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English Pages 692 [709] Year 2005
Hermann Baier Frithjof Erdmann Rainer Holz Arno Waterstraat
Mit CD-ROM
Herausgeber
Freiraum und
Naturschutz Die Wirkungen von Störungen und Zerschneidungen in der Landschaft
123
Hermann Baier Frithjof Erdmann Rainer Holz Arno Waterstraat Freiraum und Naturschutz Die Wirkungen von Störungen und Zerschneidungen in der Landschaft
Hermann Baier Frithjof Erdmann Rainer Holz Arno Waterstraat (Hrsg.)
Freiraum und Naturschutz Die Wirkungen von Störungen und Zerschneidungen in der Landschaft Unter Mitarbeit von Reinhard Klenke, Mechthild Roth und Joachim Ulbricht sowie mit Beiträgen weiterer Autorinnen und Autoren
Mit 94 Abbildungen und einer CD-ROM
HERAUSGEBER Hermann Baier [email protected] Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Goldberger Straße 12 18273 Güstrow
Dr. Rainer Holz [email protected] Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Goldberger Straße 12 18273 Güstrow
Dr. Frithjof Erdmann [email protected] I.L.N. Greifswald, Institut für Landschaftsökologie und Naturschutz Am St. Georgsfeld 12 17489 Greifswald
Dr. Arno Waterstraat [email protected] Gesellschaft für Naturschutz und Landschaftsökologie e.V. Dorfstraße 31 17237 Kratzeburg
Mecklenburgische Endmoränenlandschaft bei Teterow. Foto Christof Herrmann Das "Verkehrsnetz" der Tiere: In Jahrzehnten ausgetretene Pfade großer Säugetiere (hier Rothirsch und Wildschwein) im Peenetalmoor bei Anklam (Mecklenburg-Vorpommern) widerspiegeln deren Raumnutzung. Luftbild ILV Wagner, Groitzsch Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 10 3-540-43940-4 Springer Berlin Heidelberg New York ISBN 13 978-3540-43940-0 Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006 Printed in The Netherlands Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: E. Kirchner, Heidelberg Herstellung: A. Oelschläger Satz: I.L.N. Greifswald (druckfertige Vorlage der Herausgeber) Gedruckt auf säurefreiem Papier 30/2132 AO 5 4 3 2 1 0
Vorwort Die ursprüngliche Motivation für dieses Buch geht auf ein Forschungsprojekt zurück, das nicht zuletzt durch die politischen Pläne zur verkehrsinfrastrukturellen Modernisierung Ostdeutschlands im Prozess der deutschen Vereinigung ausgelöst wurde. Inspiriert durch das reiche Tierleben des „Ostens“ und, ob der weitreichenden Pläne, zugleich beunruhigt über dessen Zukunftsaussichten, waren die Untersuchungen thematisch auf die „Funktion unzerschnittener störungsarmer Landschaftsräume für Wirbeltiere mit großen Raumansprüchen“ begrenzt. Wir konnten nicht ahnen, dass sich etwa zeitgleich eine breite fachliche und gesellschaftspolitische Debatte zum anthropogenen Flächenverbrauch und, damit verknüpft, die Suche nach einer neuen Flächenhaushaltspolitik auf ein Neues entfaltete, die in den siebziger und achtziger Jahren (auch nicht ohne historisches Vorbild) schon einmal geführt wurde. So erfreulich das ist, mit einem Forschungsthema im Fokus eines öffentlichen Interesses zu liegen, es brachte die Herausgeber in manche Verlegenheit. War es damit doch nötig geworden, möglichst aktuell auf der Höhe des Diskussionsstandes zu bleiben und über den seinerzeit gewählten Forschungsansatz hinaus praktisch bedeutsame inhaltliche Bezüge herzustellen, u.a. zu den weitreichenden Initiativen der Europäischen Union in der Raumordnung und im Naturschutz, zur Verkehrsplanung sowie zur sich ständig verändernden Rechtsmaterie. Zu unserem Bedauern ist darüber fast ebensoviel Zeit vergangen, wie für das eigentliche Forschungsprojekt. Um nicht Gefahr zu laufen – wie selbst bei manchen der Beteiligten – die anfänglichen Forschungsziele aus dem Auge zu verlieren, ist es uns wichtig, sie hier hervorzuheben: Die Erarbeitung von Grundlagen für eine naturschutzfachliche Beurteilung von Zerschneidungen und Störungen in der Landschaft. Die Ableitung von Umsetzungs- und Planungshilfen für Naturschutz und Raumordnung zur Reduzierung der Inanspruchnahme von unbebauten und unzerschnittenen Landschaftsräumen. Das Projekt hatte eine Laufzeit von 5 Jahren (1994–1999). Es wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert (Förderkennzeichen 0339541) und durch den Projektträger Biologie, Energie, Umwelt (BEO) des Forschungszentrums Jülich GmbH, Außenstelle Berlin, begleitet. Die Projektmitarbeiter, insbesondere diejenigen, die in diesem Rahmen Gelegenheit zur wissenschaftlichen Qualifizierung hatten, danken dem BMBF für die großzügige Unterstützung. Ein besonderer Dank geht an Frau Beate Schütze vom Projektträger BEO für ihren Einsatz zum Gelingen des Forschungsprojektes sowie für ihre Geduld bei der Fertigstellung dieses Buches. Die wissenschaftliche und technische Projektkoordinierung lag in den Händen von Dr. A. Waterstraat, Gesellschaft für Naturschutz und Landschaftsökologie e.V. Kratzeburg. Teilprojektkoordinatoren der geographischen, säugetierkundli-
VI chen, ornithologischen und ichthyologischen Schwerpunktthemen waren Prof. Dr. K. Billwitz, Prof. Dr. M. Roth, Dr. J. Ulbricht und Dr. H.-J. Spieß. Die Gesamtleitung hatte das Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie MecklenburgVorpommern. Am Forschungsprojekt waren nachstehende Forschungseinrichtungen, Büros und Vereine mit insgesamt ca. 70 Mitarbeitern beteiligt: Einrichtungen mit Teilprojekten1 Beringungszentrale Hiddensee Dr. Peter Friedrich, Dr. Ulrich Köppen Gesellschaft für Naturschutz und Landschaftsökologie e.V. (GNL), Kratzeburg Udo Binner, Andreas Hagenguth, Karin Jaede-Fischer, Dr. Reinhard Klenke, Martin Krappe, Dr. Hans-Jürgen Spieß, Dr. Joachim Ulbricht, Dr. Arno Waterstraat GTA Geoinformatik GmbH, Neubrandenburg Sabine Hoffmann I.L.N. Greifswald, Institut für Landschaftsökologie und Naturschutz Dr. Frithjof Erdmann Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie M-V (LUNG), Güstrow Hermann Baier, Dr. Ingbert Gans, Dr. Rainer Holz, Dr. Kathrin Lippert Salix-Büro für Landschaftsplanung, Waren Dr. Ugis Bergmanis, Dr. Bernd-Ulrich Meyburg, Dr. Wolfgang Scheller Technische Universität Dresden Dr. Holger Eichstädt, Prof. Dr. Mechthild Roth, Dr. Gerlinde Walliser Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle Dr. Karin Frank, Dr. Klaus Henle, Klaus Hertweck Universität Greifswald Prof. Dr. Konrad Billwitz, Thomas Kroschewski, Prof. Dr. Andreas Helbig, Ute Jann, Olaf Kappler, Dr. Ingrid Seibold, Dr. Wolfgang Weiß Universität Halle Markus Lange, Prof. Dr. Michael Stubbe, Dr. Matthias Weber Universität Heidelberg Dr. Arnd Schreiber, Peter Fakler Universität Rostock Dr. Ralf Bastrop, Prof. Dr. Klaus Janzen, Dr. Roland Lemcke, Elke PetersOstenberg, Dr. Helmut M. Winkler, Dr. Mathias Krech, Rudolf Pivarci Wildbiologische Gesellschaft München, Ettal Dr. Peter Pratje, Dr. Ilse Storch
1
Die Mitwirkenden werden in der während des Projektes gegebenen institutionellen Zugehörigkeit aufgeführt.
VII Mitwirkung durch Einzelbeiträge1 Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt, Neustrelitz Erik Borg Faunistische Arbeitsgemeinschaft, Schwerin Stefan Labes Förderverein Naturpark Nossentiner und Schwinzer Heide e.V., Karow Dr. Günter Nowald Institut für Geodatenverarbeitung, Hinrichshagen Dr. Karsten Buckmann, Ulf Gebhardt, Tim Hoffmann, Alexander Weidauer ZALF Müncheberg Dr. Gerd Lutze, Prof. Dr. Alfred Schultz, Marion Voss Universität Rostock, Juristische Fakultät Prof. Dr. Detlef Czybulka Staatliche Vogelschutzwarte Schleswig-Holstein, Kiel Bernd Struwe-Juhl UmweltPlan GmbH, Stralsund Dirk Müller Mitwirkung ohne institutionelle Bindung Peter Hauff, Neu Wandrum Neben den hier genannten gab es eine Anzahl von Beteiligten, die im Umfeld des Projekts zu dessen Gelingen beitrugen, so durch ihre Diplomarbeiten, Mitarbeit in Praktika oder auf ähnliche Weise. Die beiliegende CD enthält die Namen aller Beteiligten. Das Forschungsprojekt erhielt technische Unterstützung von zahlreichen ehrenamtlichen Organisationen und öffentlichen Einrichtungen, insbesondere durch Bereitstellung von Information. Zu diesen zählen die Ornithologische Arbeitsgemeinschaft Mecklenburg-Vorpommern, der BUND-Arbeitskreis Fischotterschutz Neubrandenburg, Fachgruppen des Naturschutzbundes Deutschland e.V., das Kranich-Informationszentrum Groß-Mohrdorf, mehrere Ministerien der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern und deren nachgeordnete Behörden, insbesondere das Umweltministerium und die Staatlichen Ämter für Umwelt und Natur sowie die unteren Naturschutzbehörden der Landkreise und kreisfreien Städte Mecklenburg-Vorpommerns, das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und die Ämter für Landwirtschaft, das Landesamt für Forsten und Großschutzgebiete und eine Anzahl von Forstämtern, die Ämter für Raumordnung und Landesplanung, das Landesamt für Straßenbau und Verkehr, das Geologische Landesamt (heute Teil des Landesamtes für Umwelt, Naturschutz und Geologie M-V), außerdem das Sächsische Landesamt für Umwelt und Geologie, das Landesamt für Natur und Umwelt Schleswig-Holstein, das State Nature Reserve Teiþi (Lettland), das Staatliche Museum für Naturkunde Görlitz, das Landesamt für den Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, das Instituut voor Bos- en Natuuronderzoek Wageningen (Niederlande; jetzt: Alterra B.V., Wageningen Universiteit & Researchcentrum) sowie das Institut für Fischerei Rostock der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei Mecklenburg-Vorpommern.
VIII Für die kritische Durchsicht sowie wertvolle Anregungen und Ergänzungen der Manuskripte möchten wir ganz besonders Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Haber danken. Ebenfalls wird Prof. Dr. Ulrich Hampicke sowie Dr. Ulrich Köppen für ihre Diskussionsbeiträge zu einigen Kapiteln gedankt. Wertvolle inhaltliche Hilfen und diskursive Anmerkungen lieferten Bernd Heinze und Bernd Ziese. Bildmaterial für das Buch wurde unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Technische Arbeitsbeiträge leisteten Margot Holz, Harald Karl und Christian Semrau bei der Erstellung der digitalen Karten und Thomas Jörg bei der Beschaffung von Literatur. Ein großer Teil der Schreibarbeiten lag in den Händen von Elke Stejskal. Als unermüdliche Korrekturleserin erwies sich Bettina Baier, die zudem verständnisfördernde Textanmerkungen beisteuerte. Beide haben dafür gesorgt, dass aus den Schriften Manuskripte entstehen konnten. Diesen und allen weiteren Beitragsleistenden möchten wir für ihre Mitwirkung herzlich danken. An der Erstellung des Buches haben auch Autorinnen und Autoren mitgewirkt, die am Forschungsprojekt nicht beteiligt waren, das Thema konnte dadurch umfassender behandelt werden. Die Herausgeber und Teilprojektkoordinatoren des Forschungsprojektes hoffen, dass es gelungen ist, den „roten Faden“ herzustellen. Der Wunsch der Herausgeber, Autorinnen und Autoren ist, mit dem Buch Anregungen für die weitere wissenschaftliche Durchdringung des Verhaltens von Tieren im Raum und der Entscheidungen von Menschen im Umgang mit dem (mit „seinem“) Raum, Anstöße für eine vertiefte gesellschaftliche Diskussion um die Rolle des Flächenhaushalts in der Nachhaltigkeitspolitik sowie Argumente und Vorschläge für den Schutz des landschaftlichen Freiraums zu liefern. Das Buch wendet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der biologischen, landschaftsökologischen und geographischen sowie weiterer Arbeitsbereiche Fachleute der Umweltverwaltung, Raumordnung, Bauleitplanung, Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Wasserwirtschaft und Verkehrsplanung aller Ebenen, der Flurneuordnung sowie an Fachleute von Ingenieur- und Planungsbüros in den Bereichen Landschaftsplanung, Bauleitplanung, Raumplanung und Verkehrsplanung.
