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English Pages 172 [163] Year 2006
Detlev Ipsen Ort und Landschaft
Detlev Ipsen
Ort und Landschaft
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-15102-9 ISBN-13 978-3-531-15102-1
Inhalt
Abbildungsverzeichnis .........................................................................................9 Tabellenverzeichnis............................................................................................11
Vorbemerkung..................................................................................................13 1 Die Wahrnehmung des allgemeinen Raumes..............................................17 Annäherung ........................................................................................................18 Die Komplexitätstheorie ....................................................................................23 Wahrnehmungsraum und Anschauungsraum.....................................................29 Die Raumordnung ..............................................................................................30 Zur Soziologie der Raumwahrnehmung.............................................................34 2 Raumzeichen – Raumsymbole .....................................................................37 Curitiba – eine Stadt zeigt sich als Projekt.........................................................38 Das Bild der Stadt bei Kevin Lynch...................................................................41 Zeichen des Gebrauchs und der Bedeutung .......................................................43 Die Änderung der Zeichensprache .....................................................................45 Von Umberto Ecos Reise in die Hyperrealität zur Geographie des Internets.....52 Zur Soziologie der symbolischen Form .............................................................55 3 Ort und Landschaft, Ränder und Plateaus.................................................61 4 Raum als Landschaft, Landschaft als Ort ..................................................71 Landschaft zwischen Materialität und Bild........................................................73 Landschaft als interdisziplinäres Konzept..........................................................75 Fordistische Landschaften..................................................................................80 Landschaft im Kopf............................................................................................83 Die soziale Strukturierung des Landschaftsbewusstseins ..................................85 5
The Making of Landscape..................................................................................90 Raumbilder.........................................................................................................92 5 Die Kultur der Orte ......................................................................................99 Ein Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raumes ......................99 Ort und Identität ...............................................................................................102 Typologie der Orte ...........................................................................................103 Orte der kulturellen Differenzierung und Integration.......................................106 Sicherheit und Gefährdung, Verlust und Integration........................................109 Abschließende Bemerkungen zur politischen Praxis der Offenen Stadt ..........112 6 Städte zwischen Innen und Außen: ...........................................................115 Randbemerkungen............................................................................................115 Rand und Grenze..............................................................................................116 Erste Randbemerkung: Das Äußere innen zeigen ............................................119 Zweite Randbemerkung: Vergangene Ränder..................................................119 Dritte Randbemerkung: Der Rand und die Zyklen des Kondratieff.................121 Vierte Randbemerkung: An den Rand gedrängt oder Paris als Weltstadt .......122 Fünfte Randbemerkung: Glücksränder und städtische Dörfer .........................124 Sechste Randbemerkung: Mit und ohne Hoffnung ..........................................125 Siebte Randbemerkung: Städte wachsen durch den Rand................................127 Achte Randbemerkung: Orte des Metabolismus ..............................................131 Neunte Randbemerkung: Wenn schon nicht alles, aber Vieles wird Rand ......132 Die Ränder und die Theorie der Stadt ..............................................................133 7 Poetische Orte und regionale Entwicklung ...............................................135 Raum und Identität ...........................................................................................135 Die unternehmende Region ..............................................................................138 Poetische Orte, räumliche Identität und horizontale Integration ......................140 Die Machbarkeit Poetischer Orte .....................................................................144
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8 Landschaft im Fluss: Panoramen und Modulare Landschaften.............147 Die Theorie der transitorischen Landschaft und was sie uns heute bedeutet ...149 Die Verflüssigung der Landschaft oder warum wir uns so schwer tun, die heutigen Landschaften zu verstehen.................................................................152 Die Landschaft im Kopf – empirisch gesehen .................................................155 Resümee für den Planer in uns .........................................................................161 Schlussbemerkung..........................................................................................163 Literaturverzeichnis.......................................................................................165
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 01: Turm der Hoffnung .............................................................................20 Abb. 02: man walking to the sky........................................................................21 Abb. 03: Die Komplexitätshypothese ................................................................26 Abb. 04: Catal Hüyük ........................................................................................33 Abb. 05: Spielzeugbusse Curitiba ......................................................................39 Abb. 06: Bushaltestelle Curitiba, Brasilien ........................................................40 Abb. 07: Kaufungen, freigelegtes und verstecktes Fachwerk ............................50 Abb. 08: Verteilung des Commercial Internet in den USA................................54 Abb. 09: Landschaftsbild und Landschaftsentwicklung.....................................76 Abb. 10: Begriffsfeld Landschaft.......................................................................77 Abb. 11: Weinanbau Pfalz .................................................................................82 Abb. 12: Landschaft in der privaten und öffentlichen Kommunikation.............83 Abb. 13: Dörnberg .............................................................................................85 Abb. 14: Schemata des Landschaftsbewusstseins ..............................................87 Abb. 15: Postkarte - Caspar David Friedrich in Oberhausen .............................94 Abb. 16: Windräder auf der Kanarischen Insel La Palma ..................................95 Abb. 17: Skulptur im Emscherpark....................................................................96 Abb. 18: Regionalpark Rhein-Main ...................................................................97 Abb. 19: Watts Tower, Los Angeles ................................................................101 Abb. 20: Schema der kulturellen Beziehungen der Offenen Stadt...................108 Abb. 21: Ranch bei Kassel ...............................................................................125 Abb. 22: Brasilien, Porto Allegre.....................................................................127 Abb. 23, 24, 25: Athen .....................................................................................130 Abb. 26: Ausprägungen räumlicher Identität ...................................................136 Abb. 27: Skulptur im Rhein-Main-Park ...........................................................141 Abb. 28: Schloss Neuschwanstein....................................................................142 Abb. 29: Ferropolis ..........................................................................................143 Abb. 30: Der Weiler Abgunst in Nordhessen als Modell moderner Landschaft.........................................................................148 Abb. 31: Tetraeder Bottrop ..............................................................................151 Abb. 32: Modi der Veränderungen von Bild und Materialität .........................152 Abb. 33: Braunkohleabbaugebiet / Niederlausitz.............................................155 9
Abb. 34: Spuren des Bergbaus in Oberellenbach / Alheim ..............................156 Abb. 35: Grimnitz See in Wilhelmstadt / Berlin-Spandau ...............................156 Abb. 36: Die Empirie des semantischen Feldes einer modularisierten Landschaft ......................................................159 Abb. 37: Erscheinungsbild der zukünftigen Landschaft (Bergbaulandschaft Niederlausitz) ....................................................160
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Tabellenverzeichnis
Tab. 01: Die Veränderung von Funktion und Bedeutung ..................................44 Tab. 02: Beeinflussungsebenen einer regional begrenzten Landschaft ..............79 Tab. 03: Das theoretische Feld des Landschaftsbewusstseins............................84 Tab. 04: Sektorale Verteilung der geförderten Projekte im Hessischen Ländlichen Regionalprogramm zwischen 1992 und 1998 .................139 Tab. 05: Gründe für die Bedeutung von Landschaft (Niederlausitz, Alheim, Berlin-Spandau) ...........................................157 Tab. 06: Landschaft als semantisches Feld (Niederlausitz, Alheim, Berlin-Spandau) ...........................................158
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Vorbemerkung
Dieses Buch beschäftigt sich mit der Wahrnehmung des Raumes in Zeiten rasanter und neuartiger Entwicklungen räumlicher Struktur und Gestalt. Jede Phase und Form der gesellschaftlichen Modernisierung schafft eigene Organisationsformen des Raumes, verändert Teile seiner Gestalt und wirkt sich so auf die Wahrnehmung des Raumes aus. Die Wahrnehmung wirkt auf das Verhalten und damit auf die funktionale Organisation des Raumes, auf seine materielle Struktur und ästhetische Gestalt. Der Bezug zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen von Städten, Regionen und Landschaften ist selbstverständlich nicht erst seit der Moderne von Bedeutung. Die Berggebiete entlang der Uferzonen des Mittelmeeres wurden in kriegerischen Zeiten entwickelt, in Friedenszeiten aber häufig wieder verlassen (Braudel 1990). Die Schwerpunkte der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung verschoben sich von Venedig nach Brügge, von Brügge nach London. In Zeiten der kapitalistischen Moderne sind die Entwicklungen jedoch um ein Vielfaches beschleunigt und fordern eine ständige Revision der Analysen, eine Erneuerung der Bilder und eine Umorganisation des Raumes ein. Dabei ist eine klare Richtung und Abfolge dieser Wirkungszusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und räumlichen Organisationsformen eher unwahrscheinlich. Zum einen verändern sich Wahrnehmungen und schaffen eine neue Raumwirklichkeit, zum anderen erfolgt dieser Prozess auch in der Umkehrung. Die Modernisierung ist selten direkt auf den Raum bezogen (eine neue Technologie bringt neue Verkehrswege mit sich), meistens ist der Raumbezug eher ungewollt und unbewusst. So war es sicherlich nicht geplant, dass die professionellen Akteure des Internet sich in bestimmten Städten und dort wieder in bestimmten Stadtquartieren konzentrierten, neue Milieus entstehen lassen und mit ihren Ansprüchen an das Quartier Teile des städtischen Raumes verändern. Auf diese Weise wird deutlich, dass sich die virtuellen Organisationen des Raumes auf seine materielle Struktur auswirken bzw. in der Umkehrung dieses Prozesses materielle Eigenschaften des Raumes, wie etwa die Furt durch einen Fluss, über Jahrhunderte hinweg die Stadtbildung mitbedingen können. 13
Die Modernisierung ist ebenfalls kein linearer Prozess. Man kann sie sich allerdings in Phasen und Perioden geordnet denken, wenn bewusst ist, dass diese Ordnungsversuche lediglich das Verstehen der Wirklichkeit erleichtern sollen, aber nicht identisch mit ihr sind. Die idealtypische Gliederung der Prozesse der Modernisierung dient der Analyse und dem Verstehen. Idealtypen im Sinne Max Webers sind gerade dann für den Einblick in den Charakter der Modernisierungsprozesse nützlich, wenn sie sich in Zeiten des Umbruchs in Überlagerungen, Widersprüchen und regionalen Unterschieden zeigen und nicht klar und eindeutig sind. Die Wirkungen der Modernisierung auf die räumliche Gestalt und Struktur zeigen sich dann in Persistenzen, d.h. in Raumzonen und Zeitfenstern, in denen sich das Gestrige hält, weil es widerständig ist oder schlicht übersehen wurde. Demnach kann man Räume nur als Ablagerungen und Überlagerungen diachroner Prozesse verstehen. Bei all den ständigen Veränderungen lassen sich dennoch relativ stabile Konzepte entdecken, die durch den Charakter der menschlichen Wahrnehmungsweise oder durch das Bedürfnis nach kulturellen Bedeutungen und Symbolen bedingt sind. Sie werden aus kulturanthropologischen Erfahrungen gespeist, welche der Moderne vorgelagert sind. In dieser Publikation soll weder eine Geschichte des Zusammenhangs von Modernisierung, Raumentwicklung und Raumwahrnehmung geschrieben werden, noch eine Theorie des Raumes in der Moderne. Der Anspruch ist bescheidener. Es sollen Sichtweisen und Konzepte zur Diskussion gestellt werden, die dem Verständnis der räumlichen Dynamik und ihrer Verwerfungen dienen. Die Auflösung dualer Konzepte wie Stadt und Land, die Verflüssigung von Landschaften zu einem „weder noch“, die Entleerung einiger Regionen und die Verdichtung anderer, die Angleichung von Lebensstilen und ihre gleichzeitige Differenzierung sind Anlass einer kritischen und an den aktuellen Entwicklungen orientierten Diskussion der Konzepte und Thesen räumlicher Soziologie. Dabei widmen sich die beiden ersten Kapitel grundlegenden Zugängen der Wahrnehmung von Räumen und der Rolle von Zeichen und Symbolen. In den darauf folgenden Abschnitten soll Schritt für Schritt geprüft werden, ob und wie die zentralen Konzepte von „Ort und Landschaft“ dem Verständnis der Transformation von Räumen in Zeiten rasanter Modernisierung dienlich sind und zugleich Perspektiven für Planung und Entwurf bieten. Die einzelnen Kapitel sind in den letzten Jahren entstanden und in Teilen in Zeitschriften und Sammelbänden publiziert. Für die vorliegende Publikation wurden die Aufsätze überarbeitet und weiterentwickelt. Die Inhalte der Kapitel sind eng mit Forschungsprojekten verbunden, waren Gegenstände von Diskussionen in Seminaren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der „Arbeitsgruppe Empirische Planungsforschung“, die vor 25 Jahren an der Universität 14
Kassel gegründet wurde, waren in vielen Diskussionen und an der Ausformulierung der Gedanken beteiligt. Dies gilt auch für die Diskussionsbeiträge und Fragen der Studierenden. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
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1 Die Wahrnehmung des allgemeinen Raumes
Raum wird in vielen Texten als eine allgemeine Konstruktion für das Verstehen unserer Welt verwendet und in enger Beziehung zur Zeit gesetzt. In der Phänomenologie wird bei der Zeit zwischen der abstrakten Zeit, die Minuten, Stunden, Tage etc. misst und der gelebten Zeit unterschieden. Eine ähnliche Differenzierung kann man auch beim Raum vornehmen. Der abstrakte Raum bezieht sich auf Maßzahlen wie den Meter. Die inhaltliche Betrachtung von Raum analysiert funktionale Ordnungen und Fließgrößen. Der gelebte Raum stellt sich als Ort und Landschaft dar. Wenn man sich in diesem Sinne mit dem abstrakten Raum beschäftigt, gerät man in ein der Raumwahrnehmung eigenes Spannungsfeld. Auf der einen Seite bestimmen Maßeinheiten wie Länge, Breite und Höhe eines bestimmten Raumes die Vorstellung von ihm. Die Messbarkeit des Raumes ist im Alltag gegenwärtig. Wohnungen mit einer bestimmten Zahl von Quadratmetern werden angeboten und zu einem bestimmten Preis pro qm verkauft oder vermietet. Ein landwirtschaftlicher Betrieb bewirtschaftet fünf oder fünfhundert Hektar und kann in seiner inneren Organisation bestimmt werden. Auf der anderen Seite treten Räume aller Art dergestalt in das Bewusstsein ein, dass wir sie schätzen oder verabscheuen. In den Vordergrund drängen sich die Einrichtung eines Wohnraumes, die Lichtverhältnisse in Kirchen, Klänge auf Plätzen oder Straßen. Die Beschreibungsparameter kommen nun nicht mehr aus der Geometrie, sondern benennen Stimmungen oder Atmosphären. Sie beziehen sich also auf ein spezifisches Verhältnis zwischen einem Subjekt und einer räumlich bestimmten Umwelt. Ganz ähnlich ergeht es uns mit der Zeit. Auf der einen Seite ist sie, wie schon gesagt, abstrakt bestimmbar. Diese Bestimmung der Zeit durchdringt den modernen Alltag. Ohne Terminkalender lässt sich in vielen Berufen nicht mehr arbeiten, denn der „Stundenplan“ bestimmt den Rhythmus der Handlungen (und dies bereits schon im Kindergarten). Auf der anderen Seite denken wir an Morgenstunden, die sich mit Frische oder Aufbruch verbinden lassen, an die Zurückgenommenheit des mediterranen Mittags und sprechen von einem entspannenden Abend. Auch hier existiert das Nebeneinander von Maßeinheit und Gestimmtheit. Beide Größen charakterisieren die Beziehung, die sich zu Raum und Zeit einstellt. Die terminologische Klärung verdeckt den doppelten Charakter der Beziehung, die wir über unsere Wahrnehmungen zum 17
Raum aufnehmen. Dabei ist es gleichgültig, ob wir ihn als Ort oder als Fließraum empfinden. Im ungünstigen Fall verführt die terminologische Klärung zu einer irreleitenden Verdinglichung: hier ist der Fließraum, dort ist ein Ort. Was aber sind dann die Alleen des 19. Jahrhunderts, was ist die Rambla in Barcelona, was bedeutet es, wenn man von einer landschaftsangepassten Planung einer Autobahn spricht? Die Differenzierung und die naturgesetzliche Einheitlichkeit menschlicher Wahrnehmung sollten gleichzeitig bedacht werden, wenn man von Räumen spricht. Die Wahrnehmung des Raumes, um die es in diesem Kapitel geht, bezieht sich auf beide Aspekte. Kognitive Wahrnehmung kann sich der euklidischen oder nicht-euklidischen Geometrie bedienen, um Teilen der Raumwahrnehmung Ausdruck zu verleihen. Um den Raum in seiner Gegenständlichkeit und materiellen Beschaffenheit zu erfassen, haben wir sprachlich gefasste Kategorien für die Klassifikation von Gegenständen und Materialien (wie Möbel oder Farben) oder benutzen analytische Maßeinheiten wie die Frequenz optischer und akustischer Wellen zur Beschreibung der Licht- und Klangverhältnisse. Auf der anderen Seite geht es um die Entstehung von Ordnungsmustern: „Wie entstehen Vorstellungen und Orientierung?“, oder um motivationale Zustände: „Welche Räume werden aufgesucht oder gemieden?“. Ich vertrete dabei die These, dass eine Wahrnehmungstheorie des Raumes scheitert, wenn sie jeden möglichen Aspekt des Raumes einzeln behandelt. Die Raumwahrnehmung ist in erster Instanz ganzheitlich. Der Raum wird insgesamt begriffen und gestaltet, die Beschäftigung mit einzelnen Aspekten ist dabei eine ergänzende Aufgabe.
Annäherung Nehmen wir uns zunächst die Zeit an einigen experimentellen Beispielen Wege zur Raumwahrnehmung zu verdeutlichen. Der Architekt Kükelhaus hat Zeit seines Lebens nicht nur beklagt, dass die sinnliche Wahrnehmung des Raumes und ganz besonders der Gebäude wenig entfaltet ist, sondern hat durch Publikationen und die Entwicklung von Erfahrungsräumen wesentlich dazu beigetragen, dass die Erfahrung des Raumes mit allen Sinnen zumindest nicht ganz aus der Diskussion geraten ist (Kükelhaus 1979). In einem „Zentrum zur Förderung der Sinne“, das auf seinen Arbeiten aufbaut, gibt es im Kellergeschoss ein Café für Blinde. Dieses Café ist weniger für Blinde gedacht als für Sehende, damit sie nachempfinden können, was man von Blinden lernen kann. Denn nachdem die Tür hinter dem Besucher geschlossen wird, steht man in völliger Dunkelheit in 18
einem Gang. Von irgendwo hört man die typischen Geräusche eines Cafés: Porzellan auf Tischflächen, das Zischen einer Espressomaschine, Gesprächsfetzen. Wie aber sich Klarheit schaffen, woher diese Geräusche kommen, wie dorthin gelangen? Die Geräuschquelle ist einigermaßen leicht zu orten, nun beginnt das Tasten. An den Wänden versuchen die Hände Orientierung zu finden, am Boden die Füße. Dabei versucht der Hörsinn ständig zu orten, wie weit ich vom Ziel entfernt bin. Als ich schließlich den Raum erreicht habe, werde ich von dem blinden Barkeeper angesprochen, als habe er mich schon lange erwartet: „Sie wünschen?“. Allmählich komme ich ins Gespräch und gewinne Vertrauten in die Situation, bis schließlich der Vorgang des Zahlens kommt. Woher soll ich wissen, was 2 Euro und 50 Cent sind? Wird man mir auf den Schein, bei dem ich nicht weiß, ob es zwanzig oder fünfzig Euro sind, richtig herausgeben? Noch einmal bedauere ich den Verlust des Sehens, doch der Weg zurück erscheint mir beinahe vertraut. Wieder im Hellen angelangt, möchte ich die intensive Erfahrung des Tastens, Hörens, Ortens nicht missen. Dieses kleine Experiment zeigt zweierlei: Zum einen wird deutlich, wie stark die uns gewohnte Wahrnehmung des Raumes über das Sehen gesteuert ist. Zum anderen wird bewusst, welch ein Verlust von Erfahrungen sich mit der Konzentration auf den visuellen Aspekt eines Raumes verbindet. Wichtiger jedoch ist, dass dem „erblindeten“ Besucher durch die Unmöglichkeit den Raum zu sehen, deutlich wird, was bei jeder Wahrnehmung des Raumes unbewusst geschieht. Über die Sinne vermittelt, konstruieren wir die Ordnung des Raumes jedes Mal neu, auch wenn dies nach bestimmten Mustern geschieht. Der Raum, dem wir uns vermeintlich gegenüber wähnen, wird auf der Grundlage bestimmter Vorgaben in uns und durch uns entworfen. Raumwahrnehmung ist also nicht rezeptiv, sondern schöpferisch. Indem wir den Raum wahrnehmen, erzeugen wir ihn in uns. Damit eröffnet sich die Möglichkeit den Raum um uns zu erschaffen. Die etymologische Bedeutung des Raumes entspricht dieser Beobachtung. In der Bedeutungsentwicklung leitet sich Raum von der Tätigkeit des Rodens ab. Von seiner eigentlichen Sprachbedeutung her wird klar: Raum ist nicht da, sondern wird geschaffen. Erst wenn man ein Stück Wald rodet, entsteht Raum um uns. Erst wenn wir Muster entwickeln, die Rodung als Lichtung oder als Siedlung wahrzunehmen, entsteht Raum in uns. Unsere zweite Annäherung findet im Rampenlicht der Weltkunstausstellung „documenta“ in Kassel statt. Während der „documenta IX“ baute der afrikanische Künstler Mo Edoga aus Schwemmholz und anderen Abfallmaterialien einen „Signalturm der Hoffnung“.
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Abb. 01: Turm der Hoffnung
Zu Beginn seiner Arbeit kriminalisiert und verlacht, schuf er Stück für Stück einen, wie er es selbst nannte, nicht-euklidischen Raum. Bretter und Äste, manchmal auch eine Kiste wurden mit afrikanischem Hanf, der elastisch und fest zugleich ist, aneinander gebunden. Der Turm wurde breiter und höher. Kinder kamen, um zu helfen und auf ihm zu klettern. Das Bauamt fragte nach, wie 20
hoch das Kunstwerk werden solle, doch erhielt keine Antwort. Aus der anfänglichen Ablehnung durch die Bevölkerung wurde eine teilnehmende Zuneigung. Direkt gegenüber ließ der amerikanische Künstler Jonathan Borofsky durch eine Herstellerfirma seine Skulptur „man walking to the sky“ aufbauen. Die Kasseler Bürgerinnen und Bürger fanden diese Skulptur sehr schön und nannten sie in äußerst freier Übersetzung „Himmelsstürmer“. Beide Künstler hatten gegensätzliche, aber klar erkennbare Botschaften. Der Hoffnungsturm von Mo Edoga vermittelte die Botschaft: Abfall ist wertvoll, Arbeit ist Kunst, Schönheit ist chaotisch. „Man walking to the sky“ wurde von den Kasselern offensichtlich als ein optimistisches Zeichen für die Zukunft gedeutet. Der Mensch bewegt sich auf einer linearen Strecke aufwärts, Fortschritt ist machbar. Der Künstler selber hat sich von dieser Interpretation distanziert und darauf hingewiesen, dass die Plastik auch die Möglichkeit des Absturzes deutlich mache. Der „Signalturm der Hoffnung“ wurde wieder abgebaut, die Schwemmhölzer der Müllverbrennung zugeführt. Die Skulptur „man walking to the sky“ blieb stehen, da sie von den BürgerInnen in einer Spendenaktion angekauft wurde. Es entstand eine Debatte darüber, an welchem Ort der Stadt sie ihren endgültigen Standort finden sollte. Sollte er draußen vor der Stadt in einem Freizeit- und Badegelände stehen, oder wäre ein Platz an einem übergroßen Kreisverkehr ein richtiger Ort?
Abb. 02: Man walking to the sky
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Schließlich wählten Politik und Planung den Vorplatz des Bahnhofs als geeigneten Standort. Die Standortfrage war, so wie geschehen, allerdings falsch gestellt. Die eigentliche Bedeutung der Skulpturen wurde durch das jeweilige, räumlich sehr nahe Gegenüber hergestellt. Der „Turm der Hoffnung“ platzierte sich als handwerkliches Gegenmodell zu dem technisch-industriellen „man walking to the sky“. In den Erzählungen, die sich zwischen den beiden Skulpturen entspannten, wurden die unterschiedlichen Entwicklungsvorstellungen bezüglich des Fortgangs der Welt deutlich. Was zeigt dieses Beispiel? Gegenstände vermitteln Informationen, doch ihr Inhalt wird im Wesentlichen durch Kommunikation in einem sozialen Raum bedeutsam. Wie Figur und Grund verhalten sich Gegenstand und Raum. Ohne ein wechselseitiges Verhältnis entziehen sie sich der Wahrnehmung, in ihrem Verhältnis konstituieren sie eine spezifische Bedeutung: wechselt der Grund, ändert sich die Bedeutung der Figur. Der dritte Weg, um uns der Wahrnehmung des Raumes zu nähern, führt nach Spanien. Die Kleinstadt Los Llanos auf der Insel La Palma hat wie die meisten spanischen Städte einen Platz, der offiziell Plaza De España, inoffiziell aber Plaza Mayor genannt wird. Einen Platz als den „größeren“ zu bezeichnen, macht nur Sinn, wenn in einem engen Bezug zu ihm ein kleiner Platz existiert. Und so ist es. Die Plaza Chica liegt nebenan. Beide Plätze bilden also ein Ganzes, weil sie sich aufeinander. Am größeren Platz befinden sich das alte und neue Rathaus und der zentrale Kiosk der Stadt. Hier trifft man sich, um eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken und vor allem, um miteinander zu reden. Am Plaza Mayor sind die Kirche, die Post, die Bank, eine Konditorei, die Apotheke, ein Blumenladen und ein Reisebüro ansässig. Alle Dinge, die zum Alltag gehören, aber doch etwas Besonderes darstellen, finden sich hier. Auch der Kulturclub der älteren Herren aus gehobenen Schichten hat hier seine Räumlichkeiten. Ganz anders die Plaza Chica: In der Mitte plätschert ein kleiner Brunnen von Palmen umstanden. Unter ihrem Schatten stehen steinerne Bänke, die Kühle und Ruhe versprechen. Während man drüben laut redet, Kinder auf dem Platz Ball spielen, Touristen ihre Zeitung lesen und Gruppen von Jungen und Alten zusammencliquen, sitzt hier jeder für sich. Man schaut vor sich hin oder blättert in einem Buch. Niemand käme auf die Idee, hier Musik zu machen oder laute Gespräche zu führen. Die beiden Plätze stehen für zwei Prinzipien der südeuropäischen Stadt: die Plaza Mayor steht für Kommunikation, die Plaza Chica für Kontemplation. Ihre architektonische Gestaltung legt jeweils das eine nahe und schließt das andere aus. Für die Wahrnehmung des Raumes wird das, was bei einem Kunstwerk die Aura genannt wird, bedeutungsvoll. Das Zusammenspiel der Materialität eines Raumes und der Gestimmtheit des Betrachters bildet die Atmosphäre des Raumes/Platzes. Der Begriff Atmosphäre, so erscheint es uns, spielt eine zentrale Rolle, um die Ganzheit eines Raumes zu 22
begreifen. Alle Beschreibungen und Analysen einzelner Bestandteile eines Raumes und einzelner Verhaltensweisen eines Menschen können dazu beitragen dem Wissen über diesen Raum Substanz zu verleihen. Verstehen wird man ihn allerdings erst, wenn das Spannungsfeld zwischen dem Subjekt und den Gegenständen eines Raumes Kontur gewinnt (Böhme 1995).
Die Komplexitätstheorie Eigentümlicherweise trennen alle einschlägigen Werke die Theorie der Wahrnehmung strikt von der Motivationstheorie. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass über ein Jahrhundert hinweg Wahrnehmen als ein rezeptives, Motivation jedoch als ein aktivierendes Moment der Psychologie des Menschen aufgefasst wurde. Hier wird jedoch die Ansicht vertreten, dass Wahrnehmung als eine aktive Leistung zur Konstruktion der Wirklichkeit zu begreifen ist und nicht im Sinne der Reiz-Reaktionstheorie (stimulus-response) als eine schlichte Reaktion auf Umwelteinflüsse. Sicherlich gibt es eine Basis der Umweltwahrnehmung, die sich als Reflex des autonomen Nervensystems darstellt: etwa das Augenzucken bei Bewegungen, die sehr augennah sind. Zudem gibt es eine Reihe eng gelernter Reiz-Reaktions-Verbindungen – zum Beispiel der Speichelfluss beim Anblick einer anregend hergerichteten Speise – die freilich schon auf den ersten Blick auf die motivationale Grundlage der Wahrnehmung hinweisen. Begreift man die Raumwahrnehmung als eine aktive Leistung der Konstruktion des Raumes, als bewusstes oder unbewusstes Schema, so stellt sich zugleich die Frage, ob denn alles, was Raum sein könnte, wahrgenommen wird. Die Alltagsbeobachtung lehrt uns das Gegenteil. Bei der Wahrnehmung des Raumes gibt es von Person zu Person erhebliche Unterschiede, die darauf verweisen, dass die Wahrnehmung selbst stark von Interesse und kulturell gelerntem Habitus geleitet ist. Der Erklärungsanspruch der Komplexitätstheorie bezieht sich auf die Fragen „Auf welche Aspekte der Umwelt richtet sich die Wahrnehmung?“, „Welche Aspekte werden im Wahrnehmungsprozess ausgeblendet?“. Die Wahrnehmung ist auf bestimmte Teile des Raumes fokussiert, andere werden ausgeblendet, wieder andere in Form einer habitualisierten Form verarbeitet. Um die Komplexitätstheorie zu entwickeln, musste ein grundlegendes psychologisches Paradigma überwunden werden. Die psychologische Forschung ging über Jahrzehnte davon aus, dass alle komplexeren Verhaltensweisen auf der Grundlage von Primärmotivationen (z.B. Hunger, Sexualität) konditioniert werden. Erst Zufälle bei Lernexperimenten mit Affen machten deutlich, dass die 23
Suche nach Informationen ähnlich wie die Suche nach Nahrung physiologisch vorgegeben ist. Durch eine Vielzahl von Experimenten kristallisierte sich eine einfache und, wie ich meine, für die Raumwahrnehmung zentrale Hypothese heraus. Eine durch äußere Bedingungen reduzierte Chance, neue und komplexe Informationen zu suchen, führt dazu, dass die Attraktivität einer Situation abnimmt. Der extreme Fall der camera silens, der Raum, von dem weder akustische, optische noch taktile Reize ausgehen, führt in relativ kurzer Zeit zum Tod. Eine zunehmende Möglichkeit neue und komplexe Informationen aufzunehmen, erhöht die Attraktivität einer Situation bis zu einem Optimumniveau. Steigt danach die Komplexität weiter an, so verliert die Situation an Attraktivität und wird, insofern es möglich ist, gemieden. Die Grundlage dieser Hypothese ist die physiologische Erregung des zentralen Nervensystems (arousal). Ist diese Erregung sehr gering, so ist der Antrieb sich mit der Umwelt zu beschäftigen, ebenfalls gering. Ist die Erregung sehr hoch, so wird die Umweltsituation gemieden. Eine mittlere Erregung ist optimal. Da die Erregung des Nervensystems auch durch die Komplexität von Informationen bestimmt ist, ergibt sich insgesamt ein kurvilinearer Zusammenhang von informationeller Komplexität und der Attraktivität einer Situation. Dieser allgemeine Zusammenhang stellt sich für jede Person gesondert dar. Das heißt, jede Person hat ein ihr eigenes zu einem bestimmten Zeitpunkt gültiges Adaptionsniveau, durch das die Verarbeitungskapazität von Informationen bestimmt ist. Etwas salopp formuliert, was dem einen neu und komplex ist, findet der andere langweilig. Das Adaptionsniveau ist aber nicht nur von Mensch zu Mensch unterschiedlich, sondern ist durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt ständig in Bewegung. Was einem heute neu ist, ist morgen ein alter Hut. Und schließlich ist das Adaptionsniveau von der kulturellen Umgebung geprägt, die für Gruppen oder soziale Kategorien gelten. Alle Großstädter haben im Vergleich zu den Bewohnern einer Kleinstadt ein anderes Adaptionsniveau, die Italiener ein anderes als die Niederländer etc. (Berlyne 1974). So einfach sich diese Theorie formulieren lässt, so schwierig ist es sie empirisch zu überprüfen. Ohne dies an dieser Stelle im Einzelnen zu behandeln, sei auf die Problematik der Operationalisierung am Beispiel der Komplexität eingegangen. Die Komplexität bestimmt sich zum einen immer als die Komplexität einer Situation. Diese Situation muss eindeutig abgrenzbar sein. Darin besteht schon die erste Schwierigkeit. Situationen sind nur relativ voneinander getrennt. Empirisch geht eine Situation in eine andere über, es kommt zu Überschneidungen und hybriden Stadien. Des Weiteren ist der Grad der Komplexität sowohl objektiv als auch auf der Ebene des wahrnehmenden Subjektes zu bestimmen. Objektiv kann eine Situation aus wenigen oder vielen Elementen bestehen. Die Elemente selbst sind aber schon nicht mehr materiell zu bestim24
men, sonst würde sich ihre Zahl bis ins Unendliche bewegen. Sie sind vielmehr Wahrnehmungskonstruktionen. Ein Stein besteht bei einem Sandstein aus einer Vielzahl von Sandkörnern, die wiederum aus einer Vielzahl von chemischen Substanzen bestehen. Bestimmen wir also eine Situation als durch eine Vielzahl von Steinen bestimmt (zum Beispiel das Schotterbett eines Flusses), so wählen wir Begriffe, die als Wahrnehmungskonstruktionen fungieren. Hätten wir den Begriff des Schotterbettes nicht, so wäre die gleiche objektive Situation um ein Vielfaches komplexer, als sie dies mit dem Begriff für uns ist. Komplexität ist also in jedem Fall immer schon die Relation zwischen einer Situation und einem Subjekt. Diese Relation befindet sich tendenziell in Bewegung, da sich auf Grund bestimmter Einflüsse die Situation selbst ändern kann oder es ändert sich die Wahrnehmungskonstruktion oder es ändert sich beides. Führt man sich vor Augen, dass die meisten Situationen nicht nur aus einer Vielzahl gleicher Elemente, sondern aus einer Mehrzahl verschiedener Elemente bestehen, so bestimmt sich die Komplexität aus den Wahrnehmungskonstruktionen der verschiedenen Elemente sowie aus der Konstruktionen zur Erstellung der Beziehung zwischen den Elementen. Auch diese Konstruktionen zweiter Ordnung, die sich auf die Beziehung zwischen den Elementen beziehen, können verschieden sein. So kann das Element 1 mit dem Element 2 in einer euklidischen Beziehung stehen, d.h. sie bilden jeweils die Endpunkte einer Geraden. Die Beziehung von zwei anderen Elementen ließe sich zwar auch geometrisch beschreiben, ihr wesentlicher Zusammenhang ist jedoch ein funktionaler, d.h. bewegt sich das Element 1 wird das Element 2 gleichsinnig oder gegensinnig bewegt. Es sollte durch diese vereinfachten Beispiele deutlich geworden sein, wie schwierig die Umsetzung der Komplexitätsvariablen in beobachtbare Größen ist. Zum Glück benötigen wir für einen Text über Raumwahrnehmung keine exakten operationellen Definitionen, sondern lediglich offen formulierte Beobachtungshypothesen. Die Komplexitätstheorie besagt, dass uns Situationen, die einen ganz geringen Input an Informationen bieten, unattraktiv erscheinen. Als unattraktiv empfinden wir auch sehr komplexe Situationen. In dem mittleren Bereich stellt sich eine optimal bewertete Situation ein.
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Abb. 03: Die Komplexitätshypothese
Die Komplexitätstheorie, wie sie oben grafisch dargestellt ist, gibt zunächst einmal Hinweise darauf, auf welche Räume bezogen bewusste oder unbewusste Raumwahrnehmungen stattfinden. Unbewusste Raumwahrnehmungen finden statt, wenn die Komplexität der Raumausstattung gering ist, man diesen aber aus Gründen der Nutzungsinteressen oder eines äußeren Zwanges nicht verlassen kann. In diesen Fällen kommt es zu einer Habitualisierung der Wahrnehmung in Bezug auf die Aspekte des Raumes, die in dem Handlungsschema eine funktionale Bedeutung haben. Ein klassisches Beispiel ist der Abstand zwischen den Stufen einer Treppe in einem Haus. Man nimmt den Treppenabstand nicht bewusst wahr, aber realisiert ihn im Bewegungsablauf. Man kann davon ausgehen, dass der allergrößte Teil der Raumwahrnehmung habitualisiert ist und quasi reflexhaft in das Handlungsschema übernommen wird. Zu einer bewussten Wahrnehmung kommt es nur bei unerwarteten Veränderungen. So ist es möglich, dass man einen identischen Raum neu entdeckt, wenn sich die persönliche Situation radikal ändert. Verliert man seine Sehfähigkeit, so entdeckt man die Klangkulisse dieses Raumes. Die Komplexitätstheorie erklärt also Habitualisierung und Selektivität der Raumwahrnehmung. Zugleich wird deutlich, dass die Raumwahrnehmung in gering komplexen Räumen gleichsam erstarrt. Man kann sich leicht vorstellen, wie schwierig unter solchen Bedingungen räumliche Veränderungen sind. Es ist nicht nur so, dass im Handlungsschema der Bedarf an Veränderungen erloschen ist, man verharrt auch auf einem sehr geringen Komplexitätsniveau. Das heißt, dass schon geringe Neuerungen Angst erzeugen und Abwehrhaltungen hervorrufen. Auf diese Weise kann es zu einer ausgeprägten 26
„Sklerotisierung“ von Räumen kommen, die nur durch äußere Interventionen abgebaut werden können. Zudem weist die Theorie aber auch darauf hin, dass es eine selbstverstärkende Dynamisierung der Raumwahrnehmung gibt. Aufbauend auf das physiologische Bedürfnis nach Informationen gerät das Adaptionsniveau in Bewegung. Schon bald entsprechen einfache Situationen nicht mehr dem Optimumniveau. Dies kann zu einer Intensivierung der Raumwahrnehmung in einem bestehenden Raum führen. Immer stärker werden ästhetische, soziale und ökonomische Potentiale des Raumes entdeckt oder produziert. Die Suche nach neuen Eindrücken im Raum wird durch eine aktivierende Wahrnehmung wach gehalten. Es kann aber auch sein, dass die Dynamisierung der Raumwahrnehmung zu einem Rückzug führt, um andernorts Informationen zu finden, weil es einem vor ort nicht möglich erscheint. Kehren diese „Auswanderer“ zurück, so können sie zu Innovatoren „ihres“ Raumes werden. Man erkennt leicht, wie eng Raumwahrnehmung und Raumentwicklung zusammenhängen. Auf eine weitere grundlegende Aussage der Komplexitätshypothese sei noch hingewiesen: Die These formuliert den Zusammenhang zwischen dem Komplexitätswert und der motivationellen Attraktivität einer Situation in Folge des Erregungsniveaus im zentralen Nervensystem. Das Erregungsniveau wird durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt, die jeweils zu einem Zeitpunkt und an einem Raumpunkt wirksam werden. Grundsätzlich werden in einer Situation drei Reizfelder aktiviert. Es gibt die residuale Reize, die wirksam werden. Dies sind Erinnerungen, die mit einem Raum-Zeitpunkt assoziiert sind. Es gibt fokale Reize, d.h. die Wahrnehmung konzentriert sich auf einen bestimmten Aspekt einer Situation oder kontextuelle Reize, die mit einem Raum-Zeitpunkt verbunden sind. Alle drei Reizfelder wirken einzeln (additiv) oder multifaktoriell (multiplikativ) auf das Erregungsniveau Jedes dieser drei Reizfelder kann die anderen verdrängen oder subventionieren. Musik während der Arbeit (Kontext) kann bei einer gering komplexen Arbeit die Fokalisierung stärken, kann aber auch bei einer hoch komplexen Arbeit irritieren. Erinnerungen können blind machen, wenn sie zu starken Erregungen führen etc. Es ist leicht vorzustellen, dass diese Ausdifferenzierung der Theorie die Raumwahrnehmung stark beeinflusst. Die Kommerzialisierung der Stadtzentren führt dazu, dass jeder Anbieter von Waren oder Dienstleistungen auf sich aufmerksam machen will und sich als Fokus der Raumwahrnehmung anbietet. Indem jeder bemüht ist den Fokus der Raumwahrnehmung auf sich zu lenken, wird in der Gesamtheit das Gegenteil bewirkt. Die Summe aller intendierten Foci wird tendenziell zum Kontext des Raumes. Um nun doch noch hervorzutreten, werden weitere Sinnesattraktivitäten erfunden, die wiederum, wenn dem alle folgen, den kontextuellen Input für das Erregungsniveau erhöhen. Dies führt 27
entweder zu einer Abschottung der Wahrnehmung, um einer Reizüberflutung vorzubeugen oder zu einer Attraktivitätsminderung des gesamten Raumes. Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, wurden in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in fast allen Städten Fußgängerzonen eingerichtet. Es wurde damit der Kontext der Stadtzentren „wahrnehmungs-theoretisch“ entlastet (Wegfall des Verkehrslärms, der Gefährdung durch Verkehr) und für eine weitere Kommerzialisierung geöffnet. Etwa zur gleichen Zeit wird in Planung und Architektur die Debatte um die Verödung des städtischen Raumes eröffnet. Die Doktrin der Funktionstrennung von Wohnen, Arbeit sowie die Errichtung kommerzieller Zentren, aber auch die Gleichförmigkeit der Bebauung mit Einfamilienhäusern oder Zeilenbauten ließen den Eindruck einer ästhetischen Verarmung aufkommen. Im Rückblick auf den Bau mittelalterlicher Städte wurde die These der wahrnehmungs-theoretischen Ambivalenz dieser Städte formuliert. Am Beispiel des Münsters von Strasbourg lässt sich aufzeigen, dass sich aufgrund der geringen Abstände zu der umgebenden Bebauung der Kirchenbau nicht als Ganzes wahrnehmen lässt. Man muss den Bau umschreiten und in Gedanken zu einem Ganzen zusammenfügen. Die städtebauliche Ambivalenz ist eine Möglichkeit einer aktivierenden, die Neugier stimulierenden Wahrnehmung des Raumes. Eine andere Möglichkeit ist es den Raum umzubauen. Als „Learning von Las Vegas“, wo die Fassaden der Spielhallen und Hotels ständig und unter Anleihe von Vorbildern aus aller Welt umgestaltet werden, wurde die postmoderne Kombinationsfreiheit in den Städtebau eingeführt. Nach Jahren der Standardisierung des Bauens entstand damit eine Art Baukasten-Vielfalt in den Städten (Venturi 1979). Die Beispielliste, wie sich die Komplexitätstheorie auf die Praxis der Wahrnehmungsbeeinflussung auswirkt, ließe sich beliebig fortsetzen. Als wichtig festzuhalten bleibt, dass dieser theoretische Ansatz zwei grundlegende Prinzipien der räumlichen Wahrnehmung nahe legt. Zum einen wird deutlich, dass die räumliche Wahrnehmung eine Handlung ist. Sie ist vergleichbar mit dem Essen, Trinken und der Suche nach sexueller Befriedigung. Umgekehrt gleichen Behinderungen bei der Suche nach neuen und komplexen Informationen einer Einschränkung der Befriedigung eines Grundbedürfnisses. Architekturen und Planungen, die keine Entdeckungen des Raumes zulassen, sind also nicht einfach hässlich oder belanglos, sondern schränken die Befriedigung elementarer Bedürfnisse ein. Zum anderen differenziert die Raumwahrnehmung sich in fokale, kontextuelle und residuale Reizfelder, die keineswegs alle raumbezogen sein müssen.
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Die Wahrnehmung des Raumes ist in die Wahrnehmung der gesamten Umwelt einzuordnen, und sie ist abhängig von den individuellen und kollektiven Erfahrungen und Erinnerungen. Raumwahrnehmung kann eine bloße Kontexterfahrung sein, wenn man sich auf einen anderen Menschen, auf Waren oder den Verkehr konzentriert. „Langweilige“ Räume können sehr aufregend sein, wenn man darin geschult ist die Geschichte dieses Raumes zu entziffern.
