf Plattformen wie Facebook oder Twitter den*die Urheber*in eines Videos, um

64 65 66 67 68 69

Vgl. Correctiv: Unsere Bewertungsskala. Vgl. Correctiv: Über die Kooperation zwischen CORRECTIV.Faktencheck und Facebook. Vgl. IFCN, Verified signatories of the IFCN code of principles, https://ifcncodeofprinciples.poynter.org/signatories. Website des Projekts FactCheckEU, factcheckeu.info. Vgl. Correctiv: CORRECTIV.Faktencheck startet Fact-Checking-Projekt mit 19 europäischen Redaktionen. Vgl. Deutsche Presse-Agentur: dpa-Faktencheck: Faktencheck-Regeln.

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diesem*r weitere Fragen stellen zu können. Langfristig sollen die Expert*innen ihr Wissen im gesamten Haus weitergeben, damit jede*r Redakteur*in fit im Umgang mit sozialen Netzwerken wird und selbst Accounts und Fotos verifizieren kann. Die dpa teilt die Texte für ihre Kund*innen – in der Regel Zeitungen, Radio- und Fernsehredaktionen – in unterschiedliche Kategorien auf: in die klassische Meldung, die Zusammenfassung oder bei längeren Stücken den Korrespondent*innenbericht. Mittlerweile laufen im Agentur-Angebot auch Texte, die als Faktencheck gekennzeichnet sind. Die Redakteur*innen nehmen sich darin Behauptungen vor und bewerten sie nach eingehender Recherche als wahr oder falsch. Diese können von Politiker*innen kommen, einer anderweitig bekannten Persönlichkeit oder ganz einfach von unbekannten Nutzer*innen im Internet. In der Regel ist der Faktencheck-Artikel in die Bausteine »Behauptung«, »Bewertung« und »Fakten« aufgeteilt. Nach der Attacke am Frankfurter Hauptbahnhof im Juli 2019, bei der ein Mann eine Frau und ihren Sohn vor einen einfahrenden Zug gestoßen hat, tauchte im Internet ein angebliches Foto des getöteten Opfers auf. Die dpaRedakteur*innen machten eine Bilder-Rückwärtssuche und kamen in ihrem Faktencheck-Artikel zu dem Schluss: »Das Foto ist seit spätestens 2014 in verschiedenen Versionen im Internet zu finden.«70 Weil der Junge zu diesem Zeitpunkt noch viel jünger gewesen sein muss, kann das Foto nicht das Opfer vom Frankfurter Hauptbahnhof zeigen. Kurz vor der Europawahl im Mai 2019, tat es die dpa dem Recherchenetzwerk Correctiv gleich und trat dem Kreis externer Faktenprüfer für Facebook bei.71,72 Über die Zusammenarbeit äußert sich das Unternehmen in der Öffentlichkeit aber kaum.

70 71 72

Deutsche Presse-Agentur: Nach Attacke von Frankfurt: Falsches Opfer-Foto kursiert im Internet. Vgl. J. Stucke: Kampf gegen Fakenews. dpa wird Faktenchecker für Facebook. Vgl. Deutsche Presse-Agentur: Facebook löscht keine Beiträge im Auftrag von Correctiv.

Fact-Checking und Verifikation

4.4

Verifikations-Tools der Deutschen Welle

Die Deutsche Welle (DW) arbeitet mit mehreren Tools zur Verifikation, die das Forschungs- und Kooperationsteam73 zusammen mit externen Partnern und mit finanzieller Unterstützung der EU und Google entwickelt hat. Die Plattform Truly Media74 soll es Journalist*innen erleichtern, digitale Inhalte von Nutzer*innen auf sozialen Plattformen zu finden und im Team zu verifizieren. Die Teilnehmenden können alle auf dieselben Daten zugreifen und während der Recherche ihre Erkenntnisse in Echtzeit austauschen. In einer Checkliste sind sowohl externe als auch selbst entwickelte Tools integriert, zum Beispiel Links zu verschiedenen Anbietern für eine Bildersuche oder zum Auslesen von Metadaten. Das Tool ist mittlerweile nicht nur bei der Deutschen Welle im Einsatz, sondern wird unter anderem auch vom ZDF und Amnesty International benutzt. Ein weiteres Tool, InVid75 , vereint zahlreiche Features, die vor allem bei der Verifizierung von Videos und Bildern unterstützen sollen76 : Nutzer*innen können mit wenigen Klicks die Metadaten von Videos auf Youtube, Twitter und Facebook auslesen oder einzelne Standbilder aus einer Videosequenz herausrechnen lassen und diese in Fotodatenbanken suchen. Auch eine Lupe ist bei InVid integriert, mit der sich Journalist*innen Details im Bild noch genauer ansehen können. Im Forschungsprojekt We Verify77 wird unter anderem eine Datenbank bereits verifizierter Falschinformationen entstehen, während das Projekt Digger78 Deepfakes, also gefälschte Videos, mithilfe von Analysen des Audiomaterials erkennen soll. Die Journalist*innen bei der Deutschen Welle sind, wie in anderen Medienhäusern auch, gerade bei Breaking-News-Ereignissen mit der Herausforderung konfrontiert, dass sich Inhalte durch Soziale Medien rasant verbreiten. Während die Reporter*innen noch auf dem Weg zum Ort des Geschehens sind, laufen auf den Plattformen häufig binnen Sekunden die ersten 73 74 75 76 77 78

Siehe Website des Forschungs- und Kooperationsteams der Deutschen Welle, https://blogs.dw.com/innovation/. Plattform Truly Media auf Twitter: @trulymedia, https://twitter.com/trulymedia. Tool InVid auf Twitter, @InVID_EU, https://twitter.com/InVID_EU. InVID Verification Application, https://www.invid-project.eu/invid-verificationapplication/. Projekt WeVerify auf Twitter, @WeVerify, https://twitter.com/WeVerify. Projekt Digger auf Twitter, @DeepfakeDigger, https://twitter.com/DeepfakeDigger.

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Fotos und Videos von Menschen ein, die gerade zufällig vor Ort sind, das Geschehene mit ihrem Handy aufnehmen und direkt veröffentlichen. Aufgabe des DW-Social-Media-News-Team ist es dann, zu beurteilen, ob das von Nutzer*innen hochgeladene Material echt ist. Bei den Protesten in Hongkong 2019 konnten die DW-Journalist*innen mit einer Bilder-Rückwärtssuche schnell den richtigen Ort und Kontext von im Netz herumgereichten Fotos und Videos herausfinden. Außerhalb der Deutschen Welle und für alle zugänglich gibt es ein Verifizierungsquiz, Quiztime79 . Die Gründerin arbeitet als freie Journalistin und Trainerin hauptsächlich für die DW und stellt mit ihrem Team täglich kleine Verifizierungs- und Rechercheaufgaben zusammen. Nutzer*innen können allein oder gemeinsam mit anderen herausfinden, wo ein Video aufgenommen wurde oder manchmal auch die Distanz zwischen zwei gezeigten Orten bestimmen. Das Tool soll Nutzer*innen für Falschinformationen sensibilisieren und Medienkompetenz vermitteln.

4.5

Neues Faktencheck-Team beim ZDF

Auch beim ZDF arbeitet ein Fact-Checking-Team, das künftig dauerhaft im Einsatz sein soll. In den vergangenen Jahren waren die Redakteur*innen bereits zu Bundestags- und Europawahlen im Einsatz. Das erste FaktencheckProjekt des ZDF ging zur Bundestagswahl 2013 an den Start. Zur Europawahl 2019 sammelte das Team unter dem Label »ZDFcheck19« Onlineartikel, Social-Videos und Fernsehbeiträge zum Thema Desinformation und prüfte die Aussagen der EU-Spitzenkandidat*innen aus den ZDF-Fernsehsendungen.80 Die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Falschmeldungen auf Youtube81 wurde auf heute.de, dem OnlineNachrichtenangebot des ZDF, ebenso thematisiert wie Netzwerke von Fake-Accounts auf Facebook82 . Bei der Europawahl kamen Expert*innen aus unterschiedlichen Bereichen zusammen und begannen einige Wochen zuvor mit den Recherchen: Archivar*innen, Journalist*innen aus der aktuellen Nachrichtenredaktion, 79 80 81 82

Verifizierungstraining mit Quiztime auf Twitter, @quiztime, https://twitter.com/quiztime. Vgl. ZDF: Wie geht’s, Europa?-Die Politikeraussagen im ZDFcheck19. Vgl. S. Mündges: ZDFcheck19-Wie YouTube radikale Gedanken transportiert. Vgl. S. Mündges/U. Stoll: US-Studie zu Fakes auf Facebook-Verdächtige Accounts unterstützen AfD.

Fact-Checking und Verifikation

aus der Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen, der Wirtschafts- und der Justizredaktion. Grafiker*innen und Multimediaredakteur*innen sorgten für die bildliche Gestaltung. Heraus kamen Faktenchecks für die Website und App, Videos für Facebook und Twitter und Fernsehbeiträge für die aktuellen Sendungen des ZDF. Im neuen Team, das 2020 seine Arbeit aufgenommen hat, sollen Journalist*innen aus der Nachrichtenredaktion sowie Archivar*innen ihre Verifikationsexpertise zusammenbringen. Sie sollen gemeinsam Fotos und Videos verifizieren und über Monitoring-Tools die sozialen Netzwerke im Blick behalten. Gedacht ist die Einheit auch als Anlaufstelle für Kolleg*innen, die einen Account in den sozialen Netzwerken finden, aber nicht einschätzen können, ob dieser echt ist, oder für Fernseh-Kolleg*innen, die wissen müssen, ob sie ein bestimmtes Video eines*r Onlinenutzers*in in ihrer Sendung verwenden können.

5.

Faktencheck, wohin geht’s?

Selbstverständlich sind Faktenchecks kein Allheilmittel gegen Desinformation: Sie müssen Lügen wiederholen und verbreiten sie damit weiter, können gegenteilige Standpunkte verfestigen und erreichen häufig jene Menschen, die ohnehin schon gut informiert sind. Unabdingbar sind sie trotzdem. Denn sie schaffen Orientierung in einer (Nachrichten-)Welt, die viele Mediennutzer*innen als immer schneller, komplexer und unübersichtlicher wahrnehmen. In Deutschland haben viele Medienunternehmen dieses Bedürfnis erkannt und eigene Teams aufgebaut, die sich auf inhaltliche Faktenchecks und die Verifikation von digitalen Inhalten fokussieren. Diese folgen dem Anspruch, gesicherte und nachweisbare Tatsachen zu liefern und verschiedene Perspektiven zu einem Thema darzustellen – eben in jenem Maße, wie sie in einer Gesellschaft oder der wissenschaftlichen Forschung tatsächlich relevant sind. Faktenchecker*innen sehen sich aktuell mit dem Problem konfrontiert, dass es über die Verbreitung falscher oder irreführender Informationen in sozialen Netzwerken wenige Erkenntnisse gibt: Wie viele Falschmeldungen gibt es überhaupt, welche Akteur*innen verbreiten sie, wie groß ist der Einfluss auf politische Debatten? All das sind einer Studie der Berliner Denk-

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fabrik Stiftung Neue Verantwortung83 zufolge noch weithin unbeantwortete Fragen, denn: »Der Zugriff auf die dafür benötigten Daten von Facebook, Twitter, Youtube, Instagram und anderen Plattformen ist derzeit stark eingeschränkt, so dass Untersuchungen der digitalen Öffentlichkeit quasi blind sind.«84 Und eine weitere Herausforderung birgt die Arbeit mit Desinformation: Einige Menschen sind an objektiven Fakten nicht mehr interessiert, bei ihnen stehen gefühlte Wahrheiten und persönliches Empfinden im Mittelpunkt. Faktenchecker*innen bemühen sich deshalb darum, emotional geführte Debatten mit sachlichen Argumenten zu entschärfen – quasi als kleinstem gemeinsamen Nenner einer Gesellschaft. Letzten Endes aber geht es um mehr als journalistische Techniken. Es geht um die Glaubwürdigkeit von Medienhäusern und darum, den Menschen Journalismus verständlicher zu machen und sich besser zu erklären. Arbeitsabläufe müssen genauso wie Fehler transparent gemacht werden. Und dem Publikum muss – so hört man es in Diskussionen zum Thema seit Jahren – Kompetenz im Umgang mit neuen und alten Medien vermittelt werden. Die US-Journalistin Mandy Jenkins formuliert es treffend, wenn sie schreibt: »Wenn das Publikum den Beweggründen und Prozessen der Medien nicht mehr vertraut, hat das zur Folge, dass es wichtiger journalistischer Arbeit wie den Faktenchecks genauso wenig vertraut.«85 Kurzum und positiv ausgedrückt, bedeutet das: Um Faktenchecks glauben zu können, müssen die Menschen den Medienhäusern glauben.

Literatur Bellingcat Investigation Team: »MH17 – The Open Source Investigation, Three Years Later«, in: Bellingcat, siehe: https://www.bellingcat.com/wpcontent/uploads/2017/07/mh17-3rd-anniversary-report.pdf Bellingcat Investigation Team: »Open Source Survey of Alleged Chemical Attacks in Douma on 7th April 2018«, in: Bellingcat, siehe: 83 84 85

Vgl. A. Sängerlaub: Der blinde Fleck digitaler Öffentlichkeiten. Ebd., S. 2. Übersetzung durch die Autorin. Siehe M. Jenkins: Why do people believe fake news? Zitat im Original: »If the audience doesn’t trust the media’s motives or processes, it follows that it also wouldn’t have faith in such important journalistic practices as factchecking.«

Fact-Checking und Verifikation

https://www.bellingcat.com/news/mena/2018/04/11/open-source-surveyalleged-chemical-attacks-douma-7th-april-2018/, vom 11.04.2018. Cook, John/Lewandowsky, Stephan: The Debunking Handbook. St. Lucia, Australia: University of Queensland. 2011. Siehe: https://www. skepticalscience.com/docs/Debunking_Handbook.pdf Correctiv: »Unsere Bewertungsskala«, in: correctiv.org, siehe: https://correctiv.org/faktencheck/ueber-uns/2018/10/04/unsere-bewertungsskala vom 04.11.2018. Correctiv: »Über die Kooperation zwischen CORRECTIV.Faktencheck und Facebook«, in: correctiv.org, siehe: https://correctiv.org/faktencheck/ ueber-uns/2018/12/17/ueber-die-kooperation-zwischen-correctivfaktencheck-und-facebook vom 17.12.2018. Correctiv: »CORRECTIV.Faktencheck startet Fact-Checking-Projekt mit 19 europäischen Redaktionen«, in: correctiv.org, siehe: https://correctiv.org/ faktencheck/ueber-uns/2019/03/18/correctiv-faktencheck-startet-factchecking-projekt-mit-19-europaeischen-redaktionen vom 18.03.2019. Deutsche Presse-Agentur: »dpa-Faktencheck: Faktencheck-Regeln«. Siehe: https://www.dpa.com/de/unternehmen/faktencheck/#faktencheckregeln Deutsche Presse-Agentur: »dpa stärkt Faktencheck: Neue Position des Verification Officers für Stefan Voß«, in: dpa Presseportal, siehe: https://www. presseportal.de/pm/8218/3632410 vom 10.05.2017. Deutsche Presse-Agentur: »Facebook löscht keine Beiträge im Auftrag von Correctiv«, in: dpa Presseportal, siehe: https://www.presseportal.de/pm/ 133833/4313766 vom 03.07.2019. Deutsche Presse-Agentur: »Nach Attacke von Frankfurt: Falsches Opfer-Foto kursiert im Internet«, in: dpa Plattform, siehe: http://docs.dpaq.de/15179190801fcfotohbfjunge.pdf vom 01.08.2019. Eckert, Till: »Nein, in Deutschland leben nicht 770.000 Syrer von unserem Steuergeld«, in: correctiv.org, siehe: https://correctiv.org/faktencheck/ migration/2019/07/31/nein-in-deutschland-leben-nicht-770-000-syrervon-unserem-steuergeld vom 31.07.2019. Gensing, Patrick: »Rechte Trollfabrik: Infokrieg mit allen Mitteln«, in: tagesschau.de, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/inland/organisiertetrolle-101.html vom 13.02.2018. Gensing, Patrick: »Videos aus Chemnitz: Keine Indizien für Fälschung«, in: tagesschau.de, siehe: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/inland/ maasen-video-chemnitz-101.html vom 07.09.2018.

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Wissenschaft in den Nachrichten Quadratur des Kreises? Annette Leßmöllmann

1.

Wissenschaftsnachrichten und Wissenschaft in den Nachrichten

Was haben die Brände in Australien mit dem Klimawandel zu tun? Werden wir auf dem Mars leben? Ist Krebs heilbar? Die Wissenschaft stellt sich viele Fragen, die von öffentlichem Interesse sein können. Zudem berühren die großen Menschheitsfragen (also die Grand Challenges) wie Klimawandel, Agrartechnologien, Wasserwirtschaft, Ressourcenmanagement, Migration etc. viele Forschungsbereiche. Daher findet sich Wissenschaft in vielfältiger Form in den Nachrichten, und nicht nur in den ausgewiesenen Wissenschaftsressorts. Die Verwissenschaftlichung der Welt1 hat dazu geführt, dass auch im Sport (zum Beispiel Dopingforschung), in der Wirtschaft (etwa experimentelle Armutsforschung), aber auch im Alltag der Menschen (Ernährung, Bildung, Schule, Sprache etc.) Wissenschaft eine Rolle spielt. Die Nachrichtenberichterstattung ist eine Möglichkeit, wie der Journalismus seine Scharnierfunktion zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit wahrnehmen kann. Wissenschaft kann dabei in sehr unterschiedlicher Form journalistisch vermittelt werden: Ein Teil der Wissenschaftsnachrichten findet sich in der forschungsnahen Berichterstattung (»popularization mode«2 ), die über aktuelle Forschungsergebnisse oder -vorhaben ebenso berichtet wie über neue Methoden oder Forschungsprojekte oder über wissenschaftliches Fehlverhalten wie gefälschte Studien. Ein solcher forschungsnaher Nachrichtentyp findet sich häufig in Zeitschriften oder Sendungen, die sich explizit der Wissenschaft widmen, sich aber darin unterscheiden, wie nah sie an der 1 2

P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? M.S. Schäfer: Wissenschaft in den Medien.

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Annette Leßmöllmann

Wissenschaft bleiben und wie viel Wissen und Konzentrationswillen sie bei ihren Nutzer*innen voraussetzen: So unterscheidet sich etwa eine Meldung von spiegel.de von einer Nachricht der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft durch die Sprach-, aber auch die Themenwahl. Je publikumsnäher (»medialization mode«), desto eher greifen Nachrichten Themen aus Gesellschaft oder aktueller Medienagenda auf. Die mit »Wissenschaft« oder »Wissen« überschriebenen Rubriken oder Sendungen ähneln sich wiederum in ihrer Schwerpunktsetzung, die sich tendenziell Naturwissenschaft, Technik und Medizin widmet. Geistes- und Sozialwissenschaften werden eher dann aufgegriffen, wenn sie empirisch arbeiten, so dass sich über Studien aus diesen Bereichen in gleicher Weise berichten lässt wie über Studien aus den Naturund Technikwissenschaften. (Ein Beispiel für Nachrichtenjournalismus, der sozialwissenschaftliche, empirische Studien aufgreift und als Hard oder Soft News aufbereitet, findet sich im relativ neuen Magazin Katapult.) Blickt man allerdings über die Wissenschaftsressorts hinaus und bezieht auch das Feuilleton mit ein3 , sind Geistes- und Sozialwissenschaften sogar stärker in den Medien präsent als Natur- und Technikwissenschaften. Aber auch in den Wissenschaftsressorts steigt der Anteil der Berichterstattungen, die sich den Geistes- und Sozialwissenschaften widmen. Zudem ist der Anteil an Medizinund Gesundheitsthemen vergleichsweise hoch. Häufig hat »Medizin« oder »Gesundheit« sogar eine eigene Unterrubrik im Wissenschaftsteil wie etwa bei spiegel.de und faz.net die Rubrik »Medizin«. Dabei werden Nachrichten aus dem Wissenschaftsressort ähnlich variantenreich präsentiert wie Meldungen aus anderen journalistischen Ressorts: Als Kurznachrichten, als angefeaturter Kurzbericht (etwa bei Spektrum der Wissenschaft oder Bild der Wissenschaft) oder als Nachrichtenstrecke (zum Beispiel »Meldungen aus der Wissenschaft« der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell). Wissenschaftsnachrichten haben zwei Möglichkeiten, die Ressortgrenzen zu verlassen: Zum einen gelangen sie bei entsprechend hohem Nachrichtenwert auch in die klassischen Nachrichtenrubriken oder -sendungen, in denen sonst andere Themen dominieren. So kommt die Geburt von chinesischen Zwillingen, deren Erbgut mithilfe der sogenannten Genschere CRISPR/Cas verändert wurde, in die Tagesschau4 . Zum anderen wird Wissenschaft in vielen anderen Ressortbereichen relevanter, so dass auch im Wirtschaftsteil über 3 4

H.P. Peters: Gap between science and media revisited: Scientists as public communicators. O. AutorIn: Forschung in China.

Wissenschaft in den Nachrichten

forschende Unternehmen und Studien berichtet oder im Sportteil im Rahmen der Dopingberichterstattung eine Forscherin interviewt wird. Wissenschaftsnachrichten kommen nicht nur als Publikations- oder Ereignisberichterstattung vor, die informieren oder orientieren will. Weitere Funktionen ergeben sich auch daraus, dass Wissenschaftsjournalismus nicht nur informiert, sondern auch Rat gibt und unterhält. Solche ratgebenden Nachrichten finden sich zum Beispiel im Sonntagsteil der Tageszeitung zu Gesundheitsthemen oder in der Apotheken Umschau. Unterhaltsam sind Wissenschaftsnachrichten immer dort, wo Wissenschaft kurios wird oder etwas Putziges zum Beispiel aus der Zooforschung zu berichten ist. Ein Merkmal von Wissenschaftsnachrichten ist der erhöhte Erklärungsund Kontextualisierungsbedarf5 . Die Nachricht braucht also eine Anmoderation oder einen Einstieg, der zunächst die Relevanz der Nachricht verdeutlicht (»xy war schon immer ein Problem, weil …«, »Forscher*innen haben jetzt eine Lösung: …«). Die Anforderung an die Nachrichtenredakteurin ist es dabei, sehr genau den Nachrichtenwert herauszufiltern und die Relevanz passend zum Medium und zielgruppengerecht auf den Punkt zu bringen – ohne die Informationen zu verfälschen. Obwohl die Wissenschaft nach wie vor ein Nischendasein in der Berichterstattung führt, boomte sie als Ressort/Rubrik in den frühen Zehnerjahren sogar6 und ist heute, trotz Sparzwang und Redaktionsumstrukturierungen, aus der Nachrichtenlandschaft nicht mehr wegzudenken. Ihre Funktion ist dabei vielfältig und hängt stark vom jeweils adressierten Publikum und seinen (angenommenen) Interessen ab: Wissenschaftsnachrichten können Orientierung bieten, in Erstaunen versetzen, Erfolge und Fortschritte mitteilen, Hoffnung auf Nutzwert machen oder tatsächlichen Nutzwert vermelden; dies können sie bei einem jüngeren Publikum (zum Beispiel die Wissensnachrichten von Deutschlandfunk »Nova«) ebenso wie bei einem älteren, sie können es aus einer forschungsnahen oder alltagsnahen Perspektive, in wissenschaftlicher Alltagssprache für Fast-Expert*innen ebenso wie für Laien – oder für Kinder. Wissenschaft und Journalismus kommen also auf vielfältige Weise zusammen: Als Wissenschaftsnachricht im engeren oder Wissenschaft in (allen möglichen) Nachrichten im weiteren Sinne; als Soft News oder Hard News,

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H. Wormer/S. Karberg: Wissen. Basiswissen für die Medienpraxis. C. Elmer/F. Badenschier/H. Wormer: Science for Everybody?

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Annette Leßmöllmann

als Kurznachricht oder in Berichten – und in unterschiedlichen Verbreitungswegen (etwa lokal, regional7 oder national). Es hat sich also eine wohlorganisierte Routine herausgebildet nach etablierten journalistischen Programmen, ablesbar auch daran, dass wissenschaftsjournalistische Studien- und Ausbildungsgänge mit Übungen im Schreiben von Wissenschaftsnachrichten starten und Praktikant*innen in Wissenschaftsredaktionen sich zum Einstieg häufig erstmal in dieser Kunst beweisen müssen. Gibt es also keine Probleme für den WissenschaftsNachrichtenjournalismus oder für die Wissenschaft in den Nachrichten? Ganz im Gegenteil: Die Wissenschaft kann Redakteur*innen vor die kaum zu bewältigende Aufgabe stellen, in knapper Zeit das Richtige zu tun. Eine sehr große Herausforderung besteht darin, dass Informationen aus der Wissenschaft, die Geltungsanspruch erheben, überall zu finden sind: Die digitale Welt schwimmt in News, die auch Pseudo- oder Fake News sein können. Das stellt auch Nachrichtenredakteur*innen vor die Herausforderung, nicht auf schlechte oder falsche Pressemitteilungen, übertriebene Behauptungen oder interessengeleitete Pseudostudien hereinzufallen. So hat es die geschickt an einzelne Journalist*innen verbreitete Information, genveränderter Mais verursache Krebs, 2012 in Windeseile selbst in seriöse Nachrichtenmedien geschafft: Der Verbreiter der Information, der Molekularbiologe Gilles-Eric Séralini, hatte sowohl die Qualitätskontrolle der Wissenschaft geblendet als auch den Sensationshunger der Medien bedient und eine höchst fragwürdige Studie in die Nachrichten manövriert, die einer späteren strengen Überprüfung durch Kolleg*innen nicht standhielt8 . Auch Ergebnisse von Umfragen wie solche, die der Verein für Deutsche Sprache 2019 in Auftrag gab und deren Ergebnis er so interpretierte, als lehne die Mehrheit der Deutschen geschlechtergerechte Sprache ab9 , landeten mit dieser Interpretation in vielen Qualitätsmedien und wurden in den Sozialen Medien verbreitet – bevor aus der Wissenschaft Korrekturen kommen konnten.10 Im Folgenden sollen deshalb die unterschiedlichen Herausforderungen für Journalist*innen im Umgang mit Wissenschaft und Forschungsergebnissen dargestellt und Lösungsansätze aufgezeigt werden.

7 8 9 10

Etwa C. Merkel/H. Wormer: Wie regional muss regional sein? H. Charisius: Der Fall Séralini. Verein Deutsche Sprache: Bundesbürger haben Nase voll von Gendersprache und debatte. H. Lobin: Die Ablehnung von »Gendersprache« – medial produziert.

Wissenschaft in den Nachrichten

2.

Herausforderung 1: Wissenschaft und Journalismus – Ziehen am gleichen Strang?

Nachrichten beziehen sich auf Ereignisse oder Tatsachen. Forschung bemüht sich darum, Tatsachen festzustellen, und erzeugt dabei auch Ereignisse, etwa Entdeckungen oder Experimente. Sollten sich Wissenschaft und Nachrichtenjournalismus daher nicht hervorragend verstehen? Die vermeintliche Nähe der beiden löst sich auf, wenn man sich die täglichen Entscheidungen in einer Nachrichtenredaktion und die inneren oder redaktionellen Konflikte anschaut, die diese hervorrufen, wie es Senja Post11 getan hat. Der Entscheidungsdruck wächst, wenn gewählt werden muss: ein Ergebnis als eindeutig darstellen – oder die Einschränkungen und Relativierungen übernehmen, welche die Forscher*innen vorsorglich in ihr Paper geschrieben haben? Oder: über spektakuläre, negative Einzelfälle berichten – statt über Regelfälle oder Mittelwerte, die die Wissenschaft häufig liefert? Manchmal stellt sich auch die Frage: Wie über ein Ergebnis berichten, das zwar eindeutig ist, aber aus Perspektive der Nachrichtenjournalist*innen vielleicht nicht den Erwartungen der Nutzer*innen entspricht? Ein Beispiel ist die NASA-Studie12 , die zu dem Ergebnis kommt, die Welt sei grüner geworden. Wie darüber berichten, ohne im Kopf der Nutzer*innen den Eindruck entstehen zu lassen, die Veränderung des Weltklimas durch CO2 sei nur ein Irrglaube (wie es durch Klimawandelskeptiker auch sogleich propagiert wurde13 ). Nachrichtenjournalist*innen haben einen anderen Job zu tun als Forscher*innen, auch wenn etwa der Präzisionsjournalismus empfiehlt, dass erstere mit den gleichen empirischen Methoden und dem gleichen Objektivitätsideal arbeiten sollten wie letztere. Untersuchungen wie die von Post zeigen, dass die Berufs- und Handlungslogiken im Journalismus dazu führen können, dass zum Beispiel eher zugespitzt-eindeutig berichtet wird als relativierend, aber dafür wissenschaftlich genauer. Auch wenn es Wissenschaft und Journalismus letztlich um Wahrheitstreue geht, spielen im Nachrichtenjournalismus noch andere Faktoren hinein, die Auswahl und Aufbereitung formen: So müssen Nachrichten überhaupt erst einmal die Aufmerksamkeit

11 12 13

S. Post: Wahrheitskriterien von Journalisten und Wissenschaftlern. A. Tabor: Human Activity in China and India Dominates the Greening of Earth, NASA Study Shows. F. Vahrenhold: Der »Klimakiller« macht die Erde grüner.

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ihrer Nutzer*innen gewinnen, diese auf den Kern der Nachricht lenken, ihnen relevant und bedeutsam vorkommen, für sie interpretierbar sein, indem sie beispielsweise Anknüpfungspunkte an ihre gesellschaftliche Realität bieten, etc. Diese Aufgaben stellen sich Forscher*innen im Labor nicht. Die Handlungslogik des Nachrichtenjournalismus kann nun dazu führen, dass sich Wissenschaftler*innen falsch dargestellt finden. Die Akkuratheitsforderung ist im Wissenschaftsjournalismus eine vielerforschte Kategorie: Wie sachgerecht berichten Wissenschaftsjournalist*innen? Verbunden mit der Sorge, dass sie dieser Forderung nicht gerecht werden. Wissenschaftler*innen sind verständlicherweise sehr daran interessiert, dass über ihre Arbeit inhaltlich korrekt berichtet wird, und die Lamenti über falsche oder verzerrte Wiedergabe sind Legion. Auch in der Forschung wird die Qualität der nachrichtlichen Berichterstattung über Wissenschaft gerne an der Sachgerechtigkeit gemessen14 . Und ist nicht die Kernsubstanz der Nachricht der Tatsachenbezug? Eine Nachricht, die nicht wahr ist, wäre ja Fake News.15 Doch wie Senja Post und auch schon Matthias Kohring16 herausgearbeitet haben, beugt sich der Wissenschaftsjournalismus nicht allein dem Wahrheitsanspruch der Wissenschaft. Vielmehr muss er seinen Leser*innen, Hörer*innen oder User*innen dienen. Hauptsächlich muss er die gesellschaftliche Funktion übernehmen, den Rückkanal aus dem Publikum zu öffnen: Er beobachtet die Bedürfnisse der Gesellschaft und reagiert darauf. Er ist also nicht ein Popularisierer, Verständlichmacher, der nur »top down« in einfachen Worten vermittelt, was die Wissenschaft ihm vorgibt. Nach Kohring ist es seine Kernaufgabe, für Vertrauen in die Wissenschaft zu sorgen. Allerdings werden im Sinne der genannten Scharnierfunktion Tatsachen möglicherweise anders aufbereitet als in der Wissenschaft, es werden andere Aspekte betont oder vernachlässigt. Es gibt also einen journalistischen und einen wissenschaftlichen Zugriff auf Ergebnisse und Erkenntnisse aus der Wissenschaft.17 Hinzu kommt: Je nachdem, wie stark die Nachrichtenredakteurin sich als unabhängige Journalistin sieht, wird sie ein wissenschaftliches Ergebnis oder Ereignis möglicherweise sehr skeptisch begleiten – hat aber gleichzeitig die journalistische Pflicht, bei den Tatsachen zu bleiben. Das macht wissenschaftsbezogenen Nachrichtenjournalismus so herausfordernd.

14 15 16 17

S. Post: Wahrheitskriterien von Journalisten und Wissenschaftlern, S. 19. F. Zimmermann/M. Kohring: »Fake News« als aktuelle Desinformation. M. Kohring: Wissenschaftsjournalismus. S. Post: Wahrheitskriterien von Journalisten und Wissenschaftlern.

Wissenschaft in den Nachrichten

Ein zweiter Aspekt des möglichen Konflikts zwischen Wissenschaft und Nachrichten ist, dass Nachrichtenredaktionen über Aktuelles berichten, das heißt zum Beispiel über kürzlich erschienene Publikationen. Frische Publikationen sind zwar, wenn sie gut sind, peer reviewed und durch diverse qualitäts- und wissenschaftlichkeitsfördernde Prozesse gegangen, aber sie sind trotzdem noch kein Lehrbuchwissen, das nach vielen Debatten getestet, vielleicht sogar reproduziert, als gesichert gilt.18 Neue Ergebnisse sind mit Unsicherheiten, Ungewissheiten behaftet. Formulierungen wie »Wissenschaftlerinnen der Universität X haben bewiesen, dass …«, die dann mit einem einzigen Experiment dieser Wissenschaftlerinnen untermauert werden, sind deshalb nicht nur wissenschaftstheoretisch heikel (strenggenommen genügen nur mathematische Beweise dieser strengen Anforderung an Gültigkeit), sondern missachten auch den wissenschaftlichen Erkenntnisweg. Warum ist das so? Wenn eine neue Studie erscheint, kann es durchaus passieren, dass die Forscher*innen vom Fach sagen: »Naja, das ist halt so ein Ergebnis.« Oder: »Eine Studie ist keine Studie.« Oder: »Das müssten wir erstmal reproduzieren.« Wie nun darüber berichten, ohne mit vielen »Wenns« und »Womöglichs« den Nachrichtenwert infrage zu stellen oder sogar den wissenschaftlichen Wert zu schmälern? Wie einer Studie nicht ungerechtfertigt ein Faktizitätsmäntelchen umhängen, so dass Leser*innen/User*innen/Hörer*innen denken: »Aha, das hat die Wissenschaft also nun festgestellt?« Plötzlich ist das Studienergebnis, zumindest in der Mediensphäre und vielleicht auch für die/den Nutzer*in (je nach seiner Wissenschaftskompetenz) »wissenschaftlich betrachtet belegt«. Deswegen ist die Berichterstattung über aktuelle Forschung immer ein Drahtseilakt. Die Kunst besteht darin, die Ergebnisse zu benennen – aber dabei ihre Vorläufigkeit zu betonen, ohne dabei die Nachricht zu verwässern. Das macht den Job des wissenschaftlichen Nachrichtenredakteurs zu einer Herausforderung. Wie Lehmkuhl19 nachzeichnet, retten ihn dabei nicht 18

19

Eine Ausnahme bilden Metastudien, die – im Sinne der oben genannten, von der Wissenschaft geforderten Akkuratesse von Forschern – immer wieder als möglichst einzige Quelle von Wissenschaftsjournalist*innen gesehen werden, zum Beispiel Steven Pinkers Tweet von 2014: »Lesson for sci journalists: Stop reporting single studies, no matter how sexy (these are probably false). Report lit reviews, meta-analyses« (siehe https://twitter.com/sapinker/status/495077560787927040). M. Lehmkuhl: Komplexität der Wissenschaft als Herausforderung für den Wissenschaftsjournalismus, S. 204.

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immer die journalistischen Entscheidungsroutinen aus der Problematik, das Richtige, weil Tatsachenbezogene, aus der überfließenden Wissenschaftsquelle (siehe unten) herauszufiltern. Denn es kann durchaus sein, dass eine Expertin genau das Gegenteil dessen sagt, was eine andere behauptet. Es gibt widersprüchliche Publikationen, was beispielsweise auf unterschiedliche Methoden oder Grundgesamtheiten zurückgeführt werden kann. Was aber ist in einem solchen Fall dann genau die Nachricht: Dass es zwei widersprüchliche Ergebnisse gibt? Das wäre möglich, wenn der Nachrichtenfaktor »Konflikt« bedient werden soll, könnte aber wiederum schlimmstenfalls zur Verwirrung beim Publikum führen, das sich Orientierung wünscht. Falls die Nachrichtenredakteurin sich aber nun doch für eines der beiden Papers entscheidet, braucht sie dafür eine Entscheidungsgrundlage. Eine könnte sein, dass sie für eine Lokalzeitung schreibt, die häufig als redaktionelle Routine »Quellen vor Ort« vorgeben, und daher das Paper von der örtlichen Universität wählt. Dadurch bedient die Redakteurin die redaktionelle Routine richtig. Aber hat sie auch über eine Tatsache berichtet? Aus all den genannten Gründen ist das Schreiben guter Wissenschaftsnachrichten eine anspruchsvolle Aufgabe und Tätigkeit, weil es eben gerade nicht reicht, einfach nur verständlich und kurz zu notieren, was die Wissenschaft herausgefunden hat. Denn zum einen liefert die Wissenschaft nicht nur Wissen, sondern steigert gleichzeitig, paradoxerweise, auch Ungewissheit. Und zum anderen müssen Nachrichtenredakteur*innen anschlussfähige Informationen vermitteln, die Orientierung in einer komplexen Welt ermöglichen – ein Kerngeschäft, dem die Wissenschaft nicht immer in die Karten spielt.

3.

Herausforderung 2: Forschungs- und PR-Tsunami

Es gibt immer mehr Forschung. Nach dem UNESCO Science Report 2015 stieg die Zahl der Forschenden (Vollzeitäquivalente) zwischen 2007 und 2015 um 21 Prozent und die Zahl der jährlichen Publikationen von 1.029.471 im Jahr 2008 auf 1.270.425 im Jahr 2014.20 Je nach Messverfahren ist von einem Anwachsen der Publikationsanzahl um 3 Prozent oder sogar 8-9 Prozent pro

20

F. Schlegel (Hg.): UNESCO Science Report, S. 36.

Wissenschaft in den Nachrichten

Jahr die Rede21 . Zudem ist die Publikationslage pluraler, durch Open-AccessPublikationen teilweise auch leichter zugänglich, aber auch unübersichtlicher geworden, so dass die journalistische Qualitätskontrolle schwieriger wird. So gibt es etwa verschiedene Typen von Open Access Journals, die das gesamte Qualitätsspektrum abdecken: Von prestigereich und peer reviewed (etwa PLoS one) bis hin zu fragwürdigsten Angeboten wie »predatory journals«. Zudem haben sich die Publikationstypen vervielfältigt: Einige Forscher*innen (etwa in den USA) twittern oder bloggen, was für Journalist*innen auf Themensuche eine relevante Quelle sein kann (zum Beispiel das Klima-Blog www.realclimate.org oder das »Language Log«22 ). Es ist aber nicht nur die Wissenschaft, die viel produziert. Bevor eine Redaktion überhaupt mit Journalartikeln, Büchern, Konferenzbeiträgen oder anderen Primärpublikationen aus der Wissenschaft in Kontakt kommt, wird sie mit Pressemitteilungen, Hochschulmagazinen und anderen aufwendigen PR-Produkten bombardiert23 , aus denen sie auswählen muss. Dieser Zustand steht in einem merkwürdigen Missverhältnis zu oftmals vergleichsweise kleinen Wissenschaftsredaktionen, die in finanziell schwierigen Zeiten mit knapper werdenden Ressourcen zu kämpfen haben24 – aber natürlich dennoch an dem Maß an Aufmerksamkeit gemessen werden, das sie, insbesondere online, erreichen. Wenn sich die Redaktion durch diesen Materialwust geboxt hat, wird sie (hoffentlich) versuchen, die Primärquellen aus der Wissenschaft zur Kenntnis zu nehmen – und trifft dort, sofern die Publikation nicht offen zugänglich ist, auf ein teilweise horrendes Preisgefüge. Im Zweifel entscheidet also der redaktionelle Geldbeutel, in welche Originalquelle die Nachrichtenredakteurin schauen kann. Ganz besonders heikel wird diese Lage bei der Vielzahl von Studien, die von Interessensgruppen beauftragt werden, wie die erwähnte Umfrage des Vereins für Deutsche Sprache über die vermeintliche »Gendermüdigkeit« der Deutschen. Wenn sie mit viel Aplomb im Netz gepuscht werden, weil sie möglicherweise findig auf den ersten Treffern der Suchmaschinen landen, und wenn ihr Nachrichtenwert hoch wirkt, weil sie vermeintlich 21

22 23 24

R. van Noorden: Global scientific output doubles every nine years; siehe auch L. Bornmann/R. Mutz: Growth rates of modern science: A bibliometric analysis based on the number of publications and cited references. Siehe: https://languagelog.ldc.upenn.edu/nll/?p=45937. Hier werden Themen wie etwa das Sprachensterben diskutiert, die auch in den Nachrichten vorkommen. K. Zinkant: Die Forschung ist zu viel auf Sendung. O. AutorIn: Offener Brief an den WDR: »Gesellschaft braucht Wissenschaft!«

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einen Publikumsnerv treffen – wer schaut dann gründlich nach, ob in der Umfrage überhaupt abgefragt wurde, was in der Pressemitteilung behauptet wird?25 Kurz: Die Quellenlage in der Wissenschaft ist äußerst komplex.26 Aus diesem, teilweise mit starken Interessen behafteten, digital präsenten Überangebot alles nachrichtlich Relevante auszuwählen, ist eine unmögliche Aufgabe, deren Bewältigung durch finanzielle, zeitliche und personelle Ressourcen begrenzt wird. Dabei ist die Frage, was eine Redaktion für ihre Nutzer*innen als relevant erachtet, alles andere als trivial: Wie wählen Wissenschafts-Nachrichtenredakteur*innen aus? Empirisch gezeigt wurde bereits, dass die Zuweisung eines Nachrichtenwertes an ein Ereignis durch eine Redaktion stark durch redaktionelle Routinen und innerredaktionelle Vereinbarungen, aber auch Strukturen geformt wird.27 Von der Art der internen Organisation einer Medieninstitution hängt beispielsweise ab, ob die Wissenschaftsredaktion eine Art »Lexikonredaktion« ist, die andere Redaktionen im Haus berät – und damit unter anderem mögliche Fehler verhindern kann; ob sie an redaktionellen Abstimmungsprozessen beteiligt ist, in denen zum Beispiel über die Aufmacher- oder Startseite entschieden wird, oder ob (und in welcher Qualität) eine Wissenschaftsnachricht in die Politiknachrichten gelangt. Um mit dem wissenschaftlichen Überangebot klarzukommen, braucht es reflektierte redaktionelle Routinen, so dass trotz des strukturellen Defizits relevante Nachrichtenstrecken erzeugt werden können. Zudem braucht es eine gewisse redaktionelle Agilität, vorhandene Routinen im Tagesgeschäft anzupassen. Ein reines Sich-Verlassen auf die Top-Magazine Nature und Science führt letztlich dazu, ähnlich zu berichten wie andere Konkurrenten auf dem Nachrichtenmarkt. Umgekehrt kann es natürlich sein, dass sich eine Redaktion auf diese Chronistenpflicht beruft, die ihren User*innen/Leser*innen/Hörer*innen eben gerade diese Top-Magazine nahebringt – und die Sperrfristen, die diese Publikationen üblicherweise verhängen, nutzen, um die jeweils beste Berichterstattung »herauszuholen«.

25 26 27

H. Lobin: Die Ablehnung von »Gendersprache« – medial produziert. M. Lehmkuhl: Komplexität der Wissenschaft als Herausforderung für den Wissenschaftsjournalismus, S. 204. Siehe zum Beispiel die Untersuchungen von Lublinski (2004) für Wissenschaft im Hörfunk; Vicari (2007) für Wissenschaft in vier Printredaktionen.

Wissenschaft in den Nachrichten

Die Stärke der Nachrichtenredaktion ist also, sich Auswahlkriterien zurechtzulegen. Im redaktionellen Alltag werden Themen nach unterschiedlichen Kriterien ausgewählt. Lublinski konnte beispielsweise für den Hörfunk zeigen, dass Wissenschaftsmeldungen unter anderem dazu genutzt werden, um zur Gesamtsendung komplementäre Themen unterzubringen und so eine gute Mischung zu erzeugen.28 Vicari29 zeigte in seiner Untersuchung, dass Wissenschafts-Nachrichtenredakteur*innen sich häufig selbst als die »erste Leserin« sehen und danach auswählen, was sie begeistert, überrascht oder was ihnen schlicht gefällt. Badenschier und Wormer ermittelten, dass sich dabei verschiedene Nachrichtenfaktoren entwickeln und in Erscheinung treten.30 Auch wenn es noch keine ausreichende oder vollständige empirische Rekonstruktion von Nachrichtenfaktoren im Wissenschaftsjournalismus gibt31 , so konnte zumindest das Entscheidungsverhalten in den Wissenschaftsredaktionen überregionaler Qualitätszeitungen in Bezug auf die ausgewählten Nachrichten abgelesen werden. Drei Faktoren scheinen zentral zu sein: (1) die (gesellschaftliche) Relevanz eines wissenschaftlichen Ergebnisses (sei es politisch, wirtschaftlich, ethisch etc., aber auch die rein wissenschaftliche Bedeutung); (2) der »StaunFaktor« und (3) der Nutzwert-Faktor. Weitere Kriterien können sein: Ein Thema passt in die Themenmischung der Nachrichtenstrecke (siehe oben) oder ein aktueller Anlass gibt den Auslöser. Für den Hörfunk stellte Lublinski bereits fest, dass neben aktuellen Anlässen auch zeitlose, aus anderen Gründen als relevant erachtete Themen oder »latent aktuelle« Themen, die »irgendwie in der Luft liegen«, aufgegriffen werden.32 Hinzu kommen Themen, die sich in allgegenwärtige Themenkarrieren einsortieren (etwa die Grand Challenges). In Ausnahmefällen »treten« Nachrichtenredakteur*innen ein Thema »los«, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. In ganz seltenen Fällen arbeiten sie investigativ. Damit stellen die Auswahlkriterien in Form von Nachrichtenfaktoren, die Journalist*innen in einem wissenschaftlichen Ereignis oder Ergebnis sehen, nicht komplett andere dar als in anderen Journalismen auch, sie sind aber anders ausgeprägt. Insbesondere der Faktor »Aktualität« ist in der Wissenschaft 28 29 30 31 32

J. Lublinski: Wissenschaftsjournalismus im Hörfunk, S. 174. J.E. Vicari: Unter Wissensmachern. H. Wormer/F. Badenschier: Issue Selection in Science Journalism: Towards a Special Theory of News Values for Science News? M.S. Schäfer: Wissenschaft in den Medien, S. 198. J. Lublinski: Wissenschaftsjournalismus im Hörfunk, S. 288.

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etwas verbrämt, da eine Publikation nur eine Art Quasi-Aktualität erzeugt, weil das eigentliche Ereignis, die Erkenntnis, Messung oder der Theorieaufbau weit vor Publikationszeitpunkt geschahen und sich womöglich längst weiterentwickelt haben. Wissenschafts-Nachrichtenredakteur*innen können also durchaus auswählen, aber sie müssen dabei in erheblichem Maße ihren Redaktionsroutinen einerseits und dem Wissenschaftsbetrieb andererseits vertrauen. Denn wenn dieser Irrelevantes oder Falsches auf den Radar der Redaktionen hebt, dann ist die Gefahr groß, dass dieses von den Medien verbreitet wird.

4.

Herausforderung 3: Forschungsqualität, quo vadis?

Das Wissenschaftssystem ist durch quantifizierbare Leistungskriterien, Berichtspflichten und den Druck, Drittmittel einzuwerben, unter hohen Publikationsdruck (»publish or perish«) geraten. Die Versuchung, Forschung in portionierte, tendenziell wenig relevante, aber zahlreiche Häppchen zu zerteilen (»kleinste publizierbare Einheit«), ist daher groß. Lange Publikationslisten oder ein hohes Drittmitteleinkommen mit Forschungsqualität zu verwechseln, ist deshalb eine Gefahr. All diese Punkte werden selbst vom exponierten Wissenschaftsmanagement angesprochen wie etwa durch den ehemaligen DFG-Präsidenten Peter Strohschneider.33 Seine Nachfolgerin, Katja Becker, stößt ins gleiche Horn und will die erkenntnisgeleitete gegenüber der »impactgeleiteten« Forschung stärken.34 Solange sich daran aber nichts ändert, ist es für Nachrichtenredakteur*innen herausfordernd, nicht nur die schiere Menge zu bewältigen, sondern auch die Spreu vom Weizen zu trennen. Wenn sie Zeit und Kapazität hätten, müssten sie die Rolle eines »wissenschaftsjournalistischen peer review«35 übernehmen, fordern einige. Ob die Wissenschaft an sich ein Qualitätsproblem hat, kann hier nicht geklärt werden. Fest steht, dass die strategische Kommunikation recht gut darin geworden ist, die Knöpfchen zu drücken, die eine Meldung ins Blatt heben. PR adaptiert sich an die Bedürfnisse ihrer Adressaten36 , das ist ihre Aufgabe. Allerdings hat dies den Effekt, dass nicht nur auf die (vermute33 34 35 36

P. Strohschneider: Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus. T. Warnecke: Katja Becker: Neue DFG-Präsidentin will für Freiheit der Wissenschaft kämpfen. H. Wormer: Reviewer oder nur Reporter?, S. 228. G. Bentele: Das Intereffikationsmodell.

Wissenschaft in den Nachrichten

ten) Auswahlkriterien oder Bedarfe der Nachrichtenredaktionen geantwortet, sondern auch das System Wissenschaft verändert wird. Wie die Soziologin Martina Franzen nachzeichnen konnte37 , richten wissenschaftliche Fachzeitschriften sich nämlich in der Auswahl ihrer Forschungsberichte und natürlich auch der Titelstory nach den (angenommenen) Nachrichtenfaktoren der Medien. Das ist insofern bemerkenswert, als Fachzeitschriften wie Nature oder Science im Kern der innerwissenschaftlichen Kommunikation dienen sollen. Die sogenannte Medialisierung38 , empirisch bereits für andere gesellschaftlichen Teilsysteme gezeigt, lässt sich auch für das System Wissenschaft zeigen: Es orientiert sich an Kriterien des Systems »Medien«. Aus soziologischer Perspektive wird damit die Befürchtung genährt, dass Forschung schlimmstenfalls ihre Unabhängigkeit hinsichtlich Themenwahl oder Schwerpunktsetzung verliert39 . Die Wissenschaft, als Berichterstattungsgegenstand, zeigt also ähnliche adaptive Effekte wie Politik oder Sport. Ob solche Effekte die Forschungsqualität nachhaltig schmälern, ist Gegenstand einer teils heftig geführten Debatte: Insbesondere die Auswirkung der strategischen PR in Forschungsinstitutionen auf die Forschung selbst wird sehr kritisch gesehen.40 Das Wissen um diese Effekte ist möglicherweise insbesondere für den wissenschaftsjournalistischen Nachwuchs relevant, aber natürlich auch für die Nachrichtenredaktionen selbst: Sie sollten wissen, dass Wissenschaft kein unberührtes, interessensfreies Gebiet ist, sondern dass sie gezielt und geschickt nach Aufmerksamkeit hascht, um sich öffentlich zu legitimieren. Journalismus trifft heute auf eine Wissenschaft, die dessen Bedürfnisse sehr genau beobachtet und darauf reagiert: in der Auswahl der Publikationen, aber auch in der Formulierung der Pressemitteilungen und in der vielfältigen Übernahme journalistischer Formate in den eigenen Publikationen, etwa Hochschulmagazinen. Besonderes Augenmerk wurde in der empirischen Forschung über diese Effekte der Frage gewidmet, ob Journalist*innen sich tendenziell an das halten, was in einer Pressemitteilung geschrieben wird. Sumner u.a. konnten für den Bereich der Gesundheitsnachrichten zeigen, dass bis zu der Hälfte der

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M. Franzen: Medialisierungstendenzen im wissenschaftlichen Publikationssystem. K. Lundby: Mediatization of communication. P. Weingart: The Lure of the Mass Media and Its Repercussions on Science. F. Marcinkowski/M. Kohring: Nützt Wissenschaftskommunikation der Wissenschaft?; siehe auch: F. Marcinkowski/M. Kohring/A. Friedrichsmeier/S. Fürst: Neue Governance und Öffentlichkeit der Hochschulen.

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untersuchten 469 Pressemitteilungen britischer Universitäten Übertreibungen enthielten: Diese stellten die Bedeutung der Studienergebnisse für die Gesellschaft oder die Lebenswelt deutlich stärker heraus, als es die Ergebnisse zuließen.41 Für den Journalismus ein besonders bitteres Ergebnis: Drei Viertel der Medienberichte, die diese Pressemitteilungen aufgriffen, übernahmen auch die Übertreibung. »Mit anderen Worten: Übertreibt die Pressemitteilung, übertreiben auch die Artikel – und umgekehrt«, bilanziert Lehmkuhl.42 Wenn Nachrichtenjournalist*innen nun aufatmen – »wie gut, dass nicht wir die Übertreibung zu verantworten haben« –, dann müssten sie gleichzeitig zerknirscht sein: Offenbar gelingt es dem System Journalismus nicht unbedingt, Übertreibungen oder sogar Fehler zu entdecken und die Meldung entweder zu verwerfen oder das Framing zu ändern. Die Ergebnisse von Sumner u.a. gelten zunächst nur für Gesundheitsnews.43 Eine Allaussage über das Auswahl- und Anpreisungsverhalten der Wissenschafts-PR oder des Wissenschafts-Newsjournalismus insgesamt lässt sich daraus nicht ableiten. Trotzdem gilt es als Nachrichtenredakteur*in, hier die Augen offen zu halten, ob nicht strategisch übertrieben oder Störendes weggelassen wird.

5.

Herausforderung 4: Was will das Publikum?

Eine Herausforderung für Wissenschaftsnachrichten ist der veränderte Publikumskontext. Zwar sind die Vertrauenswerte, die Befragte der Wissenschaft geben, nach wie vor beachtlich44 , aber die Kritik am Journalismus wächst. Und da Wissenschaft überwiegend medialisiert auf Nutzer*innen trifft, ist »Vertrauen in Wissenschaft« kaum messbar ohne auch »Vertrauen in Medien« einzubeziehen45 . In dieser Gemengelage von »Vertrauen in medialisierte Wissenschaft« fehlt es noch an empirischer Forschung.46 Bekannt und ausführ41 42 43 44 45 46

P. Sumner u.a.: The association between exaggeration in health related science news and academic press releases: retrospective observational study. M. Lehmkuhl: Komplexität der Wissenschaft als Herausforderung für den Wissenschaftsjournalismus, S. 209. P. Summer u.a.: The association between exaggeration in health related science news and academic press releases: retrospective observational study. Siehe Wissenschaft im Dialog: Wissenschaftsbarometer 2019. M.S. Schäfer: Mediated trust in science. Ebd., siehe auch A. Leßmöllmann: Current trends and future vision of (research on) science communication.

Wissenschaft in den Nachrichten

lich problematisiert ist allerdings, dass rein informationsbezogene Nachrichten über polarisierende Themen – etwa Klimawandel oder Evolutionstheorie in den USA – die polarisierten Publika in ihrer jeweiligen Position bestärken: Klimawandelleugner*innen werden also ebenso bestärkt wie Klimawandelakzeptierer*innen.47 Die Ergebnisse rund um die »Cultural Cognition«These von Dan Kahan könnten darauf hindeuten, dass auch Nachrichtenredakteur*innen sehr genau zur Kenntnis nehmen müssten, wie polarisiert ihr Publikum ist. Ergebnisse deuten zudem darauf hin, dass Nachrichten, die der eigenen Weltsicht nicht entsprechen, möglicherweise zu einem Vertrauensverlust in Bezug auf das Medium oder auch auf Journalismus allgemein führen. Ob das auch für die Berichterstattung über Wissenschaftsthemen gilt (ob also neutral-informative Klimaberichterstattung zu einer Distanzierung von Medien bei Rezipierenden führt, die sowieso Klimawandelleugner*innen sind), muss noch untersucht werden. Wie Nachrichtenredakteur*innen überhaupt noch über Klimawandel, Impfen, Homöopathie oder ähnliche, auch in Deutschland polarisierende Themen berichten können, ohne ihr Publikum zu verlieren, ist noch eine zu erforschende Frage. Fest steht: Auch Nachrichtenjournalist*innen müssen sich überlegen, ob sie darauf achten, inwiefern ihre Themenwahl oder die Art der Aufbereitung solcher Nachrichten vom Publikum missverstanden oder negativ aufgefasst werden (was dann auf den Social-Media-Kanälen der Verlage und Sender zu hören und zu spüren ist). Ein weiterer herausfordernder Publikumskontext hat weniger mit Ideologie oder Realitätsleugnung zu tun, sondern mit Publikumspflege: Publikationen wie Perspective Daily48 berufen sich auf Erkenntnisse der Hirnforschung, die besagen, dass ein rein faktenbasierter und eher negative Aspekte herausgreifender Nachrichtenjournalismus in als unsicher empfundenen Zeiten möglicherweise nicht nachhaltig ist, weil er das Publikum verunsichert oder schlimmstenfalls verprellt. Daher experimentiert Perspective Daily mit sogenanntem »solution journalism«, der sich auf Lösungen konzentriert und dem Publikum Handlungsoptionen aufzeigt. Inwiefern dies auch auf den Wissenschafts-Nachrichtenjournalismus durchschlägt49 , ist eine Fragestellung, die in Zukunft beobachtet und untersucht werden sollte.

47 48 49

Siehe unter anderem D.M. Kahan: Cultural cognition as a conception of the cultural theory of risk. Siehe: https://perspective-daily.de Beispiele finden sich bei https://gruener-journalismus.de

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6.

Herausforderung 5: Nachrichtenqualität, ein Ding der Unmöglichkeit?

Die Herausforderungen 1 bis 4 stellen insbesondere für die Qualität der Nachrichten eine Herausforderung dar. Eine länger schwelende Debatte im Berufsfeld Wissenschaftsjournalismus betrifft die Sorge um sinkende Qualität in Zeiten teilweiser redaktioneller Schrumpfung bei gleichzeitig starker, digitaler Konkurrenz durch andere Quellen, die sich ebenfalls nachrichtlicher Formate im Netz bedienen wie etwa der PR. Ist also die Qualität der Berichterstattung bedroht durch (1) einen zu starken Einfluss der strategischen PR von Forschungsinstitutionen oder durch (2) eine zu starke Emotionalisierung oder Boulevardisierung, die Nachrichtenredaktionen möglicherweise nutzen, um die Aufmerksamkeit der User*innen zu binden? (1) wurde oben bereits behandelt und ist ein Dauerbrenner auch in der Forschung; die Ängste, der Journalismus könnte insbesondere online von der PR aufgefressen werden, sind sehr groß50 und empirisch, wie oben gezeigt, nicht unberechtigt. Bezüglich (2) legt eine aktuelle Langzeitstudie51 in einer Reihe von Leitmedien (zum Beispiel Die Zeit, Frankfurter Rundschau) nahe, dass der Vorwurf der fortschreitenden Boulevardisierung – als Mittel der Aufmerksamkeitserzeugung – in der Wissenschaftsberichterstattung nicht aufrechterhalten werden kann: Zwar würden Strategien wie Emotionalisierung oder Personalisierung in einigen Publikationen stärker verwendet als früher (etwa im Wissensressort der Zeit), allerdings nicht in allen und nicht erkennbar zulasten der Qualität. Auch Auswahlfaktoren, die sich mit »Human Interest« verknüpfen lassen, spielen zwar eine Rolle – dazu gehören Schäden, Konflikte, aber auch Überraschungen, Kuriositäten, Superlative oder Erotik und Sexualität.52 Die Orientierung daran hat aber nicht durchgehend und bei allen gleich zugenommen (so tendierte die Zeit eher zu negativen, die Frankfurter Rundschau eher zu positiven Human-Interest-Faktoren). Die Untersuchung beschränkte sich allerdings nicht allein auf nachrichtliche Berichterstattung. Was genau Qualität im Wissenschafts-Nachrichtenjournalismus ist, hängt dabei stark vom Gegenstand der Berichterstattung ab. Dies zeigt das Angebot »Medien-Doktor«53 , das medizin- und umweltjournalistische

50 51 52 53

Siehe beispielsweise S. Ruß-Mohl: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. H. Berg: Wissenschaftsjournalismus zwischen Elfenbeinturm und Boulevard. Ebd., S. 148, 160-162. Siehe: www.medien-doktor.de

Wissenschaft in den Nachrichten

Beiträge aus Print-, Rundfunk- und Onlinemedien nach definierten Qualitätskriterien bewertet. Eine Redaktion aus freiwilligen Peers untersucht dafür die Texte ihrer Kolleg*innen, um so öffentlich und transparent nachvollziehbar zum Qualitätsmanagement im Journalismus beizutragen. Die Kriterien für Medizinjournalismus und Umweltjournalismus, auf die sich der Medien-Doktor derzeit fokussiert, sind unterschiedlich, auch wenn es Überschneidungen gibt. So wird ein reines Abschreiben aus der Pressemitteilung bei beiden als schlecht bewertet, ebenso, wenn nicht vermittelt wird, welche Interessenskonflikte genannte Expert*innen oder auch die Forscher*innen selbst haben können. Besondere Kriterien beim Medizinjournalismus sind Krankheitserfindungen – wenn also ein Risiko schon als Krankheit gewertet wird, wie etwa Osteoporose. Beim Umweltjournalismus ist dagegen ein Qualitätskriterium, ob und wie angemessen Lösungsvorschläge für ein Umweltproblem benannt werden. Das zeigt illustrativ, dass Qualitätskriterien im Wissenschafts-Nachrichtenjournalismus bezogen auf einen spezifischen Themenkreis entwickelt und angewandt werden müssen, indem gleichzeitig dessen spezifische Relevanz für Publikum und Gesellschaft einbezogen werden: Bei Medizin und Gesundheit geht es im Zweifel um Leben und Tod, bei Umwelt sehr stark um gesellschaftliche Einordnung von (technischen) Lösungen. Ein weiteres Beispiel für Qualitätskriterien und ihre (Nicht-)Einhaltung stammt aus dem Jahr 2019, als der Lungenarzt Dieter Köhler zusammen mit drei Koautoren54 und 112 Mitgliedern der Gesellschaft für Pneumologie die Forschung zu Luftschadstoffen pauschal infrage stellte und die Änderung der Grenzwerte forderte. Das entsprechende Positionspapier machte im Netz und bei vielen Redaktionen schnell die Runde und landete auf zahlreichen Nachrichtenseiten, auch von Qualitätsmedien. Erst der taz-Wissenschaftsredakteur Malte Kreutzfeldt prüfte – nachdem er einen externen Hinweis bekommen hatte – nach und befand: Köhler hatte sich verrechnet.55 Dieses Beispiel zeigt vielerlei Herausforderungen an den WissenschaftsNachrichtenjournalismus: Erstens sind Rolle, Funktion und Qualität der Wis-

54

55

Ein Koautor ist Spezialist für Verbrennungsmotoren am KIT. Zur Stellungnahme samt Aktualisierung siehe D. Köhler: Stellungnahme zur Gesundheitsgefährdung durch umweltbedingte Luftverschmutzung, insbesondere Feinstaub und Stickstoffverbindungen (NOx). M. Kreutzfeldt: Falsche Angaben zu Stickoxid. Lungenarzt mit Rechenschwäche.

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senschaftskommunikation, die von Fachgesellschaften ausgeht, noch zu wenig untersucht; wie das Beispiel oben zeigt, ist aber weder eine Versammlung von Professor*innen noch eine »wissenschaftliche Fachgesellschaft« ein Garant für Verlässlichkeit (insbesondere ist in diesem Fall zwar mit dem Namen der Fachgesellschaft, aber nur mit einem Bruchteil ihrer Mitglieder gearbeitet worden). Eine Gefahr im schnellen Nachrichtenjournalismus ist offenbar, dass der Name der Fachgesellschaft mehr zählte als die tatsächliche Zahl der Unterschreibenden, um nachrichtenwürdig zu erscheinen. Zudem zeigte die starke nachrichtliche Resonanz in den deutschen Medien, dass hier offenbar mehr der Botschaft als dem wissenschaftlichen Gehalt gefolgt wurde – eine einfache Plausibilitätsprüfung des Köhler’schen Texts hätte zumindest ein stirnrunzelndes »Moment mal« hervorrufen müssen, bevor daraus eine Meldung wurde. Selbst wenn Nachrichtenredakteur*innen manchmal mit dem epistemischen Gehalt von wissenschaftlichen »Tatsachen« hadern müssen56 – es gibt dennoch auch in der Wissenschaft Fakten, die sich mit nachrichtenjournalistischer Plausibilitätsprüfung bestätigen oder widerlegen lassen. Dazu gehört die Frage, ob die Zahlen so stimmen können. Allerdings braucht man auch dafür eben: Zeit, Personal und einen freien Kopf.

7.

Ausblick

Da Wissenschaft immer mehr in Alltags- und Politikentscheidungen diffundiert, sind Nachrichten eine gute Möglichkeit, kurz und prägnant über Wissenschaftsergebnisse zu berichten. Die Herausforderungen sind allerdings insbesondere in Zeiten schrumpfender Redaktionen sehr groß, da Journalist*innen mit einem unablässig sendenden Wissenschaftssystem und strategischen Interessen desselben zu tun haben. Zudem kommen immer mehr Sender hinzu: von NGOs über Fachgesellschaften bis hin zu selbsternannten Expert*innen, die auch Studien beauftragen können, versuchen sich alle auf den Radar der Redaktionen zu drängen. Oder, fast noch schlimmer, diese insbesondere online einfach zu ignorieren, so dass Journalist*innen durch ihre Chronisten- und Berichterstatterpflicht plötzlich die Aufgabe bekommen, Falschmeldungen im Netz aufzuspüren und für ihre User*innen richtigzustellen. Zudem wird eine Beschränkung auf Natur- und Technikwissenschaf56

G. Betz/D. Lanius: 1. Philosophy of science for science communication in twenty-two questions.

Wissenschaft in den Nachrichten

ten, wie sie in vielen Redaktionen betrieben wird, weder der Komplexität der Welt noch der der Wissenschaft heute noch gerecht: Wissenschaft wird in vielen Forschungsfeldern inter- oder transdisziplinär betrieben und nicht mehr rein natur- und technikwissenschaftlich, und die Grand Challenges, von Klimawandel über Energiewende bis Migration, sind sozial- und geisteswissenschaftlich fassbare und untersuchte Phänomene. Es empfiehlt sich daher für die Zukunft, diese Fachgebiete stärker in den Blick zu nehmen. Journalist*innen sind mit diesen Problematiken häufig auf sich allein gestellt und müssen experimentieren.57 Nicht alle sind für den Bereich Wissenschaftsjournalismus geschult, weshalb inzwischen Institutionen wie etwa die Science Media Centres in verschiedenen Ländern58 Unterstützung bei der Expertensuche und der Einschätzung von Studien und deren Ergebnissen bieten, insbesondere bei topaktuellen Ereignissen (aber auf die Gefahr hin, dass es zu einseitiger Berichterstattung kommt).59 Doch um Quellen oder Expert*innen zu finden und ihre Relevanz besser beurteilen zu können, wird in Zukunft auch in den Redaktionen stärker algorithmische Unterstützung gebraucht werden: Ebenso wie in der Wissenschaft ist es auch im Wissenschafts-Nachrichtenjournalismus heute unmöglich, mit traditionellen Methoden alle oder alle relevanten Quellen aufzuspüren. Unterstützung bei der Expert*innensuche wie durch den »Expert Explorer« können eine Hilfe sein.60

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57 58 59 60

A. Leßmöllmann: Wissenschaftsjournalismus im Lernlabor. Siehe: www.sciencemediacenter.de Zum Beispiel S. Rödder: Qualität im Gesundheitsjournalismus – welche Rolle kann ein Science Media Centre spielen? A. Weißschädel: Wir stehen am Anfang des datenbasierten Journalismus über Wissenschaft.

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DATEN UND ALGORITHMEN

Künstliche Intelligenz im Journalismus? Was bedeutet Automatisierung für journalistisches Arbeiten? Wiebke Loosen und Paul Solbach

1.

Einleitung

Künstliche Intelligenz (KI), Algorithmen, Automatisierung, Big Data – mit diesen Begriffen sind Phänomene und Entwicklungen benannt, welche die Gesellschaft insgesamt betreffen und die daher sowohl den öffentlichen Diskurs als auch die wissenschaftliche Forschung im Hinblick auf unterschiedlichste Fragestellungen beschäftigen. Wenn wir uns an dieser Stelle auf Journalismus konzentrieren, ist das also lediglich ein »Anwendungsfall«, da der Journalismus nur ein gesellschaftliches Feld von vielen anderen (wie zum Beispiel Wirtschaft, Politik, Medizin, Kunst) ist, an denen sich deutlich machen ließe, wie sich KI und Formen der Automatisierung auf (Arbeits-)Prozesse, Leistungen und auch auf Menschen auswirken. KI steht dabei nicht nur für technologische Entwicklungen innerhalb der Informatik, die schon als solche äußert schwer zu fassen sind oder gar allgemeinverbindlich zu definieren wären, sondern sie steht im Kontext von Digitalisierung, Datafizierung, Algorithmisierung und Automatisierung, mit denen sowohl Ursachen als auch Folgen vielfältiger sozialer Prozesse in der digitalen Gesellschaft angesprochen sind.1 Betrachtet man diese Prozesse in der genannten Reihenfolge, wird deutlich, dass die Digitalisierung als eine Art Metaprozess für die anderen Prozesse betrachtet werden kann: Mit der Digitalisierung unserer Medienumgebung sind Medien nicht mehr nur Mittel der Kommunikation, sondern auch Mittel zur Generierung von Daten geworden.2 Das heißt, in einer solchen Medienumgebung fallen fortlaufend Daten an, 1 2

Vgl. A. Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Vgl. A. Breiter/A. Hepp: Digital Traces in Context.

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Wiebke Loosen und Paul Solbach

die zu unterschiedlichen Zwecken algorithmisch ausgewertet, aggregiert und verarbeitet werden und so zu einer Manifestation vieler Aspekte der sozialen Realität in Form von digitalen Daten führen.3 Die Betrachtung von Algorithmen nutzt daher wenig ohne die von ihnen verarbeiteten Daten, denn es ist genau die »dyad of big data and algorithms [that] can enable new cultural and social forms«4 . Dieser grundlegende gesamtgesellschaftliche Transformationsprozess wird aus soziologischer Perspektive gemeinhin als Datafizierung der Gesellschaft beschrieben5 oder noch umfassender in einer »Theorie der digitalen Gesellschaft«6 gefasst. Während Datafizierung bis vor kurzem noch als die jüngste Welle des Medienwandels galt,7 kennzeichnet die Auseinandersetzung mit KI und Automatisierung die nächste Stufe: Digitalisierung, Datafizierung und Algorithmisierung stehen hierbei sowohl für Möglichkeiten als auch für Bedarfe für Automatisierung. Das heißt, dass die neue Quantität und Qualität der Verfügbarkeit von Daten und algorithmischer Datenverarbeitung Formen der Automatisierung von Prozessen sowohl ermöglichen als auch erzwingen. Im Journalismus zeigt sich das in unterschiedlichen Kontexten: etwa bei der Recherche (Daten als Quellen), beim Monitoring von Nutzerverhalten (»digital traces«, die Nutzer*innen etwa beim Anklicken oder Liken eines Beitrag hinterlassen) und der Personalisierung von Nachrichtenangeboten (zum Beispiel Vorschläge für Beiträge auf Grundlage des erfassten vorangehenden Nutzungsverhaltens). Was den Journalismus im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Feldern dann aber doch zu einem besonderen Anwendungsfall für KI und Automatisierung macht, ist, dass er maßgeblich beteiligt ist an gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen: Journalismus beobachtet diese Prozesse nicht nur, sondern stößt sie durch seine Angebote (Nachrichten im breiteren Sinne) auch an und verwaltet zum Teil auch die Anschlusskommunikation, die Berichterstattung auslöst (etwa in Form von Nutzerkommentaren). Journalismus ist also kein mechanistischer Verbreiter von Informationen, sondern trägt zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft bei. Eine solche Sichtweise sensibilisiert für den Zusammenhang zwischen Medienwandel und gesellschaft3 4 5 6 7

Vgl. R. Kitchin: Big data, new epistemologies and paradigm shifts; D. Beer: Metric power. W. Uricchio: Data, culture and the ambivalence of algorithms, S. 126. Vgl. F. Süssenguth: Die Gesellschaft der Daten. A. Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Vgl. N. Couldry/A. Hepp: The Mediated Construction of Reality, S. 52.

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

lichem/sozialem Wandel, denn die Automatisierung von Kommunikationsprozessen verändert: • • • •

2.

die Medienumgebung, in der Journalismus agiert die (Medien-)Technologien, mit denen der Journalismus operiert und damit gleichzeitig die Gesellschaft, die Journalismus beobachtet sowie die Art und Weise der journalistischen Aussagenentstehung in all ihren Phasen.

Formen der Automatisierung im Journalismus

Wenn von Automatisierung und KI im Journalismus die Rede ist, geht es meist um den sogenannten »Roboterjournalismus«8 : Gemeint sind Softwaresysteme, die auf der Grundlage strukturierter Daten automatisch etwa Sportoder Finanzberichte generieren (siehe Abschnitt 2.1). Dies ist sicher eines der meistdiskutierten Beispiele für Automatisierung im Journalismus. (Künstlich intelligente) Automatisierung spielt aber längst in allen Phasen journalistischer Aussagenentstehung eine Rolle. Ein aktuelles Beispiel dafür ist das von der Nachrichtenagentur Reuters entwickelte Tool Lynx Insight,9 das Reuters als Schritt zum »cybernetic newsroom« versteht, also einer Redaktion, in der Maschinen und Menschen vernetzt das tun, was sie jeweils am besten können: Maschinen durchkämmen große Datenmengen, und Menschen beurteilen die Relevanz und beleuchten Hintergründe. KI und Automatisierungsprozesse sollen Journalist*innen in diesem Szenario also nicht ersetzen, sondern sie bei ihrer Arbeit unterstützen und Daten im Hinblick auf Trends, Anomalien und Zusammenhänge auswerten, um mögliche »Geschichten« auszumachen und Textbestandteile automatisch zu generieren. Ein solches Szenario wird gemeinhin auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als »hybridization of human and machine effort in news production workflows«10 beschrieben. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, welche Formen KI und Automatisierung im Journalismus annehmen können und was diese für journalisti8 9 10

S. Weber: Roboterjournalismus, Chatbots & Co.; M. Carlson: The robotic reporter; E. Latar: The robot journalist in the age of social physics: the end of human journalism? R. Chua: The cybernetic newsroom: horses and cars. N. Diakopoulos: Towards a Design Orientation on Algorithms and Automation in News Production.