H. Baier, F. Erdmann, R. Holz, A. Waterstraat
IX
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Baier, Hermann, Dipl.-Ing. Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern Goldberger Straße 12 18273 Güstrow E-Mail: [email protected] Behrens, Hermann, Prof. Dr. Fachgebiet Landschaftsplanung/Planung im ländlichen Raum Fachhochschule Neubrandenburg Brodaer Straße 01 17033 Neubrandenburg E-Mail: [email protected] Billwitz, Konrad, Prof. Dr. Geographisches Institut Universität Greifswald Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße 15 17489 Greifswald E-Mail: [email protected] Borg, Erik Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) Kalkhorstweg 53 17235 Neustrelitz E-Mail: [email protected] Czybulka, Detlef, Prof. Dr. Juristische Fakultät Universität Rostock Richard Wagner Straße 31 18119 Rostock-Warnemünde E-Mail: [email protected] Erdmann, Frithjof, Dr. I.L.N. Greifswald, Institut für Landschaftsökologie und Naturschutz Am St. Georgsfeld 12 17489 Greifswald E-Mail: [email protected]
X Friedrich, Peter, Dr. Erlerstr. 26 76275 Ettlingen E-Mail: [email protected] Gerlach, Jürgen, Prof. Dr. Bergische Universität Wuppertal Lehr- und Forschungsgebiet Straßenverkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik Pauluskirchstraße 7 42285 Wuppertal E-Mail: [email protected] Grau, Stephanie, Dipl.-Geogr. lutra – Gesellschaft für Naturschutz und landschaftsökologische Forschung Förstgener Straße 9 02906 Klitten-Tauer E-Mail: [email protected] Henke, Reinhard, Dipl.-Ing. Bereichsleiter Europaprojekte Abteilung, Analysen, Konzepte, Europaprojekte Planungsverband Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main Am Hauptbahnhof 18 60329 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] Henneberg, Michael, Dr. FB Landeskultur und Umweltschutz Universität Rostock Justus-von-Liebig-Weg 6 18059 Rostock E-Mail: [email protected] Holz, Rainer, Dr. Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Goldberger Straße 12 18273 Güstrow E-Mail: [email protected] Kappler, Olaf Dorfplatz 24 17237 Blankensee E-Mail: [email protected]
XI Klenke, Reinhard, Dr. Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle GmbH Department Naturschutzforschung Permoser Str. 15 D-04318 Leipzig E-Mail: [email protected] Losch, Siegfried Marienstraße 21 53639 Königswinter E-Mail: [email protected] Lutze, Gerd, Dr. sc. agr. Zentrum für Agrarlandschafts- und Landnutzungsforschung (ZALF) e.V. Institut für Landschaftssystemanalyse Eberswalder Str. 84 D-15374 Müncheberg E-Mail: [email protected] Moewes, Günther, Prof. Poppelsdorfer Straße 10 44139 Dortmund E-Mail: [email protected] Peters-Ostenberg, Elke FB Landeskultur und Umweltschutz Universität Rostock Justus-von-Liebig-Weg 6 18059 Rostock E-Mail: [email protected] Roth, Mechthild, Prof. Dr. Institut für Forstbotanik und Forstzoologie Technische Universität Dresden PF 1117 01735 Tharandt E-Mail: [email protected] Schreiber, Arnd, PD Dr. Institut für Zoologie der Universität Heidelberg c/o Forschungszentrum Umwelt Universität Karlsruhe Adenauerring 20 76131 Karlsruhe E-Mail: [email protected]
XII Schultz, Alfred, Prof. Dr. Fachhochschule Eberswalde Fachbereich Forstwirtschaft Alfred-Möller-Str. 1 16225 Eberswalde E-Mail: [email protected] Siedentop, Stefan, Dr. Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. (IÖR) Weberplatz 1 01217 Dresden E-Mail: [email protected] Spieß, Hans-Jürgen, Dr. sc. Gesellschaft für Naturschutz und Landschaftsökologie e.V. (GNL) Dorfstraße 31, 17237 Kratzeburg E-Mail: [email protected] Ulbricht, Joachim, Dr. Sächsische Vogelschutzwarte Park 4 02699 Neschwitz E-Mail: [email protected] Walliser, Gerlinde, Dr. Feldstraße 21 17489 Greifswald E-Mail: [email protected] Waterstraat, Arno, Dr. Gesellschaft für Naturschutz und Landschaftsökologie e.V. (GNL) Dorfstraße 31 17237 Kratzeburg E-Mail: [email protected] Wijermans, Marcel Gemeente Den Haag Dienst Stedelijke Ontwikkeling ROMZ Postbus 12655 NL-2500 DP Den Haag E-Mail: [email protected]
Inhaltsverzeichnis Teil I
Freiraum und Naturschutz – eine Einführung
1 Problemaufriss und Forschungsansatz H. BAIER, F. ERDMANN, R. HOLZ, R. KLENKE, A. WATERSTRAAT 1.1
Freiraum – Natur in geschlossener Landschaft? ................................... 3
1.2
Warum ist der Freiraum ein Naturschutzthema? .................................. 7
1.3
Freiraum – Gestaltungsobjekt und Forschungsgegenstand ................. 11
1.4
Forschungsansatz und Forschungsprojekt .......................................... 13
1.5
Gliederung des Buches ....................................................................... 16
2 Menschen und Tiere im Raum: Ein ungleicher Wettbewerb? R. HOLZ 2.1 Raumnutzung als Kostenfaktor ........................................................... 2.1.1 Raumbedarf und Raumangebot – ein Spannungsverhältnis ............... 2.1.2 Quellen und Senken im Raum ............................................................ 2.1.3 Kosten und Nutzen im Raum .............................................................. 2.1.4 Kostenfunktionen der Raumnutzung ..................................................
19 19 22 22 23
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
Überleben und Wirtschaften im Raum ............................................... Wirtschaftsraum und Lebensraum ...................................................... Raumwiderstand und Raumdurchlässigkeit ........................................ Populationsökologie und Raumwiderstand ........................................
24 24 26 28
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Die Zeit im Raum ............................................................................... Zeitlos – Raumwiderstand in der Naturlandschaft .............................. Zeitschnell – Geldzins und Raumwiderstand ..................................... Der Wettlauf um die Zeit .................................................................... Ein Pyrrhussieg: Zeit gewinnen heißt Raum verlieren .......................
30 30 32 37 39
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Der freie Raum am freien Markt ........................................................ Ohne Nachfrage kein Wert, ohne Wert kein Schutz ........................... Im Sog des Kapitals ............................................................................ Ökologische Ökonomie, Plan und Nachhaltigkeit .............................. Raum für den Naturschutz: Kleckern oder Klotzen? ..........................
43 43 44 48 51
3 Raumnutzung und Raumerschließung durch den Menschen S. LOSCH 3.1
Der umkämpfte Raum ........................................................................ 55
3.2
Raumnutzungen zwischen Konkurrenz und Koexistenz .................... 57
3.3
Freiraum war und bleibt Konfliktraum ............................................... 59
3.4
Wirkungsflächen der technischen Infrastruktur im Freiraum ............. 65
XIV
Freiraum und Naturschutz
4 Ökonomische und städtebauliche Aspekte des Freiraumverbrauches G. MOEWES 4.1
Raumerschließung und Wirtschaftsvorgänge ..................................... 73
4.2
Energieeffizienz und Freiraum ........................................................... 76
4.3
Stadtplanung und Freiraum ................................................................ 78
5 „Freiraum“ und „Freifläche“ in der Geschichte der räumlichen Planung und des Naturschutzes H. BEHRENS 5.1
Freiraum und Freifläche in der Geschichte des Städtebaus ................ 81
5.2
Raumordnung und Landesplanung ..................................................... 83
5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Bauleitplanung der Gemeinden .......................................................... Freiraum in der Geschichte des Naturschutzes ................................... Naturschutzziele und -kriterien bis 1945 ............................................ Naturschutzziele und -kriterien in der DDR ....................................... Naturschutzziele und -kriterien in der BRD ....................................... Das Problem der Landschaftszerschneidung im Rückblick ................
5.5
Fazit und Ausblick ............................................................................ 101
86 87 87 91 94 99
6 Großflächige Analysen unzerschnittener Räume in Deutschland – ein Überblick S. GRAU 6.1
Struktur und Fragestellung der Recherche ....................................... 103
6.2
Angewandte Verfahren ..................................................................... 104
6.3
Methodenwahl .................................................................................. 106
6.4
Ergebnisvergleich ............................................................................. 109
6.5
Umsetzung der Ergebnisse ............................................................... 109
Inhaltsverzeichnis
XV
Teil II Freiraumzerschneidung und Störung – die ökologischen Wirkungen auf Tiere 7 Zoologisch-ökologische Grundlagen und allgemeine Wirkungen von Zerschneidung und Störung 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4
Raum-Zeit-Systeme von Tieren M. ROTH, J. ULBRICHT ...................................................................... Artspezifische Steuergrößen des Raum-Zeit-Systems ...................... Umweltspezifische Steuergrößen des Raum-Zeit-Systems .............. Intra- und interspezifische Konkurrenz als Steuergrößen.................. Aktionsraumgrößen: Flächenbedarf einheimischer Wirbeltierarten .
7.2 Räumlich-zeitliche Habitatnutzung einiger Modellarten .................. 7.2.1 Habitatnutzung der Bachforelle A. WATERSTRAAT ................................................................................ 7.2.2 Habitatnutzung von Gänsen und Kranichen J. ULBRICHT ....................................................................................... 7.2.3 Habitatnutzung des Dachses M. ROTH, G. WALLISER .....................................................................
113 114 117 119 121 124 124 132 135
7.3
Ökologische und evolutionsbiologische Wirkungen der Segmentierung in Landschaften und der Zerschneidung in Habitaten M. ROTH, A. WATERSTRAAT, R. KLENKE ........................................... 143 7.3.1 Begriffsdefinitionen .......................................................................... 143 7.3.2 Ökologisches Wirkungsspektrum: Vergangenheit und Gegenwart .. 145 7.4
Anthropogene Störungen als Umweltfaktor M. ROTH, J. ULBRICHT ...................................................................... 151
7.5
Mathematisch-kybernetische Habitatmodellierung und Analyse von Landschaftszerschneidungen R. KLENKE, A. SCHULTZ, G. LUTZE .................................................. 162
8 Die Wirkungen von Zerschneidung und von Störungen auf der organismischen Ebene J. ULBRICHT, M. ROTH ...................................................................... 171 9 Die Wirkungen von Zerschneidung und von Störungen auf Individuen und Gruppen 9.1
Verhaltensänderungen als Reaktion auf Störreize J. ULBRICHT, M. ROTH ...................................................................... 173
9.2
Einfluss von Störungen auf das Zeit-Aktivitäts-Muster J. ULBRICHT, M. ROTH ...................................................................... 182
XVI
Freiraum und Naturschutz
9.3
Auswirkungen von Zerschneidung und von Störungen auf die Raumnutzung ................................................................................... 9.3.1 Barriereeffekte technischer Infrastrukturelemente A. WATERSTRAAT, M. ROTH ............................................................... 9.3.2 Störwirkung von Einrichtungen der technischen Infrastruktur J. ULBRICHT, M. ROTH, F. ERDMANN ............................................... 9.3.3 Störungen abseits von Einrichtungen der technischen Infrastruktur J. ULBRICHT, M. ROTH .....................................................................
186 186 193 197
10 Die Wirkungen von Zerschneidung und von Störungen auf Populationen und Biozönosen 10.1
Einfluss von Störungen auf den Fortpflanzungserfolg J. ULBRICHT, M. ROTH ..................................................................... 199
10.2
Zerschneidung als Mortalitätsfaktor M. ROTH, F. ERDMANN ..................................................................... 10.2.1 Gefährdungspotential von Energiefreileitungen ............................... 10.2.2 Gefährdungspotential von Verkehrstrassen ...................................... 10.2.3 Populationsökologische Bewertung .................................................
205 205 215 223
10.3
Einfluss von Störungen auf Dichte und Verteilung in Vogel- und Säugerpopulationen J. ULBRICHT, M. ROTH ..................................................................... 230
10.4
Einfluss der Zerschneidung auf die Habitatbesiedlung und Populationsgröße bei Neunaugen A. WATERSTRAAT ................................................................................ 237
10.5
Einfluss von Zerschneidung auf die Abundanz- und Dispersionsdynamik von Ichthyozönosen und Neunaugenpopulationen H.-J. SPIEß ......................................................................................... 243
10.6
Dispersalpotenzial: Wie kommen Vogelarten mit der Verinselung von Habitaten und Arealteilen zurecht? P. FRIEDRICH .................................................................................... 248
10.7
Die Wirkung von Freiraumzerschneidung auf die genetischen Strukturen von Tierpopulationen und den Genfluss A. SCHREIBER .................................................................................... Fragestellungen ................................................................................ Genetische Strukturmerkmale von Tierpopulationen ....................... Populationsmodelle: Genetisch effektive Populationsgröße ............ Bedeutung genetischer Vielfalt ........................................................ Populationsgenetik und Naturschutzpraxis ....................................... Schlussfolgerungen ..........................................................................
10.7.1 10.7.2 10.7.3 10.7.4 10.7.5 10.7.6
254 254 255 264 270 272 277
Inhaltsverzeichnis
XVII
Teil III Freiraum und Freiraumschutz – die Umsetzung in die Praxis 11 Ökologie, Naturschutz und Strategie: Der schwere Weg zur Integration 11.1
Die reine Lehre: Raum ist nicht alles, ohne Raum ist alles nichts R. HOLZ ............................................................................................. 11.1.1 Wissenschaftliche Theorie: Kapitulation vor der Überkomplexität? 11.1.2 Angewandte Forschung: Widersprüchliche Ergebnisse? .................. 11.1.3 Gesellschaftliche Bewertung: Freiraumverbrauch als Wahrnehmungsproblem? ............................. Die zwiespältige Praxis: Passt zusammen, was zusammen gehört? R. HOLZ ............................................................................................. 11.2.1 Akzeptanz durch Transparenz? ......................................................... 11.2.2 Raum oder Saum? ............................................................................. 11.2.3 Konsistente Strategie bei divergierenden Zielen? .............................
283 283 292 302
11.2
305 306 311 316
11.3
Freiraumschutz: Skizzen eines Strategieentwurfs F. ERDMANN ...................................................................................... 326 11.3.1 Grundlagen, Grundsätze und Anforderungen ................................... 326 11.3.2 Freiraumschutzstrategie im Naturschutz .......................................... 332 12 Landschafts- und Freiraumanalyse 12.1
Thematische Einführung H. BAIER, K. BILLWITZ ....................................................................... 337
12.2
Die anwendungsorientierte Analyse der Freiraumstruktur F. ERDMANN ...................................................................................... 340 12.2.1 Ziele der Analyse und methodische Ansätze .................................... 340 12.2.2 Methodenspektrum ........................................................................... 344 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5
Die anwendungsorientierte Bewertung der Freiraumstruktur F. ERDMANN ...................................................................................... Freiraumstruktur in der Raumplanung............................................... Bewertung von Freiräumen und Freiraumstruktur mit Hilfe geometrischer Parameter .................................................................. Bewertung der übergreifenden Freiraumstruktur............................... Nutzung naturschutzfachlicher Wertparameter und funktioneller Merkmale .......................................................................................... Überblick und Ausblick – Forschungs- und Entwicklungsbedarf ....
357 357 359 364 365 368
XVIII
Freiraum und Naturschutz
13 Der Freiraum – ein Schutzgut? 13.1 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4 13.1.5
Freiraum – Versuch einer rechtlich-normativen Beschreibung D. CZYBULKA ..................................................................................... Allgemeine rechtliche Grundlagen für den Freiraumschutz ............. „Übergreifendes“ Leitbild der Nachhaltigkeit .................................. Freiraumschutz in der Spruchpraxis der Gerichte ............................ Der Grundsatz des sparsamen Flächenverbrauchs als Optimierungsgebot ........................................................................... Ökologiepflichtigkeit des Eigentums ...............................................