Wahrnehmungsraum und Anschauungsraum Die Komplexitätstheorie hat einige Hinweise auf die Richtung der Raumwahrnehmung gegeben, doch die Wahrnehmung des Raumes im engeren Sinn als „black box“ behandelt. Wie ist die Wahrnehmung der Umwelt im Allgemeinen und die des Raumes im Besonderen strukturiert? Die behavioristische Psychologie klammert das Feld der Wahrnehmung systematisch aus. Sie beobachtet Reize, die von einer Umwelt ausgehen und korreliert diese mit raum-zeitlich kontingenten Reaktionen. Genau der Bereich, der zwischen Reiz (stimulus) und Reaktion (response) liegt, ist das Feld der Wahrnehmungstheorie. Zum einen ist die Wahrnehmung selbstverständlich von Reizen abhängig, d.h. sie ist an die materielle und belebte Welt gekoppelt. Zum anderen werden Reize von und durch unsere Leiblichkeit verarbeitet. Es ist bis auf wenige Ausnahmen nicht der Reiz, den wir vermerken, sondern eine Empfindung, die den Reiz verarbeitet. Die Welt dieser Empfindungen nennt die Psychologie Wahrnehmungsraum. Der Wahrnehmungsraum ist also weder rein leiblich und subjektiv, noch ist er dem Raum der Dinge und Objekte zuzuordnen. Der Wahrnehmungsraum baut sich zwischen Subjekt und Objekt auf. Zwar ist es richtig, dass die Leiblichkeit der Fixpunkt des Wahrnehmungsraumes ist, aber von ihr aus ist der Wahrnehmungsraum externalisiert. Insofern ist er individuell, d.h. jeder Mensch hat einen eigenen Wahrnehmungsraum, der aber weder subjektiv noch objektiv ist. Der Raum spielt im Wahrnehmungsraum die zentrale Rolle, weil nur über ihn die Auseinandersetzung jedes einzelnen Menschen mit der äußeren Natur und der gesellschaftlichen Wirklichkeit stattfinden kann, die seine Existenz bedingt. Der Wahrnehmungsraum wird als Ergebnis eines ständigen Lernens mit einer „Raumordnung gefüllt“, die die Vielzahl von Raumeindrücken strukturiert und letztendlich die Anschauung der Welt ergibt. Der durch eine Raumordnung strukturierte Wahrnehmungsraum ist der Anschauungsraum. Für die Wahrnehmung des Raumes sind Augen und Ohren und entsprechend die optischen und akustischen Reize zentral. Zwar ist es richtig, dass der Tastsinn gerade bei kleinen Kindern oder Blinden eine wichtige Rolle bei 29
der Raumerfahrung und dem Aufbau der Raumordnung spielt. Das Sehen und das Hören sind jedoch in der Regel effizienter. Dies spiegelt sich auch in der Beobachtung wider, dass sowohl das Auge wie das Ohr die Empfindung nicht bei den Rezeptoren lokalisiert, sondern bei dem vermuteten Sender des Reizes. Dies unterscheidet diese beiden Wahrnehmungsorgane von dem Geschmacksund Tastsinn, die die Empfindung an den Rezeptoren „festmacht“. Aus noch nicht wissenschaftlich geklärten Gründen wird beim Sehen und Hören also eine Außenwelt konstruiert, durch die der Anschauungsraum objektiviert wird, obgleich der Anschauungsraum in jeder Hinsicht ein virtueller Raum ist. Zwischen dem Anschauungsraum und dem Raum der Gegenstände existiert eine widersprüchliche Beziehung. Die angesprochene Objektivierung wird durch diese „Brüchigkeit“ emotional stabilisiert. Wir sind uns eines Innen und eines Außen sicher. Dies ist für das Handeln sicherlich von Vorteil. Für das Erkennen der Welt liegt darin aber ein gefährlicher Mangel an „strukturellem Skeptizismus“, aus dem sich manches Fehlverhalten erklären lässt.
Die Raumordnung Es ist bislang festgehalten worden, dass der Anschauungsraum ein durch eine Raumordnung strukturierter Wahrnehmungsraum ist. Nun stellt sich die Frage, wie eine wie auch immer geartete Raumordnung entsteht. Die entscheidenden Anstöße zum Verständnis dieser Raumordnung stammen von der Gestaltpsychologie, die sich zwar als eine allgemeine Psychologie versteht, in ihrer Begrifflichkeit und ihren Experimenten in einer Weise räumlich ist, so dass sich die Bezüge zur Wahrnehmung des Raumes von selbst ergeben (Rohracher 1965). Ein wichtiges Experiment der Gestaltpsychologie war der Frage nach der Orientierung im Raum gewidmet. Um die Stabilität der Orientierungsmuster zu testen, wurden einzelne Probanden gebeten, so genannte Umkehrbrillen zu tragen. Die Umkehrbrillen bewirken durch Prismen und Spiegel, dass oben und unten vertauscht wird, die Welt sozusagen auf dem Kopf steht. Die Probanden wurden angehalten, die Umkehrbrillen während des gesamten Experiments, das bis zu einer Woche dauern konnte, nicht abzusetzen. Wie erwartet, waren zu Beginn die Orientierungsschwierigkeiten immens. Doch schon nach einigen Stunden wurden durch Korrekturen im Anschauungsraum die Dinge wieder „auf die Beine gestellt“. Entgegen der physikalischen Reizsituation ändert ohne jeden bewussten Akt die Wahrnehmung die Situation in die gewohnte Form der natürlichen Orientierung. Nach einigen Tagen war die Korrektur so stabilisiert, dass 30
die Teilnehmer des Experiments mühelos mit dem Fahrrad fahren konnten. Also hatte sich auch der Gleichgewichtssinn selbst korrigiert. Dieses Experiment macht deutlich, dass zumindest ein Teil der Raumordnung physiologisch bestimmt ist, und dass das zentrale Nervensystem entsprechende funktionale Korrekturen vornimmt, wenn die äußere Reizsituation in Bezug auf die a priori gegebene Orientierung „verzerrt“ ist. Das heißt jedoch keineswegs, dass alle Aspekte der Raumordnung vorgegeben sind. Die Abschätzung der Entfernung wird zum Beispiel in den ersten Lebensjahren erlernt. Spätestens mit sechs Jahren greifen Kinder nicht mehr nach dem Mond, den sie zuvor hell und schön in unmittelbarer Nähe ihres Körpers wähnten. Auch das perspektivische Sehen und die Erfahrung der Horizontlinie, jener imaginären Grenze des Anschauungsraumes, werden erlernt und waren eventuell für die Menschen bis zum ausgehenden Mittelalter überhaupt nicht erfahrbar (Koschorke 1990). Die eigentliche Entdeckung der Gestaltpsychologie aber ist die Hypothese, dass die Welt nicht in Teilen wahrgenommen werde, sondern in Einheiten, die als Ganzes erfahren werden. Dieses Ganze nannten die Wissenschaftler Gestalt. Für die Sichtbarmachung musste ein Paradigma gestürzt werden. Das Ganze wurde nicht mehr als die Summe seiner Teile, sondern als eine über die Eigenschaften seiner Teile hinausgehende Qualität begriffen. Die Gestalt gleicht in gewisser Hinsicht einer Melodie, die man als solche erkennt, gleichgültig ob das Lied in C-Dur oder F-Moll gespielt, ob es gesungen oder gepfiffen wird. Die Melodie setzt sich gegenüber der konkreten Ausformung, die jeweils eine ganz andere physikalische Reizqualität hat, als erkennbar durch. Die Welt wird in Einheiten wahrgenommen, die das Ähnliche in dem jeweils Verschiedenen herausarbeiten. Im Lichte der Komplexitätstheorie ist die Gestaltbildung eine Komplexitätsreduktion. Da die Gestaltbildung unbewusst ist, erscheint sie uns nicht als eine soziale Konstruktion, sondern als Wirklichkeit. Sie wirkt damit stabilisierend, aber eben auch konservierend, da sie eo ipso keiner Überprüfung unterzogen wird. Die Gestalt ist nicht ein diffuses Ganzes, sondern klar abgegrenzt. Figur und Grund gehören insofern zusammen, als sich die Gestalt nur aus einem relativ diffusen Grund heraus figuriert. Das Verhältnis zwischen einer Figur und dem Grund ist relativ. So ist ein Wort, auf ein Stück Papier geschrieben, im Vergleich zum Papier prägnant; ein Stück Papier auf einem dunkel gebeizten Tisch wird dann vom Grund zur prägnanten Figur. Ist die Tischplatte dagegen aus einem hellen Buchenholz, so verringert sich die Prägnanz des Papiers und es könnte sein, dass bei einem bestimmten Lichteinfall das Papier nicht mehr als Figur fungiert. Es ist offensichtlich, dass die Wahrnehmung des Raumes von dem Wechselspiel zwischen Figur und Grund geprägt ist. So führen die Erweiterung 31
der Städte und ihre Entwicklung zu Stadtregionen offensichtlich zu Wahrnehmungsproblemen. Da die unbebauten Flächen zwischen den Siedlungen immer kleiner werden, sahen die Stadtplaner Figur und Grund vertauscht. Nicht mehr die geschlossene Siedlung hebt sich vom Umland ab, sondern die nicht bebauten Restflächen von den konturlosen Siedlungen. Ganz offensichtlich beruht eine solche Wahrnehmung auf einer bestimmten Vorstellung von Stadt und Dorf, die durch eine Befestigungsanlage und neuzeitlich durch einen Autobahnring oder im Falle des Dorfes durch einen Gartengürtel vom „Umland“ abgegrenzt. Die Gestalt der alteuropäischen Stadt wirkt als deskriptive und normative Raumordnung nach. Angesichts deutlicher funktionaler Veränderungen der Stadt- und Siedlungsentwicklung wird eine Änderung der Wahrnehmungsgestalt überfällig. Aber wie soll das gehen? In welche Richtung muss oder will man denken? Soll sich das Bild der Stadt affirmativ an den Gegebenheiten orientieren und wird den Planern ein solches Bild vom „Publikum“ abgenommen? Man könnte etwas salopp sagen, die Gestalt der Stadt des Siedlungsraumes wird nicht erfunden, sondern gefunden. Sie ergibt sich aus neuen Abgrenzungen und Fügungen der Teile zu einem Wahrnehmungsganzen, das sich prägnant und einfach von einem Grund abhebt. Für die Raumordnung hat sich im Laufe der menschlichen Entwicklung eine Reihe von Gestaltbildungen ergeben, die Zeit und Kultur übergreifende Gültigkeit haben. Häuser, Orte, Wege und Straßen bilden Orientierungspunkte und Systeme der Zuordnung, die trotz unterschiedlicher Ausformung relativ leicht erkennbar sind. Karten, die diese Raumordnung abbilden, sind alltägliche virtuelle Anschauungsräume und vermitteln seit mindestens siebentausend Jahren Orientierung für spezifisches Handeln, wie man seit den Ausgrabungen von Catal Hüyük weiß. Dieser Plan zeigt zum einen Gebäude und Wege. Er erzählt aber auch von der Entstehungsgeschichte dieser Stadt. Der Berg auf der Darstellung ist wahrscheinlich ein Vulkan, der sich an dem identifizierten Standort von Hüyük niemals befinden konnte, da die Gegend nicht vulkanisch ist. Ist eine erste Gründung der Stadt in einer vulkanischen Region erfolgt? Wurde diese Stadt durch einen Ausbruch des Vulkans zerstört? Waren die Überlebenden Gründer von Catal Hüyük? Wichtig sind an dieser Stelle nicht die Antworten auf diese Fragen, sondern dass Pläne auch Geschichten erzählen können, eigentlich immer eine Geschichte erzählen und nicht nur Orientierung sind.
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Abb. 04: Catal Hüyük
Die räumliche Gestalt des Weges wurde gar zur Metapher des gesamten Lebens und bietet so einen räumlichen Bezugsrahmen für den Zeitverlauf zwischen Geburt und Tod. Ergänzt werden diese dinglichen Figuren durch eher abstrakte „Orientoren“. Von oben und unten wurde schon gesprochen, rechts und links überträgt die Symmetrie menschlicher Leiblichkeit auf den äußeren Raum. Hinten und vorne bestätigt die Zentralität des eigenen Körpers im Wahrnehmungsraum. Die Himmelsrichtungen waren wohl schon immer die Suprakoordinaten der Raumordnung. Mythische Geographie nannte sie Cassirer. In Bezug auf das Weltbild der Zuni schreibt er: „Dem Norden gehört die Luft, dem Süden das Feuer, dem Osten die Erde, dem Westen das Wasser“ (Cassirer 1929). Bis heute noch meinen die Bewohner von Tokyo, dass an einer Ecke der Stadt die bösen Geister Tokyo betreten und sie an einer anderen geographisch bestimmten Ecke verlassen. 33
Ein reichhaltiges Material für die Ausdifferenzierung dieser Raumordnungen bieten die Phänomenologen, die zwar offensichtlich der Ansicht waren, den Raum selbst zu beschreiben, aber gerade durch ihren Rückgriff auf die Alltagserfahrung eine lehrreiche Beschreibung des Anschauungsraumes schufen.
Zur Soziologie der Raumwahrnehmung Alles bisher Gesagte differenziert nicht zwischen der Raumwahrnehmung von Männern und Frauen, der Oberschicht und der Unterschicht, der Wahrnehmungsform modernisierter und der traditioneller Gesellschaften. In gewisser Hinsicht ist dies auch richtig, da die Wahrnehmung des Raumes aller Wahrscheinlichkeit nach in den wichtigen Aspekten anthropogen geprägt ist. Dennoch gibt es eine Reihe von zumindest plausiblen Vermutungen, wie sich das soziale Umfeld auf die Raumwahrnehmung auswirkt. Unter den Klassikern des Faches taucht nur bei Simmel die Wahrnehmungskategorie auf, wenn er von der Reizüberflutung des Großstädters spricht und ihre „Blasiertheit“ als Selektivität der Umweltwahrnehmung interpretiert (Simmel 1984). Grundsätzlich hat eine Soziologie der Raumwahrnehmung zwei Ansatzpunkte: zum einen kann zeitlich oder räumlich der Gegenstandsraum, dem ein soziales Milieu (oder eine Gruppe, Klasse, Kategorie) ausgesetzt ist, spezifische Anforderungen an die Orientierungsleistung stellen. Die Ausformung sozial spezifischer Gestaltbildungsprozesse ist dann die Reaktion auf diese Orientierungsanforderungen. So wäre es denkbar, dass für Bewohner von Gebirgen wegen der eingeschränkten Einsehbarkeit und Überschaubarkeit Klänge eine größere Rolle für die Raumwahrnehmung spielen als dies bei Bewohnern der Ebenen der Fall ist. Lawinenabgänge, Muren, Wetterwechsel, selbst die menschlichen Siedlungen hört man eher, als dass man sie sieht. Zum dem kann sich der Gegenstandsraum diachron so verändern, dass neue Gestaltbilder möglich oder notwendig werden. So hat die höhere Geschwindigkeit der Eisenbahnfahrt die räumliche Nahsicht obsolet gemacht. Zu schnell wechseln im Nahbereich aus dem fahrenden Zug heraus gesehen die Situationen. Der Fernblick dagegen lässt den Raum „vorbei gleiten“. Schievelbusch hat dies die Entwicklung des panoramatischen Blicks genannt (Schievelbusch 1977). Zumindest zeitgleich entstehen aller Orten Aussichtsberge und Aussichtstürme, die als beliebtes Ausflugsziel gelten, weil man von ihnen aus die Stadt oder das Land als Panorama sehen kann. Einen umfangreichen Versuch den historischen Wandel der Raumwahrnehmung darzustellen, hat Martin Burckhardt unternommen (Burckhardt 1994). 34
Möglich ist auch, dass die immer häufiger publizierte Satellitensicht der Erde und der immer schnellere Transport komplexer Informationen in der Zukunft neue Wahrnehmungsweisen des Raumes entstehen lassen. Wie diese aussehen könnten, ist jedoch im Moment noch bloße Spekulation.
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2 Raumzeichen – Raumsymbole
Der Planung von Häusern, Gärten, Städten, Landschaften und Regionen kommt eine besondere Bedeutung zu, da durch sie die Muster der räumlichen Orientierung geprägt werden. Ähnlich wie Religionen das Muster der zeitlichen Orientierung prägen, indem sie vom Diesseits und vom zeitlichen Jenseits handeln, durch Feiertage den Rhythmus des Jahres, durch Gottesdienste und Gebete die zeitliche Gliederung der Woche und des Tages vorgeben, spiegelt sich im räumlichen Plan die „Weltanschauung“ wider. Die Gestalt eines Hauses, eines Gartens, die regionale Verteilung der Siedlungen, das Bild der Landschaft sind nicht zufällig und bedeutungslos für die Menschen. Im Gegenteil: Durch die Architektur ihrer Gebäude, Gärten und Landschaften, durch das Arrangement der Dinge im Raum und durch konzeptionelle Planung schafft sich jede Gesellschaft für eine bestimmte Zeit ihre Muster der räumlichen Orientierung. Diese Muster von Raum und Zeit sind dann wiederum Orientierungsrahmen und grundlegende Voraussetzung für gezieltes Handeln und die Entstehung „einsichtiger“ Verhaltensmuster (Bourdieu 1979). Da heute bei der Entwicklung von Raumzeichen sehr viele Menschen und Organisationen mit ihren Plänen, Interessen und Möglichkeiten beteiligt sind, ist der geometrische und funktional stimmige Gesamtentwurf die Ausnahme. Als symbolische Einheit gedachte und lesbare Stadtentwürfe findet man in Europa in absolutistisch geplanten Städten wie Mannheim oder Turin. Für das 20. Jahrhundert gilt Brasilia als herausragendes Beispiel einer solchen Einheit. Aber gerade die chaotische Vielfalt der Nutzungsmuster in modernen Städten, die nicht aus einem Guss geplant sind, machen Zeichen und Symbole umso wichtiger. Denn sie ermöglichen eine alltägliche, aber auch langfristige Orientierung. Zudem führt jede gesellschaftliche Innovation, die durch Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturen ermöglicht wird, zur Ausdifferenzierung der eigenen Kultur in immer neue Subkulturen, d.h. zu neuen Architekturen und räumlichen Verteilungsmustern. Jede neue Form birgt die Gefahr einer Desorientierung und entsprechende Konflikte in sich. So werden neue Formen zunächst isoliert, und es bestehen oft heftige Tendenzen, sie wieder zu zerstören, gleichsam auszuscheiden. So stieß der Eiffelturm über viele Jahre hinweg auf die entschiedene Ablehnung der Bürger von Paris und wurde als 37
Verschandelung des gerade neu durch Haussmann geschaffenen Paris der großen Boulevards verstanden. Neue Zeichen haben nur dann eine Chance, wenn sie sich in das bestehende Ordnungsmuster einpassen und dieses so ändern können, dass das neue Zeichen zu einer Verschiebung der Informationsmuster führt. Im Allgemeinen sollte man davon ausgehen, dass räumliche (und auch zeitliche) Orientierungsmuster langlebig, geradezu persistent sind und die Beziehung der Menschen zu ihnen konservativ. Jede Änderung in den grundlegenden Mustern der Architektur, des Städte- und Gartenbaus, jede Änderung der regionalen Muster der Landnutzung sind daher untrügliche Hinweise auf qualitative Sprünge und Risse in der gesellschaftlichen Organisation. Manche Änderung allerdings erweist sich schon bald als Schein, als bloßes Spiel mit der Form, vergleichbar mit der Mode, die den Schnitt und die Farbe von Rock und Hose ändert, ohne an der Kleiderordnung zu rütteln. Wie der Raum als Zeichen und Symbolsystem zu lesen ist, wie man modische von den essentiellen Änderungen der räumlichen Gestaltung unterscheiden und in ihrer Bedeutung verstehen kann, sind die Fragen, denen im Folgenden nachgegangen wird.
Curitiba – eine Stadt zeigt sich als Projekt Ein viel beachtetes Beispiel für eine Erfolg versprechende Stadtentwicklungspolitik ist Curitiba, eine schnell wachsende Millionenstadt im Süden Brasiliens. Die Stadt hat für ihre wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklungspolitik eine Reihe von Preise bekommen. Wenn es einen Preis für die Darstellung der städtischen Entwicklungskonzepte, für die Verdeutlichung des Verständnisses einer Stadtentwicklung als Projekt gäbe, man sollte für eine solche Ehrung Curitiba vorschlagen. Durch Zeichen, Symbole, die Platzierung konkreter Projekte und die organisatorisch gelungene Darstellung ihrer Vorhaben macht die Stadtpolitik ihren Bürgerinnen und Bürgern (und selbstverständlich den Besuchern) deutlich, wo man steht und wohin man will. Mit Linienbussen kann man durch die Stadt fahren und steuert dabei auf einer Route viele der zentralen Projekte der Stadt an. An jeder Stelle kann man aussteigen und nachdem man sich das angeschaut hat, was einen interessiert, mit dem gleichen Ticket weiterfahren. Eines fällt einem sofort auf: An vielen Stellen der Stadt stehen kleine Leuchttürme. Diese Architektur findet man üblicherweise an der Küste, aber nicht in Städten. Bildung ist eine wichtige Voraussetzung, um ein geglücktes Leben zu führen. Da die Stadtpolitik die Bildungsmöglichkeiten fördern will, hat sie in vielen Quartieren kleine Stadtteilbibliotheken errichtet. Um dieses kulturelle Projekt allen zu verdeutlichen, ließ die Stadtverwaltung die 38
öffentlichen Bibliotheken in den Stadtquartieren mit Leuchttürmen bauen, damit das „Luz de Educación“ für alle erfahrbar wir. Für alle sichtbar ist ebenfalls, ob die Zahl der Bibliotheken wächst, denn nur dann wird das Netz der Leuchttürme dichter. Curitiba ist eine vornehmlich christlich geprägte Stadt mit einer islamischen Minderheit. Das Minarett der Moschee ist neben den Kirchtürmen von überall her zu sehen. In einer Art Museumspark werden traditionelle Lebensverhältnisse der großen Einwanderungsgruppen dargestellt. Da polnische Einwanderer eine große Gruppe darstellen, erfährt man hier viel über die ländlichen Lebensverhältnisse Polens. Jedem wird so täglich deutlich, dass das Selbstverständnis der Stadt auf kultureller Vielfalt beruht. Um die Verkehrsprobleme besser zu lösen, wurde nicht nur ein Expressbussystem eingeführt, sondern auch die Bushaltestellen als „check in“ organisiert und gestaltet. Somit werden die Bushaltestellen in der ganzen Stadt zum Zeichen ihres Gebrauchs und weisen mit den eigenen Fahrbahnen auf das städtische Expressbussystem hin. Man findet die Haltestellen und die Busse auch in allen Spielzeugläden, so dass die Kleinen spielerisch erproben wie sie als „Große“ ihre Mobilität organisieren können.
Abb. 05: Spielzeugbusse Curitiba
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Abb. 06: Bushaltestelle Curitiba, Brasilien
Das Veranstaltungs- und Opernhaus der Stadt wurde in dem ersten nun schon seit Jahren nicht mehr genutzten Steinbruch platziert. Von einem Glasgang aus hat jeder Besucher einen ungehinderten Blick in den Steinbruch. Hier wird nicht nur verdeutlicht, was man der Erde als Baumaterial entnommen hat, sondern auch wie ein wuchernder tropischer Garten die Wunde umrahmt. Die Stadt zeigt sich als Landschaft. Ihre Aufgeschlossenheit für Neuerungen in der Ökonomie verdeutlicht die Stadtpolitik durch die Genehmigung, Förderung und den Bau einer Straße, die sich Rua de 24 horas nennt. Hier sind alle Geschäfte und Lokale vierundzwanzig Stunden geöffnet. Was sich dort hält, sind Restaurants, Imbisse, Apo40
theken, copy shops und Läden für vergessene Geschenke – kurz: Eben das Angebot, welches rund um die Uhr Nachfrage findet. An diesen Beispielen aus Curitiba soll verdeutlicht werden, dass die Semiotik einer Stadt etwas über ihr Entwicklungskonzept erzählen kann. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, wie sie wirklich funktioniert, dennoch werden die Leitbilder als gebauter Raum in den öffentlichen Diskurs eingebracht. Curitiba versteht sich als ein Projekt, durch das ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Leitbilder balanciert umgesetzt werden sollen. Wenn man über Zeichen und Symbole eines Raumes spricht, wenn man diese erkundet und interpretiert oder gestaltend eingreift, beschäftigt man sich fast immer mit einem inhaltlichen Konzept, nur selten geht es um rein formale Orientierung. Das heißt aber nicht, dass formale Kategorien nicht ein sinnvolles Instrumentarium für die Analyse der räumlichen Zeichen und die Gestaltung der Orientierung des Raumes liefern könnten.
Das Bild der Stadt bei Kevin Lynch Die sicherlich einflussreichste Arbeit zur Gestaltung der Stadt durch Zeichen und ästhetische Gliederung ist „The Image of the City“ von Kevin Lynch (Lynch 1960). Auf dieser Grundlage haben er und seine MitarbeiterInnen in den folgenden Jahrzehnten Dutzende von Untersuchungen in Städten verschiedener Länder (wenn auch vornehmlich in den USA) durchgeführt und Planungsvorschläge erarbeitet. Sein Beweggrund für diese Studien war die häufig publizierte Ansicht, dass die Amerikaner ihre Städte hässlich, chaotisch und eintönig fänden. Insofern ist dies auch ein US-amerikanisches Buch. Es reagiert weniger auf Städte wie New York oder San Francisco, sondern auf die vielen normalen Rasterstädte, die die Vereinigten Staaten kennzeichnen. Sie können als eine im Prinzip endlose Addition gleicher Elemente verstanden werden. Eine Vielzahl von Fertighäusern wird an einem geometrischen Raster lokalisiert. Zwischen den Nachbarschaften, die sich auf diese Weise herausbilden, verlaufen breitere Erschließungsstraßen, sie sind vergleichbar mit einem umfassenden Raster. Für eine Mehrzahl derartiger Nachbarschaften wird ein Zentrum entwickelt, in dem sich Supermarkt, Tankstelle, Schnellrestaurant u.a. finden. Aus europäischer Sicht haben diese Städte weder Anfang noch Ende, die Zentren sind dezentral und wirken dementsprechend wenig „zentrierend“. Vor diesem Hintergrund formuliert Kevin Lynch seine Forderung nach Ablesbarkeit und Einprägsamkeit des Bildes der Stadt. Der Raum solle gestaltete Bilder enthalten, so dass sich 41
zwischen dem Betrachter und dem Gegenstand ein eigenes Vorstellungsbild entwickeln kann. Seine Aussagen beziehen sich sehr deutlich auf die Gestaltpsychologie, letztlich fordert er die Herausbildung von Gestaltformen für Siedlungsräume dieser Art. Pragmatisch differenziert die Publikation zwischen Wegen und Grenzlinien, städtischen Bereichen und Brennpunkten und verweist auf die Bedeutung von Merkzeichen. Die Wege haben vornehmlich die Funktion von Bewegungskanälen und gliedern zudem den Raum, wenn sie Unterschiede im Profil und in der Ausprägung als Haupt- und Nebenstraßen aufweisen. Vor allem sollen sie einen Anfang und ein Ende haben, die die Topographie und Richtungsänderungen verdeutlichen. Grenzlinien sind durch Uferlinien, Parkanlagen, breitere Straßen oder Eisenbahnlinien ausgeprägt. Sie trennen unterschiedlich funktionale oder soziale Gebiete voneinander ab oder bilden natürlich gesetzte Grenzen der Bebauung (wie im Falle eines Flusslaufs oder Seeufers). Merkzeichen können zum Beispiel ausgeprägte oder historische Gebäude, aber auch besonders gestaltete Straßenzüge sein. Sie finden sich häufig an Brennpunkten, an denen verschiedene wichtige Straßen zusammentreffen oder Einkaufszentren, Bahnhöfe etc. zu finden sind. Die Bedeutung der Arbeit von Lynch liegt zum einen darin, auf den Bedarf an Orientierung hingewiesen zu haben. Zum anderen ist es vielleicht gerade die Abstraktheit der von ihm vorgeschlagenen Kriterien, die eine allgemeine Anwendbarkeit möglich machte. Dies ist für die Sicht auf Raum und die Planungsvorschläge ebenfalls besonders dort von Bedeutung, wo Siedlungen ähnlich wie in den USA entworfen und gebaut worden sind. Die traditionelle europäische, arabische oder indische Stadt kennt Orientierungsprobleme in dieser Art nicht. Allerdings lösen sich diese Stadtformen immer mehr auf oder bilden Kerne, die häufig nur noch touristisch relevant sind. Vor diesem Hintergrund werden die Arbeiten von Kevin Lynch, die immerhin vor vierzig Jahren publiziert wurden, zunehmend relevant. Auch Koolhaas macht auf den Bedarf an Analysen und Planungsvorschlägen zur Ästhetik der Stadt deutlich, wenn er von Städten ohne Eigenschaften schreibt oder aufführt, dass andernorts Regionalparks entworfen werden, um die Stadtregion zu gliedern und erkennbar zu machen. Um diesen Bedarf zu befriedigen ist es dringend notwendig, die begonnene Arbeit fortzusetzen. Zunächst erscheint es uns wichtig, die Beziehung zwischen den von Lynch vorgeschlagenen Elementen und der Semiotik, wie sie Umberto Eco für die Architektur entwickelt, herzustellen.
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Zeichen des Gebrauchs und der Bedeutung Die Semiotik entwickelt eine Taxonomie der Kommunikationsprozesse und kann sich daher als Metawissenschaft begreifen, da alles Erkennen der Kommunikation unterliegt (Eco 1972). Auf den Raum bezogen geht es um die Signale, die von Gegenständen ausgehen, um die Art, wie diese Informationen kommuniziert werden und wie die Rezeption der Botschaft von statten geht. Im Wesentlichen ist dies auf der einen Seite eine Frage der Kommunikationstechniken (hier der Verwendung von Materialien, Licht- und Klangverhältnissen) und auf der anderen Seite die Entwicklung von Codes, die sich einer bestimmten Formensprache bedienen. Erst die Entwicklung und die Kenntnis eines Codes lässt eine bewusste und gezielte Entwicklung von Signalen zu und ermöglicht zugleich die Entschlüsselung der Botschaft, also das Verstehen ihres informationellen und emotionalen Gehalts. Mit jedem Gegenstand, der eine oder mehrere Funktionen kommuniziert, sind Denotation und Konnotation verbunden. So macht die Formgebung eines Stuhles deutlich, dass man sich setzen kann, gesetzt des Falles man kennt den Code. Jedoch ist Stuhl nicht gleich Stuhl. Der Schaukelstuhl kommuniziert Ruhe, Gelassenheit, Alter, Süden; ein breiter Lehnstuhl Patriarchat, ein Ledersessel einen gehobenen Status, ein Beichtstuhl Demut. Die Konnotation bezieht sich also auf Bedeutungen, die über die Funktion hinausgehen. Im Verlauf der Zeit kann sich für einen Gegenstand die Denotation oder die Konnotation oder beides ändern. Dadurch wird ein mögliches Spannungsverhältnis von Funktion und Bedeutung deutlich. Dies sei vereinfacht als binäre Klassifikation dargestellt, um wesentliche Typen der Veränderung des semiotischen Codes herauszuarbeiten. Am einfachsten sind die extremen Punkte. Auf der einen Seite ist es möglich, dass sich über eine beobachtete längere Zeitperiode hinweg weder die Denotation noch die Konnotation verändert. Hier findet man Typen von Zeichen, die zumindest für eine Kultur „Ewigkeitswert“ haben. So ist eine Kirche als Sakralbau zu erkennen, weil ihre Ausstattung üblicherweise einen Versammlungsraum, einen Altarbereich und einen Kirchturm umfasst. In der Regel ist eine Änderung der Funktion nicht vorgesehen. In eine Kirche baute man bis vor kurzem keine Wohnungen ein und auch als Teppichverkaufsstelle war sie zunächst nur in Großbritannien genutzt. Das heißt, das Zeichen „Kirche“ kann man stabil nennen. In jeder Kultur gibt es einige dieser Zeichen, die häufig mit der jeweils vorherrschenden Religion in Zusammenhang stehen.
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Denotation: Konnotation: verändert sich verändert sich nicht
verändert sich
verändert sich nicht
modische Codes illusorische Codes
reduzierter Code stabile Codes
Tab. 01: Die Veränderung von Funktion und Bedeutung
Wenn sich im Bereich der sakralen Bauten ein Wechsel von Funktion und Bedeutung einstellt, ist dies in der Regel mit einschneidenden Änderungen verbunden. So sind die kalvinistischen Kirchen in Deutschland für den evangelisch oder katholisch sozialisierten Menschen kaum zu erkennen. Zwar ist ihre Funktion die gleiche wie in anderen Konfessionen, hier versammelt sich die Gemeinde zum Gottesdienst, aber die Gebäude vermitteln eine andere Bedeutung. Sie haben keinerlei hierarchische Gliederung in sich und äußern das durch die Schlichtheit eines Hallengebäudes auch nach außen. Die Gleichheit aller vor Gott, die Nicht-Existenz eines Priesters, die hervorgehobene Bedeutung der Gemeinde werden für den, der den Code versteht, vermittelt. Alle anderen sehen in dem Gebäude einen nicht-sakralen Versammlungsraum. Wenn sich Denotation und Konnotation verändern (und der Gegenstand ist weiterhin vorhanden), dann haben wir es häufig mit Mode zu tun. Die Milchkanne im Eingangsbereich eines Landhauses, dient nicht mehr dazu, Milch zu transportieren und konnotiert auch nicht über ihre Größe und das Material den Wohlstand des Bauern, sondern dient nunmehr als Vase und zeigt mit ihrer Rustikalität die Orientierung des Hauseigentümers an. Das Patrizierhaus in München, welches in das Büro einer Versicherung umgebaut wird, wobei die Fassade originalgetreu renoviert wurde, hat seine Funktion stark geändert, die Bedeutung bleibt jedoch scheinbar gleich. Dieser Fall, der in der Regel allen Denkmalschützern geläufig ist, könnte man einen illusorischen Code nennen. Es gibt aber auch Beispiele, bei denen die Funktion erhalten bleibt, aber die Konnotation eine Änderung erfährt. Hierbei handelt es sich häufig um Gegenstände, die einem sozialen „filtering down“ unterliegen: Ein alter Mercedes, der selbstverständlich noch fährt und auch täglich zum Fahren benutzt wird, aber nun durch sein mittleres Alter die beschränkten Einkommensverhältnisse seines Besitzers mehr noch als jeder Kleinwagen hervorhebt. Auch alten Villen kann es so ergehen, ja ganzen Stadtquartieren. So dienen die Quartiere der Gründerzeit nach wie vor dem Wohnen. Während sie aber in der Zeit ihrer Entstehung einen Status der mittleren Schichten vermittelten, verloren sie spätestens in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts diesen Ruf. Dort wohnten die ersten Gastarbeiter, Familien mit einem geringen Einkommen und später Studenten. Mit den studentischen Bewohnern kam es zu einer kontinuierlichen Aufwertung dieser 44
Quartiere, so dass ihnen heute die Bedeutung anhaftet, dass hier eine wohlhabende, urban orientierte Bevölkerung wohnt. Mit der Skizze einer Entwicklungsstruktur von Codes liegt ein sicherlich noch bei weitem mehr zu differenzierendes Beschreibungsschema vor. Dies macht die Frage, unter welchen Bedingungen soziale Codes entstehen und sich auch wieder ändern, umso dringlicher. Daher soll im nächsten Abschnitt analysiert werden, unter welchen Bedingungen die Zeichen eines Raumes entstehen oder sich ändern, so dass sie auf veränderte Funktionen und Bedeutungen hinweisen.
Die Änderung der Zeichensprache Die wichtige Frage, wie Zeichen und Bedeutung grundsätzlich entstehen, wird hier nicht gestellt. Wir gehen von einer Gesellschaft aus, die über Zeichen und Symbole verfügt. Wir gehen weiter davon aus, dass die Verfügung über Zeichen und Symbole in einem hohen Maße bedeutsam für Macht und Herrschaft ist. Man weiß, welche Bedeutung nationale Symbole für den Nationalstaat hatten und haben. In autoritären Regimen gewinnen die Symbole zuweilen Fetischcharakter, so zum Beispiel auch der Hut des kaiserlichen Statthalters in der Schweiz. Der Hut des Herrn Geßler wird auf einer Stange platziert und muss gegrüßt werden. Der Streit um diesen symbolischen Akt war bekanntlich die Geburtstunde des Schweizer Befreiungskampfes und der Gründung einer Republik. Aber auch die demokratischen Nationalstaaten verfügen über Symbole wie Fahnen oder Wappen, durch die ihre territoriale Identität versinnbildlicht wird. Das Militär als Garant der territorialen Hoheit schwört einen Eid über Leben und Tod auf diese Fahne. Alle Institutionen angefangen bei den Religionsgemeinschaften bis hin zu den größeren privaten Unternehmen verfügen über Symbole ihrer „corporate identity“ und haben zudem die Tendenz über die Verbreitung des Symbols in anderen Bereichen ihren Geltungsanspruch anzumelden (man erinnere sich an die Auseinandersetzung um die Kruzifixe in bayerischen Schulen oder den Konflikt um Kopftücher bei Schülerinnen und Lehrerinnen als Gesinnungssymbole). Symbole territorialer Verfügung sind aber auch im privaten Bereich oft von zentraler Bedeutung. Es ist nicht nur Maschendraht und Jägerzaun, die anzeigen: Hier verfüge ich! Alle anderen, insbesondere der Nachbar, hat hier nichts mehr zu melden. Mit jeder Haustür wird die Botschaft vermittelt: Hier beginnt privater Raum. Wird die Haustür aufgebrochen, sei es von Dieben oder der Polizei, so bedeutet dies mehr als wenn eine Zimmertür zu Bruch geht. Alle diese Beispiele zeigen, dass den Zeichen eine große Bedeutung bei der Strukturierung des Raumes, und dies heißt eben häufig auch bei der 45
Verfügung über Raum, zukommt. Aus diesem Grund sollte man von einem erheblichen Beharrungsvermögen der Zeichen und ihrer Bedeutungen ausgehen. Gleichwohl ist offensichtlich, dass sich sowohl Zeichen als auch ihre Bedeutungen ändern. Auf vier Faktoren werden wir in diesem Zusammenhang näher eingehen. Geschlossene Bilder – komplexe Zeichen sind geschlossene Gestaltformen – lassen sich weniger leicht ändern als einzelne Zeichen. Das Bild der mittelalterlichen Stadt oder eines Haufendorfes ist ein in sich hoch komplexes Zeichen. Zur mittelalterlichen Stadt gehören Stadtmauern, Stadttore, Patrizierhäuser, Marktplätze, Kirchtürme oder Minarette und ein System von Gassen, die oft sogar durch einzelne Gebäude führten und ein engmaschiges Netz von Wegebeziehungen geschaffen haben. Zum Haufendorf gehören eng platzierte, aber für sich stehende Gehöfte, Bauerngärten mit Gemüse, Salat und Blumen am Haus, ein kleinteiliges, alle Bauernhöfe verbindendes Wegesystem, ein Gürtel von Obstbäumen und ein Gewannflursystem, bei dem jeder Hof von jeder Boden- und Lagequalität der Flur ein Stück bewirtschaften kann und natürlich eine Allmende, auf der die kleinen wie die größeren Bauern ihr Vieh auf gemeindeeigenem Land weiden lassen konnten. Solche komplexen Bilder werden durch die Umgestaltung einzelner aber zentraler Elemente geändert. Im Falle der Stadt war es der Bau von Boulevards: breite Straßen mit einer repräsentativen Randbebauung, getrennte Bereiche für Pferdekutschen und Fußgänger. Das System der Boulevards war verbunden mit damals neuen profitorientierten Verwertungsmöglichkeiten der hochwertigen Bauten entlang der repräsentativen Straßen. Mit den Boulevards wurden zunächst Schneisen durch die mittelalterliche Stadt gezogen, die dann zu Ausgangspunkten einer grundlegenden Veränderung der gesamten städtischen Struktur wurden (Jordan 1996). Interessanterweise wurde dieses von Haussmann in Paris realisierte Projekt auch in zahlreiche andere Städte transferiert. So ließ Mohamed Ali in Kairo Teile der orientalischen Stadt abreißen und durch Boulevards neu strukturieren (Rodenbeck 1998). In Paris wie in Kairo und anderswo hatte die Änderung dieses Details schon bald die Veränderung des gesamten Stadtbildes zur Folge. Der Boulevard ist ein Symbol für die moderne Stadt. So wie sich die Entwicklung zur modernen Stadt über gut ein halbes Jahrhundert hinzog, so erging es auch dem traditionellen Haufendorf. Am Anfang des modernen Dorfes, in dem es keine Misthaufen, kein Viehtrieb, fast keine Bauerngärten und schließlich kaum mehr Bauern gab (da diese entweder aufgeben mussten oder als Aussiedlerhof außerhalb des Dorfes wirtschafteten) stand die Auflösung der Allmende. Die gemeindeeigene Weide machte das selbstständige Überleben der kleinen und großen Leute im Dorf möglich. Nachdem die Allmende privatisiert wurde und selbstverständlich von den größeren 46
Bauern in ihr Privateigentum überführt wurde, war eine selbstständige Existenz für die „Häusler“ nicht mehr möglich. Sie mussten ein eigenes Handwerk aufmachen oder sich in der Industrie nach Arbeit umsehen. Wenn man heute die Reste einer Allmende, eine Huteweide sieht, steht sie häufig unter Naturschutz, das untrügliche Zeichen einer verlustigen Bedeutung. Das erste Veränderungsprinzip kann man pars pro toto nennen, geändert wird ein Teil, um das Bild des Ganzen, auf das es sich bezieht, zu revolutionieren. Am Beispiel des Boulevards kann man auch leicht das zweite Prinzip erkennen, welches man den Transfer von Bedeutungen nennen könnte. Ein Zeichen, das zu einem bestimmten Bereich gehört – sagen wir zu einer Parkanlage – wird auf einen anderen Bereich übertragen. Die Idee des Boulevards stammt nicht aus den Städten, sondern eindeutig aus den Anlagen französischer Parks. Der französische Park ist durch klare Hauptachsen gegliedert, die sich dann bis zum Horizont erstrecken. Diese Idee einer übersichtlichen Raumordnung wurde von dem Gartenarchitekten André Le Notre in einen Raum übertragen, der zur Zeit dieses Entwurfes (1670) allerdings alles andere als eine Stadt war. Ausgehend vom Tuilerien-Schloss verlängerte eine Achse durch den damals noch recht sumpfigen Westen von Paris die Allee für den Ausritt des Adels. Erst 1709 bekam sie den Namen Champs Élysées. Haussmann nahm diese Struktur auf und sorgte später dafür, dass am butte de l’étoile zwölf Straßen ein gigantisches Verkehrskreuz bilden. So wurde die Idee des Gartens Stück für Stück zum Leitsymbol der modernen Stadt. Derartige Transfers finden häufiger statt als uns bewusst ist. Da die ersten Toiletten als Stühle gebaut wurden, erkundigen sich noch heute Ärzte bei Gelegenheit nach unserem Stuhlgang. Oder nehmen wir die Figur des Surfers, die in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu dem Symbol für die neue Raumordnung des „world wide web“ wurde, also für die Bewegung in einem „space of flows“. Mit dem Transfer eng verwandt aber nicht identisch, ist die Änderung von Zeichen und Symbolen durch den Import aus anderen Kulturen. Wir kennen dies in Europa eher als Export „unserer“ Symbole. In Paris gab es vor einigen Jahren eine Ausstellung über den „Export de Paris“. Hier wurde gezeigt wie nicht nur der Boulevard, sondern die Schlachthöfe, die Schulbauten, die öffentlichen Toiletten, die Arkaden und Passagen, die Parkanlagen nach Tunis und Kairo, nach Bangkok und Saigon exportiert wurden. Man kann sich vorstellen, wie stark dieser Import dort in der arabischen oder thailändischen Kultur das System der Zeichen und Bedeutungen in Inhalt und Hierarchie verändert hat. Alle wissen, dass der internationale Stil, der sich aus den Ideen des Bauhauses entwickelt hat und heute die neuen Städte Asiens und Afrikas prägt, wenn über47
haupt dann dem europäischen Industrialismus, der fordistischen Kleinfamilie, dem bloßen Konsumentenhaushalt entspricht. Welche Zeichen werden durch solche Bauten und Städte in Afrika und Asien gesetzt? Importe und Exporte von Konzepten und Zeichen sind auch innerhalb von Europa und zwischen Europa und Nordamerika üblich. Wie stark ist mittlerweile die Orientierung einer deutschen Durchschnittsstadt von Hinweisen auf McDonald’s geprägt? Was wäre das Image von Frankfurt ohne „amerikanische“ Hochhäuser? Wie selbstverständlich wird inzwischen auch in eher nördlichen Städten Deutschlands bei dem Entwurf eines Platzes von einer südländischen Plaza gesprochen und so getan, als suche man auch im Norden den Schatten der Platanen. Der nahe liegende und radikalste Fall für den Export und Import von Zeichensystemen entstand durch den Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik Deutschland. Durch den Niedergang ihrer Wirtschaft geschwächt, durch ihr politisches System desavouiert und einer Bevölkerung, die durch die Dominanz einer Kategorie von Symbolen ohne Erfahrung im Wettkampf der Zeichen und Symbole war, hatte die DDR nicht die geringste Chance wenigstens Teile ihrer Ordnung des Raumes in dem vereinten Deutschland wirksam werden zu lassen. Nicht einmal das Rechtsabbiegen an roten Ampeln konnte sich trotz einer Veränderung der Straßenverkehrsordnung durchsetzen. Auch ihr weit entwickeltes System des Stoffrecycling wich dem weit weniger effizienten dualen System des Westens und so verschwand auch ihre Semiotik. Die sofort einsetzende polemische Diskussion um „die Platte“ war eigentlich ein Angriff auf das Modell einer kleinbürgerlich egalitären Lebensweise und findet nun im massenhaften Leerstand und Abriss von Plattenbauten trotz der Rehabilitationsbemühungen durch Politik und Planung seinen Niederschlag. Die dritte Möglichkeit, wie sich Zeichen und ihre Bedeutung verändern, hängt mit dem Distinktionsbedürfnis der Individuen und sozialen Gruppen zusammen. Da die gehobene Mittelschicht deutlich machen will oder muss, dass sie sich nach unten wie oben unterscheidet, bevorzugte sie zum Beispiel klassizistische oder vom Jugendstil geprägte Häuser und Quartiere. Als diese Schicht mit dem ersten Weltkrieg nicht nur verarmte, sondern auch durch ihre enge Kooperation mit dem Kaiser an Ansehen verloren hatte, führten die Reformbewegungen auch zu einer neuen sachlichen Architektur. Die Schicht verließ ihre Quartiere, die immer mehr dem Verfall preisgegeben waren und deshalb billig von den untersten Schichten bewohnt werden konnten. Die Fassaden des Jugendstils wurden der stilprägenden Schicht so unerträglich, dass in einigen Städten durchgesetzt werden konnte, dass die Beseitigung der Ornamente an den Fassaden öffentlich subventioniert wurde. Ein ganzes Zeichensystem war implodiert und entwertet, weil sich eine Generation von der Eltern-Generation der 48
gleichen Schicht absetzen wollte. Erst die nächste Generation machte sich mit neuer Ideologie an die alten Häuser mit Jugendstilfassaden. Dieses Beispiel zeigt, wie das Distinktionsbedürfnis von Schicht zu Schicht und von Generation zu Generation Zeichen in ihrer Bedeutung entwertet und wieder in Wert setzt. Dabei ist die neuerliche Inwertsetzung nicht unbedingt restaurativ, sondern kann sich mit neuen Bedeutungen füllen (Thompson 1981). Die einschneidende und damit auch in der Regel umstrittene Änderung von Zeichen ist Folge der in Schüben verlaufenden Modernisierung von Gesellschaften. Auch wenn es mit großen Abstraktionen verbunden ist, diese Schübe „zu klassifizieren“ und ihnen bestimmte Namen wie Fordismus oder Postmoderne zu geben, liegt diesem Anliegen die Marx’sche Einsicht zu Grunde, dass der Kapitalismus, ausgehend von technologischen und organisatorischen Innovationen, immer wieder durchgreifende Neuregulierungen aller Aspekte des Lebens hervorruft. Nicht nur die Ökonomie, sondern auch die Klassenverhältnisse, Lebensstile, kulturellen Deutungsmuster und Darstellungsformen ändern sich, vor allem die Raum- und Zeitstruktur. Die Menschen werden aus den ihnen vertrauten „Orientoren“ für die Strukturierung von Raum und Zeit „entbettet“ und stehen zunächst neuen und zum Teil fragwürdigen Orientierungsangeboten gegenüber. Zeichen spielen dabei eine besondere Rolle. Es ist nicht ausschließlich so, dass neue Verhältnisse auch neue Zeichen und Bedeutungen hervorbringen, sondern der Kampf um die Gültigkeit von Zeichen ist die Arena, auf der sich die Durchsetzung eines Modernisierungsschubes in seiner Tiefe und der Geschwindigkeit seiner Realisierung entscheidet. Bei jedem (sich ja auch Zug um Zug erst herausbildenden) Modernisierungskonzept gibt es Personen und Gruppen die gewinnen und andere, die verlieren. Diejenigen, die sich einen Gewinn versprechen, versuchen nun über die Implementierung neuer Zeichen den Eindruck zu erwecken, die Durchsetzung des Neuen stehe gar nicht mehr zur Debatte, sei im Grunde bereits erledigt. Die Akteure gehen davon aus, dass das Zeichen mit der Realität gleichgesetzt wird – und glauben wahrscheinlich daran, dass sich deshalb die Unentschlossenen schnellstens der vermeintlich schon vorherrschenden neuen Realität anpassen. Mit dem entsprechenden Verhalten, wird die Welt der Zeichen mit Realität unterfüttert (Ipsen 1997). Ein kleines Beispiel dafür ist die Erfindung des so genannten Young Urban Professional, des Yuppies, der durch alle Medien und selbst durch soziologische Bücher geisterte. Dass diese Gruppe im besten Fall 0,3 % der amerikanischen Bevölkerung ausmachte, änderte nichts an der Wirksamkeit dieses Lebensstilkonstrukts. Wenn es gelingt, eine Idee plastisch und attraktiv zu gestalten und breitenwirksam zu kommunizieren, verhalten sich genügend Leute wie gewünscht und fragen innerstädtischen Wohnraum zu immer höheren Preisen nach. 49
Bei den Raumzeichen geht es zumeist nicht um ein Denkmal oder ein symbolisch aufgeladenes Bauwerk, das für eine bestimmte Phase der Moderne steht Solche Bauwerke sind beispielsweise der Eiffelturm, welcher die Reihe der Weltausstellungen einleitete oder die Teststrecke auf dem Dach der Fiatwerke in Turin, die lange Zeit für die Utopie einer Autogesellschaft stand. Wichtiger sind die kleinen alltäglichen Zeichen, die die Raumpunkte in dem Prozess der Modernisierung verorten. So wie die Eternitverschalung eines Fachwerkhauses in den 60er Jahren ein Zeichen der aufgeschlossenen und den Traditionalismus ablehnenden Haltung seines Besitzers war, so stand das gleiche Material zwanzig Jahre später für ästhetische Ignoranz und „bautechnischen Unverstand“ (hinter dem Eternit schimmelt die Wand).