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sches Arbeiten bedeuten. Hierfür orientieren wir uns am Prozess der journalistischen Aussagenentstehung, den wir als »News Circle« mit den Phasen Beobachtung – Produktion – Distribution – Nutzung modellieren (siehe den inneren Zirkel in Abb. 1). Ein solches zirkuläres Verständnis macht deutlich, dass Journalist*innen bei ihrer Beobachtung der Welt, bei dem, was sie als Themen wahrnehmen, identifizieren, selektieren und recherchieren, immer schon eine Vorstellung davon haben, was ihr Publikum erwarten könnte, interessant fände, oder wissen sollte;11 Vorstellungen, die sich im heutigen Journalismus aus einer Vielzahl von (Daten-)Quellen speisen und daher auch Einfluss auf Selektionsentscheidungen nehmen können.12 Dieser News Circle ist im heutigen Journalismus mehr oder weniger eng an Prozesse der Datengenerierung, -verarbeitung und -interpretation gekoppelt (siehe den äußeren Zirkel in Abb. 1).13 »Mehr oder weniger« heißt in diesem Falle, dass damit verbundene datenbasierte Praktiken, wie sie sich zum Beispiel im Datenjournalismus entwickelt haben,14 in Redaktionen und auch bei individuellen Journalist*innen in unterschiedlichem Maße zum Einsatz kommen.15 Das gilt vor allem für den Einsatz von KI-basierten Verfahren im Journalismus, der aufgrund der dynamischen Entwicklung und der Breite des Phänomens schwer zu überblicken ist.16 Künstliche Intelligenz steht für einen Bereich der Informatik, der wiederum zahlreiche Teilgebiete (etwa die

11 12 13

14 15 16

Vgl. A. Scholl: Die Inklusion des Publikums; W. Loosen/J.-H. Schmidt: (Re-)Discovering the audience. Vgl. E.C. Tandoc/R.J. Thomas: The ethics of web analytics; R. Zamith 2018: Quantified Audiences in News Production. Die Informatikerin Jeannette Wing unterscheidet neun Stufen des »Data Life Cycle«: Erzeugung, Sammlung, Verarbeitung, Ablage, Verwaltung, Analyse, Visualisierung und Interpretation von Daten. Wir komprimieren diese auf die drei Prozesse der Datengenerierung, -verarbeitung und -interpretation, an denen sich für den Journalismus die zentralen Beispiele verdeutlichen lassen. Siehe J.M. Wing: The Data Life Cycle. Vgl. M. Coddington: Defining and mapping data journalism and computational journalism. Vgl. W. Loosen: Four Forms of Datafied Journalism. Daher ist auch die Forschungslage speziell zu Einsatz und Stellenwert von KI/Automatisierung im Journalismus noch äußerst spärlich und es bedarf einer kontinuierlichen Beobachtung des Feldes zum Beispiel mithilfe von Quellen journalistischer Selbstbeobachtung und -reflexion: Branchendienste und Entwicklungsberichte aus den »Maschinenräumen« digitaler Medien wie unter https://open.nytimes.com, https://medium.com/@devspiegel

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

Robotik, Natural Language Processing, also die maschinelle Verarbeitung natürlicher Sprache, oder maschinelles Lernen) und Fragestellungen umfasst, die im Hinblick auf alle möglichen Anwendungsfelder untersucht werden.17 Sie treibt aber auch eine ganze Softwareindustrie an, die »KI-Lösungen« für alle möglichen Branchen entwickelt und anbietet. Stray, der sich mit Anwendungen von KI speziell im investigativen Journalismus beschäftigt, betont, dass die »intersection of investigative journalism and artificial intelligence is a small part of the intersection between computation and journalism generally«,18 während Formen der Automatisierung im investigativen Journalismus demgegenüber zunehmend an Bedeutung gewinnen, aber nicht unbedingt in allen Fällen als KI betrachtet werden könnten.

Abb. 1: Formen (KI-basierter) Automatisierung im journalistischen News Circle.

Unsere Auswahl von Beispielen für Formen der Automatisierung im Journalismus ist gekennzeichnet durch eine doppelte Perspektive: (1) die Berücksichtigung aller Phasen journalistischer Aussagenentstehung und (2) die Einordnung der Beispiele in solche, die auf KI-Methoden wie »Machine Learning« basieren. Im weiteren Verlauf unserer Darstellung wird deutlich, was auch in anderen Untersuchungen zu KI und Journalismus festgestellt wird:

17 18

Vgl. Russell u.a.: Artificial Intelligence. J. Stray: Making Artificial Intelligence Work for Investigative Journalism, S. 2.

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Obwohl das Potenzial von KI vor allem im Zusammenhang mit »Roboterjournalismus« oder »Automated Journalism« diskutiert wird, also im Hinblick auf die Erzeugung von Inhalten, sind KI-Methoden derzeit vorrangig in den späteren Phasen der Distribution und Personalisierung von Nachrichteninhalten im Einsatz.19

2.1

Beobachtung

In der Phase der Beobachtung geht es um die Frage, wann und auf Basis welcher Beobachtungs- bzw. Selektionskriterien etwas zu einem journalistischen Thema wird. Als initialer Hinweisgeber, sozusagen die maschinelle Entsprechung des »heißen Tipps«, gewinnt das Data-Mining an Bedeutung: ein Vorgang, der ungewöhnliche, abweichende oder anderweitig relevante Signale aus einer zumeist ungeordneten Datenlage erkennt.20

2.1.1

Mustererkennung

Diakopoulos identifiziert sechs Kernfähigkeiten von Data-Mining, wobei diese besonders in den Phasen der Recherche und Mustererkennung bei wachsenden Datenlagen hilfreich sein können:21 • • • • • •

Clustering von ähnlichen Objekten, Klassifikation von Objekten, Regressionsanalyse, Automatisierte Zusammenfassung, Modellierung von Abhängigkeiten, Ermittlung von Abweichungen.

Klassifikation entspricht dabei dem supervised learning, also Machine Learning auf Grundlage von bereits sortierten und »beschrifteten« Daten (»labeled data«). Objekte werden in diesem Fall nach zuvor festgelegten Regeln klassifiziert. Im Prozess des unsupervised learnings wiederum operiert das Modell ohne bereits vordefinierte Klassen, diese müssen maschinell zunächst beispielsweise mittels Clustering innerhalb einer Datenmenge bestimmt werden. Ähnlichkeiten werden statistisch ermittelt und durch Konfidenzwerte

19 20 21

Vgl. Ebd., S. 3. Vgl. N. Diakopoulos: Automating The News, S. 43. »Six core data-mining capabilities«, Ebd., S. 44.

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

ausgedrückt. Was in einem Cluster enthalten ist, die sinnhafte Interpretation der ermittelten Objektgruppen, bleibt redaktionelle Aufgabe. Regressionsanalyse ist im Gegensatz zur zeitlich abgeschlossenen Klassifikation eine kontinuierliche Auswertung, fällt aber auch in den Bereich des »supervised learning«. Um den gesamten Prozess zu beschleunigen, können große Datenlagen zunächst durch Zusammenfassung in eine komprimierte Form gebracht werden. Mit dem Schritt der Ermittlung von Beziehungsgraden und Distanzwerten zwischen Dokumenten, Personen oder anderen Datenobjekten kann etwa investigative Recherche durch maschinelle Vorarbeiten vereinfacht werden. Ein Fallbeispiel für die Möglichkeiten, die Data-Mining in der journalistischen Arbeit eröffnet, sind die Panama Papers.22 Zum Zeitpunkt der Auswertung dieser umfangreichen Datenlage stand die exponentielle Entwicklungsphase von Machine Learning (ML) noch bevor.23 Das Datenteam des International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ)24 setzte zwar fortgeschrittene Methoden zur Bereinigung, Ordnung und Darstellung der Daten ein, jedoch kein Machine Learning. Laut einem Entwickler des ICIJ hätte dies den Prozess deutlich beschleunigen können.25 Werden maschinell lernende Modelle also künftig in der Lage sein, Fälle von Geldwäsche automatisch zu erkennen? Die Panama Papers – oder auch der Fall der Paradise Papers – sind Präzedenzfälle für die journalistische Auswertung sehr großer Datenlagen. Es ist davon auszugehen, dass sich derartige Fälle wiederholen. Reporter*innen könnten in Zukunft unter Verwendung von Machine Learning nicht nur schneller arbeiten, sondern zum Beispiel auch mithilfe von Gesichtserkennung bestehende Bilddatenbanken auf Übereinstimmungen mit Ausweisund Reisepasskopien abfragen. Ein Beispiel für wiederholbare Produktionen unter Verwendung von Machine Learning ist die neue Wahlkreis-Datenbank des Washington Post Com-

22 23

24 25

Siehe https://panamapapers.sueddeutsche.de und J. Stray: Making Artificial Intelligence Work for Investigative Journalism, S. 4. Die Zahl wissenschaftlicher Paper zum Thema Machine Learning verdoppelte sich laut Google-Entwickler Cliff Young alle achtzehn Monate. Siehe ZDNet: Google Says ›Exponential‹ Growth of AI is Changing Nature of Compute. Siehe https://www.icij.org/ Vgl. F. Marconi/A. Siegman: The Future of Augmented Journalism.

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putational Journalism Lab.26 Sie ermöglicht es, schon im Voraus soziodemografische Merkmale und das Wahlerverhalten vergangener Wahlen mit Hochrechnungen in Beziehung zu setzen. So können Geschichten während der zeitkritischen Wahlberichterstattung schnell mit Daten angereichert werden. Für eine datengetriebene Story über die Themensetzungen der demokratischen Präsidentschaftskandidat*innen haben die Mitarbeiter*innen des Labors Tausende von Tweets gesammelt. Mithilfe von Clustering, der groben Zuordnung der Tweets zu politischen Themenbereichen, konnte diese Arbeit drastisch beschleunigt werden. Es ist davon auszugehen, dass manuelle Rückmeldungen über die maschinell vergebenen Kategorien wiederum in das Modell zurückfließen und es damit für den nächsten Einsatz optimieren. Exemplarisch finden wir bei der Washington Post damit Ansätze des Prinzips »human-in-the-loop«, also einer Kombination aus Machine Learning und händischer Nachjustierung.27 So können Redaktionen auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Systeme entwickeln, um Aufgaben anzugehen, die andernfalls nur sehr personal- und kostenintensiv bzw. manuell gar nicht zu bewältigen wären.

2.1.2

Verifikation

Mit der zunehmenden Datafizierung der Gesellschaft sieht sich die journalistische Praxis einer wachsenden und gleichzeitig unübersichtlichen Quellenlage gegenüber. Nachdem wir im vorherigen Abschnitt auf die Chancen von Machine Learning zur automatisierten Beobachtung von Datenlagen eingegangen sind, widmen wir uns nun dem nächsten Schritt in der Aussagenentstehung: der Verifizierung von Quellen. Zu einer ebenso wichtigen wie unübersichtlichen Quelle sind Soziale Medien geworden.28 Ohne Kontext sind Daten aus Sozialen Medien nicht nur relativ wertlos, sondern bedürfen überdies teils aufwendiger Verifikationspraktiken, wenn sie für journalistische Zwecke verwendet werden sollen.29 In der Güterabwägung von Aufwand und Ertrag besteht so die Gefahr, dass das Zweiquellenprinzip zwangsläufig marginali-

26

27 28 29

Unterstützung erhält die Washington Post dabei von Nick Diakopoulos. Siehe C. Schmidt: How to cover 11,250 elections at once: Here’s how The Washington Post’s new computational journalism lab will tackle 2020. Vgl. J.A. Fails/D.R. Olsen Jr.: Interactive Machine Learning. Vgl. S. Stieglitz u.a.: Social Media Analytics. An Interdisciplinary Approach and Its Implications for Information Systems. Vgl. N. Thurman u.a.: Giving Computers a Nose for News.

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

siert wird. Dabei können auch Verifizierungsprozesse in folgenden Bereichen automatisiert erfolgen: • • •

Verifikation der Urheberschaft von Beiträgen in Sozialen Medien und der Echtheit dieser Beiträge im Kontext ihrer Urheber*innen.30 Verfikation mit Mitteln der digitalen Bildforensik, um Manipulationen an Fotos und Bewegtbildern zu identifizieren. Mit dem Aufkommen von Deep Fakes31 gewinnen die ebenfalls durch Machine Learning (ML) ermöglichten Verifikationsverfahren an Bedeutung – hier entstehen künstliche Intelligenzen zweiter Ordnung.32

Auch organisationell wirkt sich die besondere Relevanz des journalistischen Kernthemas Quellensicherung und Verifikation aus, indem sich neue Organisationseinheiten und Rollen ausdifferenzieren. So bilden Redaktionen »verification units« und schaffen Stellen für »verification officers«,33 also zentrale und in der Außendarstellung prominente Zuständigkeiten. Damit rückt ein zuvor in der Aussagenentstehung nachgelagerter Prozess, der im Ressort der klassischen Dokumentation verortet ist, zwischen Datenerhebung und Verarbeitung. Was in Zukunft mit Unterstützung von Machine Learning vermehrt möglich sein kann, zeigt ein Kooperationsprojekt von BBC und der Cambridge University.34 Über ein grafisches Interface sollen hier zu beliebigen Behauptungen passende, entweder bekräftigende oder widersprechende Fakten innerhalb eines Dokumentenkorpus gefunden werden und ein Gesamturteil ergeben. Die Darstellung der Datenlage ähnelt dabei dem Portal Politifact.com, welches seit 2007 in Betrieb ist und dessen Redaktion Aussagen von Politiker*innen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft.35 Ein

30 31

32 33 34 35

Vgl. Ebd., S. 7. Deep Fake ist ein Kofferwort aus Deep Learning und Fake, Fälschung. Künstlich erzeugte Identitätsmerkmale wie Gesichter können mittels Deep Learning täuschend echt auf Personen in Bewegtbildern projiziert werden, beliebige Texte etwa durch die Stimmen von Personen des öffentlichen Lebens gesprochen werden. Vgl. S. Gehrmann u.a.: GLTR: Statistical Detection and Visualization of Generated Text. So etwa bei der Deutschen Presseagentur; siehe R. Sommer: Stefan Voß leitet das dpaFaktencheck-Team. Siehe hierzu S. Miranda u.a.: Automated Fact Checking in the News Room. Recherchedaten von Politifact.com als Forschungsgrundlage: W. Wang: »Liar, Liar, Pants on Fire«: A New Benchmark Dataset for Fake News Detection.

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vollautomatischer, durch Nutzereingaben steuerbarer Faktencheck wäre deutlich resilienter gegen den Vorwurf der tendenziösen Vorauswahl.36 Aktuell in der Produktion eingesetzte Verifikationstools fallen jedoch nicht grundsätzlich in den Bereich von Machine Learning, denn die Verfikationsleistung in der journalistischen Praxis ist weiterhin von Intuition und manueller Recherche geprägt. Beispielsweise ermitteln Verifikationsarbeiter über die Bildrückwärtssuche den Neuheitswert von Bildern oder Bewegtbildern, etwa mittels Google Image Search oder Tineye.37 Bilder über angebliche Terrorlagen können sich als Propaganda herausstellen, wenn Orts- und Zeitmarken des Materials nicht zum angeblichen Fall passen. Hier besteht die Herausforderung darin, Suchanfragen manuell vorzubereiten, etwa durch die Extraktion von Vorschaubildern aus Youtube-Material.38 Verfikation kann auch mittels simpler Arbeitsteilung bewältigt werden – etwa am Beispiel der Verfolgung von russischen Truppenbewegungen im Zusammenhang mit der abgeschossenen Linienmaschine MH17, aufbereitet durch die journalistischen Digitalangebote Bellingcat und Correctiv.39 Ein Indikator für die zumindest momentane Überlegenheit von Menschen über Maschinen bei der Einordnung sensibler Inhalte ist, dass sogar ein digitaler Großkonzern wie Facebook Verfikation an Dienstleister wie Arvato oder die Deutsche Presseagentur auslagert.40

2.2

Produktion

Unter dem Begriff »Roboterjournalismus« ist Automated Journalism mittlerweile auch in den Feuilletons angekommen und Gegenstand journalistischer Selbstreflexion geworden.41 Die Rede vom »Roboterjournalismus« ist jedoch irreführend, da er die Assoziation von Journalismus als einer vollautomatisierten, fertigenden Industrie weckt, die ohne Menschen auskommt. Zwar gewinnen Formen der automatischen Texterzeugung im Journalismus

36 37 38 39 40

41

Vgl. P.B. Brandtzaeg/A. Følstad: Trust and Distrust in Online Fact-Checking Services. Siehe https://www.google.com/imghp, https://www.tineye.com Siehe https://citizenevidence.amnestyusa.org/ Siehe https://mh17.correctiv.org/english/ Das kann sich jederzeit ändern: Durch diese Kooperation entstehen wiederum Trainingsdaten für ML-Modelle. Siehe https://about.fb.com/de/news/2019/03/dpa_faktenpruefer/ Vgl. S. Weber: Roboterjournalismus, Chatbots & Co.: Wie Algorithmen Inhalte produzieren und unser Denken beeinflussen.

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

an Verbreitung und Relevanz, künstliche Intelligenz ist dabei aber nur in Ausnahmefällen beteiligt.42 Während die Forschung bemerkenswerte Resultate im Bereich der Texterzeugung durch neuronale Netze liefert,43 sind diese Verfahren derzeit nicht produktiv für journalistische Zwecke einsetzbar: Sie erzeugen zukunftsweisende, aber fragwürdige Ergebnisse.44 Zudem bleibt die mangelnde Interpretierbarkeit von Entscheidungen in neuronalen Netzen ein Problem.45 Für den Anwendungsfall Journalismus müssten diese Modelle transparent und zuverlässig arbeiten.46 Ein weiterer Bereich automatisierbarer Produktion ist die Textverarbeitung. Insbesondere Journalist*innen können dabei von Editoren profitieren, deren Funktionen in Teilen durch Machine Learning ermöglicht werden.

2.2.1

Texterzeugung

Sprachtechnologie und deren Teildisziplin Natural Language Processing (NLP) sind naheliegende Anwendungsfälle von Machine Learning für Journalismus. Aber können Maschinen im Fertigungsprozess tatsächlich an die Stelle von Journalist*innen treten? Das Versprechen von vollautomatischer Texterzeugung (»Natural Language Generation«) durch Roboterjournalisten ist bislang nicht eingelöst.47 Im Anwendungsbereich Journalismus sehen wir aktuell eher Hybridformen aus manuell erstellten Textbausteinen, Entscheidungsbäumen und strukturierten Daten, auch template-basierte Texterzeugung genannt.48 Templating basiert auf Lückentexten, deren Leerstellen nach manuell erstellten Regelsätzen gefüllt werden. Über konditionale Ausdrücke (»wenn Wert x höher als y, dann wähle Formulierung z«) werden so zwar in sich dynamische, aber in der Menge redundante Texte erzeugt.

42 43 44 45 46 47 48

Vgl. N. Diakopoulos: Automating The News, S. 97. Siehe hierzu J. Devlin u.a.: BERT. Pre-Training of Deep Bidirectional Transformers for Language Understanding; OpenAI GPT-2 https://github.com/openai/gpt-2. J. Seabrock: The Next Word. Vgl. A.S. Ross/F. Doshi-Velez: Improving the Adversarial Robustness and Interpretability of Deep Neural Networks by Regularizing their Input Gradients. Vgl. N. Diakopoulos: Automating The News, S. 101; J. Stray: Making Artificial Intelligence Work for Investigative Journalism, S. 11. Vgl. A. Johri u.a.: Domain Specific Newsbots. Ebd.

187

188

Wiebke Loosen und Paul Solbach

Viele regelbasierte Systeme zur Texterzeugung folgen in Konzeption und Entwicklung einem dreistufigen Standardmodell:49 • • •

Dokumentenplanung (»macro planning«) Mikroplanung (»micro planning«) Dokumenterzeugung (»realization«)

In der Phase der Dokumentenplanung legen Entwickler*innen und Redakteur*innen zunächst fest, welche strukturellen Einheiten das fertige Dokument enthalten soll. Die Dokumentenstruktur reflektiert Grundschema und Erzählstruktur einer Geschichte möglichst so, dass diese vielfach wiederverwendet werden kann (wie etwa der Fußballspielbericht in der Sportberichterstattung). Im Rahmen der Mikroplanung werden modulare Satzteile, passende sprachliche Wendungen, Synonyme und Wortbeziehungen in beliebiger Vielfältigkeit vorbereitet, um den erzeugten Dokumenten eine eigene Tonalität zu geben. In der Phase der Realisierung entstehen so natürlichsprachliche Nachrichteninhalte als Funktion von Daten, Regelsätzen und Sprachteilen. Templating setzt einen erheblichen initialen Aufwand voraus und ist dort sinnvoll, wo Skaleneffekte, Verfügbarkeit quantitativer Daten und ständige Wiederholung der Produktionsabläufe zu erwarten sind. Jenseits von Börsenmeldungen und Spielberichten stoßen diese Verfahren schnell an ihre technischen Grenzen. Einen klar definierten Anwendungsfall und Entwicklungskapazitäten vorausgesetzt, kann Templating aber auch kleineren Redaktionen zu intensivierter Berichterstattung über ein Themenfeld verhelfen.50 Ein vielfach zitiertes Beispiel für erfolgreich in den Dauerbetrieb überführte automatische Texterzeugung ist die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Seit 2015 werden dort Tausende von Finanzberichten mithilfe der Software Wordsmith hergestellt.51 Unter den journalistischen Anwendungsfällen eignen sich Agenturtexte durch ihren stark formalen Charakter und ihre Funktion als Rohmaterial im Prozess der Aussagenentstehung besonders für die Automatisierung. Viele Agenturtexte müssen Datenlagen transportieren und dabei sprachlich möglichst generisch sein, damit sie 49

50 51

Das von Diakopoulos beschriebene Modell enthält Ideen und Begriffe der Psycholinguistik. Zum Verhältnis von formalen und natürlichen Sprachen: W. Levelt: Speaking: From intention to articulation. Vgl. N. Diakopoulos: Automating The News, S. 96ff. Vgl. A. Johri u.a.: Domain Specific Newsbots, S. 2.; siehe auch A. Fanta: Putting Europe’s robots on the map: automated journalism in news agencies.

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

für viele Medien nutzbar sind. Laut AP-Wirtschaftsredakteurin Lisa Gibbs ergeben sich durch den Einsatz von Automatisierungslösungen vielfältige Vorteile gegenüber der händischen Produktion: »The error rate is lower than it was with human reporters […] Robots do not make typos and they do not make math errors.«52 Gleichzeitig treten neue Herausforderungen auf, unter anderem weil Redaktionen lernen müssen, Hinweise auf mangelhafte Daten oder Erzeugungslogiken zu deuten.53 Es zeichnet sich ab, dass die strukturellen Veränderungen, die automatische Texterzeugung innerhalb großer Nachrichtenagenturen bedeuten, nicht exemplarisch für die gesamte Branche sind.54

2.2.2

Textverarbeitung

Jenseits der teil- und vollautomatisierten Produktion von Nachrichten wollen wir hier auch noch auf komplementäre Anwendungen von Machine Learning eingehen: Werkzeuge, die Redaktionen bei der Textverarbeitung unterstützen. Dies kann zum Beispiel in Form einer Textverarbeitung geschehen, die mehr als simple Rechtschreibprüfung bietet. Dabei können intelligente Editoren im redaktionellen Kontext als Teil von Content-Management-Systemen, als redaktionelle Eigenentwicklung55 oder auf Grundlage von cloudbasierten Anwendungen zum Einsatz kommen.56 Bereits während der Texteingabe bieten intelligente Editoren passende Links, Fakten, Änderungsvorschläge, Währungsumwandlungen und anderes mehr an. Eine Inspirationsquelle für derartige Lösungen ist dabei die Entwicklungsumgebung für Software, das Integrated Development Environment57 : Um den Quellcode herum entfalten sich beliebig komplexe Hilfsmittel, die beispielsweise syntaktische Fehler farbig markieren oder 52 53 54

55 56

57

N. Diakopoulos: Automating The News, S. 111. Siehe auch T. Montal/Z. Reich: I, robot. You, journalist. Softwareentwickler*innen mit Spezialisierung im Bereich Sprachtechnologie und ML sind kostenintensiv. Diese zu halten, können sich nur Agenturen oder große Verlage leisten. Siehe auch J. Stray: Making Artificial Intelligence Work for Investigative Journalism, S. 12. S. Ciocca: Building a Text Editor for a Digital-First Newsroom. So hat sich Google Docs zu einem Standard der Textverarbeitung in Redaktionen entwickelt, vgl. hierzu R. Withers: Journalists Just Can’t Quit Microsoft Word. But Some Are Trying. »[T]he idea for [Smart Compose] came in part from the writing of code – the language that software engineers use to program computers.« J. Seabrock: The Next Word. Where will predictive text take us? Siehe auch F. Lindenberg: What if journalists had story writing tools as powerful as those used by coders?

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Wiebke Loosen und Paul Solbach

die Ausgabe eines Computerprogramms im Hintergrund berechnen. Auch journalistisch genutzte Texteditoren gehen mittlerweile über Rechtschreibung und Orthografie deutlich hinaus: Sie können passende Formulierungen anbieten, Zahlen zur Unterfütterung von Behauptungen liefern und logische Inkonsistenzen erkennen. Zwar sind die zugrundeliegenden Verfahren wie Sentimentanalyse oder Entitätenerkennung58 nicht neu, durch die Verlagerung der Textverarbeitung in die Cloud werden sie aber in dieser Form einer breiten Masse erst zugänglich und funktional integrierbar. Sichtbare Beispiele für durch Machine Learning ermöglichte Hilfestellungen bei der Textarbeit sind etwa die Autovervollständigung Smart Compose in Google Mail, die Übersetzung von Textpassagen via DeepL59 oder die sprachlichstilistische Beratung durch einen Dienst wie Grammarly60 .

2.3

Distribution

Von besonderer Bedeutung sind Automatisierung und Machine Learning auch bei der Ausspielung fertiger Inhalte. Einerseits kann die Verbreitung journalistischer Produkte durch Entwicklungen im Bereich der maschinellen Übersetzung und der Sprachsynthese gesteigert werden, andererseits ermöglichen durch Daten erzeugte dichte Nutzungsprofile die Personalisierung von Inhalten. In beiden Anwendungsfällen kommen MachineLearning-Verfahren zum Einsatz. Dabei ermöglicht Machine Learning eine Zweitverwertung von alten und neuen Inhalten auf weiteren Plattformen, die für Medienunternehmen ökonomisch interessant sein kann.

2.3.1

Sprache/Übersetzung

Unter Sprachsynthese versteht man die künstliche Erzeugung von akustischer Sprachausgabe auf der Grundlage von phonetischen Daten. Als besondere Ausprägung dieses Verfahrens ist die Umwandlung von Text in Sprache (»Text-to-Speech«) für die Anwendung im Journalismus relevant. Die Sprachausgabe von Nachrichtentexten ist nichts grundsätzlich Neues: In digitalen Nachrichtenangeboten sind mitunter Texte integriert, die von 58

59 60

Sentimentanalyse beschreibt in diesem Fall die Erhebung von Stimmung und Emotionalität einer Texteinheit, ausgedrückt etwa durch einen numerischen Konfidenzwert zwischen 0 = negativ und 1 = positiv. Entitäten wie zum Beispiel Personen, Orte und Unternehmen sind Schlüsselelemente in einem Text. Siehe: https://www.deepl.com Siehe: https://www.grammarly.com

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

Menschen eingesprochen wurden.61 Neu ist hingegen die Einbettung von maschinell erstellten Sprachausgaben.62 Durch Entwicklungssprünge auf dem Gebiet des Machine Learning hat Sprachsynthese einen hohen Reifegrad erreicht.63 Angesichts der zunehmenden Popularität von Audio-Inhalten und Smart Speakern wie Amazon Echo oder Google Home sowie einer steigenden Qualität der automatisierten Sprachausgabe bei gleichzeitig fallenden Kosten kann man davon ausgehen, dass diese Anwendungen an Verbreitung gewinnen werden. Das Hamburger Abendblatt nutzt in seinem Online-Angebot zum Beispiel ein Tool des Unternehmens »BotTalk« (https://bottalk.io), das es ermöglicht, Nachrichtentexte automatisiert als Audiodatei auszugeben: Nutzer*Innen können sich also gezielt dafür entscheiden, sich Textbeiträge vorlesen zu lassen. Eine weitere, auch für den Journalismus relevante Technologie ist die maschinelle Übersetzung zwischen beliebigen Ziel- und Ursprungssprachen in hoher Qualität auf Grundlage von Machine Learning.64 Maschinelle Übersetzungen sind nicht nur eine Unterstützung im Arbeitsalltag von Journalist*innen, sie können ebenfalls ermöglichen, international relevante Inhalte in beliebige Sprachräume auszuspielen. So kann maschinelle Übersetzung und Sprachsynthese auch wirtschaftliche Potenziale für die Vermarktung von journalistischen Inhalten erschließen.

2.3.2

Personalisierung

Entlang der Erhebung, Analyse und Interpretation von Nutzerdaten vollzieht sich ein weiterer Datenzyklus. Durch die Interaktion mit journalistischen Digitalangeboten hinterlassen Nutzer*innen vielfältige digitale Spuren.65 Sie werden in Redaktionen als eine Form der Erfolgsmessung mithilfe von Analytics ausgewertet, etwa um zu überprüfen, welche Inhalte wie lange gelesen

61

62 63

64 65

Etwa bei den Digitalangeboten von Zeit (https://premium.zeit.de/zeit-audio), New Yorker (https://newyorker.com) oder Golem (https://www.golem.de/specials/vorgelesen/). Etwa als Teil der Anwendung »Pocket« (https://getpocket.com). Ein Beispiel für den aktuellen Entwicklungsstand ist etwa Polly, eine von Amazon bereitgestellte API für Neural Text-to-Speech (NTTS). Siehe https://aws.amazon.com/de/polly/ Siehe Google Neural Machine Translation (NMT) https://ai.googleblog.com/2016/09/a-neural-network-for-machine.html und DeepL https://www.deepl.com/en/translator Vgl. A. Breiter/A. Hepp: Digital Traces in Context.

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Wiebke Loosen und Paul Solbach

oder wie oft geteilt werden.66 Sie eröffnen aber auch eine personalisierte Ansprache von Nutzergruppen. Diese kann differenziert werden in eine Personalisierung auf der Angebots-, der Text- und der Marketingebene. Personalisierung kann aus Nutzersicht eine Aufwertung des Angebots darstellen und ist aus Anbietersicht zugleich mit einer zielgruppenspezifischen Vermarktung von Inhalten verbunden. So gesehen dreht sich die Personalisierung von Inhalten um journalistische sowie um (mehr oder weniger im Vordergrund stehende) ökonomische Dimensionen. Aus Nutzerdaten lassen sich feingranulare Nutzerprofile ableiten, die als Zielgruppensegmente für beide Arten des Targeting nutzbar gemacht werden: sowohl für journalistische Inhalte als auch für Werbung. Die so ermittelten Segmente sind dabei viel weniger starr als solche, die vor allem aus soziodemografischen Variablen gebildet werden. Derartige maschinell ermittelte Cluster fassen Gruppen von Objekten mit ähnlichen Eigenschaften zusammen (siehe Abschnitt 2.1. zur Datenerhebung). Um für die so ermittelten Gruppen passende Inhalte zu finden, werden wiederum Verfahren aus der Textanalyse wie Topic Modeling eingesetzt, die Inhalte nach bestimmten Themen klassifizieren. Die Segmentierung von Nutzergruppen als auch die Kategorisierung von Inhalten sind wiederum Vorbedingungen von Empfehlungssystemen (News Recommender Systems). Personalisierte Empfehlungen haben sich zu wichtigen Treibern von Wiederansprache und Verweildauer auf Nachrichtenangeboten entwickelt.67 Da sie im Wesentlichen auf Statistik basieren, sind sie ideale Anwendungsfälle für Machine Learning.68 Auf der Artikel- oder Textebene kann Personalisierung wiederum vom Fortschritt im Bereich der automatischen Texterzeugung profitieren, denn theoretisch können Inhalte auf diesem Wege auch für beliebig wenige Nutzer*innen und on demand erzeugt werden. Diese Form der Personalisierung findet nicht auf der Ebene von Beitragsempfehlungen statt, sondern auf der

66

67 68

Vgl. L. Manovich: 100 Billion Data Rows per Second; E. Tandoc: Journalism is twerking?; E. Tandoc: Why Web Analytics Click; V. Belair-Gagnon/A. Holton: Boundary Work, Interloper Media and Analytics in Newsrooms; »Newsrooms should be able to quantify journalistsʼ intended audiences, and determine whether their work is actually reaching those readers. Otherwise it will be impossible to evaluate whether the choices they make are the right ones.« (J.G. Robinson: The Audience in the Mind’s Eye) Vgl. N. Diakopoulos: Automating the News, S. 186. Siehe Überblick der gängigen Systeme bei: M. Karimi/D. Jannach/M. Jugovac: News Recommender Systems – Survey and Roads Ahead; außerdem: Schweiger u.a.: Algorithmisch personalisierte Nachrichtenkanäle.

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

Ebene des Inhalts selbst, etwa indem der Stil oder Textelemente an Nutzerpräferenzen adaptiert werden.69 Auch wenn diese Art der personalisieren Inhalteproduktion noch in einer frühen Entwicklungsphase steckt, so wirft sie doch die grundlegende Frage auf, inwieweit derartige an individuelle Präferenzen adaptierte Inhalte eigentlich noch Nachrichten im sozialen Sinne repräsentieren: mehr oder wenige geteilte Quellen, die es ermöglichen zu wissen, was andere wissen.

2.4

Nutzung

Wie schon dargelegt, gehört es zu den Besonderheiten eines datengetriebenen/-gesteuerten Journalismus, dass die einzelnen Dimensionen des News Circle bestehend aus Beobachtung – Produktion – Distribution und Nutzung unter Umständen immer enger aneinander gekoppelt werden können. So gehören das vermehrte Aufkommen und die Nutzung von nutzer- und nutzungsbezogenen Daten im Journalismus zu den in der Journalismusforschung am intensivsten untersuchten Themen – auch weil es dabei immer wieder um die Frage geht, inwieweit die gestiegene Verfügbarkeit von Audience Analytics Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen hat und unter Umständen zu einem »metrics-driven journalism« führt, also einem vor allem im Hinblick auf Nutzungsstatistiken optimierten Journalismus, in dem Selektionsentscheidungen stark oder gar ausschließlich an dem Ziel ausgerichtet sind, hohe Reichweiten zu erzielen.70

2.4.1

Analytics und Nutzerdaten

In der Vorhersage von Nutzerverhalten in Bezug auf Kaufneigung, Affinität zu bestimmten Themen und Durchklickraten auf Anzeigen spielt Machine Learning eine wichtige Rolle (»predictive analytics«): Verlage ermitteln Wahrscheinlichkeitswerte für den Abschluss oder die Kündigung von Abonnements (»Churn Management«), um entsprechende Nutzer*innen auf dieser Grundlage gezielt ansprechen und konvertieren zu können.71 So ist das Marketingteam der New York Times mithilfe der Eigenentwicklung Readerscope in der Lage, jenseits von klassischen Kategorien wie etwa Ressorts zu erkennen, wie 69 70

71

Vgl. N. Diakopoulos: Automating the News, S. 112. Vgl. F. Cherubini/R. Kleis Nielsen: Editorial Analytics: How News Media Are Developing and Using Audience Data and Metrics; R. Zamith: Quantified Audiences in News Production. A. Spencer: Data Science at The New York Times.

193

194

Wiebke Loosen und Paul Solbach

sich Interessenlagen der Nutzer*innen zusammensetzen – was die Zuordnung von Werbebotschaften erleichtert.72 Insofern überlappen sich die Bereiche Distribution/Personalisierung und Analytics deutlich, da sie im Kern einen geteilten Datenzyklus der Erfassung und Auswertung von Nutzerdaten zu journalistisch-inhaltlichen und geschäftsstrategischen Zwecken bilden.

2.4.2

Interaktion und Anschlusskommunikation: Automatisierte Analyse von Nutzerkommentaren

Erhöhtes Datenaufkommen ist im Journalismus auch durch die immer noch vergleichsweise neuen Formen der Publikumsinteraktion und -partizipation entstanden.73 Nutzer*innen können Inhalte nicht nur rezipieren, sondern auch teilen und verbreiten, (öffentlich) bewerten und kommentieren, sich an der Produktion von Inhalten beteiligen und auch direkt mit Redaktionen und einzelnen Journalist*innen kommunizieren.74 Es fallen also auch in dieser Phase des Arbeitsprozesses, in der Interaktion mit dem Publikum und im Umgang mit seinen Reaktionen auf journalistische Beiträge, Automatisierungsbedarfe an. Chatbots und Interfaces, die eine Form der Mensch-Maschine-Kommunikation ermöglichen, werden im Journalismus bisher vor allem als konversationsartige Form der Nachrichtenvermittlung/-distribution eingesetzt und weniger für die Interaktion mit Nutzer*innen.75 Ein Beispiel ist Resi, eine mittlerweile eingestellte App, die Nachrichten mithilfe eines Chatbots auf eine Instant Messenger ähnliche Weise präsentierte und dabei im Grunde eine Konversation mit Nutzer*innen über Nachrichten simulierte. Dahinter stand eine vergleichsweise simple Form der Automatisierung, die auch heute noch viel Handarbeit erforderlich macht.76 Auch die englischsprachige App Quartz wurde nach drei Jahren eingestellt, weil »chatting with the news« offenbar kein allzu großes Bedürfnis von Nutzer*innen war.77

72

73 74 75 76 77

»When a pharmaceutical company wanted to align with Times content, but was unsure where to target ads, Readerscope revealed that ›wellness seekers‹ not only read health articles, but also significant amounts of science and home coverage.« K. Timmers: New York Times Readerscope turns article data into action. Vgl. W. Loosen 2019: Community Engagement and Social Media Editors. Vgl. Ebd. Vgl. J. Bronwyn/J. Rhianne: Public Service Chatbots: Automating Conversation with BBC News. Vgl. A. Hepp/W. Loosen: Pioneer journalism. J. Benton: R.I.P. Quartz Brief, the innovative mobile news app.

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

Produktiv eingesetzt werden konversationale Interfaces hingegen im Bereich Vertrieb und Kundenbetreuung – quer über verschiedene Industrien.78 Hier geschieht die automatisierte Beantwortung von Anfragen oder die Entscheidung über eine Weiterleitung zur menschlichen Bearbeitung teilweise unter Verwendung von Machine Learning.79 Dieser Anwendungsfall ist dabei nicht journalismusspezifisch, sondern betrifft etwa den Bereich der Abonnentenbetreuung großer Medienmarken. Das hohe Aufkommen von Nutzerkommentaren im Umfeld von journalistischen Angeboten hat dazu geführt, dass auch diese zunehmend zum Gegenstand automatisierter Analyseverfahren geworden sind.80 Im Hinblick auf redaktionell-journalistische Bedarfe im Umgang mit Nutzerkommentaren sind verschiedene Anwendungen interessant. Reimer u.a.81 identizifieren im Rahmen einer systematischen Literaturanalyse, dass in Studien zur Analyse von Nutzerkommentaren im Journalismus folgende (teilweise supervised, teilweise unsupervised) ML-Verfahren eingesetzt worden sind: • • • • • •

Sentimentanalysen im Hinblick auf Nutzeräußerungen gegenüber einem Nachrichtenthema/-beitrag; Identifikation von »Troll-Kommentaren«, Hate Speech und Spam; Bestimmung, ob ein Kommentar sich auf das Thema eines kommentierten Beitrags bezieht; Analyse der Diskursstruktur innerhalb von Nutzerkommentaren etwa im Hinblick darauf, ob sie aufeinander Bezug nehmen; Topic Clustering etwa um Themen zu identifizieren, die viele Diskussionen anregen; Bestimmung von Vielfalt und Anomalien in Nutzerkommentaren.

In vielen Redaktionen werden mittlerweile Systeme eingesetzt, die vorrangig bei der Identifikation von Kommentaren helfen, die nicht für die Veröffentlichung freigeschaltet werden sollen. Mehr und mehr werden aber auch KI/ML-basierte Verfahren entwickelt, die Redaktionen dabei unterstützen

78 79 80 81

Vgl. Petter B. Brandtzaeg/A. Følstad: Why People Use Chatbots, S. 3. A. Konrad: Chatbots Are Dead. Vgl. Loosen u.a.: Making sense of user comments. Reimer u.a.: Analysing user comments in online journalism: a systematic literature review.

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196

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sollen, Nutzerkommentare auch für inhaltliche Zwecke aufzubereiten: etwa um Pro- und Kontra-Argumente oder Meinungen zu einem Thema zu identifizieren.82

3.

Fazit

Datafizierung und Formen von (KI-basierter) Automatisierung stehen für Prozesse und Entwicklungen, die nicht nur Veränderungen im Journalismus auslösen, sondern sich auch auf die Gesellschaft und ihre Kommunikationsverhältnisse insgesamt auswirken. Aus Sicht des Journalismus wandelt sich damit also auch die Gesellschaft, die er beobachtet und über die er berichtet – ebenso wie die Mittel und Methoden, mit denen er das tut. Nachrichtenlagen im Journalismus sind (mehr und mehr) immer auch Datenlagen – und Datenlagen Nachrichtenlagen. Auch deswegen sind »Künstliche Intelligenz« und »Algorithmen« in den letzten Jahren zunehmend zu Themen journalistischer Berichterstattung geworden. Darüber hinaus entwickelt sich ein Berichterstattungsmuster des Algorithmic Accountability Reporting, bei dem es darum geht, Softwaresysteme zu Gegenständen der Berichterstattung zu machen, um beispielsweise algorithmische Entscheidungen und ihre Folgen transparent zu machen.83 Im Mittelpunkt dieses Beitrags standen Formen von (KI-basierter) Automatisierung mit Blick auf die journalistische Aussagenentstehung und -verbreitung. Ebenso relevant ist aber, dass Machine-Learning-Verfahren in Medienorganisationen auch in Bereichen eingesetzt werden, die außerhalb der journalistisch-redaktionellen Bereiche liegen. Der Chief Data Scientist der New York Times unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen Church und State: »Church are the people who possess and defend the craft of journalism. State is everything else«; die Abteilung Data Science sei klar im Bereich State verortet, »trying to do things that you do not see [...] helping the business to be economically strong«.84 In welcher Weise sich das Zusammenspiel zwischen journalistischen und ökonomischen Interessen mit Datafizierung Automatisierung wandelt, gehört zu den entscheidenden Fragen.

82 83 84

Siehe zum Beispiel die verschiedenen Tools, die im Rahmen des Coral Project entwickelt werden: https://coralproject.net Vgl. N. Diakopoulos: Algorithmic Accountability. A. Spencer: Data Science at The New York Times.

Künstliche Intelligenz im Journalismus?

Wichtig ist außerdem: Die Systematisierung von Formen von (KIbasierter) Automatisierung entlang der Phasen journalistischer Aussagenentstehung stellt eine analytische Trennung dar. Sie dient der Verdeutlichung, dass (KI-basierte) Automatisierung für eine sich »rhizomatisierende«, das heißt sich in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche ausbreitende und in sich verflochtene Softwaretechnologie steht, die den Journalismus sowie seine Strukturen und Arbeitsprozesse ebenso durchdringt wie die gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse, in denen er operiert. Die behandelten Formen und Verfahren (KI-basierter) Automatisierung können sich aber auch in Softwaresystemen bündeln und erscheinen uns dann mitunter als mit Menschen kommunizierende Maschinen etwa in Form von »Communicative Robots«85 oder Newsbots, die eine Kombination aus Technologien wie NLP, Texterzeugung und Sprachausgabe darstellen. Damit werden sie neuartige, nicht-menschliche Teilnehmer in Kommunikationsprozessen, deren Besonderheit nicht darin besteht, »dass die Maschine denken kann, sondern dass sie kommunizieren kann«86 .87 Vor diesem Hintergrund hat man es gleichermaßen sowohl mit automatisierter Kommunikation als auch mit kommunikativer Automatisierung zu tun. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive geht es nicht vorrangig und schon gar nicht ausschließlich darum, (KI-basierte) Technologien zu verstehen: Ein Verständnis für den Wandel des Journalismus und journalistischer Arbeitsprozesse können wir nur erlangen, wenn wir (KI-basierte) Technologien im Zusammenspiel mit journalistischen Praktiken betrachten. Entscheidend sind also die Beziehungen zwischen Technik(-Entwicklung) und journalistischem Arbeiten und Denken sowie die Frage, in welcher Weise Softwaresysteme als Beobachter, (Mit-)Entscheider und nicht-menschlicher Akteur in der journalistischen Praxis agieren. Gleichzeitig fällt auf, dass es in Debatten über Algorithmen und (KIgesteuerte) Automatisierung vielfach um Fragen geht, die wir (in der Gesellschaft und in der Journalismusforschung) traditionell an den Journalismus 85

86 87

Vgl. A. Hepp: Artificial Companions, Social Bots und Work Bots: Kommunikative Roboter als Forschungsgegenstand der Kommunikations- und Medienwissenschaft; W. Loosen/A. Hepp: Communicative Robots in Pioneer Journalism. E. Esposito: Artificial communication? The production of contingency by algorithms, S. 250. Zum Verhältnis von Mensch-Maschine-Interaktion, Kommunikationswissenschaften und Automatisierung siehe S.C. Lewis u.a.: Automation, Journalism and HumaneMachine Communication.

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stellen:88 Nach welchen Kriterien selektieren Journalist*innen/Algorithmen? Wie bestimmen sie Relevanz und wie verarbeiten sie welche Arten von (Daten-)Quellen? Aus dieser Perspektive führt die zunehmende Durchdringung des Journalismus mit (KI-getriebenen) Automatisierungsprozessen zu einer Verdoppelung dieser Fragen. Wir müssen nun fragen, wie der Journalismus seine Beobachtung der Gesellschaft mithilfe von Softwaresystemen organisiert, die selbst wiederum nach eigenen Regeln beobachten, selektieren, hierarchisieren etc. und was es bedeutet, wenn sie, wie im Falle von Bots, zu Beteiligten in Kommunikationsprozessen werden.

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88

Vgl. W. Loosen/A. Scholl: Journalismus und (algorithmische) Wirklichkeitskonstruktion.

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199

200

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203

Editorial Analytics Chancen und Herausforderungen für den digitalen Nachrichtenjournalismus Annika Sehl und Maximilian Eder

1.

Einleitung

40 Jahre liegen zwischen den Monografien »Der mißachtete Leser«1 und »Diktatur des Publikums«2 . Die Titel der Bücher bringen auf den Punkt, wie sich das Verhältnis zwischen Journalismus und Publikum in der Zwischenzeit verändert hat. Das Publikum, einst vernachlässigte Größe im Journalismus, hat bereits seit Ende der 1980er an Bedeutung für Journalist*innen gewonnen.3 Im digitalen Journalismus ist heute jedoch eine neue Dimension der Journalismus-Publikums-Beziehung erreicht, so dass einige schon vom »audience turn« im Journalismus und der Journalismusforschung sprechen.4 Denn zum zufälligen Beobachten des Publikums, etwa über Leserpost oder direkten Kontakt mit den Rezipient*innen, und der systematischen Beobachtung mithilfe der empirischen Publikumsforschung ist nun die selektiv-systematische Beobachtung durch Zugriffszahlen im Internet hinzugekommen.5 Der technologische Fortschritt und Kampf um Nutzeraufmerksamkeit führt dazu, dass Nachrichtenredaktionen quantitative Nutzungsdaten systematisch auswerten. Dazu setzen sie speziell auf ihre redaktionellen Bedürfnisse zugeschnittene Tools ein (zum Beispiel Chartbeat, Parse.ly oder NewsWhip). Neue Jobprofile wie »audience editor«, »audience development

1 2 3 4 5

P. Glotz/W.R. Langenbucher: Der mißachtete Leser. M. Meyen/C. Riesmeyer: Diktatur des Publikums. R. Hohlfeld: Der missachtete Leser revisited. I.Costera Meijer/T. Groot Kormelink: Revisiting the audience turn in journalism. R. Hohlfeld: Journalistische Beobachtung des Publikums, S. 137-140.

206

Annika Sehl und Maximilian Eder

editor« oder »audience engagement editor« sind in Redaktionen entstanden. Neue Messgrößen (etwa Social-Media-Interaktionen, Zeit auf der Website oder Loyalität) lösen alte (vor allem Page Views und Visits) ab. Editorial Analytics ergänzen dabei die klassische Publikumsforschung, denn sie messen direkt das Verhalten der Nutzer*innen, für eine konkrete Website, nach verschiedenen Kriterien einstellbar (zum Beispiel Zeit, Ressorts, Nutzersegmente, Nutzungsort, Nutzungsgerät etc.) und teilweise in Echtzeit. Die selektiv-systematische Auswertung von Nutzungsdaten im Internet bietet für Medienorganisationen die Möglichkeit, die Wünsche und Bedürfnisse ihres Publikums besser kennenzulernen und ihr Angebot entsprechend auszurichten. Allerdings sind Medienangebote andere Produkte als Konsumgüter wie etwa Autos, und Journalismus hat darüber hinaus eine gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen. Daher haben Editorial Analytics auch zu Diskussionen um ihre Grenzen und Risiken in der Forschung und Praxis geführt. Ziel dieses Aufsatzes ist es, einen Überblick über die selektiv-systematische Beobachtung des Publikums im Internet mittels Editorial Analytics zu geben sowie ihre Potenziale und Risiken für den digitalen Nachrichtenjournalismus zu diskutieren. Dazu wird zunächst eine Begriffsabgrenzung vorgenommen, da derzeit zahlreiche Begriffe für das beschriebene Phänomen verwendet werden. Im Anschluss werden zunächst Möglichkeiten der Nutzungsdatenanalyse in Echtzeit diskutiert, bevor auf das Spanungsfeld zu inhärenten journalistischen Normen eingegangen wird. Schließlich wird der Einsatz von Editorial Analytics in Abhängigkeit zum Typ der Medienorganisation analysiert.

2.

Definition

Den Untersuchungsgegenstand eindeutig zu definieren ist vor allem bei neueren Phänomenen wichtig, wenn oftmals noch wenig Konsens über Begrifflichkeiten und ihre Bedeutung besteht. Das gilt auch für die Möglichkeit der Nutzungsdatenanalyse im digitalen Journalismus. In der Literatur finden

Editorial Analytics

sich dafür unter anderem folgende Begriffe: »Web Analytics«6 , »Editorial Analytics«7 , »Newsroom Analytics«8 oder »Audience Analytics«9 . Trotz gradueller Unterschiede in den Begriffen und ihrer Bedeutung sind bestimmte Charakteristiken bei allen präsent. Tandoc und Maitra beschreiben den Vorgang des Audience Measurement im Journalismus ganz allgemein als einen »process of collecting, analyzing, reporting, and interpreting data about size, composition, behaviour, characteristics, and preferences of individuals interacting with particular media brands or products«10 . Im digitalen Journalismus sind dazu Nutzungsdaten teilweise in Echtzeit verfügbar, die mit speziellen Tools nach bestimmten Metriken (»Metrics«) ausgewertet werden können, um die Nutzung von Websites besser zu verstehen und sie gegebenenfalls optimieren zu können. Dazu zählen traditionellere Metriken wie Page Views, Visits, Unique Visitors oder elaboriertere Metriken wie Referrals von anderen Websites oder die Conversion Rate, das heißt, wie viel Prozent der Leser*innen eine bestimmte gewünschte Handlung vorgenommen haben, wie beispielsweise sich zu registrieren oder ein Abo abzuschließen.11 Die Auswahl, Auswertung und Nutzung dieser Daten und Metriken kann unterschiedlich differenziert erfolgen. Cherubini und Nielsen unterscheiden drei Stufen: »editorial, generic, and rudimentary analytics«12 . Grundlage der Unterscheidung sind »different levels of development in terms of tools, organisation, and culture«13 . Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, wie die Nutzungsdatenanalyse in Redaktionen umgesetzt wird, welche technologischen Möglichkeiten genutzt werden (zum Beispiel allgemeine oder organisationsspezifische Programme, Datenquellen etc.), ob es einen klaren Ansatz für die Datenauswertung gibt (beispielsweise mit entsprechend spezialisiertem Personal, in größeren Redaktionen auch dezidierten Teams) und ob sowohl

6 7 8 9 10 11 12 13

E.C. Tandoc: Why web analytics click; F. Hanusch: Web analytics and the functional differentiation of journalism cultures. F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics. C. Petre: Engineering consent. R. Zamith: Quantified audiences in news production. E.C. Tandoc/J. Maitra: Audience measurement, S. 1. Für einen Überblick über verschiedene Metriken siehe F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics, S. 34-35. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24.

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Annika Sehl und Maximilian Eder

Manager als auch einfache Journalist*innen in der Organisation die Datenauswertungen bei (täglichen) Entscheidungen heranziehen.14 Editorial Analytics grenzen sich dabei von Generic oder Rudimentary Analytics dadurch ab, dass sie erstens strategische Prioritäten und organisationale Erfordernisse beachten, zweitens sowohl bei kurzfristigen täglichen Entscheidungen als auch bei der langfristigen strategischen Entwicklung beachtet werden und drittens sich Entwicklungen im Medienumfeld anpassen.15 Die weiteren eingangs zitierten Begriffe unterscheiden sich durch leichte Schwerpunktverschiebungen innerhalb dieses allgemeinen Rahmens. Der Begriff »Web Analytics« wird dabei in der Regel recht allgemein für die Erhebung und Verwendung von Daten im Onlinebereich mit einem Fokus auf Websites verwendet. Dies gilt sowohl für den Journalismus als auch für andere Bereiche, in denen aus Onlinespuren Erkenntnisse über Nutzer*innen und Kund*innen generiert werden sollen.16 Im journalistischen Kontext wird beispielsweise ausgewertet, welche Überschriften und Links angeklickt werden oder wie viel Zeit Rezipient*innen für einzelne Artikel aufwenden.17 Beim Begriff »Newsroom Analytics« dagegen stehen die Implikationen für journalistisches Handeln im Zentrum. Petre argumentiert, dass ein Vorteil der Nutzungsdatenanalyse für Newsrooms darin liegen kann, dass Journalist*innen sie als vereinbar mit ihrem Selbstverständnis und ihrer journalistischen Autonomie sehen, da sie sie als »unmediated by management«18 begreifen. Es geht also darum, wie Redaktionen selbst mit den Erkenntnissen umgehen, ob und wie die gewonnenen Informationen zur Rationalisierung journalistischer Arbeitsprozesse beitragen und zum Beispiel Auswahl- und Positionierungsentscheidungen prägen. Im Gegensatz dazu stehen im Kontext von »Audience Analytics« die Nutzer*innen selbst und eine zeitgemäße Erklärung des Nutzungsverhaltens im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses (»modern rationalization of audience understanding«19 ). Zamith definiert Audience Analytics als »systems that capture a range of audience behaviors«20 . Verhaltensweisen und Präferenzen der

14 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 23. Ebd., S. 9. B. Weischedel/S. Matear/K.R. Deans: A qualitative approach to investigating online strategic decision making. P.M. Napoli: Audience evolution. C. Petre: Engineering consent, S. 510. R. Zamith: Quantified audiences in news production, S. 420. Ebd., S. 418.

Editorial Analytics

Nutzer*innen werden über Algorithmen erfasst, die Datenanfragen protokollieren, Benutzeraktionen erfassen und Daten aggregieren, um Nutzungsmuster hervorzuheben oder Empfehlungen abzugeben. Die Erhebung und Analyse von Nutzungsdaten beschränkt sich nicht auf journalistische Websites. Auch für Social Media gibt es eigene Metriken wie Interaktionen, Likes, Shares, die Anzahl an Kommentaren etc.21 In Anlehnung an die von Cherubini und Nielsen22 dargestellte Begriffsbestimmung definieren die Autorin und der Autor hier Editorial Analytics als eine Kombination unterschiedlicher Metriken im digitalen Journalismus, die auf spezifische redaktionelle Prioritäten und organisationale Erfordernisse zugeschnitten ist. Editorial Analytics dienen dabei sowohl der kurzfristigen Entscheidungsfindung im Tagesgeschäft als auch der längerfristigen Strategieentwicklung und passen sich Entwicklungen im Medienumfeld an.

3.

Möglichkeiten der Nutzung von Editorial Analytics

Medienorganisationen sind seit jeher bemüht, Daten über die Demografie, den Konsum und die Verhaltensmuster ihres Publikums zu sammeln.23 Adäquate Messinstrumente waren dabei allerdings die Ausnahme. Traditionell mussten sich Journalist*innen eher auf ihr Bauchgefühl oder das Feedback von Kolleg*innen oder Freund*innen verlassen.24 Das Publikum war eine weitgehend undefinierte und imaginäre Größe, abgeschnitten von der eigentlichen Nachrichtenproduktion.25 Nach Boczkowski und Peer führte dies zu einem »Choice Gap« zwischen der redaktionellen Themensetzung und den Inhalten, die Nutzer*innen rezipieren.26 Heute haben Redaktionen Zugang zu einer großen Anzahl von Standardwerkzeugen wie Omniture und Google Analytics zur Datenanalyse von Webinhalten, Facebook Insight und weitere Tools zur Analyse von Social Media und speziell für redaktionelle Zwecke entwickelte Softwarelösungen

21 22 23 24 25 26

A. Sehl/A. Cornia/R.K. Nielsen: Public service news and social media, S. 22-27. F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics, S. 9. H.T. Vu: The online audience as gatekeeper; C. Petre: The traffic factories; M. Carlson: Confronting measurable journalism. H.J. Gans: Deciding what’s news. M. Carlson: Journalistic authority. P.J. Boczkowski/L. Peer: The choice gap.

209

210

Annika Sehl und Maximilian Eder

wie Chartbeat, Parse.ly und NewsWhip. Darüber hinaus wurden von Medienorganisationen auch selbst Tools entwickelt, um spezifischen redaktionellen und organisatorischen Anforderungen Rechnung zu tragen.27 Eines der prägenden Beispiele ist die vom britischen Guardian entwickelte Software Ophan. Seit 2012 eingesetzt, bietet Ophan die Möglichkeit einer präzisen Datenanalyse. Die Software selbst ist browserbasiert und kann auch über mobile Endgeräte aufgerufen werden. Erfasst werden Metriken wie Seitenaufrufe, Social Shares und Attention Time für unterschiedliche Plattformen wie Facebook, Twitter, Whatsapp oder das chinesische WeChat. Darüber hinaus wird erhoben, ob der entsprechende Artikel über die Social-MediaKanäle des Guardian verbreitet wurde (einschließlich des genauen Posts oder Tweets) oder über die Website.28 Diese neue Art der Messung von journalistischen Inhalten wurde erst durch die Entwicklung spezifischer Technologien vorangetrieben, die eine Beobachtung, Quantifizierung und Vorhersage der Leistung von Stories in Echtzeit ermöglichen.29 Redaktionen nutzen die systematische Analyse quantitativer Daten für verschiedene Zwecke, einschließlich zur Beobachtung von Aufrufzahlen und um das Engagement der Rezipient*innen zu erhöhen oder zur Verbesserung bestehender redaktioneller Arbeitsabläufe.30 Folglich besteht eine starke Wechselwirkung zwischen Journalismus, Publikumsreichweite und Einnahmen. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die zum wirtschaftlichen Erfolg von Newsrooms beitragen (zum Beispiel Abonnements oder Werbeeinnahmen), grundsätzlich gilt aber ein Credo: »More people means more money.«31 Die Erhebung und Auswertung von Nutzungsdaten fügt sich hier also ein, da ein besseres Verständnis der Publikumsbedürfnisse helfen kann, Reichweiten zu steigern und so wirtschaftliche Ziele zu erreichen.32 Auf der positiven Seite steht folglich das transformative Potenzial redaktioneller Metriken im Vordergrund.33 Dabei werden Editorial Analytics und in einem größeren Rahmen »Big Data« als ein weiterer Schritt hin zu einem

27 28 29 30 31 32 33

F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics, S. 24-28. M. Chauvin: How we integrated off-platform at the Guardian. M. Carlson: Journalistic authority. C. Anderson: Between creative and quantified audiences; M. Bunce: Africa in the click stream. J.L. Nelson/E.C. Tandoc: Doing »well« or doing »good«, S. 1962. P. MacGregor: Tracking the online audience, S. 282. C. Anderson: Between creative and quantified audiences; H.T. Vu: The online audience as gatekeeper.

Editorial Analytics

quantifizierbaren Publikum (»quantified audience«34 ) aufgefasst. Durch den Einsatz von Algorithmen und analytischen Messinstrumenten können Entscheidungen anhand objektiver Informationen und nicht auf der Basis unzuverlässiger Intuition oder Urteilskraft35 getroffen und Zielgruppen spezifischer angesprochen werden. Methodisch bleiben bei Editorial Analytics nach heutigem Stand jedoch Herausforderungen und Grenzen. Die Frage, wie Nutzer*innen mit Journalismus umgehen, warum und was er ihnen bedeutet und vice versa bleibt letztlich ungeklärt, nicht zuletzt durch Probleme der Datenverfügbarkeit, etwa von demografischen Daten oder solchen von konkurrierenden Medienorganisationen, der Inkompatibilität zwischen verschiedenen Arten von Metriken und Plattformen wie Social Media und den allgemeinen Einschränkungen bei der Verwendung quantitativer Indikatoren.36

4.

Journalistische Normen und Editorial Analytics

Während der vorherige Abschnitt die Möglichkeiten von Editorial Analytics diskutiert hat, arbeitet dieser Abschnitt Kritik an ihnen und Auswirkungen auf journalistische Normen heraus. Boczkowski und Peer sehen es als kritisch an, wenn die Differenz (»Choice Gap«) zwischen journalistischen Auswahlentscheidungen und Publikumspräferenzen mittels der Auswertung von Metriken zu weit aufgehoben würde.37 Sie warnen davor, dass sich Redaktionen datengetrieben an dominante Verhaltensmuster, bei denen Soft News Vorrang vor Public Affairs-News haben, anpassen und in der Folge die Informations- und Kontrollfunktion der Medien eingeschränkt werden könnte.38 Auch Tandoc und Thomas fürchten in Bezug auf Editorial Analytics eine Verdrängung der objektiven journalistischen Bewertungen von Nachrichten zugunsten einer zu starken Orientierung am Publikum und vor allem dem Markt.39 Tatsächlich zeigen theoretische wie empirische Arbeiten, dass eine starke Orientierung von Journalist*innen an den (vermeintlichen) Wünschen und 34 35 36 37 38 39

D. Moyo/A. Mare/T. Matsilele: Analytics-driven journalism?, S. 494. C. Petre: The traffic factories; C. Petre: Engineering consent. F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics, S. 37. P.J. Boczkowski/L. Peer: The choice gap. Ebd., S. 870. E.C. Tandoc/R.J. Thomas: The ethics of web analytics, S. 251.

211

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Annika Sehl und Maximilian Eder

Bedürfnissen des Publikums überwiegend zu publikumsfreundlichen (»audience friendly«40 ) Inhalten und »Soft News«41 wie Unterhaltungs-, Sport- und Lifestyle-Nachrichten42 führen kann. Die Gründe dafür sind vielfältig. Vorrangig dürfte die Notwendigkeit sein, die Nachrichtenproduktion mit dem ökonomischen Druck des Marktes in Einklang bringen zu müssen.43 Vorbehalte von Journalist*innen scheinen dabei eine untergeordnete Rolle zu spielen. So konstatiert Anderson: »When it came to questions of the role of audience metrics and traffic figures, much of the ambiguity expressed by journalists with regard to their audiences disappeared. They, much like newsroom managers, were obsessed with ›traffic‹.«44 Durch den Einsatz von Algorithmen können auf Basis der zeitverzögerten Analyse von Nutzungsdaten die Nachrichten auf den jeweiligen Websites nicht nur platziert, sondern durch ein Mehr an Daten im Tagesverlauf kontinuierlich optimiert werden. Gemäß den Befunden von Lee, Lewis und Powers ist die Wirkung der Nachrichtenplatzierung auf die Klicks der Nutzer*innen dabei unidirektional: Die Wirkung der Klicks der Nutzer*innen auf die Nachrichtenplatzierung ist stärker als die verzögerte Wirkung der Nachrichtenplatzierung auf die Klicks der Zuschauer*innen.45 Bisherige Studien gehen davon aus, dass Metriken nicht zu einem datengetriebenen, sondern eher einem dateninformierten Journalismus führen. Dabei sind Metriken lediglich ein Faktor, der redaktionelle Entscheidungen informiert und beeinflusst.46 Graves und Kelly kommen in ihrer Studie über Journalist*innen des Miami Herald und des Wall Street Journal zu dem Ergebnis, dass die durch Editorial Analytics erhobenen Kennzahlen wichtige Werkzeuge für die Redaktionen sind, aber die redaktionelle Ausrichtung nicht negativ, im Sinne einer Ausrichtung auf Clickbaiting, beeinflussen.47

40 41 42 43 44 45 46 47

A. Currah: What’s happening to our news?, S. 136. S. Fengler/S. Ruß-Mohl: Journalists and the information-attention markets. R.A. Beam: Content differences between daily newspapers with strong and weak market orientations; P. Ferrucci: Primary differences. J.L. Nelson/E.C. Tandoc: Doing »well« or doing »good«, S. 1962. C. Anderson: Between creative and quantified audiences, S. 558. A.M. Lee/S.C. Lewis/M. Powers: Audience clicks and news placement, S. 506. D. Moyo/A. Mare/T. Matsilele: Analytics-driven journalism?, S. 492. L. Graves/J. Kelly: Confusion online.

Editorial Analytics

Lee-Wright zeigt anhand der Anzeigetafeln von Sky News auf, dass die erhobenen Informationen nicht die redaktionelle Entscheidungsfindung beeinflussen, sondern Journalist*innen über die Nutzer*innen aufklären.48 Bright und Nicholls untersuchten für fünf große britische Nachrichtenmedien die Wahrscheinlichkeit, dass Artikel von der Titelseite entfernt werden, unter Berücksichtigung der »meistgelesen«-Rubrik und konnten durchaus einen Einfluss nachweisen.49 Sie zeigen, dass die kurzfristige Wahrscheinlichkeit, von der Titelseite entfernt zu werden, um etwa 25 Prozent sank, wenn der Artikel in der »meistgelesen«-Rubrik erschien und dass dieser Effekt sowohl für politische als auch für Unterhaltungsnachrichten ähnlich war. Interessanterweise stellten sie einen deutlicheren Einfluss für sogenannte Qualitätsmedien als für Boulevardmedien fest. Auch aktuellere Publikationen deuten darauf hin, dass der gegenwärtige Journalismus zwar nicht von Metriken bestimmt wird, aber sowohl die Wahrnehmung der Bedürfnisse des Publikums als auch eine Quantifizierung bei der Nachrichtenproduktion eine weitaus bedeutendere Rolle spielen als in der Vergangenheit.50 Diesen Befunden folgend kann also von einer neuen Norm im Journalismus gesprochen werden, welche auf der Kombination bereits etablierter redaktioneller Werte wie Zusammenarbeit, Anpassung und unternehmerischem Denken basiert.51

5.

Einflussfaktoren auf die Verwendung von Editorial Analytics

In den vergangenen Jahren kann eine zunehmende Integration von Editorial Analytics in die Arbeitsabläufe und längerfristige strategische Planung von Redaktionen festgestellt werden. Dabei sind es vor allem Medienorganisationen aus den USA und Großbritannien – The Guardian, The Financial Times, BBC und The Huffington Post – die in diesem Zusammenhang eine Vorreiterrolle einnehmen und bereits früh den ökonomischen Mehrwert und die gesellschaftliche Relevanz von Editorial Analytics erkannt haben.

48 49 50 51

P. Lee-Wright: Culture shock. J. Bright/T. Nicholls: The life and death of political news. E.C. Tandoc/R.J. Thomas: The ethics of web analytics; M. Carlson: Confronting measurable journalism; R. Zamith: Quantified audiences in news production. A. Cornia/A. Sehl/R.K. Nielsen: »We no longer live in a time of separation«: A comparative analysis of how editorial and commercial integration became a norm.

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214

Annika Sehl und Maximilian Eder

Die Gründe hierfür sind vielfältig: Nicht nur ein stetiger ökonomischer Druck und ein zunehmend globales Publikum insbesondere englischsprachiger Angebote leisten der Nutzung von Editorial Analytics Vorschub. Hinzu kommt: Innovative Tools und Arbeitstechniken werden schneller in englischsprachigen Arbeitsumgebungen eingesetzt – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass der Großteil an Terminologie und Technologie zunächst in englischer Sprache verfügbar ist und zuerst in den USA und Großbritannien vermarktet wird.52 Maßgebliche Faktoren für die Akzeptanz von technischen Neuerungen wie Editorial Analytics innerhalb der Redaktionen sind vor allem Unternehmenskultur, Organisationsstrukturen und Arbeitspraktiken.53 Der Einsatz von Editorial Analytics variiert auch in Abhängigkeit vom Typ der Medienorganisation. Hanusch zeigt, dass bei »Digital-only«Nachrichtenwebsites mit einer stärkeren Kundenorientierung (»consumeroriented characteristics«) im Gegensatz zu solchen mit einer stärkeren Bürgerorientierung (»citizen-oriented characteristics«)54 Journalist*innen nicht nur über den Zugang zu entsprechenden Tools und umfassenden Analysedaten verfügen, sondern redaktionelle Entscheidungen auch oftmals darauf begründen. In den Newsrooms der traditionellen Medien werden Metriken ebenso ausgewertet, sie sind jedoch weniger bestimmend. Hanusch ordnet ein, dass hier Paywalls, sofern vorhanden, aber auch die journalistische Kultur einer stärkeren Fokussierung auf Metriken und damit dem Verlust an journalistischer Autonomie entgegenwirken.55 In den meisten Redaktionen wurden Editorial Analytics in einer klassischen Bottom-up-Manier eingeführt. Ursächlich sind hierbei weniger strategische Entscheidungen an der Spitze der Medienorganisation, sondern der Erwerb neuer Fähigkeiten zur Datenanalyse durch (Online-)Redakteur*innen. Diese Fähigkeiten helfen den anderen Redaktionsteams »[to] become more data-infomed«56 . Demzufolge ist eine Verlagerung von anfänglichem Widerstand zu Neugier und Interesse zu beobachten. Dies steht im Gegen-

52 53 54 55 56

F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics, S. 41. P.J. Boczkowski: The processes of adopting multimedia and interactivity in three online newsrooms. F. Hanusch: Web analytics and the functional differentiation of journalism cultures, S. 1576. Ebd., S. 1583 F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics, S. 10.

Editorial Analytics

satz zu früheren Untersuchungen, die darauf hindeuteten, dass sich viele Redaktionen der Einführung der Analytik widersetzt haben.57 Bei der Entwicklung einer Datenkultur in Redaktionen ist es wichtig sicherzustellen, dass auch Journalist*innen und Redakteur*innen, die nicht zum Audience-Team gehören, Zugang zu für sie relevanten Daten erhalten und wissen, warum diese Daten für sie relevant sind und welche Schlüsse und Handlungen sie aus ihnen ziehen sollen. Daten sind einer von mehreren Faktoren, die Entscheidungen, Bewertungen und die Entwicklung von Workflows sowie neuer redaktioneller Produkte beeinflussen. Nur wenn diese Daten in Redaktionen ernst genommen werden, können daraus Editorial Analytics im elaborierten Verständnis, wie es in Abschnitt 2 dargelegt wurde, entstehen. Bei vielen Medienorganisationen kommen Editorial Analytics bisher jedoch nicht über ein rudimentäres Level hinaus und eine Anpassung an redaktionelle Strategien und organisationale Erfordernisse findet nicht statt.58

6.

Fazit

Die Möglichkeit, selektiv-systematisch Zugriffszahlen im digitalen Journalismus zu beobachten, teils in Echtzeit, hat neben anderen Phänomenen wie dem partizipativen Journalismus59 mit dazu beigetragen, dass heute von einem »audience turn«60 im Journalismus und der Journalismusforschung die Rede ist. Nutzer*innendaten quantitativ und systematisch auswerten zu können ist insbesondere in einer Situation des Kampfs um Aufmerksamkeit ein strategischer Vorteil für Medienorganisationen. Dazu setzen viele speziell auf ihre redaktionellen Bedürfnisse zugeschnittene Tools für den digitalen Nachrichtenjournalismus ein und haben teilweise sogar neue Jobprofile eingeführt. Editorial Analytics bieten dabei Vorteile gegenüber der klassischen Publikumsforschung, denn sie messen das Verhalten der Nutzer*innen direkt, teils in Echtzeit, für eine konkrete Website. Zudem ist die Analyse spezifizierbar hinsichtlich Zeit, Ressorts, Nutzersegmente, Nutzungsort, Nutzungsgerät etc. Gleichwohl haben sie methodische Nachteile, die aus ihrem begrenzten Erklärungspotenzial, begrenzten Datenverfügbarkeiten

57 58 59 60

C. Petre: The traffic factories; R. Zamith: Editorial judgment in an age of data. F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics, S. 41-42. A. Sehl: Partizipativer Journalismus in Tageszeitungen. I. Costera Meijer/T. Groot Kormelink: Revisiting the audience turn in journalism.

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oder Inkompatibilität von Metriken resultieren, die Methodenkombinationen nach wie vor nahelegen. Die Begriffsbestimmung hat dabei gezeigt, dass sich unterschiedliche Formen redaktioneller Analytics unterscheiden lassen – von eher rudimentären und generischen Ansätzen bis hin zu elaborierten Editorial Analytics. Letztere beziehen redaktionelle und organisationsspezifische Prioritäten und Erfordernisse ein (ob kommerziell, gemeinnützig oder öffentlich-rechtlich), erlauben nicht nur kurzfristige Entscheidungen, sondern sind langfristig strategisch ausgerichtet und entwickeln sich konstant weiter.61 Obwohl Editorial Analytics helfen, Wünsche und Bedürfnisse des Publikums besser kennenzulernen, hat der Forschungsüberblick deutlich gemacht, dass sie durchaus kontrovers diskutiert werden. Das liegt daran, dass der Journalismus – obwohl er sich im Fall von privaten Medien auch über Publikums- und Werbemarkt finanzieren muss – eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen hat und die Befürchtung besteht, dass Editorial Analytics mehr von einer Profit- denn von einer gesellschaftlichen Orientierung getrieben eingesetzt werden könnten. Denn »the public interest and what the public is interested in«62 können sich unterscheiden. Tatsächlich zeigt erste Forschung63 , dass unterschiedliche Typen von Medienorganisationen Editorial Analytics unterschiedlich einsetzen. Hier sind es vorrangig sogenannte Digital-born-Medien mit einer starken Nutzerorientierung, die ihre Websites nach Editorial Analytics ausrichten, während bei traditionellen Medien die journalistische Kultur und teilweise die Finanzierung über Paywalls einem allzugroßen Einfluss von Editorial Analytics entgegenwirkt. Gleichwohl: »The impact of analytics is also felt in other newsrooms.«64 Als Konsequenz daraus, dass Medienorganisationen unterschiedlich ausgerichtet sind und unterschiedliche Ziele verfolgen, gibt es auch nicht das eine redaktionelle Best-Practice-Beispiel oder Tool für die selektiv-systematische Datenauswertung im digitalen Nachrichtenjournalismus. Stattdessen hängt es von der jeweiligen Organisation und ihrem Kontext ab, welche Tools und Analysen für eine Organisation geeignet sind. Organisationen müssen sich daher Gedanken darüber machen, welche Ziele sie mit der selektivsystematischen Beobachtung des Publikums verfolgen wollen, wie sie die

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F. Cherubini/R.K. Nielsen: Editorial analytics, S. 19-24. E.C. Tandoc/R.J. Thomas: The ethics of web analytics, S. 243. F. Hanusch: Web analytics and the functional differentiation of journalism cultures. Ebd., S. 1583.

Editorial Analytics

Fachkompetenz für die Analysen bereitstellen und wie sie Editorial Analytics schließlich in den Newsroom mit seinen Entscheidungen integrieren. Denn nur wenn alle diese Aspekte bedacht werden, können Entscheidungen im Sinne der Organisation strategisch dateninformiert und nicht kurzfristig datengetrieben erfolgen. Dadurch würde dem Publikum zwar ein höherer Stellenwert eingeräumt ohne es jedoch zu überhöhen und journalistische Autonomie infrage zu stellen.