373 373 376 377 379 382
13.2
Freiraum – Versuch einer fachlich-inhaltlichen Beschreibung H. BAIER ............................................................................................ 386 13.2.1 Freiraum und Synonyme .................................................................. 386 13.2.2 Multifunktionalität von Freiräumen ................................................. 392 13.3
13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.3.4
Umsetzung des Freiraumschutzes: Gestaltungsmöglichkeiten und Chancen H. BAIER ............................................................................................ Funktionen von Bodenflächen .......................................................... Übergreifende Handlungsansätze ..................................................... Möglichkeiten und Grenzen der Instrumentalisierung ..................... Komponenten einer ökologisch orientierten Freiraumstruktur..........
397 397 400 407 410
14 Freiraumschutz: Funktion von Naturschutz- und Umweltplanung 14.1
Status-quo-Analyse und ökologische Umweltbeobachtung H. BAIER ............................................................................................ 423
14.2
Umwelt- und Landschaftsplanung H. BAIER, F. ERDMANN ..................................................................... Ökologische Raumentwicklung zwischen Selbstlauf und Plan ........ Landschaftsplanung – Aufgaben und Defizite ................................. Freiraumschutz und Landschaftsplanung – Integration oder Kooperation ........................................................... Anwendungsbeispiel ........................................................................
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4
Verträglichkeitsprüfungen H. BAIER ............................................................................................ Kumulative Belastungen von Natur und Landschaft S. SIEDENTOP ..................................................................................... Strategische Umweltprüfung H. BAIER ............................................................................................ Umweltverträglichkeitsprüfung H. BAIER ............................................................................................ FFH-Verträglichkeitsprüfung H. BAIER ............................................................................................
428 428 433 436 444 450 452 460 463 469
Inhaltsverzeichnis
14.4 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4
Eingriffsregelung H. BAIER ............................................................................................ Grundsätzliche Problemstellung ....................................................... Verbesserungsmöglichkeiten ............................................................ Fallkonstellationen ........................................................................... Anforderungen an die fachplanerische Umsetzung von Kompensationsmaßnahmen...............................................................
XIX
472 472 476 482 485
14.5
Gebietsschutz H. BAIER ............................................................................................ 488
14.6
Artenschutzprogramme H. BAIER ............................................................................................ 490
15 Freiraumschutz: Funktion der Raumplanung 15.1
Rechtliche und inhaltliche Aspekte der Querschnittsfunktion von Raumordnung D. CZYBULKA, H. BAIER .................................................................... 495
15.2
Umsetzung des Freiraumschutzes in der Raumplanung S. LOSCH, H. BAIER ........................................................................... 499
15.3
Umsetzung des Freiraumschutzes in Raumordnungsverfahren H. BAIER ............................................................................................ 504
15.4
Konformität und Konkurrenz der Ziele und Instrumente von Raumordnung und Naturschutz H. BAIER ............................................................................................ 506
15.5
Bauleitplanung H. BAIER, S. LOSCH ........................................................................... 509
16 Freiraumschutz: Möglichkeiten der Verkehrsplanung 16.1
Freiraumsegmentierung – Resultat unzureichender räumlicher Koordination menschlicher Mobilitätsbedürfnisse H. BAIER ............................................................................................ 513
16.2
Umweltorientierte Verkehrsnetzgestaltung J. GERLACH ....................................................................................... 516 Folgen der Verkehrsentwicklung ...................................................... 516 Strategien zur Minderung negativer Folgen des Verkehrs ................ 517 Handlungsbedarf zur Umweltprüfung ............................................... 519 Handlungsspielräume für eine umweltorientierte Verkehrsnetzgestaltung .................................................................... 520 Ausblick ............................................................................................ 527
16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.2.5 16.3
Wiedervernetzung von Lebensräumen durch Wildtierpassagen zur Minderung von Zerschneidungseffekten M. HENNEBERG, E. PETERS-OSTENBERG ........................................... 530
XX
Freiraum und Naturschutz
17 Nachhaltigkeitspolitik im Freiraum S. LOSCH, H. BAIER 17.1
Ökologische Grundsätze der Nachhaltigkeit .................................... 537
17.2
Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Raumentwicklung ......... 540
18 Freiraumschutz: Ökonomische Instrumente und Maßnahmen S. LOSCH ........................................................................................... 543 19 Freiraum, Politik und Europa R. HENKE, M. WIJERMANNS ET AL. .................................................... 553 19.1
Warum ist der Freiraum ein europaweites politisches Anliegen? .... 553
19.2 Freiraummanagement und regionale Identität .................................. 556 19.2.1 Die Notwendigkeit einer starken Identität ........................................ 556 19.2.2 Die Qualitätsmerkmale des Managements ....................................... 557 19.3 Freiraumentwicklung als interaktiver Prozess .................................. 559 19.3.1 Die Landschaft als Kommunikationsfeld ......................................... 559 19.3.2 Das Nahziel: eine EU-Freiraumcharta .............................................. 560 19.4
Schlussfolgerungen .......................................................................... 562
20 Freiraum-Landschaft 2020 – Fazit und Ausblick H. BAIER, D. CZYBULKA, F. ERDMANN, R. HOLZ, R. KLENKE, A. WATERSTRAAT ................................................................................... 565 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 579 Europäische Richtlinien, Gesetze, internationale Übereinkommen, untergesetzliche Rechtsnormen ................................................................ 681 Sachverzeichnis ................................................................................................ 685
I Freiraum und Naturschutz – eine Einführung
1 Problemaufriss und Forschungsansatz Hermann Baier, Frithjof Erdmann, Rainer Holz, Reinhard Klenke, Arno Waterstraat 1.1 Freiraum – Natur in geschlossener Landschaft? „Via est vita“ – der Weg ist Leben – werben die Straßenbauer und lassen damit vergessen, wie viele schwer lösbare Probleme mit Verkehrswegen verbunden sind: nicht nur Verkehrsinfarkt in Ballungsräumen und hohe Risiken für Leib und Leben, auch Flächenverbrauch, Zerschneidung historisch gewachsener Landschaftsstrukturen und Beeinträchtigung ökologischer Funktionen (Zucchi 2004). Dennoch sehen die meisten Menschen Straßen und Mobilität nicht als Januskopf. Eine breite Mehrheit versteht die bauliche Erschließung der Landschaft als Spiegel der Zivilisiertheit der Gesellschaft. Im modernen Sprachgebrauch wird das mit Schlagworten wie Verkehrs-, Siedlungs-, Infrastrukturentwicklung, Gewerbeund Industrieansiedlung beschrieben. Begriffe wie diese stehen für die Aufhebung der Unterschiede und der historisch gewachsenen Grenzen zwischen Stadt und Land sowie zwischen bebauter und unbebauter Landschaft. Galt und gilt das im gesellschaftlichen Wertekanon als Zeichen für Wohlstand, Wachstum, technischen Fortschritt und Kultur, gab und gibt es immer wieder auch andere Bewertungen. In den letzten Jahrzehnten traten – deutlicher als früher – an die Stelle positiv belegter Schlagworte zunehmend kritische Botschaften, zeigten sich die Schattenseiten: Landschaftsverbrauch, Zersiedelung, Zerschneidung, Verschmutzung1 der Landschaft oder – in Bezug auf Pflanzen und Tiere – Verinselung und Fragmentierung von Lebensräumen, Störungen des Verhaltens von Tieren und deren Wirkungen auf der Populationsebene. In der Umweltstatistik wird seit Jahren der tägliche Flächenverbrauch gemessen, Versiegelung ist ein eingeführter Begriff im Bauund Umweltrecht, in den jährlichen Umwelt- und Naturschutzberichten ist – je nach öffentlicher Legitimation – von Freiflächeninanspruchnahme oder Landschaftsbetonierung (Pollmann 2000) die Rede. Strukturwandel: Das neue Bild der Landschaft. Die infrastrukturelle Erschließung ist Mittel und Zweck eines tiefgreifenden landschaftlichen Struktur- und Nutzungswandels. Sie ist Ausdruck veränderter Nutzungsansprüche mit Vorteilen für all jene, die die höhere sozio-ökonomische Wertschöpfung realisieren. Letztlich ist der landschaftliche Gestaltwandel Ergebnis eines Wettbewerbs konkurrierender Nutzungsinteressen im Raum. Wie die meisten komplexen UmweltSysteme reagiert das Landschaftsgefüge mit seinen Strukturen, Funktionen und 1
Verschmutzung im umfassenden Sinn, z.B. Abfälle, Chemikalien, Licht, Verlärmung.
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Hermann Baier, Frithjof Erdmann, Rainer Holz, Reinhard Klenke, Arno Waterstraat
Beziehungen auf veränderte Nutzungsansprüche mehr oder minder verzögert. Seine Veränderung vollzieht sich meist, zumal außerhalb der Siedlungen, in kleinen, kaum merklichen Schritten. Es bedarf schon der historischen Analyse, des Vergleiches von Bild- und Kartendarstellungen aus verschiedenen Zeiten, um die diesem Prozess innewohnende Langzeitdynamik zu erfassen. Doch bereits auf „den ersten Blick“ ist dreierlei besonders auffällig: 1. das Vordringen von Infrastruktur und Siedlungstätigkeit 2. die anhaltende Veränderung des landschaftlichen Nutzungsmusters nach Anteilen und Verteilung der Großlebensräume Acker, Grünland, Wald bzw. Forst und Gewässer, in Verbindung (2.1) mit einer immer deutlicher werdenden Abgrenzung voneinander sowie (2.2) für den terrestrischen Bereich mit einer allmählichen Verdichtung ihrer Vegetationsdecke und – als Ergebnis davon – 3. eine unübersehbare Zunahme „scharfer“ Grenzen zwischen den Landschaftsbestandteilen (vgl. Wieland et al. 1983; Ringler 1987; Küster 1995; Konold 1996; Leeuwen 1996; Wöbse 2002). Gekoppelte Entwicklung: Ent- und Verflechtung in der Landschaft. Nach außen wird die neue Qualität der Landschaftsveränderungen in der Aufhebung der sanften Übergänge zwischen Landschaftsteilen unterschiedlicher Struktur und Funktion, z.B. zwischen Wald und Offenland, Acker und Grünland oder zwischen bebauten und unbebauten Flächen, sichtbar. Zunehmend werden die nutzungsbedingten Geometrien von Grenzlinien zu den bestimmenden Merkmalen der Landschaft. An die Stelle des fließenden Übergangs, des „Weder-noch“ bzw. des „Sowohl-als-auch“, ist die Trennung, ein „Entweder-oder“ getreten. Erheblich befördert und nahezu unumkehrbar wird dieser Trend zur Entflechtung des Landschaftsgefüges durch die anhaltende Verflechtung des Siedlungs- und Verkehrsnetzes. Dieses im Wandel begriffene Bild der Landschaft widerspiegelt auch die Uniformität der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung unter dem wachsenden Einfluss globaler Prozesse. Im Gegensatz zum oft reklamierten Anspruch auf regionale Identität entwickeln sich so, ganz ohne Planung, plangleiche StandardLandschaften. Nichts bezeugt die Dialektik der Entflechtung landschaftsökologischer und der Verflechtung räumlich-technischer Prozesse eindrucksvoller als das Auto. Die Automobilisierung führt über den sich ausweitenden Straßenbau zu einer Änderung der Siedlungsstruktur. Die Folgen sind zum einen effektivere Verknüpfungen sozio-ökonomischer Strukturen, zum anderen Veränderungen, nicht selten sogar Trennung gewachsener ökologischer Verbindungen. Das „Kräfteverhältnis von Natur und Kultur“ und der mit ihnen verbundenen landschaftsprägenden Prozesse hat sich dadurch grundlegend verschoben. Während in vorindustrieller Zeit Agrarflächen mit wachsender Entfernung vom Siedlungsplatz unmerklich („weich“) in sog. Halbkulturflächen und in das übergingen, was von der Wildnis übrig geblieben war, vollzieht sich heute eine Nivellierung und teilweise Umkehrung im landschaftlichen Erscheinungsbild: eine anhaltende Diffusion der Bebauung, der „Stein gewordenen“ Vollendung des Kulturanspruches in die freie Landschaft. Das Ergebnis: Die freie Landschaft geht in der (Sub-)Urbanität auf, eingegrenzt
1 Problemaufriss und Forschungsansatz
5
von unverrückbaren („harten“) Bauwerken. Bildhaft gesehen, vollzieht sich ein Wandel von offenen zu geschlossenen Landschaftsräumen. In dem Maße, wie die überkommene Landschaft von einem Netz „scharfer“ Grenzen durchwirkt wird, zerfällt ihre Grenzenlosigkeit in strukturell und funktionell gegensätzliche Räume: den Siedlungs- und Verkehrsraum und, als Gegenstück dazu, die dazwischen verbliebenen Reste freier Landschaft. Dafür – wie in den nachfolgenden Texten – den Begriff „landschaftlicher Freiraum“ zu verwenden, ist vielleicht eine unbeabsichtigte Ironie. Flächenverbrauch: Die unbewältigten Umweltwirkungen. Im Unterschied zu umweltbelastenden Emissionen, die durch hochentwickelte Technologien gemindert werden konnten, sind die mit der Flächeninanspruchnahme2 einhergehenden Folgen für die Umwelt und Natur bisher nicht bewältigt. Obwohl der Raum endlich ist und nur durch ein Flächenrecycling substituiert werden kann, sind die Flächenverbrauchsraten nach wie vor hoch. Daran ändert auch der im Jahr 2002 für Deutschland statistisch erfassbare geringe Rückgang des mittleren täglichen Flächenverbrauchs wenig. Die Zukunft wird zeigen, ob das lediglich ein Resultat konjunktureller Schwäche ist oder eine Trendumkehr angekündigt, die von der Bundesregierung zum programmatischen Ziel erklärt wurde: Bis zum Jahr 2020 soll der Flächenverbrauch auf 30 ha/d reduziert werden. Doch auch verzögerter Flächenverbrauch ist letztlich kein Ausweg. Deshalb bleibt eine nachhaltige Wende ohne Alternative. Die ultimative Frage ist nicht, wie der Raum- und Flächenverbrauch gebremst werden kann, sondern wie er zu stoppen ist. Kann mit der Entwicklung der Informationsgesellschaft der Nutzungsdruck auf den Raum vermindert werden? Die bisherige Entwicklung bietet eher Anlass zur Skepsis. Verbesserter Informationsfluss hat die Logistik im Raum, ihre Qualität, Geschwindigkeit und zeitliche Abstimmung, verbessert. Dadurch gibt es bisher allerdings mehr statt weniger Verkehr (z.B. Zepf 1999). Die Menge der bewegten Güter und Personen steigt kontinuierlich – und damit die Forderung nach weiterem Ausbau der Infrastruktur. Vermutlich wird die Informationsgesellschaft statt einer Entlastung die weitere Belastung des Raumes fördern (vgl. Reisinger u. Rieger 2003). Fortgesetzter Flächenverbrauch durch Versiegelung sowie Raumverbrauch durch Zerschneidung sind aber auch Folgen ungenügender Koordination von Effekten, die durch Summation der Auswirkungen „kleiner“ Projekte entstehen. Zwar ist die räumliche Gesamtplanung grundsätzlich gehalten, die Inanspruchnahme freien Raums zu verringern, der Flächen- und Raumverbrauch wurde dadurch bisher aber nicht oder nur selten reduziert. Das liegt u.a. an einem nur schwer durchschaubaren Geflecht von Zuständigkeiten in der Planung und der Verwaltung. Auch ist die Wirksamkeit der landesrechtlichen Instrumente begrenzt, weil etwa die Gemeinden im Rahmen ihrer Planungshoheit Ausmaß und Intensität der flächenhaften Bodennutzung im Wesentlichen nach ihren Vorstel2
Obwohl nicht ganz korrekt, wird in der fachlichen Umgangssprache gewöhnlich der Begriff „Flächenverbrauch“ verwendet – vermutlich ist er vor allem in der politischen Diskussion wirksamer.