Abb. 07: Kaufungen, freigelegtes und verstecktes Fachwerk
Die geistige Verortung durch ein Ortszeichen verläuft nicht auf der Ebene modischer Kriterienwechsel, obgleich Mode dabei eine Rolle spielt. Im Kern stand die Verkleidung des Fachwerkes für die Angleichung des alten Hauses an den internationalen Stil. Dieser Stil stand für die Befürwortung der Massenproduktion, die Ablehnung des Handwerks, die Verachtung der Subsistenzökonomie und 50
die Hinwendung zum demokratischen Bürger und Konsumenten. Die Beseitigung der Verkleidung signalisiert den Verlust an utopischer Energie, die einst von diesem Modell ausging. Da keiner recht weiß, wie das neue Modell flexibler Regulation nun aussehen wird, ist die folgenlose Hinwendung zu einem in der Sache überwundenen traditionalistischen Ortszeichen zumindest vorübergehend eine beruhigende Orientierung. Mit Hilfe dieser kleinen Zeichen lässt sich im Raum der lokal und regional verwirklichte Stand der Moderne festmachen. Wenn es einmal wirklich keinen Verkehrsstau zur „rush hour“ geben sollte, dann wäre dies ein Zeichen für die Durchsetzung flexibler Arbeits- und Konsumzeiten. Neben dieser Mikroebene räumlicher Strukturen, die man an einzelnen Häusern oder Stadtquartieren festmachen kann, ist die räumliche Ebene von Regionen als Arena des Kampfes um Zeichen von großer Bedeutung. Jeder Modernisierungsschub kann die Position einzelner Regionen und Städte im Wettbewerb um eine innovative Bevölkerung und risikofreudiges Kapital verändern. Um hierbei nach innen und nach außen seine Position anzuzeigen, können Raumzeichen eine gewisse Rolle spielen. Nehmen wir als ein Beispiel für eine zumindest stark symbolisch geprägte Politik die Internationale Bauausstellung entlang der Emscher im Ruhrgebiet. Wie man in zahlreichen Dokumenten und Berichten nachlesen kann, ging es dabei zunächst einmal darum, durch die Förderung von Innovationen kleinerer Gruppen und Institutionen, dem sklerotischen Milieu großer Machtblöcke Neuerungen „vorzusetzen“. Mit der Zeit wurde immer deutlicher, dass diese Bemühungen, für eine größere Zahl von Menschen nicht sichtbar werden. Sichtbar dagegen wurde die Fortsetzung von großen Projekten wie dem „Centro Oberhausen“. Die Bauausstellung veränderte darauf hin ihre Strategie und bemühte sich um die Schaffung von Orten, die regional und überregional Aufsehen erregten. So steht ein Turm auf einer Halde. Von hier aus wird die Landschaft des Ruhrgebietes zum Panorama, die Halde zum industriell geschaffenen Berg, die Besteigung des schwankenden Turmes zur Parabel für die Fragilität der Schächte, aus dem das Material der Halde stammt. Zeichen und Symbole bieten neue Interpretationen einer industriell geprägten Topographie. Und ähnlich ist es bei der Neugestaltung eines Hüttenwerks in einen Park neuer Art. Hier kann man an Betonwänden das Klettern üben und in ehemaligen großen Kühlbecken das Tauchen. Die Reste des Hochofens bilden eine bizarre Kulisse und werden des Nachts in allen Farben beleuchtet. So versucht eine Region die Ansicht ihrer Landschaft nach innen wie nach außen zu transformieren. Wurde diese gestern noch als Zeichen des ökologischen Desasters industrieller Nutzung gewertet, so ist man heute auf dem Weg zu einer avantgardistischen Neuinterpretation industrieller Räume. Eine wichti51
ge Rolle dabei spielen Raumzeichen, die zugleich anspruchsvoll und breitenwirksam sind. Die Politiker reagieren mit der Inszenierung neuer Zeichen und Symbole auf die existierende oder befürchtete Entwertung ihrer Region und versuchen damit Anschluss an eine neue Phase der ökonomischen und kulturellen Moderne zu gewinnen.
Von Umberto Ecos Reise in die Hyperrealität zur Geographie des Internets In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts unternahm der Semiotiker Umberto Eco eine Reise nach Kalifornien. Er besuchte selbstverständlich das klassische Disneyland bei Los Angeles, den Zoo von San Diego und das Hurst Castle südlich von San Francisco in der Nähe der pazifischen Küste. Die Eindrücke dieser und einiger anderer Orte versuchte Eco mit dem Begriff des Hyperrealen zu fassen. Der Begriff des „Hyperrealen“ kann veranschaulicht werden, wenn man einen Blick auf das Bauprinzip des Hurst Castle wirft. Ein sehr reicher Verleger baute sich hier einen romantischen Ort. Als Vorlagen dienten ihm verschiedene Schlösser und anderer herausragender Gebäude in Europa. Zum Teil kaufte er auch das eine oder andere Gebäude in Europa auf und ließ es abbauen und in Kalifornien wieder errichten. So entstand ein synthetisch historischer Neubau, in dem verschiedene Stilrichtungen und Regionen zusammengeführt worden sind. „Was ist hier echt, und was ist hier falsch?“, „Worauf verweist welches Zeichen?“ Das waren Fragen Ecos auf seiner Reise (Eco 1985). Wenige Jahre später war Jean Baudrillard, der Entdecker einer sich von der Realität lösenden Zeichenwelt, in Berkeley Gastprofessor. Es wird berichtet, er habe diese Professur verzweifelt abgebrochen, da seine amerikanischen StudentInnen seine Frage nach dem Verhältnis zwischen „Echtem“ und „Unechtem“ nicht verstanden. Eco zielte mit dieser Frage auf die Welt der Zeichen und ihren Bezug zu einer Welt des Realen. Während Eco doch eher erheitert diese Räume der Zeichen durchreist, ist es für Baudrillard ein Fiasko der Moderne. In der Geschichte der Erkenntnis nach der Zeit der Aufklärung unterscheidet er drei Phasen. In der ersten epistemologischen Phase stehen Zeichen für Einsicht in die Zusammenhänge der realen Welt. Besonders die Wissenschaft imaginiert die Welt in Formeln und Modellen, um sich mit den Gesetzen realer Abläufe auseinanderzusetzen. In der zweiten Phase begreift Baudrillard die Zeichen als Maskierung des Realen. Sie verschleiern die „wirkliche Wirklichkeit“. Die kritische Analyse dieser Zeichen demaskiert ihre ideologische Funktion. In der dritten Phase werden Zeichen zu einem Simulakrum. Sie verweisen auf etwas Reales, das es nicht 52
gibt. Dabei sind sie nicht eine Lüge, deren falsche Erzählung man ja bloßstellen könnte, sondern sie erzählen die Wahrheit, da es die Wirklichkeit nicht gibt (Baudrillard 1978). Diese Hypothesen sind keineswegs nur auf Raumzeichen bezogen, aber sie haben räumliche Entsprechungen. Die Kreise um einen städtischen Markt, die Thünen als Kartierung für unterschiedliche landwirtschaftliche Nutzungen entwirft oder die Systeme zentraler Orte, die Christaller als Modell des Raumes analysiert, sind empirische Abstraktionen der Wirklichkeit. Im Falle der Theorie Zentraler Orte wird die empirische Feststellung einer hierarchisch gegliederten Wirklichkeit normativ gewendet. Den Nazis diente sie als Raumordnungsmodell für die Gliederung der eroberten polnischen und russischen Gebiete. Nach dem zweiten Weltkrieg war sie im Westen Deutschlands das vorherrschende Modell der Regionalplanung. Bei dieser normativen Wendung sieht man schon den Übergang der Zeichen, die nun nicht so sehr Zeichen der Einsicht in eine Wirklichkeit sind, sondern auch zur Maskierung einer Wirklichkeit beitragen. Die aus faschistischer Sicht „ungeordneten“ polnischen Verhältnisse sollten einem überlegenen, rationalen System weichen. Später wurde diese Unordnung im ländlichen Raum generell entdeckt, der durch Bemühungen einer inneren Kolonisation auf ein modernes Niveau gehoben werden sollte. Für eine breite Diskussion über Raumzeichen als Maskierung der Wirklichkeit sorgte der Streit um die historische Rekonstruktion von Städten nach Ende des zweiten Weltkriegs. Sind die historisch rekonstruierten Wiederaufbauten von Münster und Freiburg oder die Rekonstruktion der Frauenkirche in Dresden nicht gebaute Lügen, die den Zugang zur Einsicht in die Ursache der Zerstörung verstellen? Die Diskussion hat weder zu einer Lösung beigetragen noch zu einem Ende gefunden. Immer wenn ein Bauwerk, wie der Neubau eines Hotels, sich historisch gibt ohne es zu sein, stellt sich die Frage nach der Maske der räumlichen Gestalt und ihrer Funktion. Und immer wieder kann man nur betonen, dass sich die Frage nie pauschal, sondern immer nur am Einzelfall beantworten lässt. Die Diskussion um eine simulierte Welt verschiebt die Sicht vom Raumzeichen hin zu einem Raum der Zeichen. Gibt es diesen Raum der Zeichen, der auf nichts als auf sich selbst verweist? Ist das Internet diese Wirklichkeit des Zeichenraumes, die Baudrillard und Eco noch nicht kennen konnten? Ohne jeden Zweifel hat die Produktion von Zeichen in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen. Die Produktion und Distribution von Zeichen ist eine wichtige Wachstumsindustrie und möglicher Vorbote für einen Wechsel in der Hierarchie der ökonomischen Bedeutung: die Bedeutung der materiellen Produktion nimmt ab, die der Informationsproduktion nimmt zu. Für die kulturkritischen Befürchtungen einer entfremdeten, aus konkreten Orten und sozialen Bezügen entbetteten, zukünftigen Lebensweise spricht im Moment 53
nicht sehr viel. Die Untersuchung der Geographie des Internets in den Vereinigten Staaten zeigt nicht nur eine deutliche Konzentration in einigen wenigen Städten (siehe Graphik), sondern auch, dass bestimmte Straßenzüge und kleine Quartiere in San Francisco und Manhattan die Zentren des Weltnetzes sind. Dort trifft man die Akteure des Internets beim Cappuccino im Cafe, im Supermarkt und beim Joggen um den Block (Zook 1998).
Abb. 08: Verteilung des Commercial Internet in den USA
Allerdings darf man vermuten, dass die Semiotik dieser Räume durch ein Muster geprägt ist, das man „distante Nähe“ nennen kann. Lokale Zeichen stehen gleichzeitig und personell vermittelt neben translokalen Zeichen, die Bezüge zu leicht erreichbaren fernen Orten herstellen. Der „space of flows“, von dem Castells spricht, ist nicht ortslos. Aber die Dualität zwischen Ort und Welt, zwischen lokaler und globaler Integration ist in eine Gleichzeitigkeit gewandelt.
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Zur Soziologie der symbolischen Form Wie vermitteln sich soziale Regulationsformen und ihre Veränderungen in Zeichen und symbolischen Formen? Man hat es bei der Diskussion dieser Frage stets mit zwei Ebenen der Argumentation zu tun. Die eine Ebene ist die Suche nach einer abstrakten Formel der sozialen Strukturierung von Zeichen und Symbolen. Auf dieser Ebene müsste es möglich sein, die Semiotik eines Bauernhauses im Schwarzwald oder im Atlas zu verstehen, aber auch die Symbolik des Autobahnkreuzes von Frankfurt und den Entwurf für ein jüdisches Museum. Logischerweise können dabei nur sehr allgemeine Prinzipien der sozialen Strukturierung von Zeichen und Symbolen entwickelt werden, deren eigentliche Aussagekraft an der Entzifferung der Semiotik konkreter Orte zu bestimmten Zeiten und vor allem den Wechsel der Zeichensprache zum Thema hat. Auf der ersten Ebene ist ein Vorschlag von Bourdieu sehr fruchtbar. Er schreibt, dass zwischen der gesellschaftlichen Ordnung bzw. der Entwicklungsdynamik dieser Ordnung und ihrer Kommunikation durch Zeichen und Symbole ein mentales Feld vermittelt wird, das Bourdieu Habitus nennt. Im Habitus kommen unbewusst Kenntnisse vorherrschender Handlungsintentionen und Wissen über Handlungsmöglichkeiten, Techniken der Realisierung zusammen (Bourdieu 1983). Manchmal lässt sich die Entstehung des Habitus an der Arbeit einer bestimmten Institution festmachen.. Ein anderes Mal lassen sich eher informelle soziale Netzwerke identifizieren, ein drittes Mal sind nur einzelne Akteure und soziale Milieus zu finden. Die Hypothese der Existenz eines Habitus hat den Vorteil, dass die soziale Strukturierung der Zeichen und Symbole nicht dem bewussten Akt einzelner Akteure zugerechnet wird, sondern sich wie Marx es nannte, gleichsam hinter ihrem Rücken herstellt. So können die Äußerungen eines Architekten auf die soziale Strukturierung einer von ihm entworfenen Architektur hinweisen, sie können diese aber auch unbewusst maskieren. In diesem Sinn objektiviert sich mit dem Konstrukt des Habitus die Analyse des Codes der Zeichen. Vor allem aber wird das Zeichen als eine gesellschaftliche Kommunikationsleistung begriffen. Auf der zweiten Ebene sucht man nach einer Interpretation für Veränderungen an konkreten Orten zu bestimmten Zeiten. „Wie kam es zur Gartenstadtbewegung?“, „Welche Formsprache hat sich diese Bewegung später als Siedlerbewegung in Wien gegeben?“ „Nehmen die Zeichen und Symbole aufeinander Bezug?“ Auf diese Weise lässt sich nach der Semiotik des internationalen Stils oder den Entwürfen eines einzelnen Architekten fragen. Man kann jedoch leicht erkennen, dass ein solches Unternehmen an der Vielzahl möglicher einzelner Objekte scheitern würde. So ist es ratsam die konkrete Entzifferung 55
der Zeichen auf ein „mittleres“ theoretisches Niveau zu heben. Dies wird geleistet, wenn für bestimmte Zeitperioden und Kulturkreise Entwicklungshypothesen formuliert werden, die sich nicht auf die allgemeine gesellschaftliche Dynamik, sondern auf die Symbolebene selbst beziehen. Wenn man dies für das 20. Jahrhundert in Europa und – mit einigen Besonderheiten – für Nordamerika tut, so lässt sich bei einer Reihe von sehr unterschiedlichen Autoren und Autorinnen eine immer wiederkehrende Thematik feststellen. Die Entwürfe und Planungsvorstellungen für einzelne Gebäude, Siedlungen, ganze Städte und Regionen stehen in einer Dialektik von Ordnung und Komplexität, d.h. zwischen der Suche nach Vereinfachung und der Suche nach Erhöhung der Komplexität. Eine Habilitationsschrift aus dem Jahr 1999 entwickelt dieses Spannungsfeld in seiner ganzen Breite (Stöbe 1999). Hier sei lediglich danach gefragt, ob sich Hinweise auf die empirische Bedeutung der Habitushypothese finden. Führt man sich die Form des Städtebaus über das 20. Jahrhundert hinweg vor Augen, so stehen am Anfang des Jahrhunderts die Ausläufer einer dichten gründerzeitlichen Bebauung, die je nach Stilrichtung verschieden ausgeprägt sind, aber allen gemeinsam das Ornament als Gestaltung von Fassaden und Eingängen, Zimmerdecken und Türen pflegen. Wenig später bezeichnet Loos das Ornament als Verbrechen. Mit der Charta von Athen wird das Chaos der Städte zum Thema. „Das Chaos hat in den Städten Einzug gehalten...“ schreibt Le Corbusier für die Charta von Athen (Le Corbusier 1984: S. 121). Auch im Bauhaus findet die Suche nach Ordnung und Ordentlichkeit seinen Niederschlag. So wird die Farbe „Weiß“ für einige zum Symbol der moralischen Erneuerung (Arndt 1994). In Hilbersheimers Projekt „Hochhausstadt“ kündigt sich die Rechtwinkligkeit des zukünftigen internationalen Stils an, der sich als Denk- und Gestaltungsfigur bis in die 70er Jahre als Stadtentwicklungsmodell durchsetzt. So wie sich hier die Ordnung des rechten Winkels gegen die Unübersichtlichkeit der Großstadt durchsetzt, ist auch die Entwicklung der eingeschossigen Siedlungen explizit antiurban. Ob im Heimatstil oder als Flachdachbau Haus und Garten sind das Ideal, von links und rechts wird in den 20er Jahren in Deutschland die Subsistenz empfohlen. Erst in den 60er Jahren kommen die ersten Stimmen, die nach mehr Komplexität, Mischung und Unübersichtlichkeit rufen. Jane Jacobs Text (Literaturangabe)wird zum neuen Kultbuch der Planer. Die Sprengung eines Wohnkastens in St. Louis wird Symbol einer sich ändernden Auffassung von Architektur und Städtebau; die Arbeiten Venturis über „Komplexität und Widerspruch“ lenken die Aufmerksamkeit auf einen Paradigmenwechsel. Während die freie Kombination aller Stilmittel durch die „Postmodernisten“ die Sehgewohnheiten nicht erschüttert, werden durch Entwürfe wie den Parc de la Villette von Tschumi in Paris, durch den Bau des jüdischen Museums in Berlin von Daniel Liebeskind oder die dekonstrukti56
vistischen Bauten von Gehry in Weil am Rhein und Bilbao die Gestaltbildung gesprengt. Diese sehr kurze Skizze wäre durch den Wechsel im Paradigma der Stadterneuerung (von der Auskernung als „Verübersichtlichung“ der alten Stadt zur behutsamen Stadterneuerung) und den Änderungen in der Dorferneuerung (von der Aufreißung des Dorfes durch die Flurbereinigung zum pflegsamen Umgang mit unordentlichen Ensembles und vieles mehr zu ergänzen und sicherlich auch zu differenzieren. Doch hier soll lediglich in Form eines Gedankenexperiments die Tauglichkeit der Habituskategorie für eine Soziologie der symbolischen Form angedacht werden. Nun könnte man den Wechsel zwischen der Tendenz, die Komplexität der städtischen Umwelt zu reduzieren und dafür die sehr einfache und einprägsame geometrische Gestaltform als Zeichen zu wählen, als eine einfache, das heißt unvermittelte Reaktion auf die Sinnesüberlastung und den Orientierungsverlust in der modernen Großstadt interpretieren. In den darauf folgenden sechs Jahrzehnten müsste die Komplexität der großen Städte objektiv reduziert worden sein oder die Menschen haben sich durchschnittlich an das hohe Komplexitätsniveau gewöhnt, so dass die Nachfrage nach höherer Komplexität in der Umweltgestaltung angestiegen wäre. Entsprechend würden Zeichen und Symbole für hohe Komplexität gewählt. Bei dieser Interpretation bedarf man der Habituskategorie nicht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse wirken unvermittelt auf die Wahrnehmungskapazität und Architektur und Planung reagieren auf die Veränderung dieses unmittelbaren Verhältnisses. Gegen die Plausibilität einer solchen Interpretation spricht jedoch die Abfolge der architektonischen Symbole im Zeitverlauf. Als in Europa und auch in Deutschland das Wachstum der industriellen Städte am größten war und zudem die Neuartigkeit der städtischen Dichte und Heterogenität groß war, baute man dichte gründerzeitliche Städte und liebte zudem Dekor aller Art, wodurch die visuelle Komplexität sicher nicht verringert wurde. Erst nach Abschluss des industriellen Stadtwachstums machte sich der Ruf nach Ordnung gegen das Chaos der Städte breit. Dies lässt sich nicht mehr als eine direkte Reaktion auf die Reizüberflutung verstehen. Wie also ist die gestiegene Sensibilität gegenüber der „Unordnung“ zu verstehen? Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich in den Städten eine Bewegung für Hygiene breit, die durch die Ausbreitung der Cholera in manchen Städten einen zusätzlichen Impuls erhielt. Eine Koalition von Medizinern und Ingenieuren veränderte zunächst die Systeme der Wasserversorgung und der Regelung der Abwässer radikal. Statt der Brunnen im Quartier und dem offenen Abtritt, meist im Hof der Häuser, wurden Wasserleitungen in die Häuser verlegt, und später auch Abwasserentsorgung betrieben. Schritt für Schritt kamen weitere Maßnahmen hinzu: der Bau von Schlachthöfen löste die Hausschlach57
tung ab, die Märkte wurden kontrolliert, in den Schulen gab es Hygieneunterricht. Als im Jahr 1911 in Dresden das Hygienemuseum gegründet wurde, hatte die Bewegung große Bereiche des Lebens durchdrungen. Hygiene war das Stichwort von der Verpackung der Lebensmittel bis zum sanitären Grün der Gartenanlagen. Ein Syndrom von Institutionen hatte einen Habitus hervorgebracht, dem alles Undurchschaubare verdächtig war. Klare Form, funktionale Rationalität und deutliche Differenzierung zwischen Sauberkeit und Unsauberkeit, Ordnung und Chaos, Moral und Unmoral waren das Ergebnis. Die Sprache der Städtebauer und Architekten verschaffte diesem Habitus eine ihm entsprechende Raumorganisation. Die zunehmende Faszination der seriellen Produktion – Le Corbusier forderte in aller Deutlichkeit, dass die Architekten von den Autobauern lernen sollten – stützte die Intention des Habitus, Ordnung zu schaffen mit entsprechenden Handlungsmitteln, ab. Die Hygienisierung der Gesellschaft und des Städtebaus lassen sich in Deutschland von der Rassenhygiene der Nazis nicht trennen. Ein Zeugnis für diese Sichtweise findet sich in einer Schrift, die unter dem Titel „Neue Wege zur Großstadtsanierung“ von Andreas Walther 1936 publiziert wurde. Darin heißt es: „Der Nationalsozialismus rückt bewusst in den Mittelpunkt seines ganzen Denkens das Volk. Um die Zukunft des Volkes willen ist er entschlossen, Volksschädigendes nicht länger schwächlich zu dulden, sondern unter Kontrolle zu nehmen und unschädlich zu machen.“ Mit sozialstatistischen Analysen untersucht die von Walther geleitete Forschungsgruppe die Verteilung von Indikatoren für „volksschädigende Elemente“ im städtischen Raum. Dazu gehören Konzentrationen von chronischen Sozialhilfeempfängern, von Tuberkulosekranken, von Hilfsschülern und Kommunisten. In der Ablehnung einer behutsamen und Unübersichtlichkeiten akzeptierenden Stadterneuerung und der Förderung von Großsiedlungen vor der Stadt klingt dieser Habitus noch Jahrzehnte nach. Da den Akteuren der Zusammenhang zwischen Habitus und ihren Vorstellungen nicht bewusst ist, bleibt er lange bestehen. Die Kritik an dieser Ordnung der Stadt ist damit zunächst äußerlich: Langweilig seien diese Städte, formulierte Jacobs. Dreißig Jahre später bei Libeskind ist die Ablehnung von Ordnung und Effizienz, die zumindest auch mit dem Massenmord in einer Beziehung steht, dann ein expliziter Grund, die Form zu sprengen. Die Möglichkeiten des Computer unterstützten Designs, die schnellen Simulationen von Formsprengungen im Rechner können ein technischer Baustein eines zukünftigen Habitus sein, doch welches die damit verbundenen Intentionen sind und wie sie sich herausbilden, wissen wir heute nicht. Eine soziologische Theorie räumlicher Zeichen und Symbole bietet die Habituskategorie noch nicht. Mit ihr ist zudem das Risiko überkonsistenter Konstruktionen verbunden. Die inhärenten Widersprüche und zeitlichen wie 58
regionalen Ausdifferenzierungen werden übersehen. Ihr Vorteil liegt darin, die soziale Strukturierung von Raumzeichen als einen transsubjektiven Prozess zu verstehen, bei dem die Akteure, die Zeichenerfinder und Zeichendeuter wie in einem Kraftfeld tätig sind, ohne dass ihnen die Vektoren im einzelnen bewusst sind. Die Zeichen- und Bedeutungssysteme werden in den seltensten Fällen bewusst erstellt, meistens entstehen sie hinter dem Rücken derer, die an ihrer Entstehung beteiligt sind.
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3 Ort und Landschaft, Ränder und Plateaus
Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts begann sich eine Form der Modernisierung herauszubilden, die schon zu dieser Zeit als fordistisch bezeichnet wurde. Henry Ford, der als „Vater“ des damaligen Paradigmenwechsels galt, gelang mit strikter und kontrollierter Arbeitsteilung (Taylorismus) eine erhebliche Steigerung der Produktivität. Der Kern der Modernisierung in dieser Phase war die Entdeckung des Massenkonsums und die allgemeine Motorisierung. Verbunden war dies mit Serialität und Standardisierung der Produkte, da es mit den damals verfügbaren Technologien nur so möglich war, Produkte in großer Zahl preiswert auf den Markt zu bringen. Die Idee der Rationalisierung und Standardisierung hatte erheblichen Einfluss auf die räumliche Entwicklung, die zunehmend nach ähnlichen Prinzipien geplant und gestaltet wurde. Neben der Industrialisierung und Standardisierung der Gebäude selbst äußerte sich die Modernisierung als Zonierung und Geometrisierung des städtischen und ländlichen Raumes. Die Raumplanung ordnete den Raum, indem sie Hierarchien der Zentralität förderte. In Deutschland wurde die empirisch fundierte Theorie von Christaller zur Norm: Ein System von Ober-, Mittel- und Unterzentren bildete jeweils eine Raumeinheit. Große Unterschiede zwischen Stadt und Land sollte die Strukturpolitik soweit wie möglich ausgleichen. Nicht Unterschied und Eigenart galt es zu fördern, sondern Angleichung, um einen möglichst homogenen Raum als Standortvoraussetzung für Industrie und Dienstleistungen zu schaffen. Homogen sollte der Raum auch sein, damit sich das Muster des Massenkonsums in allen geographischen Zonen des Nationalstaates ausbreiten konnte, während die so genannte Strukturschwäche so weit wie möglich zurückgedrängt werden sollte. Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts beschäftigten sich eine Vielzahl von Sozialwissenschaftlern und Planern mit der immer deutlicher werdenden Veränderung des Typs der Modernisierung in den westlichen Ländern. Die allmähliche Ablösung der fordistischen Moderne durch eine Flexibilisierung der Produktion und des Vertriebs „flexibilisiert“ tendenziell alle Lebensbereiche. Damit geraten auch die erstarrten räumlichen Hierarchien und funktionalen Bezüge in Bewegung. Es zeichnet sich eine Zunahme der Konkurrenz von Städten und Regionen um Investitionen in neue Industrien und Dienstleistungen 61
ab. Es geht um Wettbewerb bei öffentlichen Aufträgen und um qualifizierte Arbeitsplätze. Dazu brauchen Städte und Regionen wieder ein „Gesicht“, das ihre Position im Wettbewerb um Ressourcen verbessern sollte. Orte werden wieder entdeckt oder neu geschaffen. In den Städten werden neue Zentren, Plätze und Parkanlagen gebaut: Parc de la Villette in Paris, Isle of Dogs in London, der neue alte Römerplatz in Frankfurt, die Umwandlung des alten Hafens in Barcelona zu einem „urban beach“: Regionen entdecken ihre alten Namen oder suchen sich neue und propagieren regionale Produkte. Mit der Renaissance besonderer Orte verbindet sich nicht nur die Hoffnung auf Vorteile im Wettbewerb der Städte und Regionen, sondern auch die Hoffnung auf eine ästhetische Bereicherung des Raumes und eine erfahrbare Form der demokratischen Öffentlichkeit, eine zivilgesellschaftliche und lebensweltlich eingebundene Entwicklung und Gestaltung von Städten und Regionen. Und zugleich ist festzustellen, dass die vorherrschende Tendenz der räumlichen Planung und der Produktion des Raumes nicht auf Orte und Landschaften als Territorien gelebten Lebens zielt, sondern vornehmlich auf ein Raummarketing, was zu kurz greift oder sich zu schnell abnutzt, um Orte entstehen zu lassen. Die Gefährdung des Erhalts und der Entwicklung von Orten kommt gerade aus dem Wettbewerb, der die Idee von Orten und typischen Landschaften hat wieder entstehen lassen. Da man schnell agieren muss, um Marktvorteile zu erzielen, richtet sich das Interesse mehr auf das Spektakuläre als auf das Besondere und Eigensinnige eines Ortes. Schnell auch wird kopiert bis sich die Unterscheidbarkeit, die man erreichen wollte, wieder auflöst. Wenn jede Stadt eine Museumsmeile, ein Sommerfestival und eine Wasserstadt hat, ist die Unterscheidbarkeit verloren. Zum anderen muss man sich aber auch fragen, ob die Bewohnerinnen und Bewohner eines Raumes wirkliche Orte wünschen. Die Frage könnte einem abwegig vorkommen, fahren doch Tausende jedes Jahr nach Venedig, Paris oder Heidelberg, weil man Sehnsucht und Bedarf nach Orten hat. Doch es ist in diesem Verhalten eine Selbsttäuschung verborgen: Orte und Landschaften bestehen eben nicht nur aus Gebäuden und Panoramablicken, sie müssen stets von Neuem durch Wahrnehmung und Handeln konstituiert werden, sonst bekommen sie den Charakter eines Films oder Buches, durch das man sein Bedürfnis nach Erzählungen und Leben befriedigen kann, ohne beteiligt zu sein. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, die Bilder des schönen Raumes zu genießen und vergisst, dass wirkliche Orte nicht nur langsam entstehen und sich immer verändern, sondern sich weder als Wahrnehmungs- noch als Handlungsfeld ohne eigenes Zutun anbieten. Gelebte Orte sind widersprüchlich. Vieles bleibt zunächst verborgen, anderes ist schwer zugänglich. Die Vitalität gelebter Orte 62
schöpft sich nicht nur aus Abstoßung und Anziehung, Einladung und Ausladung. Ganz ähnlich kann man dies auch bei Landschaften beobachten. Forstwirtschaftlich geordnete Wälder ziehen die meisten Menschen an, relativ naturnah genutzte Wälder gefallen den oberen Bildungsschichten (Braun 2000). Eine Region wie das Allgäu, die im 19. Jahrhundert eine kleinbäuerlich und handwerklich geprägte Region war – mit Selbstversorgung und durch den Anbau und die Verarbeitung von Flachs hielt man sich am Leben – hat sich auf den Weg zur Monokultur der Milchwirtschaft begeben. Dennoch halten die meisten die ausgeräumte und überdüngte Flur für eine natürliche Voralpenlandschaft. Auch in diesem Fall hat eine rationalisierte Landwirtschaft nicht nur das Bild der Landschaft, sondern auch das Bedürfnis nach ihr geprägt. Nicht immer ist dies gelungen: die industrielle Viehzucht in Norddeutschland gefährdet nicht nur Grundwasser und Böden, sondern hat auch die Landschaft mit einem negativen Image überzogen. Die selben Widersprüche zwischen wirtschaftlicher Verwertung, ästhetischer Anpassung und räumlicher Entwertung finden sich im verstädterten Bereich: die endlose Reihung von suburbanen Siedlungen, Gewerbegebieten mit Einkaufszentren, Parallelautobahnen und verinselten Restlandschaften entzieht ganzen Stadtregionen einer in Worte, Namen und Bildern formulierbaren Wahrnehmung. Bei der Frage nach dem Stellenwert von Ort und Landschaft in einer sich modernisierenden Gesellschaft wird man mit Widersprüchlichem rechnen müssen. Die These von einem Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Verwertung, Entfremdung und Selbstanpassung ist nicht falsch, aber sie reicht nicht aus, um die Vielfalt der Beziehungen, die Menschen zu Orten und Landschaften haben, zu verstehen. Wie könnte man sich sonst die zahllosen Agendagruppen in den Gemeinden, die Bürgergruppen (die einst kommunale Schwimmbäder übernahmen), die zahllosen Einsprüche bei Straßen- und Deponiebauten erklären. Aber auch der Hinweis darauf, wie viel Geld und Zeit Menschen aufwenden, um Orte und Landschaften aufzusuchen, befriedigt nicht. Könnte nicht gerade dies ein Hinweis sein, dass die meisten den schönen Schein suchen, dass es gerade die glatten Orte und Landschaften sind, die aufgesucht werden, nicht obwohl, sondern weil sie schon längst, um es mit den Worten von Baudrillard zu formulieren, der Agonie des Realen erlegen sind? Um zu begründen, dass Ort und Landschaft gerade in einer sich globalisierenden und „flexibilisierenden“ Welt nicht nur schön sind, sondern für die weitere Modernisierung notwendig sind, benötigt man eine theoretische Klärung des Verhältnisses von Ort und Landschaft auf der einen Seite zu Lebenswelt, zu Politik und Ökonomie auf der anderen. 63
Läpple nennt es einen schwierigen Weg vom Ort zum Raum (Läpple 2000) und es ist wohl auch ein schwieriger Weg vom Raum zum Ort. Raum ist nicht als Wort, aber als theoretischer Begriff ein Kind der Moderne; Orte dagegen finden sich seit es Gesellschaften gibt. Allerdings ist es wohl falsch anzunehmen, Orte seien traditionell, Räume dagegen modern. Orte sind wahrscheinlich weder traditionell, noch modern. Sie sind konstitutiv für jedwede Form von Gesellschaft. Räume kann und muss man vermessen, Orte kann man erleben. Räume kann und muss man überwinden, in Orte kann man sich hineinbegeben, man kann außen vor gehalten werden, man kann sie auch vermeiden oder fliehen. Mit Orten verbinden sich unmittelbare Wahrnehmung, Emotionen, Lust und Unlust. Räume kann man verstehen und nutzen. Beiden ist gemeinsam, dass sie das Ergebnis handelnder Menschen sind. Sie sind nicht vorgegeben, sondern werden geschaffen und ausgestattet. Räume werden über den Verkehr erschlossen, Stoffströme stellen Relationen zwischen verschiedenen Punkten her. Orte werden gestaltet, wahrgenommen und genutzt. Das Verhältnis von Raum und Ort ist vergleichbar mit dem von Zeit und Ereignis. Zumindest seit dem Eisenbahnverkehr verbindet sich mit Zeit nicht mehr die gelebte Zeit, sondern die gemessene Zeit. Man benötigt sie, um Abläufe zu koordinieren. Heute gruppiert Zeit Ereignisse, aber sie selbst ist keines. Räume entsprechen in ihrer Formalität der abstrakten Zeit von Tag, Stunde und Minute; Orte sind gelebte Zeit, sie sind Ereignis. So wie es unplausibel wäre das gelebte Ereignis gegen die abstrakte Zeit ins Feld zu führen, so stehen sich Raum und Ort nicht gegenüber. Sie sind zwei Aspekte der Ordnung eines Territoriums. Räume konstituieren sich durch funktionale Beziehungen. Das können eher statisch gedachte Beziehungen sein, wie zum Beispiel das System zentraler Orte oder es können dynamische Beziehungen sein, wie beispielsweise Fließräume (Castells 2001). Orte konstituieren sich um Sinn und Sinne (Feld, Basso 1997: S. 91). Selbstverständlich gibt es in der empirischen Wirklichkeit eine Vielzahl von Berührungspunkten und Mischformen. Wenn am Ende des 19. Jahrhunderts Wasserwerke in Form von Schlösser gebaut wurden, dann feierte man einen Fließraum durch einen Ort. Wenn wichtige Straßen sich kreuzen, dann bilden sie einen Ort. Wenn ein Ort existiert, dann kann er für seine Umgebung funktionale Aufgaben wahrnehmen – etwa als Marktplatz. Trotz aller Verflechtungen und Mischformen ist es sinnvoll Orte als Kristallisationspunkte der unmittelbaren Wahrnehmung, der kulturellen Deutung und Bedeutung sowie des sozialen Handelns aufzufassen. Der Raum hingegen wird als eine Struktur funktionaler Bezüge und als ein Netz von Fließgrößen begriffen. Beide spielen im Prozess der Modernisierung jeweils eine eigene Rolle. Giddens schlägt vor Modernisierung als Entbettung des Einzelnen aus 64
sozialen Bezügen zu untersuchen (Giddens 1996). Dies wird häufig durch räumliche Änderungen mitbestimmt und begleitet. Die Beschleunigung als ein wesentliches Ziel und Mittel der Modernisierung wird durch glatte, von Widerständen befreite Verkehrswege ermöglicht. Die räumliche Trennung einzelner Handlungsbereiche trägt dazu bei die Kristallisationskraft von Orten zu verringern. In dem gleichen Maße wie sich die meisten Menschen den Öffnungen der jeweiligen Modernisierungsphase anpassen müssen oder wollen beziehungsweise selbst Akteure der Modernisierung sind, wächst aber auch die Tendenz neue soziale Bezüge zu schaffen oder alte zumindest in veränderter Form zu erhalten. Entbettung und eine neuerliche Einbettung bedingen sich wechselseitig. In dieser Hinsicht wirken Ort und Raum als eine Einheit von Widersprüchen. An und durch Orte entwickelt sich kommunikatives Handeln, in und durch Räume instrumentelles Handeln. Orte können lebensweltliche Handlungen und Deutungen bündeln, an und durch Räume werden systemische Impulse mobilisiert. So wie sich in jeder Handlung und mehr noch in jedem handelnden Subjekt zugleich lebensweltliche und systemische Elemente finden (Habermas 1981), korrespondieren Ort und Raum. Empirisch jedoch ist diese Korrespondenz alles andere als konfliktfrei. Beschleunigung und Flexibilisierung stören und zerstören Orte. Manchmal passiert dies ganz unmittelbar, beispielsweise wenn eine breitere Straße einen Platz, ein ehemaliges Dorf, ein Quartier physisch zerstört. Ein anderes Mal ist die Zerstörung als eine allmähliche Auflösung der sozialen und baulichen Qualität eines Ortes aufzufassen. Aber auch umgekehrt können Orte resistent und persistent gegenüber Modernisierungsimpulsen sein und die Entwicklung verzögern, umleiten oder verhindern. Die Geschichte der Stadterneuerung ist gespickt mit Beispielen dieser Art. Das Verhältnis von Ort und Raum kann bei aller Spannung und gegenseitiger Gefährdung produktiv sein. Das tritt immer dann ein, wenn Orte eine integrative Kraft entfalten, wenn durch sie Identifikationsangebote entstehen, wenn die Einbettung und Anlehnung an Orte gerade so groß ist, dass man den Impulsen der Beschleunigung, der Rationalisierung, der Mobilität und Öffnung angstfrei folgen kann. Im besten Fall strahlen Orte eine Poesie aus, durch die die systemische Härte und Nüchternheit in einem weicheren Licht erscheint und so erträglich wird. Im günstigen Fall entspringt dem Ort die utopische Energie, die systemischer Veränderung bedarf, um über das Mehr an Geld und Macht attraktiv zu sein. In diesem produktiven Verhältnis ist immer auch die Gefahr einer Ideologisierung von Modernisierungsschüben angelegt, durch die die Kosten der Entbettung, der Verlust an Sicherheit und selbstbestimmter Gestaltung der Lebenswelt verschleiert werden. Die prekäre Relation von Ort und Raum kann sich auch so äußern, dass die Menschen vor den Herausforderungen der Modernisierung fliehen und mit und durch Orte nostalgische Illusionen pflegen. Nicht sel65
ten wird dies systemisch gefördert und feiert sich selbst in kostspieligen, inhaltsentleerten Verhübschungen. Hier deutet sich der riskante Versuch an, den Antagonismus von Ort und Raum aufzulösen, indem das Bedürfnis nach Orten durch Kulissen und Inszenierungen befriedigt wird. Durch immer neue modische Events und Umgestaltungen täuscht man sich über den Mangel an lebensweltlicher Kommunikation und der damit verbundenen kulturellen Deutungsressource und Lebendigkeit hinweg. Orte begreift man nicht, wenn man meint etwas vorzufinden. Sie sind im Wesentlichen Ereignisse und entstehen in einem hohen Maß durch Selbstinitiative und Selbstregulation. Wohl nur dann gilt die schöne Formulierung von Feld: „as place is sensed, senses are placed; as places make sense, senses make place“ (Feld, Basso 1997: S. 8). Orte bringen zusammen (places gather): in ihnen werden Menschen, Handlungen und Gegenstände in bestimmten und eigenen Mustern konfiguriert (Casey 1997: S. 25). Sie bringen zudem Erinnerungen, Deutungen und Bedeutungen zusammen und sind somit wesentlich für das kulturelle Selbstverständnis. In und durch den Raum wird im Gegensatz dazu differenziert: die Arbeitsteilung wird koordiniert und Menschen, Güter und Informationen werden bewegt. Festzuhalten ist, dass Ort und Raum jeweils Medien und Ordnungen sind, in und durch die sich Modernisierung als soziale Entbettung und soziale Einbettung realisiert. Orte konzentrieren lebensweltliche Bezüge, Räume vermitteln und strukturieren systemische Impulse. Beide stehen in einem wechselseitigen Bezug, den man eine antagonistische Korrespondenz nennen könnte. Wenn man den Prozess der Modernisierung im 20. Jahrhundert empirisch analysiert, so wird man eine Dominanz des Raumes und ein Rückzug des Ortes feststellen. Dies kann, muss aber nicht notwendiger Weise mit der Modernisierung zusammenhängen. Es könnte auch sein, dass es eine typische Erscheinungsform fordistischer Modernisierung ist. Es könnte sein, dass sich dies in der allmählich abzeichnenden nächsten Phase der flexiblen und reflexiven Moderne ändert. Zumindest verändert sich die Organisation des Fließraumes. Er wird im höheren Maß informationell und damit auch virtuell. In manchen Bereichen, wie etwa in der Energieversorgung, zeichnen sich Möglichkeiten einer Trendwende ab. Wenn auf dem Gebiet eines Dorfes ein Solarpark gebaut wird, so entsteht nicht nur eine neue ästhetische Form, zugleich wird eine Funktion wieder gewonnen, die seit einem Jahrhundert abgegeben wurde: die Selbstversorgung mit Energie. Bislang haben wir über Ort und Raum nachgedacht. Welche Rolle spielt nun aber die Landschaft und in welchem Verhältnis steht sie zu Ort und Raum? Welche Bedeutung hat sie für das moderne Leben und den Prozess der Modernisierung? 66