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Annika Sehl und Maximilian Eder

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Datenjournalismus Vom Dilettantismus zum Expertentum Barnaby Skinner

Am 25. Oktober 2010 drückte Simon Rogers, damaliger Chef des Daten-Blogs beim Guardian, auf den Knopf seines Content-Management-Systems, um seinen neuesten Onlineartikel zu publizieren. Es handelte sich um eine interaktive Karte.1 Darauf waren 60.000 Tote des Irak-Kriegs als kleine rote Punkte dargestellt. Bei einem Klick auf einen dieser Punkte konnten Nutzerinnen und Nutzer genauere Informationen zu jedem Vorfall abrufen. Handelte es sich um einen Mord? Starben die Betroffenen im Kreuzfeuer? Wer genau war beteiligt? US-Soldaten, Zivilisten oder irakische Soldaten? Rogers begann den Begleittext zur Karte mit einer allgemeinen Beobachtung: »Datenjournalismus funktioniert dann am besten, wenn es viele Daten zu bearbeiten gibt.« Dann rattert er Zahlen herunter: Mit 16.870 Toten sei das Jahr 2006 das schlimmste Jahr des Krieges gewesen; der Monat Mai im Jahr 2007 mit 2080 Explosionen der brutalste. Die Auflistung nutzloser Statistiken ging immer weiter. Einige Tage später wurde der Beitrag mit einem Hinweis ergänzt: »Update: Ein Akademiker redet über die Grenzen der Daten.« Der zitierte Gesprächspartner führte aus, dass die Karte noch lange nicht alle Toten im Irak darstellte, sondern nur diejenigen, die von den Koalitionstruppen registriert worden waren – von den US-Amerikanern, den Engländern, Australiern, Polen und Spaniern. In anderen Worten: Der Nachrichtengehalt der irakischen »Toten-Karte« tendierte gegen null. Alles, was der Leser oder die Leserin darauf erkennen konnte, war, dass während des Irak-Kriegs in den dichter besiedelten Gebieten mehr Menschen starben als in den weniger dicht besiedelten Gebieten. Das ist wohl auch so, wenn im Land kein Krieg tobt.

1

S. Rogers: Wikileaks Iraq.

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Barnaby Skinner

Rückblickend muss Rogers froh gewesen sein, dass er die Daten nicht interpretiert hat. Seine Zusammenstellung aller irakischen Kriegsopfer war ohnehin lückenhaft. Aber, dass er es nicht einmal versuchte, die Daten für sein Lesepublikum zu interpretieren, ist bezeichnend dafür, wie lange Zeit sehr wenig reichte, um im Internet mit einer interaktiven Visualisierung ein großes Publikum zu erreichen. Ist das wirklich Datenjournalismus, der besonders gut funktioniert, wie Rogers zu Beginn seines Artikels angedeutet hatte? Natürlich nicht. Auf den Nachrichtenportalen großer Zeitungen fanden sich noch vor zehn Jahren viele datenjournalistische Beiträge, die ohne Nachricht oder eigentliches Storytelling auskamen: Thematisiert wurden beispielsweise alle Straßenunfälle, alle Erdbeben, alle Einbrüche oder alle Taxi-Fahrten auf einer Karte. Den Beitrag eines einzelnen Journalisten wie denjenigen von Simon Rogers herauszugreifen, ist deshalb unfair. Gerade experimentierfreudige Journalistinnen und Journalisten wie Rogers, der heute als Datenredakteur im News Lab Team bei Google2 arbeitet, wurden früh von den neuen technologischen Möglichkeiten geblendet; zum Beispiel von einem Werkzeug wie Fusion Tables3 . Mit ihm konnte Rogers die 60.000 getöteten Personen im Irak auf einer Karte darstellen. Zur Bedienung des Tools brauchte Rogers nur einen gut strukturierten Datensatz mit konsistent erfassten Längen- und Breitengraden und etwas Schulung im Umgang mit Fusion Tables; Kenntnisse, die er sich wie viele andere technologieaffine Journalistinnen und Journalisten selber angeeignet hatte. Diese Skills waren ausreichend, um für einen flüchtigen Moment das Interesse vieler Internetnutzerinnen und -nutzer zu wecken, bevor sie sich dem nächsten Facebook-Post oder Tweet zuwandten. Wofür die Kenntnisse nicht ausreichten: Aus großen Datensätzen relevante Informationen oder Nachrichten zu extrahieren und einem breiteren Publikum zu vermitteln. Tatsächlich wurden die Leserinnen und Leser mit den Darstellungen Abertausender Datenpunkte ziemlich alleine gelassen. Beim Internet-Lesepublikum setzte darüber schnell Sättigung ein. Irgendwann hatte sich jeder interessierte User, jede interessierte Userin durch Onlinekarten mit vielen Datenpunkten geklickt, ohne dabei wesentliche

2 3

Siehe für das Google News Lab: https://newsinitiative.withgoogle.com/intl/de/googlenews-lab/ Der Support für das Werkzeug Fusion Tables wurde von Google am 3. Dezember 2019 eingestellt.

Datenjournalismus

Erkenntnisse gewonnen zu haben. Der datengetriebene Journalismus mit Onlinekarten, wie ihn Rogers und andere in dieser frühen Form entwickelten, verschwand deshalb schnell wieder von den Nachrichtensites. Hinzu kam, dass mit der Erfindung des iPhones im Jahr 2007 immer mehr Menschen ihre Nachrichten via Smartphone zu beziehen begannen. Auf deren Bildschirmchen auf vernünftige Art und Weise 60.000 getötete Irakerinnen und Iraker darzustellen war mit Google Fusion Tables und ähnlichen Werkzeugen unmöglich. Vielfach leidet der Datenjournalismus noch immer unter dieser Zeit. Ohne wirklich Kenntnisse davon, was sie da publizierten, erreichten technologieaffine Journalistinnen und Journalisten auf einen Schlag sehr viel Aufmerksamkeit. Oft viel mehr als Kolleginnen und Kollegen, die sich jahrelang mit einem Thema auseinandergesetzt hatten und große Dossier-Kenntnisse vorweisen konnten. Als sich herausstellte, dass mit solchen Visualisierungen oft nur das flüchtige Interesse der Leserschaft bedient wurde, reagierten viele klassisch arbeitende Journalistinnen und Journalisten mit Häme gegenüber der aufstrebenden Gattung des Datenjournalismus. Es ist dieselbe Häme, mit der manche Redaktion noch heute reagiert, wenn jemand eine datengetriebene Recherche vorschlägt. Dabei hat sich der Datenjournalismus in den letzten zehn Jahren fundamental weiterentwickelt. Weniger in den Darstellungsformen, denn noch immer sind viele Karten im Einsatz, oft wird weiterhin mit simplen Balkendiagrammen oder Liniengrafiken gearbeitet. Diese einfachen Darstellungsformen gehören weiterhin zu den beliebtesten journalistischen Grafik-Optionen. Sie sind auch für ein Breitenpublikum am besten zu lesen. Die große Entwicklung passierte bei den Journalistinnen und Journalisten selbst. Viele haben ihren persönlichen Werkzeugkasten mit fundierten Programmierkenntnissen erweitert. Die aktuell beliebtesten Sprachen dafür sind R4 und Python5 . Wohl deshalb, weil beide grammatikalisch sehr nahe bei der menschlichen Sprache und deshalb einfach zu lernen sind. Wer als Datenjournalist und Datenjournalistin eine Computersprache lernt, dem oder der wird der Einsatz gleich achtfach zurückgezahlt.

4 5

Siehe: https://www.r-project.org/ Siehe: https://www.python.org/download/releases/3.0/

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1.

Automatisierung

Computercode erlaubt Journalistinnen und Journalisten, automatisiert eigene Datenbanken aufzubauen. Auch mit Daten von Datenhaltern, die nur einzelne Informationen und nicht ganze Datensätze veröffentlichen wollen. Ein Beispiel: Eine Versicherung entwickelt mit Kundendaten ein Onlinewerkzeug, mit dem Internetnutzerinnen und -nutzer das Einbruchsrisiko ihrer Wohngemeinde überprüfen können. Den ganzen Datensatz will der Versicherer aber nicht veröffentlichen, um zu verhindern, dass Direktvergleiche der Gemeinden angestellt werden können. Doch in eben einem solchen Vergleich liegt der Nachrichtenwert dieser Daten, bzw. in der Antwort auf die Frage: In welcher Wohngemeinde kommt es zu den meisten Einbrüchen? Mit geringem Programmieraufwand lassen sich in wenigen Augenblicken die fraglichen Daten einsammeln. In der Fachsprache wird dieser Prozess Scraping genannt, Englisch für »abschaben«. In der Programmiersprache Python wird dafür das Werkzeug BeautifulSoup6 eingesetzt; im Falle von R ist es beispielsweise RVest7 . Damit können aus HTML-Code die relevanten Informationen gezogen werden; die Daten werden also aus dem HTML-Skript »abgeschabt«. So würde man die Angaben über die Einbruchsquote einer einzelnen Gemeinde erhalten, um beim eben eingeführten Beispiel zu bleiben.

2.

Strukturierte Daten

Code hilft dabei, unstrukturierte Daten – Text zum Beispiel – in maschinenlesbare Daten umzuwandeln. Ein Beispiel: Nach einer TV-Politsendung behauptet eine Partei, stetig weniger Redezeit zu bekommen als die anderen geladenen Parteien und dabei viel öfter vom Moderator oder von der Moderatorin unterbrochen zu werden. Mit Hilfe von Computer-Code kann aus den Untertiteln Tausender bereits ausgestrahlter Sendungen herausgelesen werden, ob das so stimmt, wie viele Wörter die einzelnen Gesprächsteilnehmenden gesprochen haben, sogar wie viel Zeit sie für ihre Voten bekamen, und ob die Moderation den fraglichen Parteien wirklich öfter ins Wort gefallen ist.

3.

Kollaboration

Wer Coden kann, merkt rasch, dass er oder sie nicht alles von Grund auf selber entwickeln müssen. Irgendwo auf der Welt wird es immer jemanden geben,

6 7

Siehe: https://pypi.org/project/beautifulsoup4/ Siehe: https://cran.r-project.org/web/packages/rvest/

Datenjournalismus

der sich mit dem eigenen oft sehr spezifischen Programmierproblem herumgeschlagen hat. Und er oder sie wird die Lösung des Problems mit der Welt geteilt haben. An solche Kollaborationen müssen sich Journalisten und Journalistinnen oft noch gewöhnen. Denn die meisten Arbeitgeberinnen in der Medienwelt, die Verlage, kämpfen zwar ums Geld. Trotzdem haben alle noch genügend Ressourcen, eine eigene App, ein eigenes Content-ManagementSystem, ein eigenes Infografik-Tool zu entwickeln. In der globalen OpenSource-Gemeinde kennt man solches Mauerdenken nicht. Ein Beispiel: Ein Journalist möchte verstehen, welche Richterinnen und Richter am häufigsten identische Passagen aus früheren Urteil verwenden. Dafür einen Algorithmus zu bauen, der aus Tausenden Dokumenten die gleichlautenden Textstellen zieht, ist schwierig. Zumindest ein Algorithmus, dem das in nützlicher Zeitfrist gelingt und dafür nicht Jahre braucht. Bevor sich ein Journalist oder eine Journalistin an die Arbeit macht, dafür den eigenen Code zu entwickeln, sollte er oder sie zuerst im Internet nachschauen, ob nicht irgendwer bereits ein ähnliches Problem hatte und die Lösung in einem obskuren Blog publiziert hat. Wer nicht fündig wird, kann seinen fehlerhaften Code der größten Onlineentwickler-Selbsthilfegruppe anvertrauen, eine Plattform namens Stackoverflow.8 Die Community behebt den Fehler im Code oft in wenigen Augenblicken.

4.

Werkzeugkasten

Die Zahl an Zusatzpaketen, Bibliotheken und Modulen der Programmsprache Python beziffert sich heute auf bereits 130.000. Im Falle von R sind es ähnlich viele. Und täglich kommen neue hinzu. Diese Pakete reichen von kleinen Anwendungen, wie etwa der Erkennung des europäischen Datumformats 5. Mai 2019 (Tag, Monat, Jahr), bis zu riesigen Bibliotheken wie das Statistikwerkzeug Pandas9 . Dessen Name leitet sich vom englischen Begriff Paneldata ab, einem ökonometrischen Begriff für Datensätze. Entwickelt wurde die Software im Jahre 2008 von einem gelangweilten Entwickler der globalen Investmentfirma AQR Capital Management. Dem Mann waren die Analysewerkzeuge seiner Firma zu langsam bei der Bewältigung der riesigen Finanzdaten, die er zu bearbeiten hatte. Deshalb entwickelte er mit Pandas ein eigenes, viel effizienteres Rechenprogramm und stellte

8 9

Siehe: https://stackoverflow.com/ Siehe: https://pandas.pydata.org/

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den Code frei verfügbar zur Weiterentwicklung ins Internet. Zwölf Jahre später, im Jahr 2020, wurde die 25. Pandas-Version publiziert. An dem Werkzeug mit vollkommen offenem Quellcode haben bereits Hunderte Leute mitgearbeitet. Das Softwarepaket wird inzwischen von Millionen von Menschen benutzt. Darunter sind auch viele Journalistinnen und Journalisten. Wer sich einmal in Pandas eingearbeitet hat, wird Excel für immer beiseite legen. Mit der offenen Gratissoftware lassen sich tausendfach größere Datensätze bearbeiten als mit dem gängigsten Tabellenkalkulationsprogramm. Außerdem lassen sich Datensätze mit Pandas besser »reinigen«, statistisch auswerten oder mit anderen Datensätzen kombinieren. Gleichzeitig funktioniert der dabei entwickelte Code als Dokumentation, der auf Knopfdruck mit anderen interessierten Lesern und Leserinnen geteilt werden kann.

5.

Pragmatismus

Wer mit dem Coden beginnt, merkt schnell, dass es immer einen noch eleganteren Weg als den eigenen gibt, ein programmatisches Problem zu lösen. Es gilt deshalb stets abzuwägen, ob man die Zeit investieren soll, den eigenen Code zu verbessern, oder ob man im Internet nach Code sucht, der die Aufgabe vielleicht schneller löst. Dasselbe gilt für proprietäre Werkzeuge. Wenn einem ein bestimmtes Visualisierungstool besonders liegt, dann lohnt es sich möglicherweise nicht, sich mit Visualisierungsbibliotheken in den Programmiersprachen von Python oder R herumzuschlagen. Dann kann es im Einzelfall effizienter sein, die Daten von Hand zu visualisieren. Proprietäre Werkzeuge, die es mit einer einfachen Bedienbarkeit wirklich ernst meinen – und nicht darauf aus sind, ihre Nutzerinnen und Nutzer von den eigenen Tools abhängig zu machen – bieten heute auch Schnittstellen an. Erwähnenswert ist hier zum Beispiel der Dienst Datawrapper10 . Ein in der erweiterten Version kostenpflichtiges Werkzeug von der gleichnamigen deutschen Firma Datawrapper. Die Plattform verfügt über eine sogenannte API (Automatic Programmatic Interface)11 . Damit können mit den Programmiersprachen R oder Python verarbeitete Daten direkt eingespeist und nach vorgefertigten Regeln visualisiert werden.

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Siehe: https://www.datawrapper.de/ Siehe: https://developer.datawrapper.de/docs/getting-started

Datenjournalismus

6.

Arbeitsfluss

Weil der Code des Statistikwerkzeugs Pandas vollkommen offen einsehbar ist, lässt er sich problemlos erweitern und mit anderen Code-Bibliotheken kombinieren. Zum Beispiel mit der Visualisierungsbibliothek Matplotlib12 . Eine weitere offene Software, die in Python geschrieben ist. Damit können Daten in einem Fluss mit Pandas statistisch ausgewertet und gleich visualisiert werden. Das gilt beim Coden eigentlich für alle Arbeitsprozesse: Daten können automatisch von Websites gescrapt, gereinigt, statistisch ausgewertet, klassifiziert, visualisiert werden – in Theorie können damit sogar automatische Texte entstehen. Ein Feld, das heute als Roboterjournalismus bekannt ist, auf das hier aber nicht weiter eingegangen werden soll.

7.

Glaubwürdigkeit

Der vielleicht größte Vorteil für programmierende Journalistinnen und Journalisten ist die Verifizierbarkeit ihrer Arbeit – gerade heute, da die mediale Glaubwürdigkeit so oft kritisiert wird, eine immanent wichtige Eigenschaft. Wer schon mit großen Datenmengen gearbeitet hat, etwa in einem Tabellenkalkulator wie Excel, weiß, wie schnell man die Übersicht über die Datenmanipulation verliert. Dort eine Zelle gelöscht, hier eine Spalte ergänzt. Führt man hingegen eine Datenanalyse mit Computer-Code durch, ist ein Übersichtsverlust unmöglich. Mit Code wird jeder Schritt dokumentiert. Wer sich außerdem die Zeit nimmt, seinen Code zu kommentieren, kann ihn sogar im Internet auf Entwicklerplattformen wie Gitlab13 oder Github14 mit dem kritischen Publikum teilen. Es ist nicht die ganz große Masse an Leserinnen und Lesern, die Interesse an solchen Dokumentationen hat. Da brauchen sich Redaktionen nichts vorzumachen. Doch es sind oft wichtige Leserinnen und Leser, die sich mit den Dokumentationen aufhalten und die dann ihren Unmut über unsorgfältige Recherchen oder eben besonders gute Artikel in den Sozialen Medien kundtun.

8.

Digitale Transformation

Der achte Grund für Datenjournalisten und Datenjournalistinnen, Coden zu lernen, ist breiter gefasst. Programmierkenntnisse erweitern ganz grundsätzlich den Blick auf die neuen Möglichkeiten von Journalismus in der

12 13 14

Siehe https://matplotlib.org/ Siehe https://about.gitlab.com/ Siehe: https://github.com/

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andauernden digitalen Transformation. Die Digitalisierung schafft ganz neue journalistische Quellen und neue Verifizierungsmöglichkeiten für Journalistinnen und Journalisten: Die vielen sozialen Onlinenetzwerke, Trackingoder Gesundheits-Apps, verschlüsselten Chat-Messenger mit ihren datengetriebenen Geschäftspraktiken sind geradezu dazu gemacht, journalistisch ausgeschlachtet zu werden. Die Datenspuren, die Nutzerinnen und Nutzer bei Facebook und Co. hinterlassen, können nicht nur für gezielte Werbung genutzt werden, sondern, solange dabei die Privatsphäre beachtet wird, auch von Journalistinnen und Journalisten für Recherchen. So entstehen ganz neue Verifikationsoptionen, um Quellen zu prüfen, und nebenbei auch ganz neue Wege, Inhalte zu vermitteln. Indem etwa Daten visualisiert werden. Um dies genauer auszuleuchten, sollen drei Anekdoten helfen. Die erste Anekdote betrifft einen spektakulären Mordanschlag auf einen Agenten. Am 4. März 2018 wurde Sergei Skripal, früherer Oberst des russischen Militärnachrichtendienstes (GRU) und in Russland ein verurteilter Spion, zusammen mit seiner 33-jährigen Tochter Julija in der britischen Stadt Salisbury auf einer Parkbank bewusstlos aufgefunden. Wenige Tage später gaben die britischen Ermittler bekannt, dass Skripal und seine Tochter mit einem Nervenkampfstoff vergiftet worden seien. Die genauen Hintergründe für Skripals Tod bleiben bis heute ungeklärt. Klar ist, wer die Mordanschläge verübt hat: Alexander Mischkin und Anatoli Tschepiga, zwei GRU-Agenten. Lange Zeit war unklar, dass auch ein dritter Mann involviert war: Denis Sergejew, ebenfalls GRU-Agent. Gemeinsam mit dem internationalen Investigativnetzwerk Bellingcat rekonstruierte und visualisierte das Recherchedesk des Schweizer Verlags Tamedia vier Reisen von Denis Sergejew an den Genfersee.15 Nie zuvor wurden die Bewegungen eines russischen Spions in der Schweiz so detailliert enthüllt. Dies gelang, weil Bellingcat die Daten von Sergejews Mobiltelefon von einem russischen Whistleblower erhalten hatte. Durch die Verbindungen mit Sendemasten in der Schweiz konnten seine Wege an insgesamt 39 Tagen nachgezeichnet werden – zwischen September 2017 und Januar 2018. Diese Bewegungen Sergejews waren nicht nur für die Schweiz wichtig. Sie hatten auch international große Bedeutung. Sie konnten unter anderem endgültig beweisen, dass Sergejew der dritte Mann hinter dem Mord war: Wenige Wochen nach seiner letzten Reise in die Schweiz taucht er unter seinem Tarnnamen »Sergei Fedotow« in England auf – genau an jenem Tag, an 15

B. Odehnal u.a.: Um 6:41 verliess der russische Spion das Genfer Hotel.

Datenjournalismus

dem dort der russische Doppelagent Sergei Skripal in Salisbury mit dem Nervengift Nowitschok getötet werden sollte. Die zweite Anekdote betrifft ein erfreulicheres Thema: die Arbeit von Costas Bekas. Er ist Manager of Foundations of Cognitive Computing bei IBM Research-Zurich und führt ein Team von rund 150 Personen, das an Maschinen arbeitet, um Radiologinnen und Radiologen bei der Arbeit zu unterstützen. Bekas behauptet, sein Team sei in der Lage, Hautkrebs viel früher zu erkennen, als dies die meisten Ärztinnen und Ärzte können. Das gelingt mithilfe eines Algorithmus, der Abermillionen Bilder früherer Hauterkrankungen miteinander vergleicht. Macht er damit nicht Tausende Radiologen arbeitslos? »Eine absurde Frage«, sagt Bekas. Es sei vielmehr die Pflicht künftiger Ärztinnen und Ärzte, solche Hilfsmittel einzusetzen. Weil die Menschen immer älter würden, gebe es im Verhältnis immer weniger medizinisches Personal. Dieses müsste deshalb effizienter und schneller arbeiten. Das Wichtigste der ganzen Entwicklung von künstlicher Intelligenz sei zudem nicht der Algorithmus selber, sondern der Ärztin und dem Arzt zu erklären, was genau passiert. Dem Fachpersonal näher zu bringen, warum ein System zu einem bestimmten Ergebnis gekommen ist. Und sicherzustellen, dass die Ärztin oder der Arzt verstanden haben, was der Computer ihnen sagt. Ärzte, sagt Bekas weiter, arbeiteten generell ungerne mit Blackboxes. Sie wollen nachvollziehen, wie ein System funktioniert. Bekas illustrierte das mit einem Beispiel. So habe er das System kürzlich einem Arzt gezeigt. Der Mann habe sich das Resultat der Hautkrebsdiagnose angeschaut, sich dann an den Computer gesetzt und damit begonnen, in der Datenbasis der Maschine herumzuklicken – genauer auf die vielen Bilder, die er dort zu sehen bekam. Was er da mache?, habe ihn Bekas gefragt. Der Arzt antwortete, er suche die Muster, die der Computer offenbar gefunden habe. Hätte er das wirklich tun wollen, hätte er knapp 15 Millionen Bilder durchsuchen müssen. Das geht natürlich nicht. Aber die Situation zeigt die größte Herausforderung für Bekas und sein Team von Datenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Sie müssen nicht nur ein System bauen, das funktioniert, sondern eines, das dies für die Expertinnen und Experten nachvollziehbar tut. Sehr viele seiner Mitarbeitenden sind deshalb Designerinnen und Designer, die außerdem etwas von Programmierung verstehen müssen. Die dritte Anekdote betrifft wieder direkt den Journalismus. Am 30. Mai letzten Jahres schickte »The Intercept«, eine US-Publikation, die vom Journalisten Glen Greenwald nach der Snowden-Affäre gegründet wurde, ein Doku-

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ment an die NSA, die National Security Agency der USA. Das Memo zeigte auf, dass russische Cyber-Angreifer kurz vor den US-Wahlen elektronische Wahlurnen angegriffen hatten. Mit größter Wahrscheinlichkeit erfolglos, aber den Angriff selber konnte die NSA klar aufzeigen. Am 3. Juni wurde die 25-jährige Reality Winner verhaftet – die Frau heißt tatsächlich so. Die Übersetzerin im Dienste der US-Air-Force war bei ihrer Arbeit über den Bericht gestolpert; sie hatte das PDF-Dokument ausgedruckt und dann anonym »The Intercept« zugespielt. Als das US-Onlinemagazin das Dokument zur Verifikation der NSA zustellte, verriet die Publikation ungewollt die Identität der Quelle. Das US-Internetmagazin hatte nicht berücksichtigt, dass die NSA bei genauerer Betrachtung des Originaldokuments feststellen konnte, welches Gerät genau es ausgedruckt hat. Printer hinterlassen auf dem Papier kleine gelbe Punkte, ähnlich einem Fingerabdruck. Recherchen der NSA ergaben, dass nur Winner als Whistleblowerin infrage kommen konnte. Winner befand sich über ein Jahr in Untersuchungshaft; meist in Einzelhaft, weil man sie als Landesverräterin betrachtet. Im August 2018 wurde sie von einem Gericht in Augusta, Georgia, zu 63 Monaten Haft verurteilt. Alles nur, weil die Journalisten des Intercept der NSA wider besseres Wissen verrieten, wer ihre Quelle war. Die Anekdoten zur Skripal-Vergiftung, zum Radiologen-Algorithmus und zur verurteilten Reality Winner zeigen, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen der digitalen und der realen Welt; dass Journalistinnen und Journalisten dieses Zusammenwachsen der digitalen mit der realen Welt für Recherchen, neue Geschichten und Erzählformen nutzen können; und dass sie keine Angst davor haben sollten, neue Technologien als Hilfsmittel einzusetzen. Das Beispiel von »The Intercept« zeigt, dass es sogar ihre Pflicht ist, das zu tun. Nur so können sich Medienschaffende und ihre Quellen auch künftig schützen. Journalistinnen und Journalisten müssen vor allem lernen, wie sie das riesige Ausmaß der Datensammlerei für journalistische Zwecke nutzen können, um auch künftig spannende und relevante Geschichten zu finden. Wie es das Recherchenetzwerk Bellingcat im Skripal-Fall nach der Kontaktaufnahme eines Whistleblowers in Zusammenarbeit mit dem Recherchedesk des Schweizer Verlags Tamedia erkannt hat. Die Spuren der russischen Agenten waren nur deshalb so genau zu recherchieren, weil die programmatische Analyse der Handy-Daten dies erlaubte.

Datenjournalismus

Die zweite Anekdote handelte von Ärztinnen und Ärzten und ihrem Misstrauen gegenüber Blackboxes der Computerwissenschaft. Tatsächlich ist unsere Welt immer mehr von Algorithmen geprägt. Wir verlassen uns bei Autofahrten blind auf die Empfehlungen unserer Navigationsgeräte, wir lesen Nachrichten, die nicht von einem Menschen, sondern von einer Maschine empfohlen wurden. Algorithmen können bald auch Krankheiten diagnostizieren. Stimmt die Datenstruktur, sind sie – zumindest in beschränkter Form – heute bereits in der Lage, Artikel zu schreiben. Aber genau wie Ärztinnen und Ärzte, die den Wunderwerkzeugen misstrauen und das Zustandekommen einer Diagnose genau verstehen wollen, müssen sich auch Journalistinnen und Journalisten verhalten. Wenn sie nicht verstehen, was die Maschinen tun, sind unsere Gesellschaften und Demokratien den Maschinen ausgeliefert. Einen kleinen Vorgeschmack darauf gab es erst kürzlich im Schweizer Wahlkampf im Oktober 2019.16 Die FreisinnigDemokratische Partei der Schweiz hat erstmals systematisch Wahlwerbung auf Facebook eingekauft. Sie wollte diese Werbung möglichst breit streuen, Männer und Frauen sollten sie gleichermaßen sehen. Facebook lieferte sie allerdings vornehmlich an Männer, weniger an Frauen, und zwar in einem Verhältnis von 1 zu 5. Warum? Das wollte Facebook nicht preisgeben. Das Unternehmen verwies darauf, dass die Funktionsweisen seiner Werbetechnologie ein Geschäftsgeheimnis seien. Würde das Netzwerk mehr verraten, könnte die Information von Dritten missbraucht werden. Aufgefallen ist das Phänomen dieser einseitigen Lieferung bei der Auslese der Facebook-Werbung aus der Facebook-Ad-Library durch einen programmierenden Datenjournalisten. Das soziale Netzwerk hat nach dem Cambridge-Analytica-Skandal eine Bibliothek geschaffen, in der politische Werbung transparent ausgewiesen wird. Mit mehr Zeit, Datenkreativität und Programmierfähigkeiten könnten Journalistinnen und Journalisten auch versuchen, das Verhalten des Algorithmus systematisch zu untersuchen. Indem Datenjournalistinnen und -journalisten Algorithmen unter die Lupe nehmen, schlagen sie im Grunde zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie können ihre eigene Infrastruktur bauen, um bestimmte, langweilige Tätigkeiten an Maschinen zu übergeben. Gleichzeitig erschließen sie für sich ein neues Feld der Berichterstattung: Die algorithmischen Vorurteile. Denn Algorithmen sind von Menschen entwi-

16

P. Meier: Männer sehen FDP-Werbung, Frauen Inserate der Grünen.

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ckelt, sie werden mit Daten gespeist, die ebenfalls von Menschen stammen. Und Menschen haben Vorurteile. Das Resultat dieses Phänomens erkennt man gut bei einer Google-Suche. Zum Beispiel nach »professional Haircut«. Die Resultate zeigen die Haarpracht von lauter weißen Männern.17

Abb. 1: Screenshot des Google-Suchergebnisses zum Suchbegriff »professional Haircut«.

Wer dann die Begriffe »unprofessional Haircut« googelt, wird auf ganz andere Ergebnisse stoßen. Jetzt tauchen lauter Frauen auf, vornehmlich schwarze Frauen.18 Tragen weiße Männer professionellere Haarschnitte als schwarze Frauen? Es gibt kein besseres Beispiel, um aufzuzeigen, wie Algorithmen menschliche Vorurteile bestätigen und verstärken. Diese Vorurteile können Journalisten und Journalistinnen nur mit Programmierfähigkeiten herausarbeiten und verstehen. Und das ist dringend nötig. Denn die Unternehmen, die diese Algorithmen entwickeln, werden nicht von sich aus darüber reden.

17 18

Gegoogelt um 18.32 Uhr am 8. Oktober 2019. Gegoogelt um 18.32 Uhr am 8. Oktober 2019.

Datenjournalismus

Abb. 2: Screenshot des Google-Suchergebnisses zum Suchbegriff »unprofessional Haircut«.

Ein Werkzeug, um automatisiert Suchresultate einzufangen, ist zum Beispiel die Python-Bibliothek Requests.19 Sie erlaubt es, Websites, bzw. deren HTML-Code automatisch aufzurufen und systematisch relevante Daten einzusammeln. Oder das Werkzeug Selenium20 . Damit können nicht nur Websiteadressen aufgerufen, sondern der gesamte Browser automatisiert gesteuert werden. Die offene Software wurde eigentlich für automatisierte Softwaretests von Webanwendungen entwickelt. Etwa um zu prüfen, ob eine bestimmte Entwicklung wirklich auf allen unterschiedlichen Computer- und Handy-Bildschirmen funktioniert. Doch Selenium kann auch dazu benutzt werden, Web-Formulare anzusteuern. Etwa um systematisch das Handelsregister auszulesen, um nach bestimmten Personen zu suchen; oder automatisch Facebook-Konten zu verfolgen. Es gibt im Internet im Grunde keine Daten, die vor einem Web-Scraper sicher sind, der mit Selenium entwickelt wurde.

19 20

A. Ronquillo: Python’s Requests Library (Guide). B. Muthukadan, Baiju: Selenium with Python.

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Die dritte erwähnte Anekdote betraf das Thema Internetsicherheit und Verschlüsselung. Das Beispiel der anhand des Drucker-Fingerprints identifizierten Whistleblowerin zeigt, dass die Transparenz, die das Internet schafft, auch außerhalb des Internets spürbar wird. Alles wird verfolg- und überprüfbar. Gleichzeitig findet ein Gegentrend statt. Mit neuartigen Verschlüsselungstechniken entstehen neue Handelsplattformen und Währungen wie Blockchain. Die Technologie ist am ehesten mit einem riesigen Logbuch zu vergleichen, das auf Abertausenden Computern kopiert ist. Wenn es mit der Währung Bitcoin, die auf der Blockchain-Technologie basiert, zu einer Transaktion kommt, gilt diese Transaktion erst, wenn sie in mindestens die Hälfte aller Logbücher eingetragen ist. Das fundamental Neue daran ist, dass es Menschen erlaubt, ohne einen Vermittler miteinander in Kontakt zu treten, um Waren oder Geld zu tauschen, ohne dabei ihre Identität preisgeben zu müssen. Für viele ist Blockchain deshalb eine Technologie, die das zu Ende führen wird, was das Internet angefangen hat: Das endgültige Aufräumen mit Zwischenhändlern. Es braucht mit Blockchain-Anwendungen keine Banken oder Detailhändler mehr zwischen Kunden und Produzentinnen. Sie können direkt miteinander in Verbindung treten. Auch anonym. Um wirklich zu verstehen, welche Veränderungskraft die BlockchainTechnologie hat, hilft es, wenn Journalistinnen und Journalisten sich in die Welt der Computerwissenschaften und des Encryption vorwagen. Und auch in diesem Feld gilt: Diejenigen, die über Programmierfertigkeiten verfügen, fällt die Einarbeitung in Blockchain sehr viel einfacher. Müssen Journalistinnen und Journalisten wirklich programmieren lernen? Das jetzt auch noch? Eine solche Reaktion erhält man von vielen Journalistinnen und Journalisten, wenn man sich mit ihnen über das Thema unterhält. Doch eigentlich haben traditionell arbeitende Medienschaffende und Datenjournalistinnen und -journalisten viele Gemeinsamkeiten. Genau wie Programmiererinnen und Programmierer könnte man auch viele Journalistinnen und Journalisten als Nerds bezeichnen. Sie haben sich oft in ein Themengebiet hineingebissen und lassen es nicht mehr los, bis sie die Geschichte von Grund auf verstehen. Genauso hartnäckig arbeiten auch Programmiererinnen und Programmierer. Sie basteln und werkeln an ihrem Computer-Code so lange herum, bis er funktioniert. Oft basteln sie auch danach noch weiter, damit der Code schlanker und eleganter wird. Ähnlich einem Journalisten, der seinen

Datenjournalismus

Text immer weiter schleift, um die Essenz noch knapper oder verständlicher, oder die Visualisierung noch übersichtlicher und klarer zu vermitteln. Beide – Programmiererinnen und Journalisten – haben auch mit einem Stereotyp zu kämpfen, das längst veraltet ist. Damit, dass sie die meiste Zeit alleine an Geschichten oder ihrem Computer-Code arbeiten und dabei oft tagelang kein Wort reden. Das gilt für Journalistinnen und Journalisten nicht mehr. Mehrmals haben in den vergangenen Jahren große internationale Recherchekonsortien bewiesen, welche Kraft entsteht, wenn Journalistinnen und Journalisten miteinander kooperieren: Beispielsweise bei der Steuertrickser-Recherche der Panama Papers21 oder derjenigen zu den fehlerhaften Medizinprodukten, den sogenannten Implant Files. Der Umfang und die Schlagkraft dieser Recherchen wären nie möglich gewesen, hätten sich die Rechercheure nicht vernetzt und stetig ausgetauscht. Auch mit Datenjournalisten und Datenjournalistinnen. Programmiererinnen und Programmierer arbeiten ebenfalls nicht mehr einsam und brüten still vor sich hin. Technologiekonzerne wie Facebook, Google und Co. pflegen bei großen, wichtigen Projekten Entwicklerinnen und Entwickler immer in Zweierteams Code schreiben zu lassen. Eine Person programmiert eine Weile, die zweite schaut zu und greift ein, wenn sie etwas nicht versteht. Im Fachchargon heißt das Pair Programming. Doch auch wenn Entwicklerinnen und Entwickler nicht zu zweit vor dem Bildschirm sitzen, sind sie dauernd damit beschäftigt, sich mit anderen über den Computercode auszutauschen. Zum Beispiel auf der Onlineplattform Github, der größten Sammelstelle von Computercode und von Open-Source-Software im Internet. Die Plattform erlaubt es, dass Tausende Entwicklerinnen und Entwicklern zeitversetzt an denselben Projekten arbeiten. Der Quellcode eines Pakets namens Scikit-Learn22 etwa ist heute in Hunderten Algorithmen zu finden und speist mittlerweile Tausende und Abertausende KI-Anwendungen. Der gesamte Code ist auf Github entstanden und dort frei einsehbar. An diesem Softwarepaket haben über hundert Programmiererinnen und Programmierer gearbeitet, aus allen Teilen der Welt. Eine weitere Gemeinsamkeit betrifft die Arbeitsmethode bzw. die Dokumentation. Für die investigativ arbeitende Journalistinnen und Journalisten

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Siehe: https://www.icij.org/investigations/panama-papers/ Siehe: https://scikit-learn.org/stable/

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etwa ist eine ausführliche, gute Dokumentation genauso wichtig wie für Programmiererinnen und Programmierer. Beide arbeiten oft an sehr komplexem, exklusivem Material. Dabei ist es wichtig, jeden Schritt – meist chronologisch – auszuformulieren. Wenn nicht alles verschriftlicht und geordnet gesammelt wird, ist es später unmöglich nachzuvollziehen, wie ein Code entstanden ist – oder wie Rechercheergebnisse simpel und korrekt vermittelt werden können. Journalismus und Programmieren sind beide zudem kreative handwerkliche Berufe. Sie werden stark durch die jeweiligen Personen getrieben. Natürlich gibt es Handbücher darüber, wie man aus einer Interviewpartnerin die wichtigsten Informationen herausbekommt oder wie man eine gute Reportage schreibt. Aber im Grunde entwickelt jeder und jede die ganz eigene Recherche- und Schreibtechnik. Das gilt auch für Programmiererinnen und Programmierer. Es ist faszinierend zu sehen, wie unterschiedliche Menschen sehr unterschiedliche Ansätze finden, programmatische Problemstellungen zu lösen. Sogar Personen, die eben erst ein paar Grundbefehle einer Programmiersprache gelernt haben. Trotz all dieser Ähnlichkeiten gibt es zwischen den Berufen Journalismus und Programmieren nicht selten einen tiefen Graben. Und nicht nur hier. Oft liegt auch ein Graben zwischen Softwareentwicklern und -entwicklerinnen und Berufen wie Rechtsanwältin, Arzt, Literaturkritiker oder Architektin. Denn wer programmieren kann, vergisst schnell, dass es Leute gibt, die nicht einmal im Ansatz verstehen, wie Coden geht. Vielleicht ist es für die Softwareentwicklerinnen und -entwickler ähnlich wie mit dem Fahrradfahren. Auch für einen erfahrenen Fahrer oder eine erfahrene Fahrerin ist es schwer nachzuvollziehen, warum jemand auf zwei Rädern die Balance nicht finden kann. Doch gerade Journalistinnen und Journalisten, die ohnehin damit beschäftigt sind, komplexe Thematiken einem Massenpublikum zu vermitteln, können hier helfen. Indem sie sich programmatisches Basiswissen aneignen, entwickeln sie nicht nur für sich, sondern für die ganze Gesellschaft eine gemeinsame Sprache, um die Arbeit der Softwareentwickler und -entwicklerinnen besser zu verstehen. Nur: Dass sich Programmieren tatsächlich langfristig als eine Kerndisziplin des Journalismus etabliert, ist alles andere als gesichert. Besonders am Anfang ist die Lernkurve steil. Um sie zu meistern, nehmen sich schreibende, sprechende oder mit Bildern arbeitende Journalistinnen und Journalisten am besten eine kleine Auszeit. Sobald sie ein gewisses Programmierverständnis erreicht haben, können sie damit beginnen, die neuen Fertigkeiten in ihren

Datenjournalismus

journalistischen Arbeitsalltag einzubauen. Ab diesem Punkt geht es von alleine. Mit jedem entwickelten Code – etwa um in PDFs ungewöhnlich hohe Geldbeträge zu suchen oder in regelmässigen Abständen automatisiert die versteckten Dokumente einer Website suchen – lernen die Journalistinnen und Journalisten etwas dazu. Die Erweiterung und die Vertiefung der Skills werden zum Selbstläufer. Doch bis es so weit ist, braucht es eben Zeit. Das kostbarste Gut der Digitalisierung. Für freie Journalisten ist es auf dem ausgetrockneten Arbeitsmarkt ohnehin schwierig genug, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen. In dieser Situation ein neues Skillset aufzubauen, ist für viele fast unmöglich. Deshalb sind vor allem die großen Verlage gefragt. Wenn sie etwas weniger Geld in die nächste Iteration des ohnehin stets veralteten Content-ManagementSystems stecken und stattdessen in die Zeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren, damit sie Programmierskills entwickeln können, hat der fundierte Datenjournalismus eine goldene Zukunft vor sich – und mit ihm der Journalismus per se. Falls nicht, dann liegt die programmatische Datenhoheit dereinst vollkommen beim Staat oder bei privaten, journalismusfremden Unternehmen. Dann hat der Journalismus endgültig ein Problem mit der Glaubwürdigkeit.

Literatur Meier, Patrick: »Männer sehen FDP-Werbung, Frauen Inserate der Grünen«, in: Tagesanzeiger, siehe: https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/ wahlen/so-zeigen-uns-die-parteien-was-wir-sehen-wollen/story/28 vom 01.10.2019 (Paywall). Muthukadan, Baiju: Selenium with Python. Siehe: https://selenium-python.readthedocs.io Odehnal, Bernhard/Plattner, Titus/Besson, Sylvian/Botti, Dominique/Rudaz, Mathieu: »Um 6:41 verliess der russische Spion das Genfer Hotel«, in: Tagesanzeiger, siehe: https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/auf-der-spurdes-russischen-eliteagenten/story/11126696 vom 12.07.2019 (Paywall). Rogers, Simon: »Wikileaks Iraq: data journalism maps every death«, in: The Guardian, siehe: https://www.theguardian.com/news/datablog/2010/ oct/23/wikileaks-iraq-data-journalism Ronquillo, Alex: Python’s Requests Library (Guide). Siehe: https://realpython. com/python-requests/ vom 23.01.2019.

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SEO im Newsroom Angriff auf redaktionelle Unabhängigkeit oder Sparringspartner im Nachrichtenalltag? Johannes Bornewasser

1.

Einleitung

Suchmaschinenoptimierer sind die vielleicht letzten Verfechter des »Küchenzurufs«. Das von Henry Nannen, zwischen 1949 und 1980 Chefredakteur des Stern, geprägte und aus heutiger Sicht aufgrund des inhärent vermittelten Frauenbildes zu Recht kritisierte Stilmittel ist in seinem Kern weiter aktuell. Eine Nachricht sollte auch heute, viele Jahre nach Nannens Tod, noch in einem Atemzug zusammengefasst werden können. Genau dafür stehen Suchmaschinenoptimierer im redaktionellen Alltag ein – und müssen sich dennoch häufig rechtfertigen. Im Folgenden werden die verschiedenen Disziplinen der Suchmaschinenoptimierung thematisiert. Nach einer allgemeinen Einführung in die Thematik werden konkrete Teildisziplinen vorgestellt, wie sie insbesondere in Redaktionen zu finden sind. Dabei wird deutlich, warum es innerhalb dieses Berufszweiges inzwischen die verschiedensten Spezialisierungsgrade gibt. Einige Kapitel sind bewusst als Weckruf formuliert. Denn noch immer gehört die Suchmaschinenoptimierung nicht flächendeckend zum Alltag in Nachrichtenorganisationen. Selbst im Rahmen der Journalistenausbildung, ob Volontariat oder Journalistenschule, spielt die Suchmaschinenoptimierung häufig noch immer bestenfalls eine Nebenrolle. Sinkende Abozahlen innerhalb der gesamten Branche1 legen die These nah, dass die Markentreue beim Nachrichtenkonsum rückläufig ist. Damit wird das partielle Ignorieren

1

BDZV: Verkaufte Auflage von Abonnement-, Straßenverkaufszeitungen in Deutschland in ausgewählten Jahren von 1950 bis 2019.

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dieser verhältnismäßig einfachen Art der Leserakquise zu einem fahrlässigen Versäumnis. Ziel dieses Aufsatzes ist es, Verständnis für den Berufszweig zu schaffen und Erklärungen für die bisweilen speziellen, manchmal aber auch überraschend simplen Anforderungen der Suchmaschinenoptimierung zu schaffen. Nicht zuletzt die Rückbesinnung auf den »Küchenzuruf«, der in einer Ära weit vor Google & Co geprägt wurde, spielt dabei eine zentrale Rolle.

2.

Entstehung und Funktionsweise von Suchmaschinen

Suchmaschinenoptimierung oder Search Engine Optimization, kurz SEO, entstand in den späten 1990er Jahren. Erste Suchmaschinen erstellten Kataloge der zu diesem Zeitpunkt noch raren Webseiten im Internet. Die seinerzeit ausgespielten Suchergebnisse basierten überwiegend auf den in den Metaangaben einer Webseite hinterlegten Informationen und nicht oder nur teilweise auf den direkt lesbaren Inhalten selbst. Entsprechend unscharf waren die Ergebnisse in dieser Frühphase. Erst als im Jahr 1996 der Vorgänger von Google unter dem Namen BackRub startete, begann ein Wandel. Die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin richteten den Fokus ihrer am 15. September 1997 unter dem Namen Google gestarteten Suchmaschine daher anders aus.2 Google versuchte, die Relevanz von Suchergebnissen zu revolutionieren. Dafür ersannen Page und Brin verschiedene Rankingfaktoren. Webcrawler durchstöbern seither das Internet auf der Suche nach neuen oder veränderten Inhalten. Die von diesen Programmen gesammelten Informationen werden in Rechenzentren verarbeitet und anhand unterschiedlicher Algorithmen klassifiziert. Am Ende eines langen Prozesses entsteht schließlich eine Sortierreihenfolge für jede denkbare Suchabfrage. Der größte Unterschied zu vorherigen Suchmaschinen war die Berücksichtigung gesetzter Verlinkungen. Im Ergebnis »demokratisierten« die Google-Gründer das Ranking einer Website mit ihrer Erfindung des PageRank3 . Die These: Je mehr Verlinkungen auf ein Dokument im Internet zeigen, desto relevanter muss es sein. Doch wie bereits bei Meta-

2 3

O. AutorIn: Unsere Unternehmensgeschichte: Von der Garage zum Googleplex. PageRank-Patent, siehe: https://worldwide.espacenet.com/publicationDetails/biblio? locale=de_EP&CC=US&NR=6285999

SEO im Newsroom

Suchmaschinen ermöglichte diese Technik Unschärfen – diesmal durch gezielte Manipulation. Die Disziplin des »Linkbuildings« wurde geboren, bei der bis heute Links gegen Geld generiert werden. Google reagierte darauf, indem seither Algorithmen solche unnatürlichen Bewegungen im Linkprofil einer Website überwachen und gegebenenfalls automatisiert Strafen aussprechen, wie beispielsweise künstliche Rückstufungen einzelner Suchergebnisse oder gar ganzer Domains. Damit begann das bis heute anhaltende »Katz-und-Maus-Spiel« zwischen Suchmaschinenbetreibern und Suchmaschinenoptimierern.

3.

Das Textverständnis von Suchmaschinen

Das Problem der verhältnismäßig einfachen Manipulierbarkeit erkennend, begann Google damit, die Suche semantisch zu verbessern. Neben dem Gesamtvertrauen in eine Domain gewannen Synonymerkennungen und kontextuelle Zusammenhänge an Bedeutung für die Qualitätsberechnung von Inhalten. Dazu wurde das natural language processing, kurz NLP, implementiert. Regelmäßige Algorithmus-Updates sollen seither die Qualität der Suchergebnisse weiter verbessern. Diese Technologie ist nicht nur für die Erkennung von gecrawlten Texten einer Website von enormer Wichtigkeit, sondern auch für die Interpretation einer Sucheingabe. Insbesondere, da Menschen bei einer schriftlichen Websuche anders formulieren als beispielsweise beim gesprochenen Wort. Die Suchmaschine muss deshalb in die Lage versetzt werden, die Suchen entsprechend umzuwandeln. Bereits im Jahr 2013 hatte Google dafür ein linguistisches Patent angemeldet, das stark zusammengefasst und leicht zugespitzt besagt, Menschen würden falsch suchen. Die Technik generiert Synonyme für relevante Wörter innerhalb eines Dokuments. Anhand der Häufigkeiten und Nähe von Wortpaaren in den Dokumenten, werden Korrelationen erkannt. Damit wird die Suchmaschine in die Lage versetzt, aus einer vermeintlich »falschen« Suche eine sinnvollere Suchabfrage zu generieren, um ein besser zum Nutzerbedürfnis passendes Ergebnis zu liefern.4 Konkret bedeutet dies, dass ein Suchender im Jahr 2019 bei der Suche »früchte sorten kalorien« Ergebnisse zu kalorienarmem Obst geliefert bekommt. Die Technologie interpretiert die Suche so, dass die Suchintention 4

O. Grushetskyy/S.D. Baker: Document-based synonym generation.

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mit bewusster Ernährung in Verbindung steht. Daher wird gleich noch eine Nährwerttabelle für beliebte Obstsorten mitgeliefert, obwohl der Begriff »kalorienarm« in der Ursprungssuche nicht vorkam. Bei einer Suche nach »kuchen ofen temperatur« werden Ergebnisse ausgespielt, die neben der Backofentemperatur gleich noch die passende Backdauer liefern. Diese spielte in der Ursprungssuche zwar keine Rolle, für das Ergebnis und das vorausgesetzte Bedürfnis des Suchenden dürfte die Backdauer laut These der Suchmaschine jedoch eine elementare Rolle spielen. Die Qualität der Antwort auf eine tatsächlich oder auch nur vermeintlich gestellte Frage wurde und wird somit kontinuierlich verbessert. 2019 implementierte Google dann eine neue NLP-Stufe. Ein Framework mit dem Namen BERT, das für Bidirectional Encoder Representations from Transformers steht, soll dabei helfen, Sprache noch besser zu verstehen. Google bezeichnet die Technologie als »einen der größten Sprünge in der Geschichte der Suche«.5 Nötig war dieser Schritt, da Sprache trotz erster KI-Patente noch immer enorm schwierig zu verstehen sein kann. So hat das Verb »überfahren« eine grundlegend andere Bedeutung, wenn der Kontext die Begriffe »rote Ampel« oder »Fußgänger« beinhaltet. In beiden Fällen droht als Konsequenz ein Führerscheinentzug. Doch während dies im ersten Fall bereits das schlimmstmögliche Szenario ist, rückt diese Sanktion im zweiten Fall aufgrund der zu erwartenden Verletzungen eines Menschen in den Hintergrund. Das Verständnis solcher Kontexte ist nicht nur für Suchmaschinenbetreiber enorm wichtig. Auch Fahrzeughersteller, die inzwischen Sprachbefehle in ihre Software implementieren, Betreiber von Sozialen Netzwerken, Smart-TVs oder Sprachassistenten wie Amazons Alexa können fundamental bessere Ergebnisse liefern, wenn das Verständnis des gesprochenen Worts verbessert wird. BERT ist dafür wie ein Quantensprung zu werten. Worte werden nicht mehr direktional von links nach rechts oder von rechts nach links interpretiert, sondern bidirektional. Damit wird es möglich, die komplexesten Zusammenhänge zu verstehen. Das Verständnis einer Kombination des genannten Beispiels, in dem zunächst eine rote Ampel und daraufhin ein Fußgänger überfahren wurde, war bislang eine technologische Herausforderung. BERT hingegen liefert nahezu spielend die richtige Interpretation. Der einst revolutionäre Rankingfaktor Link wird dadurch möglicherweise nicht komplett überflüssig, die ihm zugemessene Relevanz verringert sich 5

P. Nayak: Understanding searches better than ever before.

SEO im Newsroom

jedoch sukzessive, da die Suchmaschine nicht mehr auf diese indirekte Bestätigung durch den Menschen angewiesen ist. Während bisher die reine Suche uminterpretiert und daraufhin ein anderes, besser zur Suchintention passendes Ergebnis geliefert wurde, können Dank der BERT zugrunde liegenden Technologie künftig auch bessere Antworten direkt innerhalb der Suchseite ausgegeben werden. Ein Beispiel aus der US-amerikanischen Suche, wo BERT zuerst eingesetzt wurde, zeigt den Unterschied zum vorherigen Patent, das gegenwärtig noch in der deutschen Suche aktiv ist.6 Wurde in der deutschen Suche beispielsweise die Frage gestellt »mit wem ist barack obama verheiratet«, lieferte Google das Hochzeitsdatum des Ehepaars. In der USamerikanischen Suche wurde die Frage »who is barack obama married to« zu diesem Zeitpunkt hingegen bereits korrekt mit »Michelle Obama« beantwortet.7 BERT versetzt die Suchmaschine also auch in die Lage, Fragen besser zu verstehen und die Antworten in sogenannten »Featured Snippets«, also in kleinen Boxen, die direkt innerhalb der Suchergebnisseiten eingeblendet werden,8 in deutlich besserer Qualität als bisher zu liefern. Die Suchmaschine wird damit zur Antwortmaschine. Mit Blick auf Audioassistenten, bei denen auch Google mit Google Home ein eigenes Produkt vertreibt, ist dies ein fundamentaler Sprung. Denn während in der Websuche noch mehrere Suchergebnisse präsentiert und der/dem NutzerIn die Entscheidung überlassen wird, welche davon am besten zum jeweiligen Bedürfnis passt, muss die Audiosuche schon jetzt eine einzige, treffsichere Antwort abspielen. Vor diesem Hintergrund wird eines der häufigsten Vorurteile gegenüber Suchmaschinenoptimierern endgültig obsolet: Die Branche hat sich bereits vor Jahren von bloßen Keyword-EinfordererInnen zu thematisch denkenden RedaktionsplanerInnen entwickelt, denen qualitativ hochwertige Texte schon aus purem Eigennutz heraus wichtig sind. Dennoch bleiben Stichworte ein wichtiger Faktor, wie im Kapitel der News-Optimierung gezeigt wird.

6

7 8

Google kündigte am 9. Dezember 2019 via Twitter an, die Technologie auf 70 weitere Sprachen ausrollen zu wollen, darunter auch auf die deutsche Suche. Siehe: https://twitter.com/searchliaison/status/1204152378292867074 Suchergebnisse in den »Featured Snipets« bei google.de bzw. google.com bei der Suche nach den im Text genannten Fragen, abgerufen am 9.11.2019. D. Sullivan: A reintroduction to Google’s featured snippets.

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4.

Die verschiedenen Indizes

Innerhalb der Suche unterscheidet die Suchmaschine Google zwischen verschiedenen Indizes. Den größten Unterschied machen dabei die organische Suche und die News-Suche aus. Bei der Suche nach aktuellen Nachrichten geht es um Geschwindigkeit bei der Aufbereitung der Suchergebnisse. Diese rückt bei der organischen Suche in den Hintergrund: Dort werden diverse Algorithmen und Rankingfaktoren angewendet, die kontinuierlich das beste Ergebnis zu einer Suchphrase ermitteln. Suchergebnisse durchleben mit der Zeit also eine Art Reifeprozess. Zudem wird innerhalb der organischen Suche wie folgt zwischen verschiedenen Arten von Suchen unterschieden.

4.1

Die organische Suche

Die planbarste Art, Reichweite zu generieren, ist die strategische Nutzung der organischen Suche. Dabei handelt es sich um den Hauptindex der Suchmaschine. Zwar werden hier auch News-Inhalte ausgespielt, diese befinden sich in der Regel jedoch in integrierten News-Boxen, auf die später noch gesondert eingegangen wird. Viele Redaktionen setzen inzwischen auf Redaktionsplaner. Einige Häuser, wie die Rheinische Post in Düsseldorf, nutzen parallel einen eigenen SEO-Kalender. Dieser wird in den Wochen- und Morgenkonferenzen mit der nachrichtengetriebenen Planung der Redaktion synchronisiert. Mithilfe des SEO-Kalenders werden neben tagesaktuellen Themen auch anstehende Suchthemen diskutiert und meist zu inhaltlichen Schwerpunkten erhoben. Dabei handelt es sich beispielsweise um planbare Ereignisse (Bundestags-/Landtagswahlen, Staatsbesuche etc.), historische Gedenktage (Tag der deutschen Einheit, Mauerfall etc.) oder um weitere Vorschläge des SEO-Teams, die als relevant für NutzerInnen erachtet werden. Die organische Suche ist eher träge. Durch die Anwendung der verschiedenen Rankingfaktoren und Algorithmen kann es mitunter Monate dauern, bis ein Dokument seine Platzierung verändert. Ziel der Suchmaschinenoptimierung ist es, innerhalb der Suchergebnisseiten auf die erste Seite und dort möglichst auf den ersten Platz zu klettern. Eine Erhebung des Softwareanbieters Sistrix, der den Erfolg von Websites bei Suchmaschinenplatzierungen misst, zeigt auf, dass knapp 60 Prozent der Klicks auf die erste, nicht bezahlte Position innerhalb der Suchergebnisseiten (Search Engine Result Pages – SERPs) entfallen. Der zweite Platz zieht noch fast 16 Prozent, der dritte we-

SEO im Newsroom

niger als 10 Prozent der Klicks auf sich. Auf Platz 11, normalerweise der erste Beitrag auf der zweiten Suchergebnisseite, entfallen demnach nur noch 0,17 Prozent der Klicks für eine durchschnittliche Suche.9 Das gemeinsame Ziel von Redaktion und SEO-Team sollte entsprechend lauten, die eigenen Inhalte auf der ersten Seite und dort möglichst weit oben innerhalb der SERPs zu platzieren. Insbesondere zeitlose und damit regelmäßig oder sogar dauerhaft LeserInnen anziehende Beiträge können für exponentielles Wachstum der eigenen Reichweite sorgen. Solche Rankings können je nach Suchwort zu wahren Reichweitenund Umsatzgeneratoren werden: Einen Tausenderkontaktpreis von fünf Euro nach Abzug von Vermarkteranteilen und leeren Werbeplatzierungen vorausgesetzt, bringt ein Beitrag, der beispielsweise monatlich 100.000 Seitenaufrufe generiert, entsprechend 6000 Euro Umsatz pro Jahr. Jede Website hat je nach Ausrichtung und Größe Hunderte bis Tausende solcher Potenzial-Rankings. Entscheidend für eine Berechnung des möglichen Umsatzes durch gezielte Suchmaschinenoptimierung sind die thematische Ausrichtung der Website und die Größe der Zielgruppe. Welchen Wert einzelne Keywords haben, kann dann beispielsweise mit dem Keyword Planer in Googles Werbesystem Google Ads erhoben und berechnet werden.

4.2

Unterschiede innerhalb der organischen Suche und die Folgen falscher Optimierung

Ein häufig unterschätzter Faktor innerhalb der organischen Suche sind die verschiedenen Bedürfnisse der SuchmaschinennutzerInnen. Unterschieden wird im wesentlichen zwischen informational, transactional und navigational search. Diese Arten der Suche unterscheiden sich in der Intention der/des Suchenden. Die Ermittlung, um welche Art der Suche es sich handelt, wird maßgeblich durch die Erkennung semantischer Zusammenhänge und NLP beeinflusst. Transaktionsorientierte Suchanfragen entstehen in der Regel im Shoppingumfeld. Verwenden NutzerInnen im Rahmen der Suchanfrage beispielsweise den Zusatz »kaufen«, zeigen sie dadurch eine entsprechende Suchintention. Auch der zusätzliche Suchbegriff »Vergleich« oder lediglich die Suche nach einem gerade erst veröffentlichten Produkt kann auf ein Kaufinteresse

9

J. Beus: Klickwahrscheinlichkeiten in den Google SERPs.

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hinweisen. Suchmaschinen versuchen, solche Zusammenhänge immer besser zu verstehen. Im Fall der Suchmaschine Google dient dies nicht zuletzt der Umsatzgenerierung, da mit Google Shopping Gewinne beispielsweise durch Affiliate-Erlöse generiert werden. Dabei handelt es sich um Werbekostenerstattungen durch die Weiterleitung von NutzerInnen. Schließen diese einen Kauf ab, wird dem/der BetreiberIn der Website ein Anteil ausgezahlt. Die EU-Kommission verurteilte Google in diesem Zusammenhang im Juni 2017 zu einer Rekordstrafe in Höhe von 2,42 Milliarden Euro. Der Vorwurf lautete, dass der Suchmaschinenriese seine eigenen Shoppingdienste im Vergleich zu denen der Konkurrenz bevorzuge. Navigationsorientierte Suchanfragen zeigen unterdessen, dass NutzerInnen nach einer konkreten Website suchen. Dabei handelt es sich beispielsweise um sogenannte Brand Search, wie »rp online«, »spiegel«, oder »apple«. Diese entsteht unter anderem dann, wenn NutzerInnen im Browser lediglich »youtube« eintippen, nicht youtube.de. Gängige Praxis ist es dann, auf das erste Ergebnis in der Suche zu klicken. An dieser Stelle entstehen bei Keywordrecherchen oft Fehlinterpretationen über das vermeintliche Potenzial eines Keywords. Denn natürlich ist das Suchvolumen des Stichworts »youtube« riesig. Doch das Gros der Suchenden möchte nicht auf einer Seite landen, die erklärt, was sich hinter »Youtube« verbirgt. Sie möchten auf die Website Youtube selbst gelangen und haben lediglich den Zusatz .com oder .de weggelassen, da sie gelernt haben, dass Google ihnen den Link zur gesuchten Website ohnehin in Sekundenbruchteilen anbietet. An dieser Stelle eine signifikante Reichweitenerhöhung durch einen allgemeinen Beitrag über Youtube zu erwarten, ist eine Vermischung von Korrelation und Kausalität. Dennoch sei erwähnt, dass insbesondere bei solch drastischen Beispielen natürlich auch die oben erwähnten 0,17 Prozent der Klicks für Platz 11 in Summe noch immer einen positiven Reichweiteneffekt haben können. Ob sich jedoch ein redaktioneller Allgemein-Beitrag für ein so umkämpftes Keyword lohnt, ist zumindest fraglich. Sinnvoller könnte es sein, regelmäßig Nachrichten zum Thema zu veröffentlichen und so über die Newsboxen, die noch ausführlich thematisiert werden, Reichweite zu generieren. Informationsorientierte Suchanfragen zeigen unterdessen, dass sich NutzerInnen beispielsweise auf der Suche nach Hilfe bei einem konkreten Problem (»knopf annähen«) oder nach gezielten Informationen (»bundesliga ergebnisse«) befinden. In solchen Fällen werden dann vielfach schon innerhalb der Suche serviceorientierte Youtube-Videos oder gleich die Ergebnisse als »Featured Snippet« angeboten.

SEO im Newsroom

Häufige Fehler entstehen neben der Verwechslung von navigational und informational Search sowie den Keywordpotenzialen auch in der falschen inhaltlichen Ausrichtung von Unterseiten einer Website. Beispielhaft kann dies an der Shop-Optimierung aufgezeigt werden. Viele Verlage betreiben eigene Onlineshops. Darin werden vom Wein über historische Zeitungen und Magazine bis zum Buch diverse Sach- und manchmal auch Dienstleistungen verkauft. Eine Rückfrage beim SEO-Team ergibt häufig, dass jedes Produkt am besten mit einem eigenen Text versehen werden sollte, um besser in Suchmaschinen zu ranken. Genau an dieser Stelle laufen dann viele unerfahrene Website- und Shopbetreiber in eine Falle: Denn wird das Produkt nun rein fachlich beschrieben, mag dies zwar inhaltlich korrekt sein, die Suchmaschine wird die Produktseite jedoch möglicherweise falsch zuweisen. Beim Beispiel eines Mosel-Rieslings sollte also nicht die Rebsorte, sondern das konkrete Produkt beschrieben werden. Im Fließtext sollte zudem auch das Stichwort »kaufen« verwendet werden. Geschieht dies nicht, werden kaufinteressierte KundInnen von der Suchmaschine in die »transactional search« eingruppiert, die Website hingegen rutscht möglicherweise aufgrund der lexikonartigen Beschreibung in die »informational search«. Suchender und Website senden also unterschiedliche Signale an die Algorithmen und das Produkt wird dem Kaufinteressenten gar nicht erst angezeigt. Daher ist es essentiell, im Zuge der Suchmaschinenoptimierung einer Website stets die Bedürfnisse des Suchenden im Blick zu halten und auch die Inhalte entsprechend auszurichten. Dieser Faktor sollte SuchmaschinenoptimiererInnen und RedakteurInnen, die die zielgruppengerechte Ansprache bestenfalls bereits in der Ausbildung gelernt haben, näher zusammenbringen.

4.3

Weiterentwicklung der organischen Suche

Der Suchmaschinenbetreiber Google setzt zur Optimierung seiner Suchergebnisse neben NLP auch auf weitere, schwieriger zu manipulierende Rankingsignale. Dabei rückt die Autorin/der Autor eines Inhalts in den Vordergrund. Die jüngste Aktualisierung der sogenannten »Quality Rater Guidelines« von Google, ein Dokument, das bei manuellen Prüfungen dabei helfen soll, die Qualität einer Website bzw. einzelner Beiträge zu bestimmen, beinhaltet die Punkte »Expertise, Authoritativeness, and Trustworthiness« (Kompetenz, Autorität und Vertrauenswürdigkeit), kurz: E-A-T.

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Johannes Bornewasser

Diese Faktoren sollen dabei helfen, herauszufinden, ob eine Quelle als »reliable«, also vertrauenswürdig einzustufen ist.10 Weitergedacht bedeutet dies, dass eine Website mehr und mehr auf ExpertInnen setzen sollte, wenn bestimmte Themen in der Suchmaschine gute Positionierungen erreichen sollen. Diese AutorInnen sollten mit einem Autorenprofil ausgestattet sein und mit einer Autorenbox samt Kurzvorstellung am Ende der jeweiligen Texte aufgeführt werden. Während dieser Punkt isoliert betrachtet je nach Beschäftigungsverhältnis bereits einige Schwierigkeiten innerhalb größerer Konzerne mit sich bringen kann, bedeutet der Autorenfokus insgesamt, dass sich Websitebetreiber professionalisieren müssen. Ein paar Generalisten, die Content erzeugen, werden in Zukunft nicht mehr ausreichen. Auch der Einsatz einzelner AutorInnen je nach Verfügbarkeit in verschiedenen Ressorts kann auf diese Weise unwirtschaftlich werden. Für die Qualität eines Inhalts ist ein Expertisenfokus äußerst förderlich. Die Entwicklung ist entsprechend logisch. Die Suchmaschine zwingt an dieser Stelle also Websitebetreiber dazu, sich mit der Qualität an Stelle der Quantität der eigenen Inhalte auseinanderzusetzen. Und erneut verfolgen Redaktion und SEO-Team die gleichen Ziele: gute Inhalte für die eigene Leserschaft zu generieren.

4.4

Newsgetriebene Suchen

»Alle schauen, dass sie möglichst gut von Google gefunden werden. Im Gegenzug von Google Geld dafür zu verlangen, halte ich für eine komische Idee«, sagte Zeit-Chef Rainer Esser im Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard11 – und bringt damit das Dilemma rund um das Leistungsschutzrecht (»LSR«) auf den Punkt. Verlage und Google profitieren in diesem Index voneinander und liegen doch im Streit um die Verwertungsrechte. Google News ist speziell ausgewählten Websites vorbehalten. Mussten News-Publisher vor einigen Jahren noch einen aufwendigen Aufnahmeprozess durchlaufen, wählt Google inzwischen auch eigenständig Publisher aus. Zudem wurde der Aufnahmeprozess vereinfacht. Noch immer muss eine Website jedoch inhaltliche Qualität nachweisen, bevor eine Aufnahme in Google News erfolgt.

10 11

O. AutorIn: General Guidelines, S. 19. H. Fidler: »Komische Idee«: Warum »Zeit«-Geschäftsführer Esser von Google kein Geld verlangen will.

SEO im Newsroom

Wesentlicher Unterschied zur organischen Suche ist, dass bei News in Echtzeit entschieden werden muss, ob ein Beitrag zu einem bestimmten Suchwort passend ist. Schließlich kann eine Nachricht schon in wenigen Minuten überholt und in einigen Stunden uninteressant sein. Ein Webcrawling mit der Suche nach Links sowie aufwendige semantische Vergleiche von Texten, unter anderem mit denen der Konkurrenz, sind somit nicht oder nur eingeschränkt möglich. Bei Google News zählt daher unter anderem das Schlagwort. Genau hier kommt der »Küchenzuruf« ins Spiel. Trägt eine Nachricht einen prosaischen Titel, erschwert dies der Suchmaschine in der Kürze der Zeit die Zuordnung zu einem bestimmten Schlagwort. An diesem Punkt entsteht oft Reibung zwischen SuchmaschinenoptimiererInnen und RedakteurInnen: Hausstandards und das finale Argument der redaktionellen Unabhängigkeit werden in solchen Diskussionen ebenso schnell von der Redaktion bemüht wie vom SEO-Team Hinweise auf den freiwilligen Verzicht auf VG-Wort-Einnahmen. Der Streit droht dann in eine Sackgasse zu führen. Dabei liegen schreibende und optimierende Kolleginnen und Kollegen oft näher beieinander als zunächst gedacht. Denn beiden Parteien geht es um die Leserschaft. Und die klickt – unabhängig ob auf der eigenen Website oder auf einer Suchergebnisseite – im Regelfall eher auf ein zum eigenen Interesse passendes Schlagwort als auf verkopfte Prosa. Auf einer internen Redaktionsschulung wurde diese These des Autors von einem leitenden Redakteur angezweifelt und ein empirischer Beleg gefordert. Gemeinsam mit den Anwesenden wurde deshalb eine Google-Suche angestoßen, die sich auf die Website rp-online.de beschränkte. Als Suchanfrage wurde die Phrase »eine runde sache« eingegeben. Die Suchmaschine lieferte mehr als 8000 Treffer.12 Schnell herrschte Einigkeit darüber, dass Überschriften dieser Art weder den Hausstandards genügen noch über die Maßen kreativ oder leserfreundlich seien. Außerdem war man sich einig, dass Leserinnen und Leser, die am Folgetag nach einem Bericht zur Eröffnung des neuen Kreisverkehrs oder nach einem sublokalen Trödelmarkt Ausschau halten, beim Querlesen der Zeitung eher auf entsprechende Schlagwörter achten als auf abgedroschene Phrasen. Erneut waren sich SEO-Team und Redaktion deutlich näher, als es die Anfangsskepsis glauben ließ.

12

Google-Sucheingabe: »site:rp-online.de eine runde sache«, durchgeführt am 10.11.2019.

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Da bei der News-Suche die Geschwindigkeit im Vordergrund steht, ist bei diesem Google-Index das Schlagwort von zentraler Bedeutung. Ein Artikel über Angela Merkels Besuch bei Donald Trump in den USA sollte also bestenfalls mit diesen Schlagwörtern veröffentlicht werden, um bei Google News zu entsprechenden Suchanfragen ausgespielt zu werden. Die Suchanfragen selbst finden jedoch nur zum Teil unter »news.google.de« oder »news.google.com« statt. Der weitaus größere Traffic entsteht über die sogenannten Newsboxen innerhalb der organischen Google-Suche, also beispielsweise unter »google.de«. Wird dort ein bestimmtes Schlagwort in kürzester Zeit überdurchschnittlich häufig gesucht und veröffentlichen gleichzeitig mehrere in den Google-News-Index aufgenommene Portale Beiträge dazu, so schaltet Google automatisiert eine entsprechende Newsbox. Aufgenommen wird meist, wer zuerst veröffentlicht, einen eigenen Dreh findet (uniqueness vs. Agenturmeldung) oder die Originalquelle13 der Meldung ist.

4.5

Einzug in die Newsbox und »Republishing«

Hilft auch die korrekte Verwendung des Hauptschlagworts nicht, um einen Text in einer Newsbox zu platzieren, kann es schon genügen, den Metatitel, also die Überschrift des Browser-Tabs, und die Überschrift des Textes leicht umzuschreiben. Zudem sollte die URL verändert und der Beitrag mit neuem Zeitstempel versehen erneut veröffentlicht werden. Die gleiche Systematik greift auch beim sogenannten »Republishing«. Dabei wird ein aus der Newsbox verdrängter Beitrag durch entsprechende Optimierung wieder für eine Aufnahme vorgeschlagen. Der Suchmaschine wird so suggeriert, dass das Dokument inhaltlich aktualisiert wurde. Oftmals hilft diese Technik dabei, einen Text erneut in die je nach Schlagwort enorm reichweitenstarken Newsboxen zu heben. Mit dem News Dashboard von Trisolute gibt es eine aus Deutschland stammende Software, die als bisher international einzige unter anderem eine systematische und nahezu vollständige Überwachung der Newsboxen durchführt und diese mit der Domain des Kunden vergleicht. Die Keywordoptimierung für Google News und je nach Hausstandard auch das Republishing können somit überwacht und sogar teilautomatisiert werden. Ob und ab wann eine Republishing-Systematik angewandt wird, sollte zwischen SEO-Team und Redaktion abgestimmt werden. Zudem ist es wichtig zu verstehen, dass Google derlei Techniken bestenfalls duldet. Je nach Grö13

R. Gingras: Elevating original reporting in Search.

SEO im Newsroom

ße des Vertrauens in eine Domain kann dabei mehr oder weniger experimentiert werden. Durchlebt ein Thema eine tatsächliche Evolution, sollten zudem Richtwerte festgehalten werden. In vielen Redaktionen gilt: Gibt es nur einen kleinen neuen Aspekt, wird der bestehende Text angepasst und erneut veröffentlicht. Dreht sich ein Thema hingegen deutlich weiter, wird ein neuer Beitrag verfasst. Das SEO-Team hat in diesem Fall zwei potenziell in der Newsbox rankende Dokumente. Eine kluge interne Verlinkung zwischen beiden führt dann dazu, dass die Leserschaft vom jeweils anderen Aspekt erfährt. Insbesondere bei Themen, zu denen die Domain oder ein/e einzelne/r AutorIn als Autorität angesehen wird, kann es lohnenswert sein, zusätzlich einen Sammeltext anzulegen. Dieser verlinkt dann wiederum alle eigenen Meldungen zum Thema. Somit steigt die Wahrscheinlichkeit auf gleich mehrere Newsbox-Rankings erneut.

5.