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Hermann Baier, Frithjof Erdmann, Rainer Holz, Reinhard Klenke, Arno Waterstraat
lungen bestimmen. Auf welche Weise planerisch, rechtlich und förderpolitisch in Zukunft ein stark gedrosseltes (oder „Null-“) Wachstum der Flächenbeanspruchung erreicht werden kann, ist daher noch vollkommen unklar. Womöglich hilft eine erweiterte Ökologiepflichtigkeit für öffentliche und private Eigentümer, die sich auch auf den Umgang mit Flächen erstreckt. Neue gesellschaftspolitische Bewertungen und in deren Folge neue Ansätze zur Lösung des Problems erscheinen unvermeidlich. Auf dem Weg sind derartige Regelungen offenbar bisher nicht: „Es gehört zu den Zukunftsaufgaben für eine nachhaltige Raumentwicklung, neue Perspektiven zur Steuerung der Flächeninanspruchnahme zu entwickeln und Schritte zu ihrer Umsetzung zu erproben“ stellt Scholich (2005) fest. Raumplanung: Im Konflikt zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftsinteresse. Der Raum- und Flächenbedarf einer nach den Grundsätzen neoliberaler Ökonomie organisierten Gesellschaft ist, marktwirtschaftlich gesehen, unersättlich. Die „unsichtbare Hand des Marktes“3 vereinnahmt und entzaubert damit die Natur. Bevölkerungswachstum, steigende persönliche Wohlstandsansprüche bei gleichzeitiger Zunahme an Menge, Konzentration und Mobilität von Kapital machen den freien Raum zu einer immer knapperen Ressource. Zwangsläufig resultiert daraus nicht nur eine Verschärfung von Raumkonkurrenz der Menschen untereinander – diese finden ihren Ausdruck u.a. in den Bodenpreisen – sondern auch in der Raumkonkurrenz zwischen den Menschen und der sogenannten freien Natur. In der öffentlichen Meinung artikulieren sich die Folgen dieses Konfliktes unter Schlagworten wie „Ausräumung“ der Landschaft, Artensterben, Lebensraumverlust, Kunstnatur, Agrarwüste, Maschinensteppe u.ä. und verleihen so einer weitverbreiteten Besorgnis über den Zustand der „Natur“ Ausdruck (vgl. Wieland et al. 1983). Deren „Wohlergehen“ ist den Menschen aber nach wie vor wichtig: Über 80 % der deutschen Bevölkerung wollen im Urlaub und in der Freizeit eine belebte und unverbaute Natur genießen (FORSA/DAK 2001). Wie eine repräsentative Untersuchung zeigt (Behaim 1997), haben „unberührte“, naturbetonte Landschaften in den verschiedensten Kulturkreisen einen hohen Identifikationsgrad. Es muss daher die Aufgabe der Planung sein, diese gesellschaftlichen Ansprüche zu erfüllen – ganz abgesehen von denen einer eigenwertbestimmten Natur. Voraussetzung dafür ist, soweit Prioritäten zugunsten von Natur und Landschaft zu setzen sowie Nutzungskonflikte zu minimieren, wie es für die ökologische Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes notwendig ist. Diese immer aufs Neue kritisch zu hinterfragen ist aber letztlich ein Problem der Ethik und der angestrebten Lebensqualität. Wie rasch eine ökologisch motivierte Raumnutzungsstrategie an ihre Grenzen stößt, zeigt sich oft bereits bei den ganz anders gelagerten Verwertungsinteressen öffentlicher und privater Bodeneigentümer. Die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Flächeninanspruchnahme bleibt deshalb vorerst ein Denkmodell, das zur Folge hätte, dass neue Flächenbelastungen nur zugelassen würden, wenn gleichzeitig an anderer Stelle adäquate Belastungen beseitigt würden.
3
Brief H. Langer an P. Finke. http://wwwhomes.uni-bielefeld.de/pfinke/festschrift/ hanns_langer/…_reisens_und_wanderns.pdf [02.05.2005].
1 Problemaufriss und Forschungsansatz
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1.2 Warum ist der Freiraum ein Naturschutzthema? Naturschutzanspruch – alte Wurzeln und neue Wege. Die Naturschutzbewegung verkörpert in mancher Hinsicht den ideellen Widerpart des landschaftlichen Entund des infrastrukturellen Verflechtungsprozesses. Sie entstand als Reaktion auf die mit der Funktionalisierung und Kultivierung der Landschaft einhergehenden Veränderungen von „grenzenloser“ Landschaft und „wilder“ Natur. Die Naturschutzbemühungen waren also überwiegend sozial motiviert, gegen die „Zähmung der Wildnis“, gegen die Auflösung der letzten Allmenden, gegen die Infrastrukturentwicklung – kurz, gegen das neue Bild der Landschaft oder, rationaler ausgedrückt, gegen deren neue ökonomische Realität gerichtet. Wenn inzwischen auch auf der Basis eines geradezu explosiv gewachsenen ökologischen Grundlagen- und Anwendungswissens der Schutz der Natur und der Landschaft Gesetzeskraft haben, wirkt diese vermeintlich technik- und fortschrittskritische Motivation bis heute fort. Griffige und moderne Formulierungen wie Erhaltung und Entwicklung der naturraumspezifischen Biodiversität identitätsstiftende „Landschafts“-Gestaltung sowie gesundheitsfördernde Erholungsfürsorge im Naturraum. als gesetzlich verbriefte Kernaufgaben können nur mühsam darüber hinweg täuschen, dass der Naturschutz im Verständnis seiner eigenen Rolle auch althergebrachten Mustern folgt. Vor einer Erfassung und Bewältigung des Grundkonflikts steht immer noch die Auseinandersetzung mit Einzelproblemen, z.B. im Artenund Biotopschutz und in der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung. Eine neuen strategischen Bedürfnissen angemessene zusammenfassende Würdigung der raumbezogenen Konfliktlage gibt es zwar, sie wird aber nur selten in der Praxis berücksichtigt. Voraussetzung dafür wäre zunächst die Einsicht, dass der landschaftliche Freiraum als Ressource begriffen und verstanden werden muss, die endlich und nicht ersetzbar ist. Verbesserungen hinsichtlich einer eher ganzheitlichen Sichtweise auf die Umwelt und ihre anthropogenen Veränderungen versprechen sich die europäischen und nationalen Gesetzgeber von einer „Strategischen Umweltprüfung“, die als vorerst „oberste Etage“ das Gebäude des medialen Umweltschutzes gegenüber den Wirkungen von Bau- und Erschließungsplänen sowie Entwicklungsprogrammen absichern soll. Die ganze Last der räumlichen (einschl. der stofflichen und energetischen) Umwelteinwirkungen fasst man neuerdings auch in dem Sinnbild vom „ökologischen Fußabdruck“ zusammen. Auf dieser komplexen Ebene können solche Ansätze Vergleichsmaße bieten – vielleicht auch politische Argumente. Naturschutzwirklichkeit – neue Bedrohungen und keine Verursacher. Der anhaltende Verlust von Naturgütern, von naturnahen Landschaften und Biotopen, begründet Zweifel an der Effizienz des Natur- und Umweltschutzes. Ist es schon schwer – eine öffentliche Lobby für den Schutz von Arten und Lebensräumen aufzubauen, so fehlt Vergleichbares für den landschaftlichen Freiraum. Es ist –
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Hermann Baier, Frithjof Erdmann, Rainer Holz, Reinhard Klenke, Arno Waterstraat
vor allem bei der üblichen Betrachtung von Einzelfällen – wohl zu schwierig, den komplexen Zusammenhang zwischen Freiraumverlust, Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts und Lebensqualität des Menschen in der Öffentlichkeit zu vermitteln. Eine öffentlich spürbare „Betroffenheit“ bei der Zerschneidung von Freiräumen durch Verkehrswege gibt es nur in besonders spektakulären Fällen. Der Freiraum und sein Verlust liegen im Allgemeinen außerhalb der öffentlichen und privaten Wahrnehmung. Oftmals verstellt die übliche eindimensionale Betrachtungsweise statistischer Flächennutzungsanalysen die Sicht auf die vielen gewollten und ungewollten Nutzungsüberlagerungen in der Landschaft. So fehlt ein Bewusstsein dafür, dass der landschaftliche Freiraum kein Zufallsprodukt ist, sich weder von selbst erhält noch von selbst entsteht. Ausgeblendet bleiben üblicherweise auch Nebenwirkungen von Bauwerken. Selbst dem Augenschein nach „wenig belastete“ Teile des Freiraumes unterliegen – bei genauer Betrachtung – einem erheblichen Wirkungsdruck durch benachbarte Bebauungen oder Verkehrswege. Untersucht wurden z.B. Verkehrseinrichtungen, deren Wirkungen auf Menschen und Tiere weit über ihre Grundflächen hinausgehen (vgl. Reijnen 1995; Reck u. Kaule 1993). Die Langzeitfolgen veränderter Raumstrukturen, insbesondere für die Biodiversität, sind sehr schwer erfassbar. In der mitteleuropäischen Kulturlandschaft gibt es keine solchen spektakulären Umbrüche in Artengarnituren und Besiedlungsdichten, wie sie die wissenschaftliche und populäre Literatur als Folge von Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung in Wildnislandschaften der Erde beschreiben. Vielmehr zeigt sich die Dynamik von Populationen und Artengemeinschaften als ein räumlich und zeitlich sehr heterogenes Geschehen, das sich einfachen Darstellungs- (Zu-/Abnahme) und Erklärungsmustern (Ursache/Wirkung) entzieht. Für Werturteile, wie sie meistens auch mit Naturschutzfragen verknüpft sind, ist dies ein denkbar schwieriges, teils widerspruchsvolles Terrain. Vergleichbares gilt für das Beziehungsgefüge des Menschen zum bzw. im Raum. Ebenso, wie der landschaftliche Transformationsprozess den Raum von der Grenzenlosigkeit peu à peu zur Grenzverdichtung im Sinne eines zusehends engmaschiger werdenden Netzes der Infra- und Siedlungsstruktur wandelt, erfährt unser eigenes Raumverständnis und -verhalten wie von selbst Umbrüche: Das immer enger geknüpfte Infrastrukturnetz hat den Raum nahezu vollständig verfügbar gemacht und die Abhängigkeit von seinen zeitlich bzw. räumlich begrenzten Ressourcen aufgehoben. So ist der Raum immer weniger Rückzugsgebiet und Lebensstätte – stattdessen wird er immer mehr als (Lebens-) Hindernis empfunden. Ziel bzw. Mittelpunkt des Denkens und Handelns ist nicht mehr ein Arrangement mit den jeweiligen Besonderheiten des Raumes, sondern die möglichst effektive (schnelle!) Überwindung der damit verbundenen Widerstände. Die infrastrukturelle Verdichtung unterliegt demnach einer Selbstverstärkung, die wahrscheinlich auch in ihren Wirkungen auf die Menschen zumindest zweischneidig ist. Gegen den ökonomischen Vorteil der beschleunigten Raumüberwindung4 (im 4
Als Reaktion auf die „geschrumpfte Welt“ – eine Folge u.a. verkehrs- und kommunikationsmittelbedingter „Raumkompressionen“ – sieht Sloterdijk (2005: 391–405) eine „Wiederentdeckung des Ausgedehnten“.