Meines Erachtens nach ist Landschaft eine besondere Ausprägung des Ortes. Sie ist wie der Ort an die unmittelbare Wahrnehmung und kulturelle Deutungen gebunden. Nicht überall ist Landschaft, sondern nur dort, wo Menschen sich ein Bild von ihr gemacht haben und machen. Noch ausgeprägter als bei Orten gilt, dass Landschaften Namen haben und als Raumpersönlichkeiten aufgefasst werden. Landschaften sind Gestalt auf territorialem Grund. Sie vermitteln typische Formen und machen die Milliarden „anderer Elemente“ vergessen, die sich auch auf jenem Territorium befinden.. So gesehen sind Landschaften ästhetisch emotionale Konstruktionen und ebenso wie Orte Teil der Lebenswelt. Anders als beim Ort haben Landschaften aber immer auch einen herausragenden Naturbezug. Sie sind ohne Böden und Klima, ohne Fauna und Flora nicht zu denken. In Landschaften entfaltet sich das durch die Moderne entfremdende Naturverhältnis, mal auf kompensatorische und mal auf utopische Weise (Ritter 1978). Aus dieser Perspektive sind Landschaften für den modernen Menschen Orte der Erholung. Hier wandert man, läuft, fährt Ski, geht Schwimmen oder reitet. Mit Landschaften verbindet sich die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit. Schweiß, Erschöpfung, Trance sind zugelassen. Für Momente treffen sich die innere und die äußere Natur. Dies geschieht in einem zeitlich und lokal begrenzten Rahmen und ist deshalb für den Kern des modernen Mensch-Natur-Verhältnisses nicht bedrohlich. Der Mensch will die Natur beherrschen und instrumentalisieren; er ist von der Natur emanzipiert und will dies bleiben. In und durch die Landschaft erfährt er jedoch die eigene Natur und den Eigensinn der äußeren Natur. Die Balance gelingt, weil in Landschaft die Arbeit und Bearbeitung von Jahrhunderten zu Form geronnen ist. Landschaft ist der Beweis, dass menschliches Tun und natürliches Wirken zu einer Einheit fähig sind. Daher erklärt sich die vorherrschende Vorstellung, Landschaft sei ein Zustand, ein Bild, das man sich nicht nehmen lassen will. Deshalb erscheint sie in einem vehementen Widerspruch zur Dynamik der Fließräume und Logik industrieller Bearbeitung. Man weiß, dass Landschaften transitorisch sind, aber man will es nicht sehen. Da sich dieser Konflikt nicht lösen lässt, werden bestimmte Landschaften der Logik der raumbezogenen Modernisierung entzogen und unter Schutz gestellt. Hier ist dann alles landschaftlich Wertvolle zu finden, das vor Autobahnen und Hochspannungsleitungen geschützt wird, denn wir die sind, findet man keine Landschaft. Ganz so ist es nicht mehr. Die Landschaft dringt in den Raum ein. Der städtische Rasen wird nur noch zweimal im Jahr gemäht und ähnelt der ländlichen Wiese. Am Rande des Bürgersteiges wird aus Unkraut wertvolle Ruderalvegetation und ehemalige Industrieflächen fallen brach und werden zu Urwäldern vor den Toren der Stadt und oder zur Wildnis in ihr. In Regionalparks, die manchmal nur gestaltete Wege durch urbane Landschaften 67
sind, werden neue Landschaftsbilder entworfen. Das widersprüchliche Verhältnis von Landschaft und Raum besagt nicht, dass Funktion und rationalisierte Nutzung immer gewinnen. So wie Ortbildung auch in Fließräume einsickert und sich an so mancher Tankstelle die Lebenswelt intensiver als auf zahlreichen Stadtplätzen entfaltet, so wissen wir mittlerweile, dass Abraumhalden und ehemalige Stahlwerke zu poetischen Orten und wertvollen Landschaften werden können. Um die Dynamik von Orten, Landschaften und Räumen zu begreifen, halten wir fest: nicht alles ist Ort, nicht überall ist Landschaft. Es gibt wahrnehmungstheoretisch ein Wechselverhältnis von Gestalt und Grund. Orte und Landschaften sind Gestalt, die Reihung von Wohnungen, Büros, Fabriken, Verkaufsflächen ist Grund. Diesen Grund nennen wir Plateau und meinen damit Ebenen, die scheinbar unbegrenzt verfließen. Nur vereinzelt glaubt man eine markante Erhebung, eine Häufung von Bäumen, ein markantes Gebäude zu erkennen. Plateaus sind die vielen namenlosen Territorien, die nach einem Regierungsbezirk benannt werden. Plateaus sind die verstädterten Zonen, die Sieverts als Zwischen-Stadt bezeichnet, Plateaus sind die Ringe aus Siedlung, Reitstall und Tennisplatz, die sich um ehemalige Dörfer gruppieren. Es ist allerdings nicht so, dass wir Ort und Landschaft als „gut“ bewerten, Plateaus als „schlecht“. Es gäbe ohne sie weder Ort noch Landschaft ohne Plateau. Sie bedingen sich nicht nur wahrnehmungstheoretisch, denn wie sollte es zu einer Bündelung von Menschen, Dingen und Erinnerungen kommen, wenn es da nichts gäbe, was zu bündeln wäre? Wie sollte es zu Bildern von Regionen kommen, wenn alles ein Bild wäre: Landschaft entsteht aus Regionen heraus. Dabei ist zu beachten, dass Plateaus ein notwendiger Hintergrund für Orte und Landschaften sind und selbst potentiell zu Ort und Landschaft werden können. Sie sind zugleich Ressourcen und Territorien der Suche und Entdeckung. In ihnen liegen neu bestimmbare Landschaften und verborgene Orte. An dieser Stelle sollten einige Schwierigkeiten erwähnt werden: „Wer bestimmt eigentlich, was Ort und Landschaft ist?“, „Wie viele Stimmen müssen es sein, um sagen zu können, das ist ein Ort?“, „Findet nicht jedes Kind seinen Ort neben dem Haus der Eltern?“. Die Antworten müssen vage ausfallen. Orte und Landschaft sind ein Ergebnis von Kommunikation, das heißt, dass sich eine Gruppe von Menschen darauf einigen muss dieses Territorium als eine Landschaft oder einen Ort zu sehen, darin Typisches feststellen muss und ihr schließlich einen Namen gibt. Aber schon taucht die nächste Frage auf: „Müssen es immer alle Stimmen sein?“. Lange Zeit waren die Alpen für fast alle Menschen nur ein Verkehrshindernis. Die Alpen waren eine Mühsal sie zu überwinden oder in ihnen zu überleben. Anfangs war es nur eine kleine Gruppe von Engländern, die dies 68
anders gesehen hatte. Es könnte also durchaus so sein, dass am Anfang nur ein Mensch davon überzeugt ist, dass dies ein Ort ist. Bleibt er dabei allein, so ist dies zwar sein Ort, aber im Allgemeinen kein Ort. Ist jemand mit Deutungsmacht und kommunikativer Kompetenz ausgestattet, weil er oder sie malen, Gedichte und Aufsätze schreiben, Filme drehen kann, oder ist er reich und beherrscht ein Territorium, dann könnte er sagen, dieses Fleckchen Erde mache ich zu einer Landschaft und überzeuge die Menschen, die hier wohnen davon. So entstand das Gartenreich in Wörlitz. Eindrücklich ist die Ortsbildung durch jenen italienischen Migranten in Los Angeles, der auf seinem Weg von dem schmuddeligen Lokal zu seinem kleinen viereckigen Standarthaus in den Watts Scherben sammelte und über die Jahre damit „Türme“ baute, die heute ein „national monument“ sind. Die Antwort auf die Fragen: „Ab wann und wie wird in und aus einem Plateau ein Ort oder eine Landschaft werden?“, fällt notwendigerweise ebenfalls vage aus. Ort und Landschaft entstehen in einem kommunikativen Prozess, bei dem sie in Wert gesetzt oder entwertet werden. Der kommunikative Prozess ist dabei kein Akt der Gesetzgebung, das Ergebnis einer Verwaltungsentscheidung; oder Resultat von Planung und Entwurf. Architekten und Planer können nur dazu beitragen, dass Orte und Landschaften entstehen. Sie können allerdings durch ihr Tun ihre Entstehung nachhaltig verhindern. Orte und Landschaften sind nicht durch Grenzen von den Plateaus getrennt, sondern durch Ränder. Das heißt, sie sind permeabel. Ort und Landschaft dringen in Plateaus ein und diese in sie. Ränder sind unbestimmte Territorien, sie sind weder noch, sie trennen und verbinden. Ränder dienen als Rückzugsgebiete für Verdrängte, als Versteck für Verfolgte, als Plätze für Müll, als Ausgangspunkt von Neuerungen. Ränder dienen als Ausgangspunkt für die Entdeckung potentieller Orte und Landschaften. Ränder ergeben kein Bild, aber sie sind reich an möglichen Bildern und Vorstellungen. Manchmal hat man die Vorstellung, hier entwickle sich Wichtiges und Neues. Dann gibt es flüsternd weiter getragene Tipps. Ränder gehören nicht zu Ort und Landschaft und auch nicht zu Plateaus. Sie sind alles und nichts, kurzum ein Territorium der Möglichkeiten. Ort und Landschaft, Ränder und Plateaus und die systemischen Prozesse des Raumes ergeben als Ganzes das Feld, aus dem heraus sich die Städte, Dörfer und Regionen entwickeln. Sie dienen als Sichtweisen und theoretische Konstruktionen, um die Entwicklungen zu verstehen, zu beeinflussen und zu gestalten. Man kann die überprüfbare These aufstellen, dass in dem gerade abgelaufenen Jahrhundert zu viele Orte und Landschaften zerstört und gestört worden sind, dass man gegenüber Rändern zu wenig Duldsamkeit hatte und dass fast alles mit einem zu dichten Regelwerk überzogen worden ist. Man kann die These aufstellen, dass auch durch diese Entwicklung die Potentiale der Le69
benswelt zu stark zurückgedrängt worden sind, dass die Rolle von Macht und Geld zu bedeutend ist und die von Kommunikation zu unbedeutend wurde. Man kann die These aufstellen, dass dadurch die Innovationskraft der systemischen Welt ungewollt verringert wird. Vor allem aber kann man die Behauptung aufstellen, dass die Verwundbarkeit der modernen Welt so groß ist, weil die Genese von Handlungen und Wahrnehmungsweisen eine breite lebensweltliche Basis braucht. Wenn man von der Plausibilität dieser Thesen ausgeht, liegt es nahe sich mehr um Orte, Landschaften und Ränder zu kümmern und sie als erhebliche Ressourcen in einem nochmals in seiner Effizienz gesteigerten System zu verstehen und somit in die Entwicklung des Raumes zu investieren. So verständlich eine derartige Schlussfolgerung wäre, sie ist weder politisch, realistisch noch theoretisch zu halten. Ein Eigensinn der Orte wird sich nur im räumlichen Ganzen entfalten können. Es geht darum, spezifisch für jede einzelne Region die Spannung zwischen Ort und Raum, Plateaus und Landschaften zu erfassen und produktiv zu nutzen. Die sich abzeichnende demographische Wende wird erhebliche Änderungen in dem System der europäischen Städte und Regionen bewirken. Es wird Regionen demografischer Verdünnungen geben und selbst Regionen faktischer Entsiedelung beziehungsweise Wüstungen sind nicht auszuschließen. Auf der anderen Seite wird die interne Wanderung und Zuwanderung aus den nicht europäischen Ländern zu einem Wachstum erfolgreicher Stadtregionen führen. Durch die stärkere West-Ost-Ausrichtung der Europäischen Union, könnten sich neue Korridore bilden. Ganz konkrete Fragen werden sich stellen: „Was wollen wir mit einer Region machen, die aus der landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Nutzung herausgenommen wird?“, „Was soll mit den suburbanen Stadtregionen geschehen, wenn immer mehr Häuser leer stehen?“, „Wie gibt man ganze Dörfer und Talschaften auf?“, „Lässt sich die technische Infrastruktur und die soziale halten, wenn immer weniger Einwohner Beiträge zahlen?“. Eine politische und fachliche Debatte um Ort und Raum, Landschaften und Plateaus könnte dazu beitragen die demographische Entwicklung nicht nur als Problem und Herausforderung, sondern auch als Chance einer neuen Justierung systemischer und lebensweltlicher Ansprüche an den Raum zu entwickeln.
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4 Raum als Landschaft, Landschaft als Ort
In einer Soziologie des Raumes ist Landschaft ein ungewöhnlicher Zugang. In einer Textsammlung zur Landschaftswahrnehmung, die im Jahr 1990 von Gröning und Herlyn herausgegeben wurde, finden sich Aufsätze einer Reihe prominenter Soziologen, unter anderem auch ein Aufsatz von Georg Simmel. Dennoch spielen die Beiträge dieser Wissenschaftler in der Soziologie im Allgemeinen und in der Stadt- und Regionalsoziologie im Besonderen kaum eine Rolle. Einzig für die Arbeiten von Lucius Burckhardt ist Landschaft ein zentraler Schlüsselbegriff, um die gesellschaftliche Konstruktion von Raum und Umwelt zu analysieren und zu verdeutlichen. Diese Randlage der Kategorie Landschaft in der Soziologie ist um so erstaunlicher, als andere Wissenschaften – vornehmlich die Geographie und die Philosophie – eine recht ausgeprägte Beschäftigung mit Fragen des Zugangs zur Landschaft, der Landschaftswahrnehmung und der Bedeutung von Landschaft für die moderne Gesellschaft haben. Ein Grund für die Zurückhaltung der Soziologie in diesem Punkt könnte in ihrer Entstehungsgeschichte liegen. Das starke Wachstum der Städte und die Verwerfungen und Konflikte, die mit der Zuwanderung und Industrialisierung verbundenen sind, waren der Analyseausgangspunkt für die Stadt- und Regionalsoziologie. In Chicago wurde das erste soziologische Forschungsinstitut gegründet, um die modernen städtischen Gesellschaften besser zu verstehen und Konflikte im Vorfeld zu regulieren. Die Konzentration der Soziologie auf die Stadt kann die Ausblendung von Landschaft als Zugang zum Raum bewirkt haben. Die moderne Stadt verstand sich selbst als emanzipiert von Natur und Landschaft, die man draußen vor der Stadt wähnte. Das Draußen war bestenfalls ein Ziel für Wochenendausflüge und Sommerfrische. Grundsätzlich hatten die meisten Städter das Land und damit den Raum, in dem man Landschaft verortete, gerade hinter sich gelassen. Die harte Arbeit auf den Feldern und in den Wäldern, die Nähe zu Tieren, die soziale Enge in den kleinbäuerlichen Häusern und Dörfern waren weit verbreitete und zumindest ambivalent bewertete Erfahrungen. Die Natur zu beherrschen, das Versprechen von Bequemlichkeit und Sicherheit in der Stadt waren feste Bestandteile der Stadtkultur. Mir scheint, die Soziologie konnte sich davon nicht lösen und hat deshalb den gesellschaftlichen und ubiquitären Charakter von Landschaft „übersehen“. 71
Heute befinden wir uns in einer veränderten Situation. Landschaft und ihre Zukunft wird in Europa zu einem gesellschaftlichen Problem und bietet zugleich, wie noch zu erörtern ist, einen fruchtbaren Zugang zur Lösung einer Reihe anstehender Probleme. Drei Problemfelder scheinen besonders relevant zu sein: • Es wird immer schwieriger von Stadt und Land zu sprechen. Zumindest in großen Teilen Europas entwickeln sich neue Landschaften zwischen Stadt und Land. Wie lassen sich diese Räume erfahren? Wie organisiert sich soziales Leben in ihnen? Welche Tendenzen sollte man dabei verfolgen, welche eher vermeiden? • Die landschaftliche Qualität einer Stadt wird verstärkt zum Standortfaktor, nachdem sich die einzelnen Städte in ihrer Ausstattung mit sozialer und technischer Infrastruktur kaum noch unterscheiden. Dies hängt entscheidend mit einer Veränderung der Lebensstile und Statussymbole zusammen. Freizeitaktivitäten in einer Landschaft verleihen Lebenssinn und gesellschaftlichen Status. • Landschaft ist keineswegs mit Natur oder der natürlichen Umwelt identisch, aber mit ihr verbunden. Die Umweltprobleme und ihre möglichen Lösungen sind auf das engste mit dem gesellschaftlichen Naturverhältnis verknüpft. Landschaft bzw. ein bestimmtes Verständnis von Landschaft kann eine Brücke zu einem anderen Naturverhältnis sein und dazu beitragen Strategien für eine nachhaltige regionale Entwicklung zu formulieren. Es sind vor allem diese drei Aspekte, die dazu bewegen, Landschaft als einen soziologischen Zugang zur Entwicklung von Räumen zu diskutieren. Im Folgenden werden zunächst die begrifflichen Komponenten von Landschaft diskutiert. Dabei soll es zum einen auf die Doppelseitigkeit des Landschaftsbegriffs hingewiesen werden, der sich sowohl auf die Materialität des Raumes als auch auf die Konstruktion eines Bildes von einem Raum bezieht. Darauf aufbauend wird Landschaft als ein notwendigerweise interdisziplinäres Konzept der Raumanalyse entfaltet. Auf der anderen Seite soll exemplarisch verdeutlicht werden, wie das Verständnis von Landschaft und der Umgang mit Landschaft Ausdruck spezifischer gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Dies wird zunächst am Beispiel des Fordismus auf der materiellen Ebene entwickelt. In dem darauf folgenden Abschnitt über die „Landschaft im Kopf“ wird es um das Landschaftsbewusstsein und seine Wirkungen gehen. Abschließend werden wir uns mit Skizzen zukünftiger Landschaften beschäftigen und den Rückbezug zu den oben genannten drei Problemfeldern suchen.
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Landschaft zwischen Materialität und Bild Bevor man sich der Frage widmen kann, welcher Begriff von Landschaft einen fruchtbaren Zugang zum Raum und zur Raumerfahrung eröffnet, müssen die neueren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Landschaftsbegriff zumindest im Umriss verdeutlicht werden. Ohne einen derartigen Rückgriff auf die Theorie der Landschaft könnte unsere Hypothese zufällig erscheinen. Konsultiert man ein etymologisches Wörterbuch, so zeigt sich, dass der Wortbestandteil „Land“ einen altgermanischen Ursprung mit der Bedeutung „Heide“, „Steppe“ bis hin zur Rodung hat. Im Laufe des Mittelalters füllte sich der Begriff mit einer politischen Bedeutung. Land meint nunmehr auch die Menschen, die das Land bewirtschafteten bzw. deren sozialen Verband. Aber auch Herrschaftsgebiete wurden als Land bezeichnet. In einer Reihe von Bezeichnungen oder Ortsnamen taucht diese Bedeutung auf. Der „Landmann“ ist es, der die Steppe bearbeitet, das „Landetal“ bezeichnet einen Ort in einem noch zu rodenden Raum. Im neunten Jahrhundert bezieht sich „Landscaf“ auf einen Herrschaftsbezirk und ist gleichbedeutend mit dem lateinischen regio oder provincia (Müller 1977). „-schaft“ meint dagegen die Beschaffenheit, auch die Gestalt, wie das englische scape. So wie die Botschaft die Beschaffenheit einer Information meint, so ist bei Landschaft die Gestalt eines Raumes angesprochen. Freilich hat „-schaft“ einen Bezug zu schaffen, sodass es nahe liegt, die von Menschen gemachte Eigenschaft als Landschaft zu verstehen. Die Betonung liegt jedoch bei der Gestalt, sodass der bei Dürer erstmals erwähnte und von Goethe als Fachbegriff verwendete Begriff des Landschaftsmalers eben auch als Landschafter bezeichnet wird. Landschaft ist demnach ein Bild des Raumes. Landschaft ist zum einen als die Beschaffenheit eines Raumes zu verstehen und zum anderen als bildhafter Ausdruck oder ein Symbol dieser Beschaffenheit. Bis heute haben sich beide Begriffslinien gehalten und in den Wissenschaften nicht selten zu Konfusionen geführt. Die Geographie, die vornehmlich mit dem Landschaftsbegriff gearbeitet hat, meinte, wie Hard zeigen konnte, immer gleichzeitig Unterschiedliches. Das Ökosystem geht hier genauso ein wie die Wahrnehmungseinheit oder die Betonung des Natürlichen gegenüber der Zivilisation (Hard 2002). Die wenigen Soziologen, die sich mit Landschaft beschäftigten, betonen von Anfang an die soziale Konstruktion, die in die Vorstellung von Landschaft einfließt. Simmel vergleicht die Wahrnehmung einer Landschaft mit der Schaffung eines Kunstwerks. Wie beim Landschaftsmaler löst sich der Blick von der unendlichen Reihung der Einzelheiten und schafft durch die Betonung des einen und die Vernachlässigung des anderen ein neues 73
Ganzes (Simmel 1983). Das Landschaftsbild entstehe im Laufe unserer Kulturgeschichte, durch Dichtung und Malerei und abgesunkene Kulturträger, Umschlagbilder von Groschenromanen, Kino, Fernsehen und Tourismuswerbung (Burckhardt 1995). Weiter schreibt Burckhardt: „Wir sehen also nun, woraus sich der Landschaftsbegriff aufbaut oder was eine gegebene Umwelt zur Landschaft macht. Es bedarf dazu einerseits einer bestimmten agrarischen Wirtschaftsweise, die einem Gebiet ihren Stempel aufprägt und es bedarf überdies der Sichtbarmachung dieser aus Wirtschaft und Naturgegebenheiten entstandenen Eigenart durch Literatur und Kunst“ (Burckhardt 1995: S. 153)
Landschaft stellt sich so als ein Begriff dar, der eine Beziehung beschreibt. Die Beziehung konstituiert sich zwischen einem Menschen und einer durch Natur und Arbeit geformten Umwelt. Die Beziehung des modernen Menschen zu seiner so geformten Umwelt ist unmittelbar in den Komplex von Arbeitsteilung und Entfremdung eingebunden, durch den sich die Moderne in den letzten drei Jahrhunderten entfaltet hat. Einflussreich und klärend war und ist in diesem Zusammenhang ein Essay des Philosophen Ritter. Es sei die gleiche Gesellschaft, die dem Menschen in der Verdinglichung der Natur Freiheit bringe und ihn zugleich der Natur entfremde. „Wo die Entzweiung der Gesellschaft und ihrer „objektiven“ Natur von der ,umruhenden‘ Natur die Bedingung der Freiheit ist, da hat die ästhetische Einholung und Vergegenwärtigung der Natur als Landschaft die positive Funktion, den Zusammenhang des Menschen mit der umruhenden Natur offen zu halten und ihm Sprache und Sichtbarkeit zu verleihen.“ (Ritter 1990: S. 39)
Landschaft hält die Beziehung zwischen dem Einzelnen als gesellschaftliches Subjekt und der Umwelt offen für Erfahrungen, die in der verdinglichten Naturbeziehung verloren gingen. Landschaft dient nicht der Wiederherstellung einer heilen Welt. Sie ist weder Flucht noch Kompensation, sondern Pendant der durch die Verdinglichung der Natur erlangten Freiheit. Was im 18. Jahrhundert noch ungetrübt als Freiheit von den Mächten der Natur verstanden werden konnte (Ritter bezieht sich auf Schiller), ist uns heute zum Teil selbstverständlich geworden. Das heißt, es ist uns heute deutlich, dass es die Verdinglichung der Natur ist, die die Freiheit gefährdet. Landschaft kann, wenn sie in die Handlungspräferenzen des Einzelnen und die des ökonomischen und politischen Systems Eingang findet, dazu beitragen, dass Nachhaltigkeit immer im Rahmen eines verdinglichten Naturverhältnisses mit zu berücksichtigen ist. Der Entwicklungsstand moderner Gesellschaften wird die Eigenwertigkeit von Natur immer nur so weit reflektieren und annehmen kön74
nen, wie die Beherrschung der Natur durch den Menschen nicht ernsthaft eingeschränkt ist. Eine der Voraussetzungen an dieser Stelle weiterzudenken zielt darauf die Bindung des Landschaftsbegriffs an das Land im Gegensatz zur Stadt zu lösen. Solange Landschaft nur auf dem Lande „stattfindet“, verstrickt sich die Debatte um die Kausalität von Landschaft und Nachhaltigkeit in einem dualen Denkmuster. Auf der einen Seite befinden sich die Stadt und der verstädterte Raum. In ihnen werden Ressourcen verbraucht und die Selbstreinigungskräfte der Natur überschritten, um die Freiheit des persönlichen Lebens zu erhalten. Stadt ist in diesem Sinn die Emanzipation von Natur (Siebel 1997). Auf der anderen Seite ist es die Landschaft draußen vor der Stadt, die als Reservat diesen Schaden psychisch und physisch kompensieren soll. Zum einen wird dabei übersehen, dass Landschaft auch in der Stadt zu finden ist. Hier gibt es Wasser und Gewässer, Fauna, Flora und Klima. Es gibt die Topographie, Parkanlagen und Ruderalvegetation. Die Berliner Untersuchungen zur Stadtökologie konnten die ökologische Vielfalt gerade der städtischen Vegetation nachweisen. Sie ist im positiven Sinn von intensiv landwirtschaftlich genutzten Räumen unterschieden (Sukopp u.a. 1993). Zum anderen baut die Vorstellung einer Landschaft draußen vor der Stadt auf das Bild der mittelalterlichen europäischen Stadt auf. Die Stadtmauer grenzt innen von außen ab, das Stadttor verbindet innen und außen. Wenn man einmal davon absieht, dass die mittelalterliche Stadt durch eigenen Gartenbau, Viehhaltung und Allmenden viel enger als die moderne Stadt mit Natur verbunden war, so ist seit der Industrialisierung die Grenze zwischen Land und Stadt mehr und mehr verwischt und heute in vielen Stadtregionen nicht mehr zu finden.
Landschaft als interdisziplinäres Konzept Das Spannungsfeld des Landschaftsbegriffs, das sich zwischen Materialität und der Bildhaftigkeit aufbaut, verweist darauf, dass Landschaft nur dann begriffen werden kann, wenn verschiedene Disziplinen aufeinander bezogen werden. Die Materialität der Landschaft bezieht sich auf natürlichen Eigenschaften. Geologische Formationen, Geomorphologie, Wasserhaushalt, Boden und lokales Klima, Pflanzen und Tiere haben potentiell natürliche Eigenschaften und Wechselwirkungen. De facto sind Landschaften zumindest in Europa nirgendwo von menschlichen Einflüssen isoliert zu sehen. Die Bearbeitung der Natur und ihre Nutzung beeinflussen die Stoffströme und modifizieren Standorteigenschaften. 75
So verändert zum Beispiel der Eintrag von Dünger die Bodenfruchtbarkeit, die Siedlungsdichte, das lokale Klima, die Kanalisierung von Fließgewässern, den Wasserhaushalt etc. Wenn man also das Verhältnis von Landschaftsentwicklung und Landschaftsbild betrachtet, so spielen für beide die natürlichen Bedingungen und die Nutzungsformen eine Rolle. Zugleich beeinflussen sich die Landschaftsentwicklung und das Landschaftsbild gegenseitig. Das Bild der Rhön, das sich durch Rodung und Beweidung entwickelt hat, geht heute als Leitbild des Biosphärenreservats in die Landschaftsplanungen ein – die Landschaft der offenen Blicke im Biosphärenreservat Rhön kann als Beispiel dienen – und beeinflusst so die zukünftige Entwicklung dieser Landschaft. Um die Flächen offen zu halten, fördert das Biosphärenreservat den Aufbau von Schafherden und die Beweidung durch Rinder, die den natürlichen Gegebenheiten gut angepasst sind. Interessenhintergrund für dieses Leitbild ist der Tourismus, der sich gerade deshalb in der Rhön entwickelt hat.
Abb. 09: Landschaftsbild und Landschaftsentwicklung
Das Konzept des Begriffs Landschaft baut auf dieser Interdependenz von Landschaftsentwicklung, die durch Natur und Nutzung bestimmt ist und der Entstehung von Landschaftsbildern auf. Die Eckpunkte des Landschaftsbegriffs sind natürliche Prozesse auf der einen Seite und die Bearbeitung einschließlich der dazu benutzten Technologien auf der anderen Seite. Bearbeitung heißt dabei nicht nur die landwirtschaftliche oder forstwirtschaftliche Arbeit, sondern auch der Bau von Städten und Siedlungen, der Bau von Verkehrssystemen oder die Produktion von Energie. Zudem ist die Entwicklung der Landschaft gesellschaftlich strukturiert. Eigentumsverhältnisse bestimmen Nutzungsformen und führen so zu bestimmten Landschaften. Man denke an die Kleinteiligkeit der 76
Flur in ländlichen Gebieten, in denen die Realteilung die bestimmende Erbschaftsregelung ist. Oder man erinnere sich an die Dammbauten an der Nordsee, die als gemeinschaftliche Schutzaufgabe gedacht sind. Die Eigentumsform der Erbpacht führt auch dazu, dass eine vom Wasser bestimmte Stadtlandschaft wie in Amsterdam heute noch existiert, während sie bei rein privater Verfügung nur noch in Resten vorhanden ist (vgl. Bangkok). Neben den Eigentumsformen gibt es eine Vielzahl von gesellschaftlichen Regelungen, die sich im Baurecht, im Naturschutzrecht, in Wasserrechten etc. finden. Der Hinweis auf das Landschaftsbild soll für das Konzept Landschaft allgemeiner formuliert werden. Es sind ja nicht nur Bilder und Namen, die sich mit Landschaften verbinden, sondern Geschichte und Geschichten bis hin zu landschaftstypischen Sprachformen, Verhaltensstilen (Grußformen in Nord- und Süddeutschland zum Beispiel). Kultur ist dafür der richtige Begriff. Landschaft ist also Gegenstand der Naturwissenschaften, der Planung und Ingenieurwissenschaften, der Soziologie und Politologie und der Kulturwissenschaft.
Abb. 10: Begriffsfeld Landschaft
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Hinter der Form der Bearbeitung und Nutzung der Natur stehen komplexe gesellschaftliche Prozesse, die man in einzelne Regulationssphären gliedern kann. So ergibt sich ein Schema, das die Komponenten des Beziehungsgefüges einer Landschaft, man könnte auch von einem humanökologischen Landschaftssystem sprechen, systematisch benennt. Die drei Säulen, die als natürliches System, als Landnutzung und als soziales System bezeichnet werden, weisen jeweils interne Abhängigkeiten auf. So wirken Geologie und Klima zusammen auf den Wasserhaushalt. In dieses natürliche System greifen unterschiedliche Nutzungsformen ein. Intern stehen bei den Nutzungen verschiedene Nutzungsformen in einem mehr oder weniger ausgeprägten Widerspruch zueinander oder bedingen einander. Auch bei dem sozialen System gibt es interne Abhängigkeiten und Bedingungen. Max Webers Arbeit zu den Entstehungsbedingungen des Kapitalismus setzt diese Wirtschaftsform und eine bestimmte Ausprägung von Kultur – die protestantische Ethik – in eine kausale Beziehung zueinander. Systemische Regelungen wirken nach außen auf bestimmte Formen der Landnutzung. So führte die rechtliche Regelung von Gemeindeweiden (Almenden) zu einer extensiven Beweidung, die auf mageren Böden zu einer sehr spezifischen und vielfältigen Vegetation führt. Die Untersuchung der Landschaft eines konkreten Territoriums setzt die Analyse der internen Beziehungen in jeder der Säulen voraus und thematisiert darauf aufbauend die Abhängigkeit zwischen den natürlichen Gegebenheiten, der Nutzungsformen und der gesellschaftlichen Regulation.
Natürliches System
Abiotische Ressourcen
Landnutzung
Agrarisch/forstl. Nutzung
Soziales System
Systemische Regulation
Ökonomie
Geologie
Extensive Nutzung
Politik
Geomorphologie
Intensive Nutzung Klima
Wasserhaushalt
Freizeitnutzung Boden 78
Kulturelle Regulation
Werte/Normen
intensiv Mischnutzung
Deutungen
Biotische Ressourcen
Pflanzen
Siedlung/gewerbliche Nutzung
Lebensweltliche Regulation
Lebensstile
Tiere
gering verdichtete Räume
verdichtete Räume
Gruppenbildung
Intermediäre Organisationen
Tab. 02: Beeinflussungsebenen einer regional begrenzten Landschaft
Man kann nun einzelne Wirkungen und Wechselwirkungen als Fragen oder Hypothesen formulieren: „Wie etwa wirkt die Europäische Agrarpolitik (systemisch politische Regulation) auf die agrarische Nutzung einer Landschaft, wird die Intensivierung erhöht, verringert oder werden die Flächen in einer Landschaft anders verteilt?“, „Wie wirkt sich dies auf den Wasserhaushalt aus und welche Konsequenzen hat dies für die Ausbreitung einzelner Pflanzengesellschaften?“ oder „Wie wirken Änderungen im Wertesystem auf die Entwicklung von Lebensstilen und welche Folge hat dies für die Freizeitnutzung einer Landschaft?“, „Wirkt diese wiederum auf die Art der Land- und Forstwirtschaft mit den entsprechenden Folgen für Fauna und Flora?“ und umgekehrt „Welche Konsequenzen hat eine Veränderung des Wasserhaushalts für die Versorgung eines verdichteten Siedlungsgebiets (zum Beispiel qualitative Probleme bei der Trinkwasserversorgung durch zu hohen Nitrateintrag in das Grundwasser)?“, „Wie reagiert die Politik auf dieses Problem?“, „Wird man versuchen, Landwirten beim Umstellen auf eine ökologische Bewirtschaftung zu unterstützen?“, „Hat dies Auswirkungen auf das Landschaftsbild (Deutungen)?“. Wir werden uns im Weiteren nicht mit den vielen einzelnen Verbindungslinien beschäftigen, die spezifische Forschungsprogramme und Planungsprobleme identifizieren. Stattdessen werden wir uns beispielhaft dem Zusammenhang von gesellschaftlicher Regulation und Landschaftsentwicklung zuwenden. Wir beziehen uns mit unserem Betrachtungsschwerpunkt auf die letzte und nun ausklingende Phase des Kapitalismus, da sich hier in den letzten fünfzig Jahren einschneidende Veränderungen der Landschaftsentwicklung und des Landschaftsbildes vollzogen haben. 79
Fordistische Landschaften Im vorhergehenden Abschnitt ist deutlich geworden, dass sich die gesellschaftliche Regulierung der Landschaft auf drei miteinander verbundene, aber gleichwohl selbständig wirkende Regulierungscluster bezieht. Den ersten Bereich haben wir in Anlehnung an Habermas „Systemische Regulierung“ genannt. Dabei handelt es sich um die spezifische Form des wirtschaftlichen und politischen Handelns, die im Prinzip selbstständige Einheiten sind. Die kulturelle Regulation bezieht sich auf Werte und zeitspezifische Sichtweisen, das heißt auf Begriffe, Bilder und Leitbilder. Die lebensweltliche Regulation umfasst die in einer bestimmten Periode entfalteten und wirksamen Lebensstile, Praktiken und Kommunikationsformen. Sind diese Regulationsebenen aufeinander abgestimmt und haben einen hohen Grad von Kohärenz, so kann man von einem Regulationsregime sprechen. Dabei werden Ungleichzeitigkeiten nicht ausgeschlossen. Neben älteren Regulationsformen existieren neue, zukünftig wirksame Keimzellen. Kohärenz meint also einen relativen, fließenden Zustand, der in sich durch Spannungen, Widersprüche und Konflikte gekennzeichnet ist. Eines dieser Regulationsregimes wird Fordismus genannt. Die theoretischen Elemente des Fordismus und dessen Auswirkungen auf die Entwicklung einer ländlichen Landschaft lassen sich exemplarisch an der Geschichte und den Geschichten des Weinbauern Wilhelm H. herausarbeiten. Wer heute das kleine Dorf Ellerstadt in der pfälzischen Rheinebene besucht, findet es beinahe vollständig von Weinfeldern umgeben. Immerhin noch sieben Vollerwerbswinzer bewirtschaften den größten Teil der Fläche. Hätte man das Dorf in den fünfziger Jahren besucht, so hätte man Ackerflächen für Getreide, Wiesen für Heu und Weiden gesehen. In den Ställen und auf der Weide hätten Pferde, Kühe, Schweine und Hühner gestanden. Natürlich hätte man auch Weingärten gefunden und erfahren, dass man Wein nach Mannheim und Heidelberg verkaufe. Aber bis zu dieser Zeit hatte das Dorf eine vielseitige Landwirtschaft und entsprechend vielfältig waren die Bewirtschaftungsweisen. Die Feldflur sah ein wenig so aus, wie man sie heute noch im nördlichen Elsass findet. Hier ein Streifen Wein, dort ein Acker, einige Streifen Obst und Wiese. Wilhelm H. erzählt wie es zu der Umstellung auf den Weinbau gekommen ist. Alles begann für ihn damit, dass die Pferde zuviel Land für ihr Futter in Anspruch genommen haben. Um mit dem Lebensstandard Schritt zu halten, wollte und musste er auf Traktoren umstellen, die inzwischen zu erschwinglichen Preisen zu kaufen waren. Nun wurden für den Weinbau schmale Traktoren mit kurzem Achsenabstand gebraucht. Für den Ackerbau benötigte man breite und stärkere Schlepper. Beide Arbeitsgeräte wären nicht finanzierbar gewesen. Aufgrund der guten Marktpreise im Weingeschäft fiel seine Entscheidung damals zu Gunsten des Weinbaus aus. Diese Entscheidung 80
traf nicht nur Wilhelm H., sondern viele andere Bauern. Aus Ellerstadt wurde ein Winzerdorf, welches von nicht endenden Weinfluren umgeben ist. Anfangs kamen zur Weinlese noch alle Verwandten und Freunde. Später wurden dann auch einige Arbeiter und Arbeiterinnen eingestellt. Wilhelm H. erinnert sich, an die Hände, die in der morgendlichen Kälte klamm wurden und an das Behagen, wenn mittags der Topf mit Krummbeeren und Leberwurst auf den Wingert gebracht wurde. Mit der Zeit hatten immer weniger Leute Zeit für diesen Job. Als dann die Lesemaschinen aufkamen, stellte auch Wilhelm H. auf die Vollernte um. Dies war zwar nicht billiger, doch man hatte kein „Gefrett“ bis man alle Leute für die Lese zusammen hatte. Da die Erntemaschinen große Schläge brauchten, wurde in Ellerstadt die Flur bereinigt. Die Flurstücke wurden größer und zugleich maschinengerecht und möglichst geometrisch angelegt. Der Fordismus ist im Kern eine radikale Umstellung der Effizienzstandards und der Konsummuster. Die Traktoren waren erschwinglich, weil sie hoch arbeitsteilig am Band gefertigt und nicht mehr handwerklich zusammen gebaut wurden. Aufgrund der gestiegenen Effizienz konnten die Löhne und Gehälter steigen, so dass fast alle am Warenangeboten teilhaben konnten. Die Standards bewegen auch nicht industrielle Bereiche wie die Landwirtschaft. Effizienz heißt hier ein möglichst gezielter Einsatz der Maschinen und die Konzentration auf wenige Produkte. Die Bauern wollten beim Konsum nicht „hinterherhinken“. Um einen Wohnkomfort wie in der Stadt zu haben, um ein Motorrad oder ein Auto zu besitzen, musste die Landwirtschaft rationeller arbeiten. Der Einsatz von Kunstdüngern und Herbiziden sicherte hohe Erträge, hatte aber auch erhebliche Belastungen des Grundwassers zur Folge. Die Trinkwassergewinnung musste zentralisiert werden, da die Dorfbrunnen keine hinreichende Wasserqualität mehr boten. Dazu brauchte man effiziente Gemeinden, statt der kleinen Dörfer, in denen die Bewohner das meiste selbst machten. In den siebziger Jahren kam es deshalb zur Gebietsreform. Die Gemeinde wurde größer und bekam einen hauptamtlichen Bürgermeister und eine Verwaltung. Die Flächennutzungsplanung wurde großmaßstäblich. Am Rand einiger Dörfer wurden Siedlungsflächen ausgewiesen. Städter zogen aufs Land, denn das Auto machte das Pendeln leicht. Eine neue Stichautobahn erleichterte den Verkehr in die Stadt, die Dörfer wurden städtisch. Der Fordismus ist auch sonst eine Regulationsform, in der der Staat stark steuernd eingreift. Für die Landwirtschaft wurden Programme zur Flurbereinigung aufgelegt, Mindestpreise garantiert, Qualitätskontrollen eingeführt. Die Flächennutzung wurde stärker und flächendeckend geregelt. Ein System von Entwicklungsplänen sieht ein funktionales Flächennutzungsgefüge vor, das sich über die Ebene des Gesamtstaates, der Ländern und Regionen bis hin zu den Gemeinden abstimmt. Städtischen Ballungsräumen werden ökologische Ausgleichsregionen zugeordnet. 81
Den Flächen intensiver landwirtschaftlicher Nutzung stehen Landschafts- und Naturschutzgebiete gegenüber. In der Landschaftsgestalt spiegelt sich vielerorts die räumlich funktionale Ordnung wider.
Abb. 11: Weinanbau Pfalz
Fassen wir die wesentlichen Elemente der Landschaftsveränderungen in diesem Zeitraum zusammen: • Durch eine höhere Spezialisierung in der Landwirtschaft hat sich die Fläche mit Monokulturen wesentlich vergrößert. • Die Mechanisierung in der Landwirtschaft hat zu einer Geometrisierung der Flächenzuschnitte geführt. Zugleich ist vielerorts eine Nivellierung kleinräumiger topographischer Differenzierungen zu beobachten. • Die Durchsetzung des Autos hat zu einer extensiven Besiedlung geführt. Dabei sind Siedlungsformen entstanden, die weder städtisch noch dörflich sind. • Durch eine dichtere Verkehrserschließung hat sich die Größe der Fläche verringert, die nicht von Straßen und Wegen durchzogenen wird. Man kann dies als eine Verinselung der Landschaft bezeichnen. Insbesondere für die Migration von wildlebenden Kleintieren bedeutet dies eine erhebliche Einschränkung bedeutet. Diese bestimmenden Faktoren und deren Entwicklung haben tendenziell zu einer ausgeprägten Funktionalisierung der Landschaft beigetragen. Dadurch wirkt die Landschaft weniger kleinteilig und differenziert. Es lässt sich festhalten: In den letzten fünfzig Jahren hat sich die ländliche Landschaft in ihrem ökologischen Wirkungsgefüge und in ihrem Erscheinungsbild erheblich verändert.
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Landschaft im Kopf Die Ästhetik bringt die Wahrnehmung auf den Begriff und ordnet ihm Bewertungen zu. Sie ist damit eine wesentliche Voraussetzung für die Kommunikation über Landschaft, welche lokal oder allgemein geführt werden kann. Es gibt Landschaften wie etwa die Regenwälder des Amazonas, die eine globale Ästhetik erzeugt haben und die somit in eine globale Kommunikation eintreten konnten. Drittens gibt es einen emotionalen Dimensionsbereich, der als Ortsbezogenheit oder räumliche Identität in Erscheinung treten kann. Das folgende Schema gibt diese Dimensionen wieder und setzt diese in Bezug zur Kommunizierbarkeit von Landschaft.
Abb. 12: Landschaft in der privaten und öffentlichen Kommunikation
Bei der weiteren Diskussion der Dimensionen des Landschaftsbewusstseins müssen diese eher sozialwissenschaftlichen Dimensionsbereiche auf konkrete Gegenstandsfelder der Landschaft bezogen werden. So kann sich das Wissen über eine Landschaft auf die naturräumlichen Gegebenheiten, auf die Nutzung einer Landschaft, auf die Geschichte der Kulturlandschaft oder auf kulturelle Bedeutungen beziehen. Systematisiert man diesen Zusammenhang, so ergibt sich daraus eine Tabelle, die das theoretische Feld des Landschaftsbewusstseins bestimmt.