Der richtige Seitentitel und die perfekte Leseransprache

Der Seitentitel, oder Meta-Titel, eines Dokuments wird in der Regel zur Überschrift eines Eintrags in den Suchergebnissen. Die Seitenbeschreibung, oder Meta-Description, wird zudem zum Anreißertext. In der jüngeren Vergangenheit hat Google vermehrt mit der Länge beider experimentiert. Aktuell werden Seitentitel und Beschreibungstext nicht durch eine Zeichenangabe, sondern durch die tatsächliche Breite der Suchergebnisseite beschränkt. Enthält ein Titel also mehrere schmale Buchstaben, wie das i, sind mehr Zeichen möglich als beispielsweise beim w. Als Faustregel gilt, dass ein Titel zwischen 50 und 70 Zeichen und eine Beschreibung zwischen 130 und 150 Zeichen lang sein sollte. Wichtiger als die Länge sind jedoch die Signale an die NutzerInnen. Der perfekte Seitentitel ist entgegen manch veralteter Annahme keine Aneinanderreihung von Schlagworten, sondern in erster Linie deskriptiv. Dennoch sollte der Titel mindestens das Hauptschlagwort beinhalten, um NutzerInnen das eindeutige Signal zu senden, dass es auf der verlinkten Seite auch genau um das Thema geht, das er oder sie gerade sucht. Gleiches gilt für die Seitenbeschreibung. Diese ist wie ein Schaufenster zu werten. Schafft es ein/e AutorIn innerhalb dieses Anreißertextes nicht, Suchende vom eigenen Inhalt zu überzeugen, werden diese möglicherweise den Beitrag der Konkurrenz bevorzugen. Die Beschreibung benötigt daher

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einen ansprechenden Text, der den Inhalt der verlinkten Seite transportiert und dabei einen sogenannten »call to action« setzt, den Nutzer also animiert, genau diesen Beitrag anzuklicken. Im genannten Beispiel »Eine runde Sache« könnte ein Vorher-nachher-Beispiel folgendermaßen aussehen: Original: Sportlerball: eine runde Sache Krefeld: Sportlerball: Rund 700 Gäste feierten am Samstag Abend im Seidenweberhaus die besten und erfolgreichsten Sportler Krefelds. Alternative: Ball des Sports: Krefeld empfängt sieben Olympioniken Olympischer Glanz in Krefeld: Beim Sportlerball wurden gleich sieben Olympioniken der Spiele in Peking begrüßt. Alles zu den Gewinnern lesen Sie hier. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren die Olympischen Spiele in Peking noch präsent. Der Bezug auf die TeilnehmerInnen transportiert somit Aktualität und in diesem Fall sogar Prominenz. Die Nennung Krefelds erzeugt Nähe zum/zur lokalen LeserIn und der Cliffhanger zu den GewinnerInnen des Abends setzt einen Anreiz, den Beitrag anzuklicken. Der gleiche Artikel wird der These nach lediglich über die Anpassung zweier Meta-Angaben mehr Visits generieren. Zudem sind Hauptkeyword und Stadt enthalten, so dass potenzielle Newsboxen nebenbei als Vehikel für mehr Reichweite genutzt werden können. Bei Beschreibungen von Produkten oder bei Longtail-Texten, also Beiträgen, die über einen langen oder wiederkehrenden Zeitraum für Reichweite sorgen, kann auch mit Symbolen gespielt werden. Emojis sorgen oft für zusätzliche Aufmerksamkeit. Im Nachrichtenkontext verbieten sich derlei Spielereien im Regelfall, bei zeitlosen Inhalten oder Produkten können sie jedoch den positiven Unterschied ausmachen.

6.

Der SEO-Change-Prozess

»Das machen wir doch sowieso nur für Google«, gehört zu den häufigsten Sätzen, die der Autor im Rahmen seiner Tätigkeit als Suchmaschinenoptimierer in den Redaktionen verschiedener Verlage gehört hat. Die Aussage ist jedoch grundlegend falsch, vielleicht sogar bewusst populistisch gewählt, um der geforderten Aufgabe Zustimmung erhaschend ausweichen zu können. Denn optimiert wird nicht für die Suchmaschine, sondern für die NutzerInnen einer

SEO im Newsroom

Suchmaschine. Sie ist das Vehikel, um Angebot und Nachfrage zusammenzubringen. Und erfahrene SEOs können die Größe dieser Zielgruppe gut abschätzen. Für eine strategische Planung braucht es also zunächst ein ChangeBewusstsein. Denn im Gegensatz zur Zeit vor der Jahrtausendwende, in der JournalistInnen noch mehr oder weniger allein bestimmten, welche Inhalte in den abendlichen Nachrichtensendungen oder am Folgetag in der Zeitung wichtig sein würden, kommen LeserInnen heute deutlich einfacher an Informationen. Spätestens durch das (mobile) Internet sind Informationen inzwischen zu jedem Zeitpunkt und an immer mehr Orten abrufbar. Nutzten im Jahr 2000 gerade 29 Prozent der Deutschen das Internet, waren es im Jahr 2019 bereits 89 Prozent.14 Die Nutzungsdauer stieg in dieser Zeit von täglich 91 Minuten15 auf 182 Minuten. Die 14- bis 29-Jährigen sind im Jahr 2019 sogar 366 Minuten pro Tag online.16 Der Anteil der Deutschen, die das Internet außerhalb der Wohnung auch mobil nutzen, stieg zwischen 2012 und 2018 von 2217 auf 71 Prozent.18 Das Internet ist für seine NutzerInnen zu einer der Hauptnachrichtenquellen geworden. Laut einer aktuellen Erhebung liegt es bei den meistgenutzten Informationsquellen mit 71 Prozent auf dem zweiten Platz – direkt hinter der persönlichen Nachfrage bei Freunden, Verwandten oder Bekannten.19 Entsprechend groß ist die potenzielle Reichweite durch das Bereitstellen von Service-Informationen. Eine interne Erhebung der RP Digital GmbH, dem Betreiber von RP Online, zeigt, dass beispielsweise das Interesse an den Terminen der sublokalen Sankt-Martins-Züge ab Anfang September um mehr als das Doppelte im Vergleich zu den Vormonaten steigt und sich dann wochenweise mehr als verdoppelt. Die Erklärung für das Phänomen ist denkbar simpel: Die Freizeitgestaltung und gegebenenfalls auch der für eine Teilnahme benötigte Urlaubstag will frühzeitig geplant sein. Gleiches gilt für weitere Service-Themen: So hat ein Ratgeberbeitrag zum Thema »Wasser im Ohr«

14 15 16 17 18 19

N. Beisch/W. Koch/C. Schäfer: ARD/ZDF-Onlinestudie 2019, S. 375. B. van Eimeren/H. Gerhard, Heinz: ARD/ZDF-Online-Studie 2000, S. 344. ARD/ZDF-Forschungskommission: Onlinestudie 2019. B. van Eimeren/B. Frees: Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2012, S. 367. B. Frees/W. Koch: ARD/ZDF-Onlinestudie 2018, S. 402-402. IfD Allensbach: Meistgenutzte Informationsquellen der Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2019.

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zeitweise mehr als 100.000 Besuche jährlich generiert – und das über viele Jahre.20 Redaktionen können sich diese Phänomene zunutze machen, indem nicht nur zu den jeweiligen Ressorts passende Themen ausgewählt, sondern diese auch zum richtigen Zeitpunkt veröffentlicht werden. Von einer lokalen Zeitung wie der Rheinischen Post werden mindestens die Termine der SanktMartins-Züge im Verbreitungsgebiet erwartet. Doch Jahr für Jahr endet die Forderung, die Recherche bereits im September zu beginnen, in Diskussionen. Dabei geht es nicht um den grundsätzlichen Arbeitsaufwand, der ohnehin früher oder später entsteht, sondern vornehmlich um den Zeitpunkt. Genau an dieser Stelle wird ein Change-Prozess benötigt. Denn mit zunehmender Diskussion über Bezahlmodelle oder gar Markenabos bei (lokalen) Nachrichtenportalen muss das Nutzerinteresse zum Zeitpunkt seines Bedürfnisses im Fokus stehen, nicht mehr der Zeitpunkt, an dem ein/e RedakteurIn oder der Themenkalender eine Information für relevant erachtet. Selbstverständlich muss im Herbst nicht auf der Startseite über die schönsten Sommer-Reiseziele berichtet werden. Im Reiseressort darf jedoch genau das geschehen. Dort freuen sich Leserinnen und Leser über Anregungen für die anstehende Urlaubsplanung, die in vielen Unternehmen bis Jahresende abgeschlossen wird. An dieser Stelle ist insbesondere das Management gefragt – von der Geschäftsführung bis zur Chefredaktion. Wer vermehrt auch online auf Abonnements setzt, sollte seine Leserschaft in deren Lebensrealität abholen und nicht länger versuchen, diese zugunsten der einfacheren Recherche zeitlich zu verschieben. Denn natürlich werden die Termine für Martinszüge von den städtischen Pressestellen der Redaktion ab Oktober oft auch ungefragt zugestellt. Zu diesem Zeitpunkt ist es für viele Leserinnen und Leser aber schon zu spät. Sie haben die Information längst auf anderem Weg erhalten und das Interesse an dem Thema verloren. Der Berührungspunkt zur Schaffung von Markentreue wurde somit um wenige Wochen verpasst.

6.1

Themen zum richtigen Zeitpunkt entdecken

Wann genau interessiert sich die Leserschaft für welches Thema? Redaktionen, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen, sind im Change-Prozess

20

Interne Erhebungen der RP Digital GmbH, die dem Autor als Mitarbeiter vorliegen.

SEO im Newsroom

weit fortgeschritten. Und die Antwort auf diese Frage ist denkbar simpel: Es gibt verschiedene Tools, die die Redaktion oft auch selbst bedienen kann. Die einfachste Art, Zeitpunkte für die Veröffentlichung von Themen zu entdecken, ist ein Blick in die Datenanalyse. Wurde bereits vor zwei Jahren über ein wiederkehrendes Thema berichtet, zeigt ein Blick auf die Zahlen des Vorjahres, wann der Beitrag vermehrt angeklickt wurde. Gleiches gilt für eine Auswertung der Suchfunktion auf der Website oder die Abrufzahlen der themennahen Schlagwortseiten, die immer mehr Nachrichtenportale nutzen. Zudem gibt Google Trends gute Einblicke. Dort werden neben der Echtzeitansicht auch historische Daten aufbereitet. Möchte das Sportressort also einen Spielplan für die anstehende Fußballweltmeisterschaft veröffentlichen, gibt Google Trends einen guten Richtwert für den Veröffentlichungszeitraum. An dieser Stelle kommt es jedoch oft zu Missverständnissen. Besonders Beiträge zu Schlagworten, die im Markt hart umkämpft sind, werden immer öfter lange im Voraus geplant und veröffentlicht. Laut Google Trends ist das Interesse am Spielplan zu einer Fußballweltmeisterschaft im Juni am höchsten. Ab Mai steigt die Fieberkurve stark an. Wer sich deshalb aber erst im April oder gar im Mai damit beschäftigt, wird gegen die Konkurrenz keine Chance mehr haben. Der richtige Veröffentlichungszeitpunkt liegt in diesem Beispiel ein gutes halbes Jahr vorher. Eine solche Seite sollte im November veröffentlicht werden, da im Dezember erste Suchen danach stattfinden und Suchergebnisse mit der Zeit »reifen«.21 Ähnlich verhält es sich mit anderen Suchworten, wie dem Oktoberfest, dem Wahl-O-Mat, der jedes Jahr dabei hilft, eine zur eigenen Gesinnung passende Partei zu finden, oder der Suche nach Hinweisen zum Vertikutieren eines Rasens, was für das Ratgeberressort vieler Nachrichtenportale ein reichweitenstarkes Thema darstellt. Am letzten Beispiel lassen sich sogar noch Rückschlüsse auf das Wetter der jeweiligen Jahre ziehen: Wird erst im April vermehrt nach Tipps zum Vertikutieren gesucht, war der März wahrscheinlich noch zu nass und kalt, um den Garten für den Sommer vorzubereiten. Solche Nebeninformationen können dann wiederum für die entstehenden Texte wertvoll sein, um sich inhaltlich von der Konkurrenz abzuheben.

21

Google Trends, Suchbegriff: »Fußball WM Spielplan«, siehe: https://trends.google.de/trends/explore?date=all&geo=DE&q=fu %C3 %9Fball %20wm %20spielplan, abgerufen am 10.11.2019.

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7.

Technisches SEO

Die technische Suchmaschinenoptimierung ist ein zu großes und spezielles Feld, um sie an dieser Stelle ausführlich zu behandeln. Deshalb soll hier lediglich Verständnis geschaffen und für Vertrauen in die Einschätzung des SEO-Teams und die Arbeit der Entwicklungseinheit geworben werden. Mit dem immer schneller werdenden Internet wird auch die Geduld der NutzerInnen stetig geringer. Vor wenigen Jahren konnte das Herunterladen eines hochauflösenden Fotos oder einer Musikdatei noch mehrere Minuten dauern. Heute werden NutzerInnen schon nach Sekundenbruchteilen ungeduldig. Google hat deshalb die Ladezeit einer Website zu einem der zahlreichen Rankingfaktoren erhoben.22 Eine langsame Website kann nach der Auffassung vieler Suchmaschinenbetreiber nicht als bestes Ergebnis empfohlen werden, da das Nutzungserlebnis der Website schlecht ist. Im E-CommerceBereich gibt es inzwischen sogar Berechnungsmethoden, wie viel Umsatz eine um wenige Millisekunden langsamere Website verschlingt.23 Vom Live-Blog-Tool bis zum neuen Werbeanbieter werden viele (Nachrichten-)Webseiten immer stärker mit externen Erweiterungen aufgeladen. Besonders wenn domainweit Scripte und Tools eingebunden werden, leiden oft die Ladezeiten und damit das Nutzererlebnis. Wer LeserInnen auf der eigenen Webseite halten möchte, um sie beispielsweise zu zahlenden AbonnentInnen zu machen, sollte genau an dieser Stelle eine KostenNutzen-Abwägung betreiben. Zwar kann ein neues Tool die Seitennutzung in speziellen Anwendungsbeispielen positiv beeinflussen, geschieht dies jedoch zulasten der Performance einer ganzen Domain, ist es möglich, dass die Neuerung in der Gesamtbetrachtung mehr Schaden als Nutzen anrichtet. An dieser Stelle sollten, wenn vorhanden, die/der technische SEO und die Entwicklungsabteilung nicht nur gehört, sondern der Einschätzung dieser ExpertInnen auch Glauben geschenkt werden. Zudem sind besonders in solchen Fällen auch Tests in einzelnen Ressorts sehr aufschlussreich.

22 23

J. Beus: Rankingfaktor Page Speed – doch was ist eigentlich schnell? J. Diorio: Introducing the mobile Speed Scorecard and Impact Calculator.

SEO im Newsroom

8.

Presse-Ethik und SEO

Die Berichterstattung rund um den Ski-Unfall des ehemaligen Rennfahrers Michael Schumacher gehört zu den meistgelesenen und zugleich meistdiskutierten Beiträgen einiger Onlineportale.24 Natürlich ist das Interesse am Unfall des siebenmaligen Formel-1-Weltmeisters immens. Ob dies jedoch einen Live-Ticker rechtfertigt, der auch nach mehreren Monaten noch immer auf der Startseite eines Nachrichtenportals verlinkt bleibt, wurde branchenweit kontrovers diskutiert. Unbenommen lebte der »Schumi-Ticker« von Reichweite, die nicht zuletzt über Google News erzeugt wurde. Auch kleinste Updates wurden von einigen Portalen so verpackt, dass der Beitrag immer wieder in die Newsbox rutschte und diese durch die Automatismen der Suchmaschine erhalten blieb. Somit entstand bei der Leserschaft der Eindruck, dass es Neuigkeiten gab. Damit stieg wiederum das Suchvolumen und ein Kreislauf, der aus sich selbst heraus lebte, war geschaffen. Wirkliche Neuigkeiten gab es hingegen kaum noch. Schließlich schaltete sich sogar der Deutsche Journalisten-Verband DJV ein und rief die Medien zu Zurückhaltung auf.25 Entscheidet an einer solchen Stelle nun die Nachfrage über die Quantität der Berichterstattung oder die Faktenlage? Verschiedene Häuser verfolgten unterschiedliche Strategien – mit entsprechendem medialem Echo.26 Im Sinne der Marktwirtschaft bestimmt das Angebot die Nachfrage. Doch ist ein Live-Ticker das richtige Format für ein Geschehnis ohne erwartbare Neuigkeiten? Und wenn Reichweite über inhaltliche Standards gestellt wird, ist dann eigentlich das SEO-Team in der Verantwortung oder das (Redaktions-)Management? Ähnliches gilt abseits der News auch im Bereich der organischen Suche. Viele Nachrichtenportale haben eine hohe Reputation bei Suchmaschinen. Das brachte Dienstleister auf den Plan, die Gutschein- und Vergleichsportale als White-Label-Lösung anbieten. Verantwortliche von Nachrichtenportalen müssen nichts weiter unternehmen, als einen gesonderten Bereich auf der Website einzurichten. Der Dienstleister füllt diesen dann mit Inhalten und beide Parteien partizipieren an den Einnahmen. Erreicht werden diese, da die hohe Reputation der Domain potenziell gute Platzierungen innerhalb der

24 25 26

J. Schröder: Die populärsten Stories im Februar: Focus-Schumi-Ticker wieder vorn. H. Zörner: Schumacher: Zurückhaltung angemahnt. M. Schönauer: Bild, Bild am Sonntag: Die Jagd auf Schumachers Privatsphäre.

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Suchergebnisse ermöglicht. Mit einer entsprechenden Monetarisierungsstrategie versehen, winken lukrative Gewinne. Im Fall der Vergleiche werden bis heute auf diversen News-Portalen vom Wäschetrockner bis zum Sous-Vide-Garer allerhand Produkte getestet und tatsächlich oder vermeintlich miteinander verglichen. Die Testsieger werden dann mit Affiliate-Links, also Verlinkungen, die im Fall eines Kaufs zu einer Werbekostenerstattung führen, versehen. Auffällig ist, dass sich viele dieser Tests ähneln – und teilweise Produkte empfohlen werden, die auf großen Marktplätzen bisweilen nur mittlere oder schlechte Nutzerbewertungen erhalten. Ob das nun Rückschlüsse darüber zulässt, ob oder wie intensiv ein Test tatsächlich stattgefunden hat oder lediglich ein entsprechender Anschein erweckt wird, um die lukrativen AffiliateLinks platzieren zu können, kann von außen nicht begutachtet und damit auch nicht belastbar angezweifelt werden. Auffällig ist in jedem Fall die Masse an seo-gerechtem Text um den Test herum, der das Ranking begünstigen soll. So werden sowohl bei Computer Bild als auch beim Stern die Funktionsweise eines Wäschetrockners und auch das Gerät selbst unter Verwendung entsprechender Stichworte erklärt. Dass einem Kaufinteressenten Sätze wie der folgende wirklich helfen, darf derweil bezweifelt werden: »Ein Trockner bzw. ein Wäschetrockner ist ein Groß-Elektrogerät für den Haushaltsgebrauch, das zum Trocknen der Wäsche ausgelegt ist.«27 Und auch bei Computer Bild scheint die Stichwortwiederholung der Sinnhaftigkeit vorgezogen zu werden. Anders lässt sich der folgende Textauszug nicht erklären: »Wenn Sie den Kauf eines Wäschetrockners gut gemacht haben, dann werden Sie Ihren Wäschetrockner sicherlich nicht mehr missen wollen. […] Die Tatsache, dass ein Wäschetrockner nur einen Stromanschluss braucht, ermöglicht es Ihnen dieses Gerät neben Ihrer Waschmaschine aufzustellen.«28 Beide Fälle zeigen, dass die Qualitätserkennung von Inhalten zum aktuellen Zeitpunkt noch durch andere Rankingfaktoren wie Vertrauen in eine Domain ad absurdum geführt werden kann. Dies können Websitebetreiber also nutzen, wenn sie als Autorität zu einem Thema anerkannt sind. Sowohl

27 28

Ohne AutorIn: Die besten 13 Wäschetrockner um Ihre Wäsche besonders schonend zu trocknen im Vergleich – 2019 Test und Ratgeber. Ohne AutorIn: Wäschetrockner-Vergleich 2019.

SEO im Newsroom

beim »Schumi-Ticker« als auch bei Monetarisierungsstrategien wie Produktvergleichen ist die Suchmaschinenoptimierung also ein mögliches Vehikel. Das SEO-Team oder externe Dienstleister können diese Potenziale aufzeigen. Sie auszuschöpfen, insbesondere in zweifelhafter Weise, ist und bleibt jedoch eine Entscheidung des Managements.

9.

Ausblick

Die Suche wird sich in den kommenden Jahren an den Alltag der Nutzerschaft anpassen und damit stark verändern. Die Möglichkeit der bidirektionalen Kommunikation mit virtuellen Assistenten wird das Such- und Konsumverhalten radikal beeinflussen. Allen Leistungsschutzdebatten zum Trotz werden dadurch auch Verlage ihre Art der Inhalte-Bereitstellung weiterentwickeln müssen. Teilweise werden Google und Co. von den Medienhäusern beeinflusst, zu Teilen wird es umgekehrt sein. Die verstärkte Nutzung von Sprachassistenten wird Suchmaschinen stärker auf den Bereich Voice setzen lassen. Das wird die Bereitstellung von Podcasts wiederum noch stärker beflügeln und in einem weiteren Schritt auch die Art der Nachrichtenaufbereitung verändern. Es ist wahrscheinlich, dass Nachrichtenportale in Zukunft vermehrt auch Audiodateien einzelner News anbieten werden. Darauf werden Suchmaschinen reagieren. Zudem werden in Zukunft weitere Technologien zum Einsatz kommen, die Smartphones und Sprachassistenten als aktuell zentrale Kommunikationsschnittstelle unterstützen oder in einem weiteren Schritt vielleicht sogar ablösen. Dies wird die Suche insoweit verändern, als dass in Zukunft Platz 1 im Ranking einer Suchmaschine noch stärker an Bedeutung gewinnt, was wiederum Publisher zu einem Umdenken zwingen wird. Ein Schulterschluss von Redaktion und SEO-Team ist spätestens dann unerlässlich, wenn sich die Suchmaschine endgültig zur Antwortmaschine gewandelt hat.

Literatur ARD/ZDF-Forschungskommission: Onlinestudie 2019. Siehe: www.ard-zdfonlinestudie.de/ardzdf-onlinestudie-2019/infografik/ vom 15.10.2019. BDZV: »Verkaufte Auflage von Abonnement-, Straßenverkaufszeitungen in Deutschland in ausgewählten Jahren von 1950 bis 2019 (in

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Johannes Bornewasser

Millionen Exemplaren)«, in: Statista, siehe: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36567/umfrage/verhaeltnis-von-abonnementverkaufund-strassenverkauf-bei-zeitungen/ vom 17.09.2019. Beisch, Natalie/Koch, Wolfgang/Schäfer, Carmen: »ARD/ZDF-Onlinestudie 2019. Mediale Internetnutzung und Video-on-Demand gewinnen weiter an Bedeutung«, in: Media Perspektiven 9 (2019), S. 374-388. Beus, Johannes: »Klickwahrscheinlichkeiten in den Google SERPs«, in: Sistrix, siehe: https://www.sistrix.de/news/klickwahrscheinlichkeiten-inden-google-serps/ vom 25.10.2015. Beus, Johannes: »Rankingfaktor Page Speed – doch was ist eigentlich schnell?«, in Sistrix, siehe: https://www.sistrix.de/news/rankingfaktorpage-speed/ vom 25.07.2018. Diorio, Jon: »Introducing the mobile Speed Scorecard and Impact Calculator«, in: Google Blog, siehe: https://www.blog.google/products/ads/speedscorecard-impact-calculator/vom 26.02.2018. Fidler, Harald: »›Komische Idee‹: Warum ›Zeit‹-Geschäftsführer Esser von Google kein Geld verlangen will«, in: Der Standard, siehe: https://www.derstandard.at/story/2000109455036/warum-zeit-gesch aeftsfuehrer-esser-von-google-kein-geld-verlangen-will vom 04.10.2019. Frees, B./Koch, W.: »ARD/ZDF-Onlinestudie 2018. Zuwachs bei medialer Internetnutzung und Kommunikation«, in: Media Perspektiven 9 (2018), S. 398-413. Gingras, Richard: »Elevating original reporting in Search«, in: Google Blog, siehe: https://www.blog.google/products/search/original-reporting/vom 12.09.2019. Grushetskyy, Oleksandr/Baker, Steven D.: »Document-based synonym generation«, siehe: https://patents.google.com/patent/US8392413B1/en vom 05.03.2013. IfD Allensbach: »Meistgenutzte Informationsquellen der Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2019«, in: Statista, siehe: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/171257/umfrage/normalerweise-genutzte-quelle-fuerinformationen/ vom 11.07.2019. Nayak, Pandu: »Understanding searches better than ever before«, in: Google Blog, siehe: https://www.blog.google/products/search/search-languageunderstanding-bert/ vom 25.10.2019.

SEO im Newsroom

Ohne AutorIn: »Die besten 13 Wäschetrockner um Ihre Wäsche besonders schonend zu trocknen im Vergleich – 2019 Test und Ratgeber«, in: Stern, siehe: https://www.stern.de/vergleich/waeschetrockner/ Ohne AutorIn: General Guidelines. Siehe: https://static.googleusercontent.com/media/guidelines.raterhub.com/en//searchqualityevaluatorguidelinespdf vom 05.12.2019. Ohne AutorIn: »Unsere Unternehmensgeschichte: Von der Garage zum Googleplex«, in: About Google, siehe: https://about.google/intl/ALL_de/ourstory/ Ohne AutorIn: »Wäschetrockner-Vergleich 2019«, in: Computer Bild, siehe: https://vergleich.computerbild.de/waeschetrockner-test/ Schönauer, Mats: »Bild, Bild am Sonntag: Die Jagd auf Schumachers Privatsphäre«, in: BILDblog, siehe: https://bildblog.de/56315/die-jagd-aufschumachers-privatsphaere/ vom 13.04.2014. Schröder, Jens: »Die populärsten Stories im Februar: Focus-Schumi-Ticker wieder vorn«, in: Meedia, siehe: https://meedia.de/2014/03/21/diepopulaersten-stories-im-februar-focus-schumi-ticker-wieder-vorn/ vom 21.03.2014. Sullivan, Danny: »A reintroduction to Google’s featured snippets«, in: Google Blog, siehe: https://www.blog.google/products/search/reintroduction-googles-featured-snippets/ vom 30.01.2018. Van Eimeren, Birgit/Frees, Beate: »Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2012. 76 Prozent der Deutschen online – neue Nutzungssituationen durch mobile Endgeräte«, in: Media Perspektiven 7-8 (2012), S. 362-379. Van Eimeren, Birgit/Gerhard, Heinz: »ARD/ZDF-Online-Studie 2000. Gebrauchswert entscheidet über Internetnutzung«, in: Media Perspektiven 8 (2000), S. 338-349. Zörner, Hendrik: »Schumacher: Zurückhaltung angemahnt«, in: Deutscher Journalisten-Verband, siehe: https://www.djv.de/startseite/profil/derdjv/pressebereich-download/pressemitteilungen/detail/article/zurueckhaltung-angemahnt.html vom 07.01.2014.

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NACHRICHTEN UND SPRACHE

Framing im Nachrichtenjournalismus Hans-Bernd Brosius und Viorela Dan

1.

Einleitung

Die Behandlung von aktuellen, kontroversen und komplexen Streitfragen wie beispielsweise der Klimapolitik bildet den Kern von Nachrichtenjournalismus. Eine allumfassende und vielleicht »objektive« journalistische Berichterstattung zu solchen Streitfragen scheitert in der Regel an fehlenden Ressourcen, Sendezeit/Platz und manchmal auch an fehlendem Wissen. Dabei sind die politischen Ziele häufig unstrittig, etwa die Notwendigkeit, die Erderwärmung zu reduzieren. Über die Frage, welche Wege effektiv zur Erreichung unstrittiger Ziele beitragen, wird allerdings oft kontrovers diskutiert. Kontroverse Diskussionen werden von einer Vielzahl politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher AkteurInnen geführt, die ihre jeweilige Sichtweise durchsetzen wollen, ob aus Eigennutz oder Gemeinwohlorientierung. JournalistInnen können diese Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten AkteurInnen nachzeichnen, Oberschiedsrichter können und sollten sie aber nicht sein. Meist haben sie aber selbst eigene Standpunkte, die ihre Wahrnehmung einer Kontroverse beeinflussen. Gleiches gilt für NutzerInnen von Nachrichten. Auch sie haben oft nicht die Bereitschaft bzw. die Fähigkeit, sich mit allen Facetten von kontroversen Themen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus bevorzugen sie Nachrichten, die ihrer eigenen Meinung entsprechen. JournalistInnen verwenden Frames (im Deutschen: Rahmen), die man allgemeiner als geteilte Deutungsmuster begreifen kann — um die Informationsfülle zu bewältigen und gleichzeitig RezipientInnen Orientierung zu bieten. Dabei wählen sie einige Aspekte zu einem strittigen Thema aus und heben diese hervor, andere wiederum vernachlässigen sie (notwendigerweise). Wenn dies von einer größeren Anzahl von JournalistInnen in ähnlicher Weise vorgenommen wird, entwickeln sich bei allen Beteiligten gemeinsame Vor-

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stellungen über das jeweilige Thema, eben geteilte Frames. Dies betrifft Ursachen, AkteurInnen, Lösungen und Konsequenzen von Themendarstellungen. Frames legen eine Interpretation dessen nahe, was das Problem ist, was/wer es verursacht hat, wie es bewertet werden sollte, und von wem und wie es zu behandeln ist. Laut Reese können Frames als Organisationsprinzipien verstanden werden, »die die soziale Welt strukturieren.«1 Die klassische Definition von Framing bei Robert Entman lautet etwa: »To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and/or treatment recommendation for the item described.«2 Frames erfüllen also vier Funktionen. Erstens definieren sie den Blickwinkel, aus dem das Thema behandelt wird, die zentralen AkteurInnen sowie die Informationen, Argumente und Ansichten, die betont werden. Zweitens bestimmen Frames die Ursachen für das Problem und schreiben Verantwortung zu. Drittens legen sie nahe, welche Maßnahmen verfolgt und welche unterlassen werden sollen sowie welche AkteurInnen in der Lage sind, das Problem zu lösen. Viertens zeigen Frames auf, wie ein Problem zu bewerten ist. Somit bezeichnet Framing den Prozess der Auswahl und Betonung von Informationen und Positionen. Frames sind das Ergebnis des Framing-Prozesses. Jörg Matthes liefert eine ausführlichere Definition, die auf jene von Entman aufbaut: »Frames werden als ›Sinnhorizonte‹ von AkteurInnen verstanden, die gewisse Informationen und Positionen hervorheben und andere ausblenden. Frames finden sich bei strategischen Kommunikatoren, in den Medieninhalten sowie bei den Rezipienten. Damit lassen sich Frames sowohl im kognitiven Apparat des Menschen ausmachen als auch in kommunizierten Inhalten. Der Framing-Ansatz beschäftigt sich dementsprechend mit der Genese, Veränderung und den Effekten von Frames auf der Ebene der Kommunikatoren, des Medieninhaltes und der Rezipienten.«3 Aktuelle Beispiele und Entwicklungen können helfen, eine bessere Vorstellung davon zu bekommen, was Frames und Framing ausmacht: JournalistInnen und andere AkteurInnen können der Bewegung »Fridays for Future«, also dem allwöchentlichen Fernbleiben von der Schule, entweder den Frame

1 2 3

S.D. Reese: Prologue – Framing Public Life, S. 11. R.M. Entman: Framing, S. 52, Herv. im Original. J. Matthes: Framing, S. 10.

Framing im Nachrichtenjournalismus

»Faule Schüler« oder aber »Engagierte Jugendliche« geben. Setzt sich der erste Frame durch (»Faule Schüler«), finden jene Ereignisse Eingang in die Berichterstattung, die eine solche Interpretation untermauern und die Legitimität der Bewegung infrage stellen. Infolge dessen kann zum Beispiel ein Schuldirektor, der Maßnahmen gegen das Schulschwänzen ergreift, gelobt werden. Behauptet sich hingegen der zweite Frame (»Engagierte Jugendliche«), wird über das Umweltengagement von Jugendlichen berichtet, etwa die regelmäßige Teilnahme an freiwilligen Müllsammelaktionen. Man kann auch Umfragedaten anführen, aus denen die Sorgen der Jugendlichen um die eigene Zukunft hervorgehen. Dadurch wird die Bühne für Kritik an dem Schuldirektor bereitet und das Zurücknehmen der Maßnahme gegen das Schulschwänzen gefordert. Maßnahmen, die darauf abzielen, die Veränderung des Klimas zu reduzieren, werden als mehr oder weniger dringlich bzw. angemessen bewertet, je nachdem, ob die Veränderung als eine natürliche Entwicklung oder aber als eine von Menschen verursachte Katastrophe gerahmt wird. Die Legitimität und Handlungsoptionen der beteiligten AkteurInnen wird positiv oder negativ beeinflusst, je nachdem, ob die BesetzerInnen des Hambacher Forsts als KlimaaktivistInnen oder HaufriedensbrecherInnen bezeichnet werden. Auch Personen werden also durch Frames gekennzeichnet. Eigenschaften von Politikern wie Donald Trump (»impulsiv«, »aggressiv«) oder Recep Tayyip Erdoğan (»autokratisch«, »unberechenbar«) werden durch »CharacterFraming«4 in der Wahrnehmung von JournalistInnen und RezipientInnen dauerhaft festgelegt. Die durch die Frames nahegelegten Persönlichkeitsmerkmale führen dann zu einer positiven oder negativen Gesamtbewertung der PolitikerInnen in den Augen von JournalistInnen und RezipientInnen. Framing hat also auch viel mit Begrifflichkeiten zu tun, die den Interpretationsrahmen vorgeben. Dies wird besonders deutlich, wenn man politische Probleme und Kontroversen an bestimmte Begriffe bindet. Begriffe wie »Flüchtlingskrise« oder »Abgasskandal« prägen die Diskussion zu diesem Thema. Es geht dabei nicht darum, ob es sich hier wirklich um eine Krise oder einen Skandal handelt, sondern zunächst nur um die Festlegung eines Interpretationsspielraums.

4

M.E. Grabe/E.P. Bucy: Image Bite Politics.

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2.

Framing als Forschungsfeld

Der Grundstein für das, was wir heute als Framing-Theorie bezeichnen, wurde in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren etwa zeitgleich in verschiedenen Disziplinen wie der Sozialanthropologie, der kognitiven Psychologie und der Soziologie gelegt.5 Am einflussreichsten waren wohl die Arbeiten von Erving Goffman.6 Goffman geht davon aus, dass Menschen das Erlebte einordnen müssen, um es zu begreifen. Dabei erweisen sich Frames als hilfreich: Indem sie Alltagserfahrungen definieren und strukturieren, unterstützen sie Menschen darin, eine Situation zu verstehen und adäquat zu handeln. Arbeiten von Tuchman7 , Gitlin8 und Gamson9 machten Framing – ein gutes Jahrzehnt später – für die Kommunikationswissenschaften fruchtbar. Dass Framing in den Kanon kommunikationswissenschaftlicher Theorien aufgenommen wurde, ist Entmans Artikel von 199310 zu verdanken wie auch den sogenannten Framing-Bibeln.11 Die Framing-Theorie in verschiedenen Disziplinen hat die Erforschung des gesamten Kommunikationsprozesses in den Mittelpunkt gerückt – von der strategischen Kommunikation über die Berichterstattung bis hin zu Medieneffekten.12 Framing ist also ein Prozess, mit dem JournalistInnen, aber auch andere AkteurInnen Input erstellen und verbreiten, mit dem aber auch RezipientInnen Nachrichten rezipieren und interpretieren. Die Berichterstattung beinhaltet also auch Frames. Die psychologischen Grundlagen des Framings werden in der Medienwirkungsforschung untersucht, die soziologische Tradition befasst sich meist mit dem Inhalt der Kommunikation und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.13 Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Rolle von Framing im Nachrichtenjournalismus. Dementsprechend nehmen wir eine Perspektive

5 6 7 8 9 10 11

12 13

Vgl. V. Dan/Ø. Ihlen/K. Raknes: Political Public Relations and Strategic Framing. Vgl. insbesondere E. Goffman: Frame Analysis. G. Tuchman: Making News. T. Gitlin: The Whole World is Watching. W.A. Gamson: News as Framing. R.M. Entman: Framing. S.D. Reese/O.H. Gandy/A.E. Grant (Hg.): Framing public life; P.D’Angelo/J.A. Kuypers (Hg.): Doing News Framing Analysis; P. D’Angelo (Hg.): Doing News Framing Analysis II. Vgl. D.A. Scheufele: Framing as a theory of media effects. Vgl. V. Dan/Ø. Ihlen/K. Raknes: Political Public Relations and Strategic Framing.

Framing im Nachrichtenjournalismus

ein, die der mediensoziologischen Tradition der Framing-Forschung angehört. Framing-Effekte beim Publikum, die besagen, dass Menschen die von Framing nahegelegten Deutungsmuster übernehmen und zum Sortieren der eigenen Gedanken und Gefühle verwenden, also die psychologisch orientierte Frage der Wirkung von Framing, bleibt aus Platzgründen außen vor.14 Wie in den Kommunikationswissenschaften üblich setzen wir den Akzent auf die sogenannten Betonungs-Frames.15 Gemeint ist damit die Akzentverschiebung, die durch die Auswahl und Hervorhebung unterschiedlicher Aspekte eines Streitthemas erfolgt (zum Beispiel wirtschaftliche Kosten vs. humanitäre Hilfe in der Migrationsfrage). Ausgeklammert werden FramingStudien, die die unterschiedliche Darstellung derselben Information untersuchen, auch bekannt als Äquivalenz-Frames (zum Beispiel 70 von 100 haben überlebt vs. 30 von 100 sind gestorben).16 Wissenschaftliche Analysen von Nachrichtenbeiträgen sind typischerweise der Erfassung einer der folgenden zwei Arten von Betonungs-Frames gewidmet: generische oder themenunabhängige Frames oder spezifische themenabhängige Frames.17 Generische Frames lassen sich in Inhaltsanalysen der Berichterstattung von ganz unterschiedlichen Themen wie Arbeitslosigkeit, europäische Integration oder Finanzkrise verwenden. Jedes Thema lässt sich anhand generischer Frames beschreiben. Eine Liste solcher generischen Frames liefern Semetko & Valkenburg18 . Sie unterscheiden zwischen (1) Verantwortung, (2) Konflikt, (3) Moral, (4) Wirtschaftlichkeit und (5) Human Interest. Je nachdem, welcher dieser Frames die Berichterstattung dominiert, wird ein Thema ganz unterschiedlich wahrgenommen. Ein Beispiel für eine Studie zum Verantwortungsframe liefert Shanto Iyengar. Er präsentierte seinen Versuchspersonen einen Beitrag zum Thema Obdachlosigkeit in zwei Varianten. In der ersten (episodischer Frame) wurden die Informationen zum Thema von Obdachlosen, in der zweiten (thematischer Frame) von einem Regierungssprecher vorgetragen.19 Die RezipientInnen schrieben in der ersten Version den Obdachlosen selbst die Verantwortung für ihr Schicksal zu, in der zweiten Version sahen sie die Verantwortung bei der Regierung. 14 15 16 17 18 19

Vgl. V. Price/D. Tewksbury/E. Powers: Switching Trains of Thought. P. D’Angelo et al.: Beyond Framing. D.A. Scheufele/S. Iyengar: The State of Framing Research. Vgl. ausführlicher J. Matthes: Framing. H. Semetko/P. Valkenburg: Framing European Politics. Siehe auch U. Dahinden: Framing. S. Iyengar: Is anyone responsible?

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Die Behandlung eines Themas über einen episodischen Frame stellt also das Verhalten Einzelner in den Vordergrund, die entsprechend selbst verantwortlich sind. Beiträge, die einen thematischen Frame verwenden, lenken die Wahrnehmung auf die Verantwortlichkeit des Systems. Beim Thema der Finanzkrise kann man entweder geldgierige oder korrupte BankerInnen in den Mittelpunkt stellen oder eher Gesetzeslücken bei Cum-Ex-Geschäften. Die Themenunabhängigkeit macht generische Frames für Forschende interessant, weil dadurch Vergleichsmöglichkeiten geschaffen werden. Oft wird ihre Verwendung aber aufgrund des hohen Abstraktionsniveaus auch kritisiert. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich diese Kritik zu eigen machen, bevorzugen stattdessen themenspezifische Frames. Diese nehmen inhaltliche Aspekte eines Themas in den Blick. So sind die in der Einleitung genannten Frames zur Bewegung »Fridays for Future« themenspezifisch: Sie lassen sich kaum auf andere Themen wie Sterbehilfe oder Lebensmittelskandale anwenden. Ein weiterer themenspezifischer Frame, der häufig untersucht wird, ist der Horse-Race-Frame.20 Er bezieht sich lediglich auf die Berichterstattung über Wahlkämpfe. Hier geht es darum zu erfassen, inwieweit JournalistInnen über Wahlkämpfe in einer Art berichten, als wären sie Pferderennen: Wer liegt vorne? Wer liegt hinten? Wer holt auf, wer fällt zurück? Die Annahme ist, dass eine solche Berichterstattung von den substanziellen inhaltlichen Fragen ablenkt, die im Wahlkampf eine Rolle spielen sollten – etwa den Parteiprogrammen. Die Frage, welche Art von Frames in der Forschung bevorzugt werden sollen, und die damit einhergehende Frage, welche Eigenschaften von Nachrichten den Frame-Status verdient haben und welche nicht, wird in der Kommunikationswissenschaft kontrovers diskutiert. Da keine endgültige und allgemein akzeptierte Antwort darauf gefunden werden konnte,21 sprechen manche AutorInnen von einem Framing-Ansatz anstatt von einer Framing-Theorie. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Frage würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Interessierte LeserInnen werden auf die Ausführungen von Matthes hingewiesen, der auf Aspekte wie Vorhersagekraft, Widerspruchsfreiheit sowie Adäquatheit eingeht.22

20 21 22

J.N. Cappella/K.H. Jamieson: Spiral of Cynicism. Vgl. etwa die unterschiedlichen Auffassungen von P. D’Angelo: News Framing as a Multiparadigmatic Research Program vs. R. Entman: Framing. Vgl. J. Matthes: Framing.

Framing im Nachrichtenjournalismus

3.

Framing im Nachrichtenjournalismus

Dieser Abschnitt widmet sich zwei akteursorientierten Ursprüngen von Frames im Nachrichtenjournalismus: der strategischen Kommunikation und den JournalistInnen selbst.

3.1

Strategische Kommunikation als Quelle

Wie bereits erwähnt, sind viele der Themen, die Gegenstand einer öffentlichen Debatte sind, umstritten. Dies impliziert, dass AkteurInnen aus Politik, Wirtschaft oder dem NGO-Sektor unterschiedliche Ansichten vertreten und versuchen, ihre Frames in der Berichterstattung durchzusetzen. Diese Frames werden in der öffentlichen Kommunikation dieser AkteurInnen vermittelt – etwa in Twitter-Meldungen, Interviews, auf Pressekonferenzen oder in Pressemitteilungen. Strategische Frames sind somit oft die Grundlage für Framing im Nachrichtenjournalismus – sofern sie von JournalistInnen aufgegriffen werden. Die Wahrscheinlichkeit hierfür steigt, wenn die Frames der strategischen Kommunikation so beschaffen sind, dass sie den Selektionskriterien der JournalistInnen entsprechen. Hierzu zählen in erster Linie Nachrichtenfaktoren wie Negativismus, Sensationalismus, Personalisierung oder Emotionalisierung. Daraus ergeben sich sowohl Framing-Wettbewerbe (in denen AkteurInnen gegen andere im Kampf um die Deutungshoheit antreten) und FramingKoalitionen (in denen AkteurInnen mit anderen zusammenarbeiten). Der Nachrichtenjournalismus ist oft die Arena, in der diese Auseinandersetzung bzw. die Gemeinsamkeit strategischer AkteurInnen offensichtlich wird.

3.1.1

Frame-Building-Forschung

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich für Frame-Building interessieren, streben an, die Faktoren aufzudecken, die einen Einfluss auf die journalistische Auswahl von Frames ausüben.23 Ihre Untersuchungen werden von der übergeordneten Frage geleitet, inwieweit Nachrichtenframes die Ansichten der VerfasserInnen wiedergeben oder aber der strategischen Kommunikation externer AkteurInnen entstammen.24 Bisherige Studien konnten einen Zusammenhang zwischen der Verwendung von strategischen AkteurIn23 24

Vgl. V. Dan: Integrative Framing Analysis. G. Lengauer/I. Höller, Generic frame building in the 2008 Austrian elections.

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nen als Quellen journalistischer Berichterstattung und ihren PR-Materialien einerseits und der Übernahme strategischer Frames durch JournalistInnen andererseits zeigen.25 Frame-Building beruht also auf der Ko-Konstruktion von Nachrichtenframes (durch strategische AkteurInnen und JournalistInnen).26 Der Einfluss strategischer Kommunikation ist vor allem dann feststellbar, wenn sie die Nachrichtengebung beeinflusst. Methodisch wird dies häufig durch sogenannte Input-Output-Analysen nachgewiesen. Man vergleicht die PR-Materialien strategischer Kommunikatoren mit den Inhalten der Berichterstattung, unter anderem in Bezug auf die verwendeten Frames. Gemeinsamkeiten oder Abweichungen deuten dann auf die Stärke des Einflusses strategischer Kommunikatoren auf die Nachrichtengebung hin. Die Determinationsthese von Barbara Baerns27 bzw. Agenda Building,28 gehen jeweils von einem starken Einfluss strategischer Kommunikatoren aus, die Intereffikationsthese von Bentele und Kollegen29 eher von einem schwachen Einfluss. Barth und Donsbach30 vertreten die Ansicht, dass der Einfluss von vielen weiteren Faktoren abhängt. Sie fanden einen großen Einfluss, wenn es sich etwa um Routineberichterstattung (beispielsweise Jahresberichte von Unternehmen) handelt, einen geringen Einfluss bei außergewöhnlichen Vorkommnissen, beispielsweise einem Störfall in einer Industrieanlage. Frame-Building bezieht sich dabei nicht nur auf den Zusammenhang zwischen den Frames in PR-Materialien und der Berichterstattung, sondern auch auf andere strategische Entscheidungen. Eine der wichtigsten dürfte das Timing sein, also zu welchem Zeitpunkt welche Informationen bzw. Frames lanciert bzw. aufgebaut werden.31 Wenn kurz vor den österreichischen Nationalratswahlen das sogenannte Ibiza-Video den Medien zugespielt wird, obwohl das Geschehen schon länger zurückliegt, muss man unterstellen, dass

25

26 27 28 29 30 31

Siehe auch D.V. Dimitrova/J. Strömbäck: Election news in Sweden and the United States, und M.E. Grabe/E.P. Bucy: Image Bite Politics. Für eine Übersicht vgl. V. Dan/Ø. Ihlen/K. Raknes: Political Public Relations and Strategic Framing. R. Fröhlich/B. Rüdiger, Framing political public relations; K. Callaghan/F. Schnell: Assessing the democratic debate. B. Baerns: Öffentlichkeitsarbeit als Determinante journalistischer Informationsleistungen. G.E. Lang/K. Lang: Watergate; Fröhlich, R.: Political public relations. G. Bentele/T. Liebert/S. Seeling: Von der Determination zur Intereffikation. H. Barth/W. Donsbach: Aktivität und Passivität von Journalisten gegenüber Public Relations. D.A. Scheufele: Framing as a theory of media effects.

Framing im Nachrichtenjournalismus

mit diesem Timing der Verlauf des Wahlkampfes und der Ausgang der Wahl beeinflusst werden sollte.

3.1.2

Framing-Wettbewerbe und Framing-Koalitionen

Als Framing-Wettbewerbe werden Auseinandersetzungen zwischen diskursiven Gegnern bezeichnet.32 Sie treten auf, wenn ein strategischer Frame auf andere Frames trifft, die andere Problemdefinitionen, kausale Interpretationen, moralische Bewertungen bzw. Handlungsempfehlungen enthalten. Die Untersuchung von Framing-Wettbewerben liefert darüber Auskunft, wie Kommunikationsmacht erworben und aufrechterhalten wird. Obwohl Framing-Wettbewerbe die Bearbeitung spannender Forschungsfragen ermöglichen, waren sie bisher nicht häufig Gegenstand der Forschung. Es fehlen daher noch geeignete Ansätze, weshalb die Kommunikationswissenschaft dazu aufgerufen wird, »einen Weg zu finden, um den Spielstand in Framing-Wettbewerben zu registrieren.«33 Trotz dieser Forschungslücke kann aus den existierenden Studien geschlussfolgert werden, dass diejenigen, die sich dabei durchsetzen, in der Regel über ein hohes Maß an Framing-Expertise verfügen.34 FramingExpertise hat einen Einfluss darauf, ob JournalistInnen strategische Frames übernehmen.35 Es bezeichnet das Wissen und die Fähigkeiten, Frames zu artikulieren und zu vermitteln, die 1. mit den vorherrschenden Ideen, Werten und Normen in Einklang stehen; 2. über einen hohen Nachrichtenwert verfügen (zum Beispiel Kontroverse); 3. Medienkonventionen beachten (zum Beispiel Verfügbarkeit von visuellem Material, Potenzial zur Emotionalisierung, Veröffentlichungszyklen); 4. überzeugend, eindeutig und einprägsam sind; 5. als in den Diensten der Allgemeinheit stehend dargestellt werden können; 6. und häufig genug artikuliert werden, so dass die auffälliger sind als die Frames der Konkurrenz.

Mit der Erfüllung dieser Kriterien steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein/e AkteurIn sich im Kampf um die Deutungsmacht durchsetzt. Denn Frames

32 33 34 35

V. Dan/Ø. Ihlen: Framing Expertise. S.D. Reese: Foreword, S. xv. V. Dan/Ø. Ihlen/K. Raknes: Political Public Relations and Strategic Framing. Ebd.

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wirken dadurch wie eine natürliche Antwort auf die Streitfrage. Anders gesagt, die strategischen Abwägungen, die zur Artikulierung des jeweiligen Frames geführt haben, werden verschleiert. Doch Framing-Erfolg lässt sich nicht nur auf die Erfüllung dieser Kriterien zurückführen. Vielmehr stellt die Einhaltung dieser Empfehlungen nur eine Grundvoraussetzung dar. Denn der Status, die Glaubwürdigkeit und die Ressourcen der AkteurInnen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. So werden die Ansichten von AußenseiterInnen trotz hoher Framing-Expertise nicht bzw. nicht gleich von JournalistInnen beachtet wie die Frames von etablierten AkteurInnen.36 Das CascadingActivation-Modell verwendet eine Wasserfall-Metapher, um zu schildern, wie Frames in absteigender Rangfolge zum Publikum gelangen. Ganz oben in der Hierarchie platziert Entman die Regierung, darunter andere Eliten wie Abgeordnete und ihre MitarbeiterInnen. Die Medien befinden sich an dritter Stelle, während das Publikum an letzter Stelle angesiedelt wird. Entman geht davon aus, dass die Akzeptanz und Durchsetzungsfähigkeit der Frames mit der Platzierung im hierarchischen Modell steigen. Je höher die Stufe, auf der ein Frame in die öffentliche Debatte eingebracht wird, desto höher seine Erfolgschancen. Ein solcher Prozess kann durchaus zu einer thematischen Verengung führen und wichtige Aspekte des Themas ausblenden.37 Framing-Koalitionen verschaffen AkteurInnen einen Wettbewerbsvorteil, indem sie durch Kommunikation aus mehreren Quellen Frames mehr Gewicht und Legitimität verleihen.38 Der Aufbau solcher Koalitionen kann geplant erfolgen, indem sich AkteurInnen absprechen. Er kann aber auch unwissentlich geschehen, wenn AkteurInnen die Frames anderer und die entsprechende Begrifflichkeit verwenden, ohne sich bewusst zu machen, dass sie dadurch die Lösung eines kontroversen Themas einengen. Dies ist oft dann der Fall, wenn es strategischen AkteurInnen gelingt, ihre Begrifflichkeiten durchzusetzen.

3.2

JournalistInnen als VerfasserInnen von Frames

JournalistInnen weisen oft von sich, Framing-Zuschreibungen selbst vorzunehmen. So behauptete unlängst etwa die Hart-aber-fair-Redaktion: »Framing? Als Journalisten können wir mit diesem Begriff wenig anfangen.

36 37 38

Ebd. R.M. Entman: Cascading Activation. F.R. Baumgartner u.a.: Lobbying and policy change.

Framing im Nachrichtenjournalismus

Wir versuchen das, was Menschen beschäftigt, so darzustellen, wie es ist.«39 Diese Sichtweise verkennt, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt, »die« Realität (was immer das ist) darzustellen. Das Streben nach »ungeframten« Informationen ist aussichtslos:40 Wer kommuniziert, greift auf die Frames Anderer zurück oder artikuliert mehr oder weniger explizit selbst welche. Dies gilt auch für JournalistInnen. Sie können die Frames strategischer AkteurInnen unverändert weiterleiten, anpassen/kontextualisieren oder ihre eigenen Frames in die Debatte einbringen.41 Die Idee, dass Journalismus nicht einfach die Realität wiedergibt, sondern diese aktiv konstruiert, ist alles andere als neu.42 Allein durch Begrifflichkeiten werden Frames geschaffen. Hier spielen vor allem sogenannte pejorative Begriffe und Neologismen eine Rolle. Wenn eine Gesetzesinitiative (wie vor einigen Jahren) zur Veränderung der Bedingungen zum Abhören von Privatgesprächen als »großer Lauschangriff« bezeichnet wird, dann wird diese Initiative schon allein durch den Begriff delegitimiert. Alle, die diesen Begriff zur Bezeichnung des kontroversen Themas verwenden, beteiligen sich damit am Framing. Genau umgekehrt hat in jüngster Zeit die »Ehe für alle« die Gesetzesinitiative zur Heirat von gleichgeschlechtlichen Paaren befördert. Es geht dabei nicht darum, ob eine bestimmte Lösung für ein kontrovers diskutiertes Thema richtig oder falsch ist, sondern ob sie richtig oder falsch erscheint. Sobald sich aber alle Beteiligten auf eine bestimmte (pejorative) Bezeichnung für eine Kontroverse festgelegt haben und diesen Begriff abundant verwenden, liegt damit immer eine bestimmte Lösung näher als andere. Wer kann schon gegen eine »Ehe für alle« sein, ohne unfair zu erscheinen. Und, analog dazu, sich für einen großen Lauschangriff auszusprechen, erscheint beinahe widersinnig. Für die Wirkung der Berichterstattung ist es dabei zweitrangig, ob die KommunikatorInnen intentional handeln oder nicht, ob sie sich ihres Verhaltens bewusst sind oder nicht. Wenn Frames der politischen Orientierung oder bestehenden Meinung von JournalistInnen entsprechen, werden framekonsistente Informationen mit größerer Wahrscheinlichkeit Eingang in die Berichterstattung finden. Zwei Ansätze versuchen dies auch empirisch zu be-

39 40 41 42

S. Brinkmann: »›Hart aber fair‹: Streit um Thema und Framing«. M.C. Nisbet/D.A. Scheufele: What’s next for science communication? V. Dan/Ø. Ihlen/K. Raknes: Political Public Relations and Strategic Framing. W. Lippmann: Public Opinion.

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legen: die Theorie der Instrumentellen Aktualisierung und der Ansatz der Opportunen Zeugen. Die Theorie der Instrumentellen Aktualisierung beschreibt das selektive Hervorheben von Ereignissen, AkteurInnen und Meinungen durch JournalistInnen, um eine bestimmte Position zu unterstützen bzw. zu schwächen.43 Damit wird auf bereits existierende Frames Bezug genommen, um das Publikum zu einer bestimmten Schlussfolgerung zu führen.44 Beispielsweise legt eine zunächst neutral erscheinende Meldung, wonach in China deutlich mehr Menschen Elektroautos fahren als in Deutschland, nahe, Deutschland unternähme nicht genug gegen den Klimawandel. Die Meldung unterstützt damit den entsprechenden Frame. Die Theorie der Instrumentellen Aktualisierung unterstellt dabei strategischen KommunikatorInnen, sich ihrer Absicht durchaus bewusst zu sein, Meinungen zu beeinflussen, während sie gleichzeitig immer auf den vermeintlich neutralen Charakter einer Meldung verweisen können. Wenn JournalistInnen die Frames strategischer KommunikatorInnen unverändert an das Publikum weiterleiten, kann dies – muss es aber nicht notwendigerweise – problematisch sein. Vor allem, wenn die Frames bestimmter AkteurInnen typischerweise angenommen, während die anderer AkteurInnen üblicherweise abgelehnt werden und dadurch eine einseitige Sicht auf ein kontroverses Thema entsteht.45 Die Gefahr ist besonders dann groß, wenn sich die beteiligten AkteurInnen nicht bewusst sind, dass sie einen von mehreren möglichen Frames verwenden und damit das Framing nicht mehr hinterfragt wird. Strategisches Framing wird durch den hohen Selektionsdruck, dem JournalistInnen permanent ausgesetzt sind, begünstigt. Studien zur Nachrichtenselektion haben viele Befunde hervorgebracht, nach denen ein bestehender Frame die Selektion frame-konsistenter Informationen erleichtert und frame-inkonsistente Informationen in den Hintergrund treten lässt.46 Der Ansatz der Opportunen Zeugen47 geht stärker auf die Rolle der JournalistInnen ein. Er besagt, dass JournalistInnen dazu neigen, die AkteurInnen aufzusuchen und zu zitieren, die ihre Ansichten und damit bei kontroversen 43 44 45 46 47

H.M. Kepplinger: The impact of presentation techniques. S. Iyengar/D.R. Kinder: News that matters. M.E. Len-Ríos u.a.: Health news agenda building; Z. Reich: The process model of news initiative; J. Strömbäck/L.W. Nord: Do Politicians Lead the Tango? H.-B. Brosius: Schema-Theorie. L.M. Hagen: Die opportunen Zeugen.

Framing im Nachrichtenjournalismus

Themen einen Frame vertreten, dem sie nahestehen. Ansichten derjenigen AkteurInnen, die inkompatible Ansichten vertreten, werden hingegen heruntergespielt. In der Literatur wird dieser Ansatz – durch die Übertragungen der Annahmen von Themen auf AkteurInnen – als eine Weiterentwicklung der Theorie der Instrumentellen Aktualisierung verstanden.48 Die Theorie wird auch in empirischen Untersuchungen belegt: In einer Framing-Analyse zur Berichterstattung über die EU-Erweiterung konnte Engelmann49 zeigen, dass die Auswahl von AkteurInnen und Frames meist mit der Position der Redaktion konform ging. Opportune Zeugen können natürlich bewusst ausgewählt werden, häufig erfolgt deren Auswahl aber unbewusst.

4.

Fazit und Ausblick

Die Beobachtung, dass JournalistInnen und ihr Publikum sich nicht umfassend und nur sehr selektiv mit den zahlreichen komplexen Streitfragen unserer Zeit befassen können, bildete die Prämisse für diesen Beitrag. Dies führt meist zu eingeschränkten und pointierten Sichtweisen auf ein Thema. Theoretisch kann man dies mit dem Framing-Ansatz beschreiben. Frames sind Interpretationsmuster, die sich in den Köpfen von JournalistInnen und RezipientInnen gleichermaßen wiederfinden, aber sich auch im Inhalt der Berichterstattung manifestieren. Frames entstehen häufig durch die Strategien professioneller KommunikatorInnen, welche darüber Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen wollen. JournalistInnen können ebenfalls Frames setzen und verstärken, meist bedingt durch ihre eigenen politischen Einstellungen, die bestimmte Sichtweisen auf ein Thema nahelegen. Inhaltsanalysen können die vorherrschenden Frames in der Berichterstattung identifizieren und die daraus resultierenden diskursiven Koalitionen und Framing-Wettbewerbe nachzeichnen. Sie können verdeutlichen, wie Frames den Handlungsspielraum und die Legitimität von AkteurInnen beeinflussen. Wer in solchen kommunikativen Auseinandersetzungen Erfolg hat, hängt von der Framing-Expertise der beteiligten AkteurInnen ab, wird aber auch durch Merkmale der Berichterstattung beeinflusst. Beiträge müssen so geschrieben werden, dass sie die Selektionsschwelle der JournalistInnen überwinden. 48 49

M. Bachl/C. Vögele: Guttenbergs Zeugen? I. Engelmann: Frames und Positionen zur EU-Osterweiterung.

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Framing ist nicht inhärent gut oder böse, sondern letztlich unvermeidbar. Erst durch die Interpretation von Geschehnissen und thematischen Zusammenhängen wird Sinn erzeugt und werden politische Entscheidungen nahegelegt. Entscheidend und für die Gesellschaft unverzichtbar scheint uns, dass sich alle Beteiligten des Framing-Prozesses bewusst sind und dessen Konsequenzen wahrnehmen. Das verbessert den rationalen gesellschaftlichen Diskurs und bringt letztlich die besseren politischen Entscheidungen hervor.

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Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Sprache im Journalismus Marieke Reimann

1.

Der Tod des generischen Maskulinums

»Sitzen zwei Piloten im Flugzeug. Sagt die eine zur anderen: ›Bestimmt haben sich jetzt alle zwei Männer vorgestellt.‹« Dieser Witz ist viel mehr Sozialkritik als Humor. Er zeigt auf subtile Art, wie stark sich durch Sprachgebrauch Denkmuster verfestigen. Wir sind als Lesende, Hörende und Sehende von journalistischen und prosaistischen Beiträgen so sehr an die männliche Darstellung unserer Lebenswelt gewöhnt, dass den meisten von uns erst durch eine weitere Abstraktionsebene überhaupt bewusst wird, welcher Mensch – neben dem Mann – gemeint sein könnte. Unsere Sprache ist eine männliche Sprache. Die bisher gängigste geschlechtsabstrahierende Variante im Deutschen, das generische Maskulinum, schließt zwar den Versuch ein, gemischtgeschlechtliche Gruppen von Mehreren als Einzelpersonen zu vereinen, scheitert aber daran, dass all diese Personen stets unter Verwendung des maskulinen Genus zusammengefasst werden. Folglich werden Frauen und nicht-binäre Personen zwar im günstigsten Falle mitgedacht, für sie ist oftmals aber nicht erkennbar, ob sie auch tatsächlich mitgemeint sind. Das generische Maskulinum ist ein Maskulinum.1 Unser Sprachgebrauch nimmt starken Einfluss auf die Sozialisation eines Menschen: Ein Mädchen etwa, das mit Berufsbezeichnungen im generischen Maskulinum konfrontiert ist (wie zum Beispiel »Mathematiker«, »Informatiker«, »Klempner«) neigt eher dazu, diese Berufe als »schwerer«, weil »rein männlich« zu empfinden. Wird sie hingegen mit geschlechtergerechten Berufsbezeichnungen konfrontiert, traut sie sich diese auch eher zu. Gleichzei1

C. Parbey: »Das generische Maskulinum ist ein Scheitern sprachlicher Inklusion«.

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Marieke Reimann

tig wird hierdurch deutlich, dass den rein männlichen Begriffen eine höhere Schwierigkeit und somit Wertigkeit zugeordnet wird.2 Ein gesellschaftliches Problem, das die vorurteilsbehaftete Einstellung in Bezug auf »männliche Aufgaben« und »weibliche Aufgaben« bis in unsere Sprache hineinwirken lässt. In einer Gesellschaft, in der bislang marginalisierte Gruppen, auch begünstigt durch die Digitalisierung, zunehmend ihren berechtigten Platz einfordern, brauchen wir demnach eine Sprache, die nicht länger überholte Stereotype bedient, sondern die Gleichberechtigung aller Menschen begünstigt – statt sie zu verhindern.

2.

Warum gendert ze.tt? »Zwischen Sternchen, Gaps und Binnen-I«

Diesem Denkansatz folgt auch ze.tt. Als Magazin des Zeit-Verlags berichtet die Onlineplattform seit Juli 2015 für eine Zielgruppe zwischen 16 und Ende 30. Die als Millenial-Plattform gegründete Website setzt sich mit der Lebenswirklichkeit ihrer jungen Zielgruppe auseinander, um sie authentisch anzusprechen. User*innen von ze.tt surfen rund um die Uhr mit ihrem Smartphone, konsumieren Inhalte aus aller Welt und sind global vernetzt: Sie schauen amerikanische Serien auf Netflix, nutzen Youtube-Kanäle als Nachrichtenquelle und scrollen durch Instagram, um Storys von Influencer*innen zu gucken. Hierdurch kommen sie schon früh mit anderen Kulturkreisen in Kontakt und leben in einer viel diverseren Welt als ihre Eltern. Dasselbe gilt für die Redakteur*innen von ze.tt, die aus der gleichen Lebenswirklichkeit kommen und zwischen Anfang 20 und Mitte 30 sind. Innerhalb dieser Lebenswirklichkeit werden offline wie online etwa konventionelle Lebens- und Liebesformen, Familienkonstellationen, die Rolle der Frau, die schleichende Integration von Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen mit Behinderung viel stärker hinterfragt.

2

D. Vervecken/B. Hannover: Yes I can! Effects of gender fair job descriptions on children’s perceptions of job status, job difficulty, and vocational self-efficacy.

Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Sprache im Journalismus

Hier knüpft ze.tt an, indem es im Sinne eines konstruktiven Journalismus3 für sich als Medium beansprucht, möglichst vielseitig auf die unterschiedlichsten Lebensumstände seiner Zielgruppe zu reagieren – inhaltlich wie sprachlich. Wer für eine möglichst diverse Zielgruppe berichten will, muss sich der Frage stellen, wie ihm*ihr das so gelingt, dass er*sie alle Menschen – Frauen, Männer und Menschen, die sich nicht in diese Kategorien einordnen lassen wollen – so erreicht, dass sie sich auch angesprochen fühlen. Hier bedarf es neben der ständigen Anpassung der inhaltlichen Schwerpunkte (etwa durch das Aufkommen der Fridays-for-Future-Bewegung ein verstärkter Fokus auf klimapolitische Themen oder durch die zunehmende Popularität von Podcasts eine Erweiterung der Formatpalette in den vergangenen Jahren) auch einer konstanten sprachlichen Komponente, die es schafft, diese Inhalte in einer Sprache zu kommunizieren, die möglichst alle Menschen der Zielgruppe anspricht. Deshalb habe ich schon wenige Monate nach Launch des Magazins, damals noch als Redakteurin, forciert, geschlechtergerechte Sprache in unsere Berichterstattung einzuführen. Da es hierfür keine Vorbilder unter anderen Millenial-Medien (etwa jetzt.de oder bento) gab, standen wir als Redaktion zunächst vor der Herausforderung, den für uns praktikabelsten Weg des Genderns zu finden. Anfang 2016 holten wir uns dafür Hilfe. In einem Workshop gab die damalige Chefredakteurin des Missy Magazine Kathrin Gottschalk4 Einblick in aktuelle Forschungsschwerpunkte zu dieser Thematik und das Gendern in der Redaktion von Missy. Das Magazin war zu dem Zeitpunkt neben taz und Emma eines der wenigen bekannteren Medien, die Erfahrungen mit geschlechtergerechter Sprache im journalistischen Alltag gesammelt hatten. Danach stand für unsere Redaktion fest: Wir würden ab sofort mit Sternchen und geschlechtsneutralen Formulierungen gendern.5 Seitdem ist aus dieser Arbeit unter anderem ein sich stetig weiterentwickelnder Styleguide entstanden, der unter https://www.ze.tt öffentlich einsehbar ist und zur freien Verfügung heruntergeladen werden kann.

3

4 5

Siehe zum konstruktiven Journalismus beispielsweise U. Haagerup: Constructive News; B. Oswald: Konstruktiver Journalismus: Sagen, was ist – und zeigen, wie es weitergeht; R. Rusch: Erfolgreich mit konstruktivem Journalismus? Kathrin Gottschalk ist inzwischen stellvertretende Chefredakteurin der taz. Siehe dazu Abschnitt 3. Erfahrungen mit dem Sternchen im ze.tt-Redaktionsalltag.

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Abb. 1: Rundmail am 1.4.2016 an alle ze.tt-Mitarbeiter*innen, bei der Berichterstattung ab sofort ans Gendern zu denken.

Auch bei uns gab es vor der Einführung am 1. April 2016 Vorbehalte: Zwei Mitarbeiter*innen von damals 13 sprachen sich gegen das Gendern aus, weil sie Angst hatten, dass unsere Beiträge an Wertigkeit verlören, wenn unsere User*innen in ihrem Lesefluss gestört würden. Hierin liegt zugleich der größte Kritikpunkt, dem sich die geschlechtergerechte Sprache oft stellen muss: Unverständlichkeit durch Nicht-Lesbarkeit. Dazu muss man sagen: Es stimmt, das Gendern von Beiträgen durchbricht die gewohnte Form des Lesens und Schreibens – und auch des Sprechens. Es ist zunächst ungewohnt, wenn man es aus der Rezeption anderer Medieninhalte nicht kennt. Gendern ist ein bewusster Stilbruch, ein Achtungsmerkmal: Hier passiert etwas Neues! Das verunsichert einige Lesende oder erzürnt sie sogar. Sie fühlen sich durch Sternchen, Binnen-I und Co. einer neuen Weltordnung ausgesetzt, mit der sie nicht einverstanden sind.6 Es ist jedoch mittlerweile widerlegt, dass Texte hierdurch unverständlicher würden7 . Allein die Erfahrungen der in der ze.tt-Redaktion arbeitenden Redakteur*innen haben gezeigt, dass – sogar im Gegenteil – ein Gewöhnungseffekt bezüglich detaillierterer Informationen über die genauen Personenzuschreibungen eintritt. Als Person, die oft Beiträge in geschlechtergerechter Sprache verfasst, liest, sieht und hört, entwickelt man offenbar schon nach kurzer Zeit eine Erwartungshaltung gegenüber Beiträgen anderer Medien. Wie sich das im redaktionellen Alltag des Onlinemagazins ze.tt zeigt, wird im Folgenden ausführlicher beschrieben.

6 7

Siehe hierzu Abschnitt 4. Was soll der Sternchenscheiß? Gendern als Interessenkonflikt. E. Heise/M. Friedrich: Does the Use of Gender-Fair Language Influence the Comprehensibility of Texts?

Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Sprache im Journalismus

3.

Erfahrungen mit dem Sternchen im ze.tt-Redaktionsalltag

Auch wenn wir uns als Team darauf verständigt hatten, dass wir eine möglichst inklusive Sprache verwenden wollten, um unseren Ansprüchen an eine gleichberechtigte Berichterstattung gerecht zu werden, standen wir zunächst vor der Frage: Wie sollten wir das kennzeichnen? Es gibt unterschiedlichste Formen des Genderns, die gängigsten sind wohl:8 • • • • •

die Paarform (Liebe Leserinnen und Leser), das Binnen-I (Liebe LeserInnen), die geschlechtsneutrale Formulierung (Liebe Lesende), abwechselnde Rollenverteilung (Die Zuhörerin sagte dem Vorleser, er möge doch lieber mehr über Heldinnen lesen als über Zauberer), das Gender Gap mithilfe: o des Sternchens (Liebe Leser*innen), o des Unterstrichs (Liebe Leser_innen), o des Doppelpunkts (Liebe Leser:innen), o des Punkts (Liebe Leser.innen), o einer Lücke (Liebe Leser innen).

ze.tt hat sich für eine Mischform aus der Sternchen-Variante und geschlechtsneutralen Formulierungen entschieden. Dabei geht es uns nicht darum, aus reiner Prinzipientreue eine gegenderte Form zu verwenden, sondern bei jedem redaktionellen Beitrag kritisch zu hinterfragen, ob etwa die Nennung nicht nur von Geschlecht, sondern vor allem auch Hautfarbe, Herkunft, Nationalität, Aufenthaltsstatus, Sexualität usw. wirklich bedeutend für den Beitrag ist. Wenn dies der Fall ist, versuchen wir zunächst ein Gendern in dem Sinne anzuwenden, dass wir geschlechtsneutrale Formulierungen nutzen; wir schreiben also zum Beispiel bevorzugt »Studierende« statt »Student*innen«. Dies geschieht vor dem Hintergrund, nicht diejenige Leser*innenschaft zu verschrecken, die sich durch zu häufiges Anwenden geschlechtergerechter Sprache gestört fühlt, weil sie es aus der Rezeption anderer Medien eben nicht gewöhnt ist.

8

Siehe: https://geschicktgendern.de/schreibweisen/ sowie B. Dießelkämper: Welche Formen der gendersensiblen Sprache gibt es?

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Das Sternchen kommt dann zum Einsatz, wenn wir keine geschlechtsneutralen Formulierungen einbinden können, aber trotzdem klarmachen wollen, dass an dieser Stelle alle mitgemeint sind. Wir haben uns für das Sternchen entschieden, weil es sich in dem bereits beschriebenen Workshop als bestes visuelles Stilmittel für ze.tt bewährt hat. Neben einem inkludierenden Ansatz verfolgen wir auch einen partzipierenden in unserer Sprache. Das heißt, dass wir nicht vorgeben, bereits die perfekte sprachliche Lösung für eine bestimmte Gruppe von Menschen zu kennen, sondern sie am besten gemeinsam mit Vertreter*innen eben jener Gruppe erörtern. Ziel ist es dabei stets, dieser Community die gleiche gesellschaftliche Wertigkeit zuzugestehen, wie jeder anderen Community auch. Dies geschah zum Beispiel im Vorfeld einer Videodokumentation über das Leben junger Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland. Diese Community wird gemeinhin abwertend »Zigeuner« genannt. Die Protagonistinnen in unserem Video9 bezeichnen sich selbst allerdings als Sinti*zze und Rom*nja – und wünschen sich diese sprachliche Rücksicht auch von Berichterstattenden. Dahingehend habe ich bei ze.tt auch den Begriff »Randgruppen« abgeschafft. Denn: Diese Gruppen sind meiner Meinung nach nicht aus sich heraus eine Randgruppe geworden – sondern sie wurden unter anderem durch die Medienberichterstattung zu einer gemacht. Wenn es für den Inhalt von Beiträgen überhaupt wichtig ist, sprechen wir von »marginalisierten Gruppen«. Gemeint sind hier Gruppen, die zum Beispiel aufgrund ihrer Hautfarbe oder Sexualität Diskriminierungserfahrungen gemacht haben; etwa Menschen mit Migrationshintergrund, People of Color oder Homosexuelle. Diese Menschen haben sich nicht von sich aus »an den Rand gestellt«, sondern werden nur in der gängigen Medienberichterstattung weniger genannt und meist stereotypisiert dargestellt. Das macht sie per se allerdings nicht zu Außenseiter*innen, sondern viel mehr zu »Weniggenannten«. Die intensive Auseinandersetzung mit Sprache reiht sich ein in die Überlegungen eines konstruktiven Journalismus, in dem Menschen, die bis dato eher selten in Text und Bild im deutschen Journalismus erschienen, sichtbar gemacht werden können. An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass ze.tt auch in seinen Inhalten und seiner Bildsprache größten Wert auf die Widerspiegelung der Unterschiedlichkeit unserer Gesellschaft legt: Schwarze Homosexuelle erzählen etwa in dem Magazin über ihr Coming-out vor Fami9

P. Baumgarten: Wie Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland gegen Rassismus kämpfen.

Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Sprache im Journalismus

lie und Freunden.10 Über die neuen Emojis für Menschen mit Behinderung spricht bei ze.tt ein Mensch mit Behinderung.11 2018 starteten wir zudem einen Ost-Schwerpunkt12 , der Geschichten aus Ostdeutschland erzählt, die »abseits von Neo-Nazis und Stasi« stattfinden, und wir widmen uns mit einer eigenen Österreich-Korrespondentin jungen Themen unseres Nachbarlandes13 .

Abb. 2: Screenshot eines ze.tt-Artikels, der das Thema »Geschwister« mit zwei schwarzen Frauen bebildert.