1 Problemaufriss und Forschungsansatz
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Endeffekt der Verschmelzung von Raum und Zeit) stehen augenscheinliche soziale und emotionale Nachteile. Ausgelöst durch den Verlust an Entfaltungsmöglichkeiten (im übertragenen Sinne an „Freiräumen“) für den Einzelnen, entstehen so die klassischen psychosozialen Dichteeffekte in urbanen bzw. suburbanen Bevölkerungen. Freiraum und Mensch. Die Vorstellungen von Lebensqualität sind bei vielen Menschen mit dem Bild von freier Landschaft verbunden, wie es auch mit dem Ideal des „Landschaftsparks“ gepflegt wird. Bewusst oder unbewusst sind damit die wichtigen Funktionen des Raumes beschrieben: er ist nicht nur Quelle und Ort der „materiellen“ Grundlagen, sondern auch der Erholung, der Information, der Kontaktpflege zu Naturobjekten und der Inspiration. Freiraum, Natur und Landschaft haben somit eine ausgesprochen soziale Bedeutung. Ihr Schutz ist von gesamtgesellschaftlichem Interesse. Dagegen stehen jedoch immer zahlreiche Interessen mit raumverändernden Konsequenzen, für die ebenfalls soziale Argumente geltend gemacht werden, gleich ob für Wirtschaftswachstum durch Bebauung, Lebensqualität durch uneingeschränkte Mobilität oder Arbeitsplätze durch Privatisierung gesellschaftlicher Güter. So befinden sich die aus ethischer und sozialer Verantwortung legislativ formulierten Werte und Funktionen im steten Interessenkonflikt. Die Freiraumnutzung und der Freiraumschutz bedürfen daher eines ständigen diskursiven Dialogs zur Sozialkontrolle individualistischer Interessen. Dieser Anspruch kommt vor allem in den verfassungs- und fachrechtlichen Grundlagen des Natur- und Umweltschutzes sowie der Raumordnung deutlich zum Ausdruck. Der Staat ist „verpflichtet …, die Umwelt“ – selbstverständlich auch deren räumliche Grundlagen – „zu schützen, wenn er nicht seine Legitimation verlieren will“ (Calliess 2001: 606). Die Erhaltung und die Pflege unserer gemeinsamen Ressource „Freiraum-Landschaft“ sind daher nicht Selbstzweck oder das Interesse einiger weniger. Ein Ausgleich zwischen den wirtschaftlich und den sozial motivierten Anforderungen kann nur in der Auseinandersetzungen um die territoriale „Verfügungsmasse“ an Freiraum-Landschaft gefunden werden. Ein besonders konfliktgeladener Interessenstreit besteht zwischen der Forderung nach einer dichten Verkehrsinfrastruktur zur Befriedigung von Mobilitätsbedürfnissen und der Attraktivität unzerschnittener Freiräume zur Befriedigung von Bedürfnissen des ruhigen, bauwerks- und hindernisarmen und darum erholsamen Landschaftserlebens (vgl. Canzler 2004). Ob und wie dieser Konflikt aufzulösen ist, lässt sich schwer voraussagen. Zumindest bedürfte es dazu der Beantwortung von Fragen wie die nach der „wirklichen“ sozial-politischen „Wertschöpfung“ oder nach den sozialen Kosten der anhaltenden Freirauminanspruchnahme und -zerschneidung. Freiraum und Tier. Tiere unterscheiden nicht zwischen natürlichen und künstlichen Barrieren, trennen nicht zerschnittene von unzerschnittenen Räumen. Ihre Habitat- und Raumnutzung wird durch diverse art- und umweltspezifische Größen, durch Konkurrenz und Ressourcenangebot gesteuert. Anthropogene Effekte, z.B. die infrastukturelle Verdichtung in der Landschaft, führen zur verstärkten Fragmentierung von Lebensstätten und zum Einwirken von Störreizen in die kleiner werdenden Habitatfragmente. Das hat Folgen für das Verhalten sowohl von
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Hermann Baier, Frithjof Erdmann, Rainer Holz, Reinhard Klenke, Arno Waterstraat
Individuen und Gruppen als auch von Populationen und Artgemeinschaften. Dabei können Richtung und Intensität der Wirkungen sehr unterschiedlich sein. Mit zunehmendem Raumbedarf, höherer Mobilität und Störungsdisposition der Tiere kommt es vermehrt zu negativen Konsequenzen. Allerdings ist durch Habituation und Verhaltensanpassungen sowie genetischen Selektionsdruck auch Gegenteiliges möglich. Einfache Antworten taugen deshalb nicht, um das komplizierte Beziehungsgefüge „(Frei-)Raum und Tier“ zu erklären und zu bewerten. Zu beantworten ist die Frage, ob und in wieweit dabei allein naturwissenschaftlichökologische Kriterien, wie z.B. die Biodiversität, helfen können. Freiraum als Naturschutzziel. Die Folgen des Landschaftswandels für den Erhalt der Biodiversität, der landschaftlichen Eigenart und Schönheit sowie der Erholungseignung der Landschaft, sind innerhalb der Gesellschaft durchaus umstritten und werden es ohne eine fachübergreifende Agenda auf absehbare Zeit auch bleiben. So betrachtet, ermöglicht der „Freiraum“ einen neuen Blick auf einen schon lange anhaltenden Entwicklungsprozess – gewissermaßen einen neuen Problemzugang, der helfen könnte, die sich alltäglich vollziehenden Landschaftsveränderungen und ihre Konsequenzen für Menschen und Tiere besser zu verstehen und zu bewerten. Damit verbindet sich auch die Chance zur besseren Einschätzung der gesellschaftlichen Rolle des Naturschutzes. Insofern bietet das Themenfeld Freiraum-Natur-Landschaft viele Anregungen und großen Bedarf für die Forschung sowie deren praktische Umsetzung. Es könnte außerdem gut begründbare Entscheidungen ermöglichen, wo auf herkömmliche Bioindikatoren gestützte Bewertungssysteme versagen, etwa bei konkurrierenden Zielen innerhalb des Naturschutzes und vor allem auch in der Raumordnung. Freiraum als strategisches Hilfsmittel. Politische Querschnittsaufgaben stehen immer im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Je nach aktueller Lage der sozio-ökonomischen Agenda pendelt die öffentliche oder private Akzeptanz zwischen Zustimmung und Verweigerung. Wo einfache Ursachen-WirkungsVerknüpfungen nicht herstellbar sind, ist Einsicht in unabweisbare Notwendigkeiten schwer zu erlangen. In diesem Fall droht der Vorwurf der Beliebigkeit. Er findet seine Bestätigung in den Zielkonflikten, die auf vielen inhaltlichen und maßstäblichen Ebenen des Naturschutzes bestehen. Davon ausgehend lassen sich Defizite in der Umsetzung des Naturschutzes als gesamtgesellschaftlicher Auftrag durch alle Etagen verfolgen – in der Strategieentwicklung, in den Instrumenten, im Vollzug und in der kapazitiven Ausstattung (vgl. Institut für ökologische Raumentwicklung u. Institut für Internationale und Europäische Umweltpolitik 2004: 7 f.). Damit Naturschutzziele besser akzeptiert werden, bedarf es ihrer verbesserten Begründung und Herleitung, ihrer Hierachisierung und Operationalisierung sowie ihrer kommunikativen Vermittlung in Staat und Gesellschaft. Zu diskutieren ist, welchen Beitrag dazu der Denkansatz und das Gestaltungsobjekt „Freiraum“ liefern könnte. Dass es in der Raumordnung hinsichtlich der Flächenhaushaltspolitik und des Freiraumschutzes als den wesentlichen Komponenten einer nachhaltigen Raumentwicklung nicht besser steht (z.B. Scholich 2005), bestätigt eher: Beide, Naturschutz und Raumordnung, können und müssen voneinander profitieren – oder werden gemeinsam an Bedeutung verlieren.
1 Problemaufriss und Forschungsansatz
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1.3 Freiraum – Gestaltungsobjekt und Forschungsgegenstand „Frei“ ist ein relationaler Begriff. Bedeutung erhält er erst durch sein Gegenteil – es ist zu klären, wovon Freiheit bestehen soll. Da es hier überwiegend um Kulturlandschaft geht, sind damit nicht alle Formen der (Raum-)Nutzung gemeint, sondern nur die intensivsten, insbesondere die Überbauung mit Gebäuden, technischen Anlagen und Verkehrswegen. Für die Sicherung der ökologischen Funktionen des Raums – sowohl für den Menschen als auch für die Natur – ist aber ein statisches, auf einfachste strukturelle Unterschiede festgelegtes Verständnis unzureichend. Funktionelle Aspekte müssen hinzugezogen werden, die zu analysieren und zu bewerten eine differenzierte Beschreibung der Struktur erfordert. Entsprechende Gesichtspunkte werden an verschiedenen Stellen des Buches behandelt. Freiraum. Aus der landschaftsökologischen Sicht wird als Freiraum der „… durch Bebauung und linienartige bebauungsähnliche Infrastruktureinrichtungen nicht betroffene …“ Teil der Landschaft angesehen (Baier 2000a). Der (planungs-) praktischen Orientierung gemäß besteht der Freiraum in seiner Gesamtheit aus einer größeren Anzahl von Kompartimenten – mit Hilfe spezifischer Kriterien räumlich abgrenzbarer Teile der Landschaft – die als „landschaftliche Freiräume“ bezeichnet werden und innerhalb derer wiederum besonders störungsarme, von den Wirkungen der Bebauung und technischer Infrastruktureinrichtungen5 kaum beeinträchtigte Kernbereiche ausgewiesen werden können. Mit einer um Beeinträchtigungen (v.a. bestimmter ökologischer und visueller Funktionen bzw. des Landschaftsbildes) erweiterten Begriffsbestimmung erhalten funktionelle Aspekte eine größere Bedeutung. Dem Freiraumbegriff gleichbedeutend ist die Wortverbindung „unbebauter und unzerschnittener Landschaftsraum“ (Baier 2000a). Freiraum ist also im Wesentlichen das Gegenstück zum Siedlungs- und Verkehrsraum (vgl. Buchwald u. Engelhardt 1978: IX; Franz 2000: 51 f.). Landschaftliche Freiräume bilden „eine Basisressource für die Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes und für die Attraktivität des Landschaftsbildes“ (Baier u. Holz 2001). Stärker von der funktionellen Seite sieht man den Freiraum in Raumordnung und Landesplanung: „Freiraum ist der Gegenbegriff zum Siedlungsraum. Freiraum ist der Teil der Erdoberfläche, der in naturnahem Zustand ist oder dessen Nutzung mit seiner ökologischen Grundfunktion überwiegend verträglich ist (z.B. Land- und Forstwirtschaft, Fischerei). Die Definition ist zweckbestimmt durch die Grundfunktion, die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts zu sichern, und so final am Freiraumschutz orientiert“ (Ritter 1995, 2005). Dieses klare Verständnis des Freiraums, mit dem im Übrigen auch eine Trennung von Freiraum (in der Landschaft) und Freiflächen (unbebaute Bereiche des Siedlungsraums) empfohlen wird (Ritter 1995; vgl. Kap. 13.2), ist aber offenbar auch unter Raumplanern nicht durchgehend verbreitet. Das wird nicht zuletzt in der Zusammenschau der Beiträ5
Zum Beispiel Einrichtungen der Siedlungs-, Verkehrs-, anlagengebundenen Produktionsund Gewerbe- oder Ver- und Entsorgungsfunktionen.
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ge von Ritter (1995) und Klaffke (1995, 2005) deutlich, zeigt sich aber auch beim Vergleich aktueller Planwerke. Freiraumqualität. Freiraum wird demnach nicht nur quantitativ, also durch Umwandlung in Nicht-Freiraum beansprucht. Die innerhalb des Freiraums möglichen, weil mit seiner ökologischen Grundfunktion überwiegend verträglichen Nutzungen können vielfältige Nutzungs- und deshalb Qualitätsmuster hervorbringen (vgl. Abb. 1.3.1). Dem liegen einerseits flächig unterschiedliche Formen und Intensitäten der traditionellen Landnutzung (bes. Land- und Forstwirtschaft)6, andererseits überwiegend linienartig verlaufende Infrastruktureinrichtungen zugrunde. Letztere können, zumal bei geringerer Intensität ihrer Auswirkungen auf die ökologische Grundfunktion (z.B. Feldwege, Freileitungen), ebenfalls als Bestandteil des Freiraums gelten, die aber dessen „innere Struktur“ und damit dessen Qualität beeinflussen. Wenn es um den Schutz des Freiraums und seiner Funktionen geht (s. Kap. 13.3.2), ist das folglich zu berücksichtigen. Nutzungsarten u. -intensitäten Raumspezifisches Umweltangebot (z.B. besondere Biotope oder Habitate)
Raumgröße Raumkonfiguration
Freiraumqualität
Raumübergreifende Beziehungen (z.B. Strukturen, Funktionen, kohärente Netzwerke)
Abb. 1.3.1. Beeinflussungsfaktoren der Freiraumqualität
Freiraumstruktur. Einen Begriff zu benutzen, ohne ihn zu definieren, kann in der Diskussion unproblematisch sein, wenn dieser selbst relativ einheitliche Vorstellungen auslöst, es kann sogar von Vorteil sein, solange das der Erkundung des Feldes, der Suche nach Weiten und Abgrenzungen dient. Ein solcher Begriff ist vielleicht „Freiraumstruktur“. Spätestens mit seinem Eingang in gesetzliche Aufträge und schließlich in die Planungspraxis sollte das aber nicht mehr genügen. 6
Formen und Intensitäten der Landnutzung sind darüber hinaus mit dem Zeitfaktor verknüpft, d.h. die Dauer (Einwirkungszeit) bestimmter Landnutzungsformen und –intensitäten sind für die Qualität des Freiraums und seine Leistungen ebenfalls bedeutsam.
1 Problemaufriss und Forschungsansatz
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1995 wird der Begriff im Handwörterbuch der Raumordnung noch gemieden (Klaffke 1995; Ritter 1995) und man würde in der Neuauflage des Standardwerks 2005 Aufklärung erwarten, nachdem 8 Jahre seit Erlass des Raumordnungsgesetzes (ROG) vergangen sind (s. Kap. 13.1). Diese Erwartung wird enttäuscht (s. Klaffke 2005; Ritter 2005; Scholich 2005). Aus dem gleichen Autoren-Umfeld findet sich aber anderenorts die sympathisch kurze und doch umfassende Definition: „Freiraumstruktur ist das quantitative und qualitative Verteilungsmuster bzw. Gefüge von Nutzungen und Funktionen in naturnahem Zustand“ (Scholich 2001: 237; Turowski et al. 2001: 58). Hier erscheint lediglich die Bestimmung „in naturnahem Zustand“ hinsichtlich der ökologischen Funktionen der Landschaft etwas unpräzise und eine Anpassung an die Freiraum-Definition von Ritter (1995) geraten. Dagegen widerspiegelt die logische Verflechtung von Struktur und Muster einerseits (überwiegend als Resultat) mit Nutzungen und Funktionen andererseits (überwiegend als Ursache) die landschaftliche Realität (vgl. Kap. 12.3.1). Ein Grund für die Zurückhaltung im Standardwerk könnte der Umstand sein, dass in der Praxis der Raumplanung die Struktur des Freiraums vorwiegend als Aggregat von zugeordneten oder wirklichen Freiraumfunktionen verstanden wird, ohne die „Verteilungsmuster“ der wirklichen Nutzungen und Funktionen strukturell zu erfassen und zu untersuchen (vgl. Kap. 12.3.1). Weitere Erläuterungen zentraler Begriffe zum Freiraum finden sich in den Kapiteln 7.3.1, 12 und 13. 1.4 Forschungsansatz und Forschungsprojekt Der Blick auf die Landschaft als Flickenteppich aus Freiräumen (bzw. Kompartimenten des Freiraums) ist in den einschlägigen Wissenschaften und Wissensgebieten relativ neu. In Deutschland gehen die ersten landschaftsanalytischen Ansätze in dieser Richtung auf Schönamsgruber (1974), SRU (1974), Fritz (1976) und Lassen (1979) zurück. Ein anderer Ansatz, der die Grenzen der Freiräume im Sinne von Trennelementen für Arten und Lebensräume in den Mittelpunkt stellt, ist besonders von Mader (1979 b) verfolgt worden. Seitens des Naturschutzes wird vor allem unter dem Einfluss der sog. Störungsbiologie versucht, den Problemkreis der Zerschneidung und des Flächenentzuges durch Bebauungen hinsichtlich seiner öko-biologischen Wirkungen für den Verwaltungsvollzug zu thematisieren. Darauf aufbauend, gab und gibt es auch zahlreiche Initiativen gegen den Flächenverbrauch, die versuchen, auf Politik und Gesetzgebung Einfluss zu nehmen. Ein in sich konsistentes Konzept, das die öko-biologischen, sozio-ökonomischen und ethisch-moralischen Zugänge zum Thema „Freiraum“ verknüpft und eine gemeinsame Basis für die umsetzungsorientierten Arbeitsgebiete bzw. Politikfelder wie z.B. Raumordnung, Verkehrswesen, Naturschutz und Landschaftspflege liefern könnte, liegt bisher nicht vor.