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Naturraum
Nutzung
Soziale Strukturierung
Kulturelle Bedeutung
Kognitive Beziehung
Ästhetische Beziehung
Emotionale Beziehung
Biologie, Ökologie, Naturschutz etc. Landschaftsgeschichte,
Naturästhetik, Naturbeobachtung
Naturliebe
Wahrnehmung des Kulturraumes
Nutzungsbindungen,
Besondere Orte, Persönlichkeiten
Soziale Netzwerke, Räumliche Milieus
Symbolische Bedeutung besonderer Orte
Dialekt, Heimat, Identität
Standortwissen etc. Eigentumsverhältnisse, Rechtliche Regelungen etc. Märchen, Literatur, Malerei
Standortbedeutung
Tab. 03: Das theoretische Feld des Landschaftsbewusstseins
Das Landschaftsbewusstsein und die materielle Landschaft stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Zum einen bezieht sich das Landschaftsbewusstsein immer auf eine Materialität der Umwelt, von der das Bewusstsein zugleich abstrahiert. Zum anderen führt erst die Reduktion von Komplexität aus der „unendlichen“ Vielgestalt der materiellen Welt zu einem Bild. Diese Bilder wirken wiederum auf die Gestaltung der Landschaft zurück, indem sie direkt die Nutzung oder indirekt die politische Regulation der Nutzung steuern. Es wurde betont, dass der materielle Raum der Landschaft und das Landschaftsbewusstsein korrespondieren und sich nicht entsprechen. Häufig verändert sich die Landschaft, aber das Bild bleibt im Bewusstsein gleich. Der Bergwanderer sucht für sein Fotomotiv Ausschnitte, die Forstwege, Hochspannungsleitungen, Liftanlagen, Bachverbauungen etc. auslassend, um sich sein Bild der Bergwelt zu bestätigen. Es kann aber auch sein, dass er sich das Bild von Wirklichkeit aus einer kritischen Haltung und der Diskrepanz von Bild und Wirklichkeit entwi84
ckelt. Ein wesentlicher Grund für die Spannung zwischen Bild und Wirklichkeit ist der langsame und an bestimmten Innovationen gebundene Aufbau eines Landschaftsbewusstseins. Solch eine Innovation war beispielsweise die Entwicklung der Eisenbahn. Zumindest für das 20. Jahrhundert kann man für Europa sagen, dass die Ungleichzeitigkeit von Landschaftsentwicklung und Landschaftsbewusstsein kennzeichnend ist. Aus dieser Ungleichzeitigkeit heraus haben sich wichtige, die Landschaft prägende Programme wie der Naturschutz und der Landschaftsschutz entwickelt.
Abb. 13: Dörnberg
Die soziale Strukturierung des Landschaftsbewusstseins Da es über das Landschaftsbewusstsein nur wenige Arbeiten gibt, die um empirische Überprüfung bemüht sind, schleichen sich spekulative Hypothesen und Dogmen über die Genese von Landschaftswahrnehmung und Landschaftsbewertung ein. So behauptet die „Savannenhypothese“, die Lebensumwelt der frühgeschichtlichen Menschheit in Afrika – eben die Savanne – sei prägend für den Maßstab einer gelungenen Landschaft in der europäischen Kultur. Diese Hypothese unterstellt eine genetische Strukturierung des Schemas, in dem sich Landschaftsbewusstsein bildet (Kaplan 1987). Als Hinweis für eine genetische Strukturierung von Landschaftsschemata gilt die weit verbreitete Präferenz für Landschaften, in denen eine Balance von Sichtschutz und Offenheit zu finden ist. 85
Auf der kulturellen Seite gehört es zur Dogmengeschichte, die Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca als den Beginn eines neuzeitlichen Landschaftsbewusstseins zu datieren, da die Besteigung in dem Brief von Petrarca als bewusste und nur dem Selbstzweck gewidmete dargestellt worden ist. Nur der distanzierte Blick, der in der Renaissance aufgekommen sei und sich mit den Umwälzungen durch die französische Revolution verbreiten konnte, habe die Umwelt als Landschaft erfahrbar gemacht. Plausibel mag erscheinen, dass zur Wahrnehmung von Landschaft eine Distanz zu dem Gegenstand notwendig ist. Wenn die Besteigung des Mont Ventoux als Scheidepunkt zwischen Mittelalter und Neuzeit in Bezug auf die Ausprägung eines Landschaftsbewusstseins begriffen wird, so gilt es sich klar zu machen, dass es für die Antike eine Reihe von Hinweisen für ein ausgeprägtes Bewusstsein von Landschaft gibt. So kann man auf Plinius verweisen, der zwar den Begriff „regio“ also Gegend benutzt, sich aber vom Inhalt her klar auf Landschaftselemente in dem heutigen Sinn bezieht. Er schreibt: „Diese Landschaft vom Gebirge herab zu sehen, würde Dir großen Genuss bereiten. Du würdest keine wirkliche, sondern eine ideale, schön gemalte Gegend zu sehen glauben, so sehr wird das Auge, wohin es sich wendet, durch Abwechslung und Gestalt erquickt.“ (Gamper u.a. 1997: S. 13).
Wandmalereien wie etwa die Darstellung von Szenen aus der Odyssee in einem Wohnhaus vom Esqilin in Rom zeigen, wie dominant Landschaft ins Bild rückt (Sonnabend 1999: S. 301). Wenn man von einer Entdeckung der Landschaft in der Renaissance spricht, so kann nur eine Wiederentdeckung gemeint sein, nachdem die christlich religiöse Prägung der Malerei des Mittelalters die profane Landschaft nur als Hintergrund und Umrahmung religiöser Inhalte zugelassen hat. Vielleicht wäre es aber auch interessant, als Indikator für Landschaftsbewusstsein nicht nur Hinweise in der Literatur oder der Malerei zu wählen, sondern die Standorte von Burgen, Klöstern und Kirchen und die Anlage von Dörfern und Städten auf ihren Landschaftsbezug hin zu untersuchen, um auf diesem Weg Hinweise für das Verhältnis zur Landschaft im Mittelalter zu erhalten. Uns geht es aber nicht wesentlich um die Frage, seit wann es ein Landschaftsbewusstsein gibt, sondern wie sich die Sicht auf die Umwelt so ändert, dass man von einer neuartigen Strukturierung des Landschaftsbewusstseins sprechen kann. Hinter dieser Frage steht die Vorstellung, dass sich Landschaftsbewusstsein auf unterschiedlichen Ebenen oder Schichten strukturiert. Die genetische Strukturierung wäre, wenn man dies in Bezug auf die Bewertung von Landschaften plausibel findet, eine basale Ebene, die, ähnlich den Charaktertypologien in der Psychologie, Eckpunkte des Landschaftsbewusstseins prägt. 86
Umfassende kulturelle Prägungen, durch die sowohl unterschiedliche Epochen als auch unterschiedliche Kulturräume als Bestimmungsfaktoren benannt werden, stellen die zweite Ebene dar. Kultur meint dabei das Insgesamt an Deutungen und Bedeutungen, mit dem einzelne Personen und Gruppen eine Beziehung zu ihrer Umwelt herstellen. So spielt der Wald in manchen Gesellschaften (bzw. geographischen und sozialen Räumen) eine zentrale Rolle, um die herum sich die Wahrnehmung und Bewertung von Landschaft im allgemeinen Sinn gruppiert. Die dritte Ebene bilden kleinräumige, regional bestimmte Landschaftstypen, die das Bewusstsein bestimmen. Unterschiede nach Geschlecht, Klassen, Schichten, Milieus und Lebensstilgruppen konstituieren die vierte Ebene. Am Ende oder Anfang stehen die Bewusstseinsinhalte, die sich durch biographische Erfahrungen mit den Gegenden bilden, in denen man aufgewachsen ist oder gelebt hat, die man durch Reisen oder medial erfahren konnte. Die Ebenen bilden eine Spannung zwischen universellen und partikularen Elementen des Landschaftsbewusstseins. Es ist wahrscheinlich, dass sich die Effekte der unterschiedlichen Ebenen durchdringen und zu einer mehr oder weniger kohärenten oder zu einem in sich widersprüchlichen Muster des Bewusstseins führen.
Abb. 14: Schemata des Landschaftsbewusstseins
Mit der „Savannen-Hypothese“ wurde eine genetische Hypothese bereits angesprochen. Sie hat einen universellen Gültigkeitsanspruch. Eventuell ließe sie sich aber auch als eine besondere Ausprägung der Komplexitätshypothese innerhalb der Wahrnehmungstheorie verstehen. Der Wechsel von Offen- und Geschlossenheit ist eine Form, bei deren Wahrnehmung der sich bewegende Mensch ständig zwischen Komplexitätsreduktion und Komplexitätssteigerung wechseln muss, damit wählen kann. Allerdings gilt es danach zu suchen, welche anderen landschaftlichen Gestaltformen Ähnliches ermöglichen. Wie sieht 87
Komplexitätsreduktion und Induktion in einer Waldlandschaft aus? Besteht der als angenehm empfundene Wald aus einem häufigen Wechsel von „Dichtung und Lichtung“? Die Besteigung des Mont Ventoux formuliert eine universelle, kulturell bestimmte These zur Strukturierung des Landschaftsbewusstseins. Ein Bewusstsein der Landschaft bilde sich nur dann heraus, wenn eine Kultur den distanzierten Blick auf die Umwelt zulasse. Der distanzierte Blick baut auf einer doppelten Ausdifferenzierung von Gesellschaften auf. Die eine beschreibt die Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land. Während die Landbevölkerung, indem sie Lebensmittel und Grundstoffe produziert, eng mit der natürlichen und gestalteten Umwelt verbunden ist, kann sich zumindest ein Teil der städtischen Bevölkerung, die von Handel, Handwerk, Verwaltung und der Produktion von Kultur leben, von der natürlichen und gestalteten Umwelt distanzieren. Die zweite Ausdifferenzierung bezieht sich auf die Individualisierung. Das Verständnis einer Person als „einzeln“ und nicht lediglich als „Teil“ einer Gruppe, lässt mit der Zeit den individuellen Blick entstehen. Die Herausbildung der Perspektive setzt die Individualisierung voraus und prägt zugleich die Sichtweise der Landschaft. Auf die Landschaftsmalerei bezogen verbinden sich ganz praktisch die Distanzierung des Blicks und die Individualisierung der Sichtweise: „Eine funktionierende Zentralperspektive setzt einen angemessenen und unverrückbaren Abstand zwischen Betrachter und Bildfläche, je nach Größe des Bildes, voraus“ (Koschorke 1990: S. 68). Auch bei dieser Hypothese über die Herausbildung eines bestimmten Schemas des Landschaftsbewusstseins, kann man von dem möglichen sozialen Kontext seiner Entstehungsgeschichte abstrahieren. Die herkömmliche These lautet. Landschaft wird nur aus der Distanz des Städters als solche erfahren. Wichtig dabei ist nicht der Unterschied zwischen Stadt und Land, sondern die Distanz. Bauern können die Distanz gewinnen, indem sie einen Blick jenseits des Nutzens entwickeln. Der Bauerngarten, in dem sich nutzlos Schönes mit dem Nutzbaren – Salaten und Kräutern – verbindet, wäre ein Hinweis auf ein traditionell bäuerliches Landschaftsbewusstsein. Eine qualitative Untersuchung des Landschaftsbewusstseins bei Landwirten ergab, dass bei dieser Gruppe zwar häufiger eine Ästhetik des Nützlichen zu finden ist, das heißt, das gut bestellte Feld ist dem Bauern zugleich eine schöne Landschaft. Andere Berufsgruppen bewerten die Landschaft vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Freizeit. Eventuell kann man beide Wahrnehmungsweisen als eine jeweils andere Formulierung einer Ästhetik des Nutzens bezeichnen. Auch bei Landwirten ließ sich in dieser Untersuchung eine kontemplative Beziehung zu Landschaft beobachten (Schmidt 2005). Das entspricht einer Ästhetik, die auf Distanz beruht. 88
Eng verbunden mit der Perspektive und den entsprechenden soziokulturellen Bedingungen ist die Entgrenzung der Welt durch die bewusste Erfahrung des Horizonts. Der Horizont ist doppelt bestimmt: „Er ist sowohl Limesfigur alles Sichtbaren – mit Affinität zum absoluten Weltrand der Kosmogramme – als auch Grenzkreis eines ausgewählten Bruchteils des Sichtbaren, mit der Konsequenz, dass jedes auf die Entität des perspektivischen Blickfeldes abgestellte Bild gleichsam von einem Schweigerand der unbegrenzten Vielzahl möglicher Bilder umrahmt ist …“ (Koschorke 1990: S. 50).
Der Horizont ist so zugleich Begrenzung und Entgrenzung im Bewusstsein von Landschaft. Sie liegt als Ausschnitt hier vor und ist als potentielle Erfahrung jenseits des Horizonts existent. Verbunden ist die Herausbildung dieses Schemas mit den Reisen besonders ausgeprägt im Italien der Renaissance. Kolumbus ist der Bekannteste dieser Reisenden, die als erste ausdifferenzierte Bilder von Städten und Landschaften schafften. Das Forschen und Wissen um den Raum verbindet sich mit der ästhetischen Erfahrung von Landschaft. „Die Italiener sind die frühesten unter den Modernen, welche die Gestalt der Landschaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenommen und genossen haben.“ (Burckhardt 1981: S. 324). Die Herausbildung des Horizonts als Schema des Landschaftsbewusstseins ist eng mit der Bewegung verbunden. Bewegung und Bewegungstechnik sind Antrieb für das letzte kulturelle Schema, das hier angesprochen werden soll. Mit der Erfindung der Eisenbahn wird diese Bewegung revolutioniert. Während die Bewegung zu Fuß, auf dem Pferd oder in der Kutsche den Nahblick verlangte und förderte, muss der Blick aus dem Eisenbahnfenster in die Ferne schweifen, um einen Ruhepunkt zu finden. Zu schnell sind die Wechsel der Gegenstände in unmittelbarer Nähe der Schienen. Daraus entwickelt sich der panoramatische Blick, mit dem man den Überblick sucht (Schievelbusch 1977). Während die Panoramen, die diese Sehweise aufnahmen und sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten, weitgehend verschwunden sind, blieben die vielen Aussichtsberge und Türme erhalten und sind nach wie vor eine Attraktion für Touristen und Einheimische. Das Schema des Überblicks wird durch die weitere Beschleunigung der Verkehrsmittel, vor allem aber durch die breite Benutzung des Flugzeugs und die Bereitstellung von Satellitenaufnahmen ständig verstärkt. Regionale Erfahrungen und die entsprechenden Schemata des Landschaftsbewusstseins sind wohl diejenigen, die am häufigsten in der alltäglichen Kommunikation über Landschaft präsent sind. Eine qualitative Untersuchung, die wir durchgeführt haben, hat dies bestätigt. Für viele Norddeutsche ist der 89
unbegrenzte Blick, der sich in der Tiefebene bietet, prägend, während sich Bewohner der Mittelgebirgslandschaften „verloren“ vorkommen oder die norddeutsche Tiefebene als exotische Abwechslung genießen. Die regionalen Schemata können auch sehr kleinräumig sein und die Bewohner eines Wiesentals von denen einer Rodungslandschaft unterscheiden. In den Alpen begegnet einem häufig der Unterschied zwischen den Berg- und den Talbewohnern. Im wörtlichen und übertragenen Sinne blicken die Bergler auf die Täler herab. Dies führt dann zu Präferenzen für ganz bestimmte Orte, die für den Landschaftsausschnitt stehen, indem man lebt (Ipsen et al 2003). Eine Untersuchung der Beziehung, die die Menschen zum Wald haben, macht die Wirkung einer soziostrukturellen Beeinflussung des Landschaftsbewusstseins deutlich. Dabei werden Milieus differenziert, die sich nach gesellschaftlicher Position, Bildung und Lebensstil unterscheiden. Die Menschen der verschiedenen Milieus haben nun in Bezug auf den Wald ganz unterschiedliche Einstellungen, Erfahrungen und Bewertungen. So hat für gehobene Bildungsund Positionsgruppen der Wald eine vornehmlich emotionale Bedeutung, während für die mittlere Bildungsgruppe die Bedeutung des Waldes in der „frischen Luft“ liegt, die man dort findet. Auch bei der Frage von Ordnung oder Chaos in den Wäldern gibt es deutliche Unterschiede. Die unteren und die mittlere Bildungsgruppen begrüßen Zeichen zivilisatorischer Ordnung, die Eliten präferieren Zeichen der Wildnis (Braun 2000). Bei der Rolle, die die Biographie für die Herausbildung der Schemata spielt, bündeln sich die Wirkungen der vorliegenden Faktoren, werden aber zugleich durch das Besondere einer Beziehung ergänzt. Landschaft ist sehr stark sozial vermittelt, seien dies gemeinsame Erlebnisse oder existierende Netzwerke. In einigen Interviews, die wir geführt haben, geht der Begriff Landschaft in den der Heimat über. Sprachklang, soziale Beziehungen und ein vertrautes Umfeld verbinden sich mit der Landschaft, die gesucht oder gerade gemieden wird.
The Making of Landscape Die erste mir bekannte Landschaftsgeschichte hat den Titel „The Making of the English Landscape“ (Hoskins 1955). In diesem Titel kommt zum Ausdruck, was sich in der deutschen Sprache kaum ausdrücken lässt: Dass Landschaft geschaffen wurde und geschaffen wird. Es ist kein Zufall, dass die „gemachte“ Landschaft im Deutschen keinen Begriff hat, da in Deutschland Landschaft, auch die Kulturlandschaft eher als „natürlich“ gilt, so als habe sie sich von selbst einge90
stellt und dürfe nun auch nicht verändert werden. Dass man nicht nur Parkanlagen, sondern ganze Landschaften entwerfen kann, ist im Bewusstsein der Niederländer stärker präsent. Der Zwang sich vor dem Meer zu schützen und gleichzeitig dem Meer Land abzuringen, hat einen Blick auf Landschaft entstehen lassen, der Landschaften als Möglichkeitsräume beschreibt. Es werden ehemalige Entwässerungsgebiete neu geflutet und zu einer Seenlandschaft mit Wohn- und Freizeitnutzung umgebaut, weil die landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr rentabel ist (Baart u.a. 2000). Dies ist umso erstaunlicher, weil es mit den Landschaften um Dessau und Wörlitz oder auch dem Pücklerschen Gartenreich historische Beispiele für den großräumigen Bau von Landschaften gibt. Das Landschaftsbewusstsein beeinflusst das Verhalten gegenüber und in der Landschaft. Landschaft, die als Kulturlandschaft gestaltet ist und als natürlich und damit als gegeben verstanden wird, entspricht weder den faktischen Verhältnissen, noch öffnet dieses Bewusstsein den Blick für die Aufgabe einer aktiven, zukünftigen Landschaftsentwicklung. Mit der Internationalen Bauausstellung Emscher Park im Ruhrgebiet und der IBA Fürst-Pückler-Land in Brandenburg bahnt sich allerdings auch in Deutschland eine Änderung der Sichtweise an. Es sind die alten Industrielandschaften, die zum Umdenken zwingen, da man sie nicht „wegschaffen“ und auch nicht renaturieren kann. Die Halden werden zu Aussichtsbergen und entlang von Abwasserkanälen entstehen Parklandschaften. Die Abbaugebiete der Braunkohle werden zu Seen oder Wüsten und damit für den Tourismus interessant. Die Veränderung von Landschaften geschieht im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklungen. Manchmal setzten sich neue Wirtschaftsweisen, Kommunikationsformen und Lebensstile unbewusst in Landschaftsbildern um. Der Bau von Autobahnen hat ganze Landschaften in Fließräume verwandelt, der Blick auf sie gleicht filmischen Bildfolgen. Manchmal wird Landschaft wie gerade geschildert planvoll umgestaltet. Für beide Formen der Landschaftsveränderung stellen wir das Konzept der Raumbilder zur Diskussion. Raumbilder der Landschaft betten Ziele und Leitbilder in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen ein.
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Raumbilder „The making of landscape“ kann bewusst oder unbewusst geschehen. Unbewusst geschieht es immer dann, wenn viele Akteure ihre Interessen verfolgen und sich zum Schluss ein Gesamtbild ergibt, das niemand so angestrebt hat. Das Ruhrgebiet ist nicht bewusst gemacht worden, sondern „hat sich entwickelt“. Dennoch gibt es eine Reihe von Merkmalen, die es im Laufe von ca. hundert Jahren als Landschaft eindeutig identifizierbar werden ließen: Halden und Fördertürme, Arbeitersiedlungen, Kleingärten, kleine Landwirtschaften mit weidenden Kühen in unmittelbarer Nähe zu Hochöfen und Walzwerken. Kanäle und Autobahnen durchschneiden und gliedern dieses patchwork von Nutzungen. Mit einem Mal wird eine Landschaft stellvertretend für eine bestimmte Epoche. Das Ruhrgebiet steht beispielsweise für die Zeit der Schwerindustrie. Das Bild haftet nun an der Landschaft und lässt so leicht nicht mehr los. In der Vergangenheit sind nur wenige größere Landschaften bewusst gemacht worden: Dazu gehören die Deich- und Polderlandschaften an der Nordsee, die Anlage von Teichlandschaften zur Fischzucht, welche sich häufig in der Nähe von Klöstern befinden oder als komplexe Landschaftsideen geplant sind. Die politische Verfassung kleiner absolutistischer Fürstentümer machte es möglich, dass ein Mann eine Vorstellung von einem Gesamtraum entwickeln und durchsetzen konnte. Im Wörlitzer Gartenreich wurden moderne landwirtschaftliche Anbaumethoden, die Gestaltung der Schönheit einer Landschaft und die weltoffene Toleranz zu einem Konzept für eine Landschaft. In Mitteleuropa gibt es kaum noch Reserven gering gestalteter Landschaften. Aus diesem Grund halten wir es für wahrscheinlich, dass das bewusste Landschaftsdesign in Zukunft an Bedeutung gewinnt. Um bei bewussten oder unbewussten Entwicklungen einer Landschaft eingreifen zu können, muss man sie verstehen. Ideen oder gar Leitbilder bewusster Renovierung oder innovativer Entwicklung setzen an dem Bedeutungsgehalt einer Landschaft an. Dazu soll die Theorie der Raumbilder einen Beitrag leisten. Die Theorie der Raumbilder versucht die Gestalt des Raumes als symbolischen Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungskonzepte zu interpretieren (siehe auch das Kapitel Raumzeichen und Raumsymbole). Die Theorie bezieht sich zunächst nicht auf Landschaften, sondern ist allgemein gefasst. Ein bestimmtes Gebäude in einer Stadt, wie der Eiffelturm oder ein städtebauliches Ensemble wie die Heidelberger Altstadt stehen für spezifische Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung. So zeigt der Eiffelturm, der anlässlich der Weltausstellung in Paris gebaut wurde, nicht eine beliebige Eisenkonstruktion, sondern symbolisiert die moderne Stadt. 92
Die Altstadt von Heidelberg steht für das romantische Deutschland, eine vergangene aber noch nachwirkende Epoche. Nicht jedes Gebäude, nicht jede städtebauliche Kulisse stehen für eine bestimmte Vorstellung von Entwicklung in einer Gesellschaft. Die meisten Gebäude bedeuten nur für die unmittelbar Beteiligten oder die Nachbarn etwas. Das Elternhaus ist vielleicht für Kinder ein Bild der Heimat, aber alle anderen sehen darin nicht mehr als eines der vielen, gleichen Häuser. Raumbilder dagegen können immer von vielen Menschen „entziffert“ werden. Die Einstellung der Menschen zu einem Raumbild muss dabei nicht identisch sein und kann sich im Laufe der Zeit auch ändern. Das Atomium in Brüssel kann durchaus als Symbol einer nuklearen Zukunftsvorstellung abgelehnt werden, aber es wird von Anhängern und Gegnern der Nukleartechnologie gleichermaßen verstanden. Aber sind Landschaften überhaupt als Raumbild zu verstehen? Im Fall des Ruhrgebiets scheint der Bezug noch unmittelbar, aber wofür steht die Heidelandschaft um Lüneburg, der Harz oder der Schwarzwald? Stehen Landschaften immer für „Vergangenes“ – die Heide für Romantik, der Harz für germanische Mythologie, der Schwarzwald für die Sehnsucht nach Heimat? Ganz offensichtlich gibt es Bilder von Räumen, die sich auf Lebenskonzepte beziehen, deren Reiz in der Entrückung von der Gegenwart besteht. Da Entwicklung, Dynamik, Zukunft geographisch in Städten verankert wurde, diente ein Teil von ländlichen Landschaften der therapeutischen Kompensation. Hier kann man der Künstlichkeit, der Dichte, dem Dickicht der Stadt entfliehen. Zugleich können sie auch als Projektionen konservativer oder reaktionärer Gegenkonzepte zur städtischen Moderne dienen. Die faktische Auflösung des Dualismus von Stadt und Land, von Modernität und Tradition bringt auch die Vorstellungen über Landschaft in Bewegung und sprengt die Verkrustung eingefahrener Deutungen. Drei Bilder dienen als Zugang für die Interpretation von Landschaftsentwicklung und deren Bezug zu neuen, noch offenen Raumbildern. Das erste Bild zeigt eine Satellitenfunkanlage neben einer kleinen bayrischen Kapelle. Umgeben sind beide von der Moränenlandschaft des Ammersees in Oberbayern, im Hintergrund sieht man den Beginn der Alpen. Obgleich in diesem Bild nur die weiße, futuristisch wirkende Kuppel der Funkanlage neu ist, liegt eine viel weitergehende Interpretation nahe. Der Weg der bayrischen Landesregierung in die postindustrielle Moderne hat stets die Harmonie von Tradition und Moderne betont. Das Neue ist eingebettet in die vertraute Ordnung des Alten. Zudem ist der Fortschritt nicht mehr mit den Belastungen der Natur verbunden, wie man dies aus der industriellen Epoche kennt. Die neue Industrie liegt in einer Landschaft, die „herkömmliche“ Landwirtschaft, Sport und Erholung konnotiert. 93
Schließlich verbinden sich in dem Nebeneinander von Kapelle und Funkanlage Heimat und Globalität als simultane Welten. Einerseits wird damit der Echtzeitkommunikation entsprochen, andererseits wird sich der Widerspruch zwischen dem vertrauten „Hier“ und dem fremden „Dort“ auflösen. Das zweite Bild ist eine Montage auf der Grundlage des bekannten Bildes von Caspar David Friedrich. Die metaphysische Angst, die das Original darstellt und auslöst „Er stellt den Betrachter an den Rand eines Abgrunds, den jeder in sich trägt“ (Corbin 1990: S. 217), wandelt sich zu ironischer Distanz. Die neue Landschaft verbirgt sich unter einem Meer von Wolken, aus dem lediglich der Gasometer von Oberhausen und ein Berg – oder ist es eine neu designte Halde? – auftaucht. Die Montage versucht die tief greifende Aussage des Malers mit dem Entwurf einer neuen Landschaft zu verbinden. Auch hier werden mit leichter Hand fest gefügte Wahrnehmungsweisen und Bewertungsschemata geöffnet. Ein neues Raumbild ist noch nicht zu erkennen aber die Suche danach unübersehbar.
Abb. 15: Postkarte - Caspar David Friedrich in Oberhausen
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Das dritte Bild verweist auf eine neue Landschaft, an die man sich mittlerweile bereits gewöhnt hat. Eine Reihe von Windrädern in ländlichem Ambiente spiegeln einen kommenden Wechsel wider. Die Benutzung fossiler Brennstoffe hat zu starker Konzentration der Energieproduktion und einer weit umfassenden Logistik der Verteilungsnetze geführt. Die Kohleförderung hat sowohl im Tagebau als auch im Bergbau Landschaften tiefgehend verändert. Dies zeigt sich nicht nur in unübersehbaren riesigen Löchern in der Landschaft, sondern vor allem in der Veränderung des gesamten Wasserhaushaltes. In der Lausitz wurden aus Feuchtgebieten trockene „Steppen“. Das aus den Abbaugebieten abgepumpte Wasser versorgt zugleich das Biosphärenreservat Spreewald und die Wasserlandschaft von Berlin mit Wassermengen. Das Windrad steht für eine dezentrale Versorgungsstruktur und die Hinwendung zu regenerativen Ressourcen. Die Windräder stehen für kleine Eingriffe, beinahe eine Rückbettung moderner Technik in ländliche Landschaften. Sind sie als erste Zeichen einer neuen Beziehung zur Natur zu deuten, die nicht mehr auf der Ausbeutung fossiler Energiequellen beruht oder wendet sich auch hier das Raumbild? Immer größere Anlagen und eine weite und nur an der Windausnutzung orientierte Standortfindung haben zu einer lebhaften landschaftsästhetischen Debatte geführt, bei der große Energiekonzerne und Bürgerinitiativen eine Rolle spielen.
Abb. 16: Windräder auf der Kanarischen Insel La Palma
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Alle drei Bilder weisen darauf hin, dass Landschaft als Raum in den Kontext moderner Entwicklung zurückkehrt. Bis vor wenigen Jahren gab es nur einen Typus moderner Landschaft: agroindustrielle Räume. Nunmehr vervielfältigen sich die Möglichkeiten. Alte Industrielandschaften wandeln sich in extensiv genutzte Zonen oder werden in Wert gesetzt. Rural urbane Räume entstehen: gesteuerte Wildnis, extensive, nachhaltige Landnutzung, neu geschaffene Ferienwelten, avantgardistisch genutzte Stadtrand-Landschaften. Diese Βeispiele sind nur einige Varianten der modernen Entwicklungen. Die Veränderung von Landschaften durch nachwachsende Rohstoffe für die Energieproduktion wird über die gelben Rapsfelder hinaus zukünftige Diskussionen über die Ästhetik der Landschaft beeinflussen. Die Pluralisierung moderner Landschaften eröffnet ein Experimentierfeld für die Entwicklung neuer Raumbilder. Und dieses Experimentierfeld ist nicht nur gedanklich, sondern real eröffnet. In Deutschland hat die internationale Bauausstellung Emscherpark mit der Gestaltung von „landmarks“ und Parkanlagen, Fahrradwegen und der Neugestaltung der Emscher als Abwassersystem und Bachlauf einen Beginn zur Neuinterpretation von Industrielandschaften gemacht. In seiner Systematik und Großräumigkeit ist dieses Experiment bislang einmalig.
Abb. 17: Skulptur im Emscherpark
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Eine Neufassung der Landschaft verfolgt auch das Projekt Regionalpark RheinMain. Thematische Wege sollen die Reste von Landschaft für die Wahrnehmungs- und Nutzungsstrukturen der Bewohner neu gewinnen. Gestaltete Blickbeziehungen sollen die Komplexität des Raumes verdeutlichen.
Abb. 18: Regionalpark Rhein-Main
Im Jahr 2000 hat die neue Internationale Bauausstellung Fürst-Pückler-Land begonnen. Da große Teile des Tagebaus in der Lausitz aufgegeben werden, ist hier die größte Landschaftsbaustelle Deutschlands entstanden. Um es nicht bei einer rein bergbaulichen Sicherung der Folgelandschaften zu belassen, hat sich diese Bauausstellung zum Ziel gesetzt, eine Neubewertung der Landschaft dieser Region zu diskutieren und durch konkretes Landschaftsdesign umzusetzen. Alle hier erwähnten größeren Landschaftsprojekte beschäftigen sich mit den zu Beginn des Kapitels angeführten Fragen, wenn auch die ästhetische Aufwertung der Landschaften im Vordergrund steht. Landschaftsdesign als Standortsicherung ist eben unmittelbar mit staatlichen Planungs- und privaten Verwertungsinteressen verbunden. Der Bezug zu Konzepten nachhaltiger Entwicklung ist gleichwohl vorhanden und zum Teil auch mit den Aufwertungsinteressen leicht zu verbinden. Die Gewinnung der Emscher als Bachlandschaft ist nur durch die Versickerung von Regenwasser zu bewerkstelligen und trägt so zu einer Stabilisierung des Wasserhaushaltes bei. Die Aufwertung der Landschaft 97
im Regionalpark Rhein-Main trägt dazu bei, eine weitere Versiegelung von Flächen einzudämmen. Das Design einer neuen Kulturlandschaft in der Lausitz wird sich nicht nur mit einem neuen Wasserregime auseinandersetzen (höhere Verdunstung durch die Entstehung einer Seenplatte, langfristig ansteigende Grundwasserspiegel), sondern auch mit neuen, diesem Regime angepassten Formen der Landnutzung. Die Fragen der Nachhaltigkeit, der ästhetischen Wertigkeit einer Landschaft und der Standortaufwertung sind lange nicht beantwortet, aber die bewusste Gestaltung von Landschaften eröffnet die Chance, an der Landschaft zu lernen. Die Soziologie der Landschaft steht dabei erst am Beginn ihrer Arbeit, die sozialstrukturierten Wahrnehmungsweisen, Nutzungsformen und Interessenkonstellationen erkennbar zu machen und in den Prozess des Landschaftsdesigns einzubringen.
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5 Die Kultur der Orte
Ein Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raumes Moderne Städte befinden sich immer in einem Gegensatz: Auf der einen Seite müssen sie sich zunehmend ausdifferenzieren, das heißt, die kulturelle Differenzierung und Spezialisierung in den Städten nimmt zu. Immer mehr Gruppen unterschiedlichster Kulturen immigrieren und versuchen ihre Lebensweise im städtischen Raum zu verankern. Immer wieder entstehen neue Subkulturen, Lebensstile und Handlungsmuster. Auf der anderen Seite ist kein sozialräumliches System derart auf Integration angewiesen wie die Stadt: Jeder Stadtbewohner lebt in einem feinen Netzwerk arbeitsteiliger Beziehungen und wäre für sich allein genommen kaum überlebensfähig. Hinter jeder noch so banalen Handlung wie beispielsweise den morgendlichen Hygienehandlungen im Bad stehen ausgeklügelte technisch-organisatorische Systeme. Jedes noch so bescheidene Frühstück hat Landwirte, Mühlbetriebe, Bäcker, Molkereien, Zuckerfabriken, Metzger, Händler und Spediteure regional und weltweit in Bewegung gesetzt. Die Stadt lebt von und in dem Gegensatz gleichzeitiger Differenzierung und Integration. Wie prekär sich die Auswirkung gestalten kann, sehen wir an dem Spannungsfeld zwischen Liberalität und autoritärem „Law and Order“, an den fließenden Grenzen zwischen Toleranz und Anomie, an den durch den Stadtraum wandernden Zonen von Angst und den Bereichen öffentlicher Festivitäten. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen zur Diskussion stellen, die sich auf den Charakter von städtischen Orten als Ausdruck und Bedingung des Paradoxes von Differenzierung und Integration beziehen. Die grundlegende Überlegung ist, dass Orte nicht nur Ausdruck des urbanen Paradoxes sind. Vielmehr bewirken die Orte selbst eine räumlich-funktionale sowie ästhetische Verdichtung der gegenläufigen Differenzierungs- und Integrationsprozesse in der modernen Stadt. Eine solche Hervorhebung der Kategorie des Ortes wendet sich nicht gegen die Thematisierung von Quartieren und ihrer Transformation, welche für das soziologische Verständnis urbaner Prozesse sehr bedeutsam ist. Allerdings sind Orte nicht nur Ausdruck der Eigenart von Quartieren, sondern 99
selbst Triebkraft der inneren Differenzierung des Quartiers. Zugleich entfalten Orte ein ganz eigenes Netz von Bedeutungen im städtischen Raum, das sich in gewisser Weise von der Logik der inneren Gliederung des städtischen Raumes in Quartiere und Funktionsräume abhebt. Damit werden Orte und ihre Gestaltung eine Ressource urbaner Entwicklung. In ihnen und durch sie wird die prekäre Balance zwischen Integration und Differenzierung hergestellt. Bevor wir uns mit dem theoretischen Charakter von Orten und der Typologie städtischer Orte beschäftigen, möchte ich mit einem schon ganz zu Beginn der Publikation erwähnten Beispiel zu dem Argumentationsmuster hinführen. Die Watts in Los Angeles gelten als ein berüchtigtes Quartier. Hier lebt ein guter Teil der afro- und lateinamerikanischen Armutsbevölkerung. Jugendbanden kontrollieren ganze Straßenzüge. Im endlosen Gitternetz der Erschließungsstraßen sind die immer gleichen Holzhäuser platziert, die zumindest für den Blick von außen keine Orientierung bieten. In diesem Quartier wohnte der italienische Bergmann und Kellner Simon Rodia. Auf seinem Arbeitsweg sammelte er Tag für Tag und Jahr für Jahr Scherben, die als Schmuckfassade für ein eigenwilliges Bauvorhaben Verwendung finden sollten. Rund um das kleine Grundstück seines Hauses baute er in jahrelanger Arbeit zwei Türme, die heute als Watts Towers bekannt sind. Mir erscheinen diese Türme wie aus Eisen, Beton und Scherben gebaute Zypressen, die seinen Wohnort Kalifornien mit seiner fernen italienischen Heimat verbinden sollten. Diese Türme waren zunächst nichts anderes als das Ergebnis der Idee und Arbeit eines Mannes, der sich so mit dem Ort als dem Seinen identifizierte. Seine Nachbarn fanden die Türme nach anfänglich großer Skepsis allmählich nicht mehr nur verrückt und spleenig. Vielmehr war ihr Stadtquartier plötzlich erkennbar geworden. Man konnte Freunden und Bekannten den Weg einfacher beschreiben und man hatte etwas zu zeigen. Als sich die Stadtverwaltung für die eigenartigen Skulpturen zu interessieren begann und aufgrund einer angeblichen Einsturzgefahr der Türme eine Abrissverfügung erließ, war es nicht nur Rodia, der sich wehrte. Vielmehr setzten sich zunächst die Nachbarschaft und dann immer mehr Menschen in den Watts für den Erhalt dieses „italienischen Gartens“ ein. Eines Tages verschwand der Erbauer und Schöpfer der Skulptur und war seit dem, so der Mythos, nicht mehr gesehen. Heute sind die Watts Towers ein National Monument. Sie sind ein Ort von nationaler Bedeutung und zugleich das Besondere an dem Stadtquartier Watts. Das Stadtquartier ist zwar immer noch arm und elend, das Kunstwerk „Watts Tower“ ist jedoch nun in jedem Reiseführer zu finden.
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Man verbindet mit den Watts zwar immer noch Verbrechen und soziale Unruhen, aber eben auch ein Kunstwerk und Symbol für einen transkulturellen Ort, der Los Angeles mit den Regionen verbindet, aus denen man selbst oder die eigenen Eltern zugewandert sind.
Abb. 19: Watts Tower, Los Angeles
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Orte erzählen eine Geschichte. Manchmal erzählen sie ihre Geschichte nur wenigen Menschen, manchmal einer ganzen Stadt und in seltenen Fällen einer ganzen Nation, ja der Welt. Orte sind immer selbst identifizierbar und ziehen das Bedürfnis der Menschen nach Identität auf sich. Vor berühmten Orten lässt man sich fotografieren, um ein Stück der Bedeutung des Ortes auf sich selbst zu übertragen. Andere Orte wiederum sind eng mit dem Alltag verbunden, hier spielt man oder verträumt den Tag oder man verweilt nur für einen Augenblick, um sich auszuruhen. Oder man meidet bestimmte Orte. Manche Orte machen Angst und alles Fremde scheint sich mit ihnen zu verbinden. Was sind Orte und wie verbinden sie sich mit der Paradoxie der Stadt?