10 11 12 13

Ph. Kienzl; P. Baumgarten: Out Now! E. Reisinger: Was ein Mensch mit Behinderung über diese neuen Emojis denkt. R. Sommer: Wie ze.tt-Chefredakteurin Marieke Reimann den Blick für den Osten schärfen will. Siehe »Kolumne: Was geht mit Österreich?«: https://ze.tt/was-geht-mit-oesterreich/

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Marieke Reimann

Auch in der Teamzusammensetzung setzt ze.tt auf eine größtmögliche Diversität, um durch Vertreter*innen unterschiedlichster Communitys über eben jene gehaltvoller berichten zu können.14 Die Auseinandersetzung mit einer geschlechtergerechten Sprache gehört für ze.tt schlicht mit zum journalistischen Gesamtkonzept. Für die Integration dieser Sprache gibt es zwar mittlerweile verschiedenste Empfehlungen, eine Eins-zu-Eins-Anleitung, wie gendern im redaktionellen Alltag funktioniert, gibt es aber nicht. Gendern ist vor allem zu Beginn mühsam. Bei ze.tt ist in den vergangenen Jahren zum einen aus den verschiedensten Fällen ein sich stetig weiterentwickelnder Styleguide entstanden, der Anwendungsbeispiele zeigt und anderen Redaktionen in Zukunft vielleicht eine Hilfe zur Umsetzung im redaktionellen Alltag sein kann.15 Zum anderen hat die tägliche Auseinandersetzung darüber, welche Geschlechter in einem Beitrag tatsächlich gemeint sind, zu einer Erwartungshaltung bei allen Redakteur*innen geführt. Diejenigen, die schon länger bei ze.tt arbeiten und somit schon oft mit geschlechtergerechter Sprache konfrontiert waren, stellen vermehrt fest, dass sie beim Rezipieren anderer Medien oft die Eindeutigkeit darüber vermissen, wer genau etwa zum Beispiel etwas erfunden hat oder bei einem Protest mitmarschiert ist: Waren in dem »Forscherteam« wirklich nur »Forscher« oder auch »Forscherinnen«? Und haben am vergangenen Wochenende wirklich nur »Feministinnen« oder auch »Feministen« demonstriert?

4.

»Was soll der Sternchenscheiß?« Gendern als Interessenkonflikt

Die Erfahrungen von ze.tt zeigen: Kritik am Gendern in journalistischen Beiträgen kommt am häufigsten von Männern. »Zorn und Ablehnung erreichte uns zu einer übergroßen Mehrheit von eher älteren Usern. Lob und Zuspruch erhielten wir von eher jüngeren Userinnen.«16 Von »Sternchenscheiß« schreibt Hans-Peter, Robert von »Verunstaltung der Sprache«, Axel findet »die *innen Marotte zum Kotzen« und Christoph wirft uns »Gender-Wahn« vor. Maria hingegen mailt: »Vielen Dank fürs bewusste Gendern! :-)« Somit reihen sich die Erfahrungen ze.tt’s in die anderer

14 15 16

P. Frey: Marieke Reimann von ze.tt. Wie kriegt man seinen Newsroom divers? Siehe: https://ze.tt M. Reimann: Warum alle Medien gendern sollten.

Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Sprache im Journalismus

Medienschaffender ein, die entweder in ihrer Berichterstattung gendern oder darüber berichten.17,18 Es ist deutlich ersichtlich, dass sich vor allem Männer und Vertreter*innen eines konservativen Weltbildes durch geschlechtergerechtere Sprache regelrecht gestört fühlen. Sie empfinden, und das geht aus Hunderten E-Mails und Kommentaren, die uns hierzu erreichten, hervor, eine Veränderung »ihrer« Sprache als Eingriff in »ihr Leben«. An der Stelle, wo die Sichtbarkeit anderer aufgewertet werden soll, fühlen sie sich offensichtlich abgewertet. Es bleibt also unbedingt festzuhalten: »Die Frage um das Sternchen ist auch ein Kampf verschiedener Weltanschauungen: Derjenigen, die ›Frauen und andere stets mitmeinen‹, wenn sie vom generischen Maskulinum Gebrauch machen […] Und derjenigen, die, aus einer feministischen Perspektive heraus, den Wandel in der Sprache für notwendig halten, um einen Wandel in der Gesellschaft herbeiführen zu können.«19 Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch unterstreicht innerhalb dieses Konflikts noch einmal die Wirkungsmacht der Verwendung des generischen Maskulinums: »Nicht jedes Mal, wenn das generische Maskulinum verwendet wird, wird automatisch das Patriarchat zementiert. Wenn das aber den ganzen Tag regelmäßig passiert, dann verfestigt es eine bestimmte Denkweise, bei der Frauen im besten Fall mitgedacht sind. Frauen müssen aber nicht mitgedacht, sondern gleichwertig gedacht werden.«20 Stefanowitsch macht also klar, dass eine Nicht-Veränderung der Sprache zugleich eine fortgesetzte Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft zur Folge hätte. Neben der Benachteiligung von Frauen in der deutschen Sprache hält er für diejenigen, die sich weder als Mann noch als Frau verstehen oder als Mann und Frau, fest: »Nicht-binäre Geschlechtsidentitäten werden dagegen nicht einfach mitgedacht, indem ich ein Sternchen oder ein anderes Symbol in ein Wort reinschreibe. Da ist ein gesellschaftlicher Diskussionsprozess nötig, um sie überhaupt erst mal anzuerkennen.«21

17 18 19 20 21

M. Stokowski: Gleichstellung. Die Gender-Allergie. M. Stokowski: Gendergerechte Sprache. Wer ist hier hysterisch? C. Parbey: Das generische Maskulinum ist ein Scheitern sprachlicher Inklusion. Ebd. Ebd.

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Daraus lässt sich schlussfolgern, dass auch er, so wie ze.tt, die Veränderung der Sprache als Teil eines Gesamtkonzeptes sieht, um bislang marginalisierte Gruppen sichtbarer zu machen. Den Teil der sprachlichen Umsetzung – also das Gendern – bezeichnet er im Vergleich zu der sich anschließenden gesellschaftlichen Gesamtdebatte als »einfach und kostengünstig«1 . ze.tt sieht das genauso und empfindet den Aufwand, der mit der tagtäglichen Auseinandersetzung mit einer geschlechtergerechten Sprache einhergeht, im Vergleich zu dem, was hierdurch für die Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen getan werden kann, als gering. Gendern heißt für ze.tt nicht nur Menschen, die sich per se als Männer und Frauen definieren, gleichermaßen in der Sprache zu berücksichtigen, sondern möglichst inklusiv und diskriminierungsarm zu schreiben. Unsere Sprache, das Deutsch, so wie es heute noch größtenteils geschrieben und gesprochen wird, entdemokratisiert allerdings die in der Bundesrepublik eigentlich per Gesetz geltende Gleichbehandlung. In Artikel 3 des Grundgesetzes heißt es in Absatz 3: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Sprache erzeugt Bilder in unserem Kopf und hat großen Einfluss darauf, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Sind diese Bilder meist eher mit einer männlich dominierten Wirklichkeit verknüpft, bleiben wir in überholten Rollenmustern verhaftet. ze.tt ist das erste kommerzielle Onlinemagazin in Deutschland, das sich schon kurz nach seinem Start bewusst für das Gendern entschied. Vergleicht man Konkurrenzmedien, hat sich einzig jetzt.de, das junge Onlinemagazin der Süddeutschen Zeitung, drei Jahre später auch dazu entschlossen, Beiträge mit geschlechtergerechter Sprache zu veröffentlichen. Andere MillennialMedien wie bento, das Onlineportal des Spiegels für eine junge Zielgruppe, setzen geschlechtergerechte Sprache nur zum Teil oder gar nicht in ihren Beiträgen ein. Seit Ende 2018 scheint sich das Interesse der Branche an Gender-Themen zu verstärken. Mich erreichen E-Mails, die sinngemäß die gleiche Frage eint: »Wir wollen das jetzt auch machen – wie gehen wir das an?« Hierzu ist zu sagen, dass ze.tt durch seine Zielgruppe, die sich zwischen Schulabschluss und erstem Jobwechsel befindet, einen klaren Vorteil gegen-

Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Sprache im Journalismus

über konventionellen Medien hat, die eine eher ältere, eher bürgerlichere Zielgruppe ansprechen. Der Widerstand in tradierten Medien dürfte aufgrund zuvor beschriebener Einstellungen weitaus höher liegen als bei uns. Vielen unserer User*innen ist das Thema Gendern geläufig. Sie kennen es, weil sie geschlechtergerechte Sprache für ihre Hausarbeiten in der Schule oder an der Universität anwenden. Sie freuen sich, dass wir diskriminierungsfreie Sprache zum einen schon so lange in unsere Beiträge einbauen und so zum anderen den gesellschaftlichen Diskurs, der sich daran anschließt, mit vorantreiben. Abschließend ist zu sagen, dass ze.tt durch das Verwenden geschlechtergerechter Sprache nicht nur eine weitere Öffnung in seine Community hinein gelungen ist, sondern wir uns als Onlinemagazin für eine eher jüngere Zielgruppe so auch viel glaubhafter aufstellen konnten.

5.

Fazit

Da vor allem Nachrichtenmedien, anders als etwa Special-Interest-Angebote, den Anspruch haben, besonders vielfältig zu informieren, sollten diese Informationen nicht nur auch möglichst viele Menschen erreichen, sondern auch in ihren Inhalten explizit sein. Das ist nicht der Fall, wenn Meldungen und Berichte weiterhin das generische Maskulinum benutzen und etwa nur über »Techniker«, die Reparaturen durchführen, informieren, obwohl daran auch »Technikerinnen« beteiligt waren. Die Arbeit bei ze.tt zeigt, dass sich durch die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache auch deutlich mehr Frauen und diverse Menschen angesprochen fühlen. Ausgehend von diesen Erfahrungen täten Nachrichtenmedien also ein Gutes daran, inklusivere Sprache in ihren Beiträgen zu nutzen, um die Vielfältigkeit unserer Welt auch an möglichst viele Menschen weiterzugeben. Sie müssen hierfür nicht ihre Infrastruktur ändern oder zusätzliche Ressourcen schaffen: Gendern ist kostengünstig. Ein Workshop, in dem sich innerhalb der Redaktion dazu ausgetauscht wird, wie mehr Menschen mittels Sprache angesprochen werden können, reicht zunächst, um ein Grundverständnis für die Arbeit mit geschlechtergerechter Sprache zu bekommen. Im Anschluss daran können verschiedenste, auch in diesem Beitrag erwähnte Hilfsmittel genutzt werden, um zu entscheiden, wie im Redaktionsalltag gegendert wird. Bei ze.tt hat sich zudem der fortlaufende Aufbau eines Styleguides zu diesem Thema als Handbuch

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für die tägliche Arbeit bewährt. Dieser entstand durch das Experimentieren mit verschiedenen Möglichkeiten und das Feedback der Redakteur*innen und unserer Community. Unsere Erfahrungen zeigen, dass ein guter Einstieg zum Beispiel mittels geschlechtsneutraler Formulierungen (»Lesende« statt »Leser«) gelingen kann. Diese Form durchbricht den erlernten Lesefluss nicht durch »Fremdkörper«, wie Sternchen oder Binnen-I. Der Vorteil: Eine eher konservative Zielgruppe, die Gendern ablehnt, wird behutsam und ohne visuelle Stilmittel an eine inklusivere Sprache herangeführt und alle nicht zu dieser Zielgruppe gehörenden Rezipient*innen fühlen sich trotzdem in den Beiträgen erwähnt und angesprochen. Anders als befürchtet muss der Einsatz geschlechtergerechter Sprache demnach kein »Reichweitenkiller« sein. Die Erfahrungen bei ze.tt haben das Gegenteil gezeigt: Hier konnte das Gendern dazu genutzt werden, noch mehr Zielgruppen anzusprechen und so auch die Nutzung des Mediums und seiner Beiträge zu erhöhen.

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Zur Notwendigkeit geschlechtergerechter Sprache im Journalismus

Kienzl, Philipp/Baumgarten, Poliana: »Out Now! #2 – ›Als Schwarze lesbische Frau ist es doppelt schwer‹«, in: ze.tt, siehe: https://ze.tt/out-now-2-alsschwarze-lesbische-frau-ist-es-doppelt-schwer/vom 29.08.2018. Oswald, Bernd: »Konstruktiver Journalismus: Sagen, was ist – und zeigen, wie es weitergeht«, in: Fachjournalist, siehe: https://www.fachjournalist.de/konstruktiver-journalismus-sagen-was-ist-und-zeigen-wie-esweitergeht/vom 26.04.2018. Parbey, Celia: »Das generische Maskulinum ist ein Scheitern sprachlicher Inklusion«, in: ze.tt, siehe: https://ze.tt/das-generische-maskulinum-istein-scheitern-sprachlicher-inklusion/vom 23.05.2019. Reimann, Marieke: »Warum alle Medien gendern sollten«, in: ze.tt, siehe: https://ze.tt/warum-alle-medien-gendern-sollten/vom 01.06.2018. Reisinger, Eva: »Was ein Mensch mit Behinderung über diese neuen Emojis denkt«, in: ze.tt, siehe: https://ze.tt/was-ein-mensch-mit-behinderungueber-die-neuen-emojis-denkt/vom 27.03.2018. Rusch, Roman: »Erfolgreich mit konstruktivem Journalismus?«, in: Communicatio Socialis 4 (2017), S. 509-520. Sommer, Rupert: »Wie ze.tt-Chefredakteurin Marieke Reimann den Blick für den Osten schärfen will«, in: kress, siehe: https://kress.de/news/detail/beitrag/141221-wie-zett-chefredakteurin-marieke-reimann-denblick-fuer-den-osten-schaerfen-will.html vom 01.10.2018. Stokowski, Margarete: »Gleichstellung. Die Gender-Allergie«, in: Spiegel Online, siehe: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/gleichstellungdie-gender-allergie-a-1154683.html vom 27.06.2017. Stokowski, Margarete: »Gendergerechte Sprache. Wer ist hier hysterisch?«, in: Spiegel Online, siehe: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/genderdebatte-wer-ist-hier-hysterisch-kolumne-a-1257414.html vom 12.03.2019. Vervecken, Dries/Hannover, Bettina: »Yes I can! Effects of gender fair job descriptions on children’s perceptions of job status, job difficulty, and vocational self-efficacy«, in: Social Psychology 46 (2) (2015), S. 76-92.

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Inklusiver Journalismus Teilhabe und Chancengleichheit in der digitalisierten Gesellschaft Tanja Köhler

Wer an Barrierefreiheit denkt, hat meist Bilder von Rampen für RollstuhlfahrerInnen oder von Audiodeskriptionen für Gehörlose im Kopf. Dass auch Texte für manche Menschen unüberwindbare Hürden darstellen und auch Informationen barrierefrei sein können, daran denken sicherlich die wenigsten. So ist wohl zu erklären, dass der Chefredakteur von Focus Money, Frank Pöpsel, im Jahr 2013 den Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter für einen Beitrag in Leichter Sprache mit den Worten kritisierte, dieser wolle die Menschen für dumm verkaufen und den Genitiv abschaffen. Die Journalistin Susanne Gaschke bezeichnete noch im Jahr 2018 in der Zeitung Die Welt einen Beitrag in Leichter Sprache aus der Wochenzeitung Das Parlament als »Inbegriff von Herablassung« und diagnostizierte, er drücke »komplizierte Dinge nicht einfach, sondern dumm« aus.1 Dabei liegt den Konzepten der Leichten und Einfachen Sprache nichts ferner, als Menschen für dumm zu verkaufen oder ihnen mit Herablassung zu begegnen. Sie sollen vielmehr dabei helfen, sprachliche Barrieren abzubauen, um Menschen mit Lernschwierigkeiten, kognitiven Einschränkungen oder geringer Lese- und Schreibkompetenz den Zugang zu Informationen zu ermöglichen. Dieser Zugang wird in einer von Digitalisierung geprägten Gesellschaft immer wichtiger, weil gesellschaftliche Vorgänge beinahe ausschließlich über komplexe mündliche wie schriftliche Informationen konstituiert werden. Der Zugang zu Informationen ist daher ein entscheidender

1

S. Gaschke: Das kann die »Sendung mit der Maus« besser. Siehe dazu auch Köhler: Nachrichten in Einfacher Sprache sind ein Beitrag zur Inklusion.

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Faktor, um Menschen die Teilhabe an Politik und Gesellschaft zu ermöglichen. In diesem Prozess erfüllen klassische Massenmedien aufgrund ihres breiten Themenspektrums bei der Informationsvermittlung »eine wichtige Funktion für demokratische Gesellschaften, weil sie eine umfassende Meinungsbildung ermöglichen. Erst auf Basis vielfältiger Informationen können die Bürger sich an der politischen Debatte beteiligen.«2 Nachrichtenangeboten kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, weil sie zum einen politisches, wirtschaftliches und soziales Grundwissen vermitteln können und zum anderen zu den am meisten genutzten Medienangeboten zählen.3 Die Vermittlung von Informationen ist allerdings nur dann erfolgreich, wenn RezipientInnen diese Informationen auch verstehen. Verständlichkeit gilt deshalb als zentrale Qualitätsdimension erfolgreicher Informationsvermittlung, Sprache als eines ihrer wichtigsten Kriterien.4 Allerdings liegt Verständlichkeit immer auch im Auge des Betrachters. Ob ein Text von RezipientInnen verstanden wird, hängt von verschiedenen Faktoren wie beispielsweise Alter, Bildung und/oder kognitiven Voraussetzungen ab. Auch Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Verstehen können dafür verantwortlich sein, ob Nachrichtenmeldungen verstanden werden oder nicht. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Konzepte der Leichten und Einfachen Sprache an Bedeutung, um Nachrichtenangebote für diejenigen verständlich(er) aufzubereiten, die – aus welchen Gründen auch immer – konventionellen Nachrichtenangeboten nicht folgen können.5 Ein derart inklusiver Journalismus ermöglicht mit Nachrichten in Leichter oder Einfacher Sprache Menschen die Teilhabe an einer digitalisierten Gesellschaft und vergrößert damit auch Chancengleichheit.

2 3 4

5

Hans-Bredow-Institut: Medien von A-Z, S. 149. D. Süss/H. Bonfadelli: Mediennutzungsforschung, S. 323: S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2019. Als weitere Qualitätsdimensionen auf Nachrichtenebene gelten Vielfalt, Relevanz, Unparteilichkeit und Sachgerechtigkeit. J. Voigt: Nachrichtenqualität aus Sicht der Mediennutzer, S. 45-62. Siehe auch S. Weischenberg: Journalistik, S. 179-190. Leichte wie Einfache Sprache stellen keine geschützten Begriffe dar und werden bisweilen synonym verwendet. G. Kellermann: Leichte und Einfache Sprache, S. 7.

Inklusiver Journalismus

1.

Leichte und Einfache Sprache als Schlüssel zur sprachlichen Barrierefreiheit

Die Vereinten Nationen haben im Jahr 2006 die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung verabschiedet, die von Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert wurde. In dem Übereinkommen werden die Vertragsstaaten in Artikel 21 dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung gleichberechtigten Zugang zu Informationen und Kommunikation zu gewährleisten. Das Ziel: Eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen. Auch Massenmedien werden in Artikel 21 aufgefordert, ihre Dienste Menschen mit Behinderung leicht zugänglich zu machen.6 Allerdings mangelt es an der Umsetzung: So kritisiert der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung zum Beispiel die fehlenden bindenden Verpflichtungen für Medien und Webseiten in Deutschland, Angebote barrierefrei zu gestalten. Er empfiehlt deshalb, zwingende Maßnahmen und Sanktionen einzuführen und öffentlich-rechtliche wie private Rundfunkanstalten dazu anzuhalten, ihre Arbeit in Bezug auf Barrierefreiheit zu evaluieren.7 In Deutschland haben private Rundfunkanbieter einen weitaus größeren Nachholbedarf als öffentlich-rechtliche Sendeanstalten, die bereits vielfältige Maßnahmen ergriffen haben, um Angebote barrierefrei zu gestalten.8 In Großbritannien ist man einen Schritt weiter: Dort müssen beispielsweise alle öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten festgelegte Quoten erfüllen, deren Umsetzung von der Aufsichtsbehörde Ofcom kontrolliert wird.9 Grundsätzlich haben Menschen mit Behinderung das gleiche Bedürfnis nach Informationen wie Menschen ohne Behinderung.10 Sie benötigen daher ebenfalls Zugang zu unterschiedlichen Informationsangeboten, zu denen der Verein Inclusion Europe auch Nachrichtenangebote zählt.11 Bei der Mediennutzung greifen Menschen mit Lernschwierigkeiten dabei bevorzugt auf

6 7 8 9 10 11

Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung: Die UN-Behindertenrechtskonvention. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands, S. 4-5. Siehe zum Beispiel U. Heerdegen-Wessel: Barrierefreie Angebote des NDR und der ARD. A. Haage: Studie: Wie behinderte Menschen die Medien nutzen. Europäische Vereinigung der ILSMH: Sag es einfach, S. 10. Ebd.

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Leichte und Einfache Sprache zurück, was die Bedeutung der Konzepte für Medienunternehmen zusätzlich unterstreicht.12

1.1

Konzepte und Regeln

Leichte Sprache war ursprünglich ein Projekt von BehindertenselbsthilfeVereinigungen wie dem US-amerikanischen Verein People First. Sie übersetzten Texte in Leichte Sprache, um Menschen mit Lernschwierigkeiten Zugang zu wichtigen Informationen zu verschaffen, die ihnen die Teilhabe und Mitbestimmung an Gesellschaft und Politik ermöglichen.13 Im Laufe der Jahre haben verschiedene Vereine und Institutionen Regelwerke für Leichte Sprache entwickelt, die mehr oder weniger ähnliche Vorgaben in Bezug auf Sprache, Rechtschreibung, Typografie und Mediengebrauch machen.14 Merkmale von Texten in Leichter Sprache sind: • • • • • • • • • •

12 13

14

kurze, einfache Sätze, leicht verständliche, kurze Wörter, keine Genitiv-, Konjunktiv- und Passivkonstruktionen, kein Nominalstil und Präteritum, Verzicht auf Fachbegriffe, Fremdwörter, Abkürzungen, Redewendungen, Metaphern bzw. bei Verwendung sollten diese erklärt werden, Ausschreiben von Zahlen, Vermeidung hoher Zahlen, Trennung von Wörtern in ihre Einzelteile durch Bindestrich oder Mediopunkt (zum Beispiel Werk-statt oder Werk·statt), Absatz nach jedem Satzzeichen und nach jedem sinnvollen Satzabschnitt, pro Zeile möglichst nur ein Satz, mindestens Schriftgröße 14,

I. Bosse/U. Hasebrink: Mediennutzung von Menschen mit Behinderung, S. 106. A. Baumert: Leichte Sprache – Einfache Sprache, S. 73-75; S. Seitz: Leichte Sprache?, S. 4; G. Kellermann: Leichte und Einfache Sprache, S. 7; C. Maaß/I. Rink/C. Zehrer: Leichte Sprache in der Sprach- und Übersetzungswissenschaft, S. 56. Regeln für Texte in Leichter Sprache wurden unter anderem entwickelt von: Europäische Vereinigung der ILSMH (1998) (heute Inclusion Europe), Mensch zuerst (2008), Netzwerk Leichte Sprache und der Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim (Maaß 2015). Siehe für eine umfassende Evaluation der Regelwerke des Netzwerks Leichte Sprache, der BITV 2.0 sowie von Inclusion Europa C. Maaß: Leichte Sprache, S. 31-71.

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Verwendung von Abbildungen und Bildern zur Erklärung und Strukturierung.15

Maaß kritisiert an einigen Regelwerken, dass die darin vorgegebenen Anleitungen der deutschen Grammatik und Orthografie widersprechen.16 Um eine breite gesellschaftliche Akzeptanz von Leichter Sprache nicht zu verhindern, mahnt sie deshalb einen korrekten Umgang mit grammatikalischen und orthografischen Regeln an.17 Ein korrekter Sprachgebrauch wird auch deshalb gefordert, weil die Lesekompetenz bei einem Teil der NutzerInnen wächst und Texte in Leichter Sprache nur eine »Durchgangsstation« zu schwierigeren Texten darstellen.18 Kritisiert wird an Texten in Leichter Sprache neben dem mitunter »schlechten Deutsch auf inhaltlich sehr schlichtem Niveau«19 auch die positive Diskriminierung, die von Texten in Leichter Sprache ausgehen kann: »Leichte Sprache […] sorgt […] einerseits für Teilhabe, geht aber mit der Zuschreibung an das Gegenüber einher, auf Leichte Sprache angewiesen zu sein und unterstellt damit ein Defizit.«20 Während für Leichte Sprache zumindest Regelwerke existieren, gilt dies für Einfache Sprache nicht.21 Sie wird aber als ein Mittelweg zwischen Standardsprache und Leichter Sprache betrachtet. Insofern erlaubt Einfache Sprache mehr Komplexität und ist vom Sprachgebrauch her etwas schwieriger als Leichte Sprache: Die Sätze sind länger, Nebensätze sind erlaubt. Schwierige, respektive lange Wörter sollen wie bei Leichter Sprache ersetzt, Fremdwörter vermieden bzw. im Anschluss erklärt werden. Typografie und Gestaltung wird weniger streng geregelt, so dass nach Satzzeichen oder nach Satzabschnitten nicht zwingend ein Absatz gesetzt werden muss.22 Dennoch

15

16 17 18 19 20 21

22

Vgl. C. Maaß: Leichte Sprache, S. 31-149; G. Kellermann Leichte und Einfache Sprache, S. 7; A. Stefanowitsch: Leichte Sprache, komplexe Wirklichkeit, S. 12; S. Nickel: Funktionaler Analphabetismus, S. 28; C. Maaß/I. Rink/C. Zehrer: Leichte Sprache in der Sprachund Übersetzungswissenschaft, S. 60-74; Europäische Vereinigung der ILSMH: Sag es einfach; Netzwerk Leichte Sprache. C. Maaß: Leichte Sprache, S. 82-83. Ebd., S. 84. Ebd., S. 83, siehe auch A. Baumert: Einfache Sprache und Leichte Sprache, S. 3. A. Baumert: Leichte Sprache – Einfache Sprache, S. 5. S. Seitz: Leichte Sprache?, S. 4. Baumert hat für das Texten in Einfacher Sprache 152 Empfehlungen zusammengestellt. Er weist explizit darauf hin, dass es sich dabei nicht um Regeln oder ein Regelwerk handelt, siehe: A. Baumert: Einfache Sprache und Leichte Sprache, S. IX. G. Kellermann: Leichte und Einfache Sprache, S. 7.

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sind die Grenzen zwischen Leichter und Einfacher Sprache bisweilen fließend, was auch den fehlenden bzw. uneinheitlichen Regelwerken geschuldet ist. Da es bislang kein einheitliches Regelwerk für das Konzept Leichte Sprache gibt, unterscheiden sich die in Leichter Sprache verfassten Texte je nach benutztem Regelwerk. Die uneinheitliche und bisweilen mangelnde professionelle Umsetzung von Texten in Leichter und Einfacher Sprache kann auch auf die fehlende bzw. rudimentäre wissenschaftliche Fundierung der bisherigen Regelwerke zurückgeführt werden. Deshalb plädieren unterschiedliche AutorInnen dafür, Leichte und Einfache Sprache sowie deren Qualitätsstandards wissenschaftlich zu fundieren.23

1.2

Zielgruppen

Leichte Sprache wurde anfänglich für Menschen mit geistiger Behinderung bzw. für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt.24 Stefanowitsch macht allerdings darauf aufmerksam, dass in den unterschiedlichen Zielgruppenvorschlägen für Leichte Sprache beinahe jeder angesprochen werden kann: »Menschen mit Lernbehinderungen und anderen kognitiven Einschränkungen, Menschen mit Leseschwierigkeiten unterschiedlicher Art, nichtdeutsche Muttersprachler, Menschen mit Altersdemenz oder sogar ältere Menschen insgesamt. Auch Jugendliche werden manchmal als Zielgruppe genannt oder sogar die Sprachgemeinschaft generell […].«25 Eine Möglichkeit, Zielgruppen für Texte in Leichter und Einfacher Sprache näher zu bestimmen, bietet der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GER). Er wurde vom Europarat erarbeitet, um das Sprachniveau von Menschen und Texten zu erfassen. Der GER legt einen Maßstab mit sechs Kompetenzstufen von A1 bis C2 fest.26 Das Kompetenzniveau A1 und A2 umfasst die Fähigkeit, (sehr) einfache Sätze und alltägliche Ausdrücke zu lesen und 23 24

25 26

Vgl. C. Maaß/I. Rink/C. Zehrer: Leichte Sprache in der Sprach- und Übersetzungswissenschaft; I. Bosse/U. Hasebrink: Mediennutzung von Menschen mit Behinderung. Menschen mit geistiger Behinderung lehnen den Begriff meist wegen seiner Stigmatisierung ab und bezeichnen sich selbst als Mensch mit Lernschwierigkeiten (vgl. C. Maaß: Leichte Sprache, S. 15; www. leidmedien.de/begriffe). A. Stefanowitsch: Leichte Sprache, komplexe Wirklichkeit, S. 11. J. Sheils u.a.: Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen.

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zu verstehen. Kompetenzniveau B1 und B2 beschreibt die Fähigkeit, alltägliche Texte und klare Standardsprache lesen und erfassen zu können.27 Orientiert man sich an diesen Kompetenzstufen, entsprechen Texte in Leichter Sprache dem Sprachniveau A1. Sie richten sich damit vor allem an Menschen, die fast gar nicht lesen können, wie Analphabeten und Menschen mit Lernschwierigkeiten, für die das Konzept Leichte Sprache ursprünglich entwickelt wurde. Texte in Einfacher Sprache sind auf dem Niveau A2 bis B1 angesiedelt und wenden sich vor diesem Hintergrund vor allem an Menschen mit geringer Literalität oder Menschen mit geringen Deutschkenntnissen. Die Zielgruppe der gering literalisierten Erwachsenen ist dabei nicht zu unterschätzen: Die Universität Hamburg untersuchte in der sogenannten »Level-OneStudie« die Lese- und Schreibkompetenz der Deutsch sprechenden erwachsenen Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 64 Jahren. Ergebnis: 6,2 Millionen Menschen in Deutschland gelten als gering literalisiert, weitere 10,6 Millionen Menschen haben größere Probleme beim Lesen und Schreiben.28 Addiert man beide Gruppen, so stellen Texte in Einfacher Sprache für über 15 Millionen Menschen in Deutschland – immerhin über 30 Prozent der gesamten erwachsenen Bevölkerung – einen Beitrag zur sprachlichen Barrierefreiheit dar. Grundsätzlich betrachtet richtet sich das Leseniveau A1 an knapp fünf Prozent der Bevölkerung, während das Leseniveau B1 knapp 80 Prozent der Bevölkerung verstehen.29 Eine trennscharfe Abgrenzung der Zielgruppen für Leichte und Einfache Sprache ist aber auch mit dem GER nicht möglich, da beispielsweise auch innerhalb der Gruppe gering literalisierter Menschen der Grad an Lesekompetenz variieren kann. Es wird aber deutlich, dass die Anzahl potenzieller NutzerInnen von Texten in Leichter und Einfacher Sprache groß ist und ebenso warum diese Angebote auch von Menschen genutzt werden, die formal nicht zu den ursprünglich angedachten Adressaten gehören. Allerdings wird die Heterogenität der Zielgruppe von verschiedenen AutorInnen als besondere Herausforderung wahrgenommen und mitunter kritisiert30 , da jede Zielgruppe unterschiedliche Anforderungen an Verständlichkeit stellt und es somit fraglich ist, ob es einheitliche Lösungen, wie sie in den Konzepten

27 28 29 30

Ebd. A. Grotlüschen u.a.: LEO 2018. A.-K. Akalin: Einführung in die Einfache Sprache, S. 7-8. C. Maaß/I. Rink/C. Zehrer: Leichte Sprache in der Sprach- und Übersetzungswissenschaft, S. 56-60; A. Stefanowitsch: Leichte Sprache, komplexe Wirklichkeit, S. 11.

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der Leichten und Einfachen Sprache zum Tragen kommen, überhaupt geben kann. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, dass die Konzepte der Leichten und Einfachen Sprache einen Schlüssel zu sprachlicher Barrierefreiheit darstellen, um Menschen Zugang zu wichtigen Informationen zu verschaffen und ihnen damit die gesellschaftliche und politische Teilhabe zu ermöglichen.

2.

Nachrichtenangebote in Leichter und Einfacher Sprache

In Deutschland ist die Zahl der Nachrichtenangebote in Leichter und Einfacher Sprache in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Ein Grund dafür dürfte die zunehmende Forderung unter anderem von Interessenverbänden und betroffenen Personen nach einem Ausbau von barrierefreien Informationen sein, die ihren Anliegen im digitalen Zeitalter und in den damit verbundenen frei zugänglichen digitalen Kommunikationsräumen stärker öffentlich Ausdruck verleihen können. Dies hat auch zu einem zunehmenden öffentlichen Bewusstsein für die Bedeutung barrierefreier Informationen und zu einem gewissen Druck auf Medienhäuser geführt. Die einzelnen Nachrichtenangebote in Leichter und Einfacher Sprache variieren sowohl in der Erscheinungsweise als auch in der inhaltlichen Ausrichtung. Mehrere ARD-Rundfunkanstalten bieten auf ihren Webseiten Nachrichten in Leichter bzw. Einfacher Sprache an, die sich in der Regel auf Ereignisse mit Bezug zum jeweiligen regionalen Berichterstattungsgebiet beschränken. Der NDR startete Ende 2015 mit einem wöchentlich erscheinenden norddeutschen Nachrichtenformat in Leichter Sprache. Seit Anfang 2018 wird werktäglich die Top-Nachricht aus Norddeutschland veröffentlicht.31 Der MDR bietet Nachrichten in Leichter Sprache aus den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen von Montag bis Freitag an. In beiden Sendern werden die Texte von ExpertInnen für Leichte Sprache vor Veröffentlichung geprüft. Der WDR hat kein regelmäßig erscheinendes Nachrichtenformat in Leichter bzw. Einfacher Sprache, stellt dafür aber Informationen in Leichter Sprache zu besonderen Anlässen zur Verfügung, wie beispielsweise zu NRW-Landtags- oder Bundestagswahlen oder Jahresrückblicke. Der SR wiederum veröffentlicht einen Wochenrückblick in Einfacher Sprache mit Meldungen aus dem Saarland. Alle Sender stellen die Texte auch als Audioversion zur Verfügung. 31

U. Heerdegen-Wessel: Barrierefreie Angebote des NDR und der ARD.

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Der Spaß am Lesen Verlag aus Münster bringt sechs Mal im Jahr eine Zeitung (»Klar und Deutlich«) sowie jeden Montag (außer in den Schulferien) eine digitale Wochenzeitung (»Klar und Deutlich aktuell«) in Einfacher Sprache heraus. Der Wochenzeitung Das Parlament liegt seit Juni 2014 eine Beilage in Leichter Sprache bei, die sich jeweils einem aktuellen politischen Ereignis widmet. Die Tageszeitung aus Berlin startete drei Monate vor der Bundestagswahl 2017 das Projekt taz-leicht. Von Juli bis September 2017 wurden zwei Texte in Leichter Sprache pro Woche, teils mit Audio und Video, veröffentlicht. Das Projekt war ursprünglich für drei Monate konzipiert, wurde aber wegen der positiven Rückmeldungen weitergeführt. Von Januar bis September 2018 veröffentlichte taz-leicht einen Text pro Woche. Das Themenspektrum reichte von Politik über Umwelt bis zu Medien. Inzwischen erscheinen Texte in Leichter Sprache nur noch als Sonderprojekte zu spezifischen Anlässen wie Wahlen oder in Abstimmung mit den Ressorts ohne festen Rhythmus.32

3.

Nachrichtenleicht: Der Wochenrückblick in Einfacher Sprache

Der Deutschlandfunk, der einzige bundesweit sendende öffentlich-rechtliche Radiosender, war mit dem Portal »nachrichtenleicht« einer der ersten Anbieter eines inklusiven Nachrichtenangebots in Deutschland. Das Portal gehört zur digitalen Produktpalette der Dlf-Nachrichtenredaktion. Es ist immer noch das bundesweit einzige regelmäßig erscheinende überregionale Angebot seiner Art in Einfacher Sprache. Seit Januar 2013 veröffentlicht die Dlf-Nachrichtenredaktion auf der Webseite nachrichtenleicht.de einen Wochenrückblick, der aktuelle nationale und internationale Ereignisse und Entwicklungen aus den Rubriken Nachrichten, Kultur, Sport und Vermischtes enthält.33 Die Nachrichten werden dabei als Text und als Audiodatei angeboten. Zusätzlich zur Webseite gibt es auch einen OnAir-Wochenrückblick sowie einen Instagram-Kanal (siehe Abschnitt 3.3).

32 33

Auskunft der Redakteurinnen von taz-leicht vom 01.07.2019. Das Angebot ist aus einem Semesterprojekt der Technischen Hochschule Köln in Kooperation mit dem Deutschlandfunk entstanden. Seit Abschluss des Projektes im Januar 2013 betreut die Dlf-Nachrichtenredaktion das Portal eigenständig.

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Für den Deutschlandfunk ist nachrichtenleicht ein wichtiger und zentraler Beitrag zur Inklusion. Er soll Menschen Information und Teilhabe ermöglichen, die – aus welchen Gründen auch immer – konventionellen Nachrichtenangeboten nicht folgen können. Ein Nachrichtenangebot in Einfacher Sprache zur Verfügung zu stellen wird mit dem Programmauftrag gedeckt, dem die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland verpflichtet sind. Dieser Auftrag umfasst neben der Information, Kultur und Bildung auch die Integration, deren Zielsetzung damit umrissen werden kann, alle gesellschaftlichen Schichten anzusprechen sowie deren Teilhabe am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu ermöglichen.34 Ein Nachrichtenangebot in Einfacher Sprache anzubieten ist daher eine originär öffentlichrechtliche Aufgabe und ein Beitrag zur sprachlichen Barrierefreiheit und Inklusion.

3.1

Konzept und Regeln

Bei der inhaltlichen Entwicklung von nachrichtenleicht stand von Anfang an fest, dass sich auch ein inklusives Nachrichtenangebot an den professionellen journalistischen Ansprüchen des Senders zu orientieren hat: Wie in den klassischen Nachrichtensendungen des Deutschlandfunks wird auch bei den Nachrichten in Einfacher Sprache am Anspruch festgehalten, die wichtigsten nationalen und internationalen Themen zu vermitteln, unabhängig von der Komplexität der Ereignisse. Damit verbunden ist der Anspruch, dass die zur Verfügung gestellten Informationen auch in der sprachlichen Vereinfachung und in dem Bemühen, Dinge einfach zu erklären, zutreffend sein müssen, nicht wertend und verharmlosend sein oder unangemessen einfach dargestellt werden dürfen. Aus diesen Überlegungen heraus entschied sich die Redaktion für das Konzept der Einfachen Sprache, weil sie für die zutreffende Vermittlung und Darstellung komplexer Ereignisse besser geeignet erscheint. Hinzu kommt: Einfache Sprache wird von 80 Prozent der deutschen Bevölkerung verstanden. Weil zum damaligen Zeitpunkt für das Konzept der Einfachen Sprache weder ein Regelwerk noch grundsätzliche Empfehlungen existierten, erarbeitete die Nachrichtenredaktion eigene Regeln, in die auch Vorgaben der Leichten Sprache eingingen: Die Satzlänge soll so kurz und der Satzbau so schlicht wie möglich sein. Jeder Satz soll möglichst nur eine Aussage beinhalten. Die 34

V. Lilienthal: Integration als Programmauftrag, S. 6.

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bevorzugten Zeiten sind Präsens und Perfekt. Genitivkonstruktionen werden vermieden, es wird möglichst aktiv statt passiv formuliert. Die direkte Rede wird dem Konjunktiv vorgezogen. Bei der Wortwahl wird auf einfache Verben und kurze geläufige Wörter geachtet. Es werden Wiederholungen statt Synonyme benutzt. Fremdwörter und Metaphern werden ebenso vermieden wie Umgangssprache. Trotz aller Einfachheit wird ein sachlicher Ton gepflegt.

Beispiele für Nachrichten in Einfacher Sprache: »Israel hat gewählt In dem Land Israel haben die Menschen ein neues Parlament gewählt. Keine von den Parteien hat eindeutig gewonnen. Deshalb wird es schwierig, eine neue Regierung zu finden. Die meisten Stimmen haben zwei Parteien bekommen. Die Partei Likud und die Liste Blau-Weiß haben fast gleich viele Stimmen. Sie arbeiten beide mit anderen Parteien zusammen. So etwas nennt man auch Lager. Keines von den Lagern hat genügend Sitze im Parlament, um zu regieren. [...]« (Auszug aus einer Nachricht vom 20.09.2019)   »Von der Leyen gewählt Die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen wird neue Präsidentin von der EUKommission. Mehr als die Hälfte von den Politikerinnen und Politikern im Europäischen Parlament haben für sie gestimmt. Vorher hat es viele Diskussionen gegeben. Es war nicht sicher, ob sie genügend Stimmen im EUParlament bekommt. Damit möglichst viele Abgeordnete für sie stimmen, hat von der Leyen eine Rede im Parlament gehalten. Sie hat gesagt: Die Themen Klima-Politik, Arbeitslosigkeit und die Flüchtlings-Politik sind wichtig für mich. […]« (Auszug aus einer Nachricht vom 19.07.2019)

Können in den jeweiligen Meldungen schwierige Begriffe oder Fachwörter nicht vermieden werden, werden diese gesondert unter dem jeweiligen Artikel erklärt. Diese Erläuterungen sind auch Teil des Onlinewörterbuchs, in dem jederzeit nachgeschlagen werden kann und das kontinuierlich wächst. Seit Start der Seite ist das Wörterbuch auf mehr als 1000 Erklärungen angewachsen.

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  Beispiele für Wörterbucheinträge:  »Abgeordnete Abgeordnete nennt man die Politikerinnen und Politiker in einem Parlament. Sie können die Regierung wählen und Gesetze beschließen. In einer Parlaments-Wahl entscheiden die Bürgerinnen und Bürger, wer ihre Abgeordneten sein sollen.« »Bundes-Regierung Die Bundes-Regierung ist die Regierung von Deutschland. Zur BundesRegierung gehören die Minister und Ministerinnen. Jede Ministerin und jeder Minister ist für bestimmte Themen zuständig: zum Beispiel für Umwelt, Wirtschaft oder Bildung. Die Bundes-Regierung wird von der Bundes-Kanzlerin oder vom Bundes-Kanzler geleitet.« »Wahl-Programm Vor einer Wahl beschließen die Parteien ihre Wahl-Programme. Jede Partei schreibt auf, welche Politik sie machen will. Die Bürgerinnen und Bürger können die Wahl-Programme lesen. Dann können sie entscheiden, welche Partei sie wählen.« Um das Lesen und Verstehen zu erleichtern, werden bei nachrichtenleicht manche Wörter durch Bindestriche getrennt: Lange und zusammengesetzte Worte werden immer dann mit einem Bindestrich geschrieben, wenn es das Verständnis erleichtert (zum Beispiel Finanz-Amt, Bundes-Ministerin). Wörter bleiben dann zusammengeschrieben, wenn die Trennung irreführend wäre. Entgegen den Regeln der Leichten Sprache wird beispielsweise »Bundestag« im Rahmen von nachrichtenleicht nicht durch einen Bindestrich getrennt, da der Wortteil »Tag« eine andere Hauptbedeutung beinhaltet als durch eine Trennung suggeriert würde. Ebenfalls anders als in manchen Regelwerken und Abhandlungen zur Leichten Sprache vorgeschlagen, bevorzugt die Redaktion seit Anfang 2019 eine geschlechtergerechte Sprache. Die Redaktion ist der Ansicht, dass insbesondere inklusive Angebote nicht durch sprachliche Formulierungen exkludieren sollten.

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3.2

Zielgruppen

Zu Beginn des Projektes standen als Zielgruppe zwar Menschen mit Lernschwierigkeiten im Vordergrund, das Angebot sollte aber grundsätzlich allen Menschen offenstehen, die konventionellen Nachrichtenangeboten – aus welchen Gründen auch immer – nicht folgen können. Reaktionen der LeserInnen zeigten recht schnell, dass das Angebot von einem großen Kreis weiterer Personen genutzt wird: Neben SeniorInnen wird das Portal zum Beispiel auch von Menschen mit geringen Deutschkenntnissen, mit geringem Wortschatz und von MigrantInnen, Deutschlehrenden und -lernenden aus dem Ausland genutzt. Auch LehrerInnen sowie Kinder und Jugendliche an (inklusiven) Schulen und Jugendeinrichtungen verwenden das Portal.35 Eine Auswertung der Zuschriften, die die Redaktion von PädagogInnen erhielt, ergab, dass sie die Nachrichten in Einfacher Sprache im Unterricht unter anderem zur politischen Bildung, zur Vermittlung aktueller gesellschaftlicher Ereignisse, zur Förderung von Lesekompetenz (im Sinne von Lesefertigkeit, Tempo und Verständnis) und/oder zur Vermittlung von Medienkompetenz einsetzen. Insofern ermöglicht nachrichtenleicht Anschlussfähigkeit in beide Richtungen: Menschen, deren Lesekompetenz wächst und für deren Bedürfnisse Texte in Leichter Sprache nicht mehr adäquat sind, erhalten mit Nachrichten in Einfacher Sprache ebenso ein passendes Angebot wie Menschen, die zwar Standardsprache verstehen, aber trotzdem auf ein sprachlich einfacheres Niveau zurückgreifen, um komplexe Sachverhalte und Entwicklungen (besser) zu verstehen.

3.3

Erweiterung des Nachrichtenangebots

Seit dem Start von nachrichtenleicht arbeitet die Redaktion kontinuierlich an der Weiterentwicklung des Angebots. Im Mittelpunkt stehen dabei die Erschließung neuer Ausspielwege sowie die inhaltlich-thematische und technische Weiterentwicklung. Einige der vorgenommenen Veränderungen gehen auch auf das Feedback von NutzerInnen zurück. So wünschten sich beispielsweise insbesondere PädagogInnen eine Druckfunktion für die Texte und einen Audio-Download für die Hörfassung, unter anderem weil ihnen die technische Ausstattung für die Onlinenutzung im Unterricht fehlte. 35

Siehe zu den Einsatzmöglichkeiten von Nachrichten in Leichter und Einfacher Sprache an inklusiven Schulen T. Köhler: Barrierefreie Sprache, Nachrichten für alle.

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3.3.1

Von Online zu OnAir

Anders als andere journalistische Formate des Deutschlandfunks, die sich aus dem linearen Programm ins Digitale bewegten, schlug nachrichtenleicht bei der Weiterentwicklung genau den umgekehrten Weg ein und ging vom Netz ins Radio. Der Entscheidung, eine wöchentliche Radio-Nachrichtensendung in Einfacher Sprache anzubieten, ging die Überlegung voraus, das inklusive Angebot auf möglichst unterschiedlichen Wegen zugänglich zu machen und auch im linearen Radioprogramm Teilhabebarrieren zu senken. Denn: Lesefähigkeit beeinflusst auch die Mediennutzung, was dazu führt, dass insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten häufiger auf Fernseh- und Radioangebote, aber seltener auf das Internet und noch seltener auf Tageszeitungen zurückgreifen.36 Von Dezember 2016 bis Dezember 2019 sendete der Deutschlandfunk im Hauptprogramm jeden Freitag ab 20:04 Uhr einen fünfminütigen Wochenrückblick in Einfacher Sprache nach den klassischen Radionachrichten. Ermöglicht wurde dies, indem die vormals zehnminütige Sendezeit der konventionellen Nachrichten aufgeteilt wurde: Die ersten vier Minuten blieben den klassischen Nachrichten vorbehalten, während die zweite Sendehälfte für den Nachrichtenleicht-Wochenrückblick reserviert wurde. Seit Januar 2020 strahlt der Deutschlandfunk die Nachrichten in Einfacher Sprache aufgrund von Programmveränderungen freitags ab 19:04 Uhr aus, weiterhin nach der klassischen Nachrichtensendung. Das Radioformat ist dabei keine rein gekürzte Version des Online-Wochenrückblicks, sondern eine an das Medium angepasste Fassung. Dennoch werden auch OnAir die wichtigsten nationalen und internationalen Themen der Woche präsentiert.

3.3.2

Instagram

Seit Dezember 2018 ist nachrichtenleicht auch bei Instagram. Wie bei der Einführung der Radiosendung stand auch bei der Einführung des InstagramAccounts die Überlegung im Vordergrund, die Zugriffsmöglichkeiten auf das Angebot zu vergrößern und damit unterschiedlichen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Der Deutschlandfunk will mit dem Account sein Angebot an barrierefreien Informationen im digitalen Raum erweitern und zusätzliche Wahlmöglichkeiten schaffen. Damit leistet der Dlf einen weiteren wichtigen Beitrag, Teilhabebarrieren in seiner digitalen Produktpallette

36

I. Bosse/U. Hasebrink: Mediennutzung von Menschen mit Behinderung, S. 98.

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sowie in den sozialen Netzwerken weiter abzubauen. Dies ist für die Zielgruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten von besonderer Bedeutung, weil sie laut einer Untersuchung von Bosse und Hasebrink mit am stärksten von Exklusion bei digitalen Medien betroffen bzw. bedroht sind.37 (Schwere) Standardsprache stellt für Menschen mit Lernschwierigkeiten eine besondere Hürde bei der Nutzung des Internets dar, weshalb es Angebote in unterschiedlichen digitalen Kanälen bedarf, die sprachliche Barrieren für diese Menschen senken. Darüber hinaus wird mit dem Account auf die veränderte Nachrichtennutzung insbesondere bei jüngeren Menschen reagiert. Schmitt weist zum Beispiel darauf hin, dass sich junge NutzerInnen vermehrt über das Internet politisches Wissen aneignen und sich über politische Ereignisse in Onlineangeboten von professionellen Medienanbietern informieren, die sie bereits aus der Offlinewelt kennen.38 Dabei verzeichnet Instagram bei den 18-24-Jährigen seit Jahren einen Anstieg bei der Nachrichtennutzung.39 Auch in der Zielgruppe der Menschen mit Lernschwierigen nutzen weitaus häufiger jüngere Menschen das Internet und mobile Endgeräte.40 Anders als auf der Webseite nachrichtenleicht wird der InstagramAccount nicht in Form eines Wochenrückblicks betreut, sondern den plattformspezifischen Anforderungen entsprechend mit mehrheitlich tagesaktuellen Themen bestückt. Er weicht dabei von einigen der ursprünglich aufgestellten sprachlichen Regeln ab. Beispielsweise werden zusammengesetzte Hauptwörter nicht durch Bindestriche getrennt. Thematisch ist der Account durch die tägliche Berichterstattung etwas breiter aufgestellt als der Webseiten-Wochenrückblick. Das Feedback der NutzerInnen sowie die Auswertung der Analytics zeigen, dass der Instagram-Account ein überwiegend junges, internationales Publikum anzieht, das aktuelle (politische) Entwicklungen in einer möglichst einfachen und verständlichen Weise erklärt und vermittelt bekommen möchte. Es legt dabei ebenso Wert auf eine diskriminierungsfreie Sprache, wie es die konstruktive, lösungsorientierte Vermittlung von Inhalten honoriert.

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Ebd., S. 115. J.B. Schmitt: Onlinenachrichten und politisches Wissen bei Jugendlichen. S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2018, S. 44-45. I. Bosse/U. Hasebrink: Mediennutzung von Menschen mit Behinderung, S. 99-100.

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Tanja Köhler

3.3.3

Die Reihe »Einfach erklärt«

Die Weiterentwicklung des nachrichtenleicht-Angebots ging auch mit der Entwicklung neuer Formate einher. Anfang 2019 wurde die Reihe »Einfach erklärt« eingeführt, mit der komplexe Sachverhalte und/oder größere Zusammenhänge in Einfacher Sprache erläutert werden. Damit erfolgte auch eine inhaltlich-thematische Erweiterung des Angebots, weil sich durch die Reihe die Informationsvermittlung nicht mehr nur auf das klassische Nachrichtenformat und ein tagesaktuelles Thema beschränkt. Gestartet wurde die Reihe zum 70-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes Anfang 2019 unter dem Titel »Das Grundgesetz. Einfach erklärt«. Die Redaktion übersetzte für die Reihe die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes, die Grundrechte, in Einfache Sprache und bot sie zusätzlich in einer türkischen und englischen Version an. Das Angebot mehrsprachig zu veröffentlichen, war dabei ebenfalls eine Weiterentwicklung. Die insgesamt 21 Teile wurden auf der Webseite abgebildet, jeweils ein Artikel wurde jede Woche in der OnAir-Sendung präsentiert. Bei Instagram wurde die Serie wöchentlich im regulären Feed und als Story gepostet. Ein gleichnamiger Podcast wurde angelegt. Darüber hinaus erschien die Reihe in gekürzter Form in anderen Medien und wurde auf unterschiedlichen Veranstaltungen präsentiert, wie dem »Tag der Begegnung« des Landschaftsverbands Rheinland, dem größten Fest für Menschen mit und ohne Behinderung in Deutschland. Zur Europawahl 2019 wurde die Reihe mit der achtteiligen Serie »Die Europäische Union. Einfach erklärt.« fortgesetzt. Dabei wurde sich der EU durch die Beantwortung unterschiedlicher Fragen angenähert (»Was ist die Europäische Union?«, »Sind alle europäischen Staaten in der EU?«, »Wie kam es zur EU?«, »Wie wird in der EU ein Gesetz gemacht?« etc.). Die Serie erschien in einer deutschen und einer englischen Version. Auch sie wurde auf der Webseite abgebildet und lief in den Podcast ein. Für Instagram wurde darüber hinaus eigens für die Serie ein Videoformat entwickelt, das in den Stories und im IGTV-Bereich gepostet wurde.

4.

Fazit

Der Zugang zu Informationen ist in einer digitalisierten und mediatisierten Gesellschaft eine Voraussetzung, um am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben zu können. Leichte und Einfache Sprache können Menschen, für die Standardsprache eine unüberwindbare Hürde darstellt, diesen Zu-

Inklusiver Journalismus

gang ermöglichen. Dabei leisten auch Nachrichtenangebote in Leichter und Einfacher Sprache einen wichtigen Beitrag zur Inklusion: Sie thematisieren aktuelle, bedeutende gesamtgesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen und vermitteln damit gesellschaftspolitisches Grundwissen. Hiermit können bei Menschen – egal ob mit oder ohne Behinderung – die Voraussetzungen für Teilhabe an Politik und Gesellschaft geschaffen werden. Das Internet und soziale Netzwerke sind für die gleichberechtigte Teilhabe dabei ein entscheidender Faktor. Die Digitalisierung bietet Nachrichtenorganisationen unterschiedliche Möglichkeiten und Lösungsansätze, um Zugangs- und Teilhabebarrieren weiter abzubauen und unterschiedlichen Bedürfnissen und Zielgruppen gerecht zu werden. Die Weiterentwicklung von Nachrichtenangeboten in Leichter und Einfacher Sprache hinsichtlich Technik, Inhalten und Formaten, aber auch bei der Erschließung neuer Verbreitungswege ist dabei entscheidend, um größtmögliche Inklusion zu ermöglichen.

Literatur Akalin, Ann-Kathrin: Einführung in die Einfache Sprache. Unveröffentlichte Präsentation der Aktion Mensch 2016. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands. 2015. Siehe: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/ ­PDF-Da­tei­en/UN-Doku­mente/CRPD_Abschliessende_Bemerkungen_ ueber_den_ersten_Staatenbericht_Deutschlands_ENTWURF.pdf Baumert, Andreas: Leichte Sprache – Einfache Sprache. Literaturrecherche, Interpretation, Entwicklung, Hannover: Bibliothek der Hochschule Hannover 2016. Siehe: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:960opus4-6976 Baumert, Andreas: Einfache Sprache und Leichte Sprache. Kurz und bündig. 2018. Siehe: https://serwiss.bib.hs-hannover.de/frontdoor/deliver/index/docId/1234/file/BaumertESLS.pdf Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung: Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung, siehe: www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Brosch uere_UNKonvention_KK.pdf;jsessionid=846BFDCDFB36A4660D2EA7F4B CC60E4C.2_cid320?__blob=publicationFile

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Bosse, Ingo/Hasebrink, Uwe: Mediennutzung von Menschen mit Behinderung. Dezember 2016. Siehe: https://www.die-medienanstalten.de/publikationen/weitere-veroeffentlichungen/artikel/news/me diennutzung-von-menschen-mit-behinderungen/ Europäische Vereinigung der ILSMH: Sag es einfach. Europäische Richtlinien für die Erstellung von leicht lesbaren Informationen für Menschen mit geistiger Behinderung für Autoren, Herausgeber, Informationsdienste, Übersetzer und andere interessierte Personen. Siehe: www.webforall.info/wp-content/uploads/2012/12/EURichtlinie_sag_es_einfach.pdf vom Juni 1998. Gaschke, Susanne (2018): »Das kann die ›Sendung mit der Maus‹ besser«, in: Die Welt, siehe: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article181637056/Das-Parlament-Beilage-in-leichter-Sprache-ist-Inbegriffvon-Herablassung.html vom 23.09.2018. Grotlüschen, Anke/Buddeberg, Klaus/Dutz, Gregor/Heilmann, Lisanne/Stammer, Christopher: LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität, Pressebroschüre, Hamburg 2019. Siehe: http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo Haage, Anne: Studie: »Wie behinderte Menschen die Medien nutzen«, in: Leidmedien, siehe: https://leidmedien.de/aktuelles/studie-wiebehinderte-menschen-die-medien-nutzen/vom 08.11.2017. Hans-Bredow-Institut (Hg.): Medien von A-Z. Wiesbaden: VS-Verlag 2006. Heerdegen-Wessel, Uschi: »Barrierefreie Angebote des NDR und der ARD. Stand, Aufgaben, Ziele«, in: Christiane Maaß/Isabel Rink (Hg.), Handbuch Barrierefreie Kommunikation. Berlin: Frank & Timme 2016, S. 725739. Hölig, Sascha/Hasebrink, Uwe: Reuters Institute Digital News Survey 2019. Ergebnisse für Deutschland. Arbeitspapiere des Hans-BredowInstituts Nr. 47. Hamburg: Verlag Hans-Bredow Institut Juni 2019. Siehe: https://hans-bredow-institut.de/uploads/media/default/cms/media/x52wfy2_AP47_RDNR19_Deutschland.pdf Jekat, Susanne J./Jüngst, Heike E./Schubert, Klaus/Villiger, Claudia (Hg.): Sprache barrierefrei gestalten: Perspektiven aus der Angewandten Linguistik. Berlin: Frank & Timme 2014. Kellermann, Gudrun: »Leichte und Einfache Sprache – Versuch einer Definition«, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Leichte und Einfache Sprache H. 9-11 (2014), S. 7-10.

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FORMATE UND PROJEKTE

The Time is Now: Rethink Journalism Constructive News as the Media Answer to Democratic Trust Meltdown Ulrik Haagerup

The silence was deafening. I had just asked the former chancellor of West Germany and publisher of Die Zeit a probably not very good journalistic question on the status of the media, politics and democracy. But Helmut Schmidt just sat there sucking the life out of a very thin cigarette. It was in the fall of 2014, and the brown colors on the walls in his office in Hamburg showed that it was not the first cigarette to be smoked in here. I had been in that office 26 years earlier, as a very young reporter at a national Danish newspaper doing a story on the crisis in the Soviet Union and communistic part of Europe in 1988. Mr. Schmidt actually predicted at that time that the Berlin Wall might come down, which always impressed me, since nobody else dared to think that one year before it actually happened. So when I was director of News at the Danish public service station DR I became increasingly worried about the news culture in my own and other Western newsrooms. I worried about the consequences for public trust, polarization and the political debate, and wanted to research on a book on constructive news. Helmut Schmidt seemed to be the right man to consult for a steer on what was going on in democracy and journalism. But right now he was only smoking. I was just about to think that it was a long drive south on the autostrada A7 from Denmark to speak to a 95 year old man, when Helmut Schmidt began to speak. And I will never forget his words: »Democracy is a European invention«, he said in his perfect English with a statesman’s German accent. »So is the newspaper, the radio and the television. The Western world also invented the computer and the network of computers – the Internet. And globalization has exported it all to the rest of planet Earth. It ought to be good,

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but it is not. This is because Western civilization has developed into mediademocracies, where often the media is more influential than the politicians. The influence of the news media is now stronger than it has been in the history of mankind, and as it has seemingly taken over, it can set the agenda and influence how the population sees itself and the world. Often, the media will focus mostly on the negative and superficial; perhaps this is because media people believe that is what people want and where the money is. The consequences are many and severe. Firstly, people get a false picture of reality, and secondly, the West now suffers from a lack of leadership. Mediademocracies do not produce leaders, but populists.« Helmut Schmidt broke the neck of the burned out cigarette in the ashtray and immediately lit a new one. I used the pause to bring in a journalistic followup question: Who do you think about, Mr. Schmidt? »Silvio Berlusconi comes to mind when one thinks of the kind of populists produced by media-democracy«, Helmut Schmidt replied – one year before Donald Trump began his race toward the White House. Clearly not having lost his ability to look into the future, Mr. Schmidt continued: »We now see newsrooms and politicians tweeting – any story and any policy in less than 140 characters. It produces superficiality, not only in the minds of the receivers, but also in the minds of those who want to talk and impress. The superficiality and negativity in the media has influenced politics. The lack of political leadership in the West will diminish its global influence. A change in the way in which the press operates, and a stronger focus of playing a more constructive role in our societies, is welcome.« One year later Helmut Schmidt died. And in 2017 I quit my job to launch The Constructive Institute with the naïve mission to change the global news culture in five years. Here is why: I am a journalist. I went into the news profession with a very young and blurry idea of wanting to do good for society: Something like telling important stories to people to help them make up their own mind. Slowly I became part of the news culture. Already on the first day at journalism school our teacher said with that voice you only get from a life of bad whisky, cigarettes and tough deadlines: »A good story is a bad story. If nobody gets mad, its advertising.« It became second nature to me. Later I got a job as a news reporter and tried do stories which would please my editors and colleagues, stories that could fit in a fast headline, generate quotes in other

The Time is Now: Rethink Journalism

media and could win me prizes. I became part of the news culture. And I loved it. But sometimes you happen to stand in front of the mirror, and then you must take the consequence of what you see: Either break the glass or shape up a little. Not that I ever told lies. But at some point, I had to ask myself: Did I still work as a journalist, editor-in-chief, and news director for the biggest news organization in my country in order to do good for society, or had my ambition in reality slowly changed into pleasing the news culture? A good story has to be a bad story. And what good did it do?

1.

Rethinking storytelling

In the giant reception area of the News Corp. headquarters next to the British London Bridge words are printed on the wall. The letters high up are so large that one might fear that the British reporters and editors from The Times, Sky News and The Sun rushing in and out on a deadline never actually make any sense of them. It’s a shame. Since the former controversial journalist Boris Johnson as the then mayor of London opened the News Building in September 2014 the writing on the wall has read: »Because the time is now to see things differently and to do things differently, to reconnect with our past in order to redefine our future. To rethink continuously the business of story telling.« Six years and a Brexit later, the message to the global media world is loud and clear: The time is now: Rethink. The lastest Digital News Report from Reuter’s Institute for the Study of Journalism at Oxford included data on news avoidance from 2019: Avoiding news has become a worldwide mega trend: 32 percent of the population never reads, listens to or watches traditional news media anymore. In UK the numbers are 35 percent – up 11 percent in 2 years. In Trump’s America the numbers rose 3 percent to 41. Asked why people avoid news, 57 percent of Americans explain that »it can have a ›negative effect on my mood‹«. 37 percent say »I can’t rely on news to be true«. Constructive news is about rethinking journalism and the role of media in the community. About hope and ways out. It’s journalism about tomorrow. It’s not an alternative to breaking news and investigative reporting – but it’s an

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add on. You cannot be constructive unless there is a well-documented important problem to be constructive about. As David Bornstein from the US-based Solution Journalism Network puts it: Journalism is a feedback mechanism to help society self-correct. For years spreading this mindset in the news world was a bit like trying to get ketchup out of a glass bottle: You keep on thumping the base of the bottle but it’s stuck in its internal stubbornness. Then all of a sudden, it all seems to splash out at once. 2019 was the year when the constructive ketchup started to flow.

2.

A story of change

In 2008, as a young news director of the Danish national television channel DR, I publicly formulated my frustrations and dreams of constructive journalism for the first time – because it had become difficult for me to serve journalists, editors and publishers with what we had always done, just a little faster, sharper, louder and with less and less people and less and less money. Over ten years later, in January 2019, there were 555 registrations from 56 countries for the annual Global Constructive Journalism Conference, hosted by the Constructive Institute. They tell a story of change: The need, the curiosity, the experiments and the results achieved by constructive journalism are growing by the day. And what seemed to be a long term naïve dream that it is possible to change the global news culture to reconnect to audiences by a more nuanced, trusted and forward looking approach to reporting now looks like the beginning of a global movement with the potential to spread like wildfire. Just listen to the editor-in-chief of the daily Information Rune Lykkeberg, who is one of the most respected intellectuals in Denmark, as he put it in a radio interview at the Danish P1 Program »People & Media«: »I laughed a lot in the beginning of the idea of constructive news. It sounded like something belonging in Putin’s Russia. But I have changed my mind. Journalism only focused on breaking down and a self-understanding of just being critical, joins the choir of grumbling people, which will end up tearing society apart.« Or read the words of the experienced editor-in-chief of The Times of London, John Witherow, who got the message after the Constructive Institute demonstrated to his British newsroom that – despite having an online site behind a

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paywall and hence no need to battle for attention – the paper still delivered to its readers a daily scary picture of a world falling apart: »We are all familiar with Kipling’s six honest serving men: the ›What‹, ›Where‹, ›When‹, ›Who‹, ›Why‹ and ›How‹. And we are all familiar with the fact that our trade has come under pressure from fake news and from an American president who derides the lying ›mainstream media‹ as untrustworthy. Constructive journalism is one way in which the trust in the mainstream press can be restored. How? By adding one more element to the mix. ›What Now?‹« In a public speech reported by the British media online site Press Gazette in June 2019 John Witerow continued: »Many of us have become immune to the relentlessly negative slant of much of our news coverage. Taking the old adage that news should be ›something that someone, somewhere wants to suppress‹, we can easily commission stories digging up dirt and crime and exposing evils. And of course, we should do this. But constructive news aims to empower the reader by spending more time on the ›What Now‹.« John Witherow explains: »So when we report the London knife crime epidemic, we spend more time explaining how Glasgow combated the equally bad problem they once had. When we cover climate change we seek to explain which green solutions work. If we have a teen suicide problem, we look at how other countries deal with the problem, and where there are hopeful remedies. Mastering the art of constructive news can improve the image of the media because readers will begin to feel we can help them improve their lives.«

3.

A New Mindset

From Norwegian public broadcasting NRK, to Swedish SVT to German NDR, Deutsche Welle and British BBC: Constructive journalism is now part of the main news strategy. In Denmark, where constructive journalism was born, most news organizations such as TV2, Børsen, Berlingske, DR, Politiken and local media like Herning Folkeblad and Midtjyllands Avis now experiment on

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a daily basis on new ways of engaging audiences through a constructive mindset. Just listen to the words of the president of the French public service station France Television Delphine Denotte in her opening keynote at one of the world’s biggest media conferences, NewsXchange in Paris in November 2019: »Constructive Journalism as invented in the Nordic countries must be the next step for public quality media.« The Danish regional media house, TV2 Fyn, is going all the way in 2020: With a new mission – »Together we improve life at Fyn« – the station wants to be the leading constructive newsroom. And at the Constructive Institute we are proud to be a midwife in the birth of a new news culture – led by the first world’s first constructive editor, Kristiana Lund, fellow from our class of 2018-19. Our class of 2017-18 had six fellows, great editors or reporters with full access to all education at Aarhus University for a year. The second class returned eight fellows as ambassadors of better journalism. The third holds 12 future constructive role models – among them one from Finland and the head of the newsroom at Australian Associated Press with the mission to spread constructive journalism Down Under. In 2020 we hope to bring on even more fellows – also from Germany, where the frustrations and dreams of better journalism is spreading like wildfire – or even help launch a German version of a constructive organization, as more and more German publishers, editors, reporters and journalism students grasp the logic: If you do what you have always done, you probably get the results you have always got. And if you don’t like the results, you might consider change.

4.

Perception is Reality

The word Lügenpresse has been brought into the public debate again in Germany, more than 80 years after Goebbels introduced it. 73 percent of all Germans said in a survey by the international content analysis company MediaTenor they do not trust traditional German news media to report the truth in covering immigration. And in Edelman Trust Barometer from late 2017 60 percent of all Germans said yes to the following four questions: Do you feel that in your society there is (1) lack of hope, (2) lack of confidence, (3) lack of trust and (4) desire for fundamental change.

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60 percent is seven percent points higher than the global average answer of 53 saying yes to all four questions. Scientists point out that when people say yes to all four, they are ready for a strong man who wants to build a wall. It’s a freeway for populism. Perception is reality – this is known to politicians and spin doctors as well as to every marketing guru in the world: People make decisions in their lives not based on facts but on what they feel are the facts. And how do we shape our perceptions of reality? Through what we see with our own eyes and who we talk to. The rest is media. More than any profession, journalism is the filter between perception and the public perception of reality. And when news media enter the digital war of attention and think their job is to be faster, louder and sharper in order to get the views, the clicks and shares – and does it with still fewer people and less money as tech giants now take 85 percent of the advertising money which used to pay for quality journalism –, then it’s the recipe for crisis. Constructive journalism is becoming a global movement to get out of this crisis. Out of the idea that journalism is a feedback mechanism to help society self-correct, more and more news people understand, that journalism has a responsibility not only to control power, but also to inspire and facilitate debates on how to solve important problems in our communities. We all share the logic that if journalism is broken, so is democracy. We all claim that reliable information ought to be a human right. We all believe that the main mission of constructive journalism is not primarily to save journalism from itself or to help a struggling media business. It is to reinstall trust in the idea that shared facts, shared knowledge and shared opinions are the pillars on which our societies balance. We all know that change is possible. And that the time is now …

5.

Journalism about tomorrow

It is easy to dismiss criticism of journalism with the fear that this criticism is just a clever way for populists and dictators to prevent critical questions from journalists and to undermine the important role of the press as the fourth power in the state. That’s why it isso important to stress that constructive journalism is NOT an alternative to investigative reporting. It’s an add on and a mindset. You

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Figure 1: Constructive journalism is neither a religion you can convert to nor a North Korean version of journalism, where you ignore problems and try to paint the sky blue.

cannot be constructive unless there is a well-documented problem or challenge to be constructive about. As the pope of investigative reporting, the American editor and journalist and now dean of the Klein College of Media and Communication at Temple University in Philadelphia David Boardman puts it: »Constructive journalism is just as important for society as investigative reporting. Constructive journalism finishes the circle of investigative reporting, asking now what and how,« Boardman stated at the 1st Global Constructive Journalism Conference at Aarhus University in the fall of 2017. In this chapter I have tried to identify three pair of glasses we journalists can put on when we filter the world.

(1) Breaking The first filter was not called »breaking news«, but just »news« when I was a young reporter. But the focus and the purpose is the same: It is about NOW and about telling people about sudden events as fast as technology allows. The

The Time is Now: Rethink Journalism

news reporter plays the role of a police car rushing to the accident, reports on the what and the when and the where and angles the story on the drama and the conflict. The more dramatic the better. That task is still important for any newsroom, but maybe we don’t have to tell all the dramatic news we can from the most remote places, just because technology gives us access to any suicide bomb and fallen tree on every place of planet Earth and can tell people everywhere not only via their TV, radio and computer, but now increasingly and repeatedly via their phone and wrist? Maybe newsrooms cannot beat twitter for speed? And maybe that’s not important for people out there. And maybe people get either overwhelmed or fearful by all these dramatic stories all the time from everywhere?

(2) Investigative The other journalistic filter for viewing the world is through a pair of investigative glasses. It’s so important for any democracy that journalism invest time and space to dig below the surface and tell stories about issues that power wants to hide from the public. But in essence investigative journalism is always about YESTERDAY. It deals with questions like »who is to blame?« and »why did it happen?«. The investigative reporter plays the role of a prosecutor – or a judge, if he doesn’t take care – and angles the story on the crook and the victim.

(3) Constructive So if most journalists filter the world with the glasses focusing solely on now and yesterday, then politics and the public debate will be about drama, conflict, crooks and victims. But where does that leave coverage of ideas, dreams, hope, politics and ideology? The truth is: It really doesn’t fit into the traditional criteria of news. That is why we have to add a third pair of glasses. For the want of a better word, I have named it constructive journalism. It’s journalism about tomorrow. When we have reported on the where, the what, the when, the who and the why, questions are introduced that none of us learned in journalism schools: Now What and How? These questions lead to answers about the future, and seek to inspire potential solutions facing all of us by angling on best practices; People, organizations and countries doing something the rest of us might learn from. »If they could do it, why can’t we«? turns out to be a very critical and constructive question to confront any person in power

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giving the routine answer on why they are not at fault and shifting blame to their opponent. Figure 2: Journalism for tomorrow.

6.

What Constructive Journalism is and what it is not

Is constructive news happy news, does it ignore problems or obscure critical viewpoints? Constructive news raises many questions and therefore requires classification. In the following I’ll try to give answers to the most important questions. Is constructive journalism positive or happy news?

No. Constructive journalism is not about reporting on positive or happy news. Positive journalism is an approach that publishes happy, light and upbeat stories, with an aim to entertain or create a positive mood among its audiences. Constructive journalism, on the contrary, focusses on issues important to society, without giving in to an excess of either negativity or positivity. When relevant, constructive journalism may report on responses to well-documented problems to start a debate on what can be done to alleviate social ills. The aim of constructive journalism is not to entertain or engage in »feel good« stories.

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Does constructive journalism ignore problems?

No, constructive journalism does not turn a blind eye to problems facing society. It will report on both problems and progress in a calm and contextualized manner so that the general public can form an accurate picture of the world they live in.

Once public awareness about a particular problem has been raised, constructive journalism may – when relevant and appropriate – spark debate about what can be done about this issue now? Who has tried to solve it? Who has done this better? The aim is not to aggravate problems or spark conflict, but to facilitate critical debate about possible solutions so that the issue can be moved forward.

Is constructive journalism objective?

Yes. In fact, constructive journalism attempts to be more objective than traditional journalism. We find that traditional news reporting is often biased on the side of negativity and cynicism, forgetting to contextualize it with relevant facts and research. This over-representation of the negative has resulted in people grossly over-estimating the negative and under-estimating whatever progress has been made. To quote investigative journalist, Carl Bernstein of the Washington Post Watergate team: »Journalism is the best obtainable version of the truth.« The aim of constructive journalism is to provide its audiences with the best obtainable version of the truth, whether positive or negative.

Is constructive journalism independent?

Yes, constructive journalism adheres to core principles of ethical journalism – independence, accuracy, objectivity, impartiality and accountability. Therefore, constructive journalism will never promote or elevate a specific individual or organization, regardless of their standing. Constructive journalism remains critical and impartial, even when reporting on solutions.

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Does constructive journalism obscure critical viewpoints?

No. Constructive journalism is rigorous and critical in its approach when it comes to reporting on both problems and progress. It is not naive or unduly cheerful and it does not look at the world through rose-colored glasses. It actively questions itself and others, seeking out critical viewpoints to ensure that the story paints a fair and accurate picture of the world. However, it holds that criticism is not the main goal, but a tool, of good journalism. Criticism does not need to equal cynicism. Is constructive journalism a replacement for other types of reporting?

No. Constructive journalism does not stand in opposition to other types of reporting. It suggests that journalists review their mindset from exclusively focusing on what is going wrong, to seeing both the good and the bad. Reporting on responses to social ills is an additional tool in a journalist’s toolbox, an add-on that can be used when a problem has been hashed over several times. It changes the focal point of the conversation from the problem itself to responses to it. Constructive journalism can take on from where investigative reporting left off. The two are inherently complementary. Is constructive journalism related to political activism in any way?