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Mit der vorliegenden Arbeit sind drei Hauptpfade verfolgt worden: 1. Veranschaulichen der Funktion unzerschnittener störungsarmer Landschaftsräume für Wirbeltiere mit großen Raumansprüchen 2. Entwickeln von Möglichkeiten zur qualitativen und quantitativen Beschreibung sowie zur naturschutzfachlichen Bewertung des zerschneidungs- und störungsarmen Freiraums 3. Erörterung (naturschutz-)rechtlicher, ethischer und politischer Aspekte sowie des strategischen und instrumentellen Spektrums der Möglichkeiten des Freiraumschutzes. Die Wirkungen von Störungen und Zerschneidungen auf Wirbeltiere wurden überwiegend in jungeiszeitlichen Landschaften untersucht. Im Vergleich zu anderen Teilen des nordmitteleuropäischen Tieflandes zeichnen sich diese durch eine sehr vielfältige und eigenständige Landschaftsstruktur aus. Dieser Landschaftstyp war die wichtigste räumliche Kulisse für ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsverbundprojekt „Funktion unzerschnittener störungsarmer Landschaftsräume für Wirbeltierarten mit großen Raumansprüchen“ (1994–1999, FKZ 0339541), von den Bearbeitern kurz UZLAR genannt. Die in diesem Projekt gewonnenen Ergebnisse bilden die biologischökologische Basis aller nachfolgenden naturschutzpolitischen und -rechtlichen Ausführungen. Grundlegende Fragen waren: Wie beeinflussen Freiraumgrößen und -strukturen die Dynamik und Dispersion von Zönosen und Tierpopulationen? Wie beeinflussen Störeffekte, die durch die Zerschneidung der Landschaft eingeleitet bzw. gefördert werden, das Artenpotenzial? Welche popularen und genetischen Konsequenzen verbinden sich mit der räumlich-zeitlichen Trennung von Populationen unter dem Einfluss von Störungen? Welche (Frei-)Raumgröße und -struktur bestimmt die Habitatqualität für verschiedene Arten? Die wissenschaftlichen Untersuchungskonzepte zur Analyse des Freiraums und zu den ökologischen Konsequenzen seiner nutzungsbedingten Beanspruchung bedurften eines interdisziplinären Ansatzes, einerseits aus landschaftsgeographischen Arbeiten zur Raumanalyse und -bewertung sowie sozialgeographischen Studien und andererseits aus zoo-ökologischen Forschungen. Bei den tierökologischen Untersuchungen reichte die Spannbreite von Studien zur Raum- bzw. Habitatnutzung einzelner Individuen bzw. Gruppen bis zu Analysen der Struktur und Dynamik von Populationen und Artengemeinschaften in unterschiedlich zerschnittenen und strukturierten Räumen. Arten und Artengruppen, für deren Bestand die Störungsarmut großer Landschaftsräume und eine gute Durchlässigkeit des Raums als wichtig angesehen wurden, standen im Fokus der Untersuchungen. Damit verband sich die Erwartung, möglichst nachvollziehbare Beweisführungen für die Raumansprüche solcher Arten und die darauf bezogenen Forderungen des Naturschutzes zu erhalten. Im Interesse allgemeingültiger Aussagen war das Spektrum der Untersuchungsob-
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jekte bewusst breit angelegt – von Rundmäulern über Fische und Vögel bis zu Säugetieren. Das Forschungsprojekt, dessen Struktur der Abbildung 1.3.1 zu entnehmen ist (weitere Information s. beiliegende CD-ROM), steht im inhaltlichen Kontext zu anderen Forschungsverbundprojekten des BMBF. Das gilt vor allem für das Projekt „Bedeutung von Isolation, Flächengröße und Biotopqualität (FIFB)“, dessen Ergebnisse Amler et al. (1999) vorgelegt haben. Mit der Forschungsförderung durch das BMBF verbinden sich Forderungen an einen adäquaten Praxisbezug für die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Rechts- und Verwaltungspraxis im Bereich des Natur- und Umweltschutzes.
Örtliche Untesuchungsräume
Untersuchungssektoren
Inhalte
Bezugsraum
Funktion unzerschnittener, störungsarmer Räume für Wirbeltierarten mit großen Raumansprüchen
Landflächen (einschließlich Wasserflächen)
Fließgewässer
Bedeutung des Freiraumkontinuums und der Habitatstruktur
Bedeutung des Laufkontinuums und der Habitatstruktur
Wirkungen von Zerschneidungen und Störungen
Wirkungen von Zerschneidungen
Geographie Landnutzungen, Lineamentanalyse
Geographie Fließgewässerstruktur, Querverbaue
Biologie Säugetiere (Dachs, Fischotter) Vögel (Schreiadler, Rohrweihe, sonstige Greifvögel, Gänse, Kranich, Vogelzönosen) Genetische Untersuchungen
Biologie Rundmäuler (Bachneunauge, Flussneunauge) Fische (Bachforelle) Genetische Untersuchungen
Naturschutzfachliche Umsetzungsstrategien
Naturschutzfachliche Umsetzungsstrategien
Untersuchungsräume in Deutschland Mecklenburg-Vorpommern (5) Sachsen-Anhalt Sachsen Schleswig-Holstein und in Lettland
Fließgewässer in MecklenburgVorpommern Warnowsystem Tollensesystem Recknitzsystem
Abb. 1.3.1. Sachlich-inhaltlicher Aufbau des Forschungsprojektes (Übersicht)
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1.5 Gliederung des Buches Das Buch besteht aus drei Hauptteilen. Im ersten Teil wird – aus der Perspektive von Raumnutzern, also der Tiere und der Menschen – das allgemeine Konfliktfeld um den landschaftlichen Freiraum erörtert. Es wird der Frage nachgegangen, welche sozio-ökonomischen Mechanismen und Ursachen die Raumerschließung vorantreiben und welche grundlegenden Zustände, Entwicklungen und Konsequenzen sich daraus für die menschliche Gesellschaft und die freilebende Tierwelt ergeben. Vervollständigt wird diese Analyse durch einen Überblick zur Geschichte der räumlichen Planung und des Naturschutzes im Zusammenhang mit dem landschaftlichen Freiraum sowie durch eine Dokumentation über die Erfassung unzerschnittener Räume in Deutschland. Im zweiten Teil werden, geordnet nach Störungsarten und Wirkungen, wesentliche Ergebnisse der biologischen Teilprojekte des o.g. Forschungsprojektes beschrieben. Verbindungen zu anderen Forschungsergebnissen werden gezeigt. Neben Reaktionen auf individueller und popularer Ebene, die durch Störungen ausgelöst wurden, finden weitere durch die Nutzung der Landschaft induzierte Verhaltensänderungen, Raum- und Habitatnutzungen sowie die Untersuchung von Faktoren Berücksichtigung, die Auswirkungen auf die Populationsentwicklung der Tiere haben. Im dritten Teil steht die Überführung der ökologischen Befunde in die Praxis von Naturschutz und Umweltplanung zur Diskussion. Die bisherigen Naturschutzstrategien werden im Hinblick auf ihre Effizienz zur Erhaltung von Freiraumgrößen und -qualitäten überprüft. Es folgt eine Erörterung der Stellung des Freiraumschutzes im Konzept der Schutz- und Naturgüter. Anschließend wird auf die mögliche Einbeziehung des Freiraumschutzes in die vorhandenen Instrumente des Naturschutzes und der Raumplanung eingegangen. Dabei werden auch die rechtliche und die operative Situation des Freiraumschutzes näher betrachtet. CD-ROM. Die dem Buch beiliegende CD-ROM enthält überwiegend ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojektes (s. Kap. 1.4), die für den Leser des Buches speziell aufbereitet wurden. Außerdem sind hier die farbigen Karten zum Buch platziert, für die zumeist der Satzspiegel zu enge Grenzen gesetzt hatte. Diese Inhalte sind in Form einer von den gängigen Rechnerplattformen lesbaren Internetseite zusammengefasst. Die Karten und Berichte liegen im PDF-Format vor und sind über Links zu erreichen. Zum Anschauen dieser Inhalte wird nur ein JavaScript-fähiger Browser und der Acrobat Reader bzw. ein vergleichbares Programm benötigt. Die Software für Windows findet sich auf der CD. Für Linux und Macintosh laden Sie sich bitte die benötigten versionsspezifischen Programme von den angegebenen Internetseiten herunter. Unter Windows startet die CD nach dem Einlegen von selbst, wenn die Autoplay-Funktion des Betriebssystems nicht deaktiviert wurde. Unter Linux und Macintosh muss die Datei index.htm im Wurzelverzeichnis der CD aufgerufen werden. Es erscheint der Startbildschirm. Über zwei Links ist es möglich, die Applikation zu starten (auf < [weiter] > klicken) oder die benötigte Software von den Internetseiten der Hersteller herunterzuladen (auf < [Herunterladen der Software] > klicken).
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Nach dem Aufruf des Links < [weiter] > erscheint der Hauptbildschirm mit einer Landschaft. Farbig gekennzeichnete Flächen stehen für die einzelnen Menüpunkte, die mit einem Klick auf eine der Flächen angewählt werden können. Die farbigen Abbildungen zum Buch können über den Menüpunkt Index -> Abbildungen zum Buch angewählt werden. Es erscheint ein aufklappbarer Menübaum der konsequent der Gliederung und Kapitelnummerierung des Buches folgt. Durch Anwahl des entsprechenden Kapitels und der darunter aufgeführten Abbildungsnummer kann jede gewünschte Abbildung als Vorschau, vergrößert oder in Druckqualität, als PDF-Datei, aufgerufen werden. Anforderungen der CD an den Computer: – lauffähig unter Windows, Apple Macintosh und Linux – Bildschirmauflösung von mindestens 800 × 600 Punkten, empfohlen wird die Auflösung von 1024 × 768 Bildschirmpunkten – aktueller JavaScript-fähiger Browser zum Ansehen der Inhalte (ab Internet Explorer Version 5, Netscape Version 4, Mozilla 1.x, Firefox 1.x, Camino 0.8, Safari 1.x), JavaScript muss freigeschaltet sein – Adobe AcrobatReader ab Version 3 zum Anschauen und Ausdrucken der PDF-Dateien. Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.
Dieses Buch ist kein Abschlussbericht zu dem in Kap. 1.4 vorgestellten Forschungsverbundprojekt, keine Zusammenfassung seiner Ergebnisse. In der Mehrzahl sind es jedoch am Projekt beteiligte Bearbeiter verschiedener Disziplinen, die hier ihre Auffassungen und Erfahrungen zu den Problemen um Zerschneidung und Störung in der Landschaft vor den Hintergrund des Forschungsprojektes darlegen. Dadurch ist, vor allem in Verbindung mit der auf CD gelieferten Information, letztlich auch ein guter Überblick zu den im Projekt behandelten Themen und Ergebnissen zu erhalten. Ergänzt wird die Darstellung um die Beiträge mehrerer nicht am Projekt beteiligter Autoren, deren Mitwirkung als notwendige inhaltliche Vertiefung und Abrundung für die Abhandlung des Themas wichtig erschien und für die wir deshalb sehr dankbar sind. Das wichtigste Anliegen dieses Buches ist der Versuch eines Brückenschlags von der Gesellschaftspolitik über die (Tier-)Ökologie zu den Praktikern, den Parlamenten und Aufsichtsräten, den Verwaltungen, den Planungsbüros und den Baustellen, zu denen, die Landschaftswandel vorbereiten und vollziehen. Es soll helfen, ein überall bestehendes Umsetzungsdefizit im Schutz von Natur und Landschaft abzubauen und die Bemühungen auf Kernaufgaben zu konzentrieren. Autoren und Herausgeber sind sich bewusst, dass dieser Versuch mit Risiken und Unvollkommenheiten verbunden ist.