Ort und Identität Um den Bezug zu erörtern, den einzelne Menschen oder Gruppen zu einem Raum haben, eignet sich kein Begriff besser als der des Ortes. Der Ort bezeichnet immer eine abgrenzbare und damit erfahrbare Einheit des Raumes. Ein Ort ohne Begrenzung ist nicht denkbar. Gestaltpsychologisch gesehen verhält sich der Ort zum Quartier wie die Figur zum Grund. Der Ort hebt sich vom Grund ab, ist jedoch ohne ihn nicht erfahrbar. Die Ästhetik des Ortes stellt sich in diesem Sinne immer als Korrespondenz dar (Knodt 1994). Die Stimmung des Ortes korrespondiert mit der Eigenart des ihn umgebenden Raumes und umgekehrt. Nur so ist es möglich, Beziehungen zu einem Ort, ob negativer oder positiver Art, aufzubauen, sich in ihm selbst wieder zu finden und ihn so mit der eigenen Biographie, dem Milieu einer Gruppe oder einer sozialen Kategorie zu verbinden. Auch durch Abgrenzung kann die Beziehung zu einem Ort gekennzeichnet sein, wobei die Abgrenzung von einem Ort ebenfalls der Selbstfindung dienen kann. Die soziale und sozialpsychologische Beziehung zu einem Ort ist nicht nur für viele Menschen von Bedeutung, sondern auch für die Entwicklung der Orte selbst. Die Verbindlichkeit, mit der sich Handlungen auf einen Raum beziehen, hängt von dem realen und symbolischen „Ortsbezug“ ab. Auf diese Weise entwickeln sich lokale Milieus, die ihrerseits die Entwicklung des Ortes bestimmen. Dabei ist zunächst nichts darüber gesagt, ob sich die Entwicklung gegen andere Orte abschottet oder öffnet, ob sie konservativ oder fortschrittlich ist, ob sie sich als traditionell oder modern erweist. Um die Beziehung zwischen einem Ort und einem Individuum oder einer Gruppe zu analysieren, müssen wir die Eigenschaften von Orten beschreiben. Welche Typen von Orten sind denkbar? 102
Typologie der Orte Eine Typologie der Orte bezieht sich immer auf eine bestimmte Kultur und auch dies nur für eine bestimmte historische Phase, die bestimmte Ausprägungen von Orten hervorbringt. Vielleicht ist dabei die Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremden Ort diejenige, die sich in den meisten Kulturen und in sehr vielen Epochen der Entwicklung finden lässt. Die Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremden Ort begründet sich durch die definitorische Begrenztheit des Ortes, die in der Regel nicht physisch, sondern sozial bestimmt ist. Es gibt zwar Fälle, wo die Topografie oder die gemachten physischen Barrieren den eigenen Ort von dem Fremden trennen. Was unterscheidet den eigenen von dem fremden Ort? Da ist zunächst einmal die Vertrautheit, die den eigenen Ort kennzeichnet. Die Menschen und ihre Verhaltensweisen, die Sprache und Kleidung der Menschen, die Gerüche, die Klänge und viele andere Dinge kennzeichnen einen vertrauten Ort. Die Vertrautheit des Ortes erzeugt Sicherheit. Man kann in reziproker Weise Verhalten prognostizieren und hat in gewisser Hinsicht einen Anspruch darauf, dass sich der andere gemäß dieser Prognose verhält. Der Unterschied zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten kann krass oder fließend sein. In dem eigenen Ort können (und werden in der Regel) Verhaltensweisen oder Gegenstände des fremden Ortes integriert. Klänge oder bestimmte Ernährungsweisen des Fremden werden in den eigenen Ort übertragen oder nisten sich unbewusst ein. Sie werden dabei an die Eigenschaften und Eigenarten des eigenen Ortes angeglichen. So hat der deutsche Döner, selbst wenn er von Türken gemacht und verkauft wird, mit dem orientalischen nur noch äußerliche Ähnlichkeiten. Bis zu einem gewissen Grad kann einem das Fremde ohne diese Anpassungen vertraut werden, doch bleibt es dann umso „reiner“ als Fremdes im Eigenen bestehen. Die Beziehung des eigenen zum fremden Ort, die gegenseitige Abschottung, Aggressivität oder Toleranz in dieser Beziehung ist eine der wesentlichen Determinanten einer übergeordneten Entwicklung des Raumes. Ob sich die weißen Afrikaner von den schwarzen Afrikanern in Südafrika abschotten oder nicht, ob sich in einer Stadt zwei oder drei Städte herausbilden, zwischen denen es kaum Kommunikation gibt, wird nicht nur die Entwicklung von Johannesburg, sondern die des ganzen Landes wesentlich bestimmen. Auch in Deutschland gibt es Anzeichen dafür, dass bestimmte Orte zumindest zu bestimmten Tageszeiten sozial exklusiv werden. Die Gewalt gegenüber Fremden ist der Versuch einen bestimmten Ort als den eigenen zu definieren. Zudem versuchen Jugendgruppen von Migranten oder ganze Clans das Geschehen eines Quartiers zu bestimmen. 103
Damit kommen wir auf einen zweiten wichtigen Aspekt zu sprechen: Die Verfügung über den Ort und die Aneignung des Ortes, durch den sich der eigene von dem fremden Ort unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremden Ort hat immer mit Macht zu tun. Solange die Zuordnung der Räume akzeptiert ist, bleibt die Macht latent. Sie kann jedoch gewaltförmig werden, wenn man den eigenen Ort durch andere Ansprüche, die sich auf den gleichen physischen Ort beziehen gefährdet sieht oder wenn eine „fremde“ Person oder Gruppe einen Ort infiltriert. Nirgendwo wird der Unterschied zwischen dem eigenen und dem fremden Ort deutlicher als in dem Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum. Eine Person oder eine Kleingruppe eignet sich einen Raum an. Die Verfügung über seine Nutzung und in Teilen auch seiner Gestaltung liegt in der Kompetenz des einzelnen Haushalts. Gesetze schützen die Privatsphäre und jede Lockerung dieses Schutzes, wie etwa die Möglichkeit der akustischen Überwachung durch die Polizei, führt zu ausgeprägten politischen Diskussionen. Allerdings regeln Gesetze auch die Grenzen der privaten Verfügbarkeit. Etwa indem sie bestimmte „Störungen“ des Nachbarn untersagen oder die Gestaltung des privaten Raumes durch Bauvorschriften einschränken. Viele Orte sind symbolische Räume. Allein der Kontext, in dem sich der Ort befindet (das Villenviertel, das gründerzeitlichen Stadtquartier oder die Nähe zu einer Fabrik) verweist auf den Status der Personen, die sich an einem Ort einfinden. Wenn sich der Kontext transformiert, eine ehemalige Fabrik oder eine Brauerei zum Kulturzentrum wird, werden nicht nur diese Orte zu anderen Orten, sondern auch die Orte in ihrer Umgebung. Manche Orte stehen für die Idee einer nationalen Geschichte wie zum Beispiel der Wenzelsplatz in Prag. Andere Orte sind Stellvertreter für die Rolle einer sozialen Klasse in der Geschichte einer Nation wie beispielsweise die Bastille in Paris. Immer wieder gibt es um die Dominanz von Teilkulturen in öffentlichen Räumen Auseinandersetzungen. Heute zeigt sich dies in einer Tendenz zur Teilprivatisierung öffentlicher Räume. Bestimmte Einkaufszentren schließen Teile der Bevölkerung nicht mehr nur durch die Preisgestaltung oder symbolische Barrieren aus, sondern lassen den Zugang von Wachpersonal kontrollieren. Die Reichweite der symbolischen Bedeutung und Wirkung öffentlicher Orte spiegelt sich in der Unterscheidung zwischen den allgemeinen und den besonderen Orten wider. Es gibt öffentliche Räume wie etwa einen Parkplatz, dessen Gestaltung und Bedeutung sich einzig auf eine bestimmte Funktion bezieht. Und dann gibt es Orte, die sich auf die Geschichte und die Geschichten einer Stadt beziehen, die Markt und Treffpunkt sind. Über die Beziehung von 104
„space und place“ hat es in den letzten Jahren sowohl eine theoretische wie auch praktische Auseinandersetzung gegeben. Während bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts die Vorstellung vorherrschte, die Entwicklung der ländlichen wie städtischen Räume sei ausschließlich eine Frage der rationalen Zuordnung einzelner Funktionen im Raum, spielte in der theoretischen Diskussion und in der politischen Debatte in den folgenden Jahrzehnten die Suche nach besonderen Orten eine größere Rolle. Nun sind besondere Orte in vielen Kulturen ein fester Bestandteil der Formensprache. Heilige Orte, Kathedralen, Burgen, herausragende topografische oder geologische Formationen, die räumliche Präsentation geschichtlicher Ereignisse. All dies spielte über Jahrhunderte eine gleichermaßen selbstverständliche wie auch große Rolle für die Identität eines Raumes. Die sich in ihrem Selbstverständnis funktional verstehende Planung und Architektur versuchte sich von diesen traditionellen Elementen zu befreien und formulierte eine auf die Optimierung der Nutzungen ausgerichtete räumliche Organisation. Da die funktionale Rationalität an den immer gleichen Kriterien gemessen wurde, nämlich Minimierung der Kosten und Maximierung der Nutzbarkeit, entstanden überall gleichförmige Siedlungen, Einkaufszentren und Straßensysteme. Erst die allmähliche Veränderung der Regulation von Wirtschaft und Gesellschaft in den kapitalistischen Kernländern führt zu einer neuen Situation. Da sich die Konkurrenzverhältnisse nun nicht nur zwischen einzelnen Unternehmen, sondern zunehmend zwischen ganzen Städten und Regionen verschoben, wurde es wichtig, als individuelle Stadt oder Region sichtbar zu werden. So wurden die alten oder besonderen Orte wieder entdeckt und als Wahrzeichen renoviert. Ein Beispiel dafür ist der Römer in Frankfurt. Zugleich begann aber auch die Suche nach neuen Orten, die zum Ausdruck veränderter Leitbilder der Entwicklung werden sollten. Durch die Renaissance des besonderen Ortes trat wieder zu Tage, wie groß die Bedeutung bestimmter Orte für die Interpretation und Organisation eines Raumes über den Alltag hinaus ist (Harvey 1987, Ipsen 1989). Selbstverständlich lässt sich nicht ungebrochen an alte Strukturen anknüpfen. Die funktionale Gliederung des Raumes verliert sich nicht, doch wird eine Dialektik zwischen der symbolischen Wirkung besonderer Orte, den Mythen eines Raumes und seiner Inwertsetzung und Verwertung deutlich. Die bisherigen Überlegungen lassen sich zu einer Typologie von Orten weiterentwickeln, die im Moment allerdings nur in Ansätzen und ohne empirische Fundierung zu formulieren sind. Es gibt eine Vielzahl öffentlicher Orte, die partikular sind. Sie sind zwar im Prinzip für alle sozialen Gruppen und Klassen zugänglich, de facto lassen sie sich aber einer bestimmten Gruppe zuordnen. An solchen Orten verdichten sich die Verhaltensweisen der Einzelnen zu Mustern spezifischer Lebensstile. Kleingartengebiete, sofern sie sich nicht ohnehin als 105
privater Verein organisiert haben und die Öffentlichkeit nur selektiv zulassen, sind solche Orte des Partikularen, aber auch bestimmte Wohngebiete und Plätze, Badestrände, Kneipenszenen und Skaterbahnen. Partikulare Orte differenzieren per se in den eigenen Ort und in den Ort der anderen. Sie leben vom Unterschied und vom Ausschluss. Den partikularen Orten stehen die allgemeinen Orte gegenüber. Sie sind der Norm nach die Orte, in denen sich alle Lebensstile zeigen und in gewissen Grenzen gelebt werden können. Hierzu gehören die zentralen Plätze einer Stadt, aber auch bestimmte Freizeitgebiete und „Infrastrukturen“ des kulturellen und sozialen Lebens wie Kinos und Theater, Sportanlagen, öffentliche Verkehrsmittel, Parkplätze und die Orte des Handels und der Politik. Eine spezielle Gruppe der allgemeinen Orte sind die besonderen Orte. Sie sind herausgehoben durch ihre symbolische Bedeutung. In ihnen finden sich Raumbilder wieder, die sich auf die kollektive Geschichte einer Stadt beziehen oder die auf Konzepte verweisen, die in einer Stadt die Entwicklungslogik vermitteln. Der Eiffelturm war ein Verweis auf das moderne Paris, das mit dem Umbau von Haussmann begonnen hatte und mit der Weltausstellung auf eine neue Stufe vorbereitet werden sollte. An diesem Beispiel wird deutlich, dass besondere Orte keinesfalls konfliktfreie Orte sein müssen. Um den Eiffelturm gab es über Jahre hinweg Konflikte unter den Bürgern von Paris. Erst viele Jahre nach seiner Fertigstellung wurde er neben anderen Bauten als Wahrzeichen akzeptiert und als Kopie exportiert. So findet sich eine verkleinerte Version des Eiffelturms nun in Shenzen und verweist dort auf die angestrebte Modernisierung Chinas im Allgemeinen und der Rolle von Shenzen innerhalb dieses Prozesses.
Orte der kulturellen Differenzierung und Integration Um die strukturierende Leistung der Orte in dem Spannungsfeld von Differenzierung und Integration in einem nächsten Schritt zu analysieren, bedarf es einer theoretischen Vorstellung darüber, wie sich die Kulturen der Stadt zueinander verhalten. Wie könnte sich die Beziehung der Kulturen in der Stadt darstellen? Häufig wird, eventuell auch nur um die Erörterung sprachlich zu vereinfachen, von zwei Kulturen gesprochen. Implizit geht es dabei immer um die Beziehung einer dominanten Kultur zu mehreren anderen Kulturen. Empirisch gesehen wird unter fremden Kulturen sehr Unterschiedliches zusammengefasst. Nicht nur, dass die Migrantenkulturen sehr verschieden sind und sich nicht 106
selten feindlich gegenüber stehen, auch die aus der inneren Differenzierung der Stadt generierten Kulturen haben mit den Migrantenkulturen oft nur den Minderheitenstatus gemeinsam. Dieser gemeinsame Status als Minorität ist allerdings nicht unbedeutend. Durch ihn entstehen nicht nur Konkurrenzen und Konflikte um knappe Güter wie Wohnungen und Arbeitsplätze, sondern auch gemeinsame Interessen und solidarischer Widerstand gegenüber Repressionen, allgemeine Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Man muss sich fragen, ob es immer und überall eine dominante Kultur geben muss oder gibt. Zumindest über viele Jahre hinweg, war der Libanon ein Beispiel für die Koexistenz muslimischer und christlicher Kultur. Der Bürgerkrieg hat dies als Modell in Frage gestellt. Es wird sich erst in Zukunft erweisen, ob sich diese Balance wieder herstellen lässt. Die Frage, ob es immer zur Herausbildung von Hierarchien kommt, wobei die dominante Kultur ja nur der eine Pol der Hierarchie ist, ist bis heute empirisch ungeklärt. Immerhin gibt es in Kanada, und dies gilt besonders für die großen Städte wie Toronto, die politische Absicht die kulturelle Vielfalt zum Kern der nationalen Identität werden zu lassen und als Leitbild der sozialen und räumlichen Entwicklung umzusetzen (Anisef, Lanphier 2003). Wenn man ein Netzwerk der Kulturen einer Stadt konstruiert, so kann man als ein Element eine Beziehung zwischen einer dominanten Kultur und einer Mehrzahl von minoritären Kulturen annehmen. Die Beziehungen der minoritären Kulturen untereinander können enger oder distanzierter sein, doch ist es wohl richtig anzunehmen, dass sie in sich hierarchisch gegliedert sind. Die Kriterien, nach denen sich die Hierarchie bildet, sind die Äußerungsformen und Privilegien der dominanten Kultur. Diese Hierarchien sind allerdings keineswegs stabil. Die Geschichte der Städte zeigt auch immer wieder die Veränderung der kulturellen Hierarchien bis hin zur Auswechslung der dominanten Kultur. Nehmen wir als Beispiel dafür die Entwicklung Istanbuls von dem oströmischen Konstantinopel über das griechisch-orthodoxe Byzanz bis zum osmanischen und republikanisch kemalistischen Istanbul (Batur 1996). Die Beziehung zwischen der dominanten Kultur und den Minoritätskulturen kann mehr oder weniger liberal sein. Dies allein ist jedoch keine hinreichende Beschreibung des Beziehungsgefüges. Das entscheidende Kriterium für die Offenheit einer Stadt ist die Entwicklung einer dritten Kultur, die alle Partikularkulturen einschließlich der dominanten Kultur transzendiert. Diese Kultur kann man eine Metakultur nennen. Ihr wesentliches Kennzeichen ist, dass sie auf allen Partikularkulturen aufbaut und sich zugleich von jeder unterscheidet. Sie enthält mit anderen Worten Elemente der verschiedenen Partikularkulturen, die sich aus dem Kontext ihrer jeweiligen Herkunft lösen und mit anderen Elementen anderer Kulturen eine neue Konfiguration eingehen. 107
Abb. 20: Schema der kulturellen Beziehungen der Offenen Stadt
Das Modell geht davon aus, dass sich ein Kräftefeld entwickelt, in dem sich die drei Kulturtypen gegenseitig beeinflussen. Die Integration erfolgt auch keineswegs nur über die Metakultur, obgleich ihre Existenz eine zentral notwendige Bedingung für die Offenheit der Stadt ist, sondern durch die Beziehung aller Kulturen zueinander. Die minoritären Kulturen müssen sich in einem gewissen Maß der dominanten Kultur anpassen. Dies gilt besonders für die Sprache, aber auch für eine Reihe von Werten, durch die grundlegende Beziehungen der Menschen untereinander geregelt werden. So lässt in demokratisch verfassten Gesellschaften die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen Diskriminierung nach Geschlecht, Alter und ethnisch kultureller Herkunft nicht zu. Dies bindet selbstverständlich auch die dominante Kultur. Darüber hinaus müssen sich die Kulturen in ihrer jeweiligen Eigenart gegenseitig respektieren. Vor allem aber muss es Raum für die Entwicklung informeller Regeln geben, mit deren Hilfe interkulturelle Konflikte gelöst werden können. Die wohl wichtigste Anforderung an die Mitglieder der dominanten Kultur ist, die Vielzahl der Kulturen in einem Land als eine Ressource der Entwicklung und als Reichtum zu begreifen.
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Sicherheit und Gefährdung, Verlust und Integration Es ist offensichtlich, dass die Hypothese, die Analyse von Orten sei ein fruchtbarer Zugang, um die Beziehungen der Kulturen einer Stadt zueinander zu untersuchen, empirisch „gefüllt“ werden muss. Ein möglicher Ansatz dazu ist eine Untersuchung der Typologie der Orte und ihrer Beziehungsmuster in einer Stadt. Mit der Unterscheidung in partikulare und allgemeine Orte stellt sich der Bezug zum Modell der drei Kulturen her. Ohne das Ergebnis definitorisch vorweg zu nehmen wie sich die Kulturen der Stadt in Orten und durch die Beziehung der Orte untereinander darstellen lassen. Es lassen sich dazu eine Reihe von gedanklichen Experimenten formulieren. Um die Orte der Kulturen zu identifizieren, zu beschreiben und in ihrer Beziehung zueinander – d.h. in ihrer Struktur – zu begreifen werden fünf Arbeitsschritte vorgeschlagen. Erst danach kann untersucht werden, wie das System der Orte die Kultur der Stadt insgesamt prägt oder genauer gesagt, ob und wie sich die Kulturen ausdifferenzieren können und zugleich über eine Metakultur integriert sind. Erstens: Orte sind immer abgrenzbar. Gestaltpsychologisch ausgedrückt sind Orte die Gestalt auf dem Grund der Stadt. Das kann sich von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich darstellen. Zentrales Element der Ortsbestimmung sind die Grenzen eines Ortes. Ein Ort findet nur Gestalt, wenn er sich in Bezug auf seine Umgebung abgrenzt. Grenzen sind gesellschaftliche Definitionsleistungen, das heißt: Grenzen entstehen durch Kommunikation darüber, wo die Grenzen liegen und woran sie zu erkennen sind. Die Zeichen der Grenzen machen sich zum einen an materiellen Gegebenheiten fest. Diese können durch Topografie, Verkehrswege oder deutliche Nutzungsveränderungen – wie zum Beispiel durch den Übergang von einer Siedlung zu einem Park – ausgeprägt sein. Zum anderen ähneln die Grenzen einem Kraftfeld, das sich um ein besonderes Gebäude, einen Platz oder andere städtische Wahrzeichen wie Kirchen, Denkmäler, Brunnen aufbaut. Die Wirksamkeit dieser Grenzen baut jedoch nicht in erster Linie auf dem jeweiligen materiellen Bezug auf, sondern vielmehr auf der kommunikativen Leistung, durch die die Zeichen als Grenze vermittelt werden. Hier ist ein Treff jugendlicher Skater und nicht ein ruhiger Ort für Pensionäre. Dies ist der Ort türkischer Migranten und auf jenem Platz treffen sich die Aufsteiger der Mittelschicht oder bürgerliche Theaterfreunde. Zweitens: Das kommunikative Potential eines Ortes verweist auf seine Fähigkeit, Identitätsangebote für jeweils spezifische Gruppen bereit zu stellen. Es ist wohl diese Eigenschaft, die Augé (1994) zur Unterscheidung von Orten und Nichtorten veranlasst hat. Die Lesbarkeit der Nutzungsgeschichte eines Ortes ist m. E. allerdings nur ein Weg zur Stiftung von Identität. Für bestimmte 109
Gruppen und zeitliche Perioden werden gerade transitorische Orte zu dem ihnen eigenen Ort. In den sechziger Jahren sammelten sich in Westdeutschland die Gastarbeiter regelmäßig an den Bahnhöfen und transformierten ihn zu dem Ort ihrer Migrationsgeschichte. Drittens: Die Zuordnung eines Ortes zu einer Kultur, also die eigentliche Analyse des kulturellen Gefüges kann beginnen, wenn der Ort selbst als Gestalt und kommunikativer Prozess bestimmt wurde. Beginnen wir mit den Orten der Teilkulturen einschließlich der jeweils dominanten Kultur. Eine der wichtigsten Parameter zur Beschreibung der Beziehung der Kulturen zueinander ist der Grad der Stabilität bzw. der Gefährdung in der Zurechnung eines bestimmten Ortes zu einer Kultur. Kann sich eine Teilkultur ihrer Orte nicht sicher sein, wird sie dazu tendieren, den Ort gegenüber Mitgliedern anderer Kulturen abzugrenzen. Sehr wahrscheinlich sind auch Spannungen, Konflikte und soziale Kämpfe um diesen „eigenen“ Ort. Die Sicherheit beziehungsweise Gefährdung eines Ortes als Ort einer partikularen Kultur hängt zum einen von der Machtausstattung einer Gruppe ab und ist zum anderen auch durch die gegenseitige Akzeptanz und Liberalität in den Beziehungen der Kulturen zueinander bestimmt. Viertens: Die Offenheit oder Geschlossenheit eines Ortes partikularer Kulturen wird von der Stabilität bzw. Gefährdung der Aneignungsmöglichkeiten dieses Ortes beeinflusst, aber nicht bestimmt. Die Offenheit verweist auf die Fähigkeit der Kulturen, ihre Unterschiede zu kommunizieren, Widersprüche und unterschiedliche Interessenlagen zum Ausdruck zu bringen, kurz einen gemeinsamen Modus vivendi zu finden. Man muss dazu nicht das Bild einer kulturellen Vielfalt ansprechen, das in der Regel die Eigenart und damit auch die Unvereinbarkeit der Kulturen übersieht. Es ist auch jeweils im Einzelnen zu untersuchen, welche Partikularkultur zu einer anderen eine Nähe und Offenheit hat und in welcher anderen Beziehung es nicht nur zu Abschottung, sondern zur manifesten Distanz bis hin zur Diskriminierung kommt. Ein harter Test für die Offenheit eines Ortes ist es, wenn gerade die Kulturen mit der größten Ausprägung an Fremdheit oder diejenigen mit einer Geschichte langer konfliktreicher Beziehungen, Zugang zu diesem Ort erhalten. Fünftens: Bei der Bestimmung des Ortes ist klar, dass sich der Ort von seiner Umgebung abhebt. Es bleibt jedoch offen wie bekannt ein solcher Ort ist. Unsichtbare oder von vielen nicht gekannte Orte können ein Zeichen der Durchlässigkeit des kulturellen Milieus einer Stadt insgesamt sein. Kleine, neu entstehende Kulturen – oft sind es gerade verschiedene Jugendkulturen – brauchen Nischen und Ränder in der Stadt, um sich entfalten zu können. In diesem Sinn kann die Unsichtbarkeit der Orte partikularer Kulturen zugleich dessen Schutz und Potential für Innovationen sein. Wenn allerdings bestimmte Gruppen tabui110
siert sind und ihre Orte aus diesem Grund unsichtbar bleiben, so kann dies auf eine Erstarrung und Sklerotisierung des kulturellen Milieus hinweisen. Die allgemeinen Orte, so sollte man meinen, sind per Definition offen und gewinnen gerade aus dieser Offenheit eine Stabilität. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Zum einen kann die dominante Kultur versuchen, die allgemeinen Orte für sich zu reklamieren. In diesem Moment werden in ihrer Macht aufsteigende partikulare Kulturen Ansprüche auf eine manifeste Nutzung und Präsenz stellen. Konflikte und Destabilisierungen sind die Folge. Die allgemeinen Orte werden erst dann stabil sein, wenn sie Ausdruck der Metakultur werden, also jener Kultur, die keiner partikularen, auch nicht der dominanten Kultur, zuzurechen sind. Da neu hinzukommende Kulturen (durch neue Gruppen von Immigranten) oder neu entstehende Kulturen, die in der Regel keinen Anteil an der Metakultur haben, werden die allgemeinen Orte immer nur relativ gesichert existieren. Eventuell sind es gerade diese Orte, die besonders prekär in ihrer Deutung und Bedeutung sind, weil symbolische Auseinandersetzungen jenseits partikularer Konflikte hier – und nur hier – stattfinden können. Auf der anderen Seite sind es aber gerade die Orte der Metakultur, die zur Integration der Stadt als Ganzes wesentlich beitragen. Partikulare Orte kennt jeder aus eigener Erfahrung: den Quartiersplatz, den Saunaclub, die Stammkneipe. Welche Beispiele aber gibt es für die Metakultur und für Orte der Metakultur? Man muss zunächst konstatieren, dass hierzu recht wenige Forschungen vorliegen und die Thesen deshalb stark spekulativ sind. Dennoch möchte ich dazu drei Aussagen formulieren. Die Metakultur kann aus vornehmlich mentalen Elementen bestehen und ist damit bestenfalls sekundär räumlich. Als Beispiel kann der „Lodzer Mensch“ dienen. Lodz entwickelte sich als Industriestadt auf der Basis deutscher, jüdischer und polnischer Zuwanderer im 19. Jahrhundert. Zentriert um die Textilindustrie und einige wenige große Unternehmen entwickelt sich nicht nur die Stadt, sondern die Vorstellung eines besonderen Menschenschlags, eben die des Lodzer Menschen. Der Lodzer Mensch ist, folgen wir dem Bild, arbeitsam und pünktlich, ordentlich und modern. Er ist weder polnisch noch jüdisch oder deutsch, sondern vereint das gute Gemeinsame der Partikularkulturen dieser Stadt. Dieses Bild braucht keinen besonderen Raum in der Stadt, die Stadt selbst ist sein Raum. Ähnliches gilt für Sprachformen der Metakultur, wie sie etwa in dem Film „Blade Runner“ auftauchen. In der Stadt hat sich ein Slang entwickelt, der im städtischen Raum insgesamt die Metakultur repräsentiert. Eine Möglichkeit ist es, dass der Raum der Metakultur die Gestalt der Stadt als Ganzes ist. 111
Zudem ist aber auch denkbar, dass die Metakultur Symbole entwickelt, die auf einen konkreten Ort bezogen sind. So hat das Bewusstsein, New York sei die ganze Welt, konkrete Orte. Little Italy oder China Town sind nicht italienisch oder chinesisch, sondern das über das Partikulare der Kultur hinausreichende Element, das alle teilen. Ein Bestandteil löst sich aus dem inhaltlichen Kontext der Partikularkultur, hat aber sehr wohl einen Ort. Diese Orte werden zum Raumbild, zum symbolischen Ausdruck einer allgemein geteilten Sicht der städtischen Welt. Der Raum der Metakultur ist in diesem Fall Ort einer Partikularkultur, der aber nicht mehr das Besondere einer Kultur sondern den verallgemeinerten Beitrag dieser Kultur zur Metakultur repräsentiert. Des Weiteren ist es möglich, dass die verschiedenen Kulturen einer Stadt einen gemeinsamen Ort haben, an dem sie sich nicht als „ethnologisches Museum“, sondern in einer ihre eigene Kultur transzendierenden Gemeinsamkeit repräsentieren. In New York könnte dies die ostentative Individualität sein, die man im Central Park lebt. Wenn es solche gemeinsamen Orte gibt, so sind sie hochsensibel gegenüber Vereinnahmungen durch die eine oder andere Kultur (und dies gilt auch gegenüber Ansprüchen der dominanten Kultur). Die beharrlichen zivilgesellschaftlichen Bemühungen um die Offenheit des Central Parks können ein Hinweis auf die empirische Existenz solcher gemeinsamen Orte der Metakultur sein (Der Spiegel 29, 1998: S. 134ff). Wir hätten damit drei mögliche Raumtypen der Metakultur: die Gestalt der ganzen Stadt, ein sich transzendierender besonderer Ort einer Partikularkultur und Orte gemeinsam geteilter Repräsentation.
Abschließende Bemerkungen zur politischen Praxis der Offenen Stadt Es ist ohne Zweifel so, dass die bislang vorgestellten Überlegungen und Thesen einer gründlichen und kritischen Diskussion sowie der empirischen Überprüfung bedürfen, bevor man Schlussfolgerungen für die Politik und Planung einer Offenen Stadt ziehen sollte. Es kann hier also nur darum gehen, darauf hinzuweisen, dass aus diesen Überlegungen überhaupt praktische Hinweise zu gewinnen wären. Ich möchte die Richtung meiner Überlegungen durch zwei Bemerkungen andeuten. Auf Grund der vorgestellten Thesen zur kulturellen Konstellation der Offenen Stadt ist es plausibel, über die Praxis der sozialen Durchmischung nachzudenken. Unsere These würde es nahe legen, kulturell homogene Stadträume nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern. Die Planung und Politik hätte allerdings darauf zu achten, dass diese Gebiete durch ihre Ausstattung und den 112
Erhaltungszustand, durch die Verkehrsanbindung und ihr öffentliches Image nicht zu Räumen der Diskriminierung werden können. Die formulierten Thesen legen nahe, dass Politik und Planung in einem gewissen Maße „Abwertungsräume“ zulassen und dass in diesen Räumen die Regulations- und Kontrolldichte zu verringern wäre. Dabei besteht die Schwierigkeit, solche Maßnahmen oder die Unterlassung von Maßnahmen so anzulegen, dass nicht der Eindruck einer dauerhaften Vernachlässigung oder gar Abkoppelung entsteht. Dies könnte dadurch geschehen, dass in solchen Gebieten die lokale Politik und Planung Beratung und Unterstützung für die Entwicklung gemeinschaftszentrierter Ökonomie anbietet. Die beiden Überlegungen, die hier beispielhaft aufgeführt wurden, haben eines gemeinsam. Planung und Politik müssten Ambivalenzen zulassen. Zwischen Verfall und Sanierung entstünde ein Drittes: innere Stadtränder, genutzte Brachen, Nischen. Zwischen der sozialen Durchmischung und dem „Ghetto“ entstehen „cultural areas“ mit eigenen Symbolen und einer Selbstregulierung des sozialen und ökonomischen Lebens. Neben der Marktökonomie steht eine Gemeinschaftsökonomie. Damit wird erkennbar, dass die Offene Stadt wahrscheinlich nicht ein klar strukturierter und insofern abstrakter Raum ist, sondern eher eine Reihung und Verknüpfung gelebter Orte, die Widersprüchliches miteinander verbinden. Ambivalenz ist ein wesentliches Kennzeichen der Offenen Stadt. Das hat, wie man sich denken kann, erhebliche Konsequenzen für die Methoden der Planung.
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6 Städte zwischen Innen und Außen: Randbemerkungen
Am ehesten begegnet man den Rändern in einer Stadt, die einem fremd ist. Hier sind die Wege noch nicht so vorgezeichnet: ein zufälliger Schwenk nach rechts, neben einer Brache ein zweistöckiges Wohnhaus, entlang einer Bahntrasse zwei, drei kleine Gärten, ein verfallenes Stellhaus und ein verrostetes Fabriktor ohne Fabrik. Dann folgen zwei neu gebaute Wohnblocks neben einer Lagerhalle und der Hälfte eines Bauernhauses. Liegt die fremde Stadt, die man durchstreift, nicht in Mitteleuropa, sondern im Süden Chinas, so ändern sich einige Elemente. Man findet kleine Werkstätten, die mehrstöckige Betten herstellen, neben einem Supermarkt, das an ein Reisfeld grenzt. An der schmaleren Seite des Reisfeldes sieht man eine große Baustelle, zur Längsseite hin folgen kleine Hütten, dahinter wird der Blick durch drei postmodern gestylte Stadtvillen begrenzt. Wo immer man dem Rand begegnet, er hat etwas Unbestimmtes. Vielleicht nicht alle, aber doch viele Elemente, die man in den anderen Teilen der Stadt findet, liegen hier unvermittelt nebeneinander. Der Rand ist weder Villenvorort, noch Arbeiterquartier, weder Fabrikgelände noch Gartenland. Die Straßen sind mal in einem hervorragenden Zustand, mal sind es schwer befahrbare Pisten. Wer an den Rand einer Stadt gerät, unternimmt eine Passage durch den simultanen Raum, eine Entdeckungsreise zu den Elementarteilen der Stadt. Dem simultanen Raum entspricht zumindest für den Fremden ein Gefühlsgemisch zwischen Ängstlichkeit und Neugier. Man ist ganz froh, wenn eine Ausfallstraße wieder zu den Quartieren führt, die wir kennen: den Zentren und den Subzentren, Wohnquartiere für Arbeiter und kleine Angestellte, Stadtvillen, Einkaufszentren. Den Stadtforscher aber wird es immer wieder zurückziehen zu den inneren und äußeren Rändern der Stadt. Nicht nur dass er sich innerhalb der Ränder nach einiger Übung so vertraut bewegt, wie die Auf- und die Absteiger, die Marginalisierten und die Abenteurer, die hier nahe beieinander leben. Nein, das ist es nicht. Es zieht ihn hin, weil er hier den Puls der Stadt fühlt und die Bewegungslogik leichter erkennen kann als in all den anderen Quartieren, die immer nur ihren Ausschnitt des Ganzen erfahrbar machen. 115
Rand und Grenze Der Rand ist immer auch eine Grenze, aber die Grenze keineswegs ein Rand. Die Grenze ist eine Linie, gedacht oder materiell, der Rand aber ein Band. Die Grenze trennt das Eigene vom Anderen und gibt diesen Konstruktionen den jeweiligen Raum. In der Soziologie des Raumes von Georg Simmel (1995) spielt die Grenze eine zentrale Rolle. Da der Raum immer sozial gegliedert ist, hat er die Funktion, diese Gliederung zu zeigen; und indem sich eine Gruppe in einem bestimmten Raum verwirklicht, wirkt dieser Raum auf die Eigenart der Gruppe zurück. So gesehen ist die Grenze, die den einen von dem anderen Raum scheidet, für die Wirksamkeit eines Raumes konstitutiv. „[…] immer fassen wir den Raum, den eine gesellschaftliche Gruppe in irgendeinem Sinne erfüllt, als eine Einheit auf, die die Einheit einer Gruppe ebenso ausdrückt und füllt, wie sie von ihr getragen wird. Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. An diesem übt er die beiden Funktionen, die eigentlich nur die zwei Seiten einer einzigen sind: das Kunstwerk gegen die umgebende Welt abund in sich zusammenzuschließen“ (Simmel 1995: S. 138).
Zwar betont Simmel auch die Wechselwirkung zwischen Innen und Außen, doch fehlt ihm die klare Unterscheidung zwischen Grenzen in der Stadt und ihren inneren wie äußeren Rändern. Peter Marcuse (1998) hat den interessanten Versuch unternommen, die innere Gliederung der Städte an ihren Grenzen zu bestimmen. Er unterscheidet Grenzen, die einschließen (prison walls), von jenen, die vor den Anderen schützen (barricades), imperialistische „walls of agression“ von jenen, die privilegierte Gruppen in ihren Privilegien schützen (stucco walls). So wichtig eine solche Typologie ist, sie bleibt dennoch ein Versuch, die innere Gliederung und Dynamik der Städte in einem starren Modell zu erfassen. Die Schwierigkeiten lassen sich an dem Versuch verdeutlichen die Grenzen innerhalb einer Stadt oder zwischen einer Stadt und einem anderen Raum empirisch zu bestimmen. Statistiken helfen nicht recht weiter, geben sie doch bestenfalls Häufungen bestimmter Merkmale in einer Raumeinheit wider. Aber auch semiotische Beobachtungen sind wenig Erfolg versprechend. Häufig endet der Versuch die Grenze zwischen zwei Stadtteilen zu bestimmen mit der Schilderung der Eigenart einzelner Gebäude oder öffentlicher Flächen in den jeweiligen Gebieten. Zwar sind die Städte durch eine Vielzahl von Grenzen strukturiert, doch lassen sich die wenigsten klar bestimmen. Wenn Degenhard gesungen hat: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, geh doch in die Ober116
stadt, mach’s wie Deine Brüder […]“, so ist die topographisch sichtbare soziale Grenze eher die Ausnahme. Es mag sein, dass es im 19. Jahrhundert solch eindeutig materiell bestimmbare gesellschaftliche Grenzen in den Städten noch gegeben hat: Der Eisenbahnbau trennte meist die bürgerlichen von den proletarischen Gebieten, die untere Neustadt war klar von der oberen Neustadt geschieden, in vielen Industriestädten ist der Westen dem Bürgertum, der Osten den unteren Schichten vorbehalten. Je schneller jedoch die Städte wuchsen und je mehr sie von staatlichen Planungseingriffen und wirtschaftlichen Verwertungskalkülen geprägt wurden, desto weniger deutlich wurden die Grenzen, desto wichtiger aber die Ränder. Das schnelle Stadtwachstum ließ im Europa des 19. Jahrhunderts nicht genügend Zeit, um klare Grenzen aufzubauen und kulturell wie räumlich zu stabilisieren. Spekulative Stadterweiterungen führten dazu, dass Räume übersprungen wurden, weil Besitzverhältnisse oder natürliche Gegebenheiten einer rasanten Entwicklung im Wege standen. Auch Dörfer wurden bei der Verstädterung einfach umgangen und zu einem viel späteren Zeitraum urbanisiert und eingemeindet. So entstanden innere Stadtränder. Noch weit eher gilt dies für schnell wachsende Städte wie Kairo, São Paulo oder Guangzhou. Hier merkt man, dass der Begriff wie das Bild der Grenze stark von den mittelalterlichen Stadtformen in Europa und Asien abhängt. Die Stadtmauer, der Wall, das Ghetto mit seinen Toren, die bei Sonnenuntergang geschlossen wurden, sind räumlicher Ausdruck einer Stadtstruktur, die wenig Dynamik aufweist. Was aber unterscheidet nun die Ränder von Grenzen? Zum einen sind Grenzen symbolisch oder materiell oder in beiderlei Hinsicht eindeutig, Ränder bleiben mehrdeutig. Zum anderen trennen Grenzen klar unterscheidbare sozialräumliche Einheiten, Ränder hingegen verbinden Einheiten, indem sie ausgewählte Teile von ihnen aufnehmen. Zudem sind Ränder hybride Räume, die von jeder Seite etwas aufnehmen und daraus etwas Eigenes entwickeln. Grenzen sind eher als Linien zu betrachten und Ränder als Fläche. Die Ränder gleichen Bändern oder Teilen von Bändern. Daher bieten sie Raum für eine Vielzahl von Aktivitäten. Dies führt zu einem weiteren wichtigen Unterscheidungsmerkmal: Ränder sind wenig reguliert, Grenzen dagegen kulturell, sozial oder materiell hoch reguliert. Ränder sind eher Potentiale für noch nicht existente, mögliche Entwicklungen, Grenzen hingegen verhindern potentielle Veränderungen. Damit wird auch deutlich, dass Ränder Räume der Transformation sind. Wer sie heute besucht, muss sich darüber im Klaren sein, dass er sie morgen kaum mehr wieder erkennen wird. Daniel Libeskind (1992: S. 22) konnte die Ränder invers nennen, weil der Rand von heute die Entwicklung von morgen sein kann, während das jetzige Zentrum zu einem Museum der Vergangenheit wird oder werden könnte. Er schlug deshalb vor, die Ränder von Groningen mit Skulpturen zu 117
kennzeichnen, die als Bücher die Geschichten der Stadt zwischen gestern, heute und morgen erzählen. Ränder sind „RaumZeit“, ihre Simultanität bezieht sich auf die benachbarten Räume und verschiedene Zeiten. Ränder grenzen ab, indem sie einschließen. Der Preis dafür ist ihre Offenheit. Nicht nur, dass man sie schwer begreift, dass sie mal hierhin, mal dorthin überfließen. Auch ihre eigene Zukunft bleibt offen, mal versinken sie in Vergessenheit, mal werden sie zu Zentren des urbanen Lebens und manchmal werden sie Orte eines neuen städtischen Paradigmas. Die folgenden Randbemerkungen schildern die Erfahrungen und Ergebnisse einer Reihe von Studien, die wir in den letzten Jahren zu den Rändern der Städte gemacht haben. Diese Studien waren nicht nur in ihrem Umfang und der Tiefe unterschiedlich, sondern folgten jeweils spezifischen Fragestellungen. So fragten wir in Athen nach der Logik des Stadtwachstums ab den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. In Costa Rica ging es um informelles Bauen außerhalb der Stadt. In Brasilien beschäftigten wir uns mit dem Verhältnis von Ökologie und Ästhetik. In Erfurt untersuchten wir die Rolle der Altstadt bei der Anpassung an eine marktregulierte Ökonomie. Immer wieder stießen wir dabei auf die Rolle der Ränder in Städten. Mit den Randbemerkungen wird der Versuch unternommen, diese – wenn man so will – zufälligen Erfahrungen und Ergebnisse ein wenig zu systematisieren. Die Formulierung der Randbemerkungen scheint gerechtfertigt, da über räumlich-soziale Ränder nur wenige Arbeiten vorliegen. Auf der Grundlage eines workshops entstand vor einigen Jahren der Sammelband „Peripherie ist überall“ (Prigge 1998). Einige Beiträge, die in diesem Band publiziert wurden, beziehen sich auf Ränder. Zu den Rändern der Stadt Berlin sind eine Reihe von Studien erschienen, deren integrierendes Band die Hypothese ist, der Rand sei mit spezifischen Milieus assoziiert, die auf Prozesse der Urbanisierung und Suburbanisierung spezifisch reagieren (Matthiesen 2002). Mit der Veröffentlichung der Arbeiten zur Zwischenstadt (Sieverts 1997) gerieten die Ränder der Städte in die Debatte der Stadt- und Regionalplaner. Hybride Milieus und eine hybride Raumästhetik erscheinen als Vorboten einer allgemeinen Veränderung des Modells der (europäischen) Stadt. Der Rand als „weder – noch“-Situation beginnt sich in und mit der Zwischenstadt zu verallgemeinern und macht sich auf, zu einem neuen Modell der Stadt zu werden: zu der urbanen Landschaft.
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Erste Randbemerkung: Das Äußere innen zeigen Es gibt Städte, deren Größe, Topographie und städtebauliche Anlage dazu führen, dass der traditionelle Rand zwischen Stadt und Land im Innersten der Stadt, im Zentrum präsent ist. Natürlich sind es oft kleinere Großstädte, über Kleinstädte reden wir in Bezug auf den Rand nicht, deren Burgberg oder Kirchhügel die Abgrenzung zum Land deutlich macht. Sonntags besteigt man diesen Hügel oder man führt Gäste aus anderen Städten dorthin, weil man mit einem Blick die ganze Stadt und ihre Einbettung in die ländliche Umgebung deutlich machen kann. In einigen wenigen Städten, Kassel gehört zu ihnen, öffnet sich das Zentrum der Stadt an mehreren Stellen in der Weise zum nahe gelegenen Land, dass es wie durch einen Rahmen in das geschäftige Treiben projiziert wird. Bei einigen führt dies dazu, dass die Bürger die wesentlichen Qualitäten der Stadt an der ländlichen Landschaft festmachen, die dann nicht einfach Umgebung ist, sondern gleichsam zur Stadt selbst wird. Die absolutistischen Parkanlagen gehen bruchlos in die Auen, Bergweiden und Äcker über und führen die Menschen zu der Ansicht, das Schönste der Stadt sei das Land. In einigen Fällen wirkt diese Sichtweise auf die Stadt wie ein Trost für die durch Brandbomben zerstörte Altstadt und die Vernichtung der Urbanität durch fortschrittliche Architekten und Planer.
Zweite Randbemerkung: Vergangene Ränder Die meisten europäischen Städte, deren Ursprung in den vergleichsweise winzigen mittelalterlichen Städten zu finden ist, sind von längst verschwundenen Rändern wie von Jahresringen umgeben, in denen sich heute Teile der Entwicklung erkennen lassen. In diesem Sinne lässt sich von der Lesbarkeit einer Stadt sprechen. Jeder vergangene Rand ist wie eine Seite im Geschichtsbuch der Stadt. Häufig lassen nur noch Namen erahnen, was einmal ein Rand war. Eine Gartenstraße ohne Gärten erweist sich bei der Recherche bald als ein Teil des Gartengürtels, der jenseits der Mauern die Stadt umgeben hat. Ring und Wall verweisen auf ehemalige Festungsanlagen. Heißt ein Ortsteil Eichswald, so ist zu vermuten, dass die Bürger der Stadt hier ihre Schweine heraustrieben. Zusammen mit der Rinderallmende ruft das in Erinnerung, dass die vorindustrielle Stadt keineswegs frei von Landwirtschaft war und dass Selbstversorgung zu Handel und Handwerk gehörten. Stadt und Natur bildeten so weit eine Einheit, als Tiere und Menschen zusammen wohnten und es nicht der Stallgeruch war, der Stadt und Land zu Unterschiedlichem machte. 119
Meistens überlagern sich heute mehrere versunkene Ränder und bilden eine neue Einheit. Zum Beispiel ist die Universität, in der ich arbeite, auf drei sich überlagernden Rändern gebaut worden. Die Mönchebergstraße verweist auf die frommen Kohle abbauenden Mönche, die vor den Toren der Stadt auf dem nach ihnen benannten Berg siedelten. Später kamen die Stadtgärtner hinzu. Das älteste Gärtnerhaus, als verputztes Fachwerk im Stil des Rokoko gebaut, dient uns heute zur Durchführung von Doktorandenkolloquien. Am Ende des 19. Jahrhunderts entstand auf den ehemaligen Gärten der Schlachthof. Er wurde als moderen Infrastruktur gefeiert und prunkvoll wie eine Schlossanlage mit einem Burgtor ausgestattet. Noch bis vor kurzem hielten sich hier Läden für den Metzgerbedarf, auch wenn schon lange kein Vieh mehr vom Bahnhof durch die Straßen getrieben wurde. Zur gleichen Zeit siedelte sich die Industrie an, die Tuche für das preußische Militär produzierte. Neben der Stoffproduktion war es aber maßgeblich der Bau von Lokomotiven, die nach Südamerika und Indonesien verkauft wurden. Gerüchten nach, fahren die Loks noch heute dort. Eine ehemalige Werkshalle ist heute das Rechenzentrum, im damaligen Gießhaus werden Konzerte gegeben oder Kollegen gefeiert. In gewisser Hinsicht ist die Entzifferung der vergangenen Ränder ein akademisches Interesse, auch wenn man nicht unterschätzen sollte, wie gewichtig diese Schichtungen für die Entstehung einer interessanten Atmosphäre eines Stadtgebietes sind. Systemisch gesehen sind diese ehemaligen Ränder persistente Strukturen einer Stadt. Über sie sind die neuen Entwicklungen längst hinweggegangen, sie erscheinen überflüssig oder gar abträglich. Wenn die Stadtplanung dann entweder kein Interesse oder nicht die Kraft hat, die Bauten dieses Randes abzureißen und die Flächen neu zu bebauen, verharren sie und bilden für eine noch nicht bekannte Zukunft ein erhebliches Potential. So hat die Planung der DDR gründerzeitliche Quartiere einfach übersprungen. Während diese Ränder des 19. Jahrhunderts dem Verfall preisgegeben waren, entstand der sozialistische Städtebau an den neuen Rändern der Stadt. Eine Untersuchung in Erfurt zeigte recht deutlich, wie nach der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands und der damit verbundenen Wiedereinführung der kapitalistischen Marktwirtschaft, gerade hier die ersten Ansätze für kleine Druckereien, Autowerkstätten, Läden und Büros entstanden. Häufig waren es sogar die Kinder oder Enkel der ehemaligen Eigentümer, die nun in diesem alten Rand die Möglichkeiten für einen Neubeginn suchten (Ipsen, Fuchs 1995). Die Ränder der Stadt befinden sich in einem ständigen Spannungszustand und Wechselverhältnis von Persistenz und Transformation. Manchmal führt diese Dialektik zu einer räumlichen Differenzierung: Der vergangene Rand gerät in Vergessenheit, das Neue überspringt ihn und bildet einen neuen Rand. Dabei kann es geschehen, dass der neue Rand entwertet wird und sich der alte 120
als Potential erweist und eine Aufwertung erfährt. Das Wohnungskapital sucht hier eine Anlage, die Stadterneuerung verändert den Status dieses vergessenen Randes, die Bevölkerung tauscht sich aus. Der Rand verliert wenigstens für die nächste Zeit seinen Charakter als Rand, zentripetale Kräfte verleiben ihn ein.