No. We believe that journalists should never buy into a certain political ideology, call citizens to action, or advocate one solution over another. Constructive journalism is not political activism. It believes in keeping a distance between journalism and politics. How does it differ from other concepts, such as citizen, civic, or peace journalism?

The main difference between constructive journalism and other types of reporting is that its overall aim is not to call citizens to action or take a stance on political views. It is an approach that aims to bring balance

The Time is Now: Rethink Journalism

back to reporting and steer journalism away from excessive sensationalism, negativity and focus on problems. It also seeks to facilitate public debate around possible solutions to important problems. Then, isn’t it simply good journalism?

Yes. In many ways, constructive journalism takes reporting back to its core values where it is balanced, fair, and non-sensational. Where it differs from traditional news reporting is that it doesn’t only cover problems, but also possible solutions to important issues facing society.

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News-WG – Nachrichten im Insta-Style Katrin Pötzsch

»Die User*innen wollen unbedingt was zu den Waldbränden in Brasilien wissen«, sagt Gesa, Channelmanagerin der News-WG und stellt ihre Kaffeetasse auf den vollen Esstisch zwischen Laptops, Post-its und Papierstapel. »Spannend ist auch, was Boris Johnson in Bezug auf den Brexit plant – das versteht da draußen gerade keiner mehr.« Es ist neun Uhr morgens und fünf Redaktionsmitglieder der News-WG beraten sich, welche Story heute für die User*innen realisiert werden soll. Die angemietete Wohnung dient als Arbeits-, Ess- und Schlafplatz der NewsWG-Mitglieder. Gearbeitet wird mit dem Laptop auf dem Boden, dem Sofa oder im Bett. Was einfach klingt, ist harte Arbeit. Rückzugsmöglichkeiten gibt es kaum. Jeder bekommt mit, was der andere tut, wenn einer länger als fünf Minuten im Bad bleibt oder sich den vierten Kaffee macht. Privatsphäre – Fehlanzeige. Das Team hat sich mittlerweile daran gewöhnt. Es ist eine richtige WG, in der darum gestritten wird, wer den schimmeligen Rest aus dem Topf kratzt und wer die Pfandflaschen wegbringt. Die beiden Hosts (zu deutsch Moderator*innen) Helene Reiner und Max Osenstätter wollen heute lieber eine Story zum Brexit realisieren. »Da haben wir auch ganz viel Input von den User*innen bekommen, sogar direkt aus England«, schildert Helene dem Team. Sie überlegen, ob sie nicht noch mit Sophie von der Tann, Ex-WG-Bewohnerin, England-Expertin und BerlinKorrespondentin, die Inhalte checken sollten: »Sophie kennt sich so gut aus, sie weiß genau, wie die Briten ticken, und kann das auch so erzählen, dass es jeder versteht«, so Helene. Und genau darum geht es – Nachrichten so zu erklären, dass es jeder versteht. Deswegen gibt es die News-WG auf Instagram, deswegen bemühen sich Helene Reiner, Max Osenstätter, Sophie von der Tann und ein kleines Team aus Redakteur*innen und Channelmanager*innen täglich um die »bes-

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Katrin Pötzsch

te« Story. Deswegen hat das Format schon viele Preise und Auszeichnungen erhalten. Das News-WG-Team produziert täglich Instagram-Posts und Storys über aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. Das eigene ChannelVersprechen besagt: »News zum Verstehen & Mitreden. Storys aus Politik, dem Drumherum & der WG«. Und das für eine junge Zielgruppe zwischen 19 und 29 Jahren.

1.

Das Netz bietet so viel

Die Digitalisierung und die Verwendung von sozialen Netzwerken beeinflussen nicht nur den Journalismus allgemein, sie beeinflussen in höchstem Maße vor allem den Nachrichtenjournalismus. Während sich die Älteren immer noch eher über das Medium Fernsehen informieren, ist dieser Trend für lineare Angebote im Fernsehen bei der jüngeren Zielgruppe, den 18bis 24-Jährigen, deutlich rückgängig, so der aktuelle Reuters Digital News Report Deutschland 2019.1 Alle klassischen Medienunternehmen, so auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, stehen vor einem Dilemma: Die Jungen informieren sich tagesaktuell immer weniger über klassische Medien. Sie konsumieren Nachrichten in erster Linie über das Netz. Laut der ARD/ZDFOnlinestudie aus dem Jahre 2019 sind die 14- bis 29-Jährigen auch diejenigen, die sich am längsten im Netz tummeln: Sechs Stunden und eine Minute (oder 366 Minuten).2 Und der Reuters Digital News Report 2019 besagt außerdem, dass die Nutzung von sozialen Netzwerken als Quelle für Nachrichten steigt und steigt.3 Alle digitalen Anbieter, von Streamingdiensten bis Messenger- und Social-Media-Angeboten, verstärken den Kampf um Aufmerksamkeit. Diese Entwicklung setzt viele Veränderungsprozesse in den öffentlich-rechtlichen Häusern frei, auch im Bayerischen Rundfunk. Die lineare Nachtausgabe der Nachrichtenschiene Rundschau soll ins Digitale transformiert werden, um neue – jüngere – Zielgruppen zu erreichen. Versuche, aus der linearen Sendung etwas gänzlich Neues zu schaffen, waren zuvor gescheitert.

1 2 3

S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2019. ARD/ZDF-Forschungskommission: Onlinestudie 2019. S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2019.

News-WG – Nachrichten im Insta-Style

Die News-WG wurde daher Anfang 2018 gemeinsam mit den Volontär*innen in einem Design-Sprint entwickelt. Ein Design-Sprint ist ein Prozess, in dessen Verlauf Probleme analysiert, Lösungen entwickelt und Ideen mit User*innen getestet werden. Die Prototypen werden immer user*innen- und zielgruppenzentriert entwickelt, das heißt, von der Planung bis zur Umsetzung steht immer der*die Konsument*in bzw. die User*in im Mittelpunkt. Die Aufgabe, die die jungen Journalist*innen lösen sollten, lautete: »Wie können wir mit einem neuen, digitalen und gesellschaftlich relevanten Videoformat die Zielgruppe der Erstwähler*innen (18 Jahre) und der jungen Erwachsenen bis 29 Jahre mit den Themen von morgen versorgen? Und zwar so gut, dass das Format in ihrem Leben Orientierung und Einordnung im Informationsdschungel bietet.« Das strategische Ziel dahinter war: Reichweitensteigerung in einer relevanten Zielgruppe. Einer Zielgruppe, die der Bayerische Rundfunk sonst nur mit der Radiowelle Bayern3 oder dem jungen Angebot von PULS erreicht, aber nicht mit Nachrichtenangeboten. So die Erwartungen. Die Befürchtung war, dass die Umsetzung in der Realität zu teuer, zu ressourcenintensiv sein könnte. Eine weitere Gefahr bestand darin, dass die Inhalte nicht genutzt würden und an den Bedürfnissen der Zielgruppe vorbeigingen. Für die Erarbeitung einer Lösung zu der Fragestellung und zur Erstellung von Prototoypen hatte das Team ca. zwei Wochen Zeit. Viele User*innen wurden interviewt und viele Ergebnisse aus Gesprächen mit der Zielgruppe gesammelt. Ein Ergebnis stach hervor: Die meisten Befragten in der angepeilten Altersklasse bekamen bereits ihre Nachrichten aufs Handy, entweder per Push-Funktion oder per Abfrage durch eine Nachrichten-App. Was aber viele bemängelten, waren die fehlenden Hintergrundinformationen. Auch, dass die Nachrichten unverständlich seien, es an Einordnung fehle und klassische Nachrichtensendungen sowie Berichterstatter*innen meist viel Wissen voraussetzen würden. Daraufhin entstanden über zwei Wochen hinweg viele Ideen. Die Ungewöhnlichste, die Neueste und Gewagteste: Die News-WG – Nachrichten aus einer Wohnung heraus. Personalisiert und authentisch durch Hosts (Moderator*innen) aus der Zielgruppe, ähnlich wie Influencer*innen auf Youtube, die ebenfalls aus ihrer Lebenswelt heraus Informationen verbreiten – manchmal besser – manchmal schlechter – aber immer nah dran an der Zielgruppe und somit für diese glaubwürdig. Und so wurde die News-WG genau an diesem Punkt weiterentwickelt – mit der Fragestellung: Wie kann man jungen User*innen Hintergrundwissen

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vermitteln, ohne von oben herab zu berichten? Wie kann man Nachrichten so konsumierbar machen, dass man in der Flut der täglichen Informationsangebote auf den mobilen Endgeräten überhaupt auffällt? Und wenn man weiß, wie – auf welcher Plattform sollte man dies tun? Instagram war zu dieser Zeit die am schnellsten wachsende Social-MediaPlattform und hatte Facebook bei den Jungen schon längst überholt, das belegt auch die aktuellste ARD/ZDF-Onlinestudie.4 Instagram galt als erholsam – eine Genuss-Plattform für Lifestyle, Food und Promi-News. Die Nutzer*innen: eher weiblich als männlich. Etliche Nachrichtenkanäle versuchten bereits, ihre Klientel auch hier zu erreichen. Die New York Times, der Guardian und viele andere posteten Bilder mit Textunterschriften oder TV-Videos. Nachrichten in Form einer Instagram-Story – hochkant, mit Texteinblendungen, Verlinkungen, Abstimmungstools und reportagig – gab es eher selten. Die ursprüngliche News-WG-Idee bestand zunächst aus drei InstagramKanälen. Drei Journalist*innen, die jeweils für ein Themenfeld (Nachhaltigkeit, Politik, Livestyle) stehen sollten. Gemeinsam wollte man noch einen vierten – den News-WG-Kanal – bespielen. Kleine Story-Prototypen wurden produziert, und die ließen zumindest erahnen, dass Nachrichten im Insta-Style möglich waren. Eine weitere Workshopwoche wurde anberaumt, Expert*innen sollten Input geben. Die Medienforschung bekam den Auftrag, die Stories der drei Hosts (Moderator*innen) auf Zielgruppentauglichkeit und Glaubwürdigkeit zu testen. Die Einschätzungen der externen Expert*innen waren gemischt: »Wie? Nachrichten auf Instagram – sehr schwieriges Terrain! Wollt ihr wirklich bei null anfangen? Warum nehmt ihr nicht Reporter/Moderatoren, die bereits Reichweite auf Instagram haben? Das ist echt mutig! Instagram-Kanäle neu aufzubauen ist schon schwierig genug, aber dann auch noch mit Nachrichten?« Trotz einiger geäußerter Bedenken fielen die Ergebnisse der Medienforschung positiv aus, die Hosts kamen in der getesteten Zielgruppe gut an. Das Format und die Zielgruppendefinition wurden nochmals auf Herz und Nieren geprüft, es wurde gestritten und diskutiert. Die Ergebnisse des Workshops: Die WG musste real sein. Ein Fake auf einem Instagram-Kanal ist unglaubwürdig. Realistisch erschien nur ein Kanal statt dreien, denn die Annahme war: Mehrere Kanäle gleichzeitig hätten keine Chance, organisch von

4

N. Beisch/W. Koch/C. Schäfer: ARD/ZDF-Onlinestudie 2019, S. 383-384.

News-WG – Nachrichten im Insta-Style

null auf eine realistische Größe anzuwachsen. Drei Moderator*innen bzw. drei Volontär*innen würden die Stories produzieren.

1.1

Die Digitalisierung erfordert von Führungskräften ein Umdenken

Die Ergebnisse wurden den Entscheider*innen im Bayerischen Rundfunk vorgelegt und anschließend zwei Testwochen anberaumt. Der immer digitaler werdende Journalismus fordert dabei auch von Führungskräften in öffentlich-rechtlichen Häusern langfristig ein Umdenken. Sie müssen lernen, wie Investor*innen von Start-ups zu denken und zu handeln: Das heißt, sie müssen risikofreudiger werden, dürfen Scheitern nicht als Misserfolg werten und müssen flexibel auf Veränderungen in Projekten reagieren. Die Entwicklung des Projektes »News-WG« ähnelt der von Lean-Startups in der freien Wirtschaft, die nach folgendem Muster vorgehen: Sie untersuchen, was die Nutzer*innen brauchen, sie bauen einen Prototyp – sie testen – sie verbessern oder verwerfen. Wer so vorgeht, der muss scheitern können und dürfen. Ein Vorgehen, das man für das öffentlich-rechtliche System fast als Paradigmenwechsel bezeichnen kann.

1.2

Die Ziele

Die Entscheidungsträger*innen im Bayerischen Rundfunk handelten wie Investor*innen bei einem Start-up: Sie vertrauten und wussten ob der Möglichkeit des Scheiterns. Im September 2018 mietete der Bayerische Rundfunk eine eigene Wohnung an, in der die Hosts arbeiten und leben konnten. Die Zielvorgabe bzw. die Benchmarks lauteten: Bis März 2019 sollte der Kanal ca. 10.000-15.000 User*innen vorweisen. Er erreichte 30.000 Follower*innen und das Projekt wurde fortgesetzt.

2.

Das Storytelling oder die Personalisierung der Nachrichten

Sophie von der Tann und Helene Reiner ziehen im September 2019 in die Wohnung und beginnen mit redaktioneller Unterstützung und einer Social-

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Media-Managerin, die ersten Storys zu produzieren und den Feed5 mit Fotos aus dem WG-Leben zu füttern.

Abb. 1: Helene Reiner (vorn) und Sophie von der Tann (im Hintergrund) in der News-WG. (Bild: BR/Max Hofstetter)

Seit 2016 bietet Instagram die Funktion »Stories« an. Damit können User*innen kleine Videos produzieren, die sie mit Stickern, Umfragen, Geo-Lokalisation und Filtern versehen können. Nach 24 Stunden werden die Stories gelöscht oder man speichert sie in den Highlights. Die einzelnen Videoclips sind auf eine maximale Länge von 15 Sekunden limitiert. Die News-WG experimentiert von Anfang an mit der Personifizierung der Nachrichten. Helene Reiner und Sophie von der Tann nutzen das Medium für die politische Berichterstattung genauso wie im Privaten: Direkte Ansprache in die Kamera, kein Ablesen, hochkant, im Selfie-Style, in Bewegung, mit Emoticons, Text, Frage- und Abstimmungstools. Somit unterscheidet sich diese Form der Berichterstattung zu hundert Prozent von der klassischen TVNachrichtenberichterstattung in einem Studio, oder von den Nachrichtenseiten der klassischen Medien auf Facebook.

5

Im Feed werden die Fotos gespeichert und sind für die Abonnent*innen des Kanals immer sichtbar.

News-WG – Nachrichten im Insta-Style

Die Hosts greifen Themen auf wie: Merkels Rückzug aus der Politik, Ferkelkastration, Schufa-Auskunft, Terminservice und Versorgungsgesetz und setzen sie Instagram-konform um. Instagram-konform durch lockere, manchmal auch spielerische Präsentation der Themen aus der WG, sei es am Kühlschrank oder am Küchentisch, vor allem aber über die direkte persönliche Ansprache »Habt ihr schon davon gehört …? Wusstet ihr schon, dass …? Was haltet ihr von …?«. Tagesaktualität steht bei dem Nachrichtenkanal der News-WG nicht im Vordergrund, sondern die Einordnung, die Erklärung. Alle Fachbegriffe werden erläutert, es wird kein Wissen vorausgesetzt. Die Definition, die das Team gemeinsam diesbezüglich erarbeitet hat, lautet: Es ist dann ein Thema für die News-WG, wenn es einen politischen Hintergrund gibt, eine politische Entscheidung ansteht oder gesellschaftliche Gruppen eine politische Entscheidung fordern. Diese Grundregel wird kombiniert mit Stories aus dem WG-Leben, Reportagen und besonderen Erzählgefäßen, wie die News-WG-Theatergruppe. Hier spielen die Hosts überzogen und eindeutig humorvoll schwierige politische Sachverhalte in der Wohnung nach, von der Null-Zins-Problematik der Europäischen Zentralbank bis zu Trumps Impeachment-Verfahren. Nach ein paar Monaten WG-Alltag zieht Sophie von der Tann aus der News-WG aus und wird BR-Korrespondentin in Berlin. Sie berichtet von nun an einmal die Woche für die News-WG aus Berlin und macht damit den Berliner Politikbetrieb auch für News-WG-Follower*innen nahbar. Max Osenstätter zieht in das freie Zimmer und wird der Host an Helene Reiners Seite in München. Reales WG-Leben eben.

3.

Der Wert der »Meaningful Interactions«

Die News-WG lebt nicht nur von den produzierten Stories, sondern vor allem von der Interaktion mit den User*innen, die wiederum Themen anbieten, kritisieren, loben, und Feedback geben. Die persönliche Ansprache der Hosts, der transparente Umgang mit Recherchen und Ergebnissen fördern die Identifikation der Zielgruppe mit den Moderator*innen. Ein eklatanter Unterschied zur klassischen Nachrichtenberichterstattung: Die News-WGHosts geben zu, wenn sie etwas nicht wissen, machen ihre Arbeit öffentlich. Keine Moderatorin und kein Moderator einer klassischen Nachrichtensendung würde mit dem Satz beginnen: »Habt ihr schon mal von dem Thema XY

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Abb. 2: Max Osenstätter, Sophie von der Tann und Helene Reiner (v.l.n.r.) sind die Gesichter des BR-Nachrichtenformats »News-WG« auf Instagram. (Bild: BR/Max Hofstetter)

gehört? Ich nicht, daher habe ich das jetzt mal für euch recherchiert und das herausgefunden.« Die Hosts der News-WG erläutern ehrlich, wie sie auf Themen kommen. Sie geben auch offen zu, dass sie sich erst einlesen müssen, dass sie Informationen sammeln und recherchieren müssen, um ein Thema zu durchdringen. Diese Transparenz erleichtert die Kontaktaufnahme für die User*innen. Die Hemmschwelle sinkt, man fragt ja einen vermeintlich Gleichaltrigen (die Hosts). Die User*innen können zum Beispiel durch direkte Kommentare unter den Feedposts ihre Meinung sagen. Sie nutzen aber viel mehr die sogenannten »Direct-Messages«, Direktnachrichten, die man privat an den abonnierten Account senden kann, ohne dass es andere sehen können. Somit agieren die User*innen in einem geschützten Raum, in dem sie nicht nur ihre Meinung ausdrücken, sondern auch viele inhaltliche Details zu den einzelnen Stories erfragen können, ohne dass sie Gefahr laufen, dass ein Troll oder Hater ihre Fragen kommentiert. Zudem nimmt die Redaktion die Fragen sehr ernst. Derzeit wird noch jede Frage beantwortet. Das Channelmanagement und die Community-Pflege ist eine Hauptaufgabe der Redaktion und bindet viel Manpower.

News-WG – Nachrichten im Insta-Style

Das News-WG-Redaktionsteam plant die Interaktionen bereits in die Konzeption ihrer Instagram-Stories und -Posts ein: Das Team erstellt Storyboards und überlegt gleich mit, welche technischen Interaktionen (beispielsweise Interaktionsregler) oder sozialen Interaktionen möglich wären. Die Community-Manager*in überprüft das anschließend noch mal auf Verständlichkeit und Channelkonformität. Die News-WG Stories beinhalten viele Fragetools, die dazu anhalten, seine eigene Meinung zu sagen: Die Hosts fragen: »Was haltet ihr davon? Schreibt es uns hier …«. Die Aussagen der User*innen wiederum werden dann in die Stories eingebaut, natürlich anonym, so dass die Betrachter sehen können, welche Meinung die anderen haben. Auf diese Weise bekommt die Redaktion viele Themenvorschläge. Von Kirchenasyl bis hin zum Jemen-Konflikt. Die Frage: »Könnt ihr mal über den brasilianischen Präsidenten Bolsonaro berichten«, kam kurz nach dessen Amtsantritt, als die Redaktion das Thema überhaupt noch nicht angedacht hatte. Das Thema »Gesundheitsminister Spahn und das Terminservice- und Versorgungsgesetz für psychisch Erkrankte« kam ebenfalls aus der Community. Dabei nahmen auch betroffene User*innen direkt in den Stories Stellung. Die Community hilft umgekehrt auch bei der Protagonist*innen-Suche. Dies war zum Beispiel bei den Themen zu »Lehrermangel«, »Hebammengesetz« und »Kirchenasyl« der Fall. Diese Art der Miteinbeziehung ist eine neue Form des »Journalismus auf Augenhöhe«. Er nimmt seine Community mit all seinen Wünschen, Bedürfnissen und Meinungen ernst. Vertreter*innen von großen Plattformen (Youtube/Google/Facebook/Instagram) werten die Interaktionen in Form von sogenannten »Meaningful Interactions« als höhere Währung als die Zahl an Abonnent*innen oder Likes. (Facebook überlegt derzeit, Stand September 2019, die Likes gänzlich abzuschaffen.) Daher gilt die News-WG für Instagram mit ihren rund 73.000 Follower*innen (Stand März 2020) als Micro-Influencer, weil die Währung nicht die Zahl der Abonnent*innen ist, sondern die aktive Beteiligung der Community. Neben Themenvorschlägen erhält die News-WG auch Feedback in Form von Lob und Kritik. Das Feedback kann sein von: »Ihr leistet so tolle journalistische Arbeit; danke, dass ihr immer so schwierige Themen aufgreift; meine kleine Cousine bespricht im Politik-Unterricht immer aktuelle Themen. Sie schaut eure Beiträge und ist nun von einer Vier auf eine Eins gerutscht.« Viele User*innen schreiben, dass sie als einziges Nachrichtenmedium die NewsWG nutzen. Eine große Verantwortung für die Redaktion. Daher werden alle

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Vorschläge und Anregungen ernst genommen: »Bitte schreibt nicht von Indianern (Story Brasilien) schreibt von indigenen Völkern; Wie vereinbart ihr eigentlich eine Flugreise mit eurem Gewissen?; Macht ihr auch mal was zum Thema Meinungsfreiheit in Deutschland?; Ihr habt mal wieder das Gendern vergessen …«. Gendern (in unserem Fall der Gebrauch der geschlechtergerechten Sprache) ist dieser Generation, dieser Community, extrem wichtig. Anfangs hatte die Redaktion öfters vergessen, in den Textunterschriften zu gendern. Das kam nicht gut an, es hagelte Kommentare und Kritik. Seitdem wird ausnahmslos »*innen« verwendet, da das Sternchen nicht nur für Männer und Frauen, sondern auch für Menschen anderer Geschlechtsidentitäten steht. Ein Zeichen, dass man für eine jüngere Zielgruppe produziert. Diese ist überwiegend weiblich – zwischen 17 und 26 Jahren. Die Community ist höflich im Umgang und auf jeden Fall politisch interessiert.

4.

Das Vorbild für die Nachrichtenredaktion von Morgen

Jede Woche gibt es in der News-WG eine große Feedback-Sitzung, in der konstruktiv die Arbeit der Woche analysiert wird: Follower*innen-Zuwachs, Kooperationen oder Shout-Outs6 , der Top-Post und Flop-Post der Woche, die Top- und Flop-Story der Woche, die Feedbacks zu den Stories. Das User*innen-Feedback der Woche; die User*innen-Kritik der Woche. Anhand der Analytics, der Zahlenanalyse, kann man erkennen, wie hoch die Retention-Rate war, also die Verweildauer der Zuseher*innen beim Ansehen der Story. Da die Stories aus bis zu 28 Snaps (kurzen Sequenzen von 15 Sekunden) bestehen, kann man genau erkennen, wie lange sich die User*innen angesprochen fühlen. So erkennt die Redaktion auch schnell Fehler: zum Beispiel wenn viele kritisieren, die Story sei zu einseitig, zu wenig differenziert gewesen. Oder wenn viele sagen, bitte nicht nur negative Berichterstattung – bitte bietet uns auch Lösungen an. Die User*innen fordern zunehmend mehr »konstruktiven Journalismus« – also lösungsorientierten Journalismus.

6

Short-Outs sind Erwähnungen durch andere Instagrammer*innen.

News-WG – Nachrichten im Insta-Style

5.

Ohne Chef*innen geht es auch

Die News-WG arbeitet komplett eigenverantwortlich – das neue Buzzwort hierfür: agil. In einem Workshop wurden die Rollen in der Redaktion und die Verantwortlichkeiten festgelegt und daher weiß jeder in der Redaktion, was er zu tun und nicht zu tun hat. Bei Problemen wird nachjustiert. Der Vorteil: Das Team kann eigenständig handeln und agieren, ist somit motivierter und arbeitet erfolgsorientiert. Denn der Erfolg zahlt zu 100 Prozent auf das Team und den Teamspirit ein. Die Projektleitung der News-WG greift nur bei erheblichen Schwierigkeiten oder rundfunkrechtlichen Fragestellungen ein. Es gibt somit keinen CvD, keine Redaktionsleiter*in, keine langen Abnahmeschleifen. Das Team ist so organisiert, dass immer das Vier-bis-sechs-AugenPrinzip eingehalten wird. Keine Story wird veröffentlicht, ohne dass sie eine Redakteur*in und die Channelmanager*in kontrolliert hat. Feedback und Anregungen werden zeitnah über das Organisations-Tool Slack ausgetauscht. E-Mails gibt es keine. Der Vorteil: Die Kolleg*innen sind sehr schnell in der Umsetzung, der Kontrolle und in der Nachbesserung. Alle Anmerkungen werden nicht als Kritik, sondern als Verbesserungsvorschläge gewertet – gemeinsam möchte man das Produkt noch erfolgreicher machen. Diese Form der Zusammenarbeit könnte ein Beispiel dafür sein, wie wir zukünftig arbeiten. Nachrichtenredaktionen in Deutschland sollten sich die News-WG zum Vorbild nehmen. Nicht einer entscheidet, sondern das Team – und die Community hilft dabei. Nutzerbedürfnis-orientiertes Arbeiten kombiniert mit journalistischem Know-how und Unabhängigkeit – das ist das Erfolgsrezept der NewsWG. Deswegen haben die News-WG und ihr Team auch schon viele Preise gewonnen: »Die goldenen Blogger« – bester Instagram-Account 2018; AxelSpringer-Preis für Nachwuchsjournalist*innen; Besten 30 unter 30; Smart Hero Award; Prix Italia 2019 Web Factual und Special Prize of Honour of the President of the Italian Republic«. Aber der größte Preis ist, dass sich die User*innen jeden Tag bedanken, sich informiert fühlen, Politik wieder interessant finden und sich somit auch wieder für Nachrichtenberichterstattung begeistern. Die Story an diesem Tag wurde dann übrigens eine Erklärung zum Thema: Boris Johnson schickt das Parlament in eine Zwangspause und welche Folgen dies für den Brexit haben könnte. Die Interaktionsfrage an diesem Tag war: Vielleicht haben einige von Euch mitbekommen, dass Boris Johnson bei der

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Queen war? Antwortmöglichkeiten: Yes/Nee, Häh? Und: Wollt ihr noch mehr über den Brexit wissen? Die Story zum Brexit hat mittlerweile rund 50 Snaps, weil das News-WGTeam immer die aktuellen Entwicklungen des Brexits an die vorherigen Stories anhängt. Der Vorteil: Die User*innen erfahren so, wie sich die Situation in Großbritannien im letzten Jahr entwickelt hat. Mittlerweile nutzen auch zunehmend Erwachsene die News-WG, weil hier politische Zusammenhänge einfacher erklärt werden. Das Rezept für Nachrichten im digitalen Zeitalter könnte somit sein: Mehr Hintergrund, mehr Nachhaltigkeit und ein ehrlicher, paritätischer Diskurs mit den User*innen.

Literatur ARD/ZDF-Forschungskommission: Onlinestudie 2019. Siehe: www.ard-zdfonlinestudie.de/ardzdf-onlinestudie-2019/infografik/ vom 15.10.2019. Beisch, Natalie/Koch, Wolfgang/Schäfer, Carmen: »ARD/ZDF-Onlinestudie 2019. Mediale Internetnutzung und Video-on-Demand gewinnen weiter an Bedeutung«, in: Media Perspektiven 9 (2019), S. 374-388. Hölig, Sascha/Hasebrink, Uwe: Reuters Institute Digital News Report 2019. Ergebnisse für Deutschland. Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut. Arbeitspapier Nr. 47. 2019. Siehe: www.digitalnewsreport.org/survey/2019/ germany-2019/

Die Demokratieexperimente von Zeit Online, oder wie Donald Trump unseren Journalismus verändert hat Philip Faigle

Eine Redaktionssitzung vor zweieinhalb Jahren hat mein Denken über Journalismus verändert. Es war Dezember 2016, wenige Wochen nach der Wahl Donalds Trumps zum 45. Präsidenten der USA. Eine Gruppe von Redakteurinnen und Redakteuren war im Berliner Newsroom zusammengekommen, um über die Lehren der vergangenen Monate zu beraten. Nicht nur die Wahl Trumps war für viele in der Redaktion ein Schock gewesen. Auch das BrexitVotum der Briten wenige Monate zuvor hatte das Gefühl hinterlassen, das die Welt um uns in Bewegung geraten war. Als wir an jenem Dezembertag zusammenkamen, war ein Plan schon gefasst: Wir wollten ein neues Ressort gründen, nur für dieses eine Jahr der bevorstehenden Bundestagswahl im September 2017. Es sollte #D17 heißen und mein Kollege Christian Bangel und ich sollten es leiten. Ein Auftrag an uns lautete, bis zum Wahltag neue Ideen für Reportage-Serien, datenjournalistische Projekte und Fotoproduktionen zu entwickeln. Doch angesichts der politischen Lage war das nur ein Teil dessen, was wir uns schlussendlich vornahmen. Zum Start des Ressorts beschrieb Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit Online, den Arbeitsauftrag des Ressorts wie folgt: »Wir haben gelernt, dass Journalisten das Gefühl für die Hälfte eines ganzen Landes verlieren können. Dass ganze Gesellschaften verlernen können, miteinander zu reden. Dass Desinformation und Propaganda Erfolg haben können. Wir haben gelernt, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher, weil die Welt und Deutschland in Bewegung sind wie seit 1989 nicht mehr. Deshalb startet Zeit Online das neue Projekt #D17 – ein übergreifendes Ressort, für das die

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gesamte Redaktion arbeitet. Im Jahr der Bundestagswahl wollen wir darin Deutschland Deutschland erklären.«1 Es gehört zu den Aufgaben von Journalistinnen und Journalisten zu beschreiben, was in ihrem Land passiert und wie es sich verändert. Reporterinnen und Reporter machen das jeden Tag, auch bei Zeit Online. Die Frage aber, die wir uns damals stellten, lautete: Verstehen wir noch gut genug, was die deutsche Gesellschaft umtreibt? Haben wir das ganze Land im Blick oder nur den Teil, den wir von Berlin aus sehen? Wie können wir verhindern, dass wir als Redaktion im Wahljahr ähnliche Fehler begehen würden, wie jene, die erfahrene Journalistinnen und Journalisten in den USA nach der Wahl Trumps für ihre Redaktionen analysiert hatten? Einer von ihnen war Bill Keller gewesen, der frühere Chefredakteur der New York Times. Die Times, so Kellers Diagnose, habe früher viele Reporter beschäftigt, die vornehmlich über einzelne Regionen der USA berichtet hätten: über den »Rust Belt« mit seinen stillgelegten Fabriken oder den »Bible Belt« mit einem hohen Anteil an evangelikalen Christen. Diese Reporter hätten viel Zeit in den kleinen Städten und Dörfern verbracht und seien mit den Problemen der Leute vertraut gewesen. Heute hingegen, so Keller, sei die Zeitung nicht mehr nach Regionen, sondern nach Themen organisiert. Diese seien jedoch oft von den subjektiven Vorstellungen der New Yorker Redaktion geprägt. Auch hätten die Reporterinnen und Reporter früher öfter auf ihr Gefühl vertraut, wenn es um Veränderungen im Land gegangen sei. Heute verließen sie sich eher auf Daten und Umfragen. Auf diese Weise hatte die Times, die sich bis heute zu Gute hält, das Land besser als andere Medien zu analysieren, die Verbindung zu einem Großteil der Menschen verloren.2 Während der Redaktionssitzung für unser neues Ressort beschäftigten wir uns mit den Problemen, die wir in den USA beobachtet hatten. Wie könnten wir verhindern, dass auch wir den Kontakt zu einer ganzen Hälfte des Landes verlieren? Und: Wie könnten wir jene Menschen stärker in den Fokus unserer Berichterstattung nehmen, die außerhalb unserer Berliner Blase leben? Der Sieg Donald Trumps war zudem eine Niederlage für Amerikas Demoskopen gewesen. Obwohl sie eine Vielzahl an Daten ausgewertet hatten, hatten sie am Ende falsch gelegen. Wie sollten wir daher vor der Bundestagswahl in Deutschland mit Umfragen umgehen? Sollten wir ganz auf die 1 2

J. Wegner: Warum wir #D17 starten. N. Ahr u.a.: Donald Trump: Das Zerreißen der Welt.

Die Demokratieexperimente von Zeit Online

Veröffentlichung verzichten? Und wenn Ja: Was könnte an deren Stelle treten? Wir dachten auch darüber nach, welchen Beitrag wir als Redaktion leisten könnten, um ein Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern. Wie könnten wir dem Problem von sogenannten Filterblasen und Echokammern begegnen? Psychologische Studien zeigen, dass wir Informationen, die nicht in unser Überzeugungssystem passen, ignorieren oder für unplausibel halten. Gefährlich wird der Effekt, wenn er dazu führt, dass sich unsere Wahrnehmung immer weiter verengt. Wenn wir in unserem Wohnviertel oder auf Facebook nur noch mit Gleichgesinnten sprechen, kann es passieren, dass wir uns einkapseln und den Kontakt zu Menschen mit anderen Meinungen verlieren. Am Ende können wir in eine Situation geraten, in der uns Menschen vom anderen Ende des politischen Spektrums wie Aliens vorkommen, deren Ansichten nicht mehr zu begreifen sind. In den USA und in Großbritannien lässt sich seit Langem beobachten, wohin ein politisches System steuern kann, in dem sich zwei politische Lager immer unversöhnlicher gegenüberstehen. Wie ließe sich verhindern, dass in Deutschland Ähnliches geschieht? Und welche Rolle könnten wir als digitales Medium dabei spielen? Die Liste an Ideen, die schließlich während der Sitzung an jenem Dezembertag entstand, ist bis heute auf meinem Smartphone dokumentiert. Sie ist mehrere Seiten lang. Viele der Ideen waren am Anfang noch roh, manche schliefen gleich wieder ein oder gingen schief. Andere aber funktionierten so gut, dass wir uns selbst oft verwundert fragten, warum. Rückblickend war die Sitzung vielleicht eine der produktivsten meines bisherigen Journalistenlebens. Die Weltlage hatte uns inspiriert, unsere Arbeit noch einmal ganz neu zu denken. Wer weiß, ob wir das ohne Donald Trump getan hätten.

1.

Das Ziel: ein empathischer Lokaljournalismus

Wie die meisten Redaktionen der Welt verfügt Zeit Online nicht über Ressourcen im Überfluss. Im Berliner Newsroom arbeiten rund 85 Journalistinnen und Journalisten, keine 800. Hinzu kommen rund 20 Entwicklerinnen und Entwickler. Zeit Online ist zwar seit einigen Jahren profitabel, millionenschwere Projektbudgets gibt es dennoch eher nicht. Die Redaktion kompensiert das im Alltag mit einem hohen Maß an Einfallsreichtum und Selbstorganisation. Dazu gehört, dass sich der Newsroom seit mehreren Jahren mit dem Kommunikationstool Slack organisiert. Tut sich ein neues Thema auf, fin-

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den sich schnell – erst auf Slack, dann in einem Konferenzraum – Teams aus verschiedenen Ressorts zusammen, um über die Umsetzung zu diskutieren. Wir nennen das Format der spontanen Sitzungen Themeninsel, kurz: Tinsel. Wir nutzen es nicht nur für zeitlose Themen, sondern auch in Nachrichtenlagen. Unsere Entwicklerinnen und Entwickler sitzen zudem nicht abseits der Redaktion, sondern mit den Redakteuren und Redakteurinnen im Berliner Newsroom. Letzteres ist eine der Errungenschaften, die in diesem Text noch eine Rolle spielen wird. Eines der ersten Projekte, welches wir für #D17 angingen, hatte zunächst keinen Namen, sondern nur eine gedankliche Stoßrichtung. Wir wollten – die Worte Bill Kellers im Ohr – unbedingt unsere Berichterstattung über die ländlichen Regionen ausbauen. Vor allem aber wollten wir dabei nicht alte Fehler wiederholen. Reporterinnen und Reporter fahren regelmäßig aus Großstädten in kleine Orte, um von dort zu berichten. Was wir vermeiden wollten, war ein Ton der Überheblichkeit, der sich in so manchen Text von Kolleginnen und Kollegen geschlichen hatte. Manchmal lasen sich diese Lokal-Reportagen so, als sei die Reporterin mit einem Ufo auf einem fremden Planeten gelandet, um die Bewohnerinnen und Bewohner kleiner 20.000-EinwohnerGemeinden mit dem Blick eines Xenoethnologen zu betrachten. Die letzte Formulierung stammt nicht von mir, sondern von unserem Chefredakteur Jochen Wegner, und ich finde sie recht treffend. Das sollte uns nicht passieren. Unser Ziel war es, einen anderen, empathischeren Blick auf das Leben in kleinen Gemeinden zu werfen, wo – so steht es in der Statistik – die Mehrheit der Deutschen lebt (rund 70 Prozent wohnen in Orten mit weniger als 100.000 Einwohnern). Wir riefen deshalb gleich zwei Lokaljournalismus-Projekte ins Leben. Sie hießen »Überland« und »Heimatreporter«. Beide Ideen waren im Kern simpel. Für »Überland« griffen wir zum Telefonhörer und riefen Lokalreporterinnen und -reporter an, die für regionale Blätter schrieben und von denen wir wussten, dass sie zu den talentiertesten Lokalreportern des Landes zählen. Sie alle fragten wir, ob sie Lust hätten, für uns zu arbeiten. Zu unserem Glück hatten binnen kürzester Zeit sieben Kolleginnen und Kollegen aus allen Teilen Deutschlands zugesagt. Was uns vorschwebte, war eine Art Reporternetzwerk, das uns nicht nur Geschichten liefern sollte, die fernab der Großstädte spielten. Wir hofften auch darauf, dass über die Reporter Themen zu uns finden würden, an die wir noch nicht mal im Ansatz gedacht hatten. Für unsere Nachrichtenredaktion sollten die Reporterinnen und Reporter zudem

Die Demokratieexperimente von Zeit Online

Abb. 1: Alexa Webert auf dem Weg zu ihrer Bankfiliale in Habichsthal, die bald für immer schließt. (Bild: N. Armer für Zeit Online)

so etwas sein wie ein Frühwarnsystem: Wenn ein Thema in den ländlichen Gebieten groß wird, wollten wir früher davon erfahren als andere. In der ersten Themensitzung saßen wir mit Sophie Rohrmeier, einer jungen Reporterin, die für uns aus Bayern berichten sollte, in einem Café in der Nähe des Potsdamer Platzes. Sophie las die Themen vor, die sie für die wichtigsten Themen der bayerischen Landbevölkerung hielt. Ganz oben stand eine Reportage über den Spessart. Die Geschichte handelte davon, dass die bayerische Landesregierung einen kleinen Teil des Spessarts zu einem Nationalpark umwidmen wollte. Dagegen gab es heftige Proteste der Bewohnerinnen und Bewohner in den anliegenden fränkischen Gemeinden. Der Streit sei so grundsätzlich, erzählte Sophie, dass sich zwei verfeindete Lager gebildet hätten. Das Thema bestimme derzeit die Regionalteile in Bayern. Ich war skeptisch. Wer würde eine Geschichte über ein kleines Waldstück lesen wollen, das in einen Nationalpark verwandelt werden soll? Und was könnte an einem Nationalpark überhaupt problematisch sein? Die Reporterin kämpfte dafür, dass die Geschichte eine unserer ersten Überland-Themen aus Bayern wurde – und sie hatte recht damit. Die Reportage, die wir schließlich veröffentlichten, war ein packendes Stück über das Verhältnis der Franken zum Spessart. In dem Artikel erzählte ein Familienvater, wie er schon

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als Kind mit seinem Vater das Waldstück hinter seinem Haus erkundet habe. Heute gehe er dort mit seinem Sohn spazieren, wann immer er wolle, manchmal campierten sie auch über Nacht. Der Mann erzählte, er habe Angst, dass mit dem Nationalpark ein Schild hinter seinem Haus komme, auf dem stehe: »Betreten verboten«.3 Nach der Lektüre des Artikels verstand man den Zorn der Franken etwas besser. Der Text gehörte zu den meistgelesenen Geschichten der Woche auf unserer Website, noch weit vor Geschichten über Donald Trump oder den türkischen Präsidenten Erdogan. Im Laufe der nächsten Monate veröffentlichten wir Dutzende Geschichten aus »Überland«. Mal ging es um ein Schwimmbad, dessen Betrieb eine Kommune an den Rand des Bankrotts gebracht hatte.4 Ein andermal berichtete ein Reporter von der Privatisierung eines Flusses im Wendland.5 Der Text über einen einsamen Mann auf dem Land in Sachsen, der keine Frau findet, gehörte zu den meistgelesenen Geschichten auf Zeit Online.6 Offenbar hatten wir mit »Überland« einen Nerv getroffen. Das zweite Projekt, das sich den ländlichen Regionen widmete, hieß »Heimatreporter«. Auch hier war die Idee einfach: Redakteure und Redakteurinnen sollten in die Orte fahren, in denen sie aufgewachsen waren, die sie gut kannten und für die sie eine besondere Empathie hatten. Mit der Konstruktion wollten wir nicht nur vermeiden, dass Hauptstadtjournalisten in ihnen völlig fremden Orten landeten, in denen sie kurz auftauchen, um dann direkt wieder zu verschwinden. Wir wollten auch dem Nachteil vieler Lokalreporterinnen und -reporter aus dem Weg gehen, die täglich über ihren Ort schreiben: Sie müssen auch nach einer Reportage weiterhin mit der Bürgermeisterin, dem Stadtrat oder der Lokalpolitikerin auskommen – und sind deshalb mitunter versucht, Kritik dosiert einzusetzen. Auch die Geschichten unserer Heimatreporter zählten zu unserer Überraschung zu den meistgelesenen Geschichten. Selbst dann, wenn sie von scheinbar kleinen Dramen handelten, wie der Spaltung eines örtlichen Fußballvereins im kleinen hessischen Ort Laufdorf.7 Dass die Geschichten so gut liefen, lag auch an den Kolleginnen und Kollegen an unserem Newsdesk, dem Herzstück der Redaktion. Unsere Dirigenten – so heißen bei Zeit Online jene Kolleginnen und Kollegen, die den Über3 4 5 6 7

S. Rohrmeier: Nationalpark Spessart: Der Wald und die Wut. B. Piel: Schwimmbäder: Albtraum in Aquamarin. B. Piel: Hitzacker: Wir kaufen einen Fluss. D. Reinhard: Partnerschaft: Unter Männern. O. Fritsch: Laufdorf: Buller gegen Bü.

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blick über die Nachrichtenlage und Themen haben und die Website steuern – platzierten die Überland- und Heimatreporter-Texte in den meisten Fällen ganz oben auf der Startseite. So machten wir unsere bayerischen Leser mit Problemen kleiner ostdeutscher Gemeinden bekannt, ostdeutsche Leser mit den Sorgen nordrhein-westfälischer Kommunen. Wir hatten den Lokaljournalismus noch einmal neu entdeckt und ihn einem bundesweiten Publikum zugänglich gemacht.

2.

»Deutschland spricht« – eine Dating-Plattform für Politik

Schon bald nachdem die ersten Reportagen online gegangen waren, zeigte sich, dass die spontane, kleine Struktur des #D17-Teams gut funktionierte. Aus der ganzen Redaktion meldeten sich Autorinnen und Autoren mit Ideen für Texte. Auch unser kleiner, oft etwas beengter Newsroom war mitunter von Vorteil – die Wege zwischen den Teams waren nie weit. Bei ZEIT ONLINE arbeiten neben klassischen Journalisten, die auf Politik, Wirtschaft, Sport, spezialisiert sind, auch ein Team von Expertinnen und Experten für die Visualisierung von Daten, ein Investigativ- und Datenteam sowie ein Datenwissenschaftler und eine Datenwissenschaftlerin, die sich – neben vielen anderen Dingen – auch mit Algorithmen und Programmiersprachen auskennen. Wenn im Newsroom neue Projekte entstehen, sind oft viele dieser Fachleute involviert, es werden Ideen diskutiert, geboren und verworfen. Nicht nur Journalisten denken bei Zeit Online über journalistische Projekte nach, sondern auch Programmiererinnen, Techniker, Mathematiker. Vielleicht lässt sich so auch erklären, warum im Mai ein #D17-Projekt entstand, das zu den eher ungewöhnlicheren Ideen in der Geschichte von Zeit Online zählt. »Tinder für Politik«. So steht es bis heute auf der Liste der Ideen auf meinem Smartphone. Die Idee, die sich damit verbindet, ging in etwa so: Wenn immer mehr Teile der Gesellschaft Probleme haben, ein gutes, politisches Streitgespräch zu führen, sollten wir nicht eine Plattform bauen, die diese Gespräche ermöglicht? Eine Art Dating-Plattform für Politik, die Grünen- und AfD-Wähler, Atomkraft-Befürworter und -Gegner, Euroskeptiker und Europafreunde in Eins-zu-Eins-Gespräche vermittelt? Die Idee leitete sich nicht zuletzt aus dem aktuellen Forschungsstand ab. Studien zeigen, dass der intensive Dialog mit jemandem, der nicht unserer Meinung ist, eine der wenigen Möglichkeiten ist, die Dinge noch einmal ganz neu, durch die Augen eines anderen zu sehen. Das alles schien für unsere Idee

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zu sprechen. Und doch fragten wir uns: Könnten wir als Redaktion solch ein Politik-Tinder bauen? Oder war das eine Spur zu verrückt? Wir beschlossen, es klein und vorsichtig zu versuchen. Anfang Mai 2017 veröffentlichten wir die erste Version des Projekts namens »Deutschland spricht«. Über den Auftakttext schrieben wir die Frage: »Dürfen wir Ihnen jemanden vorstellen?«

Abb. 2: Dresden, September 2018: Zwei Teilnehmer von Deutschland spricht während ihres Gesprächs. (Bild: Marcus Glahn für Zeit Online)

In den Text hatten wir ein kleines Formular eingebaut, hinter dem sich ein schlichtes Google Doc8 verbarg. Darin stellten wir fünf möglichst trennscharfe Ja-Nein-Fragen zu politischen Streithemen (etwa: »Hat Deutschland zu viele Flüchtlinge aufgenommen?« — »Geht der Westen fair mit Russland um?«). Anschließend baten wir die Leserinnen und Leser noch um ihre Mobilfunknummer, Postleitzahl und E-Mail-Adresse. In weiteren Feldern konnten die Teilnehmenden angeben, was sie beruflich machen, was sie mögen oder nicht mögen. Wenn die Anmeldung komplett war, schloss das Formular mit den Worten: »Vielen Dank. Wir melden uns hoffentlich bald mit einem Gesprächspartner oder einer Gesprächspartnerin.« Die Teilnehmerinnen und 8

Google Doc ist ein onlinebasiertes Programm von Google, das gleichzeitiges Arbeiten an demselben Textdokument ermöglicht.

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Teilnehmer baten wir noch freundlich darum, sich den Nachmittag des 18. Juni 2017 freizuhalten. An diesem Tag sollten die Gespräche stattfinden. Wir hatten Zweifel, wie viele Menschen mitmachen würden. Immerhin erforderte die Anmeldung eine große Menge Mut. Nicht nur mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der Anmeldung ihre politischen Ansichten und persönlichen Daten preisgeben. Sie ließen sich auch auf das Abenteuer ein, eine völlig fremde Person im echten Leben zu treffen, die politisch ganz anders denken würde als sie. Die Forschung lehrt, dass es kaum etwas gibt, was Menschen weniger gern tun: mit Meinungen konfrontiert werden, die dem eigenen Überzeugungssystem widersprechen, es vielleicht sogar aufbrechen. Auch aus diesem Grund konnten wir nicht ausschließen, dass sich eher wenige Menschen anmelden würden. Vielleicht 50 oder 100. Es kam anders. Nach nur einem Tag hatten sich bereits 2000 Menschen registriert, zwei Wochen später verzeichneten wir bereits mehr als 8000 Anmeldungen, am Ende waren es 12.000. Mit solch einer Resonanz hatten wir nicht gerechnet. Nun mussten wir das Flugzeug zu Ende bauen, während wir bereits abhoben. Weil wir so viele Menschen nicht von Hand vermitteln konnten, entwarf unser Datenwissenschaftler einen Algorithmus, der die besten Paare automatisch bestimmte: Zwei Menschen, die die Fragen möglichst gegensätzlich beantwortet hatten und möglichst nahe beieinander wohnten. Und weil wir so viele Teilnehmende nicht von Hand an-sms-en und -mailen konnten, um ihre Existenz zu verifizieren, fanden wir noch schnell bezahlbare Dienste, die das automatisch taten. Jede Mail, jede SMS schickten wir dennoch per Knopfdruck heraus, jedes Mal in dem Bewusstsein, dass eine falsche Botschaft den ganzen Prozess ruinieren könnte. Schließlich aber konnten wir einige Wochen vor dem Gesprächstermin an Hunderte Paare eine Mail mit der Betreffzeile verschicken: »Wir haben einen Gesprächspartner für Sie!« Nervös blieben wir trotzdem. Was, wenn keiner der Teilnehmenden auftauchen würde? Was, wenn die Gespräche zwar stattfinden, aber schrecklich verlaufen würden? Was, wenn sich ein Axtmörder zwischen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemischt hatte? Was, wenn das alles keine sonderlich gute Idee gewesen war? Die Treffen waren für den 18. Juni angesetzt, ein Sonntag. Um 15 Uhr sollte es losgehen. Wir hatten den Teilnehmern selbst überlassen, wo und wie Sie sich verabreden. Einzig ein Video mit Tipps für die gute Debatte hatten wir

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den Streitenden an die Hand gegeben.9 Und wir hatten im Voraus eine Bitte formuliert: Bitte schickt uns doch nach dem Treffen ein Selfie und ein paar Zeilen, wie es war. Gegen 17 Uhr trafen die ersten E-Mails ein. Erst waren es nur wenige, aber mit der Zeit kamen Aberhunderte. Im Anhang der Mails hingen Bilder von lächelnden Deutschland-spricht-Paaren. Einige hatten sich offenbar zum Spaziergang getroffen, andere im Biergarten, wiederum andere zum BouleSpielen. Alles schien gut gegangen zu sein. Die Nachrichten wiederum klangen ein wenig so, als hätten sich die Teilnehmenden abgesprochen. Guten Tag, wir hatten ein überraschend harmonisches Gespräch. Je differenzierter man die Fragen betrachtete, desto mehr Gemeinsamkeiten wurden deutlich. Wir lagen an manchen Stellen gar nicht so weit auseinander wie vermutet. Boule spielend unsere kontroversen Positionen ausgelotet und gemerkt, dass uns mehr verbindet als entzweit. Uns war schnell klar, dass wir mehr, viel mehr gemein hatten, als uns trennte. Offenbar hatte unsere Idee ganz gut funktioniert.

3.

Aus einem improvisierten Projekt wird echte Software

»Deutschland spricht« ist typisch für Zeit Online. Wir denken uns Dinge aus, die sich von einer großen Idee ableiten, und die wir noch nie gemacht haben. Wir beginnen sie so klein wie möglich und schauen, was passiert. Wenn die Idee groß wird, bauen wir sie aus. So geschah es auch mit unserem Tinder-für-Politik-Projekt. Nur wenige Monate nach unserem Piloten meldeten sich Redaktionen aus dem Ausland, die von »Deutschland spricht« gehört hatten. Die Kolleginnen und Kollegen fragten uns, wie sie ein ähnliches Projekt in ihrem Land aufsetzen könnten. Anfang 2018 entschlossen wir uns, mithilfe internationaler Medienpartner eine globale Plattform zu entwickeln. Sie heißt »My Country Talks« und ist eine Art Betriebssystem, das es jeder Website ermöglicht, Userinnen und User ohne großen technischen Aufwand nach dem »Deutschland spricht«-Prinzip miteinander ins Gespräch zu bringen. Gebaut wurde sie von den Programmiererinnen und Programmierern der Berliner Agentur diesdas.digital.

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R. Jaster/D. Lanius: Argumentationslehre: Zehn Regeln für die gute Debatte.

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Seither verbreitet sich die Projektidee auch international. Neben den bisher 58.000 Deutschen haben sich bereits weitere 30.000 Menschen in zehn Ländern für ein Streitgespräch mit einem Nachbarn angemeldet, dazu jüngst 16.000 Europäerinnen und Europäer aus 33 Ländern, die sich grenzüberschreitend zu »Europe Talks« trafen. Weitere nationale Aktionen sind geplant, darunter in Schweden oder Kanada. Aus der kleinen Tinder-Idee ist binnen zwei Jahren eines der wichtigsten Redaktionsprojekte geworden.

Abb. 3: Gruppenbild von »Europe Talks«: Tausende Zwiegespräche über Grenzen hinweg. (Bild: Lena Mucha, Per-Jacob Blut)

Zwischenzeitlich meldeten sich auch Wissenschaftler, die das Projekt untersuchen wollten. Verhaltensforscher des Bonner Instituts briq begleiteten »Deutschland spricht« im Jahr 2018 wissenschaftlich. In ihrer Studie10 beschreiben sie mehrere Effekte, die die Gespräche haben. So scheinen sich bei jenen Diskussionspaaren, die unsere kontroversen politischen Fragen sehr unterschiedlich beantwortet haben, die Vorurteile gegenüber Menschen auf der anderen Seite des politischen Spektrums zu verringern. Außerdem bringt das politische Eins-zu-eins-Gespräch die eigenen politischen Ansichten in Bewegung: Die Diskutanten veränderten ihre politischen Meinungen. Die Forscher fanden zudem heraus, dass die Gespräche den Glauben an ein gutes Miteinander in Deutschland und das Vertrauen in die Mitbürger10

A. Falk/L. Stötzer/S. Walter: Evaluation Deutschland spricht.

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innen und -bürger stärken. Dieser Effekt zeigte sich unabhängig von der politischen Meinung des Gegenübers – ob die Gesprächspartner nun gleicher oder unterschiedlicher politischer Ansicht waren. Die schlichte Tatsache, dass Menschen überhaupt politisch debattieren, scheint ihren Blick auf die Gesellschaft zu verändern. »Deutschland spricht« war für Zeit Online eines der größten Experimente der vergangenen Jahre. Es war aber nicht das einzige. Vor allem im Wahljahr starteten wir weitere, meist kleinere Projekte, die alle um die Frage kreisten, wie wir mit den Mitteln des Internets den Problemen und Fragen dieser Zeit begegnen könnten.

4.

Ein Stimmungsmessgerät für Stimmungen unserer Leserinnen und Leser

In dem Roman »Extremely Loud and Incredibly close« von Jonathan Safran Foer entwickelt die hochbegabte Hauptfigur, der neunjährige Oskar Schell, die Idee eines Tränenauffangbeckens für New York. Unter jedem Kopfkissen der Stadt sollte es Rohre geben – so die Idee – die die Tränen zu einem zentralen Sammelbecken leiten, dessen Pegel täglich abgelesen und in den Abendnachrichten vorgetragen werden könnte. Eine Art Stimmungsbarometer für die Stadt und ein Frühwarnsystem, falls die Stadt geschlossen in Depression versinken würde. 2017 hatten wir eine Idee, die im Kern einer ähnlichen Logik folgte: Wie wäre es, wenn wir unseren Leserinnen und Lesern jeden Tag die simple Frage stellten, wie es Ihnen geht? Was würde passieren? Was würden wir jeden Tag messen können? Würde die Stimmung mit großen politischen Ereignissen schwanken, mit Attentaten, G-20-Protesten, Niederlagen in Fußballspielen? Wir beschlossen, es herauszufinden. Am 23. März 2017 ging das kleine Tool auf unserer Homepage online. Es bestand lediglich aus einer kleinen Box mit der Frage: Wie geht es Ihnen heute? Die Leserinnen und Leser konnten mit »gut« oder »schlecht« antworten und anschließend mit einem Adjektiv ihre Stimmung präzisieren. Dabei konnten sie aus einer bestehenden Liste von Adjektiven wählen oder ein gänzlich neues Wort erfinden. Unser Team, das die Kommentare verwaltet, übernahm die Aufgabe, alle Wörter, die neu hinzukamen, im Hinblick auf unsere Netiquette zu prüfen. Anschließend waren sie für alle öffentlich auf der

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Homepage sichtbar, in einem Live-Stream aus Wörtern, die die Leser in den zurückliegenden Stunden hinterlassen hatten. Mehr als 10.000 Menschen machten zu Beginn mit, jeden Tag. Heute sind es im Schnitt immerhin noch rund 3500. In den mehr als zwei Jahren »Wie geht es Ihnen heute?« haben unsere Leserinnen und Leser mehr als drei Millionen Mal ihre Stimmung kundgetan und insgesamt rund 41.000 Wörter eingegeben, davon etwa 37.000 komplett neu erfunden. Manchmal war es unglaublich, wie kreativ die meisten dabei waren. Manche Leser fühlten sich »crémantisiert«, andere »untersommert«, »netgeflixt« oder – ein Favorit der Redaktion – »weltfreundlich«. Das erstaunlichste aber war, dass sich vergleichsweise wenig an der Stimmung änderte. Egal ob in Hamburg während der G-20-Proteste die Barrikaden brannten, egal ob auf unserer Startseite Berichte über Attentate oder Kriege zu lesen waren – immer sagten im Mittel zwischen 65 und 70 Prozent der Teilnehmenden, es gehe ihnen gut. Nur einmal, am Abend der Bundestagswahl, sank die Stimmung rapide ab. Und dann noch einmal, als die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußball-WM ausschied. Ansonsten scheint die Mehrzahl unserer Leserinnen und Leser bis heute kaum etwas zu erschüttern. Man mag nun einwenden, dass der klassische journalistische Nutzen solcher Projekte eher gering ist. (Ich bin da anderer Meinung, nicht zuletzt wegen der hochinteressanten Wortsammlung, die vermutlich noch Linguisten beschäftigen wird.) Aber viele der Projekte haben gemeinsam, dass sie auch deshalb entstanden sind, weil wir als Redaktion das Verhältnis zwischen unseren Leserinnen und Lesern und uns selbst überdacht haben. Projekte wie »Deutschland spricht« gibt es auch deshalb, weil wir uns als Journalisten nicht mehr als allwissende Sender von Informationen betrachten. Unsere Leserinnen und Leser begreifen wir als Community, von der wir lernen und profitieren können. Uns selbst sehen wir immer öfter als einen freundlichen und höflichen Gastgeber, der andere einlädt, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen. Die technischen Möglichkeiten des Netzes ermöglichen uns zudem, viel stärker als früher zu experimentieren. Wir können Videos, Datenvisualisierungen, Künstliche Intelligenz, Sensoren, Sprachnachrichten von Handys und noch viel mehr nutzen, um Geschichten zu erzählen und um mit unseren Leserinnen und Lesern zu kommunizieren – ja, wir sind sogar als Redaktion in der Lage, Menschen mit unterschiedlichen Meinungen über einen Algorithmus miteinander zu verbinden. Als Journalist empfinde ich

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Abb. 4: Die Box, die auf Zeit Online die Stimmung der Leserinnen und Leser einfängt

diese neuen Möglichkeiten als Bereicherung. Der Journalismus kann viel mehr, als ich vor Jahren noch dachte.

5.

X: Ein Ressort für Schwerpunkte und journalistische Experimente

Ich leite mittlerweile bei Zeit Online ein kleines Team namens X. Wir sind nur vier Leute, zwei Reporterinnen und zwei Reporter, aber unser Auftrag ist es, sich mit anderen Ressorts zu verbrüdern und zu verschwestern, um Schwerpunkte zu den großen gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit zu

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entwerfen: Mobilität, Wohnen, Ungleichheit, der Konflikt zwischen Jung und Alt, die mühsame Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschland. Das alles sind Themen, die wir bei Zeit Online jeden Tag bearbeiten, aber oft fehlt uns im Alltag die Zeit, die Themen in der Gründlichkeit zu behandeln, die wir uns wünschen. Fast alles, was wir bei X tun, ist klassischer Journalismus: Wir fahren raus, recherchieren, schreiben Reportagen und Essays, führen Interviews. Aber bei jedem Thema fragen wir uns auch: Gibt es einen komplett neuen Zugang zu diesem Thema? Wie können uns Entwickler, Mathematikerinnen, Gamedesigner, unsere Podcast-Redaktion oder das Videoteam dabei helfen?

Abb. 5: Die Stimmen der Jugend: 123 Audio-Nachrichten von jungen Leuten, die uns per Whatsapp erreicht haben.

Als wir uns dem Generationenkonflikt zwischen Jung und Alt widmeten, wollten wir zum Beispiel nicht noch ein weiteres Porträt über die »junge Generation« verfassen. Wenn es um den Blick von außen ging, schien uns alles gesagt. Wir besorgten uns also ein Redaktionshandy, setzten einen Aufruf auf, in dem wir junge Menschen unter 25 baten, uns eine spontane WhatsappNachricht zu schicken. Das Thema ließen wir offen, die jungen Leute sollten vor allem sagen, was sie gerade umtreibt, was sie wütend macht oder hoffnungsvoll. Mehr als 100 Sprachnachrichten erreichten uns. Anschließend baute unser Datenvisualisierungs-Team einen Player für die Homepage, der es ermöglichte, jede Aufnahme einzeln zu präsentieren und hörbar zu machen. Wir nannten das Projekt »Die Stimmen der Jugend«.

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Als wir uns dem Thema Mobilität widmeten, schien es uns angesichts der großen Verkehrsdebatten ratsam zu sein, eher klein und im Mobilitätsalltag der Menschen zu beginnen. Wir baten fünf sehr unterschiedliche Menschen, eine Woche lang jede ihrer Bewegungen mit einer App aufzuzeichnen. Anschließend wertete unser Datenteam die Routen aus, berechnete den Radius, die Dauer des Unterwegseins, die Kilometerzahl, die die Personen zurückgelegt hatten. Außerdem warfen wir die Routen auf eine Karte und interviewten die Teilnehmenden zu ihrem Mobilitätsverhalten. So entstand ein ausgesprochen detailliertes Porträt deutscher Mobilitätsprobleme. Es zeigte sich, dass die Verkehrswende jeden Tag an der Wirklichkeit scheitert, manchmal an erstaunlich kleinen Details. Was haben wir in den zweieinhalb Jahren nach jener Sitzung im Dezember 2016 gelernt? Vielleicht dies: Gerade in Zeiten politischer Umbrüche kann es für uns Journalistinnen und Journalisten hilfreich sein, die eigenen Routinen zu überdenken. Und: Veränderungen brauchen nicht immer große Umbauten im Organigramm. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, mithilfe kleiner Einheiten neue Ideen im Newsroom umzusetzen – Teams aus zwei, drei, vier Leuten, die sich mit vielen Abteilungen vernetzen und die Zusammenarbeit initiieren. Viele der #D17-Projekte haben zudem bis heute unseren Blick geschärft. Unser Newsroom hat seither ein größeres Interesse für die Geschichten entwickelt, die außerhalb der Großstädte spielen. Erst neulich fiel bei einer Diskussion über die Mobilitätswende der Satz: »Vergesst nicht schon wieder die Leute auf dem Land.« Wenn eine Nachrichtenredaktion ihre blinden Flecken einmal entdeckt hat, vergisst sie sie nicht mehr leicht. Und zuletzt: Die Frage nach dem Sinn und Zweck unseres Schaffens muss nicht in innerer Zermarterung enden, sondern kann – im Gegenteil – zu Projekten führen, die der Gesellschaft helfen, mit sich im Gespräch zu bleiben.

Literatur Ahr, Nadine/Berbner, Bastian/Coen, Amrai/Henk, Malte/Klingst, Martin/Kohlenberg, Kerstin/Stelzer, Tanja/Uchatius, Wolfgang: »Donald Trump: Das Zerreißen der Welt«, in: DIE ZEIT, siehe: https://www.zeit.de/2016/48/donald-trump-usa-elite-afd-deutschlandpopulismus vom 17.11.2016.

Die Demokratieexperimente von Zeit Online

Falk, Armin/Stötzer, Lasse/Walter, Sven: Evaluation Deutschland spricht. briq-Report 2019. Siehe: https://news.briq-institute.org/de/2019/08/14/ deutschland-spricht/ Fritsch, Oliver: »Laufdorf. Buller gegen Bü«, in: Zeit Online, siehe: https://www.zeit.de/sport/2017-03/laufdorf-hessen-fussballvereineheimatreporter-d17 vom 15.03.2017. Jaster, Romy/Lanius, David: »Argumentationslehre: Zehn Regeln für die gute Debatte«, in: Zeit Online, siehe: https://www.zeit.de/gesellschaft/201705/argumentationsforschung-politik-debatte-10-regeln vom 22.05.2017. Piel, Benjamin: »Hitzacker: Wir kaufen einen Fluss«, in: Zeit Online, siehe: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-03/hitzackerniedersachsen-jeetzel-fluss-privatisierung-niedersachsen-ueberland-d17 vom 14.03.2017. Piel, Benjamin: »Schwimmbäder: Albtraum in Aquamarin«, in Zeit Online: siehe https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-05/schwimmbaederwendlandtherme-gartow-kommunen-infrastrukturprojekt-ueberlandd17 vom 02.05.2017. Reinhard, Doreen: »Partnerschaft: Unter Männern«, in: Zeit Online, siehe: https://www.zeit.de/gesellschaft/2017-03/single-land-mittdreissigermann-kontaktanzeige-frauensuche-ueberland-d17 vom 08.03.2017. Rohrmeier, Sophie: »Nationalpark Spessart: Der Wald und die Wut«, in: Zeit Online, siehe: https://www.zeit.de/politik/deutschland/201703/nationalpark-spessart-proteste-buerger-umweltschutz-ueberlandd17 vom 17.03.2017. Wegner, Jochen: »Warum wir #D17 starten«, in: Zeit Online, siehe: https:// blog.zeit.de/fragen/2017/02/08/warum-wir-d17-starten/ vom 08.02.2017.

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funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF Mit Audience Engagement und Distribution via Social Media zu Relevanz in der Zielgruppe Viola Granow

1.

Einleitung

Am 1. Oktober 2016 startete funk, das Content-Netzwerk von ARD und ZDF, mit dem Auftrag, 14- bis 29-Jährige mit öffentlich-rechtlichen Inhalten im Internet zu erreichen. Die Grundlage dafür bildet § 11g des Rundfunkstaatsvertrags (RStV). Das öffentlich-rechtliche Gemeinschaftsprojekt wird zu zwei Dritteln von der ARD und zu einem Drittel vom ZDF finanziert. Die Federführung für das Content-Netzwerk obliegt dem Südwestrundfunk (SWR). Mithilfe informierender, Orientierung bietender und unterhaltender Inhalte ist es die Aufgabe des Online-Only-Angebots, die Lebenswelt und Interessen der Zielgruppe abzubilden und dabei die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse junger Menschen zu befriedigen. Teil des Angebots soll ebenso eine zielgruppengerechte Art der Interaktion sein, die – über die Videoinhalte hinausgehend – zur politischen Meinungsbildung anregt.1 Mit inzwischen über 70, mindestens einmal wöchentlich publizierenden Formaten bietet funk ein breites Portfolio, das sich an die verschiedensten Teilzielgruppen der 14- bis 29-Jährigen richtet. funk spielt seine Inhalte als dezentrales Netzwerk auf der eigenen Plattform funk.net und über Drittplattformen wie Youtube, Facebook, Instagram, Snapchat oder TikTok aus. Im Folgenden werden verschiedene Aspekte der Arbeit des OnlineOnly-Angebots funk dargestellt. Hierfür wird zunächst das Mediennut1

Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag – RStV) vom 31. August 1991 in der Fassung des Zweiundzwanzigsten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Zweiundzwanzigster Rundfunkänderungsstaatsvertrag), in Kraft seit 1. Mai 2019, § 11g.

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zungsverhalten der jungen Generation beleuchtet, um im Anschluss die Distributions- und Plattformstrategie, den Einbezug der Zielgruppe in die Inhalte, die Steuerung des Formatportfolios sowie die Rolle aktueller Berichterstattung bei funk zu thematisieren. In einem abschließenden Fazit wird ein Ausblick auf die weitere Arbeit gegeben.

2.

Mediennutzung: Wo 14- bis 29-Jährige zu erreichen sind

Wenn man Menschen unter 30 Jahren erreichen möchte, geht das insbesondere über einen Weg: das Internet. Wie die ARD/ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2019 zeigt, sind 100 Prozent der 14- bis 29-Jährigen online, sie alle nutzen das Internet sogar täglich.2 Während die tägliche Internetnutzung der deutschen Gesamtbevölkerung im Jahr 2019 bei 182 Minuten liegt, sind die 14- bis 29-Jährigen ganze 366 Minuten pro Tag online – also fast doppelt so lange wie der Bevölkerungsdurchschnitt.3 Die Nutzung des Internets kann in drei Dimensionen unterteilt werden: mediale Internetnutzung, Individualkommunikation und sonstige Internetnutzung.4 Mediale Internetnutzung umfasst beispielsweise die Onlinenutzung von Fernsehen, Videos und Radio. Durchschnittlich gehen Menschen in Deutschland dieser Tätigkeit täglich 87 Minuten lang nach.5 Bei den »Digital Natives«6 , den jüngeren Jahrgängen, die mit dem Internet und diversen digitalen Anwendungen aufgewachsen sind und diese selbstverständlich in ihren Alltag integriert haben, entfällt auf diese mediale Internetnutzung ein weitaus höherer Teil: 201 Minuten verbringen die 14- bis 29-Jährigen laut ARD-ZDF-Onlinestudie damit täglich.7 In einer solchen – zunehmend digitalisierten, von Onlinenutzung geprägten Medienwelt8 – nimmt konsequenterweise auch die non-lineare Nutzung von Bewegtbildinhalten, insbesondere unter den 14- bis 29-Jährigen, stetig zu.9 So nutzten 2018 61,9 Prozent (lineare) Inhalte non-linear im Internet, 2 3 4 5 6 7 8 9

N. Beisch/W. Koch/C. Schäfer: ARD/ZDF-Onlinestudie 2019, S. 375. Ebd., S. 404. N. Beisch/W. Koch/C. Schäfer: ARD/ZDF-Onlinestudie 2019, S. 377. Ebd., S. 380. M. Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants Part 1, S. 1. N. Beisch/W. Koch/C. Schäfer: ARD/ZDF-Onlinestudie 2019, S. 381. I. Schulz: Visual Mobile Content and Developmental Challenges, S. 41-55. S. Berghofer: Aktueller Stand der Digitalisierung der TV-Empfangswege und digitalen Fernseh- und Videonutzung in Deutschland, S. 44.

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF

 Abb. 1: Die wichtigsten Ergebnisse der Onlinestudie der ARD/ZDFForschungskommission 2019

während nur 28,8 Prozent Bewegtbild weiterhin überwiegend linear rezipierten.10 Das Zeitbudget für die klassische, lineare Fernsehnutzung geht insbesondere in dieser jungen Altersgruppe zugunsten der non-linearen Video-onDemand-Nutzung deutlich zurück.11 Hier setzt die Arbeit von funk an.12 Während sich im Onlinenutzungsverhalten der Zielgruppe deutliche Ähnlichkeiten erkennen lassen, zeigen sich in Bezug auf verschiedene Lebenswelten und relevante Themen deutliche Unterschiede: So sind zum Beispiel 14-Jährige eher mit ihrer Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt, 29-Jährige stehen vermutlich schon im Berufsleben. Auch im Hinblick auf die Plattformnutzung sind innerhalb der Zielgruppe Unterschiede erkennbar: Snapchat

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Ebd., S. 45. Ebd., S. 46f.; T. Kupferschmitt: Onlinevideo-Reichweite und Nutzungsfrequenz wachsen, Altersgefälle bleibt: Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2018, S. 427-437. Weitere Informationen zum Thema Distributionsstrategie von funk liefert Abschnitt 3 in diesem Beitrag.

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ist eine eher für jüngere Nutzerinnen und Nutzer relevante Plattform, Facebook hingegen wird stärker vom älteren Teil der Zielgruppe genutzt.13 Um dieser Gegebenheit Rechnung zu tragen, unterteilt funk potenzielle Nutzer und Nutzerinnen in mehrere Unterteilzielgruppen: 14- bis 16-Jährige, 17- bis 19-Jährige, 20- bis 24-Jährige oder 25- bis 29-Jährige. Diese Einteilung unterstützt eine zielgerichtete Ansprache der Zielgruppe und eine höhere Passgenauigkeit des Formatzuschnitts, denn Formate werden so konzipiert, dass sie sowohl Lebens- und Themenwelt als auch die Mediennutzung der anvisierten Zielgruppe widerspiegeln. Nur so kann eine authentische Ansprache gewährleistet werden. Ergebnis hiervon ist ein thematisch breites Portfolio von Formaten, die auf verschiedene Weise distribuiert werden.14

3.

Distributionsstrategie: Wie funk seine Zielgruppe erreicht

Relevant sein kann nur der Inhalt, der auch von Nutzerinnen und Nutzern gefunden und rezipiert wird. Deswegen bringt funk seine Formate dorthin, wo die Zielgruppe sich aufhält – ins Internet und auf Social-Media-Plattformen. Für funk bedeutet das konkret: »Wenn öffentlich-rechtliche Inhalte mit diskursprägend sein wollen, dann müssen die öffentlich-rechtlichen Formate auch dort präsent sein.«15 Eine solche, nach dem Mediennutzungsverhalten der Zielgruppe ausgerichtete, technisch-dynamische Distribution der Inhalte ist im Rundfunkstaatsvertrag (§ 11g) explizit formuliert.16 Insbesondere im Hinblick auf den Wettbewerb um das Medienzeitbudget der Nutzerinnen und Nutzer sollte der Ausspielweg achtsam gewählt werden: Geht man dorthin, wo die Nutzerinnen und Nutzer sich ohnehin aufhalten, so ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass man Zeit für seine Angebote »gewinnen« kann. Social-Media-Plattformen sind in den letzten Jahren zweifelsohne zum festen Bestandteil des Alltags junger Menschen geworden.17 Doch auf welcher Plattform stellt man Inhalte am besten bereit? Das Nutzungsverhalten der jungen Generation gibt diverse Hinweise darauf, dass eine Primärausspielung auf unterschiedlichen Social-Media-Plattformen zielführend ist. 13 14 15 16 17

funk: funk-Bericht 2018. Die Steuerung des Formatportfolios erfolgt im Rahmen der Portfoliosteuerung. Weiterführende Informationen hierzu gibt Abschnitt 5. funk: funk-Bericht 2018. RStV §11g (2). Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs, 2018): JIM 2018, S. 38.