Die jungeiszeitlichen Landschaften Mecklenburg-Vorpommerns sind im Vergleich zu anderen Teilen des norddeutschen Tieflands vielfältig strukturiert. Nicht zu übersehen sind aber auch hier die Spuren zahlreicher Versuche, den Wasserhaushalt der Landschaft zu verändern und Bewirtschaftungshindernisse zu beseitigen. Trotz aller Eingriffe blieben Strukturvielfalt, geringe Zerschnittenheit und Dynamik großen Teilen dieser Landschaft erhalten. Das Bild zeigt einen Ausschnitt der flachwelligen Grundmoräne bei Jarmen. Foto Kathrin Lippert
2 Menschen und Tiere im Raum: Ein ungleicher Wettbewerb? Rainer Holz 2.1 Raumnutzung als Kostenfaktor 2.1.1 Raumbedarf und Raumangebot – ein Spannungsverhältnis „Wo Raum ist, da ist Sein“1 – knapper als Friedrich Nietzsche kann man die ultimative Bedeutung des Raumes für die Lebewesen kaum ausdrücken. Ohne Raum ist kein Sein. Freiraumschutz im Abseits? Entgegen aller Vernunft ist der Schutz des (Frei-)Raums nicht von ungefähr eine Sache am Rande. Zwar folgt jedermann angeborenen Verhaltensmustern, die helfen, mehr oder weniger erfolgreich „seinen Platz“, also den „eigenen Raumbedarf“, zu behaupten. Nicht genetisch fixiert ist aber die Einsicht, dass das Raumangebot endlich ist. So einfach diese Tatsache ist – wir können sie nur durch individuelles Lernen oder die Überlieferung von Erfahrungen begreifen. (Frei-)Raumschutz wird damit im Grunde zur Sache persönlicher oder gesellschaftlicher Normen, zur Frage des individuellen Weltbildes oder Standpunktes. Von dort aus eine kollektive oder besser noch öffentliche Wahrnehmung für die Bedeutung und mögliche Gefährdung des (Frei-)Raumes zu schaffen, wird immer schwierig bleiben. Wann „das Boot voll“ ist, bleibt bekanntlich so lange umstritten, bis es untergeht. Dieses Verhalten ist letztlich unserer eigenen Evolution geschuldet, sowohl der biologischen als auch der gesellschaftlichen. Über Jahrtausende hat sie uns auf ein unzweideutiges Verhältnis zum Raum selektiert: Eigentümer von Ressourcen ist nur derjenige, der über Raum verfügt. Die Macht über den Raum war und ist aber immer auch mit der Ohnmacht bei seiner Beherrschung verbunden. Raum kann Angst vor Leere und Weite bedeuten, Raum kann Hindernis sein und seine Nutzung bedarf der ständigen Bereitschaft zur Verteidigung gegenüber Konkurrenten. Die optimale Raumaufteilung ist das Ergebnis einer dauernden Kompromisssuche. Durch die Selektion wird letztlich eine Gesamtlösung begünstigt, die bei geringstem Aufwand höchsten Nutzen verspricht. Unter Ethologen wird dazu folgende Geschichte von Paul Leyhausen erzählt: „In einer sehr kalten Nacht drängte sich eine Gruppe Stachelschweine zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Ihre Stacheln ließen jedoch das Aneinanderrücken zu einem unangenehmen Erlebnis werden, so daß sie 1
Der Aphorismus lautet vollständig: „Mit festen Schultern steht der Raum gestemmt gegen das Nichts. Wo Raum ist, da ist Sein.“
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wieder auseinanderwichen und zu frieren begannen. Nach wiederholtem Hin-und-her-Geschubse fanden sie schließlich eine Distanz, bei der sie sich noch behaglich wärmen konnten, ohne sich gegenseitig zu pieksen. Diese Distanz war von nun an gleichbedeutend mit gutem Benehmen“ (zit. n. Barasch 1980: 242).
Das Spannungsverhältnis zwischen Kosten und Nutzen im Raum, zwischen Raumbedarf und Raumangebot, ist inhärenter Teil des Lebens. Es wird bildhaft in dem alten Konflikt zwischen Sesshaftigkeit und Nomadismus, der schlussendlich zugunsten der Aufteilung des Raumes in privates Eigentum, von „Raumgrenzen setzen“ entschieden wurde. Der Ackerbauer Kain erschlug Abel, den Hirten, weil Gott an dessen Opfergaben mehr Gefallen fand. Worauf Kain den „Garten Eden“ verlassen musste. In diesem Zusammenhang fragt Haber (2003: 13) nach den „… Gemeinsamkeiten zwischen dem Hirten von einst und dem Naturschützer von heute“. Und entgegen der biblischen Warnung „Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis das kein Raum mehr da ist und sie allein das Land besitzen …“ (Jesaja 5, 8) hat sich an den grundlegenden Prinzipien und Auffassungen im Umgang mit den gesellschaftlichen Funktionen des unbebauten Raumes bis heute wenig geändert2. Ganz im Sinne unseres angeborenen Verhaltensmusters gilt die Raumerschließung quer durch die Gesellschaft als wesentlicher Motor und als sichtbarer Beweis für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlichen Wohlstand. Die Frage, inwieweit diese Auffassung tatsächlich zutrifft, stellt sich solange nicht ernsthaft, wie die Wachstumsraten der Wirtschaft gesichert sind und die düsteren Prognosen der Wachstumsskeptiker nicht eintreffen. Ist es unter dem Druck dieses Vorurteils schon schwierig, beweisen zu wollen, dass die Raumerschließung für die belebte und unbelebte Umwelt erhebliche nachteilige Auswirkungen hat, so ist es nahezu unmöglich, daraus gesellschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen, ohne in Konflikt mit der herrschenden Wachstumsdoktrin und der landläufigen Auffassung von Wohlstand zu geraten. Wirtschaftswachstum ohne Raumerschließung? Ob die Ausblendung dieses Konfliktes sich auszahlt, wird die Zukunft zeigen. Womöglich kann ein „ökologischer Strukturwandel“ helfen, anstelle der Quantitäten die Qualitäten des Wachstums zu fördern und dadurch dessen Gegensatz zum (Frei-)Raumschutz zu mindern. Mit der Innovation z.B. in der Ressourcennutzung, Energieerzeugung sowie Informationsverarbeitung verbindet sich u.a. die Hoffnung einer Effizienzsteigerung in den Verkehrssystemen und der gesamten Mobilität. Zurückhaltung ist allerdings geboten, davon quasi im Nebenher eine Entlastung des Raumes zu erwarten. Solange durch die Kräfte des Marktes Natur und Landschaft in Form von Eigentum nicht anderes sind als der zur gewinnbringender Nutzung verteilte Raum (Beck 2003), ist sein Schutz ohne (Markt-)Regulation nicht möglich. Das Bestreben die Konkurrenz der Menschen um den Raum zu kontrollieren, zielt darauf, seine Nutzungsfähigkeit nachhaltig zu sichern. (Frei-)Raumschutz 2
Die biblische Warnung mag sich primär gegen die Anhäufung von Reichtümern und die Alleinverfügung über den für alle wertvollen Naturschatz Boden richten, lässt sich aber auch als Ablehnung von intensiverer Raumnutzung und Errichtung von Nutzungshindernissen bzw. Barrieren interpretieren.
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wird damit zur Interessenvertretung für die Menschen. Argumente, die das nicht sichtbar machen und stellvertretend scheinbar wertfreie Eigenansprüche der Natur in den Vordergrund stellen, werden letztlich zur Versuchung, sich aus der ethischen Verantwortung zu stehlen. Als „Lückenbüßer“ die wissenschaftliche Ökologie zu profilieren, ist kein Ausweg und führt nur zu dem allenthalben zu beobachtenden Missbrauch ihrer Methoden sowie Erkenntnisse und schließlich zu öffentlicher Diskreditierung. Im konkreten vorhabensbezogenen Einzelfall war und ist es trotz erheblicher theoretischer und methodischer Fortschritte in der Evolutionsbiologie und der Inselbiogeografie – den wichtigen biowissenschaftlichen Grundlagendisziplinen mit Raumbezug – schwer, die Auswirkungen der Raumerschließung für Arten und ihren Lebensraum verfahrens- und gerichtsfest nachzuweisen. So hat die Auffassung, dass die Zersiedelung, Zerschneidung und der damit verbundene Flächenverbrauch die Arten- und Individuenzahl vermindert, in Fachkreisen nicht nur Zustimmung erfahren. Das gilt insbesondere dann, wenn daran Bewertungen und Forderungen des Naturschutzes geknüpft wurden. Dass der (Frei-)Raumschutz bisher nie zu einem echten Naturschutzthema wurde, liegt augenscheinlich an der a priori bestehenden Unbeweisbarkeit von möglichen nachteiligen Folgen für die belebte Natur. Wie auch immer das Thema mit ökologischen Ansätzen angepackt wird, es ist offenbar zu komplex, als dass eine unanfechtbare Analytik gelingen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass das Raum beschreibende Begriffssystem der Ökologie relativ unscharf ist. Seine Übertragung und Anwendung auf ein Raum bewertendes Begriffssystem im Naturschutz hat die Unschärfe mehr verstärkt als vermindert und keineswegs die Nachvollziehbarkeit von Naturschutzargumenten verbessert. Warum aber angesichts des mittleren täglichen Flächenverbrauchs von mehr als 100 ha allein in Deutschland überhaupt argumentiert werden muss, kann wohl nicht allein mit Nichtwissen erklärt werden, sondern bezeugt mindestens unsere gespaltene Wahrnehmung. Freiraumschutz als Naturschutzziel? Versteht man die Erhaltung und Entwicklung des (Frei-)Raumes als ein universelles Naturschutzziel und damit die Verfügbarkeit des unbebauten Raumes als die wichtigste Grundlage für das Handeln des Naturschutzes, dann stellen sich unvermittelt sehr grundsätzliche Fragen. Das Schützenwollen von Natur und Landschaft wird zum Erkennen- und Nutzenwollen von Raum und Zeit – es zwingt zur Auseinandersetzung mit grundlegenden Erkenntnis-Ansätzen in sehr verschiedenen, willentlich getrennten und doch verbundenen Teilgebieten, wie denen des „reinen“ Verständnisses, des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Wirtschaft sowie auch der Wechselwirkung in und mit der Natur (B. Ziese 2003, in litt.). Die Fragestellungen und vielleicht auch die Lösungsvorschläge sind dabei im Wesen seit Menschengedenken ziemlich unverändert. Der Veränderung unterliegen lediglich die Standpunkte der Betrachter. Das nachfolgende Kapitel ist aus der Sicht eines Naturschutzgeneralisten geschrieben. Es versteht sich dann auch mehr als Versuch eines Problemaufrisses für die Praktiker – die Planer und Macher im Raum – und weniger als Beitrag für den Fachwissenschaftler.
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2.1.2 Quellen und Senken im Raum Ein wesentliches Kennzeichen von Räumen ist ihre innere Strukturiertheit. Selbst ursprünglich homogene Räume erhalten durch die unterschiedlichen Ansprüche, Leistungsfähigkeiten und Lebenstätigkeiten der in ihnen lebenden Subjekte mit der Zeit eine Differenzierung: Für Tierarten entwickeln sich Muster spezifischer Habitatqualitäten, für die Menschen Muster von Standortqualitäten. Das Ergebnis im ersten Fall nennt der Ökologe „Inseleffekt“, der Ökonom kennt den letzteren Fall als „Agglomerationseffekt“ (Mac Arthur u. Wilson 1963, 1967; v. Böventer 1995). Beiden gemeinsam ist, dass der Raum für die in ihm agierenden Subjekte in „Gunsträume“ (höhere Qualität, vorteilhaft) und „Ungunsträume“ (geringere Qualität, nachteilig) gegliedert wird. Die zwischen diesen Bereichen entstehenden Distanzen und der Zwang zu deren Überwindung sind mit Risiken bzw. Kosten belastet. Tiere können umkommen oder Verluste an Fitness erleiden. Für den wirtschaftenden Menschen kommen die Transportkosten für Güter sowie Erschwernisse beim Austausch von Produktionsfaktoren („Human-“ und Finanzkapital) hinzu. Steigt die Distanz, so erhöht sich das Risiko und vermindert sich die Konkurrenzkraft. Je nach arteigenen Ansprüchen und Fähigkeiten bildet sich damit eine spezifische Matrix von Inseln und Hindernissen im Raum heraus. In der Ökologie finden sich diese Vorstellungen in der Gleichgewichtstheorie von Mac Arthur u. Wilson (1963, 1967) und im Metapopulationskonzept von Levins (1970) wieder. Bildhaft wird der dichotome Charakter des Raumes besonders durch das im Metapopulationskonzept verankerte Denkmodell von Source-SinkSituationen: Die Quellenräume produzieren einen Überschuss an Individuen, der in Senken-Räumen „verbraucht“ wird (vgl. Pulliam 1988; Reich u. Grimm 1996). 2.1.3 Kosten und Nutzen im Raum Die Raumwirtschaftstheorie setzt sich mit den Hindernissen im Raum unter dem Stichwort „Raumüberwindungskosten“ auseinander. Auch wenn ein eingeführter vergleichbarer Terminus in der Ökologie fehlt, sind die diesem Phänomen zugrunde liegenden Prinzipien für das Verhalten von Tieren gründlich untersucht worden (vgl. Krebs u. Davies 1981, 1996). Beide, Menschen und Tiere, treffen bei der Raumnutzung Entscheidungen auf der Grundlage von Kosten-NutzenAbwägungen. Diese haben zwei Bedingungen: 1. Zwischen den Optionen besteht eine Rangordnung, 2. bei der Auswahl wird eine Größe maximiert – diese Größe ist der „Nutzen“. Als einheitliche Maßeinheit des (relativen) Nutzens finden oft die Energiekosten Verwendung. Theoretisch sollte die Entscheidung, an einem Ort zu bleiben oder ihn zu wechseln, vom Verhältnis Energiegewinn zu Energieaufwand bestimmt werden. Praktisch wird aber die Maßeinheit der Energie in andere „Währungen“ transformiert. Bei Tieren ist der selektive Wert der Entscheidung, d.h. die Fitness, maßgeblich. Die Differenz der Wahrscheinlichkeiten, in einer Zeiteinheit
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zu sterben oder sich fortzupflanzen, bestimmt die Kosten bzw. den Nutzen einer Verhaltensentscheidung über den Ortswechsel. Für die Entscheidung des Menschen zählt dabei maßgeblich die Rendite. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis für ein Wirtschaftsprodukt wird maßgeblich durch den Aufwand für den Ortswechsel, d.h. die Transportkosten, bestimmt (vgl. Schöler 1995). Wenngleich das Maximierungsprinzip in der Verhaltensökologie nicht unumstritten ist, hat sich dieser Ansatz weitgehend durchgesetzt. Allerdings bedarf es für die Offenlegung vergleichbarer Prinzipien bei Tieren und Menschen nicht unbedingt der Maximierung des Nutzens als gemeinsamer Entscheidungsbasis. Die Evolution bietet keine Grundlage für Maximierungen. Entscheidend ist, über eine für Evolutionsprozesse ausreichende Zeitspanne erfolgreicher als die Mitbewerber zu sein. Darüber hinaus gibt es keinen nachhaltigen Selektionsvorteil. Treffen Tiere Entscheidungen über ihr zeitlich-räumliches Verhalten, wenn auch nicht bewusst, sondern als Lebensäußerung bzw. als Reaktion auf ihre Umwelt, so entsprechen diese in ihren Auswirkungen doch den menschlichen KostenNutzen-Abwägungen. Daraus ergibt sich die Frage, wie in Zeiten, weit kürzer als populationsdynamische oder gar evolutive Prozesse, optimale Lösungen zustande kommen. 2.1.4 Kostenfunktionen der Raumnutzung Die Entscheidungen über die Investitionen in Ortswechsel bzw. Transport werden durch verschiedene Merkmale einer Ressource3 bzw. eines Requisites bestimmt: Qualität und Quantität sowie Zeit und Ort der Verfügbarkeit. Zwischen diesen Dimensionen gibt es theoretisch unendliche Kombinationsmöglichkeiten. Welche Option in welcher Situation für die Investition die optimale Lösung verspricht, unterliegt einem dynamischen Abwägungs- und Optimierungsprozess. Mit einem fiktiven Beispiel lässt sich diese komplizierte Dynamik bildhaft machen. Inseln im Wasser sind bei Menschen und Landtieren ein begehrtes Gut. Dem einen dienen sie als Oase der Ruhe und Entspannung, den anderen z.B. als räubersicherer Brutplatz. Der Nutzen der Inseln steigt mit ihrer Isolation; je weiter sie vom Festland entfernt sind, desto sicherer sind sie vor Störenfrieden. Mit der Sicherheit nehmen aber auch die Kosten zu. Das Risiko, beim Überqueren des Wassers zu verunglücken, steigt mit der Entfernung der Inseln vom Festland. Hinzu kommt, dass es Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit von Zufallsereignissen (Wetterveränderungen, Räuberüberfälle u.ä.) geben kann, die den relativen Nutzen einer Insel noch schwerer kalkulierbar machen als die bloßen Entfernungen. Die potenziellen Insulaner müssen also verschiedenste Variablen verrechnen, um zu entscheiden, ob die Nachteile in einem vertretbaren Verhältnis zu den erwarteten Vorteilen stehen. Mathematisch sind solche dynamischen Optimierungsprozesse mit Kostenfunktionen aus der Optimal-Control-Theorie zu beschreiben (vgl. Elgerd 1967; Hampi3
In diesem Kapitel findet nachfolgend der Begriff „Ressource“ Verwendung, wenn als Nutzer der Mensch gemeint ist, der Begriff „Requisit“, wenn Tiere die Nutzer sind.