Dritte Randbemerkung: Der Rand und die Zyklen des Kondratieff Bekanntlich formulierte Kondratieff ein weit verbreitetes Modell der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus. In längeren zeitlichen Abständen führen so genannte Basisinnovationen zu wirtschaftlichem Wachstum. Hat sich die jeweilige Innovation voll durchgesetzt und ausdifferenziert, so flacht zunächst das Wachstum ab, um dann in eine Krise zu führen. Eine neue Basisinnovation setzt den Zyklus erneut in Bewegung. Diese Theorie hat eine Vielzahl von Fragen aufgeworfen und Forschungen initiiert, unter anderem auch die Suche nach den geographischen Bedingungen für die Entstehung von Innovationen. Eine wichtige Beobachtung lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf bestimmte Ränder bestimmter Städte. Die Industrie entwickelte sich vielerorts nicht in den Städten des 19. Jahrhunderts, sondern an ihren Rändern. Die Ursachen dafür sind vielgestaltig, doch wird immer wieder nachgewiesen, dass sich sowohl der Adel, der in den Städten seine Residenz hatte, als auch die Stände über lange Zeit erfolgreich gegen die Ansiedlung von Industrie zur Wehr setzten. Dem Adel passte Lärm und Dampf nicht zu ihrem höfischen Lebensstil, die Stände befürchteten Konkurrenz bei den Produkten und dem Arbeitsmarkt. So entwickelte sich die Industrie, wenn es die übrigen Zustände zuließen, am Rande der Dörfer, die den Städten vorgelagert waren. Hier fanden die Industriellen bei den Töchtern und Söhnen der Bauern die Menschen, die ihre Arbeitskraft frei verkaufen konnten und mussten. Andere Beobachtungen zeigen, dass die Ränder für Innovationen geeigneter sind als die Zentren und älteren Wohn- und Gewerbegebiete der Städte. An den Rändern finden sich die technischen Einrichtungen zur Stadthygiene (Klärwerke, Wasserwerke), die wiederum der effektivste Mechanismus zur Entwicklung der Stadtmaschine im 19. Jahrhundert waren. Vom Rande her wurde die Stadt zu einem technisch-administrativen System entwickelt. Der Städter wurde zu einem von den Zwängen der Natur weitgehend befreiten und von der Natur entfremdeten Menschen. An den Rändern fand man Gaswerke und später Elektrizitätswerke, die es möglich machten, die Nacht wie den Tag zu nutzen. Dadurch wurde die Grundlage für alle weiteren Entwicklungen einer 121
Kultur des Komforts und der Bequemlichkeit gelegt, die heute das urbane Leben wesentlich kennzeichnet. Die Eisenbahn, die alle folgenden Innovationen zur Beschleunigung des Waren- und Güterverkehrs einläutete, brauchte nicht nur Platz, der sich im Inneren der Städte schwer beschaffen ließ, sondern war am Anfang auch nicht sonderlich beliebt. So legte man sie bis an den Rand der Städte. Die Bahnhöfe wurden als prachtvolle Hallenbauten angelegt, um die neue Bedeutung deutlich werden zu lassen. Nicht nur in Paris wurden die Bahnhöfe zum Ausgangspunkt der Modernisierung. Haussmann ließ die mittelalterliche Baustruktur abreißen und schuf mit den Boulevards ein neues Muster der Städte. Ein wichtiger Grund für den Abriss war die Verbindung des Gare du Nord mit den nach Süden und Westen abgehenden Bahnhöfen, denn die Stadt drohte in dem zunehmenden Güterverkehr zu ersticken. Nach der Erfindung und Verbreitung des Autoverkehrs wurden die Ringautobahnen zu neuen Rändern, die effektiv wie nie zuvor das Innere vom Äußeren der Städte trennten und verbanden. Hier siedelten sich die Reparaturwerkstätten an, Händler für Autoreifen, Schrottplätze und Tankstellen. Neben den Tankstellen entwickelten sich die großen Einkaufszentren, die wiederum einen Kernbestandteil des städtischen Lebens, den Handel und damit die Stadt- und Quartierszentren entscheidend veränderten. Die Aufzählung lässt sich weiterführen und es wäre sicherlich nicht falsch, auch die rasante Entwicklung der Elektronik an den Rändern der Städte zu verorten, man denke nur an Silicon Valley oder die neuen Wissenschaftszentren am Rande von Grenoble. Was aber könnten die Gründe für die besondere Eignung der Ränder zur Entwicklung von Innovationen sein? Der eine Grund ist banal und dennoch wichtig: An den Rändern findet sich der Raum, den neue Technologien benötigen. Des Weiteren ist der Widerstand gegen neue und oft auch belastende und riskante Technologien dort geringer als in den zentralen Stadtteilen. Macht und Einfluss finden sich nicht am Rand, sondern in zentralen Quartieren. Die Menschen, die am Rand der Städte wohnen und arbeiten, gehören nicht zur Elite. Und schließlich ist die gesamte Kontrolle durch den Staat am Rand geringer als im Zentrum. Hier kann mancher in der Garage basteln und die abfallenden Chemikalien in einem Graben verschwinden lassen, was andern Orts schwerer wäre. Innovation benötigt wahrscheinlich das Stückchen Anarchie, das den Rändern eigen ist. Vierte Randbemerkung: An den Rand gedrängt oder Paris als Weltstadt. Mit Studierenden unternahm ich eine Wanderung von der Bastille bis zu den Grand Ensembles. Durch das Marais mit seinen arabischen und jüdischen Metzgereien, vorbei am Gare du Nord und dem Weinberg am Sacré Coeur, über den Périphérique (welch eine Barriere) durch Flächen mit Gewächshäusern und 122
scharfen Schäferhunden, bis am Horizont die Blocks von Sancerre auftauchten. Wir hatten von Selbstmorden und Drogen, Gewalt gegen Sachen und Personen, kleinen Aufständen, Kämpfen mit der Polizei, von verzweifelten Sozialarbeitern und vergitterten Fenstern gelesen. Wie konnte das geschehen, hier in und mit Paris? Pariser Familien wurden aus der Stadt gedrängt. Von ihren Quartieren getrennt, fanden sie sich in den neu gebauten Rändern wieder, die politisch gar nicht mehr zu Paris gehören. Es ist eine Geschichte der Korrespondenz von Außen und Innen. Über Jahrzehnte hatte es die Bindung der Mietpreise möglich gemacht, dass die kleinen Leute in Paris wohnen konnten. Die niedrigen Mieten waren der Preis der Regierung für die Loyalität der französischen Bürger in den beiden Kriegen mit Deutschland (dort galten die gleichen Regelungen). Nun, nachdem es Hoffnung auf einen dauerhaften Ausgleich zwischen den beiden Staaten gab, war aus Sicht der Elite diese Geste für das Volk weder notwendig noch sinnvoll. Paris sollte die wichtigste Metropole Europas werden und Anschluss an Amerika finden. Da brauchte man Platz für Kultur (Centre Pompidou) und nicht für Markthallen, da war eine neue Bürostadt angesagt und keine einfachen Wohnungen direkt an der Seine. Man brauchte auch Kaufkraft und flanierende Konsumenten, neue Bahnhöfe und postmoderne Parks. Keiner hatte einen Plan, es gab auch keine Verschwörung, aber Tendenzen, Maßnahmen… So gelang es langsam, mit politischer Ausdauer und Schritt für Schritt, die Mietpreisbindung aufzuheben. Wer nicht zahlen konnte, musste gehen. Für die, die gingen, bezahlte der Staat Sozialwohnungen. Architekten bauten einen modernen Rand mit großen Wohnzeilen: die Grande Ensembles. Die Entwurzelung der ehemaligen Stadtbewohner, die Perspektivlosigkeit der Migranten, die ästhetische und soziale Verarmung der Gebiete, die nur für das Wohnen geplant waren, all dies führte immer wieder zu Aufruhr und Schlägereien mit der Polizei, zu Vandalismus und Selbstmorden, zu kleiner und großer Kriminalität. Die Presse trommelte gegen die Wohnungen, mit denen man Menschen umbringen kann. Neue schöne Städte sollten gebaut werden. Die Unruhen und Aufsehen erregenden Ereignisse waren nicht gewollt und unerwünscht. Die Planer hätten daraus die Schlussfolgerung ziehen können den vorhandenen städtischen Raum zu verdichten, doch dies geschah nur in einem Fall. Ein neuer Rand von Paris wurde gebaut. Neue Städte in dichter Bebauung in der Stilmischung der Postmoderne, mit Parkanlagen und Stadtzentren. Ein neuer Rand entstand, doch meist waren diese neuen Städte nicht für die unteren Einkommensschichten und Arbeitslosen gebaut. Nun musste die Mittelklasse Paris verlassen, weil auch sie die Mieten nicht mehr bezahlen konnte. Die Entwicklung von Paris zu einer Metropole für Politik und Ökonomie, für Bildung und Wissenschaft, nicht zuletzt auch für den Tourismus – die Zahl der Touristen pro Einwohner ist hier die höchste der Welt – erzwang und förderte die Entwicklung neuer Ränder. Durch 123
die Menschen, die die Stadt verlassen mussten und nun nicht mehr in ihr leben, hat die Stadt sich selbst verändert. Die Menschen am Rand zählen nicht mehr als Pariser, aber sie kommen in die Stadt – mal als Kellner und Busfahrer, mal als Professor, mal als arbeitslose Jugendliche und Taschendiebe. Die Korrespondenz zwischen Innen und Außen findet sich in der einen oder anderen Form überall. Barcelona zum Beispiel: Innen ein neuer Bahnhof, gerühmte Plätze, eine neue Hafencity. Draußen in den Karsttälern, die sich zur Meseta hochziehen, die mit dem wenigen Geld: Sozialblocks neben Schnellstraßen, Zementfabrik und Tankzentren.
Fünfte Randbemerkung: Glücksränder und städtische Dörfer Würde man nur die Vorstädte des sozialen Wohnungsbaus in Paris, Madrid oder Hamburg betrachten, so würde man die projektive und reale Besetzung des Randes zumindest in Mitteleuropa, Teilen Westeuropas und den Vereinigten Staaten aus den Augen verlieren. Für viele Städter sind nicht die Urbanität, sondern das Siedeln und die Siedlung vor der Stadt Ziel des Lebens. Der nächtliche Anflug auf Berlin bot noch in den 90er Jahren einen für Mitteleuropa einmaligen Anblick: ein Lichtteller mit klarer Grenze. Die Begrenzung Westberlins auf der einen Seite und die Planungspolitik im Osten hatten dem Wunsch der meisten Berliner nach einem eigenen Haus im Grünen enge Grenzen gesetzt. Die Westberliner wichen nach Möglichkeit in das Wendland oder die nordhessischen Mittelgebirge aus, die Ostberliner suchten nach einem Wochenendhäuschen in den Märkischen Wäldern. Nach der „Öffnung“ sprengte der Wunsch nach dem Lebensglück im eigenen Haus die Stadt. Der Rand zentrifugiert in das Umland. In wenigen Jahren wird Berlin, wie alle anderen deutschen Städte, von einem Siedlungsrand umgeben sein. Es ist nicht nur das eigene Haus und der damit verbundene Wunsch nach Selbstbestimmtheit des Wohnens, sondern der Lebensstil, der in diesem Rand seinen Ort findet. Hier lassen sich Kinder gesund groß ziehen, hier kann man sich dem Garten widmen, das Haus aus- und vor allem umbauen, eine eigene Werkstatt einrichten. Hier steht die Übersichtlichkeit der Nachbarschaft gegen die Undurchsichtigkeit der großen Stadt. Auf der Straße und in den Gärten zeigt sich Ordnung. Probleme und Chaos bleiben innerhalb der eigenen vier Wände. Seit etlichen Jahren zieht sich um diesen Rand ein zweiter. Der Kranz von Dörfern wurde urbanisiert. Ländliche Stadthäuser und städtisch modernisierte Bauernhäuser zeigen einen neuen Lebensstil des Siedelns an. Man liebt das Ambiente des Dorfes und einen Freizeitstil, der raumgreifend ist. Pferde124
koppeln, Bauernhöfe wie amerikanische Ranchs mit weiß gestrichenen Fences von den normalen landwirtschaftlichen Betrieben unterschieden, Badevergnügen und die Versorgung im Bauernladen sind Elemente dieses Lebensstils. Die symbolische Distanz zur Stadt wird durch eine hohe kommunikative Verflechtung mit ihr ergänzt. Wie stark diese Tendenz ist, kann man an dem Umbau mancher Dörfer erkennen. Ehrgeizige Bürgermeister haben die Modernisierung der 70er Jahre rückgängig gemacht: Statt einer breiten Durchgangsstraße eine Dorfgasse mit Boulevardcharakter, statt abgehängter Fassaden wieder Fachwerk, offen fließende Bäche und gestaltete Furten, Naturschwimmbad und Tennisplatz, Konzerte im Klosterhof (Ipsen 1997).
Abb. 21: Ranch bei Kassel
Sechste Randbemerkung: Mit und ohne Hoffnung Favelas sind weit über Südamerika hinaus zu einem Begriff für das Elend der Stadtränder geworden. Und ohne jeden Zweifel sind die sich über Quadratkilometer hinziehenden oder an den Berghängen klebenden Hütten Orte bitterer Armut und psychischen Elends. Und dennoch würde man diese Ränder nicht verstehen, würde man nur diese Seite sehen. Favelas sind nicht nur Ränder der Verzweiflung, sondern auch Ränder der Hoffnung. Sie sind Orte des Aufstiegs und des Abstieg und gleichzeitig Netze von Solidarität und Anomie. In ihrer 125
Dialektik und der spezifischen Mischung spiegelt sich Erfolg und Misserfolg der Megastädte, deren Rand sie sind. Nicht weit vom Flughafen von Porto Allegre ganz im Süden Brasiliens leben Hunderte von Frauen mit ihren Kindern, von ihren Männern verlassen oder in schierer Hoffnungslosigkeit in elenden Hütten. Mit kommunaler kirchlicher Unterstützung bauten hier mehrere Dutzend Frauen eine Sortierstelle für Abfall auf: getrennt wird Plastik, Metall, Glas und Papier. Die Einnahmen decken Lohn und Krankenversicherung ab. Wer selbst krank wird oder sich um seine Kinder kümmern muss, steht nicht ohne Einkommen da. Gefährdet sind die Einkommen durch Müllexporte aus Europa. Von den dortigen Konsumenten über das duale System finanziert, kann der sortierte Müll billig exportiert werden. Wie lange kann der Drehpunkt der Hoffnung ökonomisch existieren? Am Rand wird die Randlage der ganzen Stadt am schnellsten wirksam. Die Ästhetik der selbstgebauten Hütten und Häuser ist interessant und in manchen Fällen reif für eine Architekturzeitschrift, doch das wichtigste ist: Es sind nicht nur Häuser gebaut worden, sondern eine Stadt. Die Mimesis sortiert das technisch und ästhetisch Überzeugende von dem weniger Guten. So entsteht ein Stil in aller Vielfalt. Die Erschließung der Stadt folgt der Topographie, das heißt den alten Wegen oder dem Raster. Alle drei Formen ergeben sich für die Bewohner als nahe liegend und führen so zu einem Muster des Raumes. In Teilen der Favela sind die Häuser größer, die Gärten sind zur Zierde angelegt, der Weg mit Asphalt oder der Staub durch Wasser gebunden. Andere Teile haben kleine Hütten, zwischen denen verrostete Autos stehen – soziale Differenzierung innerhalb einer Favela und zwischen ihnen und den schon gefestigten Stadtteilen.
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Abb. 22: Brasilien, Porto Allegre
Dass selbstgeplante und gebaute Stadtteile nicht nur als Problem, sondern auch als Laboratorium des Städtebaus gesehen werden können, ist den meisten Planern fremd und geradezu peinlich. Der Rand verbindet sich mit Gefahr, Unordnung und Armut. Dass die Menschen nur vom Rand her in die urbane Gesellschaft integriert werden können und dass die Städte aus den Rändern ihre Vitalität beziehen, wird ausgeblendet.
Siebte Randbemerkung: Städte wachsen durch den Rand Dass wachsende Städte immer von Neuem Ränder hervorbringen, ist nicht weiter verwunderlich. Wo sollte die wachsende Bevölkerung denn hin? Wenn die innere Verdichtung ausgeschöpft ist, bleibt nur die Fläche außerhalb des Randes. Die These lautet anders: In den meisten wachsenden Städten der Welt sind die Planung und die formelle Ökonomie eher schwach, die Selbstregulation dagegen stark ausgeprägt. Selbstregulation heißt zum einen: Selbst machen, nicht machen lassen. Zum anderen bedeutet es: Sich aktiv mit den Anderen abzustimmen und die Interessen auszugleichen. Zudem gehört es dazu, den Kontakt zur Politik und Planung aktiv zu gestalten. Der Kern der Selbstregulati127
on sind die Ränder der Stadt. Von dort und nicht vom Zentrum gehen die ökonomischen, sozialen und kulturellen Impulse aus, die nicht allein das Wachstum der Städte, sondern die Entwicklung des urbanen Lebensstils generieren. Um dieser Vermutung nachzugehen, sammelten wir über mehrere Jahre empirisches Material in Athen, später folgten Recherchen in Madrid, São Paulo, Istanbul und Kairo. Doch zunächst nach Athen: „Die Ränder von Athen sind die Orte, wo Wildnis oder attisches Bauernland in urbanen Raum verwandelt werden. Hier vermittelt sich Tradition und Moderne zur Struktur der nachmodernen Stadt. Hirten lassen dort immer noch ihre Schafe weiden oder beteiligen sich recht erfolgreich an der Bodenspekulation. Andere bauen daneben ein kleines Sommerhaus, um der Hitze Athens zu entgehen. Wege werden angelegt, Fabriken entstehen, Oliven werden geerntet. Wie entsteht aus all dem die Stadt? Wer baut die für Athen typischen sechsstöckigen Häuser, die man inmitten dieser ‚neuen Wildnis’ ja schon sieht und hört? Wie kommt es zu Straßen, zur Wasserversorgung, zu Licht, zu Schulen, zu Läden? Kurz: Wer baut die Stadt und wie?“ (Chtouris, Heidenreich, Ipsen 1993: S. 7).
Wichtig ist nicht, dass die Zuwanderer von den Inseln oder Kleinasien hier Hütten und kleine Häuser bauten und bauen, sondern dass es keinen Bebauungsplan gibt. Das heißt, dass jedes Haus hier illegal steht. Zwar gibt es in Griechenland (und auch in einer Reihe anderer Länder) ein Gesetz, das besagt, dass Häuser, die über Nacht gebaut werden, nicht durch die Polizei einfach wieder abgerissen werden können. Dennoch bleibt der Aufenthalt unsicher. Man kann Land illegal und billig erwerben oder muss, wenn es sich um Staatsland handelt, gar nichts bezahlen. So können die Migranten das wenige Ersparte in Baumaterialien anlegen. Mit den Jahren wird dieses kleine Haus etwas solider angelegt, eventuell wird ein Obergeschoss gebaut, der Garten entsteht, in einer kleinen Halle wird etwas produziert, was man in der Stadt zu verkaufen hofft. Die Stromgesellschaft kümmert sich nicht um die Legalität einer Siedlung, sie will Strom verkaufen. So kann man sich mit den Nachbarn zusammenschließen und eine Stromleitung finanzieren. Auch die Wasserversorgung ist privat, zunächst gibt es nur eine Leitung mit Wasseruhren entlang des Weges. Später erfolgt die Verlegung auf das Grundstück. Um die Wege einigermaßen befahrbar zu machen und den Zugang zum eigenen Grund offen zu halten, muss man sich mit den Nachbarn zusammen tun. Man mietet gemeinsam einen Caterpillar und baut die Wege aus. Ist die Siedlung groß genug geworden, macht der erste einen Kiosk auf. Hier gibt es etwas zu trinken und die Kleinigkeiten, die man zum Leben braucht. Der Kioskbetreiber pflanzt aus Geschäftstüchtigkeit zwei Bäume, Schatten erhöht den Konsum. Um den Periptero entwickelt sich ein kleiner Platz. Aktive Nachbarschaften gründen nun einen Nachbarschaftsverein und wählen einen „Bürgermeister“. Er bekommt sein Gehalt von allen Vereinsmitgliedern und soll vor allem den Kontakt zu den Behörden und der Politik her128
stellen. Je näher die Wahlen rücken, desto dringlicher wird es mit den Politikern zu reden. Sollte der Rand nicht in einen Entwicklungsplan aufgenommen oder doch wenigsten eine Buslinie eröffnet werden? Dringlich wird nun auch eine Schule. Dies wird sich noch einige Jahre hinziehen und nur Schritt für Schritt realisieren lassen. Kein Politiker will sich dem Verdacht aussetzen, er habe ein elementares Interesse daran, den „Illegalen“ entgegen zu kommen. Wenn allerdings die Schulbehörde schon eine Schule gebaut hat, wird es leichter. Man kann über das Faktische nicht einfach hinwegschauen. Irgendwann ist es soweit: Die legale Stadt ist schon fühlbar nah an die illegale herangerückt, das Straßensystem muss angepasst werden. Das Gebiet wird in den Plan aufgenommen. Damit beginnt die zweite Stufe der Stadtwerdung. Die Grundstückspreise ziehen erheblich an. Man muss sich bemühen alle frühen Kaufverträge rechtskräftig zu formulieren und in das Kataster eintragen zu lassen. Dann kann sich das System der „Gegengabe“ (Antiparochie) entfalten. Die nunmehr legalen Besitzer von Grund und Boden tun sich mit einem kleinen Bauunternehmen zusammen. Die Besitzer bringen den erhöhten Grundstückswert ein, der Bauunternehmer seine Leistung: Arbeit und Material. Je nach der Höhe des Grundstückspreises bekommt der Eigentümer zwei, drei oder mehr Wohnungen in dem neuen sechsstöckigen Gebäude, der Bauunternehmer bekommt die anderen Wohnungen. Durch ihren Verkauf entsteht sein Gewinn und die Deckung der Kosten. Der Eigentümer kann eine Wohnung für seine Kinder reservieren und in der Zwischenzeit vermieten, die anderen kann er verkaufen, um so seinen Lebensstandard zu erhöhen oder in sein Geschäft zu investieren. In all den Jahren haben sich die Bewohner mehr und mehr von ihrem ländlichen Lebensstil emanzipiert, allerdings haben die meisten nie den Kontakt abgebrochen und beziehen ihr Olivenöl und Wein noch immer aus ihrem Dorf. Doch man wohnt nun nicht mehr im Erdgeschoss, sondern im fünften Stock, die Kinder gehen aufs Gymnasium und werden ein eigenes Büro aufmachen oder in dem Geschäft ihres Onkels arbeiten. Rundherum geschieht das Gleiche: Die Stadt wird dichter und dichter, in den Erdgeschossen machen Tavernen, Läden und Werkstätten auf, der Periptero ist größer und schöner gebaut, die Bäume geben dem Platz breiten Schatten.
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Abb. 23, 24, 25: Athen
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In gewisser Hinsicht ist der Prozess, wie man ihn aus den Beobachtungen in Athen gewinnen kann, ein Idealtypus der selbstregulierten Stadtentwicklung. In Istanbul findet man viele Ähnlichkeiten zum asiatischen Rand, im Westen dagegen baut der Staat und große Bauunternehmer die Stadterweiterung. In Madrid wurden die selbstgebauten Dörfer der Landarbeiter aus Andalusien und der Estremadura am südlichen Rand vollständig abgerissen. Die Bewohner wurden in Blocks umgesiedelt, die der Staat von privaten Unternehmern errichten ließ. In Kairo findet man aus den Zeiten von Nasser staatliche sozialistische Stadterweiterungen. Heute sind dies öffentlich subventionierte private Bauunternehmer, die für die Mittelschicht die Stadt bauen. Zugleich gab und gibt es selbstregulierte Urbanisierung, die in Stadtteilen wie Shubra vom Rand zur Stadt geworden sind. So bleibt der Rand in vielen Städten der Welt ein bedeutsames Zentrum der Stadtentwicklung und kulturellen Urbanisierung.
Achte Randbemerkung: Orte des Metabolismus Über die Ränder, an denen sich die neue Infrastruktur des 19. Jahrhunderts befand – Wasserwerke, Kläranlagen, Gasproduktion – wurde schon gesprochen. Und es wurde darauf verwiesen, dass es diese Innovationen waren, durch die sich die moderne Stadt als technisch-administratives System entwickeln konnte. Heute kann man diese Ränder unter einem anderen Blickwinkel betrachten. In die Städte werden große Mengen von wertvollen Stoffen importiert, in ihnen auf irgendeine Weise benutzt und als Stoffe mit geringerem Wert oder als belastete Stoffe exportiert. Es ist der Metabolismus der Städte, der die Rückkoppelungen verursacht, die man gemeinhin Umweltprobleme nennt: Belastete Luft, belastete Gewässer, große Deponien außerhalb der Städte auf der einen Seite und eine beschleunigte Ausbeutung der natürlichen Ressourcen auf der anderen. Der größte Stoffstrom ist das Wasser und hier kann man die Belastung am einfachsten erkennen. Ein Besuch bei dem Wasserwerk, das die Stadt mit Trinkwasser versorgt und eine anschließende Besichtigung des Klärwerkes werfen all die Fragen auf, die mit dem technisch-administrativen System Stadt zusammenhängen.
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Neunte Randbemerkung: Wenn schon nicht alles, aber Vieles wird Rand Bei Fahrten durch das Ruhrgebiet kann man den Eindruck gewinnen, sich nur durch Ränder zu bewegen. Doch man findet es vieler Orts: Immer mehr wird Rand. Quert man das Rhein-Main-Gebiet, so kann man sich ohne Mühe nur in Rändern bewegen. Ähnlich ist dies zwischen Mailand und den Alpen oder im Veneto. Demnach ist der Eindruck falsch, es handele sich um die gleichen Ränder, über die bislang gesprochen wurde. Gemeinsam ist ihnen die Unbestimmtheit, doch fehlt den neuen Rändern die Korrespondenz: Auf welche Stadt beziehen sie sich. Was entspricht welchem anderen Teil? Vielleicht ist es so, dass der Wert des Randes erkannt wird: Seine Leistung als Brücke zwischen dem Einen und dem Anderen, als anarchischer Handlungsraum, als Potential und Abfall. Und vielleicht machen sich Planer an die Aufgabe, Ränder zu erstellen. Der Regionalpark Rhein-Main ist ein solcher Versuch: Er ist ein Band, das sich durch das Rheintal schlängelt und Orte signiert. Hier haben Bildhauer Skulpturen erstellt, dort wird ein alter Wachturm angelaufen, andernorts steht eine Pyramide, die den Blick auf die Hochhaus-Skyline von Frankfurt fasst. Es sind schöne Orte, die das Band verbindet. Viele nutzen den Weg, um sich an einem schönen Sonntag zu erholen und einen Blick auf ihre Region zu werfen. Wenn es ein Rand ist, dann korrespondiert er als Freizeit-Sport-Erholungsraum mit den wahrnehmungsreduzierten Arbeitsplätzen des Alltags. Seine Funktion ist ästhetisch, kontemplativ, auf keinen Fall anarchisch. Der Eindruck, man bewege sich heute mehr und mehr durch Ränder Tom Sieverts beobachtete dies als die Entstehung von Zwischenstädten - mag damit zusammenhängen, dass sich in manchen Regionen der westlichen Welt ein neuer Siedlungstyp entwickelt: Dieser Typ hat eher die Form eines Netzwerkes und sich wesentlich als ein Raum von Fließgrößen begreifen lässt. Fließgrößen sind Informationen, Menschen, Aktivitäten, Güter, Stoffe, Energie. Wenn diese neuen Stadträume entstehen sollten, dann werden die Ränder an den Verdünnungszonen der Netzwerke entstehen und einen anderen Charakter haben. Der Neurologe Singer hat die Funktionsweise von Städten mit denen eines Gehirns in Beziehung gesetzt. Das Gehirn bestehe nicht aus fixen Zonen, sondern Koordinationszentren, die sich wechselseitig ersetzten und in diesem Sinn multipel sind. Vielleicht sind die Ränder dann die Bereiche, in denen sich die Ersatznetze und Koordinationen anlagern, die man nicht mehr oder noch nicht braucht: Steuerungsränder.
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Die Ränder und die Theorie der Stadt Sicherlich kann es keine Theorie des Randes geben, sondern nur funktionale oder ästhetische oder politische Beschreibungen. Dennoch steht der Blick auf den Rand in einem Zusammenhang zur Theorie der Stadt oder man müsste eher sagen: Zu einer Theorie städtischer Dynamik. Die Stadttheorie, die im Chicago des 19. Jahrhunderts formuliert wurde, ging von einem sozialökologischen Modell aus, das zwischen Innen und Außen in mehreren Ringen seine Dynamik der Landnutzung entfaltete. Im Zentrum entwickelte sich das Geschäftsleben, diesen Bereich umlagerte eine Zone der Migranten und des Subproletariats, der Rand war in diesem Modell Wohngebiet der Mittelschichten. Über Infiltration, Sukzession und die Wechsel sozial-kultureller Dominanzen blieb das System ständig in Bewegung. Diese Theorie ist so oft kritisiert, verworfen und bestätigt worden, dass an dieser Stelle nur so viel gesagt werden muss: Hier wird das erste Mal die Dynamik der Stadt in der Spannung zwischen Innen und Außen gesehen. Auch Ansätze der viel später entwickelten Feldtheorie lassen sich erkennen. Das Verhältnis der Ränder zur Dynamik der Stadt haben wir als Korrespondenzen bezeichnet. Drei solcher Entsprechungen sind besonders wichtig: Erstens: Der Rand spiegelt die zentralen Prinzipien der Stadt. Wo diese nach Ordnung verlangt, gebiert der Rand Unordnung. Wo diese eine hohe Regulationsdichte verlangt, verdünnt sie sich am Rand. Wo die Stadt soziale und funktionale Zonen schafft, überlagert der Rand die Elemente dieser Zonen. Vielleicht entspricht dies ein wenig dem, was Foucault Heterotopien genannt hat. Der Betonung der Vitalität entspricht der Friedhof, der Freiheit des Eigentums das Gefängnis. Auf der anderen Seite wäre eine solche Entsprechung eher formal. Der Rand ist eher Freiheit. Das bewirkt bei dem Beobachter Entlastung und Neugier, aber auch Angst und Gedanken an Flucht. Zweitens: Die Stadt entledigt sich am Rand der im Moment unbrauchbaren Elemente. Elemente, das sind Dinge, Funktionen, Menschen. Der Rand bietet eine Entlastung der Gegenwart und zugleich Potential noch nicht erkannter Verwertung. Dabei wird er selbst belastet, das bewirkt die Melancholie bei den Beobachtern des Randes. Drittens: In der Korrespondenz zwischen Stadt und Rand wird das Prinzip der modernen Stadt am deutlichsten: All that is solid, melts into air. Während sich die inneren Teile der Stadt verfestigen und gegen den Wandel stemmen können, ist der Rand verwundbar. Jede Veränderung kann, ohne mit Widerstand zu rechnen, auf ihn zugreifen. Was heute ist, ist morgen anders. Das bewirkt bei dem Beobachter die Leichtigkeit, das Heitere. 133
Insgesamt verbirgt sich in den Korrespondenzen von Rand und Stadt eine Dialektik der Modernisierung, die sich zwischen Differenzierung und Überlagerung, Verwertung und Entwertung, Veränderung und Persistenz bewegt.
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7 Poetische Orte und regionale Entwicklung
Die Schaffung lokaler oder regionaler Identität ist in vielen Ländern Europas zu einer zentralen Aufgabe von Politik und Planung geworden. Während sich die Praxis der Schaffung von räumlicher Identität in den 80er Jahren noch ausschließlich auf periphere ländliche Regionen bezog, ist das Identitätsmanagement schon seit geraumer Zeit auch in Städten und Stadtregionen zu finden. Die innere Stadterneuerung in Frankfurt hat sich mit dem Umbau des Römers und der Oper auf die Schaffung eines neuen Stadtbildes bezogen, das Identität nach innen und Image nach außen bewirken sollte. Der Entwurf prägnanter Gebäude, die Neugestaltung von Plätzen, die Aktionen von Künstlern oder das Design neuer Landschaften sind das Handwerkzeug der Identitätsplanung. Ich möchte in diesem Rahmen zwei Aspekte oder Fragen diskutieren: Erstens: Was bezweckt diese Planung? Was will man erreichen? Und zweitens: Mit welchen Mechanismen soll dieses Ziel erreicht werden? Welche Faktoren steuern diesen Prozess?
Raum und Identität Bevor man sich diesen Fragen zuwenden kann, soll in aller Kürze darauf hingewiesen werden, wie sich Räume auf die Identitätsbildung einzelner Individuen beziehen. Ich knüpfe damit an einen Aufsatz an, der sich vornehmlich der Frage stellte, welchen Beitrag Räume für die Identitätsbildung von Personen leisten können (Ipsen 1999). Der Bezug zwischen der Identität der Menschen und der Bedeutung des Raumes hängt von der Bedeutungskraft eines Raumes ab. Es gibt relativ bedeutungsleere Räume, die keinen eigenen Namen haben, die in kleine und kleinste Teile gegliedert und so von außen nicht erfahrbar sind, deren Geschichtlichkeit sich nicht in kollektiven Erfahrungen und allgemein geteilten Symbolen niederschlägt. Demgegenüber gibt es bedeutungsstarke Räume, deren Wirkung weit über die eigentlichen Raumgrenzen hinausreicht. 135
Zum anderen ist die Identität in ihrem Gehalt dadurch bestimmt, wie die Einstellung des Einzelnen oder bestimmter sozialer Gruppen zu den Bedeutungen eines Raumes ist. Man kann die Bedeutung eines Raumes zu seiner Sache machen, dann ist die räumliche Identität positiv, man kann sie aber auch ablehnen, dann ist sie negativ. Identität spannt sich also in einem zweidimensionalen Raum auf: sie kann stark oder schwach sein, positiv oder negativ. Nimmt man nun noch ein Raumraster hinzu und unterscheidet zwischen Nahräumen und Fernräumen, auf die sich die Identität beziehen kann, so ergibt sich insgesamt der Ausprägungsraum räumlicher Identität. Es wäre also denkbar, dass sich im Nahraum eine negative Identität mit einer niedrigen Ausprägung vorfindet und gleichsam kompensatorisch eine hohe positive Identifikation mit einem Fernraum. Unter bestimmten Bedingungen kann die räumliche Identifikation transferiert werden. So wissen wir, dass in dem Maße, in dem sich das Allgäu von einem Armenhaus zu einer für den Tourismus attraktiven Landschaft wandelte, sich immer größere Räume dem Allgäu hinzurechnen. Auf der anderen Seite lässt sich Identität aus benachbarten oder übergeordneten Räumen beziehen: Ich bin Bayer. Ich bin Deutscher. Ich bin Europäer. Der Transfer von Bedeutung und die damit verbundenen Identifikationsangebote können von kleinen Regionen nach außen stattfinden (induktiver Transfer) oder von übergeordneten Räumen auf Regionen übergehen (deduktiver Transfer). Wie man sich vorstellen kann, sind Transfer und Kompensation für die Entwicklung bestimmter Räume von großer Bedeutung. Dies muss sich dabei keineswegs immer in politischen Ideologien, wie einem ausgeprägten Nationalismus niederschlagen, auch Umfang und Richtung des Tourismus können Ausdruck von Transfer- und Kompensationsbewegungen sein.
Abb. 26: Ausprägungen räumlicher Identität
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Die Ursachen für Transfer und Kompensation liegt u. E. in der Position, die ein Raum im Modernisierungsprozess einnimmt. Der Modernisierungsprozess bestimmt die Randlage oder Zentralität eines konkreten Raumes, durch ihn werden Modernisierungsbrüche und Modernisierungsschocks ausgelöst. Man kann auch sagen, dass die kulturelle Bedeutung eines Raumes wesentlich durch die Stellung des Raumes im Modernisierungsprozess bestimmt ist. Je mehr eine Region im Kernbereich eines jeweiligen Modernisierungsschubs liegt, desto leichter lassen sich Identitätsangebote produzieren und akzeptieren. Positive und negative Identität, Bedeutungsstärke und Bedeutungsschwäche werden durch den Referenzraum bestimmt, der nicht beliebig ist, sondern sich durch seinen Status im Modernisierungsprozess ergibt. Die Zentren der in einer Zeit dominanten Modernisierung verändern sich geographisch, so dass sich das Statusgefüge der Regionen in einem ständigen Fluss befindet. Gerade in Übergangsphasen entwickeln sich vielfältige Anstrengungen im jeweiligen Kernbereich der Modernisierung zu liegen. Es entstehen Gegenmodelle und Umbewertungen. Wahrscheinlich ist gerade die Frage der räumlichen Identität besonders aktuell. Wenn man von dem Beitrag spricht, den ein Raum für die Identität einer Person hat, so sprechen wir über die Beziehung, die der Raum, in der eine Person lebt, zu anderen Räumen hat, auf die sich die Person oder im Sinne eines kollektiven Bewusstseins alle Personen eines Raumes beziehen. Wenn man von Identitätspolitik oder Planung sprechen, so meint man implizit, dass durch eine bestimmte Maßnahme die Relation zwischen dem lebensweltlichen Raum und dem Bezugsraum zu Gunsten des lebensweltlichen Raumes verbessert werden soll. Wenn die ehemaligen Tagebaue der Lausitz zu einer Seenplatte werden sollen, so ist mal explizit, mal implizit die Mecklenburger Seenplatte der Bezugspunkt. Nicht immer besteht der Bezug zu einem Referenzraum in einem einfachen Transfer von Bedeutungen. Der Bezug zwischen dem eigenen Raum und dem Bezugsraum kann einen Dialog entfalten, der die Eigenart des eigenen Raumes akzentuiert, in dem man ihn von dem Bezugsraum bewusst absetzt. Der Beitrag den ein Raum für die Identitätsbildung auf der personellen Ebene leistet, ist also immer in einem Referenzsystem zu sehen, in dem sich der eigene Raum heraushebt und als bevorzugt oder benachteiligt erfahren wird. An diesem Punkt können wir uns den beiden Fragen dieses Kapitels zuwenden. Zunächst: Was wollen oder sollen die Identitätsangebote (unterstellt sie werden als solche wahrgenommen) erzeugen, was soll eine auf einen bestimmten Raum bezogene Identität in diesem Raum bewirken?
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Die unternehmende Region Die Antwort auf die Frage: Was soll Identität bewirken?, scheint auf den ersten Blick einfach. Die lokale oder regionale Identität der Bewohner einer Region soll die Entwicklung eines Raumes positiv beeinflussen. Hinter dieser einfachen Aussage steht nicht nur ein komplexes Bündel von Zielen, sondern implizit eine Theorie des raumwirksamen Handelns. Bleiben wir zunächst bei den Zielsetzungen. Die Zielsetzung der Programme und Aktionen zur regionalen Entwicklung sind fast nie im engen Sinn oder ausschließlich ökonomisch gefasst, auch wenn die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Erhöhung der regionalen Wertschöpfung wichtige Bestandteile sind. Das Programm zur ländlichen Regionalentwicklung in Hessen strebt wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt in den Regionen an. Zudem soll die Selbstverantwortung und die Motivation der BürgerInnen gestärkt werden. Auch die Zielsetzung der Internationalen Bauausstellung Emscherpark oder des Regionalparks Rhein-Main weist auf diese Breite hin. Sucht man das Allgemeine in der breiten Fächerung der Ziele, so ist es die Förderung und Hebung vielfältiger und dezentraler Aktivitäten, die als ein Zusammenhang wechselseitiger Impulse gesehen werden kann. Der Begriff der „unternehmenden Region“ deutet an, dass die regionale Entwicklungsplanung sowohl auf die Aktivierung und Förderung wirtschaftlicher Unternehmen zielt, sich aber gleichzeitig an Organisationen und Personen wendet, die soziale, kulturelle oder ökologische Ziele verfolgen. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Effektivität und die Innovationskraft der Ökonomie langfristig von der Einbettung in soziale Systeme, kulturelle Deutungsleistungen und einem nachhaltig regulierten Naturverhältnis abhängen. Grundsätzlich baut diese Vorstellung auf der These von Max Weber auf, dass der Kapitalismus ohne das kulturelle Deutungssystem und die damit verbundenen Solidaritäts- und Kontrollformen nicht entstanden sei. Regionale Entwicklung ist in diesem Sinne immer interdependente Entwicklung. Entsprechend breit ist die sektorale Verteilung der geförderten Projekte. Am Beispiel des Ländlichen Regionalprogramms in Hessen zeigt sich, dass Ökonomie im engeren Sinne nur ein gutes Drittel der Projekte auf sich vereint, während die Mehrzahl der Projekte in einer Vielzahl von Bereichen von der Kultur bis zur Planung angesiedelt sind. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es keine ökonomischen Effekte gäbe. Sie sind sogar beachtlich: durch die Förderung wurden ohne alle indirekten Effekte 1.141 Vollarbeitsplätze geschaffen.
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Durchschnittlich hat jeder Vollarbeitsplatz dabei Euro 7.500 an öffentlichen Mitteln gekostet (Ipsen u.a. 1999). In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass die Auswirkungen des Programms auf den Arbeitsmarkt deshalb zustande kommen, weil es sich um ein breites interdependentes Zielbündel handelt.
Sektorale Projekte
Verteilung
der
Absolut
%
Infrastruktur
56
6.4
Kultur
121
13.8
Landwirtschaft
64
7.3
Tourismus
168
19.1
Handwerk
37
4.2
Energie
8
0.9
Bildung
43
4.9
Naturschutz
8
0.9
Dienstleistung
161
18.3
Soziales
23
2.6
Gewerbe
52
5.9
Konzepte
136
15.5
Insgesamt
878
100
Tab. 04: Sektorale Verteilung der geförderten Projekte im Hessischen Ländlichen Regionalprogramm zwischen 1992 und 1998
Die unternehmende Region ist nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass sich die „Unternehmung“ auf verschiedene Handlungsfelder und Sektoren bezieht, sondern eine Vielzahl von Personengruppen beteiligt ist. Das sind zunächst einmal Familien und Freundesgruppen, kleine Unternehmen oder ad hoc Gruppen, die sich um eine Projektidee bilden. Wenn man aber von einer unternehmenden Region spricht, so meint man nicht einzelne Initiativen, die ihnen selbst zum Nutzen gereicht. Eine unternehmende Region bezieht sich auf ein Milieu und eine Atmosphäre des Engagements, das durchaus persönlichen Interessen und 139
Nutzenkalkülen folgt, aber darüber hinausgehende Wirkungen hat. Putnam spricht von sozialem Kapital, das in einer Region vorhanden ist. Er meint damit ein System von Vereinen und Zirkeln, nachbarschaftlichen Treffen und Aktionen des bürgerlichen Engagements, durch das eine horizontale Verknüpfung einzelner Netzwerke entsteht. So entwickelt sich ein reziprokes System des Vertrauens, das sich positiv auf die Effizienz des Handelns auswirkt (Putnam 1993). Die horizontale Verknüpfung von Netzwerken stellt sich nicht von selbst ein. Eher kann man erwarten, dass sich einzelne Haushalte bzw. Familien, Freundesgruppen, Mitglieder von Organisationen oder Vereinen gegenseitig abschotten, sich möglicherweise aktiv distanzieren und schließlich gar nicht mehr in Kontakt zueinander treten. Missgunst und Konkurrenz oder die einfache Abstimmung innerhalb homogener Gruppen können eine Tendenz zur sozialen Segmentierung und schließlich Versäulung nach sich ziehen. Die regionale Integration erfolgt dann nicht horizontal, sondern vertikal. Putman verweist in diesem Zusammenhang auf die Rolle des Klientelsystems und die der Kirche in Süditalien. In Mitteleuropa wird die vertikale Integration durch die öffentliche Verwaltung und die gewählte Politik bzw. die Parteien, die hinter der Politik stehen, geleistet. In jedem Fall ist die vertikale Integration selektiv und eher formal; der Steuerungsanspruch lässt Selbstregulation und Eigeninitiative eher nicht aufkommen. Wie aber lässt sich eine horizontale Integration fördern? Wir vermuten, dass wir die Antwort auf diese Frage auf einer symbolischen Ebene finden und folgen damit einer geübten Praxis soziologischen Denkens.
Poetische Orte, räumliche Identität und horizontale Integration Symbole sind Ausdruck gemeinsam geteilter, kollektiver Überzeugungssysteme. Religiöse Überzeugungen und politische Weltanschauungen sind eine Ausdrucksform. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich durch sie heute eine regionale Integration bewerkstelligen lässt. Die Modernisierung der Gesellschaft hat zu einer erheblichen Ausdifferenzierung geführt, die regional homogene Überzeugungssysteme kaum zulässt. Zudem sind gerade Religion und Politik in der Regel hierarchisch organisiert und werden erschweren vermutlich eine horizontale Integration. Eine andere Form symbolischer Integration ist die Sprache. Der schwäbische Werbespot „Wir können alles, nur kein Hochdeutsch“ spielt mit der Integrationskraft der Sprache. Die gemeinsame Sprache, der gemeinsame Dialekt integriert horizontal, da die Sprache selbstgeneriert und selbstreguliert ist. Nur in ihrer Verschriftlichung greifen vertikale Institutionen wie die Schule und die Erlasse von Sprachgremien ein. Mittlerweile halten sich Dialekte aber 140
nur noch relativ großräumig. Die Sprache einzelner Kleinregionen ist zunehmend verschwunden, da die Bevölkerung zu heterogen ist. In größeren Einheiten wie Altbayern, Schwaben oder Kurhessen halten sich Dialekte als Färbung und Melodie der Sprache, in die sich jeder einbringen kann, auch wenn er Deutsch als zweite Sprache erlernt. Für die eher kleinteiligen Regionen, die hier interessieren, ist die Sprache nicht der geeignete Integrationsmechanismus. Wir schlagen deshalb vor, in Regionen nach Orten zu suchen, mit denen sich Menschen identifizieren, weil sie Ausdruck, Zeichen und Symbol einer Region sind. Indem sich die Identität auf einen Ort bezieht, erhält sie eine geographische Dimension. Allerdings muss dieser Ort bestimmte Bedingungen aufweisen, damit er als Symbol für eine Region wirksam werden und vermittelt über Identifikation zur horizontalen Integration beitragen kann. Die Eigenschaften lassen sich von der gewünschten Wirkung ableiten. Erstens: Der Ort muss in der Lage sein, den Raum, auf den er sich als Symbol bezieht, kenntlich zu machen. Auf das Problem der Wahrnehmbarkeit des Raumes hat die Arbeit von Sieverts hingewiesen und eine breite Diskussion entfacht (Sieverts 1997). Die dort formulierte Suche nach Bildern, die eine veränderte Raumwirklichkeit strukturieren, ist seit geraumer Zeit in die Praxis der Planung eingedrungen. Häufig arbeiten dabei Planer und Künstler zusammen. Im Rahmen des Regionalparks Rhein-Main schuf der Bildhauer Hubert Maier eine Skulptur, die als Metapher für die Suche nach Bildern und die Erkennbarkeit des Raumes interpretiert werden kann. Die „Himmelsleiter“ leitet den Blick durch vier Fenster und einen offenen Abschluss in die Landschaft des Rheintals und zeigt so die Ausschnitthaftigkeit des Raumes. Bilder strukturieren das Ganze eines Raumes durch Ausschnitte.