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF

Wie zuvor bereits skizziert, unterscheiden sich die einzelnen Teilzielgruppen – vor allem in Hinblick auf Alter und Geschlecht – in ihren Nutzungsgewohnheiten extrem: Youtube beispielsweise ist insbesondere bei Nutzern, Plattformen wie Snapchat und Instagram vor allem bei Nutzerinnen relevant.18 Um zu wissen, welche Plattformen aktuell von Bedeutung für die 14- bis 29-Jährigen – oder eben einen spezifischen Teil davon – sind, wird die aktuelle Forschung zur Mediennutzung junger Menschen permanent gemonitort. Abseits externer Forschung führt funk in Zusammenarbeit mit der SWR- sowie der ZDF-Medienforschung regelmäßig für die Zielgruppe repräsentative Studien durch, um Veränderungen im Nutzungsverhalten der Zielgruppe rechtzeitig abschätzen und in der Portfoliosteuerung darauf eingehen zu können.19 Auch abseits konkreter Forschungsprojekte verläuft die Arbeit bei funk in starker Orientierung an Daten. So werden beispielsweise in einer hauseigenen Business Intelligence (BI)20 die von den verschiedenen Drittplattformen abgefragten Daten aufbereitet und für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und die strategische Arbeit bereitgestellt. Damit wird eine plattformübergreifende Betrachtung und Analyse von Daten ermöglicht. Darüber hinaus werden auf Formatebene die Plattform-Analytics konsultiert und beispielsweise auch die Diskussionen verfolgt, um ein umfassendes Bild der Aktivitäten der einzelnen Formate aus dem Netzwerk zu gewinnen. Trotz der zahlreichen Möglichkeiten, die eine wie eben beschriebene Distributionsstrategie mit sich bringt, sind auch kritische Punkte anzumerken: So geht mit der Distribution von Inhalten der funk-Formate über Drittplattformen beispielsweise ein begrenzter Einfluss auf die Art der Präsentation der Inhalte einher, deren Kern in der Kontrolle durch Dritte liegt – im Falle der von funk genutzten Plattformen handelt es sich hierbei vor allem um USamerikanische Unternehmen. Mit diesem Thema setzt funk sich kritisch auseinander: Für die Verbreitung der funk-Inhalte außerhalb der eigenen Platt18 19

20

Ebd., S. 39ff. Weiterführende Informationen zur Medienforschung bei funk sowie zu Herausforderungen bei der Erfolgsmessung und dem Vergleich von non-linearen und linearen Bewegtbildinhalten liefern S. Feierabend/P. Philippi/A. Pust-Petters: funk – das ContentNetzwerk von ARD und ZDF: Quantitative und qualitative Forschung zum jungen öffentlich-rechtlichen Angebot, S. 10-15. Weiterführende Informationen zum Thema Business Intelligence bei funk in S. Feierabend/P. Philippi/A. Pust-Petters: funk – das Content-Netzwerk von ARD und ZDF: Quantitative und qualitative Forschung zum jungen öffentlich-rechtlichen Angebot.

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Viola Granow

form wurden beispielsweise spezielle Richtlinien zum Daten- und Jugendmedienschutz21 erstellt. Zusätzlich wird auf allen von funk genutzten Plattformen sichergestellt, dass funk-Inhalte werbefrei genutzt werden können und auf Youtube beispielsweise keine Monetarisierung vorgenommen werden kann. Darüber hinaus findet auch in den funk-Inhalten selbst eine kritische Auseinandersetzung mit potenziellen Gefahren statt, die die genutzten Drittplattformen mit sich bringen können.22 Dadurch kommt es zu einer Sensibilisierung der Nutzerinnen und Nutzer für diese Gefahren. Abseits dieser Aspekte ist es für funk wichtig, niemanden zur Nutzung von Drittplattformen zu »zwingen«. Eine zuverlässige Alternative für potenzielle Nutzer und Nutzerinnen stellt die funk-eigene Web-App funk.net dar, auf der alle funk-Inhalte abrufbar sind.23 Die Web-App ist vollständig werbefrei und unterliegt strengen Datenschutzbedingungen.24

4.

Audience Engagement: Wie funk seine Zielgruppe einbezieht

4.1

Community (Management)

Eine Ausspielung der Inhalte im Social Web ist nicht nur sinnvoll, weil junge Menschen sich ohnehin dort aufhalten. Die existierenden Drittplattformen bieten auch die Möglichkeit, die Zielgruppe mit von ihr bereits eingeübten Interaktionsmöglichkeiten einzubeziehen. Insbesondere im Hinblick auf den Auftrag, Menschen zur Meinungsbildung anzuregen und zu einer aktiven Teilhabe durch Kommentare oder Ähnliches25 zu animieren, ist eine Ausspielung auf bestehenden Plattformen im Internet zielführend. Hier können 21 22

23 24 25

Der Leitfaden zum Jugendmedienschutz ist unter https://www.ard.de/download/ 5208446/Jugendmedienschutz_Leitfaden_von_ARD_und_ZDF.pdf verfügbar. Ein Beispiel für eine solche kritische und differenzierte Auseinandersetzung stellt der Themenschwerpunkt DarkTube im Oktober 2019 dar, in dessen Rahmen sich verschiedene Formate mit Gefahren auf Youtube auseinandersetzen, siehe: funk: funk beleuchtet in Schwerpunkt ›DarkTube‹ Schattenseiten Youtubes. funk: funk-Bericht 2018. Die Datenschutzbedingungen sind unter www.funk.net/datenschutz abrufbar (funk: Datenschutzbestimmungen). Amtliche Begründung zum Neunzehnten Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 3. Dezember 2015 (Neunzehnter Rundfunkänderungsstaatsvertrag). Siehe: https://www.rlp.de/fileadmin/rlp-stk/pdf-Dateien/Medienpolitik/Begruendung_zum_19__RAEStV.pdf, S. 9.

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF

auf verschiedene Weisen Meinungen und Einschätzungen geteilt und diskutiert werden, außerdem kommunizieren Nutzer und Nutzerinnen miteinander. Darüber hinaus können beispielsweise in den Kommentarspalten – dem wichtigsten Instrument zur Interaktion mit der Zielgruppe26 für funk – Fragen an die Formate gestellt, Themenideen und -wünsche geäußert und Kritik geübt werden. So wird der Zielgruppe explizit die Möglichkeit gegeben, die Inhalte von funk mitzugestalten. Ebenfalls wird damit dem Teil des Auftrags Rechnung getragen, der besagt, dass »[…] eine zielgruppengerechte interaktive Kommunikation mit den Nutzern sowie […] verstetigte Möglichkeiten ihrer Partizipation […]«27 zu ermöglichen sind. Zu einer solchen Interaktion – auch mit den Inhalten der Videos – und somit zur Partizipation wird in den Videos explizit aufgerufen. Denn: Die anschließende Diskussion ist Teil eines Videos, das als Auftakt zur Meinungsbildung gesehen wird, und Nutzerinnen und Nutzer sollen motiviert und einbezogen werden. Mithilfe der Kommentarfunktion haben die Nutzerinnen und Nutzer also die Möglichkeit, unter Videobeiträgen in direkten Austausch mit funk und den Köpfen der Videos zu treten. Für funk stellt dies eine besondere Form der Rückbindung des Publikums mitsamt deren Erwartungen und Wünschen an die Macherinnen und Macher dar. So kann das verfassungsmäßig geforderte Vielfaltsangebot durch eine pluralistische Form der Gruppenrepräsentation gewährleistet werden.28 Ein wichtiges Augenmerk liegt für funk deswegen darauf, die Community der einzelnen Formate adäquat zu betreuen. Das sogenannte »Community Management« hat daher einen hohen Stellenwert in der Arbeit bei funk. So werden die Kommentarspalten der Videos von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Formate selbst betreut: Kommentare von Nutzerinnen und Nutzern werden beantwortet und die Diskussion unter den Videos wird falls nötig moderiert. Außerdem werden insbesondere in journalistischen Formaten, wie Deutschland 3000, Die Frage und follow.me.reports auch Fragestellungen aus der Community aufgegriffen und in Videos bearbeitet. Dadurch erhält funk einen authentischen und tiefen Einblick in die Lebenswelten der jeweiligen Format-Zielgruppe und deren Themeninteressen. Auch ältere Videos werden weiterhin betreut und es wird darauf geachtet, dass die funk-

26 27 28

funk: funk-Bericht. RStV §11g (2). Ebd., S. 6.

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Netiquette29 eingehalten wird, Fragen beantwortet und Themenvorschläge gesammelt werden. Neben den Möglichkeiten, die Community aktiv in die Formate einzubeziehen, direktes Feedback einzuholen und Diskussionskultur und Meinungsbildung in der Zielgruppe zu fördern, ermöglichen einige Features der Drittplattformen Zusätzliches: Nutzerinnen und Nutzer können Inhalte durch Teilen oder Weiterleiten direkt in ihren Freundes- und Bekanntenkreis weitertragen und so zur Distribution von Videos und auch zum Weitertragen von Diskursen in weitere Kreise beitragen.30 Diese Art der Kommunikation und Teilhabe entspricht den Mediennutzungsgewohnheiten junger Menschen, denn bei ihnen gehen »Mediennutzung und persönliche Kommunikation […] teilweise fließend ineinander über«31 .

4.2

Kommunikation und Interaktion mit der Zielgruppe abseits der Social-Media-Kanäle

Über die Feedbackfunktion der Kommentarspalten hinaus können sich funkNutzerinnen und Nutzer mit Lob, Kritik, Anregungen oder Fragen auch direkt an funk wenden. Doch der Einbezug der Zielgruppe geht noch weiter: Wer eine Idee für ein eigenes Format hat, kann sie bei funk einreichen. Eingereichte Ideen werden in einem offenen, mehrstufigen Formatentwicklungsprozess geprüft und bei erfolgreicher Auswahl und Pilotierung in Staffeln als funk-Format produziert.32 Ebenfalls werden Meinungen und Rückmeldungen der Zielgruppe in verschiedenen Kontexten gezielt eingeholt: So zum Beispiel bei Schulbesuchen mit Medienkompetenzworkshops, die von funk durchgeführt werden. Außerdem haben verschiedene Teile der Zielgruppe – beispielsweise Universitätskurse, Schulgruppen oder Vereine – im Rahmen von Besuchen und Workshops in der funk-Zentrale in Mainz die Möglichkeit, Feedback zu Formaten zu geben und so Anregungen für eine Weiterentwicklung und stetige Verbesserung der Formate zu geben. Zusätzlich legt funk Wert darauf, auch im Rahmen verschiedener für die Zielgruppe relevanter Veranstaltungen – wie etwa Tincon, YOU und Gamescom – vor Ort zu sein und mit der Zielgruppe in 29 30 31 32

funk: Netiquette. funk: funk-Bericht 2018. S. Feierabend/W. Klingler/I. Turecek: Mediennutzung junger Menschen im Langzeitvergleich. funk: funk-Bericht 2018.

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF

Kontakt und Austausch zu kommen. Auch gibt es formatspezifische Events, wie »Inside Y-Kollektiv« oder das »DRUCK-Fanevent«, bei denen die Zielgruppe mit den Köpfen der Formate in Kontakt kommen kann. Über diese Kontakte zur Zielgruppe hinaus wird auch in der Formatentwicklung vermehrt versucht, potenzielle Nutzerinnen und Nutzer schon in den Entwicklungs- und Entstehungsprozess von Inhalten einzubeziehen. Exemplarisch zu nennen sind hier beispielsweise qualitative Befragungen, bei denen Bedürfnisse, Fragen und Interessen von Teilzielgruppen erforscht werden, um sie in Formaten abzudecken.

5.

Portfoliosteuerung: Wie funk seine Formate im Netzwerk organisiert

5.1

Portfoliosteuerung

Die Bedürfnisse der Zielgruppe werden auch in der Portfoliosteuerung stark berücksichtigt. Die Inhalte in den Bereichen Information, Orientierung und Unterhaltung entsprechen den zentralen Nutzungsmotiven des Internets: »Information, Spaß, Nützlichkeit für den Alltag«33 . Diese drei Facetten sollen im Portfolio gleichermaßen vorkommen und jeweils für verschiedene der oben aufgeführten Teilzielgruppen Angebote bereithalten. Die Idee ist, mit einem Portfolio von inzwischen rund 70 Formaten ein möglichst breites Spektrum an Positionen abzubilden, Themen ausgewogen darzustellen, die Lebenswirklichkeit der sehr diversen und dispersen Zielgruppen zu skizzieren und zugleich eine Meinungsbildung des Publikums anzuregen. Wichtig für eine präzise Steuerung der Inhalte im Netzwerk ist erneut Forschung. Denn nur auf Basis von regelmäßigen Zielgruppenbefragungen und kontinuierlicher Trendbeobachtung können in der schnelllebigen Onlinewelt relevante Inhalte für die richtigen Zielgruppen entwickelt, produziert und publiziert werden. Um flexibel, innovativ und schnell sein zu können, probiert funk viel aus und geht bewusst Risiken ein, um Erfahrungen zu sammeln. Aus Fehlern kann das ganze funk-Netzwerk lernen und besser werden. Das ist auch laut Auftrag gewollt, denn »[…] zur Erfüllung der demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Zielgruppe ist das Ju33

S. Feierabend/W. Klingler/I. Turecek: Mediennutzung junger Menschen im Langzeitvergleich, S. 123.

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gendangebot inhaltlich und technisch dynamisch und entwicklungsoffen zu gestalten […].«34 Insgesamt starteten in der etwa dreijährigen funk-Geschichte bislang rund 150 Formate35 , von denen etwa 80 nach teilweise vergleichsweise kurzen Publikationsdauern und aus unterschiedlichen Gründen beendet wurden. Hieran wird deutlich: Bei funk steht eine kontinuierliche Überprüfung der Inhalte im Vordergrund. In regelmäßigen Reviewprozessen werden die funkFormate überprüft und verbessert. Hierbei werden sowohl qualitative als auch quantitative Fragen gestellt: (Wie gut) wird die Zielgruppe erreicht? Wen erreicht das Format genau? Wie sind die Diskussionen in der Community? Wie bringt sich das Format im Netzwerk ein? In welchen Bereichen ergänzt das Format das Portfolio thematisch oder qualitativ? Wie bewertet die anvisierte Zielgruppe des Formats die Inhalte? Diese datenbasierte Arbeit hilft dabei, Inhalte zu optimieren und so die inhaltliche Ausrichtung der Formate und deren Nutzung zu verbessern. Die Erfahrungen, die bei diesen Optimierungsprozessen entstehen, werden zentral für das Netzwerk gesammelt und allen funk-Formaten, Redaktionen sowie ARD und ZDF zur Verfügung gestellt. Wesentliche Erkenntnisse über die verschiedenen Plattformen werden in einem Social Media Playbook fortlaufend dokumentiert.

5.2

funk als dezentrales Netzwerk

funk arbeitet als Content-Netzwerk von ARD und ZDF als dezentrales Netzwerk: Die funk-Inhalte entstehen in Redaktionen von ARD und ZDF in ganz Deutschland sowie zusammen mit Creatorn und Produzentinnen und Produzenten. funk arbeitet mit etablierten Köpfen der Webvideo-Szene zusammen, unterstützt und fördert aber auch junge Talente, um die deutsche Webvideobranche mitzugestalten und weiterzuentwickeln. Die funk-Zentrale in Mainz trifft strategische Entscheidungen, entwickelt das Angebotsportfolio und optimiert zusammen mit den Partnern in ganz Deutschland die Formate. funk als Dachmarke steht dabei nicht im Vordergrund, sondern hinter den einzelnen Formatmarken, die »eine profilierte Haltung haben, den öffentlich-rechtlichen Auftrag von funk glaubhaft [zu] vertreten«36 . Das bedeu34 35 36

RstV §11g (2). Stand Oktober 2019. S. Feierabend/P. Philippi/A. Pust-Petters: funk – das Content-Netzwerk von ARD und ZDF: Quantitative und qualitative Forschung zum jungen öffentlich-rechtlichen Angebot, S. 10.

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF

tet jedoch nicht, dass die Formate für sich alleine stehen müssen: Innerhalb des funk-Netzwerks wird – ebenfalls auf Grundlage erhobener Daten – eine strategische Vernetzung der Inhalte und zielgerichtete Verbindung der Communities vorangetrieben. Die Netzwerkstruktur erzeugt unter anderem im Rahmen von Crosspromoaktionen, Gastauftritten einzelner funk-Köpfe in anderen funk-Formaten und die Verlinkung und Bewerbung anderer potenziell interessanter Formate, beispielsweise durch Erwähnung in Endcards auf Youtube, Synergien und kann dezidiert zur Reichweitensteigerung eingesetzt werden. Ebenso können alle im Netzwerk wie oben beschrieben von den in anderen Formaten gesammelten Erfahrungen profitieren und sich gemeinsam weiterentwickeln.

6.

Aktuelle Berichterstattung bei funk: Wie die Formate im Content-Netzwerk aktuelle Bezüge herstellen

Das Internet dient jungen Menschen als Hauptinformationsquelle für Nachrichten und Informationen verschiedenster Art.37 Dabei spielt beispielsweise die Plattform Youtube bei den unter 20-Jährigen eine exponierte Rolle.38 Folglich sind aktuelle Themen, die Relevanz für die 14- bis 29-Jährigen haben, elementarer Bestandteil der Inhalte des öffentlich-rechtlichen ContentNetzwerks: Denn Angebote mit aktuellem Bezug abseits klassischer Nachrichtenformate zu bieten, ist funk wichtig. Auf tagesaktuelle Nachrichtenformate verzichtet funk bewusst und legt den Fokus stattdessen auf Hintergrund und Einordnung. Der Grund: Zum einen sind tagesaktuelle Inhalte nicht explizit beauftragt. Zum anderen wird das öffentlich-rechtliche Nachrichtenangebot als gesellschaftsverbindendes Element, das zielgruppenübergreifend konzipiert ist, zwar durchaus von Menschen zwischen 14 und 29 Jahren genutzt. Allerdings bietet der öffentlich-rechtliche Rundfunk beispielsweise mit heute plus bereits ein eigenes News-Fernsehformat für eine jüngere Zielgruppe. Ebenso ist die Tagesschau

37

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S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2019, S. 17. Die Aussage bezieht sich auf die 18- bis 34- Jährigen. Der Bericht zeigt, dass das Internet als Nachrichtenquelle mit zunehmendem Alter an Relevanz abnimmt. Siehe auch Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM 2018, S. 52. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM 2018, S. 74.

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mit einem Instagram-Account, der bereits mehr als eine Million Abonnentinnen und Abonnenten zählt, sehr erfolgreich auf einer von funk bespielten Plattform. Aktuelle Berichterstattung abseits klassischer, tagesaktueller Formate ist trotzdem elementarer Bestandteil der Inhalte des öffentlich-rechtlichen Content-Netzwerks und Beiträge über aktuelle Ereignisse nehmen bei funk einen zentralen Stellenwert ein, da sie für die Zielgruppe der 14bis 29-Jährigen relevant sind. So werden aktuelle politische, soziale und gesellschaftliche Themen von verschiedenen Formaten wie Y-Kollektiv, Strg+F, Die da Oben, MaiLab, Mr.Wissen2Go oder Deutschland3000 aufgegriffen und in Beiträgen aufgearbeitet. Der Fokus liegt dabei meist auf Hintergründen zu sowie Erklärung und Einordnung von Themen. Auch dies ist zielführend in einer digitalisierten Medienwelt, in der zahlreiche verschiedene Angebote zu aktuellen Nachrichten – die einer Einordnung bedürfen – vorliegen. Einige der genannten Formate werden im Folgenden exemplarisch vorgestellt.39 Aus einer wissenschaftlichen Perspektive nimmt das Format MaiLab Stellung zu aktuellen Debatten und prüft die Fakten – auf unterhaltsame Art und Weise. So wurde im Rahmen der Europawahl beispielsweise das Rezo-Video »Die Zerstörung der CDU« – das in Youtube Deutschland in 2019 erfolgreichste Video40 – wissenschaftlich überprüft und eingeordnet. Das Format Deutschland3000 thematisiert das politische und gesellschaftliche Geschehen und sucht Antworten auf unterschiedliche Fragen: »Wie sollen wir mit der AfD umgehen?«, »Warum sind so viele Menschen in Deutschland arm, obwohl es eines der reichsten Länder der Welt ist?«, »Wie sicher ist Deutschland wirklich?«. Die Videos kombinieren dabei Fakten, Haltung und Humor. Beim Y-Kollektiv bearbeiten Journalistinnen und Journalisten große (aktuelle) Themen in Reportagen. Sie erleben beispielsweise die dramatische Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer oder gehen der Frage nach, wie junge Politiker wie Kevin Kühnert (SPD), Julia Schramm (Die Linke) und Philipp Amthor (CDU) ticken. Im Politik-Format Die da Oben wird in Kurzbeiträgen über eine Vielzahl von Themen aus dem Deutschen Bundestag informiert. Dabei werden Mei-

39 40

Wie in Kapitel 5.1. beschrieben, unterliegen die Formate bei funk einer großen Fluktuation. pbe/dpa: Youtube-Jahrescharts. Nichts war erfolgreicher als »Die Zerstörung der CDU«.

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF

nungen und Forderungen von Parteien sowie Politikerinnen und Politikern aufgegriffen, Aussagen aus den Fraktionen werden miteinander verglichen und eingeordnet. Ebenfalls liefern Formate wie Rayk Anders oder MrWissen2Go als solches gekennzeichnete Meinungsbeiträge zu aktuellen Themen. Darüber hinaus berichten funk-Köpfe bei besonderen Gelegenheiten aktuell vom Ort des Geschehens. So reiste Rayk Anders in die USA, um direkt über die Midterm-Wahlen zu berichten. Mirko Drotschmann von MrWissen2Go analysierte in einem Video die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg. Zur Bundestagswahl 2017 setzte funk eine eigene Social-Media-Wahlshow um, die über eine Million Abrufe sammeln konnte. Außerdem wurden zur Bundestagswahl 2017 innerhalb der funk-Formate insgesamt 145 Videos auf Youtube und 173 Videos auf Facebook veröffentlicht, die insgesamt knapp 13 Millionen Views generiert haben. Auch im Rahmen der Europawahl 2019 setzte funk mit verschiedenen Projekten Akzente, beispielsweise mit einem europäischen Videoprojekt des Wissenschaftskanals Dinge erklärt – Kurzgesagt, in dessen Rahmen ein Video in 18 verschiedene EU-Sprachen übersetzt wurde. Das starke Interesse der Nutzerinnen und Nutzer an diesen informierenden Inhalten mit aktuellem Bezug sowie an tiefergehenden Reportagen und Dokumentationen wird durch Zahlen belegt: Die Nutzung der Informationsund Orientierungsangebote im funk-Portfolio wächst am stärksten.41 Dieses Wachstum ist auch mit der in Kapitel 5 erläuterten Strategie in Verbindung zu bringen, erfolgreiche Formate aus dem Unterhaltungsbereich mit informierenden und Orientierung bietenden Formaten zu verknüpfen. Über aktuelle Ereignisse auf eine solche Art zu berichten, trägt daher den Interessen junger Nutzerinnen und Nutzer Rechnung, die sich Einordnung und Erklärung zu wichtigen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen wünschen und dabei nicht auf reine Tagesaktualität pochen. Diese Brücke zwischen dem zunächst einmal attraktiver wirkenden Unterhaltungsangebot und dem Informationsbereich führt dazu, dass Communities an für sie möglicherweise interessante Formate und Themen aus dem Netzwerk herangeführt werden. Auf das wachsende Interesse an fundierter Information, die nicht zwingend tagesaktuell sein muss, gehen auch andere Formate ein: So liefern

41

funk: Drei Jahre funk: Drei Viertel der Zielgruppe kennt das Content-Netzwerk von ARD und ZDF.

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zum Beispiel die Formate reporter, Die Frage und follow me.reports Reportagen, Wissensbeiträgen kommen beispielsweise von Formaten wie maiLab, MrWissen2goGeschichte und Dinge erklärt – Kurzgesagt. Trotz dieses breiten Informations- und Orientierungsangebots, das sich aktueller Themen und Ereignisse annimmt, gibt es noch viel zu tun. So will funk in Zukunft beispielsweise das Angebot politischer und gesellschaftlicher Informationen für Unter-20-Jährige ausweiten.

7.

Fazit und Ausblick

Nach drei Jahren funk zeigt sich: Man kann Menschen zwischen 14 und 29 Jahren erfolgreich mit öffentlich-rechtlichen Inhalten erreichen, wenn man sich thematisch und distributiv auf ihre Interessen und Gewohnheiten einlässt und ein dynamisches Angebot bietet, das sich – auch mithilfe der Rückmeldung der Zielgruppe selbst – ständig weiterentwickelt. Diese Strategie trägt Früchte – fast dreiviertel der Zielgruppe kennt funk und/oder ein Format des Content-Netzwerks und ein beträchtlicher Teil nutzt Angebote aus dem funk-Netzwerk mindestens gelegentlich.42 Nachdem funk damit erfolgreich in das Medienrepertoire eines großen Teils der Zielgruppe durchdringen konnte und so nach und nach immer stärker zu einem nachhaltigen Teil der Lebenswelt der 14- bis 29-Jähringen werden kann, darf die Weiterentwicklung und Innovationskraft nicht nachlassen. So bleibt es weiterhin die Strategie von funk, kontinuierlich neue Formate zu entwickeln und offen für Veränderungen im Portfolio zu bleiben und damit dafür zu sorgen, dass die Inhalte relevant für die Zielgruppe bleiben. Auch wird stetig daran gearbeitet, das Profil sowie die Vielfalt des Angebots zu verbessern und die Wahrnehmung in der Zielgruppe weiter zu steigern. Ein Ziel ist beispielsweise, alle Alterszielgruppen sowie männliche und weibliche Mitglieder der Zielgruppe gleichmäßig mit verschiedenen Inhalten zu erreichen. Darüber hinaus soll der Einbezug der Zielgruppe in die Entwicklung von Formaten intensiviert werden, um eine noch passgenauere Ausgestaltung und Ausspielung der Inhalte zu gewährleisten. Ziel des ContentNetzwerks ist es weiterhin, neue Talente zu finden und zu fördern sowie etablierte Köpfe der funk-Formate im öffentlich-rechtlichen Kontext weiterzuentwickeln. Inhaltlich sollen weiterhin Themen behandelt werden, die im ge42

Ebd.

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF

sellschaftlichen Diskurs relevant sind: funk sieht es als klaren Auftrag, mit den Inhalten im Netzwerk Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.43 Über die Arbeit im funk-Netzwerk hinaus ist es für funk ein großes Anliegen, Erkenntnisse der Inhalteproduktion für das Internet auch in das öffentlich-rechtliche System weiterzugeben. Dementsprechend liegt ein Hauptaugenmerk in der Zukunft darauf, den Wissenstransfer in die Häuser zu verstetigen und auszubauen.

Literatur Amtliche Begründung zum Neunzehnten Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 3. Dezember 2015 (Neunzehnter Rundfunkänderungsstaatsvertrag). Siehe: www.rlp.de/fileadmin/rlp-stk/ pdf-Dateien/Medienpolitik/Begruendung_zum_19__RAEStV.pdf ARD/ZDF-Forschungskommission: Onlinestudie 2019. Siehe: www.ard-zdfonlinestudie.de/ardzdf-onlinestudie-2019/infografik/ vom 15.10.2019. ARD/ZDF: Leitfaden zum Jugendmedienschutz, siehe: https://www.ard.de/ download/5208446/Jugendmedienschutz_Leitfaden_von_ARD_und_ZDF. pdf vom September 2018. Beisch, Natalie; Koch, Wolfgang; Schäfer, Carmen: »ARD/ZDF-Onlinestudie 2019. Mediale Internetnutzung und Video-on-Demand gewinnen weiter an Bedeutung«, in: Media Perspektiven 9 (2019), S. 374-388. Berghofer, Simon: »Aktueller Stand der Digitalisierung der TVEmpfangswege und digitalen Fernseh- und Videonutzung in Deutschland«, in: Die Medienanstalten (Hg.), Digitalisierungsbericht 2018 (Video). Digitalisierung vollendet – Wie linear bleibt das Fernsehen? 2018, S. 34-55. Feierabend, Sabine/Klingler, Walter/Turecek, Irina: »Mediennutzung junger Menschen im Langzeitvergleich. Nutzungsmuster 14- bis 29-Jähriger auf Basis der Studie Massenkommunikation«, in: Media Perspektiven 2 (2016), S. 120-128. Feierabend, Sabine/Philippi, Pia/Pust-Petters, Anna: »funk – das ContentNetzwerk von ARD und ZDF: Quantitative und qualitative Forschung zum jungen öffentlich-rechtlichen Angebot«, in: Media Perspektiven 1 (2018), S. 10-15. 43

funk: funk-Bericht 2018.

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Viola Granow

funk: »Datenschutzbedingungen«, in: funk.net, siehe: https://www.funk.net/ datenschutz funk: »funk-Bericht. Berichtszeitraum 1.10.2016-20.09.2018«, in: funk.net, siehe: https://presse.funk.net/pressemeldung/funk-bericht/ vom 07.12.2018.funk: »Netiquette«, in: funk.net, siehe: www.funk.net/netiquette funk: »Drei Jahre funk: Drei Viertel der Zielgruppe kennt das ContentNetzwerk von ARD und ZDF«, in: funk.net, siehe: https://presse. funk.net/pressemeldung/drei-jahre-funk-drei-viertel-der-zielgruppeken­nt-­das-content-netzwerk-von-ard-und-zdf/ vom 13.09.2019. funk: »funk beleuchtet in Schwerpunkt ›DarkTube‹ Schattenseiten YouTubes«, in: funk.net, siehe: https://presse.funk.net/pressemeldung/darktube/ vom 23.10.2019. Hölig, Sascha; Hasebrink, Uwe: Reuters Institute Digital News Report 2019. Ergebnisse für Deutschland. Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut. Arbeitspapier Nr. 47. 2019. Siehe: www.digitalnewsreport.org/survey/2019/ germany-2019/ Kupferschmitt, Thomas: »Onlinevideo-Reichweite und Nutzungsfrequenz wachsen, Altersgefälle bleibt: Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2018«, in: Media Perspektiven 9 (2018), S. 427-437. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM 2018. Jugend, Informationen, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19Jähriger in Deutschland. Stuttgart: mpfs 2018. pbe/dpa: »YouTube-Jahrescharts. Nichts war erfolgreicher als ›Die Zerstörung der CDU‹«, in: Spiegel Online, siehe: https://www.spiegel.de/netzwelt/web/youtube-jahrescharts-2019-rezo-und-die-zerstoerung-dercdu-auf-platz-eins-a-1299836.html# vom 05.12.2019. Prensky, Marc: »Digital Natives, Digital Immigrants Part 1«, in: On the Horizon 9 (5) (2001), S. 1-6. Schulz, Iren: »Visual Mobile Content and Developmental Challenges. The Mediatization of Social Relationships in Adolescence«, in Corinne Martin/Thilo von Pape (Hg.), Images in Mobile Communication. New Content, New Uses, New Perspectives. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 41-55. Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag – RStV) vom 31. August 1991 in der Fassung des Zweiundzwanzigsten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Zweiundzwanzigster Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in Kraft seit 1. Mai 2019.

funk – das Content-Netzwerk von ARD & ZDF

Zubayr, Camille/Gerhard, Heinz: »Fernsehgewohnheiten und Fernsehreichweiten im Jahr 2018. Tendenzen im Zuschauerverhalten«, in: Media Perspektiven 3 (2019), S. 90-106.

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MEDIEN UND PUBLIKUM

Customer Obsession Ein Mittel gegen Desinformation? Tanit Koch

Bundespräsident Theodor Heuss fragte den Publizisten Theodor Wolff einmal, welche Eigenschaften ein guter Journalist haben muss. Wolff (später Namenspatron eines renommierten Journalistenpreises) antwortete: »Ein guter Journalist muss voraussehen, was morgen, im nächsten Monat und im nächsten Jahr geschehen wird. Und hinterher muss er erklären können, warum alles ganz anders gekommen ist.« Geht es nach dieser Anekdote, herrscht kein Mangel an solch »guten Journalisten«. Ein Blick auf das vergangene Jahrzehnt genügt: Die meisten Redaktionen wurden trotz Warnsignalen von Finanzkrise, Eurokrise, Isis, Flüchtlingskrise, Diesel-Skandal, Brexit und Donald Trump überrumpelt, zumindest aber wurden sie von der Heftigkeit der Folgen überrascht. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, haben wir die Vorzeichen all dieser Krisen übersehen, Hinweise auf Bedrohungen vernachlässigt und nicht rechtzeitig gewarnt. Insgesamt keine vertrauensbildende Maßnahme in einer Zeit, in der Menschen leichter Zugang zu mehr journalistischen Inhalten haben als je zuvor. Gleichzeitig können sie ihr Misstrauen öffentlicher und lauter bekunden als je zuvor, auf denselben digitalen Plattformen, auf denen journalistische Inhalte, Artikel und Videos gepostet werden. Rein technisch gesehen war die Distanz zwischen Journalisten und Nachrichtenkonsumenten noch nie so gering wie heute: Twitter- und Facebook-Nutzer können dort nicht nur Nachrichtenmarken, sondern auch Nachrichtenmacher direkt erreichen, ansprechen, befragen, kritisieren und eben auch wüst beschimpfen. Reporter, Redakteure und Autoren sind durch ihre Social-Media-Profile nahbarer geworden. Inhaltlich aber haben sich Medienmacher und Mediennutzer voneinander entfernt. 

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Tanit Koch

Glaubt man einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 20171 , dann finden 42 Prozent der Menschen in Deutschland: Am Vorwurf »Lügenpresse« ist etwas dran. Nur 36 Prozent sehen das anders. 45 Prozent derselben Befragten vermuten, dass ihnen wirklich wichtige Informationen vorenthalten werden. Bei Anhängern der Linken und der AfD glaubt dies sogar die überwältigende Mehrheit. Und 55 Prozent der Menschen sagen: Keiner kann mehr sicher sein, was wahr und was unwahr ist. Vielleicht trägt das digitale Näheverhältnis daran sogar eine Mitschuld: Die Digitalisierung macht nicht nur die positiven Ergebnisse journalistischer Arbeit sichtbarer und auffindbar. Sie zerrt auch die Fehler, die Selbstbespiegelung, die Voreingenommenheit und so manche Bigotterie innerhalb unserer Branche an die Oberfläche. Den Satz »Glaub bloß nicht alles, was in der Zeitung steht« gab es schon vor hundert Jahren. Auch die Verunsicherung, was und wem man noch glauben kann, ist leider kein neues Phänomen. Sie war und sie bleibt der Nährboden, auf dem Desinformationen prächtig gedeihen. Und damit gefährdet sie unsere liberale Gesellschaftsordnung. Wozu das im Extremfall führen kann, beschrieb Hannah Arendt 1951 in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Der ideale Untertan aus Sicht einer totalitären Herrschaft, so schreibt Arendt, sei nicht der überzeugte Nazi oder der hingebungsvolle Kommunist. Es seien vielmehr Menschen, für die zwischen Fakten und Fiktion, Wahrheit und Lüge kein Unterschied mehr existiere. In einer Gesellschaft, die sich für »postfaktisch« hält, haben jene Kräfte leichtes Spiel, die nur behaupten, ohne belegen zu müssen. Aufgabe des Journalismus ist es, interessierte Bürger in informierte Bürger zu verwandeln. Das war nie leicht, aber es war schon einmal leichter. Der Soziologe Niklas Luhmann schrieb noch 1996: »Alles, was wir über die Welt, in der wir leben, erfahren, wissen wir aus den Massenmedien.«2 Die Zeiten sind vorbei. Natürlich sind Massenmedien weiterhin die dominanten Informationsquellen für die allermeisten Menschen. Aber nicht mehr für alle. Es gibt Alternativen, und das ist das neue Phänomen, vor allem digital, ohne Zugangshürden, für jede Nische wie gemacht. Digital haben sich die Informationsquellen vervielfältigt. Auch die trüben Quellen, und viele interessierte Bürger informieren sich dort, jenseits des journalistischen Angebots.

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R. Köcher: Interessen schlagen Fakten. N. Luhmann: Die Realität der Massenmedien.

Customer Obsession

1.

Journalismus als Kundendienst

Es gibt Ursachen für mediales Fremdgehen, auf die Journalisten kaum bzw. keinen Einfluss haben: Veränderungen im individuellen Mediennutzungsverhalten zählen dazu und die algorithmisch gesteuerten Timelines und Newsfeeds. Natürlich auch die von Googles Suchmonopol gesteuerte Auffindbarkeit, die de facto für all jene einer Nichtauffindbarkeit gleichkommt, die mit ihren Inhalten nicht oben auf Seite 1 der Suchergebnisse erscheinen. Wer klickt schon noch auf Seite 2? An Algorithmen können wir uns höchstens anpassen, steuern werden wir sie nicht. Umso mehr sollten sich Journalisten auf das konzentrieren, was in ihrer Macht steht: mit der eigenen Medienmarke und ihren Inhalten die Bedürfnisse der User, Zuschauer, Leser und Hörer bestmöglich zu befriedigen. Jedes Nachrichtenmedium und jede Redaktion sagt von sich, genau das zu tun. In Gesprächen und auf Konferenzen wird regelmäßig über Fragen der Zuschauer-, User- und Leserbindung gesprochen. Doch das Augenmerk liegt in Wahrheit oft anderswo: auf der Konkurrenz, auf dem Produkt, seiner Vermarktung, auf der Technologie, auf den Zahlen, auf den Werbekunden. Ich kann auch dem befreundeten Kollegen nicht widersprechen, der sagt: »Die Anerkennung sucht man traditionell nicht bei den Kunden, sondern bei den Kollegen aus dem eigenen Haus und der Konkurrenz.« Warum tun wir uns so schwer damit, diejenigen in den Vordergrund zu rücken, für die wir arbeiten? Manche Medienvertreter haben ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber denen, für die sie berichten. Userwünsche erfüllen? Dann dürfen wir bald nur noch Katzenvideos zeigen – keine ganz seltene Sorge auf Redaktionsfluren. In manchen ist immer noch zu hören, man müsse Leser oder die Zuschauer dahin- oder dorthingehend »erziehen«. Damit sie endlich begreifen, wie großartig die eigene Arbeit doch ist. Das gilt natürlich nicht für alle Journalisten, aber es ist auch kein völliges Minderheitenproblem in der Branche. Wenn wir ehrlich sind, stellen wir die Mediennutzer allzu oft nicht in den Mittelpunkt unserer Anstrengungen. Der Amazon-Gründer Jeff Bezos hat den Begriff, oder besser: das Mantra »Customer Obsession« geprägt.3 Er spricht nicht von Kundenfreundlichkeit oder Kundenorientierung, sondern von Obsession, einem »obsessiven Kundenfokus.« Seine Unternehmensphilosophie lautet kurz gefasst: Tag Eins. Damit meint er den Start-Up-Modus, die Gründerzeit, in der Resultate über 3

J. Bezos: 2016 Letter to Sharholders.

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den Prozess gestellt werden, man Entscheidungen nicht nur sinnvoll sondern auch schnell trifft, Trends zügig aufgreift, in dem man lernt, entwickelt, testet, weiterentwickelt, ausprobiert und erfindet. Laut Bezos steht all dem »Tag Zwei« gegenüber und damit: »Stillstand. Gefolgt von qualvollem, schmerzhaftem Niedergang. Gefolgt von Tod.« Das klingt drastisch. Der raketenartigen Börsenentwicklung von Amazon hat »Tag Eins« aber offenbar genutzt.4 Lässt sich das Konzept des obsessiven Kundenfokus auch auf den Journalismus anwenden? Eine Redaktion ist kein Start-up, aber eines können wir uns von erfolgreichen Gründern abschauen: Sie denken vom Kunden her. Sie fragen sich, welches Problem aus Kundensicht gelöst werden muss, dann erst entwickeln sie ihr Produkt oder die Dienstleistung. »Kunden sind immer herrlich unzufrieden,« sagt Jeff Bezos, »selbst wenn das Geschäft brummt und sie sagen, sie seien glücklich. Obwohl sie es noch nicht wissen, wollen Kunden etwas Besseres.«5 Auch Nachrichtenkonsumenten sind Kunden. Was also können wir ihnen Besseres bieten? Auf den ersten Blick natürlich kürzere Ladezeiten, Usability – also noch bedienerfreundlichere Anwendungen, einen reibungslosen Kundenservice, wenn etwas mit dem Abo, der Zustellung oder dem Herunterladen nicht klappt. Auch dienen alle Verbesserungen am Produkt, am Schnitt der MAZen, an der Textqualität und der Bildauswahl am Ende der Nutzerfreundlichkeit. Langweilen sollte man seine Zuschauer und User bekanntlich auch nicht. Und all das ist bereits fordernd genug. Doch für echte Kundenobsession genügt reine Nutzerfreundlichkeit nicht. Was wir brauchen ist: echte Nähe.

2.

Für die Menschen berichten, nicht nur über sie

Der Digital News Report 20196 des Reuters Institute der Universität Oxford stellt Nachrichtenmedien ein mittelgutes Zeugnis aus. So stimmen 62 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Medien sie auf dem neuesten Stand halten. Nur die Hälfte (51 Prozent) bejaht, dass das Geschehen gut erklärt wird. In Hinblick auf die Themenauswahl legt der Report jedoch nahe, dass

4 5 6

Ebd. Ebd. N. Newman u.a.: Reuters Institute Digital News Report 2019. Siehe auch: S. Hölig/U. Hasebrink: Reuters Institute Digital News Report 2019. Ergebnisse für Deutschland.

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die redaktionell gesteuerte Nachrichtenagenda sich mehr an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen mit höherer Bildung orientiert: 45 Prozent der in Deutschland Befragten mit höherem Bildungsgrad sagen, die Medien treffen eine für sie relevante Themenauswahl. Nur 34 Prozent der Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad sehen es ebenso. Als Journalisten neigen wir offenbar dazu, mehr fahrlässig als vorsätzlich, eher für jene zu berichten, die uns ähnlich sind. Wer ähnelt uns? Eine Untersuchung zum Berufsfeld Journalismus in Deutschland ergab 2005, dass Journalisten sich vor allem aus der Mittelschicht rekrutieren und Kinder von Angestellten oder Beamten sind. Gut drei Viertel der Journalisten haben einen akademischen Abschluss, überwiegend in Geisteswissenschaften. »Journalisten sind in ihrer sozialen Zusammensetzung nicht der Spiegel der Bevölkerung«, fasst die Studie zusammen, »so wenig wie Ärzte, Anwälte oder Wissenschaftler.«7 Ärzte, Anwälte oder Wissenschaftler dienen allerdings nicht der öffentlichen Meinungsbildung. Journalisten schon – und wir müssen uns den Vorwurf gefallen lassen, dass wir zu oft nur einer Teilöffentlichkeit dienen. Denn weniger als ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland verfügt über Abitur, laut Statistischem Bundesamt haben außerdem nur gut 17 Prozent einen Hochschulabschluss.8 Zu diesen 17 Prozent zählt die Mehrheit der Journalisten, und das grenzt uns von der Gesamtbevölkerung ab. Diese Mehrheit, das belegt der Digital News Report, empfindet die mediale Themenauswahl als für sie nicht relevant.9 Auch hier gilt: Diese Diagnose betrifft nicht jedes Medium und nicht jede Redaktion. Aber kaum ein Journalist würde aus eigener Anschauung der Aussage widersprechen, dass unserer Branche die Vielfalt fehlt. Wer dabei ausschließlich an Gender und Migrationserfahrung denkt (ja, hier müssen wir auch zulegen), sollte einmal fragen: Wie viele Redaktionsmitglieder leben im ländlichen Raum? Wer hatte ein ungewöhnliches Studienfach? Wer eine Lehre? Wie viele sind in Schützenvereinen aktiv, bei der freiwilligen Feuerwehr oder verbringen das Wochenende als Laubenpieper? Wie viele von uns sind, gemessen an der Bevölkerung, engagierte Christen, haben einen Realschulabschluss, stammen aus Nicht-Akademiker-Haushalten? All diese Gruppen sind gerade in überregionalen Redaktionen kaum vertreten. Es mangelt nicht an Diskussionskultur in Newsrooms, aber es mangelt an der gedanklichen und

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S. Weischenberg/M. Malik/A. Scholl: Journalismus in Deutschland 2005, S. 353. Statistisches Bundesamt: Bildungsstand. N. Newman u.a.: Reuters Institute Digital News Report 2019.

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politischen Diversität, die sich aus individueller Lebenserfahrung, persönlichen Interessen und Herkunft speist – und dieser Mangel schlägt sich auf ein journalistisches Produkt stärker nieder als, sagen wir mal, auf Produkte der Finanz- oder Autoindustrie, in der auch nicht gerade viel Heterogenität herrscht. Der freie »Spiegel«-Reporter Juan Moreno schreibt in seinem Buch »1000 Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus«, er habe sich nie diskriminiert gefühlt. »Dennoch«, so Moreno, »komme ich mir oft wie ein Außenseiter vor, zumindest nicht mehrheitsfähig. In meinem engeren Freundeskreis gibt es Journalisten – meist Ostdeutsche –, die mir genau das Gleiche erzählen. Dass sie sich irgendwie nicht zugehörig fühlen.«10 Wenn das schon Journalisten so empfinden, wie soll es dann den Menschen gehen, die auf der Konsumentenseite stehen? Es ist kein Wunder, dass Menschen in Mecklenburg, Sachsen oder Thüringen kritisieren, die Berichterstattung über Ostdeutschland entspreche oft dem Schema »Reporter auf ZonenSafari«. Denn Berichte über »den Osten« sind noch längst keine Berichte für die Menschen, die dort leben. Das gilt nicht nur für den östlichen Teil der Republik. Rund 70 Prozent der Bevölkerung unseres Landes leben in kleineren Orten oder Kleinstädten – nur ein Drittel wohnt in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Die meisten überregional tätigen Journalisten aber sind Bewohner von Millionenstädten. Das prägt sie und es prägt die Berichterstattung. Die Zahl der Artikel und Berichte in nationalen Medien zum Verleih von E-Scootern, dessen Folgen für den Verkehr und für die Verstopfung von Orthopädie-Praxen ist unverhältnismäßig hoch, legt man einmal die Summe der Menschen zugrunde, die überhaupt in die Nähe dieser Roller kommen. Natürlich sind EScooter ein Thema, in der Intensität aber ein urbanes. Wir unterschätzen dabei, dass Medienvertrauen nicht nur etwas mit der Glaubwürdigkeit der Inhalte zu tun hat, sondern auch mit ihrer Relevanz für die jeweilige Zielgruppe. Im Jahr 2018 stimmten 42 Prozent der Befragten in einer Langzeitstudie der Universität Mainz zum Medienvertrauen dem Satz zu: »In meinem persönlichen Umfeld nehme ich die gesellschaftlichen Zustände ganz anders wahr, als sie von den Medien dargestellt werden.«11 Ein Plus von sechs Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr. Nur 23 Prozent widersprachen der Aussage, drei Prozentpunkte weniger als im Jahr zuvor. Das bedeutet keineswegs, dass die 10 11

J. Moreno: Tausend Zeilen Lüge, S. 157-158. N. Jackob u.a.: Medienvertrauen im Zeitalter der Polarisierung, S. 216.

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Berichterstattung falsch ist – in der Regel ist sie es nicht –, aber sie umfasst häufig nicht genug Perspektiven. Zu viel Berlin Mitte, zu wenig Bottrop Kirchhellen. Zu viel Stadt, zu wenig Land. Zu viele Luxusprobleme, zu wenig Alltagshilfe.

3.

Journalistische Heimat ist kein Wohlfühljournalismus

Wenn Medienvertreter ständig oder zumindest regelmäßig von einer völlig anderen Lebenswirklichkeit berichten als ihrer eigenen, dann wenden sich Menschen ab. Schlimmstenfalls wenden sie sich dann jenen Alternativen zu, die aus berechtigten Sorgen der Menschen politisches oder publizistisches Kapital schlagen wollen, indem sie die Sorgen immer nur bestätigen, sogar überhöhen, aber niemals hinterfragen oder Lösungen anbieten.  Diese Alternativen gewinnen an Popularität, wenn sich Menschen von bereits bestehenden medialen Angeboten ausgegrenzt fühlen – inhaltlich, aber auch sprachlich: Natürlich redet ein börsennotiertes Unternehmen lieber von Gewinnwarnung als von verminderter Gewinnerwartung oder gar verschlechterter Verlustprognose. Natürlich beharrt ein gendergerechter Allgemeiner Studierendenausschuss auf dieser verkrampften Partizipialkonstruktion – »Studentenausschuss« klingt schließlich schon reaktionär. Und natürlich finden diejenigen, die ganz besonders viel Zeit haben, dass der/die Geflüchtete den offenbar unmündigen und zu maskulinen »Flüchtling« ersetzen sollte. Aber müssen auch Journalisten deshalb gleich ihr Vokabular verändern? Wenn sie es tun, sollten sie sich zumindest darüber im Klaren sein, für wen sie es tun – wenn es dem Sprachgebrauch ihrer Nutzer entspricht, ist alles in Ordnung. Wenn es aus Nutzersicht eine Fremdsprache ist, fühlen sich Menschen ausgegrenzt. Gerade Massenmedien müssen aber zuallererst den Anspruch haben, ihre Zuschauer und Leser zu integrieren – indem sie eine Sprache sprechen, in der sich alle zu Hause fühlen. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit anzustreben, hat nichts mit Wohlfühljournalismus zu tun, der seinen Lesern und Zuschauern unangenehme Wahrheiten nicht zumuten will. Im Gegenteil. Dass Bürger in den 1930er Jahren empfänglich für Falschinformationen und Propaganda waren, hatte laut Hannah Arendt vor allem einen Grund: Einsamkeit. Die Erfahrung, nicht dazuzugehören. Auch, weil die Themen, die sie bewegten, im politischen und medialen Diskurs nicht adressiert wurden. Arendt schreibt von »den Fragen, die die Welt nicht öffentlich diskutieren

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will, oder die Gerüchte, denen sie nicht öffentlich zu widersprechen wagt, weil sie, wenn auch in entstellter Weise, irgendeinen wunden Punkt berühren. An diesen wunden Punkten ziehen die Lügen der totalitären Propaganda jenes Minimum an Wahrheit und realer Erfahrung, dessen sie bedürfen, um die Brücke schlagen zu können von der Realität in die totale Fiktion. Wo immer sie reale Bedingungen treffen, deren Existenz verborgen gehalten wird, gewinnen sie den Anschein einer überlegenen Realitätsnähe.«12 Zwar finden sich im Deutschland des 21. Jahrhunderts jenseits der Verschwörungstheorie keine »realen Bedingungen, deren Existenz verborgen gehalten werden sollen«. Doch die »wunden Punkte« gibt es natürlich auch heute. Und mit ihnen die Sorge davor, Ressentiments oder Vorurteile zu schüren. Das kann auch unter Journalisten dazu führen, dass bestimmte Vorgänge zumindest nicht auf Punkt eins der Nachrichtenagenda gesetzt werden. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in Deutschland aus Sicht der Bevölkerung grundsätzlich verbürgt, ergab die Allensbach-Studie »Grenzen der Freiheit« 2019.13 Interessant sind jedoch die Einschränkungen, die die Befragten machen: Sie unterscheiden deutlich zwischen Meinungsäußerungen in der Öffentlichkeit und im privaten Umfeld, außerdem differenzieren sie nach den angesprochenen Themen. Fast zwei Drittel der Bürger glauben, man müsse heute »sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert«. Zu den heiklen Themenfeldern zählen Flüchtlinge und der Islam. Für knapp die Hälfte auch Rechtsextremismus und die AfD. Insgesamt, so der Eindruck, gäbe es viele ungeschriebene Gesetze, welche Meinungen akzeptabel sind, welche nicht und welche mit Vorsicht behandelt werden sollten, wie unter anderem Patriotismus, Homosexualität oder das sogenannte dritte Geschlecht.14 Natürlich ist Sensibilität im Umgang mit all diesen genannten Themen nicht nur richtig, sondern gerade im Umgang mit Minderheiten zwingend. Wenn diese Sensibilität aber dazu führt, dass ein signifikanter Teil der Bevölkerung seine Haltung oder Befürchtungen durch unabhängige Medien nicht adressiert oder reflektiert sieht, dann verlieren wir diesen sich allein gelassen fühlenden Teil unserer Nutzer. Das geschieht umso mehr, wenn Medien ihnen sogar ganz bewusst das Gefühl geben, nicht dazuzugehören. Weil sie provinziell, unmodern, ängstliche Landeier und hinterwäldlerisch seien. Deutsche

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H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. R. Köcher: Grenzen der Freiheit. Ebd.

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Hillbillies, oder ganz einfach: »Nazi«. Wenn jemand regelmäßig vermittelt bekommt, er sei ein rückständiger Ignorant, warum sollte dieser Mensch noch einen Funken Zutrauen zu denen haben, die ihn in diese Schublade stecken? Nutzerobsession heißt nicht, den Menschen das Gefühl zu geben, sie seien im Recht. Es bedeutet auch nicht, ihnen ausschließlich das an Informationen und Geschichten zu übermitteln, was sie gern konsumieren möchten. Anders als der Newsfeed von Facebook und die Suchergebnisse von Google geht es im Journalismus gerade nicht darum, den Bürgern nur das zu liefern, was sie wissen wollen. Sondern immer auch das, was sie wissen sollten. Nutzerobsession bedeutet deshalb, dass jede Redaktion die Interessen, Wünsche und Bedürfnisse ihrer Nutzer kennen, erkennen und auf sie eingehen muss. Es bedeutet, dass die Nutzer mit an den Tisch geholt und ins Zentrum all dessen gestellt werden, was man tut.

4.

Der Nutzer, das gar nicht so unbekannte Wesen

Kennen wir die Bedürfnisse unserer Kunden? Wir kennen ihre Interessen, zumindest zum Teil: Wir verfügen über Quoten, Klickzahlen, Analysen zu Audience Flow, Verweildauer, Absprungrate, Recirculation, Engagement, SocialMedia-Shares, Aboabschlüssen und Durchlesequote. Die Zahlen verraten uns, was gerade gefällt, was gefallen hat oder was durchgefallen ist. Sie sagen uns allerdings nicht, was gefallen wird. Und auch nicht, was stattdessen gefallen hätte oder welche Antworten und Lösungsansätze die Redaktion schuldig geblieben ist. Und schließlich sagen uns die Zahlen auch nicht (wir fragen es auch viel zu selten), warum etwas gefallen oder nicht gefallen hat bzw. warum man umgeschaltet oder nicht weitergelesen hat. Nur wer die Antwort auf das Warum kennt, kann für diese Nutzerbedürfnisse neben harten Kennzahlen und Bauchgefühl ein Gespür entwickeln. Und deshalb streben Redaktionen mittlerweile danach, ihre Kunden noch besser kennenzulernen – digital und analog. Die Mediengruppe RTL gehört dazu und wendet verschiedene Methoden an, um den aktiven Austausch mit den Zuschauern und Usern zu suchen. Im Rahmen der sogenannten Feedbackerei werden quantitative und qualitative Fragen auf der RTL.de-Homepage eingebettet. Auf den Social-MediaKanälen wiederum werden User ganz konkret zu einzelnen Posts befragt. Mehr als 1200 Menschen nehmen regelmäßig an diesen Umfragen teil, denn offenbar gelingt es dadurch, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen: Die

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User begreifen sich als Teil von Marken wie RTL Aktuell, Exclusiv oder »Ich bin ein Star – holt mich hier raus«, und sie fühlen sich als Konsumenten ernst genommen. Die Redaktion rekrutiert User der Social-Media-Kanäle von RTL auch für Testessen in Köln. Nicht das Essen wird getestet, sondern Anwendungen und journalistische Angebote. In insgesamt sechs Runden wechseln die Tester von Station zu Station, wo sie unterschiedliche redaktionelle Inhalte oder Digitalprodukte ausprobieren und bewerten. Jede Runde dauert zwölf Minuten, zur Stärkung gibt es dabei Pizza und Bier. Für tiefergehende Erkenntnisse zum Nutzerverhalten arbeitet die Redaktion mit Universitäten zusammen. Eine gemeinsame Studie mit der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft Frankfurt ergab zum Beispiel, dass nach dem Relaunch von RTL.de Ende 2018 zunächst zu viele Bildelemente in den Beiträgen verbaut waren. Sogenannte bewegte Animos (Collagen bestehend aus Fotos, Icon, Überschriften und Videoelement) sollten die Aufmerksamkeit der Nutzer auf ein bestimmtes Thema lenken. Doch die Studie konnte belegen, dass die User das Animo nicht als einheitliches Bild wahrnahmen, sondern jedes Element einzeln registrierten. Die Folge: Zu viele visuelle Reize, durch die die User von den Überschriften abgelenkt wurden und zu ruhigeren Punkten flüchteten. Also wurden die Animos optisch so beruhigt, dass Nutzer sowohl die Überschriften als auch die visuelle Anmutung als Gesamtbild aufnehmen können. »Durch Benutzerforschung verstehen wir das Verhalten, die Bedürfnisse und die Motivationen unserer Nutzer«, sagt Julia Jelenkowski, Editorial Psychologist bei RTL interactive. »Was auf Produktseite eine gängige Methode ist, ist für journalistische Inhalte neu. Durch Beobachtungstechniken und Feedbackmethoden erhalten wir nun auch hier Erkenntnisse, die uns als Journalisten in der Vergangenheit oft verwehrt blieben.« Jede der erwähnten Methoden hilft der Redaktion und der Produktentwicklung, eine eindeutige Tendenz der Nutzer zu ermitteln und so auf deren Bedürfnisse zu reagieren. Die Spannweite ist groß: vom Button, der von den Usern gar nicht als solcher erkannt wird, über Vorlieben beim Video-Storytelling bis hin zu Formulierungen, die nicht ansprechend sind. Rund um den Relaunch gab es beispielsweise die Vermutung, dass RTL.de eine Plattform sei, deren Nutzerinnen und Nutzer geduzt werden möchten. Außerdem glaubte man, dass dringend eine einheitliche Ansprache auf den Social-Media-Kanälen und der Website herrschen müsse. Das sahen die Nutzer anders: Auf Social Media war Duzen erwünscht, auf der Website selbst sollte aber gesiezt werden. Die unterschiedliche Anre-

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de zwischen Du und Sie je nach Plattform bzw. Social-Kanal war für die User nachvollziehbar und – anders als angenommen – keineswegs verwirrend. Auch in Hinblick auf das journalistische TV-Angebot hat RTL einen Weg gefunden, Nähe zwischen Sendungsverantwortlichen und Zuschauern herzustellen. Seit 2015 haben insgesamt 40 Kolleginnen und Kollegen aus allen Ebenen der Redaktion das Angebot wahrgenommen, eine Wohnung in Duisburg, Chemnitz, Rinteln und Koblenz zu beziehen, um dort den engen Austausch mit RTL-Zuschauern zu suchen. Das Wohnungsprojekt hilft, nicht nur die räumliche, sondern auch eine mögliche inhaltliche Distanz zu überbrücken: Wofür interessieren sich die Zuschauer wirklich und warum? Was ist für sie besonders wichtig und was gar nicht relevant? Wo und wie leben sie? Was erwarten sie von RTL – angesichts eines immer größeren Informationsangebots? Was brauchen sie – und warum? Die Orte für das Wohnungsprojekt werden mithilfe der Medienforschung so ausgesucht, dass sie repräsentativ für die Zuschauer von RTL-Nachrichten und -Magazinen sind. Sie richten sich nach dem Umfeld des Durchschnittsbürgers, mit einem Lebensmittel-Discounter um die Ecke, einer guten Verkehrsanbindung, erschwinglichen Mieten. Die Wohnungen selbst sind funktional eingerichtete 2-Zimmer-Etagenwohnungen. Im Zentrum des Wohnzimmers steht ein Fernseher. Mitarbeiter der einzelnen RTL-Formate leben und arbeiten in den Wohnungen für jeweils zwei Wochen. Sie laden Menschen aus der Umgebung zu sich ein, hören ihnen zu, begleiten sie, lernen sie und ihren Alltag kennen – und können so Bedürfnisse feststellen, die nicht aktiv geäußert werden. Einen intensiveren Draht zur Zielgruppe gibt es kaum.  In den Wohnungen schauen die RTL-Kollegen mit ihren Gästen systematisch die Sendungen, befragen sie zum Programm und teilen ihre Erfahrungen über die Qualitätsinfothek mit den anderen Redaktionsmitgliedern. Darüber hinaus wird das Nutzungsverhalten der Zuschauerinnen und Zuschauer analysiert – sie werden, wenn sie einverstanden sind, vor dem Fernseher gefilmt und gebeten, das auszusprechen, was ihnen beim Zuschauen durch den Kopf geht. Die gesammelten Erkenntnisse decken sich weitgehend mit Daten aus der Medienforschung, liefern aber einen bedeutenden Mehrwert: Es macht einen Unterschied, ob man über den Quotenverlauf davon erfährt, dass umgeschaltet wurde, oder ob man live miterlebt, warum es geschieht. Wie stark Moderatoren und Reporter als Kernbestandteil von Sendungen wahrgenommen werden, wie viel Wiedererkennungswert sie bei Zuschauern haben und wie sehr sie die Glaubwürdigkeit stärken können – auch das wird im persönlichen Er-

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leben viel intensiver wahrgenommen als durch eine abstrakte Befragung. Und das Bedürfnis der Zuschauer, dass nicht nur Bad News vorkommen, hat sich in jeder RTL-Wohnung bestätigt: »Ihr seid so negativ«, heißt es dann vom Sofa aus. Zuschauer freuen sich über Beiträge, die nicht nur Probleme aufwerfen, sondern auch Lösungsmöglichkeiten zeigen. Beim gemeinsamen TV-Konsum wird zudem deutlich, auf wie viele Details Zuschauer achten. Und wie schnell sie merken (oder vermuten), dass sie beeinflusst werden sollen: »Da habt ihr mal wieder den erhobenen Zeigefinger« oder »Da wollt ihr mir sagen, was ich denken soll« sind dann die Reaktion. Im Wohnungsprojekt fallen Aspekte auf, die im journalistischen Arbeitsalltag nicht im Mittelpunkt stehen, die aber für die Zuschauerzufriedenheit entscheidend seien können. Autoren, CvDs und Redaktionsleiter beschäftigen sich intensiv mit der Qualität eines Beitrags, der Anmoderation und dem Bau der Sendung. Für Zuschauer spielt hingegen die Optik der Moderatoren eine sehr große Rolle. Journalisten achten auf inhaltlich starke Aussagen in OTönen. Für die Zuschauer ist aber oft noch wichtiger, wer überhaupt um einen O-Ton gebeten wird. Ein »richtiger Polizist« in Uniform ist aus Zuschauerperspektive näher dran und allein deshalb glaubwürdiger als ein Polizeisprecher im Anzug, der geschulter im Umgang mit Medien und in der Regel erster Ansprechpartner vor der Kamera ist. Aufgrund der allerersten Erfahrungen mit der Wohnungsaktion 2015 begann RTL Punkt 12, sich noch stärker an der Kernzielgruppe zu orientieren – und konnte den Marktanteil signifikant steigern. Ein unerwartet positiver Nebeneffekt war, dass innerhalb der Redaktion nicht nur mehr Verständnis für die Zuschauer und Zuschauerinnen aufgebaut wurde, sondern auch für die Kollegen, die draußen regelmäßig Beiträge erstellen: Bei der Gästeakquise für die Wohnung wurde schnell klar, wie herausfordernd es ist, wildfremde Menschen auf der Straße spontan von einer Idee zu überzeugen. Vor allem aber führte der unmittelbare Austausch dazu, dass immer mehr Mitglieder der Redaktion die Quelle Zuschauer noch mehr zu schätzen lernten und eigene Beiträge am Anspruch derjenigen messen, für die sie erstellt werden. Juliane Eßling, stellvertretende Chefredakteurin und verantwortlich für das RTL-Qualitätsmanagement betont: »Das Medienangebot ist fragmentiert, auch die Art und Weise der Nutzung ist vielfältiger geworden. Das macht es schwieriger, Themen aufzuspüren und umzusetzen, die möglichst viele angehen und sie hoffentlich berühren. Da ist es zwingend, nicht nur im eigenen Saft zu schmoren – denn wir Medienleute sind nun mal nicht repräsentativ für unsere Zielgruppe.«

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5.

Das Leben der Anderen

Da nicht alle Mitarbeiter zwei Wochen abkömmlich sind, hat die Redaktion von RTL Punkt 12 vor ein paar Jahren begonnen, via Whatsapp mit Zuschauern und Zuschauerinnen in Kontakt zu treten. Mittlerweile haben fast alle RTL-Informationsangebote eine solche Nutzergruppe, um Stimmungsbilder einzufangen. Pfingsten, das Stauwochenende des Jahres? Nicht für die allermeisten Zuschauer, die am Feiertag (anders als offenbar Journalisten) nicht ins verlängerte Wochenende fahren. Diese Information kann man nicht aus dem Quotenverlauf ziehen, sondern nur aus dem ungefilterten Zuschauerkontakt, in deren Gefühlslage und Lebenswirklichkeit wir uns versetzen müssen. Whatsapp-Gruppen sind nicht repräsentativ. Sie verringern die Distanz zwischen Medienmacherin und Zuschauern jedoch stärker, als Markt- und Medienforschung es je könnten. Mit dem Ziel, mehr Nähe zum Kunden zu entwickeln, ist RTL nicht allein. Seit einigen Jahren unternehmen viele Redaktionen Anstrengungen in diese Richtung. Der Zuschauerservice von ntv versorgt die Redaktion täglich mit der Meinung und den Wünschen der Fernsehzuschauer. Die »Rheinische Post« betreibt seit 2015 das sogenannte Listening Center: ein Algorithmus, der 40 Millionen Quellen pro Sekunde scannen kann, nach vorher festgelegten Stichworten. Die Ergebnisse werden täglich für die Lokalredaktionen im Verbreitungsgebiet ausgewertet und dienen in den Redaktionskonferenzen als Grundlage für Diskussionen und Themenfindung. Der damalige »Rheinische Post«-Chefredakteur Michael Bröcker begründet die Notwendigkeit des Listening Centers so: »Nur ein konsequentes, systematisches und permanentes Monitoring der Themen, die in der Leser- und Nutzerschaft diskutiert werden, kann die Breite, Vielfalt und Relevanz der journalistischen Entscheidungen garantieren.«15 BILD wählte eine andere Herangehensweise: Führungskräfte aus Redaktion und Verlagsgeschäftsführung besuchten im Jahr 2016 in Zweierteams die Kernleser der Zeitung zu Hause in Leipzig, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg und im Ruhrgebiet. In der Küche oder im Wohnzimmer, mal mit mehr, mal mit weniger Haustieren, sprachen die Journalisten und Verlagskaufleute ein bis zwei Stunden über das Leseverhalten, blätterten gemeinsam die Seiten durch, unterhielten sich aber vor allem über die Lebenssituation der Leserinnen und Leser, was sie stört (»… als die schwangere

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Im Gespräch mit der Autorin.

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Nachbarstochter in Stuttgart beim Amt eine Wohnung beantragen wollte, haben die nur gelacht, weil die sich erstmal um die ganzen Flüchtlinge kümmern mussten.«), was sie freut (»Mein Nachbar im dritten Stock kauft beim Gassigehen jeden Morgen die BILD und wenn er sie durch hat, legt er sie mir vor die Tür.«) und worüber sie sich aufregen (»… dass alte Leute in Leipzig Flaschen sammeln müssen.«). Diese Aktion wurde vor der Bundestagswahl 2017 auf die gesamte Redaktion ausgeweitet, und auf das ganze Bundesgebiet: Über sieben Wochen hinweg fuhren insgesamt 160 Reporter und Redakteure in 65 Orte und Kleinstädte von Saarlouis bis Görlitz und führten auf Marktplätzen und vor Einkaufszentren Gespräche mit Einwohnern, in der Regel fünf Stunden am Tag. Die britische »Sun« bietet ihren Lesern traditionell rabattierten Campingurlaub im Sommer an, und Redakteure der Zeitung ziehen für ein Wochenende auf einen der Campingplätze, auf dem Abonnenten und Leser Ferien machen. Der Chefredakteur der österreichischen Tageszeitung »Der Standard«, Martin Kotynek, trifft sich regelmäßig mit ausgewählten Lesern und Leserinnen zum Abendessen, um über deren Bedürfnisse zu reden und neue Ideen zu testen. Kotynek: »Oft sind es Dinge, die wir selber gar nicht auf dem Radar haben, weil es unser Job ist, regelmäßig gut informiert zu sein. Doch Leserinnen und Leser haben Leben, in denen sie nicht ständig an allen Themen top-aktuell dranbleiben können; dann geht die Möglichkeit verloren, in einer sich entwickelnden Thematik selber einschätzen zu können, ob etwas Neues wichtig oder nur groß weil neu ist. Wie also können wir ihnen dieses Gefühl zurückgeben, sich in ein Thema wieder einlesen zu können, also ein Catching-Up-Format entwickeln? Auf solche Fragen kommt man nur, wenn man das eigene Produkt aus Lesersicht betrachtet.«16 Die Liste solcher Praxisbeispiele ließe sich lange fortführen. Alle haben gemein, dass sie Ausdruck des Drangs von Medienmarken und Redaktionen sind, nicht nur an ihre Zielgruppen zu denken, sondern sich auf Augenhöhe mit ihnen zu bewegen – vor allem durch persönlichen Kontakt. Dazu hat sicherlich der Vertrauensverlust infolge der Flüchtlingskrise 2015 beigetragen, aber auch ein selbstkritischer Blick über den Ärmelkanal und den Atlantik. Deutsche Medien traf der Brexit ebenso wie Donald Trumps Einzug ins Weiße Haus unerwartet. Der Schriftsteller Tom Wolfe spottete kurze Zeit nach der US-Wahl in einem Interview: »Dass alle über Trumps Siegeszug so überrascht

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Im Gespräch mit der Autorin.

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waren, halte ich für eines der größten Versagen des amerikanischen Journalismus. So wie damals, als die Finanzkrise über uns hereinbrach und man die Wirtschaftsjournalisten fragte, wieso sie so blind wie Maulwürfe waren. Dabei müssten die Reporter aus New York und Washington nur hinausfahren und ein paar Wochen auf dem Land verbringen.«17 Die Kritik deutscher Journalisten an ihren amerikanischen Kollegen fiel zurückhaltender aus. Denn das Unbehagen im eigenen Land hatten viele von uns ebenfalls lieber aus der Ferne der behaglichen Redaktion wahrgenommen – wenn überhaupt.

6.

Fake News erwischen uns alle 

Wir sind anfällig für Falschinformationen. Jeder von uns. Wer glaubt, er sei aufgrund eines höheren Bildungsgrads oder der richtigen politischen Einstellung dagegen immun, ist gefährlich naiv. Alle Menschen neigen dazu, selektiv eher das wahrzunehmen und zu glauben, was sie in ihren bereits verfestigten Annahmen und Meinungen bestätigt, und wiederum das auszublenden oder abzutun, das ihre bestehende Auffassung hinterfragt. Diese uns innewohnende Tendenz nennt man »Confirmation Bias« und sie macht auch vor keiner Akademikertür halt. Wer also nur danach ruft, Kindern im Schulunterricht Medienkompetenz zu vermitteln, der übersieht den sehr viel größeren Teil der Bevölkerung, der die Schule längst hinter sich hat. Dem US-Autobauer Henry Ford wird ein berühmtes Zitat zugeschrieben: »Hätte ich die Menschen gefragt, was sie wollen, dann hätten sie gesagt: ein schnelleres Pferd.« Es gibt deutlich mehr Zweifel an Fords Urheberschaft dieser Aussage als Belege dafür – aber der Satz hat, unabhängig vom Absender, einen wichtigen und wahren Kern. Niemand von uns hätte vor 30 Jahren auf die Fragen: Was willst du, was fehlt dir, was hättest du gern? geantwortet: ein Smartphone, eine Suchmaschine, Instagram, AirBnB und Uber. Wenn man User und Zuschauer fragt, was sie wollen, sagen sie in der Regel: Fakten, objektive Informationen. Also dürften sie sich eigentlich nie von subjektiven, faktenfreien (Des-)Informationsangeboten anlocken lassen – tun es aber. Denn in Wahrheit übersteigt das Bedürfnis nach Emotionen den Wunsch nach Fakten. Emotionen sind effektiver. Die Frage darf also nicht lauten: Was wollen unsere Nutzer? Sie muss lauten: Was brauchen sie?

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S. Batthyany: Wir schämen uns für unsere Dummheit.

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Für die Antwort benötigt man Empathie – die Bereitschaft, die Fähigkeit und vor allem auch die Zeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen hineinzufühlen. Inmitten eines schwieriger werdenden journalistischen Geschäftsumfelds lauert jedoch die Gefahr, dass Medienunternehmen ihre Strukturen vor allem unter Effizienzgesichtspunkten verändern und den radikalen Kundenfokus strukturell und kulturell vernachlässigen. Wenn unabhängige Journalisten und Medien ihren Job allerdings anständig machen wollen, dann müssen sie Menschen das geben, was sie brauchen – sie müssen Bedürfnisse erfüllen. Nach Informationen und Unterhaltung, vor allem aber müssen sie durch die Berichterstattung ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Und die Gewissheit, wertgeschätzt, wahr- und ernstgenommen zu werden. Wer dieses Gefühl und diese Gewissheit erschafft, der gewinnt den Kampf um die Informationshoheit. Leicht wird das nicht: 25 Prozent der Konsumenten in Deutschland, so der Digital News Report 2019, meiden schon heute Nachrichten oft oder gelegentlich. Es gibt also noch etwas zu tun.

Literatur Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper 1986. Batthyany, Sacha: »Wir schämen uns für unsere Dummheit«, in: Das Magazin, siehe: https://www.dasmagazin.ch/2017/05/19/wir-schaemen-unsfuer-unsere-dummheit/vom 19.05.2017. Hölig, Sascha/Hasebrink, Uwe: Reuters Institute Digital News Report 2019. Ergebnisse für Deutschland. Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut, Juni 2019 (Arbeitspapier des HBI Nr. 47). Siehe: https://www.hansbredow-institut.de/de/publikationen/reuters-institute-digital-news-report-2019-ergebnisse-fuer-deutschland Jackob, Nikolaus/Schultz, Tanjev/Jakobs, Ilka/Ziegele, Marc/Quiring, Oliver/Schemer, Christian: »Medienvertrauen im Zeitalter der Polarisierung. Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen 2018«, in: Media Perspektiven 5 (2019), S. 210-220. Köcher, Renate: »Grenzen der Freiheit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.05.2019, S. 12. Siehe auch: https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/user_upload/FAZ_Mai2019_Meinungsfreiheit.pdf

Customer Obsession

Köcher, Renate: »Interessen schlagen Fakten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.02.2017, S. 10. Siehe auch: https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/FAZ_Februar2017_Fakten.pdf Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Moreno, Juan: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus. Berlin: Rowohlt 2019. Newman, Nic/Fletcher, Richard/Kalogeropoulos, Antonis/Nielsen, Rasmus Kleis: Reuters Institute Digital News Report 2019. Oxford: Reuters Institute for the Study of Journalism 2019. Siehe: file:///C:/Users/koehlerta/Downloads/DNR_2019_FINAL_0.pdf Premack, Rachel: »Amazon’s success is an ›obsessive compulsive focus‹ on customer over competitor, Business Insider«, in: Business Insider, siehe: https://www.businessinsider.de/amazon-jeff-bezos-successcustomer-obsession-2018-9?r=US&IR=T vom 15.09.2018. Statistisches Bundesamt: »Bildungsstand«, in: Statistisches Bundesamt, siehe: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/BildungForschung-Kultur/Bildungsstand/_inhalt.html Weischenberg, Siegfried/Malik, Maja/Scholl, Armin: »Journalismus in Deutschland 2005. Zentrale Befunde der aktuellen Repräsentativbefragung deutscher Journalisten«, in: Media Perspektiven 7 (2006), S. 346-361.

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User first Wenn die Nutzer das journalistische Programm bestimmen Meinolf Ellers

Es ist eine Grundfrage, die Verlage, Sender und Redaktionen quer durch Europa und Nordamerika spaltet. Sind JournalistInnen im digitalen Zeitalter mitverantwortlich für den kommerziellen Erfolg ihres Mediums? Fallen die über Generationen gegen die Begehrlichkeiten von Werbe- und AnzeigenkundInnen verteidigten Wände zwischen einem unabhängigen Nachrichtenjournalismus und der Vermarktung? Ist der Schulterschluss zwischen RedakteurInnen und den kaufmännischen Einheiten der einzige Weg, damit unabhängige Medien wirtschaftlich überleben können oder ist er ein unverzeihlicher Sündenfall, der bei LeserInnen und NutzerInnen weiteres Vertrauen kostet und die Talfahrt noch beschleunigt? In Skandinavien machen Medienkonzerne wie Schibsted oder Bonnier vor, wie die konsequente Ausrichtung der Berichterstattung an den Bedürfnissen der LeserInnen, der Einsatz von Nutzerdaten und Algorithmen und die Teilpersonalisierung des digitalen Angebots den illoyalen User Schritt für Schritt in einen zahlenden Kunden verwandeln können. Doch die damit verbundene neue Dominanz der sogenannten DatenDashboards, die den Newsrooms in sekündlich aktualisierten Grafiken und Hitlisten anzeigen, welche Themen die Menschen bewegen und welche nicht, ist in vielen Redaktionen ebenso umstritten wie die Kooperation von JournalistInnen, MarketingmanagerInnen und DatenanalystInnen in interdisziplinären Teams. Die Befürworter verweisen auf beeindruckende Erfolge der »User first«-Strategie und deutliche Zuwächse von zahlenden DigitalkundInnen. Bei New York Times, Wall Street Journal, Guardian oder vielen skandinavischen Titeln übersteigt die Zahl der digitalen AbonnentInnen die der PrintbezieherInnen mittlerweile deutlich und sichert schwarze Zahlen.

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KritikerInnen dagegen warnen vor einem Diktat der Nutzerdaten und der auf ihrer Basis kalkulierten Computerprogramme, die redaktionelle Inhalte nach den persönlichen Präferenzen ausspielen oder danach, welche Stoffe und welche Aufmachung mehr digitale Abonnements verkaufen. Sie sehen die redaktionelle Unabhängigkeit in Gefahr. Mit welcher Heftigkeit die Auseinandersetzung geführt wird, konnte die Branche 2019 beobachten, nachdem Julia Bönisch, damals noch Digitalchefin und Co-Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung, in einem Meinungsbeitrag für das Branchenmagazin Journalist auch von den eigenen KollegInnen in der SZ einen tiefgreifenden Struktur- und Kulturwandel gefordert hatte. »Wir müssen uns von gewohnten Hierarchien und linearen Top-Down-Strukturen verabschieden, ebenso wie von der strikten Trennung in Redaktion und Verlag«, schrieb Bönisch.1 »Um in einer Zeitung ein funktionierendes Podcast-Team aufzubauen, müssen wir Journalisten von Anfang an mit Kollegen aus der IT und der Vermarktung an einen Tisch setzen. Das läuft auf ein Leben in der Matrix heraus und ist für die Redakteure eine Herausforderung, die es gewohnt waren, lange Alleinherrscher in ihren Häusern zu sein und auf die Anzeigenabteilung oder Programmierer mit einer Mischung aus Argwohn, Arroganz und Verachtung herabzublicken.«2 Die Reaktionen folgten umgehend. »Es dürfte lange her sein, dass ein einzelner Text in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung für so viel Furore gesorgt hat«3 , kommentierte die taz und zitierte Franz Kotteder, einen der Vorsitzenden des SZ-Betriebsrats, der Bönisch vorwarf, mit ihren Forderungen nach Aufhebung der Trennung von Verlag und Redaktion das Redaktionsstatut verletzt zu haben. »Das ist nicht das Berufsbild, dass wir als Betriebsrat vertreten«, sagte Kotteder. Es sei »schon merkwürdig, dass Julia Bönisch in ihrem Text offenbar unter moderner Führung versteht, einen großen Teil der Belegschaft gegen sich aufzubringen«.4 Bönisch erkläre mit ihrem Text ihre Kollegen für unfähig, die neue Form des Journalismus zu verstehen.5 Aus den Digitalredaktionen des Landes erhielt Bönisch dagegen überwiegend Zustimmung und Unterstützung. »Was @juliaboenisch über Transfor1 2 3 4 5

J. Bönisch: Wir brauchen gute Manager an der Spitze von Redaktionen. Ebd. A. Fromm: Stunk um »SZ.de«-Chefin Julia Bönisch. Ebd. Ebd.

User first

mation, Management, Führung & Zusammenarbeit von Verlag/Redaktion im @journ_online gesagt hat, ist richtig & wichtig. Für so einen Streit um diese Selbstverständlichkeiten haben wir im #Journalismus eigentlich alle keine Zeit«, twitterte Hannah Suppa, die Chefredakteurin Digitale Transformation bei der Madsack-Mediengruppe in Hannover. Ihr Kollege Marco Fenske, Chefredakteur der Madsack-Zentralredaktion RND, sagte dem Branchendienst Meedia: »Journalisten sollten nicht so arrogant sein zu glauben, sie hätten mit der Monetarisierung ihrer Inhalte nichts zu tun. Nach dem Motto: ›Wir machen tolle Inhalte und tolle Produkte – und die Vermarktung schaut dann schon, wie sie den Verkauf regelt.‹ Chefredakteure haben eine Verantwortung dafür, wie viele Abos und welche Reichweiten sie generieren und wie sie damit schließlich Geld verdienen. Denn darum geht’s ja: den digitalen Journalismus zukunftsfähig zu machen. Insofern finde ich es nur konsequent, neben dem Chefredakteursposten auch gleichzeitig als Geschäftsführer mitverantwortlich für die wirtschaftliche Entwicklung zu sein.«6 Während sich die Führung der »Süddeutschen« mit öffentlichen Statements zurückhielt, sprach der langjährige Chefredakteur und Herausgeber der Badischen Zeitung, Thomas Hauser, den Bönisch-Gegnern aus dem Herzen, als er seine Rede zur Verleihung der Ralf-Dahrendorf-Preise nutzte, um mit den von Bönisch und den jungen Digitalen eingeforderten Veränderungen abzurechnen. Hauser prangerte eine »Ökonomisierung des Journalismus« an, die zu einem Austausch der Adressaten führe. Nicht mehr der Bürger werde mit der neuen »User first«-Strategie angesprochen, sondern der Medienkonsument.7 »Es soll Redaktionen geben, die mehr Zeit darauf verwenden, um herauszufinden, was Konsumenten als nächstes lesen wollen, als zu recherchieren, was er wissen muss, um seine Bürgerrechte wahrnehmen zu können. Der entfesselte Markt ist der Gott der nachrationalen Gesellschaft. ›Big Data‹, sein Prophet«8 , sagte Hauser und klagte: »Marketing-Strategen schwärmen von einer Persona-Strategie. Ihr Traum: In die Redaktionsstuben werden Puppen gesetzt – nein, nicht als Roboter, die

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T. Borgböhmer: RND-Chefredakteur Marco Fenske. T. Hauser: Liebeserklärung an einen geschundenen Beruf. Ebd.

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gibt es auch. Diese Puppen, in 3-D-Druckern zu Menschengestalt geformte Algorithmen, sollen die Redakteure permanent daran erinnern, was ihre User angeblich von ihnen erwarten. Journalismus mutiert zur Peep-Show. Relevant ist, was bezahlt wird.«9 Die »User first«-Debatte ist längst nicht mehr auf die Verlage beschränkt. »Will der öffentlich-rechtliche Rundfunk relevant bleiben, darf er nicht im Linearen verharren und tatenlos zusehen, wie die NutzerInnen in Scharen zu Youtube, Spotify oder Netflix überlaufen«10 , ordnete das Fachblatt Horizont das Ringen der ARD um eine Digitalstrategie ein und zitierte Juliane Leopold, Chefredakteurin Digitales von ARD-aktuell, die zuvor Buzzfeed Deutschland geleitet hatte. »Als jemand, der von außen kommt, wundere ich mich schon etwas, wie wenig Ressourcen ins Digitale fließen – und wie wenig davon wiederum in die Technologie.«11

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Die Plattformen sind keine Alternative

Die grundlegende Frage, wie (Nachrichten-)Journalismus auf den von den unter 40-Jährigen bevorzugten Digitalplattformen genauso relevant bleiben kann wie zu den Glanzzeiten von Print oder linearem Radio und Fernsehen, beschäftigt Medienschaffende in aller Welt wie kaum eine andere – JournalistInnen wie VerlagsmanagerInnen. Während sich auf der einen Seite die wirtschaftliche Situation privat finanzierter Verlage und Sender bei rückläufigen Werbe- und Anzeigenerlösen und fallenden Auflagen verschärft, wächst angesichts der Debatten um den Siegeszug nationalistischer und populistischer Bewegungen und den »Fake News«-Phänomenen die Sorge, dass der Verlust der klassischen journalistischen Ressourcen durch neue digitale Angebote nicht zu ersetzen ist. Die These, die Facebook-Timeline, Google News, Twitter und Instagram würden die Menschen schon so reichlich und zuverlässig mit Fakten und Qualitätsinformationen versorgen, dass politische Meinungsbildung und Demokratie in ungeahnter Weise profitieren, hat sich nicht bestätigt. Es sind bislang vor allem Populisten, Radikale und VerschwörungstheoretikerInnen, die

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Ebd. U. Simon: Die Jungen Wilden und der Fehler im System. Ebd.

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die mächtigen digitalen Werkzeuge erfolgreich für ihre Ziele instrumentalisieren und große Teile der Bevölkerung bewegen. Sie wiederum sind für einen faktenbasierten Diskurs und einen um Unabhängigkeit und Pluralität bemühten Journalismus immer schwieriger zu erreichen. Unter dem Slogan »Democracy dies in darkness« rüttelte die Washington Post nach dem Wahlsieg Donald Trumps 2017 die amerikanische Öffentlichkeit auf und startete eine Vertriebsoffensive. Das Traditionsblatt, das seit 2013 Amazon-Gründer Jeff Bezos gehört, konnte seitdem ebenso wie der Rivale New York Times die Zahl seiner digitalen Abonnenten vor allem in jüngeren Zielgruppen massiv steigern. Angesichts der hohen Digitalerlöse, die mittlerweile Wachstum und Profitabilität der New York Times garantieren, sieht Chief Executive Officer (CEO) Mark Thompson sein Haus unter den wenigen Gewinnern des digitalen Medienwandels. Auch er spricht, wie die Washington Post, von einer Trump-Konjunktur, die den digitalen Wiederaufstieg beflügelt habe. Der ehemalige BBC-Chef Thompson unterteilt die klassischen Medienmarken weltweit in »potenzielle Gewinner, wahrscheinliche Überlebende und den Rest.«12 Bei einer Rede in London gab Thompson für die Zeitungen in Großbritannien einen düsteren Ausblick. Sie würden immer noch zu sehr von ihren Printausgaben bestimmt und hätten ohne drastische Änderungen keine Überlebenschance. Er sehe allenfalls eine Handvoll nationaler Titel wie den Guardian oder die Daily Mail als wahrscheinliche Überlebende. »Auf der regionalen und lokalen Ebene sieht es aus als droht ohne eine dramatische Intervention so etwas wie ein Totalverlust«, orakelte Thompson.13 Der vielgelobte Guardian schaffte es 2019 dank eines freiwilligen Membership-Modells, bei dem die Mitglieder selber festlegen, welcher Preis ihnen das digitale Angebot wert ist, zurück in die schwarzen Zahlen. Der langjährige Chefredakteur und Herausgeber Alan Rusbridger setzt sich in seinem Buch »Breaking News: The Remaking of Journalism and Why It Matters Now« mit möglichen Überlebensstrategien für den Journalismus und die Nachrichtenmedien auseinander. Für ihn hängen wirtschaftlicher Erfolg und journalistische Qualität unmittelbar zusammen. Einen grundsätzlichen Interessenkonflikt zwischen einer unabhängigen Redaktion und den kommerziellen Verlagszielen sieht er nicht. 12 13

C. Tobitt: New York Times chief and ex-BBC boss warns of »crisis threatening to engulf British journalism«. Ebd.

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In einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung hob Rusbridger die Frage des wirtschaftlichen Überlebens als die aktuell dringlichste hervor. »Wir sehen uns mit einem sehr komplizierten Bild konfrontiert, und es wird kein einziges Modell geben, das für jedes Medienhaus funktioniert. Die wirtschaftliche Bedrohung hängt mit der Frage zusammen, ob die Menschen dem Journalismus noch vertrauen.«14 Rusbridger rät der Branche: »Wir müssen den Journalismus als Geschäft und als Dienst an der Öffentlichkeit betrachten. Wenn wir von der Öffentlichkeit verlangen, dass sie uns unterstützt, müssen wir beweisen können, dass das, was wir tun, im öffentlichen Interesse liegt. Und es gibt eine ganze Menge Journalismus, der diesen Test nicht besteht – nämlich dort, wo es nur um Unterhaltung, Klicks und das Anbiedern an Werbetreibende geht. [...] Das einzige valable (nachhaltige, Anm. d. Autors) Geschäftsmodell besteht darin, guten Journalismus zu produzieren, der so aussergewöhnlich ist, dass die Menschen ihn haben wollen.«15 Wenn Journalismus nicht erklären könne, was er tue, und wenn er nicht besser sei als das, was im Internet kostenlos erhältlich ist, habe er, so Rusbridger, »nicht verdient zu überleben«.16 Am Beispiel des Brexit fragt Rusbridger: »Existiert der Journalismus, um den Menschen zu sagen, was sie wählen und wie sie denken sollen? Oder soll er die Menschen über die Komplexität einer solchen Entscheidung informieren? Das sind zwei grundlegend unterschiedliche Ansichten darüber, wozu Journalismus da ist. Meine Vermutung ist, dass der Journalismus, der den Menschen sagt, was sie denken sollen, in Zukunft nicht mehr sehr geschätzt wird. Ihn zu produzieren, ist keine grosse Kunst. Aber ein Journalismus, der zuverlässig, gut informiert und vertrauenswürdig über komplexe Fragestellungen aufklärt, hat grosses Zukunftspotenzial.«17 Während die New York Times und der Guardian beweisen, wie nationale Zeitungsmarken mit ihrer journalistischen Kompetenz in den großen Fragen der Zeit ihre starke Position auch in den digitalen Nutzergruppen verteidigen können, ist für die Regional- und Lokalzeitungen in den USA oder

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F. Simon: Interview. Ebd. Ebd. Ebd.

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Großbritannien noch keine Wende in Sicht. Im Gegenteil. In den USA geht der Konzentrationsprozess bislang ungebremst weiter. Redaktionen werden geschlossen. Ganze Landstriche sind mittlerweile ohne lokaljournalistisches Angebot. Die Hoffnung für den Lokaljournalismus kommt aus Skandinavien. Als der Einbruch der Printauflagen 2015 speziell in Norwegen und Schweden die Zeitungsverlage zu massiven Einsparungen und Personalabbau zwang, entschlossen sich die führenden Verlagshäuser wie Schibsted, Amedia, Bonnier oder Mittmedia zu einem radikalen Strategieschwenk. Dabei waren zwei Einsichten entscheidend: •



Die klassische gedruckte Zeitung hat bei den mit dem Internet aufgewachsenen Kundengruppen unter 40 Jahren keine wirtschaftliche Zukunft mehr. Der Versuch, mit kostenlosen Inhalten im Internet hohe Reichweiten aufzubauen und diese mit Werbeerlösen zu finanzieren, ist gescheitert, seitdem bis zu 90 Prozent der digitalen Anzeigenumsätze bei Google, Facebook und Amazon landen.

Ab sofort galt das Ziel, unterstützt von Daten und Algorithmen, mit einem personalisierten Inhalteangebot Menschen gezielt von digitalen Abos zu überzeugen. Das Webangebot bedient sich nicht mehr bei den Printinhalten, sondern die gedruckte Zeitung wird aus dem zusammengestellt, was rund um die Uhr für die digitalen Kanäle produziert wird. Dabei kommt den nordischen MedienmacherInnen eine im weltweiten Maßstab herausragende Bezahlbereitschaft zu Gute. Während in Deutschland weniger als zehn Prozent der Menschen bereit sind, für Nachrichteninhalte zu zahlen, sind es in Norwegen laut einer Studie des Reuters-Instituts 34 Prozent und in Schweden immerhin noch 27 Prozent.

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Der skandinavische Weg

Dank professionellen Medienmanagements, konsequenter digitaler Innovation und journalistischen Handwerks sind alle namhaften Zeitungstitel in Norwegen und Schweden wieder auf Wachstumskurs. Und alle verzeichnen mittlerweile mehr Digital- als Printabos. »Unsere Storys und unsere Redaktionen

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sind die besten Abo-Verkäufer«, sagt etwa Pal Nedregotten, Executive Vice President der Lokalzeitungsgruppe Amedia in Oslo.18 Vielen Titeln geht es wie Bergens Tidende. Die Schibsted-Zeitung in der zweitgrößten Stadt Norwegens kommt dank eines starken digitalen Wachstums trotz weiter rückläufiger Printauflage auf über 80.000 Abonnenten. Ende 2018 überstieg die Zahl der digitalen KundInnen (37.000) erstmals die der Printkunden (36.000). Dazu kamen 7000 NutzerInnen, die ein Wochenendpaket aus Digital und den gedruckten Ausgaben für Freitag und Samstag gebucht hatten. 2015 standen den damals noch 51.000 Printkunden lediglich 6000 zahlende DigitalnutzerInnen gegenüber. Beim Konkurrenten Amedia, so Nedregotten, sind 64 Prozent der neuen KundInnen reine DigitalkundInnen.19

Abb. 1: Der Newsroom von Bergens Tidende mit dem zentralen Dashboard, davor Chefredakteur Oyulf Hjertenes. (Bild: Meinolf Ellers)

Die Hälfte davon ist unter 50 Jahre alt. Gerade in den jungen Zielgruppen lege das Medium Zeitung am stärksten zu. Tatsächlich, so erinnert sich Chefredakteur Oyulf Hjertenes, stand Bergens Tidende wie die meisten norwegischen Verlage vor drei Jahren mit dem Rücken zur Wand. »Unser Schiff 18 19

M. Ellers: Unsere Stories sind die besten Abo-Verkäufer. Ebd.

User first

begann zu sinken«, sagt Hjertenes.20 Im Schreckensjahr 2015 brach das Printanzeigengeschäft auf breiter Front ein, der Auflagenrückgang beschleunigte sich und die Digitalumsätze stagnierten. »Wir mussten ein hartes Einsparungsprogramm auflegen.«21 Noch schlimmer stand es um Amedia, das erst kurz zuvor aus der Fusion zweier traditionsreicher Verlagsgruppen entstanden war. »Wir waren kurz vor der Zahlungsunfähigkeit«, sagt Nedregotten.22 Doch gleichzeitig mit den schmerzhaften Einschnitten begann der größte Umbau in der Geschichte der norwegischen Zeitungsbranche. Verlagschefs verkündeten das Ende des Reichweitenmodells, das lange darauf vertraut hatte, Massen von Klicks im Internet in hohe Werbeerlöse verwandeln zu können. Stattdessen sollten nun die NutzerInnen auch im Netz zur Kasse gebeten werden. Loyale Kundenbeziehungen und dauerhafte Digitalabonnements rückten in den Mittelpunkt.23 Vier Jahre später strotzen Norwegens Zeitungsmacher vor Optimismus und Selbstbewusstsein. Daten-Dashboards beherrschen die Newsrooms zwischen Stavanger und Tromsö, die eher einem Google-Space ähneln als einer klassischen Zeitungsredaktion. Die Frage, wie viele NutzerInnen die Redaktion heute mit den richtigen Themen und Formaten so sehr überzeugt hat, dass sie sich neu registrieren oder sogar das Abo buchen, treibt die gesamte Organisation an. RedakteurInnen, DatenexpertInnen, WebentwicklerInnen, Social-Media-ManagerInnen und Vertriebsleute wirken in dieser Mission wie ein hochmotiviertes NASA-Kontrollzentrum beim Landemanöver eines MarsSatelliten. Dabei steuern sie ganz bodenständige LokalreporterInnen, die mit dem Smartphone und Live-Video berichten, und sie managen gemeinsam Paywalls, Social-Media-Kanäle und Digitalausgaben – und natürlich auch die Printproduktion, die allerdings immer stärker an den Rand rückt.24 Hjertenes kann deshalb mit der Kritik an einer Redaktionsstrategie, die auf Nutzungsdaten und die gemessenen Präferenzen der LeserInnen setzt, wenig anfangen: »Wir als Redakteure können uns doch nicht von unseren Lesern und Kunden distanzieren.«25 Er sei froh und dankbar, dass sein Team dank der neuen Tracking-Technologien endlich zu jeder Zeit sehen könne,

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was bei den Menschen ankomme und wo man das Angebot noch verbessern könne.26 Die Schlagworte der Stunde sind »Conversion« und »Retention«. Wie können NutzerInnen in eine Bezahlbeziehung konvertiert und dort auch langfristig gehalten werden? »Unsere neue Newsroom-Kultur stellt den Nutzer in den Mittelpunkt. Und das führt zu Inhalten, die konvertieren«, erläutert Eirik Winsnes, der beim Schibsted-Flaggschiff Aftenposten in Oslo mit einem fünfköpfigen Team die strategische Entwicklung der Inhalte betreut.27 »Wir überlegen ständig, wie wir den Kunden mehr Wert bieten können.«28 Winsnes geht dabei ebenso wie seine Kollegen Hjertenes in Bergen oder Nedregotten bei Amedia immer wieder neue Wege. Dank der ausgeklügelten Mess- und Datenmethoden können ihre Teams mit Arbeitshypothesen experimentieren und sehen unmittelbar, ob und wie die neuen Ansätze funktionieren, ob eine Annahme stimmt oder nicht.29 Bei den großen Schlagzeilen überlässt Aftenposten als nationaler Qualitätstitel der Konzernschwester VG mit ihrem kostenlosen Boulevard-Konzept, aber auch dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen den Vortritt. »Wir wollen nicht die Ersten sein. Wir entziehen uns diesem Nachrichtenwettlauf. Unsere Stunde schlägt, wenn die Nutzer die Zusammenhänge verstehen wollen. Wir müssen den wichtigen und schwierigen Tag Zwei einer Nachrichtenlage gewinnen.«30 Um attraktive Nischenthemen mit Conversion-Potenzial zu entwickeln, verpflichtete Winsnes einen freien Fachjournalisten mit dem gemeinsamen Ziel, über seine Spezialthemen in einem Jahr mindestens 1000 zusätzliche Abos einzuwerben. Bereits nach neun Monaten waren 4000 geschafft und der Journalist wurde fest eingestellt.31 Die Kulturberichterstattung schneidet in allen Datenanalysen eher schlecht ab. Viele Rezensionen erreichen nur eine Handvoll LeserInnen. Auf der anderen Seite stellen die ExpertInnen fest, dass ein Teil der digitalen StammkundInnen großen Wert auf Kulturthemen legt. »Die Antwort kann nicht lauten: Kultur ist das falsche Thema und wir lassen es in Zukunft bleiben. Nein, wir haben es bislang einfach falsch gemacht. Wie können 26 27 28 29 30 31

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wir es künftig richtig machen?«32 , unterstreicht Nedregotten. Kritische Hintergrundstücke oder überraschende Porträts funktionierten in den Amedia-Angeboten ausgezeichnet. Aftenposten macht ähnliche Erfahrungen mit ausführlichen Geschichten zu herausragenden Filmen oder Musikalben.33 Begeistert berichten Norwegens MedienmacherInnen vom Erfolg ihrer multimedialen Lokalsport-Berichterstattung. Amedia übertrug 2018 über 6000 Spiele verschiedener norwegischer Amateurligen im Live-Video und baut das Angebot dank starker Nachfrage weiter aus.34 Noch aber ist der digitale Erfolg flüchtig. Zu viele der mit Mühe gewonnenen NeukundInnen verlieren nach einiger Zeit wieder das Interesse an den digitalen Zeitungsangeboten, nutzen sie weniger und kündigen schließlich. Schibsted verliert monatlich neun bis zehn Prozent der DigitalabonnentInnen. Bei Amedia ist die sogenannte Churn-Rate mit fünf Prozent nur etwa halb so groß. Nedregotten macht dafür unter anderem zwei Messinstrumente verantwortlich: Mit dem Engagement-Index aus 32 verschiedenen Variablen sei man ständig am Puls des einzelnen Kunden und versuche, sein Interesse am Inhalteangebot hoch zu halten. Der Loyalitätsindex ermittelt die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelner Nutzer sich für ein Abo entscheidet oder als zahlender Kunde mit der Kündigung liebäugelt.35 Bei Schibsted soll vor allem eine höhere Einbeziehung und aktive Beteiligung (»Engagement«) die Treue der KundInnen steigern. Als entscheidend gelten die ersten 100 Tage der Abobeziehung. Wer sich nach drei Monaten auf die digitalen Angebote eines Titels eingelassen habe, den habe man in der Regel dauerhaft überzeugt. »Wenn du die Produkte nutzt, dann wirst du auch dabei bleiben«36 , sagt Oyulf Hjertenes. Bergens Tidende will auch hier seinem Vorsatz treu bleiben, als erste Anlaufstelle der Region die Menschen vor Ort zusammenzubringen. NutzerInnen werden mit eigenen Beiträgen in die Live-Berichterstattung eingebunden und eine intensive Kommentarkultur soll Debatten befeuern.37 ZeitungsmacherInnen aus aller Welt pilgern mittlerweile gen Norden, um die Erfolgsrezepte zu verstehen und daheim zu übernehmen. Neben der Strategie, den Geschäfts- und Preismodellen und den eingesetzten Technologien 32 33 34 35 36 37

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interessiert sie immer wieder, wie Hjertenes die Kultur und die Einstellungen in der Redaktion so erfolgreich verändert hat. Bei einem Treffen mit deutschen Verlagen präsentierte er im Oktober 2019 eine Liste von 13 Empfehlungen, die er für Nachahmer zusammengestellt hat: 1. Schaffe ein gemeinsames Verständnis von der Situation. Wie kritisch ist die Lage des Unternehmens? Wie groß ist der Handlungsdruck? Wenn die Leitungsebene eines Medienhauses und die Belegschaft, vor allem die Redaktion, die Situation unterschiedlich einschätzen und sich gegenseitig misstrauen, bleibt der Widerstand gegen grundlegende Veränderungen groß. 2. Setze klare und ambitionierte Ziele. Im Falle von Bergens Tidende waren die Ziele, etwa für die angestrebte Zahl von Digitalabos, so hoch, dass zunächst kaum jemand sie für erreichbar hielt. Als aber die ersten Daten zeigten, dass sie durchaus realistisch waren, erwachte im Verlag der sportliche Ehrgeiz und die Ziele wurden sogar übertroffen. 3. Verbinde Mission und Strategie. Hjertenes warnt vor einer blinden Fixierung auf Daten und Zahlen. »Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht in der Mathematik verlieren.« Eine regionale Zeitungsredaktion wie Bergens Tidende verfolge schließlich eine wertstiftende Mission für Bergen und seine Menschen. Die Belegschaft brauche eine eindeutige strategische Antwort auf die Frage nach dem Warum der eigenen Arbeit.38 4. Verbinde Strategie, Kennzahlen und Personalentwicklung. Jede/r Beschäftigt/e soll wissen, wie sie/er persönlich und messbar dazu beitragen kann, die Ziele des Unternehmens zu erreichen. Das schließt das Angebot von gezielten Qualifikations- und Weiterbildungsangeboten ein. 5. Visuelle und nützliche Werkzeuge beschleunigen den Kulturwandel. Schibsted hat für seine Strategie der inhalte- und datengetriebenen Digitalerlöse mit großem Aufwand ein eigenes Redaktionssystem entwickelt. Alle

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Hiertenes bei einem Treffen mit deutschen Verlagen im Oktober 2019.

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wichtigen Erfolgsfaktoren werden gemessen und sind über leicht verständliche Daten-Dashboards für jeden abrufbar. Bleiben Themen hinter den Erwartungen zurück, stehen der Redaktion wiederum Tools und Programme zur Verfügung, um das Angebot zu verändern und zu verbessern. 6. Schaffe gemeinsame Orte, an denen Strategie und Performance verknüpft werden können. Glaubt man Hjertenes, so sind die Menschen bei Bergens Tidende in einem ständigen Austausch über Verbesserungen. Haben wir gestern das Beste aus den Möglichkeiten gemacht? Was war gut, was schlecht? Was können wir daraus lernen und schon heute besser machen? Dazu gibt es viele kurze geplante wie spontane Treffen in großen und kleinen Runden. Der Chefredakteur fasst seine Beobachtungen in einem wöchentlichen internen Newsletter zusammen und teilt auch wichtige Kennzahlen und Informationen zur Lage des Verlages. 7. Fördere die VorreiterInnen. Die Motivierten und Talentierten bekommen grundsätzlich – unabhängig von Alter, Ausbildung oder Geschlecht – mehr Verantwortung in Projekten und mehr Karrierechancen. 8. Lasst Dinge bleiben, wirklich! Auch Schibsted beherzigt den alten amerikanischen Managementgrundsatz »Kill your darlings«. Um den Rücken für das Neue und das Notwendige frei zu haben, muss sich die Redaktion immer wieder von Projekten oder Routinen verabschieden, die Erwartungen nicht erfüllt haben oder nicht mehr in die Zeit und die neue Strategie passen. 9. Stelle interdisziplinäre Teams zusammen. Die Zeit der sogenannten Silos, in denen Redaktionen, Marketing, Werbeund Anzeigenabteilungen oder EntwicklerInnen und IT-ExpertInnen in strikter Trennung nebeneinander her arbeiteten, hat in den modernen digitalen Newsrooms ausgedient. Bei Bergens Tidende etwa hat Oyulf Hjertenes ein sechsköpfiges Engagement Team mit Fachleuten aus allen Bereichen zusammengestellt. Die Gruppe soll alles tun, um flüchtige DigitalabonnentInnen mit allen nur denkbaren Ideen so bei Laune zu halten, dass sie die BTAngebote intensiv nutzen und nicht kündigen.

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10. Führung auf allen Ebenen. Jedes Mitglied des BT-Teams ist der gleichen Strategie verpflichtet. Die Vorgabe »Mobile First« etwa verlangt, dass alle Inhalte grundsätzlich zuerst für das Smartphone konzipiert und produziert werden. 11. Stelle gute Leute ein. Ein erfolgreicher moderner Newsroom ist ein Querschnitt der Gesellschaft. Schibsted legt großen Wert darauf, dass Balance und Diversität im Team stimmen. Talent und Motivation können bei Neueinstellungen wichtiger sein als Ausbildung und Hochschulstudium. 12. Feiere die Erfolge. »Jeder muss wissen, dass er Teil eines Gewinnerteams ist«, sagt Hjertenes.39 Werden wichtige Ziele erreicht oder wurde die Arbeit der Redaktion ausgezeichnet, wird in Bergen gefeiert – vom gemeinsamen Frühstück bis zur wilden Party. 13. Mache keine Kompromisse. Alle Kompromisse, die Bergens Tidende im Transformationsprozess der letzten Jahre gemacht habe, habe man später bedauert. Eine erfolgreiche Digitalstrategie verlange Konsequenz. Ob diese ausgeklügelten Strategien angesichts geplanter Preiserhöhungen ausreichen, das hohe Wachstumstempo bei Neuabonnenten zu halten und gleichzeitig die Treue der bestehenden KundInnen zu steigern, ist auch für Hjertenes noch nicht ausgemacht: »Es bleibt wohl auf Jahre eine Achterbahnfahrt.«40 Angesichts der Erfolgsbeispiele aus Europas Norden wundert es nicht, dass deutsche Verlage die neuen Konzepte reihenweise übernehmen. Sowohl bei dem zur Funke-Gruppe gehörenden Hamburger Abendblatt als auch bei der Mediengruppe VRM in Mainz firmieren die großen Projekte zur Einführung einer digitalen »User first«-Strategie deshalb unter dem vielsagenden Codewort »Oslo«. Die Sächsische Zeitung bekennt sich öffentlich zum »skandinavischen Modell«. Und Madsack hat sich bei Schwedens Verlagsgruppe

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Mittmedia das Konzept einer Paywall abgeschaut, bei der alle Inhalte für 60 Minuten frei verfügbar sind und danach bezahlpflichtig werden.

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Ein Spotify für Journalismus?

Zwei Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: 1. Lassen sich auch die deutschen NutzerInnen in ausreichender Zahl für Bezahlangebote regionaler Informationsmedien gewinnen? 2. Gelingt es den Verantwortlichen, ihre Teams in Redaktion und Verlag gegen alle Vorbehalte für die gemeinsamen Ziele einer »User first«-Strategie zu gewinnen?

In einer von der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegebenen Studie unter dem wenig ermutigenden Motto »Money for nothing and content for free« untersuchten Christian Wellbrock und Christopher Buschow die Paid-Content-Perspektiven in Deutschland. Die 2019 veröffentlichte Analyse bestätigt nach Darstellung der Autoren eine »stark ausgeprägte Gratismentalität«41 , wenn es um die Nutzung redaktioneller Inhalte im Netz geht. Immerhin werde aber der grundsätzliche Wert des Journalismus nicht infrage gestellt. Ein Viertel der für die Studie Befragten gab an, in den zurückliegenden zwölf Monaten mindestens einmal für digitalen Journalismus gezahlt zu haben. Positiv vermerkten die Verfasser außerdem die grundsätzliche Bereitschaft gerade junger NutzerInnen, Qualitätsinhalte auf digitalen Plattformen angemessen zu honorieren.42 Simone Jost-Westendorf, Leiterin von »Vor Ort NRW«, dem JournalismusLab der Landesanstalt für Medien, ordnete die Studie in einem Beitrag ein und fragte: »Warum zahlen die meisten Nutzer und Nutzerinnen nicht? Zum einen, weil kostenlose, frei zugängliche Alternativen überall verfügbar sind. Doch selbst die Befragten, die für digitalen Journalismus zahlen, nehmen den Informationswert als relativ gering wahr, gemessen am Preis, den sie dafür zahlen sollen. Und sie befürchten, dass ein Abo neben den für sie relevanten Informa41 42

C. Buschow/C. Wellbrock: Money for nothing and content for free. Ebd.

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tionen inhaltlich wenig interessante Nachrichten enthalten könnte. Nicht selten kündigen sie dann.«43 Die Studie gibt den deutschen Medienmachern deshalb fünf zentrale Empfehlungen gegen die allgemeine Bezahlmüdigkeit: »1. Plattformen als Zukunftsmodell Nutzerinnen und Nutzer wünschen sich einen ›One-Stop-Shop‹, bei dem sie – ähnlich wie bei Netflix oder Spotify – auf sämtliche Inhalte zugreifen können, ohne zwischen Anbietern zu wechseln. Redaktionen können so Ressourcen und Kräfte bündeln und auch Nischenanbieter ihre Zielgruppe finden. Dabei sind die Vertrags- und Zahlungsmodalitäten gelernt: Die Zahlungsbereitschaft beläuft sich auf etwa zehn Euro pro Monat. 2. Gute Inhalte, gute Auffindbarkeit, gute Community-Moderation Befragte fühlen sich durch die extreme Masse an Informationen im Digitalen nicht selten überfordert. Sie wünschen sich daher eine professionell kuratierte Aufbereitung der Inhalte – abgestimmt auf ihre Bedürfnisse und ansprechend dargestellt. Dabei lohnt sich die Investition in Moderation. Auch der raue Ton und die unsachlichen Debatten auf News-Seiten stoßen Nutzerinnen und Nutzer ab. 3. Den Mehrwert sichtbar machen Leserinnen und Leser zahlen überwiegend nicht allein für ›reine Informationen‹. Daher sollten Redaktionen den sogenannten Nutzerwertjournalismus in ihrem Angebot stärken. Für seriöse Ratgeber und Hilfsangebote besteht durchaus eine Zahlungsbereitschaft, da der Mehrwert des Angebots ganz unmittelbar erkannt wird. Damit schaffen Redaktionen außerdem exklusive Inhalte und sind weniger kopierbar. 4. Werbe-Qualität erhöhen, Werbefreiheit anbieten Aufdringliche Werbung nervt. Nutzerinnen und Nutzer wünschen sich eine bessere Personalisierung der Werbung und attraktivere Formate. Außerdem sind Leserinnen und Leser bereit, für Werbefreiheit zu zahlen. Es besteht also eine Möglichkeit der Preisdifferenzierung für zahlungspflichtige Angebote im werbefreien Angebot.

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S. Jost-Westendorf: Ein Spotify für den Journalismus?

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5. Gedruckter Journalismus ist Türöffner und Identitätsstifter Das Printprodukt überzeugt nach wie vor. Zum Markteintritt oder zur Stärkung der Markenidentität lohnt sich hin und wieder die Investition in Printversionen. Denn Befragte schätzen die kompakte Bündelung der Inhalte und das Gefühl, ein Produkt in den Händen zu halten. Die Zahlungsbereitschaft ist hier nach wie vor wesentlich höher. Die Empfehlung lautet: Best-of-Inhalte auskoppeln und zusätzlich als Printprodukt vertreiben.«44 Der Hinweis auf die Erfolgsmodelle von Spotify und Netflix wird von Verlagen und Sendern eher kritisch gesehen. Offensichtlich muss, was für Musik und Filme bzw. Serien ausgezeichnet funktioniert, nicht auch für journalistische Inhalte gelten. Alle Versuche, Artikel verschiedener Titel in »One Stop«Plattformen zu vermarkten, blieben bislang weit hinter den Erwartungen zurück. Modelle wie etwa der aus den Niederlanden stammende Kiosk Blendle bescherten den meisten Inhaltepartnern kaum nennenswerte Umsätze. Noch schwerer aber wog für viele Marken die geringe Sichtbarkeit gegenüber den großen überregionalen Angeboten wie etwa Spiegel und FAZ und der Verlust der direkten Kundenbeziehung. Selbst das im Frühjahr 2019 in den USA mit großen Ambitionen gestartete Apple News konnte diese Vorbehalte bislang nicht entkräften. Mark Thompson, der CEO der New York Times, warnte seine Branche davor, journalistische Inhalte über Dritte zu vermarkten – selbst auf einer globalen MegaPlattform wie Apple. Die Kontrolle über die eigenen Produkte drohe verloren zu gehen. »Die Idee, die Menschen daran zu gewöhnen, dass sie unseren Journalismus auch woanders finden können, macht uns ziemlich misstrauisch«, sagte Thompson. »Und wir sind generell in Sorge, dass unser Journalismus mit dem Journalismus von jedem beliebig anderen zu einem großen Mischmasch verrührt werden könnte.«45 Andere Forderungen des Whitepapers wie die nach einem hohen und für LeserInnen leicht erkennbaren Nutzwert von Premiuminhalten oder die Notwendigkeit einfacher und transparenter Bezahlmethoden werden auch in den Medienhäusern mittlerweile anerkannt. Jost-Westendorf hebt die konkreten Chancen hervor, die die Studie den MedienmacherInnen aufzeige. »Bezahlschranken nach der Lektüre eines

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Ebd. K. Li/H. Coster: New York Times CEO warns publishers ahead of Apple news launch.

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Teasertextes können dabei ebenso als Anreiz für den Abschluss eines Digitalabos dienen wie Rabatte, Gewinnspiele oder exklusive Vorkaufsrechte für Musik- und Sporttickets.« Je besser sich die NutzerInnen zutrauten, die Qualität eines Angebots vorab einschätzen zu können, desto eher seien sie bereit zu zahlen. Das unterstreiche die Bedeutung von starken Medienmarken und von Probe- und Schnupperabonnements.46 Klar sei aber auch: »Kaum jemand ist bereit, mehr als zehn Euro monatlich für Journalismus auszugeben. Das ist ernüchternd, aber damit müssen sich Medienmacherinnen und -macher auseinandersetzen und Antworten darauf finden. Netflix und Co. setzen Standards und schaffen auf der Nutzerseite Erwartungen an Inhalte, Nutzungsfreundlichkeit, Preis und Vertragsbedingungen – auch das unterstreicht die Studie. Das heißt, dass Medienmacherinnen und -macher sich daran messen lassen müssen, ohne ihre Ansprüche an die Qualität der Inhalte zu verlieren. Arbeits- und Produktionsweisen von Journalismus müssen so ausgerichtet sein, dass sie den Bedürfnissen der Userinnen und User gerecht werden.«47

4.

Der Algorithmus am Redaktionstisch

Obwohl sich vor allem die jungen MediennutzerInnen hierzulande noch zieren, wenn es darum geht, für guten Journalismus ebenso bereitwillig zu zahlen wie für Musik, Games oder Netflix-Serien, sorgen die Erfolgsmeldungen aus den USA und aus Skandinavien in vielen deutschen Verlagen für neue Zuversicht. Neben den großen Axel-Springer-Newsrooms von Bild und Welt sind es vor allem erste Regionalzeitungen, die vorangehen. Die Verantwortlichen, wie etwa Sascha Borowski, Digitalchef der Allgäuer Zeitung, müssen allerdings eine Menge Überzeugungsarbeit leisten. Vielen geht die Transformation zu langsam und sie beklagen kräftezehrende Diskussionen und Rechtfertigungsrunden. »Wir sollten bei jeder Geschichte, die wir schreiben, erklären können, warum sie für uns wichtig ist. Zahlt sie auf die Marke ein, bindet sie loyale Leser an unser Haus? Wird sie vermarktbare Reichweite generieren? Oder ist sie sogar so gut und relevant, dass wir damit

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S. Jost-Westendorf: Ein Spotify für den Journalismus? Ebd.

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bestehende Abonnenten halten – und neu dazugewinnen«, schrieb Borowski.48 Der Gedanke, RedakteurInnen müssten ihre Arbeit aktiv an die Leserin oder den Leser bringen, sei bei vielen KollegInnen noch immer verpönt. »Weil es doch reicht, ›Qualitätsjournalismus‹ zu betreiben, oder zumindest das, was wir in unseren Konferenzen und Blattkritiken dafür halten. Der Erfolg, so die Hoffnung, stellt sich dann schon ein. Und wenn dann auch noch die IVW-Zahlen zeigen, dass die Reichweitenverluste der eigenen Zeitung etwas weniger hoch sind als die der Konkurrenz, fühlt man sich bestätigt. Das Dumme ist, dass wir uns so eine Denke nicht mehr leisten können«,49 stellte Borowski fest und verwies auf sinkende Printreichweiten, steigende Zustellkosten und unzureichende digitale Erlöse. Schwäbisch Media, der Verlag der Schwäbischen Zeitung in Ravensburg, stellte 2017 mit Steffen Ehrmann einen Chief Data Officer ein und begann nach nordischem Vorbild systematisch den Erfolg der angebotenen Digitalinhalte zu messen. Ehrmann und der Chefredakteur Digital, Yannick Dillinger, entwickelten gemeinsam einen sogenannten Artikelscore, eine aus verschiedenen Einzelfaktoren gebildete Kennzahl, an der die Redaktion ablesen kann, welche Stücke und Stoffe überdurchschnittlich gut abschneiden. Ziel ist es auch in Ravensburg, das redaktionelle Angebot so zu steuern, dass die NutzerInnen länger auf der Seite bleiben, häufiger wiederkehren, irgendwann ein Digitalabo abschließen und danach auf Dauer zu treuen KundInnen werden. »Wir lernen dank des Artikelscores permanent dazu, entwickeln unser thematisches Angebot und unsere Produkte kontinuierlich weiter. Jeder Redakteur bekommt täglich zwei Excel-Tabellen mit den aufgeschlüsselten Kennzahlen gemailt. Eindeutig: keine sexy Präsentation. Deswegen ist es umso wichtiger, dass ich einmal im Monat sowohl die Lokalchefrunde als auch die Ressortleiterrunde besuche und den Verantwortlichen mittelfristige Erkenntnisse erkläre. Jede Redaktion erhält zudem jeden Monat eine detaillierte und individualisierte Auswertung samt Handlungsempfehlungen. Seit kurzem hängen außerdem in den Redaktionen individualisierte Dashboards, die Rückmeldung darüber geben, wie gut Inhalte bei potenziellen und tatsächlichen Kunden ankommen«,50 48 49 50

S. Borowski: Wir müssen Verkäufer in eigener Sache werden. Ebd. T. Borgböhmer: Die harte News ist selten ein Verkaufsargument.

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beschrieb Dillinger das Konzept in einem Interview mit dem Branchendienst Meedia. Einen besonderen Reiz sehen Ehrmann und Dillinger, der inzwischen in die Chefredaktion der Augsburger Allgemeinen wechselte, in der Möglichkeit, aus den Daten heraus Muster und Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können. Je exakter die Daten, desto genauer können sogenannten »Predictive Analytics«Methoden mit Algorithmen den Erfolg eines Themas prognostizieren. KritikerInnen warnen vor der Gefahr, dass Redaktionen ihre Urteilsfähigkeit verlieren und am Ende nur eine stromlinienförmige Einheitsberichterstattung nach dem Diktat der Algorithmen bleibe. Dagegen steht das Argument, dass es sich die Redaktionen in Zeiten knapper Budgets und begrenzter Ressourcen immer weniger leisten können, an den Bedürfnissen ihrer LeserInnen und NutzerInnen vorbei zu schreiben. »Ich schaue mir an, was wir bezüglich Themensetzung, -aufbereitung und -ausspielung, aber auch Produktausgestaltung lernen können«51 , erläutert Dillinger seine Arbeit mit dem Artikelscore. »Sollten wir vielleicht eine Serie zum Thema Müll starten, weil einzelne Artikel dazu hohe Aboabschlussraten erzielt haben? Müssen wir weiterführende Inhalte anders einbinden, damit die Absprungquote sinkt? Bleiben Nutzer länger auf einem Inhalt, wenn wir ihn mit nutzwertigem Datenjournalismus ergänzen?«52 Aus Sicht von Yannick Dillinger haben sich die Anforderungen an Redaktionen und ihre Leitungsebene massiv verändert. »Ein Verständnis für Produkt- und Organisationsentwicklung sowie Distribution ist unabdingbar, um unabhängigen Journalismus zukunftsfest zu machen. Deshalb schaffen schlaue Redaktionsleiter die richtigen Rahmenbedingungen, damit die neuen Disziplinen ausreichend Eingang in die Redaktionen finden. Was elementar ist und bleibt, ist der Bedarf an herausragendem Journalismus. Redaktionsleiter können noch so gute Verkäufer in eigener Sache sein: Wenn es nichts Relevantes, Einzigartiges und Inspirierendes zu verkaufen gibt, hat der beste Manager ein Problem.«53 Die DDV-Mediengruppe in Dresden untersucht mit der Tochterfirma Die Mehrwertmacher, welche Inhalte von Lokal- und Regionalzeitungen die Menschen vor Ort besonders bewegen. Das Analysekonzept Lesewert, das

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Ebd. Ebd. Ebd.

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lange nur auf die Printausgaben beschränkt war, erweitern die Dresdner nun auch auf die digitalen Angebote der Verlage. Uwe Vetterick, Chefredakteur des DDV-Flaggschiffs Sächsische Zeitung nutzt die Lesewert-Einsichten, um nach skandinavischem Vorbild mehr Menschen in der Region zu digitalen Abonnenten zu machen. »Es gibt ein Muster bei Artikeln, die besonders gut funktionieren, wir nennen es die drei E-s. Uns helfen Geschichten, die emotional sind und exzellent im Sinne einer Tiefe, und die wir, drittens, nach Möglichkeit exklusiv haben. Emotionalität ist dabei das wichtigste Kriterium und Exklusivität, für uns überraschend, das unwichtigste. Die Daten senden auch eine gute Botschaft: Die Baustelle vor der Tür und die Bürgermeister-Wahl interessiert Menschen in allen Altersgruppen nach wie vor.«54 Ähnlich wie bei Schibsted oder Amedia soll ein Algorithmus helfen, das Angebot der »Sächischen« auf die individuellen Interessen der NutzerInnen zuzuschneiden. Mancher, so Vetterick, fürchte, dass die Redaktion damit vom Computer ferngesteuert werden könnte. »Aber, erstens, wir verstehen den Algorithmus, wir haben ihn selber aufgesetzt. Zweitens: Der Algorithmus kann nur mit Themen arbeiten, die wir überhaupt zur Verfügung stellen, wir sind also Herr des Geschehens.«55 In der Kontroverse um den Einzug von Daten und Algorithmen in die Redaktion und das umstrittene neue Teamwork von JournalistInnen und VerlagsmanagerInnen beim Wettlauf um zahlende DigitalkundInnen hat Vetterick eine klare Botschaft: »Wenn wir es nicht schaffen, dass Menschen uns direkt für digitale Inhalte bezahlen, dann ist irgendwann Feierabend.«56

Literatur Bönisch, Julia: »Wir brauchen gute Manager an der Spitze von Redaktionen«, in: journalist, siehe: https://www.journalist-magazin.de/meinung/wirbrauchen-gute-manager-der-spitze-von-redaktionen vom 07.05.2019. Borgböhmer, Thomas: »RND-Chefredakteur Marco Fenske: ›Journalisten sollten nicht glauben, sie hätten mit der Monetarisierung ihrer Inhalte

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C. Pollmer: Uwe Vetterick. Ebd. Ebd.

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nichts zu tun‹«, in: Meedia, siehe: https://meedia.de/2019/09/19/rndchefredakteur-fenske-journalisten-sollten-nicht-glauben-sie-haettenmit-der-monetarisierung-ihrer-inhalte-nichts-zu-tun/vom 19.09.2019. Borgböhmer, Thomas: »›Die harte News ist selten ein Verkaufsargument‹: Wie die ›Schwäbische Zeitung‹ ihre Nutzer vom Digitalen überzeugen will«, in: Meedia, siehe: https://meedia.de/2019/09/02/die-harte-newsist-selten-ein-verkaufsargument-wie-die-schwaebische-zeitung-ihrenutzer-vom-digitalen-ueberzeugen-will/vom 02.09.2019. Borowski, Sascha: »Wir müssen Verkäufer in eigener Sache werden«, in: journalist, siehe: https://www.journalist-magazin.de/meinung/wir-muessenverkaeufer-eigener-sache-werden vom 12.08.2019. Buschow, Christopher/Wellbrock, Christian: Money for nothing and content for free. Eine Nutzerstudie zur Zahlungsbereitschaft für digitaljournalistische Inhalte. Landesanstalt für Medien NRW. Siehe: https://www.medienanstalt-nrw.de/fileadmin/user_upload/lfm-nrw/Foerderung/Forschung/Zahlunsbereitschaft/LFMNRW_Whitepaper_Zahlungsbereitschaft.pdf Ellers, Meinolf: »›Unsere Stories sind die besten Abo-Verkäufer‹ – wie Norwegens Zeitungsverlage mit den richtigen Inhalten loyale Kunden gewinnen«, in: dpa, siehe: https://innovation.dpa.com/2018/11/15/norwegenszeitungsverlage-stories-abo-verkaeufer/vom 15.11.2018. Fromm, Anne: »Stunk um ›SZ.de‹-Chefin Julia Bönisch. Stunk im Turm«, in: taz, siehe https://taz.de/Stunk-um-SZde-Chefin-JuliaBoenisch/!5594772/vom 13.05.2019. Hauser: Thomas: »Liebeserklärung an einen geschundenen Beruf«, in: journalist, siehe: https://www.journalist-magazin.de/meinung/liebeserklaerung-einen-geschundenen-beruf vom 20.06.2019. Jost-Westendorf, Simone: »Ein Spotify für den Journalismus? Fünf Strategien zur Steigerung der Zahlungsbereitschaft im Netz«, in: Meedia, siehe: https://meedia.de/2019/07/03/ein-spotify-fuer-den-journalismusfuenf-strategien-zur-steigerung-der-zahlungsbereitschaft-im-netz/vom 03.07.2019. Li, Kenneth/Coster, Helen: »New York Times CEO warns publishers ahead of Apple news launch«, in: Reuters, siehe: https://www.reuters.com/article/us-media-new-york-times/new-york-times-ceo-warns-publishersahead-of-apple-news-launch-idUSKCN1R22MZ vom 21.03.2019.

User first

Pollmer, Cornelius: »Uwe Vetterick. ›Sonst ist Feierabend‹«, in: Süddeutsche Zeitung, siehe: https://www.sueddeutsche.de/medien/uwe-vettericksonst-ist-feierabend-1.4525805 vom 15.07.2019. Rusbridger, Alan: Breaking News: The Remaking of Journalism and Why It Matters Now. Edinburgh: Canongate Books 2018. Simon, Felix: »Interview. Einstiger Chefredaktor des ›Guardian‹: ›Nur wer phantastischen Journalismus bietet, wird überleben‹«, in: Neue Zürcher Zeitung, siehe: https://www.nzz.ch/feuilleton/guardian-chefredaktorphantastischer-journalismus-schaffts-ld.1480606 vom 11.05.2019. Simon, Ulrike: »Die Jungen Wilden und der Fehler im System«, in: Horizont, siehe: https://www.horizont.net/medien/nachrichten/ard–zdf-diejungen-wilden-und-der-fehler-im-system-177503 vom 12.09.2019. Tobitt, Charlotte: »New York Times chief and ex-BBC boss warns of ›crisis threatening to engulf British journalism‹«, in: PressGazette, siehe: https://www.pressgazette.co.uk/new-york-times-chief-and-formerhead-of-the-bbc-warns-of-crisis-threatening-to-engulf-british-journalism/vom 25.09.2019.

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Individual- statt Pauschallösungen Transparenzstrategien im Nachrichtenjournalismus und ihr Zusammenhang mit Rezipierendenvertrauen Laura Badura, Bernadette Uth und Katherine M. Engelke

1.

Zur Relationalität von Transparenz, Vertrauen und Journalismus

Im (Nachrichten-)Journalismus scheint aktuell eine Verschiebung der leitenden Norm stattzufinden – von Objektivität als zentrales journalistisches Ideal des 20. Jahrhunderts hin zu Transparenz als neue Norm im digitalen Zeitalter.1 Während Rezipierende beide Qualitätsmerkmale als wichtig einschätzen,2 scheinen Medienmarken ihr Angebot immer häufiger um gläserne Strategien zu erweitern: Beispielhafte Initiativen sind der Transparenzblog der Zeit3 , die Verwendung des Logos »Trust Mark«4 , das Fact-Checking beispielsweise von Correctiv5 und Schulbesuche von Journalist*innen6 . Dabei nimmt Transparenz nicht nur journalistische Akteur*innen, sondern auch das Publikum in die Verantwortung. Die Norm der Transparenz fordert Aktivitäten auf beiden Seiten der Beziehung: Redaktionen sollten ihre Prozesse offenlegen und die Prüfung etwa von Informationen und Quellen ermöglichen, das

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5 6

Vgl. unter anderem L. Hellmueller/T.P. Vos/M.A. Poepsel: Shifting Journalistic Capital?, S. 290; R. Sambrook: Delivering Trust, S. 11. Vgl. M.G. Schmidt/F. Gessner/L. Badura: Die Publikumsnorm. Vgl. https://blog.zeit.de/glashaus/ »The Trust Mark is a logo that indicates that the page was produced by a participant in the Trust Project consortium.« (https://thetrustproject.org/). Mit der Zugehörigkeit verpflichten sich die Mitglieder (derzeit circa 100 Medienunternehmen weltweit) in acht Hauptbereichen – unter anderem Feedbackmöglichkeiten, veröffentlichte Richtlinien, zugängliche Originalquellen – für absolute Transparenz zu sorgen. Vgl. https://correctiv.org/ Vgl. zur Aktion SZ-Werkstattgespräche: A. Milz: Ab in die Schule.

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Laura Badura, Bernadette Uth und Katherine M. Engelke

Publikum muss diese Aktivitäten aber zunächst wahrnehmen und sich über die Rezeption hinaus mit ihnen auseinandersetzen, damit Transparenzangebote der Redaktion einen Einfluss auf die Beziehung haben. Dadurch wird Journalismus auf Augenhöhe, der in der heutigen digitalen Zeit vom Publikum zunehmend erwartet und dementsprechend immer üblicher wird, gefördert. Die »Unmittelbarkeit und Interaktivität des Internets, insbesondere der Sozialen Netzwerke«7 erweitert dabei die Möglichkeiten für Transparenz, erhöht jedoch auch den Druck, Fehler zeitnah zu korrigieren und ihr Entstehen nachvollziehbar zu machen.8 Für Rezipierende ist Transparenz eine wesentliche Voraussetzung, um einschätzen zu können, ob ihre Erwartungen an den (Nachrichten-)Journalismus erfüllt werden.9 Transparenz kann nämlich Aufschluss darüber geben, wie die Vertrauenswürdigkeit des journalistischen Systems sowie seiner Organisationen, Akteur*innen oder Inhalte zu bewerten ist. Die wahrgenommene Vertrauenswürdigkeit wiederum ist – neben Merkmalen der Vertrauensgeber*innen – ein zentraler Einflussfaktor für die Entstehung von Vertrauen10 und somit auch für das Eingehen einer Vertrauenshandlung11 . Während eine gewisse Skepsis gegenüber »blindem Vertrauen« in die Medien zu bevorzugen ist,12 ist ein Grundstock an Vertrauen in den Journalismus notwendig, damit dieser seine Funktion erfüllen und als Informationsvermittler agieren kann13 und so aus einer demokratietheoretischen Sichtweise heraus die Grundlage für Orientierung in der Gesellschaft, Meinungs- und Willensbildung und Entscheidungsfindung liefert14 . Institutionen (oder Systemen) wie dem Journalismus wird aufgrund ihrer Komplexität zunächst nicht direkt vertraut; stattdessen erfolgt die Bewer-

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K. Meier: Transparenz, S. 223. Ebd. Vgl. A. Funck: Die transparente Redaktion, S. 97; B. Kovach/T. Rosenstiel: The elements of journalism, S. 81. Vgl. unter anderem R.C. Mayer/J.H. Davis/F.D. Schoorman: An Integrative Model of Organizational Trust, S. 715. Vgl. ebd., S. 724. Vgl. unter anderem C. Reinemann/N. Fawzi/M. Obermaier: Die ›Vertrauenskrise‹ der Medien, S. 86f. Vgl. unter anderem B. Blöbaum: Trust and Journalism in a Digital Environment, S. 22ff.; M. Kohring: Vertrauen in Journalismus, S. 163ff. Vgl. unter anderem F. Esser/C. Neuberger: Realizing the democratic functions of journalism in the digital age.

Individual- statt Pauschallösungen

tung der Vertrauenswürdigkeit mithilfe sogenannter Zugangspunkte15 . Dies sind Anknüpfungspunkte der Rezipierenden zum System – also für den Journalismus zum Beispiel (1) die journalistische Redaktion, (2) einzelne Journalist*innen oder (3) journalistische Produkte und Inhalte.16 Ob und inwieweit Vertrauen der Rezipierenden in die verschiedenen Zugangspunkte des Journalismus entsteht, wird von unterschiedlichen Aspekten beeinflusst: Einerseits ist hier die Performance des Vertrauensnehmenden – in diesem Fall also des Journalismus – entscheidend. Rezipierende können anhand von verschiedenen Merkmalen die Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Zugangspunkte bewerten, welche für das Vertrauen in den Journalismus maßgeblich sind. Derartige Indikatoren sind beispielsweise (1) die Reputation der journalistischen Redaktion, (2) die Kompetenz einzelner Journalist*innen und (3) die Qualität des journalistischen Inhalts.17 Für das Vertrauensverhältnis spielen andererseits auch Merkmale der Vertrauensgeber*innen – also der Rezipierenden selbst – eine Rolle18 : Die individuelle Vertrauensneigung, soziodemografische Aspekte und die politische Orientierung korrelieren mit dem Eingehen einer Vertrauenshandlung ebenso wie Vorerfahrungen mit dem Vertrauensnehmer (einschließlich sogenannter Schlüsselereignisse) und Erwartungen an die Vertrauensbeziehung oder Mediennutzungsgewohnheiten. Um die Beziehung zwischen Journalismus und Publikum positiv zu beeinflussen (Steigerung des Vertrauens oder Stärkung einer gesunden Medienskepsis), wird immer wieder der Einfluss der Medienkompetenz diskutiert,19 für die es angesichts der komplexer werdenden (Online-)Informationsangebote wahrscheinlich zu wenig Schulung gibt. Wissenschaft und Medienpraxis prüfen fortlaufend, ob Transparenz eine besondere Rolle für die Vertrauenswürdigkeit des Journalismus spielt und so 15 16 17

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19

Vgl. A. Giddens: Konsequenzen der Moderne, S. 107ff. Vgl. auch K.M. Grosser: Trust in Online Journalism, S. 1038ff.; B. Uth: An integrative model for trust-building in journalism. Vgl. L. Badura/M.G. Schmidt/F. Gessner: Trust in Journalistic Content; B. Blöbaum: Key Factors in the Process of Trust, S. 12; J. Bogaerts/N. Carpentier: The Postmodern Challenge to Journalism, S. 63; K.M. Grosser: Trust in Online Journalism, S. 1040ff.; I. Jakobs: Vertrauenszuschreibung an die Medien; B. Uth: An integrative model for trust-building in journalism. Vgl. unter anderem B. Blöbaum: Key Factors in the Process of Trust. S. 15; S. Fischer: Vertrauen in Gesundheitsangebote im Internet; K.M. Grosser/V. Hase/B. Blöbaum: Trust in Online Journalism, S. 60ff.; N. Jackob: Gesehen, gelesen – geglaubt?, S. 187; I. Jakobs: Vertrauenszuschreibung an die Medien, S. 69ff. Vgl. unter anderem C. Fisher: The trouble with ›trust‹ in news media, S. 453f.

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das Vertrauen der Rezipierenden positiv beeinflussen kann. Die empirische Lage ist in Bezug auf diese Frage uneindeutig und die Verbindung zwischen Transparenz und Vertrauen ist nicht abschließend geklärt20 (siehe Abschnitt 3 dieses Beitrags). Unabhängig davon sind Vertrauen und Transparenz Themen, die auch den Alltag in den Redaktionen bewegen – wie Rückmeldungen von Rezipierenden an den Journalismus, schwankende Zugriffszahlen oder der »politische Kampfbegriff« Lügenpresse21 zeigen. Der vorliegende Aufsatz möchte daher einen Beitrag zur Prüfung des Verhältnisses von Transparenz und Vertrauen liefern und theoretische und empirische Aspekte für die journalistische Praxis stärker nutzbar machen. Obwohl einzelne Transparenzstrategien bereits ausführlich evaluiert wurden, soll die derzeitige Diskussion um die Perspektive der Rezipierenden auf mehrere verschiedene Transparenzstrategien ergänzt werden. Ein Vorschlag dazu wird aus aktuellen Ergebnissen einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage abgeleitet, in der die Wahrnehmung journalistischer Transparenz abgefragt und diverse Transparenzstrategien nach Wichtigkeit bewertet wurden (siehe Abschnitt 3). Der folgende Abschnitt liefert dafür zunächst einen Überblick der kommunikationswissenschaftlichen Forschung zu Transparenz.

2.

Transparenzstrategien im (Nachrichten-)Journalismus

Transparenz im (Nachrichten-)Journalismus ist ein normatives Konstrukt. Es wird in der Regel als wünschenswert angesehen und mit positiven Konsequenzen konnotiert: »Das Publikum soll die Nachrichtenmaschine besser verstehen und Beiträge besser beurteilen, zum Teil sogar selbst überprüfen können, und Redaktionen sind sich ihrer öffentlichen Verantwortung mehr bewusst, wenn sie offen arbeiten«22 . Transparenz als Offenheit stärkt die Legitimität des Journalismus: Indem vor den Augen des Publikums beweisbare Vorstellungen von Wahrheit publiziert und Informationen überprüfbar gemacht werden, entstehen Routinen, »that transform mere information into

20

21 22

Vgl. für einen aktuellen Überblick unter anderem A.L. Curry/N.J. Stroud: The effects of journalistic transparency on credibility assessments and engagement intentions, S. 4ff. V. Lilienthal/I. Neverla: Lügenpresse. K. Meier: Transparenz, S. 224; vgl. auch L. Hellmueller/T.P. Vos/M.A. Poepsel: Shifting Journalistic Capital?, S. 290.

Individual- statt Pauschallösungen

journalism«23 . Um diese Funktion zu erfüllen, muss eine solche Form des metajournalistischen Diskurses24 öffentlich geführt werden (also beispielsweise nicht nur redaktionsintern), weshalb im Folgenden nur jene Beispiele genannt werden, die zu einer öffentlichen Debatte beitragen können.25 Dabei werden in Bezug auf Redaktionen drei Formen der Transparenz unterschieden: interne bzw. Selbst-Transparenz, externe bzw. Fremd-Transparenz und die in einer Grauzone dazwischenliegende Form der partizipativen Transparenz. Selbst-Transparenz meint Transparenz, »die ein Autor oder eine Redaktion über sich selbst herstellen kann«26 , die also redaktionsintern bzw. selbstbezüglich erzeugt wird. Meier und Reimer unterscheiden hier zwischen der Produkt- oder Beitragsebene einerseits und der Prozessebene oder Ebene des redaktionellen Entscheidens andererseits27 . In dieser Unterscheidung können die Maßnahmen jeweils einseitig (ohne Rückkanal von Journalist*innen an Rezipierende gerichtet) oder interaktiv (unter Einbeziehung der Rezipierenden und deren Vorschlägen und Meinungen) sein (respektive monologisch oder dialogisch).28 Bei Karlsson werden diese beiden Stränge bezüglich des Involvements des Publikums in disclosure transparency und participatory transparency eingeteilt, die sich ebenfalls darin unterscheiden, ob und in welchem Ausmaß Nutzer*innen eingeladen werden, an verschiedenen Stufen des Produktionsprozesses teilzunehmen.29 Darüber hinaus können klassische Transparenzstrategien von denen unterschieden werden, die explizit im Digitalen ermöglicht werden30 – so gehören Informationen zur Quellenlage oder das Abdrucken von Leser*innenbriefen in Printmedien zum Standard, während die crossmediale Veröffentlichung von Zusatzmaterial oder Live-Tweeting digitale Strategien sind. Gerade durch die Möglichkeiten des Internets wiederum verschwimmen jedoch die Grenzen zwischen Produkt- und Prozesstransparenz: »Sind Fehler passiert, verlangt hier eine weitergehende Transparenz nicht nur eine Korrektur der Fakten auf der Beitragsebene, sondern auch eine Erklärung, wie und warum es im journalistischen Prozess dazu kommen

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M. Karlsson: Rituals of transparency, S. 536, Herv. i. O. Zum Begriff vgl. M. Carlson: Metajournalistic Discourse and the Meanings of Journalism. Vgl. auch J. Reimer: Vertrauen durch Transparenz?, S. 141. K. Meier/J. Reimer: Transparenz im Journalismus, S. 138. Vgl. ebd. Vgl. J. Reimer: Vertrauen durch Transparenz?, S. 143f. Vgl. M. Karlsson: Rituals of transparency. Vgl. K. Meier/J. Reimer: Transparenz im Journalismus, S. 139ff.

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konnte«31 . Werden Offline-Strategien nicht mehr explizit mitgedacht, verschwimmen neben Produkt- und Prozessebene auch die Grenzen bezüglich der Einbeziehung des Publikums im Digitalen: Wenngleich Strategien als Offenlegung ohne Rückkanal (disclosure transparency bzw. einseitig) gedacht worden sind, ermöglichen Onlinekanäle stets schnelle Feedbacks durch das Publikum (begünstigen also participatory transparency bzw. Interaktivität). So kann beispielsweise die Verlinkung von Quellen in einem journalistischen Beitrag im Kommentarfeld von Publikumsmitgliedern bewertet oder durch weitere Quellennennungen ergänzt werden, ohne dass Journalist*innen explizit zu solch einer Interaktion auffordern. Daher sind solche interaktiven Strategien bzw. die partizipative Transparenz nicht nur als potenzielle Maßnahmen der Selbst-Transparenz, sondern als Grauzone zwischen Selbst- und Fremd-Transparenz anzusehen: Die nicht selbst in den Redaktionen produzierten Inhalte der Nutzer*innen kommen aus Sicht der Redaktionen zwar von außen, können in der Regel aber von den Produzent*innen der journalistischen Inhalte gesteuert (respektive moderiert, aufbereitet etc.) werden und sind daher nicht redaktionsunabhängig – siehe Nutzer*innen-Kommentare oder die Beteiligung in der Recherche (Crowdsourcing). Die Einbeziehung der Rezipierenden führt zu der eingangs erwähnten Kommunikation auf Augenhöhe und nimmt das Publikum mit in die Verantwortung. Mit Fremd-Transparenz32 sind Strategien gemeint, die aus einem fremdbezüglichen metajournalistischen Diskurs bzw. von Anbieter*innen stammen, die nicht den Redaktionen zuzuordnen sind, aus denen die Inhalte kommen (redaktionsextern). Die von außen kommende Fremd-Transparenz passiert von den Redaktionen unabhängig – als Beispiele sind Medienblogs oder FactChecking-Angebote zu nennen (von Akteur*innen, die dem Journalismus angehören oder außerhalb des Systems arbeiten). Im Folgenden werden also Formen der internen, partizipativen und externen Transparenz unterschieden, deren Fokus auf digitalen Strategien liegt (dadurch aber klassische Methoden nicht ausschließt). Diese können wiederum anhand der Zugangspunkte zum System Journalismus (und damit nach den Ebenen Redaktion, Journalist*in und Inhalt) untergliedert werden:

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Ebd., S. 140. Vgl. auch ebd., S. 138.

Individual- statt Pauschallösungen

(1) Möchte eine Redaktion von innen heraus (ohne direkten Rückkopplungskanal) Transparenz herstellen, ist die Veröffentlichung von redaktionellen Leitlinien ein möglicher Weg. Für die Einbindung des Publikums auf dieser Ebene kann die Teilnahme an Redaktionskonferenzen ermöglicht werden und extern werden Redaktionen beispielsweise durch andere Medien beobachtet. (2) Die Veröffentlichung von Personenprofilen der einzelnen Journalist*innen ist ein Beispiel für eine interne Transparenzstrategie auf der zweiten Ebene der Zugangspunkte. Soll partizipative Transparenz zwischen Journalist*innen und Rezipierenden ermöglicht werden, kann der persönliche Kontakt zum Beispiel auf extra dafür vorgesehenen Veranstaltungen stattfinden. Und auch auf dieser Ebene gibt es externe Maßnahmen, wie den Presserat, der durch seine Kritikfunktion Transparenz schaffen kann. (3) Bezogen auf einzelne journalistische Produkte werden in erster Linie Quellenverweise (teilweise inklusive Verlinkungen) und die Veröffentlichung von Zusatzmaterial verwendet, um interne Transparenz zu schaffen. Das Publikum wird durch die Möglichkeit eingebunden, Themenvorschläge zu machen oder die Inhalte zu kommentieren. Und als externe Maßnahme ist Fact-Checking beliebt, um einzelne Informationen nachzuprüfen und dadurch zusätzliche Transparenz zu schaffen.

Diese Beispiele stellen nur eine Auswahl von vielen möglichen Transparenzstrategien dar. Nicht in jedem Fall sind die Maßnahmen klar einer der drei Formen oder einer einzelnen Ebene zuzuordnen, oft überschneiden sich die Zugangspunkte. Einige der genannten Beispiele wurden zur empirischen Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Transparenz und Vertrauen aus Rezipierendenperspektive gewählt (siehe auch Abb. 3), die im folgenden Abschnitt beschrieben wird. Dabei wird zunächst der Ist-Zustand journalistischer Transparenz auf Produkt- und Prozessebene abgefragt, um anschließend die Relevanz der Maßnahmen nach Beteiligungsgrad und anhand ihrer Zugangspunkte beschreiben zu können.

3.

Wahrnehmung und Evaluation journalistischer Transparenz

Um zu überprüfen, ob und inwieweit die durch die Rezipierenden wahrgenommene Transparenz mit ihrem Vertrauen in Nachrichtenjournalismus zusammenhängt, wurden im Rahmen der 2019 durchgeführten dritten Welle

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Laura Badura, Bernadette Uth und Katherine M. Engelke

der »IfK-Trendstudie«33 1029 Befragte um ihre Einschätzung gebeten. Das Sampling für die Teilnahme am Online-Access-Panel erfolgte als repräsentative Auswahl in Bezug auf Geschlecht, Alter, Bildung und Region aus der Grundgesamtheit deutschsprachiger Personen zwischen 14 und 64 Jahren in Privathaushalten in Deutschland mit Internetanschluss. An der Bevölkerungsumfrage haben 51,3 Prozent männliche und 48,7 Prozent weibliche Personen teilgenommen; die Befragten sind im Schnitt 40,4 Jahre alt. Die Fragen zu Wahrnehmung und Evaluation journalistischer Transparenz beziehen sich auf die deutsche Medienlandschaft und tagesaktuellen Nachrichtenjournalismus. Die Ergebnisse zeigen, dass die Ist-Situation ambivalent wahrgenommen wird, vorgeschlagene Maßnahmen durchweg als wichtig eingestuft werden und es einen positiven Zusammenhang mit Medienvertrauen gibt. Die Befragten haben anhand verschiedener Statements interne Transparenzstrategien auf Produkt- und Prozessebene eingeschätzt. Es zeigt sich, dass die Prozesse (redaktionelle Arbeitsweise und Nachrichtenauswahl) intransparenter wahrgenommen werden als die Produkte (journalistische Inhalte im Allgemeinen und Quellennennung als konkretes Beispiel). Auffällig ist jedoch die ambivalente Sicht der meisten Teilnehmer*innen: Die Ausprägung »teils/teils« erhält 35 bis 46,1 Prozent der abgegebenen Antworten. Darüber hinaus haben 123 Personen eine oder mehrere der Fragen aus diesem Fragenblock mit »weiß nicht« beantwortet (s. Abb. 1). 42 Befragte konnten sogar zu allen vier Transparenz-Statements keine Aussage treffen. Dieser relativ hohe Anteil an unentschlossenen Befragten findet sich auch in anderen Studien zum Thema wieder: In einem Experiment von Grosser, Hase und Wintterlin fiel es einigen Teilnehmer*innen schwer, die transparente Angabe des Verifikationsstatus einer Information zu erkennen34 , während in qualitativen Interviews von Wintterlin, Engelke und Hase einige Personen angaben,

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Die IfK-Trendstudie, die als Kooperation des DFG-Graduiertenkollegs »Vertrauen und Kommunikation in einer digitalisierten Welt« und des Zentrums zur Erforschung digitalisierter Öffentlichkeiten am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster durchgeführt wird, erhebt seit 2017 jährlich Daten, unter anderem zu Vertrauen in Journalismus. Aus dieser Befragung sind bereits Daten ausgewertet worden, die in Publikationen veröffentlicht (vgl. unter anderem Blöbaum 2018) oder auf Fachtagungen präsentiert wurden. Die hier vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf die dritte Welle, die im Frühjahr 2019 erhoben wurde. Vgl. K.M. Grosser/V. Hase/F. Wintterlin: Trustworthy or Shady?, S. 509f.

Individual- statt Pauschallösungen

dass sie Transparenz im Alltag eher wenig wahrnehmen – auch wenn Transparenz ihnen, darauf angesprochen, tendenziell wichtig ist35 .

Abb. 1: Bewertung von Transparenzstrategien im Journalismus.

Die vier dargestellten Items eignen sich, um einen Index zu bilden, der die wahrgenommene Transparenz im Journalismus abbildet (M = 2,9436 ; SD = 0,84; α = 0,869). Es zeigt sich, dass jene Bewertung der Transparenzstrategien im Journalismus mit dem allgemeinen Medienvertrauen37 korreliert: Ein höheres Vertrauen steht in Zusammenhang mit einer höheren Zustimmung zum Transparenz-Index (r(897) = 0,462; p