Abb. 27: Skulptur im Rhein-Main-Park
141
Zweitens: Der Ort muss besonders sein, damit er sich von anderen Orten unterscheidet und ebenso die Region, auf die er sich bezieht, unterscheidbar macht. Damit ist gesagt, dass die Schaffung von Freizeitparks und Thermen sehr wohl die Attraktivität eines Ortes oder einer Region steigern können, aber nicht einen besonderen Ort hervorbringen, da sie nach einem standardisierten Muster geschaffen werden. Es ist gerade diese Bedingung, die häufig traditionelle Orte als „besonders“ erscheinen lassen. Nicht selten werden dabei landschaftliche Eigenheiten und kulturelle Formung zusammen auftreten. Die Schlösser Ludwig II. besonders aber Neuschwanstein wirken durch das Zusammenspiel von dramatischer landschaftlicher Exposition und außergewöhnlicher Architektur. Eine zunehmende Zahl von Besuchern wird von der Besonderheit Neuschwansteins angezogen. Eine kürzlich fertiggestellte „musical hall“ versucht die Ausstrahlung des Ortes zu spiegeln und ein weiteres Mal künstlerisch und kommerziell zu verwerten. Allerdings wird an diesem Beispiel deutlich, dass das Besondere zur Reproduktion drängt, wenn viele davon angezogen werden.
Abb. 28: Schloss Neuschwanstein
Drittens: Das wahrscheinlich wichtigste Kriterium ist, dass der Ort eine Ausstrahlung haben muss, die sich der Reproduzierbarkeit entzieht. Es ist nicht notwendig, dass die Ausstrahlung wie in dem Fall Neuschwansteins bis nach Japan reicht. Die Reichweite muss nur die Region selbst und die angrenzenden Räume erreichen, um nach innen integrativ zu wirken. Man kann die Auswirkung, die sich von einem bestimmten Ort nicht lösen lässt, die sich der Reproduktion entzieht oder im Falle der Reproduktion die Ausstrahlung verliert, poe142
tisch nennen. Der poetische Ort ist gemacht, gewollt, gesetzt und zwar dort wo er ist. Das hat er mit heiligen Orten gemeinsam, die ihre Weihe nur räumlich gebunden besaßen. Dass ein Ort Charakter hat, besagt, dass er „eingegraben“ ist. „Das griechische Wort Charakter (das Eingegrabene) bezog sich ursprünglich auf den Mann, der Geräte schärfte und deshalb wusste, wie man auf Holz, Stein oder Messing Zeichen einritzen konnte.“ (Krause 1999). Der räumlichen Verfestigung des poetischen Ortes entspricht eine zeitliche „Versetzung“, die man in Anlehnung an die Wortprägung von Foucault Heterochron nennen kann. Der poetische Ort geht nicht mit dem Zeitgeist, sondern spiegelt sein Gegenüber. Er verweist zugleich auf Vergangenheit und Zukunft. Es ist diese scheinbare Zeitlosigkeit, die seine Ausstrahlung und Atmosphäre ausmacht. Nur so kann der Ort für längere Zeit eine Region integrieren, nur so kann sich die Identität dem ständigen Fluss der Ereignisse entziehen. Es ist keineswegs so, dass nur traditionelle Orte diesen Eigenschaften entsprechen. Ferropolis in den Abraumlöchern südlich von Dessau mit seinen Kränen und Baggern hat für Einheimische wie Fremde eine Ausstrahlungskraft, der man sich nur schwerlich entziehen kann. Dieser Ort – im Rahmen des Projekts „Industrielles Gartenreich“ erdacht und von der EXPO realisiert – könnte in der Lage sein, diese Region neu und aufs Neue zu integrieren.
Abb. 29: Ferropolis
Die Hypothese, die diese Gedankengänge leitet, lässt sich recht einfach formulieren: Die unternehmende Region ist das Modell einer integrierten Entwicklung. Die Ökonomie ist eingebettet in kulturelle, soziale und ökologische Akti143
vitäten. Getragen werden die „Unternehmungen“ zumindest sehr stark von dem Engagement einzelner Gruppierungen, die horizontal vernetzt sind. Die horizontale Integration gelingt nur, wenn sich die Bewohner einer Region mit diesem Raum identifizieren können, um so neben ihren eigenen Interessen und Fähigkeiten die Synergieeffekte und die Effizienz einer Vernetzung der unterschiedlichen Menschen und Gruppen nutzen zu können. Die horizontale Integration ist das Ergebnis einer symbolischen Vermittlung und Zentrierung eines Raumes als ein gemeinsames Handlungsfeld. Poetische Orte können in sehr differenzierten Regionen einen wichtigen Beitrag zur horizontalen Integration leisten. Ihre Leistung besteht in der Unterstützung der Erfahrbarkeit des Raumes, in der Abgrenzung des eigenen Raumes von anderen Räumen und die Ausstrahlung des Ortes, die eine Standardisierung und Reproduktion erschweren. Zugleich stellt der Ort das zeitliche Innehalten dar (Heterochron). Soweit die Theorie, doch trägt sie zur Praxis regionaler Planung bei? Ist das „Machen“ poetischer Orte überhaupt möglich?
Die Machbarkeit Poetischer Orte Dass poetische Orte gemacht sind, steht außer Frage, dennoch könnte man sich darauf einlassen, sie seien einfach da oder immer schon gewesen. Die Verselbstständigung des Ortes gehört zu seiner Wirkung. In Wirklichkeit ist wohl das Gegenteil richtig. Die Suche nach dem Standort, der Entwurf und die Erstellung eines poetischen Ortes beruhen auf einem „introvertierten“ oder öffentlich geführten Dialog, bei dem die Entwerfer des Ortes mehr als sonst üblich die Erwartungen derer aufnehmen, die auf das Angebot der Poesie eingehen sollen. In einem ständigen Prozess der Annäherung und der Entfernung entsteht der poetische Ort in der Weise, dass er gerade noch durch die Codes des Alltags entschlüsselt werden kann, sich ihm aber zugleich entzieht. Am Beispiel des Valmarecchia, das sich östlich von Rimini in den Appenin zieht, wird die Gestaltbildung solcher Orte deutlich. Roland Günter, der die Geschichte der Entstehung poetischer Orte in diesem Tal aufgezeichnet hat, schildert die Entstehung der Poesie an und durch das Verhältnis zweier Männer (Günter 1998). Tonino Guerra ist in dem Tal geboren, hat jedoch sein berufliches Feld in Rom gefunden. Er arbeitet als Drehbuchautor für Antonioni und Fellini. Doch er verliert den Kontakt zu seinem konkreten Ort, dem Marecchia Tal nicht. Er fördert den heimischen Dialekt, er diskutiert mit dem Bürgermeister, indem er sieben Botschaften als Plakate aushängt. Er legt einen Pfad der Gedanken an. So entfaltet sich die Idee der poetischen Orte. Der zweite ist Gi144
anni Giannini. Sein Beruf ist Friseur und vielleicht übernimmt er deshalb die Rolle der Person, die alles Konkrete im und über das Tal weiß. Als Frisör kennt er alle Leute kennt und besorgt was gebraucht wird. Eigentlich ist er ein Entdecker des Tals, streift er doch frühmorgens über die Hügel und klamme Bachtäler, sucht Blumen und Steine. Der Dialog der beiden Männer weitet sich aus. Die Kenntnisse des Ortes verbinden sich mit weltweiten Ideen. Sie bereiten den Boden für den Entwurf einer Vielzahl poetischer Orte. Das Tal, das vom Strukturwandel besonders betroffen ist und zu einem Ort der Abwanderung und des Verfalls geworden ist, findet sich in diesen Orten wieder. Nicht das Alte kommt zurück, sondern neue Häuser, Arbeitsplätze, Gasthöfe, Fremde. Nehmen wir einen anderen Fall. Die Gemeinde Alheim in Nordhessen. Die Gemeinde und ihr Gebiet hat wenig Besonderes an sich. Wie bei den Nachbargemeinden verstreuen sich die Dörfer in den Seitentälern der Mittelgebirgslandschaft. Vielleicht haben sich gerade deshalb viele BürgerInnen auf den Weg gemacht, das Kleine als das Besondere zu entdecken. Wie schreibt doch Guerra: „Das Reisebuch, das ich bevorzuge, ist nicht in der Weise nützlich wie jene, die dich dazu bringen, die großen Dinge zu sehen. Dieses Reisebuch ist eines, das dich eher zu den Überresten einer verlassenen Kirche trägt oder zu einer alten Bank, einem Blatt, zu etwas Kleinem“ (Günter 1998: S. 15). Was geschieht in Alheim? Ein Fremdenverkehrsentwicklungsplan verwandelt sich unter den Händen von einem knappen Hundert aktiver BürgerInnen in einen Plan zur Wahrnehmung der eigenen Landschaft. Orte, die die Geschichte der Landschaft deutlich machen, werden miteinander verbunden. Es wurde ein alter Bergwerksstollen erschlossen, ein Bach für eine Entdeckungsreise des Wassers gestaltet, Kunstobjekte nach vielen und kontroversen Diskussionen von einer Gruppe gestaltet und platziert. Aufbauen können diese Aktivitäten auf einer Vielzahl herkömmlicher Vereine und einiger neuer Initiativen. Das Ergebnis sind zwei EXPO-Projekte und ein beträchtlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen in einer Region, die ansonsten Arbeitsplätze verliert. Sicher lassen sich solche Konstellationen nicht verallgemeinern, aber sie zeigen einige allgemeine Hypothesen zu der Praxis poetischer Orte: Es gibt Dialoge zwischen der Innen- und Außensicht. Dabei gibt es ständig Auseinandersetzungen darüber, was einzelne Aktionen bezwecken, wie es „die Anderen“ auffassen und ob man sich nicht lächerlich macht. Es gibt des Weiteren eine Neigung, kleine Dinge Ernst zu nehmen und ihren Wert zu akzentuieren. Und schließlich ist es die Verbindung zu existierenden Netzwerken. Durch sie und in ihnen kann aus den Plänen Wirklichkeit werden. 145
Die unternehmende Region steuert nicht zielgerichtet die Förderung der Wirtschaft, der Kultur, der Ökologie an. Sie folgt den vorhandenen Interessen, reichert sie durch Dialoge an und verknüpft sie Schritt für Schritt zu einer neuenWirklichkeit und neuen Bilder.
146
8 Landschaft im Fluss: Panoramen und Modulare Landschaften
Themen haben bestimmte Konjunkturen und das Thema Landschaft hat seit einigen Jahren wieder Konjunktur. In Tagungen und Büchern tauchen Begriffe auf wie „Neue Landschaft“, „Weder Stadt noch Land“, „Urbane Landschaften“, „Die Brache als Chance“, „Mitten am Rand. Auf dem Weg von der Vorstadt über die Zwischenstadt zur regionalen Stadtlandschaft“ oder „Totale Landschaft“. In diesem Sinne ist der von Lucius Burckhardt geprägte Begriff der transitorischen Landschaft hoch aktuell (Burckhardt 1995: S. 165ff). Ich will den Versuch unternehmen, den Begriff „transitorische Landschaft“ auf unsere heutige Situation zu beziehen, einige theoretische Überlegungen hinzuzufügen und mit empirischen Ergebnissen zu konfrontieren. Dabei leitet uns die Vorstellung, dass es sich bei der Veränderung der Landschaften um einen Prozess handelt, der sich eng an gesellschaftliche Entwicklungen anlehnt. Die Diskussion über die Änderung von Landschaften und die Schlussfolgerungen für Politik und Planung sind zumeist zeitversetzt: Die Planung orientiert sich an Vergangenem, auch wenn sie noch so laut von der Zukunft zu sprechen vorgibt. Die These ist, dass sich die Entwicklung der Landschaft in den letzten 30 - 40 Jahren in Deutschland als eine Verflüssigung dualistischer Konzepte verstehen lässt. Nicht nur der Unterschied von Stadt und Land hat sich verflüssigt, auch die Vorstellung es gebe Städte und vor den Toren der Stadt die Landschaft, ist obsolet geworden. Es sind nicht nur die großen Industriebrachen in den Städten, die heute als Landschaft verstanden werden; sondern ganz generell wird von der Landschaft der Stadt gesprochen. Konzepte von Kulturlandschaft und sekundärer Wildnis verlieren ihre Gegensätzlichkeit. Neben den großen Panoramen als Sehweise von Landschaft, wie die Kreidefelsen auf Rügen oder den Blick von Fiesole auf Florenz, treten Raummodule auf, in denen sich Gegensätzliches schichtet oder vernetzt. Ein kurzer Blick zurück erleichtert, die Debatte über Landschaft und den Prozess der Landschaftsveränderung zu verstehen. 1977 veröffentlicht Lucius Burckhardt einen Artikel, in dem es ihm darum geht, den semiotischen Charakter von Landschaft zu betonen. „Der Naive kann die Landschaft nicht 147
sehen, denn er hat ihre Sprache nicht gelernt.“ (Burckhardt 1985: S. 206). Naiv war der Bauer, der in sein Stück Land existentiell so verwurzelt war, dass er nur schwer einen distanzierten und somit ästhetischen Blick auf seine Umgebung werfen konnte. Dass diese These relativiert werden muss, wurde schon gesagt. Man könnte sie aber auch verallgemeinern. Die Änderungen, die die mitteleuropäische Landschaft in den letzten 50 Jahren erfahren hat, die Veränderungen des ländlichen und des städtischen Raumes durch Rationalisierung und Geometrisierung, durch Zonierung und Monokulturen wurde von Vielen bis heute noch nicht ästhetisch verarbeitet. In der Freizeit besuchen die Meisten Städte und Landschaften, die zumindest scheinbar aus der Vormoderne stammen. Die Welt der Bilder, an denen wir uns orientieren, steht in einem eklatanten Widerspruch zu den Umwelten, in denen wir uns alltäglich bewegen und bewegen wollen.
Abb. 30: Der Weiler Abgunst in Nordhessen als Modell moderner Landschaft
Die ausgeräumte Flur des Weilers Abgunst hier in Nordhessen war es der Gruppe der Modernisierer wert, sie als Modelllandschaft auf der Weltausstellung in Brüssel zu präsentieren. Andere empfanden dies als eine ausgeräumte Kulturlandschaft, als Verlust an ästhetischem Reichtum und ökologischer Vielfalt. Die Entwicklung von Vorstädten wird von Vielen bei der Suche nach Geborgenheit vorangetrieben. Oft bewerten die gleichen Vorstadtbewohner die Vorstädte als Wucherung, als Zersiedlung von Landschaft. Die modernen Landschaften wurden als Verlust empfunden. Im Denkstil der Zeit wurde für diese Verlusterfahrung der Kapitalismus zur Verantwortung gezogen. Sätze wie „Auf Grund kommerzieller Verwertung wird Landschaft zum kommerziellen Arkadien“ (Wormbs 1978, S. 15) oder „Oberbayern blieb vorläufig Landschaft, die Umge148
bung von Gelsenkirchen nicht.“ (a.a.O, S. 56) kennzeichnen Verlust und Entfremdung von Landschaft und begründen dies im Sinne von Marx mit der Komodifizierung, der Tendenz alles und jeden als Ware zu behandeln. Es ist sicherlich nicht falsch, den Kapitalismus schlechthin als wichtige Kraft in der Veränderung von Landschaften zu identifizieren. Dennoch ist es nützlich, sich daran zu erinnern, dass der Kapitalismus in sich widersprüchlich ist und zugleich recht unterschiedliche Formen annimmt, die sich zu bestimmten Phasen der Modernisierung verdichten. In der damaligen Debatte riefen viele nach Naturschutz, um zu retten, was zu retten war. Auf diese gesellschaftliche Debatte, die zeitnah den Denkmalschutz zum Thema hatte, reagierte Burckhardt.
Die Theorie der transitorischen Landschaft und was sie uns heute bedeutet Auf dem Höhepunkt der Ökologisierung von Landschaft, gießt Lucius Burckhardt Wasser in den Wein. Er schreibt: „Die Landschaft aber ändert sich offensichtlich. Wenn wir die Landschaft schützen sollen, wissen wir nicht, was wir festhalten sollen. […] Wir haben es mit zwei gleitenden Phänomenen zu tun: Die Realität ändert sich und zugleich der Begriffsapparat, der sie bestimmen soll.“ (Burckhardt o.J., S. 65f).
Die Theorie der transitorischen Landschaft versperrt einfache Lösungen. Der Begriff oder man kann auch sagen das Bild von Landschaft ändert sich und die Realität als Nutzung und Materialität eines Raumausschnittes ändern sich auch. Begriff und Realität von Landschaft sind sicherlich aufeinander bezogen, aber keineswegs identisch. Wenn wir Landschaftsentwicklung untersuchen, tun wir gut daran beides getrennt zu betrachten. Es kann sich der Begriff von Landschaft verändern, aber die Materialität von Landschaft nicht. Und es kann sich die Realität von Landschaft ändern, das Bild aber nicht. Machen wir aus diesen Überlegungen ein kleines Gedankenexperiment. Wenn sich Begriff und Realität von Landschaft in gleichen Schritten verändern, so könnte man dies ein ‚synchrones Landschaftskonzept‘ nennen. Wenn die Akteure, die den Weiler Abgunst und seine Flur auf die Weltausstellung brachten, diese Landschaft so beschreiben: „Harmonisch gliedert sich der Weiler Abgunst in die Landschaft ein“, so ist dies ein synchrones Konzept. Die Änderung der Materialität der Landschaft wird ästhetisch positiv bewertet, um ein neues Landschaftsbild zu erzeugen. Man merkt aber schon, dass dieser Synchronisierung etwas anhängen kann, was in der Psychologie Rationalisierung oder Dissonanzreduktion genannt wird. Weil man sich für eine moderne Landwirtschaft entschieden hat, bewertet man die reale Landschaft, die so entsteht, 149
positiv. Synchronität muss aber nicht mit solchen Formen der Rationalisierung einhergehen. Man erkennt den Charakter der Synchronität leicht, wenn man nach Begründungen für ein ästhetisches Urteil sucht, also nach einer intellektuell differenzierten Ästhetik. Je weniger Begründungen man findet, desto eher handelt es sich um eine Dissonanzreduktion. Viel eher wird man auf den anderen Fall stoßen: Die Realität der Landschaft ändert sich, der Begriff und das Bild von ihr aber nicht. Wir entschlüsseln die Realität mit Zeichen und Begriffen, die ihr nicht entsprechen. Von vielen wird dies als eine kritische Position begriffen. Indem man alte Begriffe von Landschaft verwendet, um neue Landschaften zu beschreiben und zu bewerten, wird das Neue als Verlust empfunden. Die Kritik speist sich aus dieser Verlusterfahrung. Wenn man Wiesen und Weiden, Äcker und Wälder als Konzept der Landschaft hat, empfindet man eine Siedlung inmitten von Wiesen und Weiden als Zersiedlung. Es fehlt ein neuer Begriff für eine neue Landschaft. Man kann die Bewertung von neuen Landschaften mit Begriffen und Bildern einer vergangenen Landschaft als regressiv bezeichnen. Wir greifen auf Muster zurück und wollen das Gewohnte retten, indem wir die Veränderungen ästhetisch entwerten, statt sie zunächst einmal zu verstehen. Wir kennen diese gedankliche Struktur übrigens aus der Großstadtkritik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Da man in der Großstadt die dörfliche Gemeinschaft nicht mehr finden konnte, empfand man die Großstadt als kalt, gefährlich und unmoralisch. Bei der Anwendung alter Konzepte auf neu entstandenen materiellen Landschaften werden des Öfteren Argumente ins Feld geführt, die sich nicht auf Begriffe, Bilder oder ein ästhetisches Urteil beziehen, sondern im Gegenstand selbst die Störung identifizieren, die man als Verlust empfindet. Es wird nicht der Verlust eines Landschaftskonzepts selbst beklagt, sondern ein Landschaftsschaden benannt. Früher fand man dies häufiger in ökologischen Argumentationsketten. Wenn man von Umweltverschmutzung redete, so sagte man implizit, das Schöne sei zugleich auch ökologisch wertvoll. Der Ökologe Peter Finke schrieb allerdings schon 1986: „Es besteht häufig eine erhebliche Diskrepanz zwischen landläufigen Bewertungen von Landschaft als schön, reizvoll ... oder kaputt und ihrem tatsächlichen Wert aus landschaftsökologischer Sicht“ (Finke 1986: S. 278). Auch bei dem Typ des regressiven Landschaftskonzepts findet man also psychologische Fallen. Es gibt sich nicht einfach als konservatives Konzept zu erkennen, sondern rationalisiert und verkleidet sich als kritisch und fortschrittlich. Im dritten Fall werden Begriffe und Bilder von Landschaft verändert, während die Realität relativ geringen oder auch keinen Veränderungen unterliegt. Dies scheint mir die verborgene Philosophie der Internationalen Bauausstellung Emscherpark gewesen zu sein und findet sich heute bei der Internatio150
nalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land wieder. Man kann die Halden längst still gelegter Bergwerke, die Brachen von Stahlwerken, den zum Abwasserkanal transformierten Fluss, die durch den Abbau von Braunkohle entstandenen riesigen Löcher nicht sanieren, man konnte sie nur mit hohen Kosten beseitigen. Also ändert man den Landschaftsbegriff: Aus der Emscherzone wird der Emscherpark, aus der Halde wird durch einen Tetraeder ein Aussichtsberg, aus den rostenden Resten eines Stahlwerks ein industrieller Park.
Abb. 31: Tetraeder Bottrop
Dies kann ein imaginäres Konzept sein, im Sinne von Baudrillard eine Agonie des Realen. Das muss aber nicht der Fall sein. Als mit dem Bau der Bahnlinie von Wien nach Triest das erste Mal die Alpen ohne Mühsal erklommen werden konnten und Landschaft als schöne Wildnis von den Massen (und nicht nur englischen Pionieralpinisten) entdeckt werden konnte, hat sich an der realen Landschaft zunächst wenig geändert. Die Alpen blieben ja die Alpen. Aber schon bald entwickelten sich Hotels und Ferienhäuser, Wanderwege und Berghütten, Kuhglocken wurden zu Souvenirs und der Zillertaler zur Leitfigur des urigen und guten Wilden. Mit anderen Worten: Das Imaginäre kann visionär 151
sein, und dadurch einschneidende Wirkungen auf die reale Landschaft entfalten und so die Realität dem Imaginären anpassen. Es steckt allerdings in diesem Typ der Landschaftskonstruktion auch die Gefahr nicht nur imaginär zu bleiben, sondern das Imaginäre mit der Realität gleichzusetzen oder zumindest zu verwechseln. Nicht nur im Begriff selbst steckt Image als Wortstamm, sondern in der Sache.
Abb. 32: Modi der Veränderungen von Bild und Materialität
Die Verflüssigung der Landschaft oder warum wir uns so schwer tun, die heutigen Landschaften zu verstehen In seinem Aufsatz die „Totale Landschaft“ beschreibt der Historiker Sieferle einen stetig zunehmenden Prozess der Auflösung lokaler Formen und Strukturen der Landschaft. Die Verbilligung und Beschleunigung des Transportes von Materialien, Energie und Ideen macht es seit über einem Jahrhundert möglich, so gut wie alles überall zu bauen und anzubauen. Altes wird abgerissen oder entkernt und mit Neuem gefüllt. Formen aus allen Teilen der Welt sind kombinierbar. Ein gutes Beispiel dafür sind Spaßbäder und Thermen. Hier findet man japanische Stil- und Philosophieelemente neben den Imitaten des Tropenwaldes, Bilder der finnischen Tundra und Heuwagen der alteuropäischen Bauernkultur. Dieser Mix wurde schon vor Jahren von einer japanischen Investorengruppe als attraktiv erkannt und so steht nun in Japan eine Kopie der Kasseler Therme. 152
Diese Prozesse beschreibt Sieferle als Verflüssigung von Form und Material, von Bild und Realität. Mit seinem Begriff der Zwischenstadt hat Thomas Sieverts eine lebhafte Debatte über verflüssigte Landschaften aufgegriffen und angeregt. In dem Projekt „Mitten am Rand“ arbeiten PlanerInnen und SozialwissenschaftlerInnen daran, wie sich die verflüssigte urbane Landschaft mit neuen Bildern begreifen lässt. An der ETH Zürich haben Peter Bacchini, Professur für Stoffhaushalt, und Franz Oswald, Professor für Städtebau, zusammengefunden, um mit dem Konzept der Netzstadt die urbanen Landschaften zu verstehen und, wenn es denn gelingt, planend zu gestalten. Was ist das Problem mit diesen Landschaften? Das Problem lässt sich mit der Theorie der transitorischen Landschaft zumindest leicht benennen: Man hat den Begriff der Landschaft, das Bild der Landschaft verloren. Dahinter steckt eine theoretische wie eine praktische Schwierigkeit. Theoretisch ist das moderne Bild der Landschaft eng mit Beschleunigung der Mobilität verbunden. Mit der Eisenbahnreise entsteht ein Bild der Landschaft, das sich nicht mehr auf Einzelheiten konzentriert, sondern das große Ganze als Panorama begreift. Landschaft entsteht aus dem Fernblick, um bei schneller Bewegung Bilder zu konstruieren. Dies kann man aber nicht beliebig tun, sondern nur dann, wenn großräumige Akzentuierungen der räumlichen Umwelt plausibel sind. Gerade die urbanen Landschaften bestehen aber aus einer Vielzahl heterogener Elemente, die unverbunden neben und übereinander existieren. Das Stück Restacker, gestreute Siedlungselemente, Fabrikhallen und Möbelhäuser, Verkehrswege und Stromleitungen, Brachen und sekundäre Wildnis, Tennisplätze und Kläranlagen sind Streuelemente dieser Landschaften. Sie überlagern sich oder stoßen aufeinander, sind aber weder funktional noch ästhetisch vernetzt. Ich nenne diese Landschaft modular. Man kann ein Modul herausnehmen und durch ein anderes ersetzen, ohne das Ganze zu stören, denn das Ganze gibt es nicht. Es ist gerade diese Eigenschaft, die eine hohe Flexibilität garantiert und damit diese Landschaft für stets neue Nutzungsanforderung offen hält. Ansätze dieser modularen Landschaft finden sich nicht nur in den urbanen Regionen, sondern gleichermaßen in eher ländlichen Räumen. So mancher Berg in Mittelgebirgen lässt eine Vielzahl von Formen und Nutzungen zu. Man findet Almen, die ein Bauer von einer Rinderherde beweiden lässt; am Wochenende starten und landen hier Segelflieger, Wanderer besteigen die Vulkankegel und suchen (und finden) die panoramatische Landschaft; Hobbygruppen mit Modellflugzeugen besetzen die umlaufenden Höhenzüge; Naturliebhaber bestimmen die Pflanzen der Magerrasen, die als ehemalige Almenden von der Naturschutzbehörde von der Verbuschung offen gehalten werden; am Fuß des Berges hat sich ein Bauernhof in eine Pferderanch gewandelt. Welche Landschaft existiert 153
hier für wen? Die modulare Landschaft wird modular genutzt und von jedem Einzelnen vor dem Hintergund seiner Nutzungsinteressen begriffen. Landschaftsbegriffe und Landschaftsbilder entstehen durch Kommunikation. Sieferle schreibt von der kommunikativen Verdichtung, die Zeit braucht, um einen Begriff der Landschaft zu stabilisieren (Sieferle 2003). Das individualisierte Interesse hat weder die Zeit für eine derartige Verdichtung der Kommunikation noch wäre es darauf angewiesen. In dem Nutzungsmuster haben jeweils nur einzelne Module eine Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als sich die meisten schnell bewegen: Mit dem Flugzeug oder dem Mountainbike, als Jogger oder im Auto. Die schnelle Bewegung lässt den Blick auf das Einzelne nicht zu. Theoretisch handelt es sich demnach um ein Problem der Landschaftswahrnehmung. Mit einem alten panoramatischen Landschaftsbegriff lässt sich eine modulare Landschaft nur schwer begreifen. Ja man kann sagen, es besteht aus der Sicht der Nutzer auch keine Veranlassung, diesen Raumausschnitt als Ganzes mit einem Bild, im Sinne eines Raumbildes (Ipsen 1997), zu versehen. Aber was ist das praktische Problem, was interessiert Planer und Architekten an diesem Problem? Es gibt zwei Gruppen, für die das Ganze, also ein holistisches Konzept für die Wahrnehmung eines Raumausschnittes, eine Rolle spielt. Die erste Ebene ist die der Verwaltung. Die Verwaltung ist zuständig für Funktionen. Sie muss sich um die Wegebeziehung, den Wasserhaushalt, die Abfallentsorgung, die Energieversorgung, den Naturschutz, die Sicherheit und so weiter kümmern. In der Verwaltung gibt es die Rhein-Main-Region um Frankfurt und Wiesbaden. Die Verwaltung muss wissen, was diesen Raum im „innersten zusammenhält“, um die Funktion der Module zu gewährleisten. Die zweite Gruppe sind die Besucher und stellvertretend für sie die Architekten. Sie sind an der Ästhetik eines Raumes interessiert. Dafür ein Beispiel: Frankfurter Unternehmer waren sehr besorgt darüber, dass der Rhein-Main-Raum bei zahlreichen Geschäftspartnern kein Interesse hervorrief. Wenn es einen freien Tag gab, fragten sie nach Flugverbindungen, um schnell nach Kopenhagen oder Paris zu kommen. Wenn es freie Stunden waren, ging es um ein Abendessen in Heidelberg. Man ließ diese Erfahrungen mit einer Imagestudie absichern und sah sich in seiner Besorgnis bestätigt. Es ist für die wirtschaftliche Entwicklung einer Region nicht gut, wenn sie ein schlechtes Image hat, es ist noch schlechter, wenn sie gar kein Image hat. So kommt die Suche nach den Bildern der Landschaft in der Regel von oben. Politik und Verwaltung sind der Überzeugung, ihre Region brauche ein Bild. Planer und Architekten haben diese Aufgabe übernommen. So soll der Regionalpark Rhein-Main durch einen gestalteten Rundweg zu einer ästhetischen Endeckung der Region einladen. Die Bewohner der Region, die den Raum vornehmlich als modularisierte Landschaft erfahren und nutzen, nehmen 154
die Einladung an. Die schon realisierten Teile des Regionalparks Rhein-Main werden von Vielen für einen Sonntagsausflug genutzt. Besonders die Orte sind beliebt, die Aussichten, den Überblick oder Einblicke in das Verborgene ermöglichen. Man greift gerne zurück auf gewohnte Sichtweisen und bekannte Bilder. Dies gilt umso mehr, wenn sich das Panorama als eines von vielen Modulen der modularisierten Landschaft einpasst. Soziologen sagen, an und mit besonderen Orten entsteht regionale Identität. Man verspricht sich, dass mit der Identität der Wert einer Landschaft steigt und man sich deshalb mehr um diese Landschaft kümmert. Wir wissen natürlich nicht, ob dies zutrifft. Es könnte ja sein, dass in den Köpfen der Menschen die Landschaft modular ist und sie genau darin den Wert der Landschaft finden. Vielleicht ist es ja so, dass sich die heutigen Lebenskonzepte auf diese differenzierten und flexiblen Landschaftsstrukturen beziehen, sie schaffen und gerade dies ihr Begriff von Landschaft ist.
Die Landschaft im Kopf – empirisch gesehen Um der These nachzugehen, ob ein modularer Begriff von Landschaft existiert, haben wir in drei sehr unterschiedlichen Räumen Befragungen durchgeführt: In einem Gebiet mit einem ehemals umfassenden Abbau von Braunkohle und Energieerzeugung, der Niederlausitz in Brandenburg; in einer von Landwirtschaft, Kleingewerbe und Steinbrüchen geprägten Mittelgebirgslandschaft, Alheim in Nordhessen und in einer städtischen Landschaft mit ausgedehnten Seen, Wäldern, Siedlungen und einem historischen Altstadtkern, Spandau, ein Bezirk Berlins.
Abb. 33: Braunkohleabbaugebiet / Niederlausitz
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Abb. 34: Spuren des Bergbaus in Oberellenbach / Alheim
Abb. 35: Grimnitz See in Wilhelmstadt / Berlin-Spandau
Zunächst einmal kann man aufatmen. Nicht nur Planer und Wissenschaftler finden Landschaft wichtig, nein, sie bedeutet allen viel. Etwa 90% sprechen der Landschaft eine wesentliche Bedeutung zu. Bei der Begründung für diese Wertschätzung zeigen sich zwischen den untersuchten Landschaften deutliche Unterschiede. In der ehemaligen Tagebaulandschaft sind es die Freizeit, die Schönheit der Landschaft und der Tourismus, von dem sich manche eine Sicherung ihrer Existenz erhoffen. In der ländlich geprägten Gemeinde wird Landschaft als existentiell begriffen. Von ihr lebt man im übertragenen Sinn, auch wenn man kein Bauer ist. Freizeit und ästhetische Wertschätzung treten dort als Bedeutungen hinzu. In der urbanen Landschaft verschiebt sich das Landschaftskonzept ein weiteres Mal. Sie vermittelt hier Identität und ermöglicht eine Beziehung zur Natur. 156
Tab. 05: Gründe für die Bedeutung von Landschaft (Niederlausitz, Alheim, Berlin-Spandau)
Die Gründe, die für den Wert der Landschaft angegeben werden, zeigen schon in Ansätzen einen modularen Landschaftsbegriff. Die Bedeutung von Landschaft umfasst Natur und Ästhetik, Kultur und Wohlbefinden. Man kann nicht erwarten, dass die Menschen eine Theorie der Landschaft haben. Dass Landschaft transitorisch ist, dass man sie panoramatisch oder modular begreifen kann, wird zwar in den Antworten herauslesbar, ist aber nicht bewusst. Wir können sie aber danach fragen, welche Begriffe und damit auch welche Elemente für sie zur Landschaft gehören. Wir haben ihnen eine Liste mit Begriffen vorgelesen und danach gefragt, ob dies für sie ein wichtiger Begriff für Landschaft ist, ob er weniger wichtig ist oder gar nicht zur Landschaft gehört.
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Tab. 06: Landschaft als semantisches Feld (Niederlausitz, Alheim, Berlin-Spandau)
In allen drei doch recht unterschiedlichen Landschaften ist das semantische Feld ähnlich. Bei Naturelementen wie Wasser und Bäume als Begriffe, die Landschaft kennzeichnen, kann man von einem Konsens sprechen. Aber auch Dörfer, Straßen, Parkanlagen und Aussichtstürme, ja selbst Planungsprozesse und Institutionen wie die Feuerwehr sind deutlich mehrheitsfähig. Ob politische Parteien, Märchen, Städte, der Fischereiverband und Fabriken dazu gehören, da scheiden sich die Geister. In diesem Sinne kann man sagen, dass ein modulares Verständnis von Landschaft im Bewusstsein der Menschen eine Rolle spielt. Fragt man allerdings nach einer spontanen Assoziation, gibt man also keine Begriffe vor und fragt nur, was für sie zur Landschaft gehört – so wird die Begriffsvielfalt geringer und im Schwerpunkt auf Naturräume wie Wald und Gewässer oder gar Naturelemente wie Tiere und Blumen reduziert. Auch dies kann man noch als modularisiert bezeichnen, doch ist die Nähe von Landschaft zum Naturbegriff ausschlaggebend. Spontane Assoziationen kennzeichnen bei der Analyse semantischer Felder immer den oder die Kerne, um die sich weitere Elemente lagern. In konzentrischen Kreisen liegen um den Naturkern die gebauten Module der Landschaft, soziale und politische Organisationen bis hin zur Kultur, also den Geschichten, den Klängen, Abbildungen und Symbolen, die eine Landschaft prägen. 158
Abb. 36: Die Empirie des semantischen Feldes einer modularisierten Landschaft
Landschaft als ein modulares Konzept findet sich zumindest heute in den Köpfen der Menschen wider, aber hat es aus der Sicht ihrer Bewohner eine die Entwicklung der Landschaft steuernde Funktion? Entwickelt sich auf der Grundlage des modularen Konzepts eine Vorstellung über die zukünftige Richtung der Entwicklung, entstehen Möglichkeitsräume? In Landschaftskonferenzen haben wir in der Bergbaulandschaft und der urbanen Landschaft mit Bürgerinnen und Bürgern Bausteine für die Entwicklung der Landschaften in den nächsten 30 Jahren erarbeitet (Ipsen u.a. 2003). Aus der großen Zahl der Vorschläge für Szenarien wähle ich als Beispiel nur die aus, die sich unmittelbar auf das Erscheinungsbild von Landschaften beziehen. Die Arbeitsgruppen, die sich damit beschäftigten, entwarfen recht gegensätzliche Entwicklungsoptionen, die zwischen Wildnis und Park, Aufforstung und Vielfältigkeit liegen.
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Abb. 37: Erscheinungsbild der zukünftigen Landschaft (Bergbaulandschaft Niederlausitz)
Wo viele Wissenschaftler gerne anfangen würden, in sich konsistente, aber gegenläufige Szenarien zu entwickeln, wollten die beteiligten BürgerInnen die Widersprüche als solche zulassen. So und so könnte es doch auch gleichzeitig sein. In dieser Haltung, die wir bei der Arbeit in den Landschaftskonferenzen nicht nur einmal erlebt haben, findet für mich der Begriff von Landschaft als eine Mehrzahl von Modulen und damit auch ein modularisierbarer Landschaftsraum seinen praktischen Ausdruck.
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Resümee für den Planer in uns Theoretische Überlegungen und empirische Studien führen natürlich nicht unmittelbar zu Planungskonzepten und Entwurfsideen. Und doch könnten sie für alle, die im Gestrüpp der neuen Landschaften nach Gestalt und Halt suchen, eine Anregung anbieten. Ich ziehe daraus drei Schlussfolgerungen: Es könnte lohnend sein, in den urbanen Landschaften nach den Modulen zu suchen und nach den Wahrnehmungsweisen und Nutzungsformen, die mit ihnen verbunden sind. Es müssen nicht immer (oder eigentlich eher selten) „landmarks“ sein, die einen Raum als Landschaft kennzeichnet. „Landmarks“ setzen eher auf ein panomaratisches Landschaftskonzept: Das Ganze soll in einem Teil gebündelt werden. Sie sind entweder Metapher des Ganzen oder unmittelbare Kennzeichnung der Orte, von denen aus das Ganze sichtbar wird. Die Haldenglatze mit Tetraeder sind in der Ortswahl innovativ. Auf das Landschaftskonzept hin gedacht gleichen sie jedoch den vielen Hügeln mit Bismarckturm durch die sich das neu gegründete Deutsche Reich einen landschaftlichen Ausdruck zu geben suchte. Landschaftsmodule sind kleinteilig und an das alltägliche Leben gebunden, gerade sie glänzen nicht mit großen Gesten. Und dennoch: Diese Module lassen sich kennzeichnen, um so durch den Entwurf, die modulare Struktur durch eine semiotische zu ergänzen. Mit solchen Überlegungen kann man zum Beispiel in der rasant wachsenden Megacity des Pearl River Deltas im Süden von China aus ehemaligen Dörfern, neuen Brachen, Flussläufen, aus dem Begleitgrün der Autobahnen und der Folge von Fußgängerbrücken, aus Freizeitparks und Raststätten die urbane Landschaft in das Bewusstsein der Planer und Developer zurückholen. In den urbanen Landschaften ist eine notwendige Bedingung der Wahrnehmung von Landschaftsmodulen, die zeitlich-räumliche Entschleunigung der Mobilität. Gerade urbane Landschaften sind allerdings eher Fließräume, ihre Effizienz gründet sich in der Geschwindigkeit des Transportes von Gütern, Menschen, Stoffen und Informationen. Die Entschleunigung kann deshalb nur als Raummoment entworfen werden. An bestimmten Stellen, zu bestimmten Zeiten stehen die Angebote bereit, aus dem „space of flows“ auszusteigen. Ein Netz von Orten wäre zu entwerfen, das diese Raummomente der Entschleunigung kenntlich macht. Das können kleine Blickbeziehungen sein, Eingangstore, verkehrliche Nebenrouten, Fahrradwege, Raststätten und Gasthöfe, die durch Module Aufmerksamkeit auf sich ziehen und so Schritt für Schritt Bestandteile der „mental map“ einer Region werden. Es wurde bislang viel über urbane Landschaften gesprochen. Transitorisch sind aber auch die Landschaften des ländlichen Raumes. Keine Bewegung 161
ohne Gegenbewegung. Der Verflüssigung dualer Konzepte wie Stadt und Land könnte in den nächsten Jahren eine neue Verländlichung bestimmter Regionen gegenüberstehen. Die demographische Entwicklung wird in Europa mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu unterschiedlichen Raumdynamiken führen. Auf der einen Seite werden die urbanen Regionen durch Zuwanderung wachsen, auf der anderen Seite könnte sie zu Extensivierungen und neuen Peripherien führen. Natürlich muss man sich fragen: Welche Landschaften werden dort entstehen? In den erwähnten Landschaftskonferenzen wurde gerade in den Entleerungsräumen auffallend häufig eine Haltung deutlich: Lasst doch große und großzügige, leere Landschaften entstehen, denkt an Savannen, in denen Rinderherden weiden, an große Seen, in denen Eiweiß produziert wird, lasst in den Niederungen Moore zu, auch Wüsten sind möglich und Urwälder sind ohnehin in aller Munde. Vielleicht liegt hier in Zukunft der Gegenpol zu den modularisierten, urbanen Landschaften: Die Panoramen, der weite Blick, die große Geste.
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Schlussbemerkung
Wissenschaft selbst ist frei von Praxis. Wissenschaft klärt Vorbedingungen praktischen Handelns und kann Folgen diesen Handelns überprüfen. Sicherlich aber ist Wissenschaft von dem Wunsch geleitet, ihre Erkenntnis einer an Qualität orientierten Praxis zur Verfügung zu stellen, Fehler des praktischen Handelns zu vermeiden, insgesamt zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse beizutragen. In diesem Sinn beruhen alle Aussagen auf vorwissenschaftlichen Wertsetzungen. In diesem Buch klingt durch, dass Orte und Landschaft für die weitere räumliche Entwicklung sich modernisierender Gesellschaften von besonderer Bedeutung sind. Nach etlichen Jahrzehnten der Politik und Planung, die großes Gewicht auf Funktionalität und Rationalität gelegt haben, in denen die ästhetische Wahrnehmung zumindest nicht oder nur selten im Mittelpunkt stand, könnte das Plädoyer stehen: Städte und Regionen brauchen Orte und Landschaft. Beide dienen der Integration, wobei Kommunikation über Landschaft Voraussetzung und Ergebnis ist. Beide dienen der Verantwortung gegenüber einer zukunftsfähigen Entwicklung, weil sie Identifikation ermöglichen. In beiden Fällen tritt neben Gebrauch und Nutzen die Schönheit. Und doch würde dieser Standpunkt das eigentliche Problem übersehen: Der Komfort des modernen Lebens beruht in einem besonders hohen Maße auf der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, beruht auf den Alltag entlastendem Management in fast allen Lebensbereichen: Der Versorgung mit Wasser und Energie ohne eigenes Zutun, Mobilität ohne Mühsal, Lebensmittel in großer Vielfalt. Das Bedürfnis nach Offenheit, Kontakt und Erlebnis erzeugt einen großen Teil des Straßenverkehrs. Funktionsräume und Fließräume sind also ebenso wie Ort und Landschaft integrale Voraussetzungen der Lebenswelt. Die Aufgabe von Planung und der ihr vorgelagerten Politik ist zusammenzubringen, was Widerspruch erzeugt. Klar ist, dass es nicht um dekoratives Grün entlang von Straßen und Abwasserkanälen gehen kann und nicht um die Umgrünung eines Solarparks. Es geht um das Zusammenwirken von Ingenieurleistungen, Management und ästhetischer Gestaltung. Es geht darum, Energieproduktion und Ortsbildung, Gewerbe und Parkgestaltung, Landwirtschaft und Erholungslandschaft zusammen 163
zu denken. Es geht um die Entdeckung und Gestaltung von Ort und Landschaft „überall”. Es geht darum, das Paradigma der Zonierung hinter sich zu lassen und an simultanen Räumen zu arbeiten. Den Widerspruch zwischen Ortsraum und Fließraum gilt es als eine ästhetische Herausforderung zu begreifen. Dies werden die Professionellen alleine nicht bewerkstelligen können. Simultane Planung erzeugt Konflikte, geht gegen eingefahrene Erfahrungen an. Simultane Planung ist kommunikative Planung, sie benötigt die aktive Teilnahme der Bürgerschaft.
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