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cke 1992). In der Öko-Ethologie konnte gezeigt werden, wie Entscheidungen und optimale Verhaltenssequenzen von Tieren auf Kostenfunktionen zurückgeführt werden können. McCleery (1981: 297) weist aber darauf hin, dass Kostenfunktionen eigentlich nur einen Teil des gesamten Abwägungsprozesses beschreiben: Die „… Kostenfunktion ist die Größe, welche ein Tier minimieren sollte, um sich in einer bestimmten Umwelt optimal zu verhalten, sie ist daher eine Eigenschaft der Umwelt. Die Zielfunktion ist andererseits die Funktion, welche wirklich durch das Tier minimiert wird, und sie ist deshalb eine Eigenschaft eines bestimmten Tieres.“ Diese feine Abstufung könnte man verkürzt auf die Diskrepanz zwischen Anspruch (Ziel) und Wirklichkeit (Kosten) reduzieren. Vollkommene Harmonie zwischen beiden ist für das Tier ein seltener Zustand: Es ist perfekt angepasst, bessere Lösungen gibt es nicht. Kostenfunktionen bestimmen auch das Verhalten des Menschen im Raum. In der Raumwirtschaftstheorie wird der Ansatz verfolgt, die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Prozesse mit dynamischen Modellen zu optimieren. Dabei sind Elemente von Kostenfunktionen in allgemeiner Form Grundlage für die Ableitung wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Durchgesetzt hat sich in der Ökonomie das Maximum-Prinzip von Pontryagin (Hampicke 1992; Guðmundsson u. Anderson 2000). 2.2 Überleben und Wirtschaften im Raum 2.2.1 Wirtschaftsraum und Lebensraum Dass Netto-Erträge aus der Nutzung bestimmter Räume (Wirtschafts- oder Habitat-Patches) eine (Kosten-)Funktion ihrer Lagebestimmungen und ihrer Qualität sind, ist zuerst in der Agrarökonomie erkannt worden. Von Thünens bis heute aktueller Klassiker „Der isolirte Staat in Beziehung zu Landwirthschaft und Nationalökonomie“ (v. Thünen 1826) ist eine theoretische Ableitung über den Einfluss von Bodennutzungen, Bodenpreisen und Transportkosten auf den Netto-Ertrag eines landwirtschaftlichen Produktes. Von Thünens Entscheidungsproblem ist die Frage, wie eine Bodeneinheit in einer bestimmten Entfernung zu einem Verbrauchs-Ort optimal genutzt werden sollte, wenn (1) der Preis für die Produkte gegeben ist und im gesamten homogenen landwirtschaftlichen Umland des Ortes (2) die Faktorpreise für Arbeit und Kapital sowie (3) die Transportkostensätze gleich sind. Für den landwirtschaftlichen Unternehmer steht damit hinter der Frage, welches Produkt mit welcher Intensität in welcher Entfernung die höchsten Netto-Erträge schafft, ein Optimierungsprozess, der theoretisch mit einer Kostenfunktion zu beschreiben ist. Ein Teil des Optimierungsprozesses ist mit den Transportkosten verknüpft: Bei gleicher Bewirtschaftungsintensität steigen mit zunehmender Entfernung die Frachtkosten und sinkt der zu erzielende Nettopreis. Die Konsequenz ist das Bestreben zur Transportkosten-Minimierung. Deren Einfluss auf das Gewinnma-
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ximierungsaxiom wird mit verschiedenen Modellen der industriellen Standorttheorie untersucht (vgl. Schöler 1995). Stark verkürzt lautet deren Vorhersage: Das Gewinnmaximum eines optimalen Standortes im Raum ist nur bei weitestgehender Hypermobilität der Unternehmensstandorte zu realisieren. Erreichbar ist das durch eine hohe Raumdurchlässigkeit für Güter, Informationen usw. So erzeugt der Zwang zur Gewinnmaximierung theoretisch eine anhaltende Verdichtung der Infrastruktur, insbesondere der Verkehrsinfrastruktur, im Wirtschaftsraum – eine Selbstverstärkung, durch die die Ursache zur Wirkung wird: Die Verbesserung der Infrastruktur sowie die Entwicklung neuer Transporttechnologien erhöhen die Transportgeschwindigkeit und vermindern die Transportkosten (vgl. Tegner u. Ewers 1997). Deren raumdifferenzierende Wirkung geht nach und nach verloren. Gleichzeitig verlieren die klassischen Ansätze der Raumwirtschaftstheorie ihre Basis (Blotevogel 2002/2003). Infolge des Bedeutungsverlustes der Transportkosten vollziehen die Wirtschaftsprozesse einen bisher ungekannten Wandel, die Diffusion von Raum und Zeit. Dieser als Raum-Zeit-Konvergenz bezeichnete Prozess ist gleichermaßen Antrieb und Voraussetzung für eine globalisierte Weltwirtschaft (vgl. Gatrell 1983; Blotevogel 2002/2003). Die traditionellen Ökonomie-Modelle treffen in ihren grundsätzlichen Aussagen auch auf das Verhalten von Tieren in Beziehung zur Lage und Qualität ihrer Lebensräume zu. Wie im Von-Thünen-Modell stehen auch Tiere in einem theoretisch homogenen Lebensraum um ein Vermehrungszentrum z.B. vor der Frage, welche Nahrung mit welcher Intensität aus welcher Entfernung den maximalen Fitnessgewinn verspricht. Die daraus resultierende, vergleichsweise einfache Kostenfunktion wird dann äußerst komplex, wenn man von inhomogenen Lebensräumen ausgeht. In der Realität der Landschaft schaffen natürliche und anthropogene Einflüsse ein „Filterset unterschiedlicher Maschenweite“, das den Gesamtraum in Lebensraumkompartimente mit unterschiedlichen Gradienten in der Habitatfunktion aufteilt. Der von Kuhn u. Kleyer (1999: 53) mit einem Filtervorgang verglichene nutzungsbedingte Ausleseprozess für Arten in der Landschaft spielt z.B. in Fragmentierungsmodellen eine große Rolle. Wichtige Voraussetzungen für die Fitnessmaximierung in inhomogenen Räumen sind eine hohe Mobilität und eine für das Zusammentreffen mit Fortpflanzungspartnern ausreichende Populationsdichte. Wenn beides zusammen mit einem feinkörnigen Habitat-Patch-Muster realisierbar ist, wäre die Optimierung ideal: Maximaler Fitnessgewinn bei minimalen Transport-(bzw. Wanderungs-)kosten. Der umgekehrte Fall hat unweigerlich das Risiko des Aussterbens zur Folge. Bleibt die Flächengröße der Habitat-Patches bei zunehmender Entfernung konstant, so übersteigen schließlich die Wanderungskosten den Fitnessgewinn. Sind Flächengröße und Entfernungen variabel, ergeben sich in einem dynamischen Optimierungsprozess theoretisch unendliche Varianten für den Fitnessgewinn. Auch gibt es zwischen den Arten erhebliche Unterschiede in den Überlebensstrategien in Bezug auf die Habitat-Patch-(Corridor-)Struktur im Raum (vgl. Forman 2001). Typisierungen dazu haben Poethke et al. (1999) vorgestellt. Die Nutzungsoptimierung von Wirtschafts- und Habitat-Patches folgt demnach prinzipiell solange gleichen Gesetzmäßigkeiten, wie die Raumdurchlässigkeit bzw.
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umgekehrt der Raumwiderstand die Transport- und Wanderungskosten bestimmen. Diese Gemeinsamkeit geht verloren, wenn wegen der rückläufigen Transportkosten der Raumwiderstand für Wirtschaftsprozesse unerheblich wird. Für die Tiere ist der Effekt wahrscheinlich überwiegend umgekehrt: Die mit den Raumwiderständen verbundenen Lasten werden keinesfalls geringer, sondern wegen der Verdichtung der Infrastruktur eher größer. 2.2.2 Raumwiderstand und Raumdurchlässigkeit Die Interaktion zwischen Raum und Lebewesen wird einerseits bestimmt durch den Nutzen, den das Individuum durch die Besiedelung eines Habitatpatches oder die Konsumtion eines unterschiedlich im Raum verteilten Requisites hat. Andererseits wird sie durch die Kosten bestimmt, die entstehen, um das Habitatpatch oder ein Requisit zu erreichen. Mit steigender Entfernung wachsen auch die Kosten, im einfachsten Fall nur durch Verlust an Energie, die für die Fortbewegung verbraucht wird. Gravierender wirkt sich die mit zunehmender Bewegung im Raum ansteigende Sterbewahrscheinlichkeit aus. Diese steigt wegen häufigerer Begegnungen mit Fressfeinden oder, in unserem speziellen Fall, mit der Anzahl der Straßenquerungen. Mit zunehmender Distanz, die überwunden wird, können sich die Kosten addieren. Der Raum setzt also auch der Fortbewegung von Tieren einen Widerstand entgegen. Die Fähigkeit einer Art, Entfernungen zwischen Habitatpatches oder verschiedenen Requisiten zu überwinden, ist für die Durchdringung des Raumes entscheidend. Raumwiderstand und Durchdringungsfähigkeit sind ein antagonistisches Paar. Der Raumwiderstand kann als (gemittelter) Wert für jeden Punkt des Raumes angegeben werden, die Durchdringungsfähigkeit ist eine Eigenschaft des Individuums (bzw. der Art). Da sich die Ansprüche jeder Art an die Landschaft und jedes darin enthaltene Objekt unterscheiden, lässt sich der Wert des Raumwiderstandes eines Punktes in der Landschaft wiederum nur im Kontext mit der betrachteten Art definieren. Raumwiderstand kann als Potenzial betrachtet werden: zum einen mathematisch-physikalisch als skalares Feld im Raum verteilter Punkte mit definierten Werten und zum anderen geographisch als räumliche Anordnung von Punkten mit bestimmten Entwicklungsmöglichkeiten in Bezug auf die betrachtete Art (vgl. Bobek u. Schmithüsen 1949, zit. in Bastian 1997). Abstrakt kann der Raumwiderstand als Eigenschaft der Umwelt gesehen werden, die für das Lebewesen Kosten verursacht. Von der Raum-Durchdringungsfähigkeit des Individuums hängt ab, ob das Verhältnis von Kosten (durch den Raumwiderstand) und Nutzen (durch Qualität und Quantität der Requisiten) günstig ist. Sie entscheidet im Endeffekt über den Anpassungswert des Raumverhaltens eines Lebewesens. Um optimale Lösungen zu erreichen, sollten Kosten und Risiken minimiert werden. Nach McCleery (1981) ist es im Prinzip möglich, den Raumwiderstand mit Kostenfunktionen und die Durchdringungsfähigkeit mit Zielfunktionen zu berechnen. Im konkreten Fall muss das für jeden zurückgelegten Weg geschehen.
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Kappler (in Billwitz et al. 1998) schlug einen Ansatz vor, mit dem sich der Raumwiderstand für eine konkrete Tierart berechnen lässt. Wesentliche Elemente dieser Funktion sind der Raumwiderstand eines geographischen Objektes A RW[A], bezogen auf die Tierart oder Tiergruppe G, die Trennungsstärke tG [Bi], bezogen auf den Punkt i eines geographisch benachbarten Objektes B, und der Distanz dij zu diesem (Formel 1). n
RWG
t G >Bk @i
¦ 1 d b
i 1
(1)
ij
Der Raumwiderstand der Objektpunkte von A ist ein diskreter Potenzialwert. Der Raumwiderstand RWG[A] des gesamten geographischen Objektes errechnet sich dann als Mittelwert über alle Objektpunkte und führt zu einem Potenzialfeld, wobei die Trennungsstärke tG[Bk] für alle Punkte i des geographischen Objektes Bk als gleich groß angenommen wird. Der Index k steht dabei für die verschiedenen Nachbarobjekte des Objektes A (s. Beitrag Kappler auf der CD). Während der vorgestellte Ansatz insbesondere für die Verwendung in vektorbasierten GIS entwickelt wurde, bieten viele rasterbasierte oder hybride GIS schon eine Grundfunktionalität zur Berechnung von sog. Kostenoberflächen an, die wiederum als Ausgangsbasis zur Abschätzung der wahrscheinlichsten Ausbreitungsrichtungen oder potenziellen Trassenführungen besonders geeignet sind (vgl. z.B. Bowser 1996; Irwin 2002).
Mit diesem Potenzialansatz wird eine Raumeigenschaft definiert, die für jede Landschaft bzw. für Ausschnitte davon bestimmt werden kann. In der graphischen Umsetzung entsteht ein mit Isolinien oder farbigen Flächen ausgestattetes mehrdimensionales Bild, in dem der Raumwiderstand als Potenzialmodell erscheint, vergleichbar mit der Morphologie von Ebenen und Gebirgen in digitalen Geländemodellen. Im Unterschied zum realen Abbild der Erdoberfläche erscheinen dabei die für verschiedene Tierarten unterschiedlich wirksamen Hindernisse in der Gestalt (fiktiver) Gebirge oder Hochplateaus. Umgekehrt können, je nach den Umweltansprüchen der betrachteten Lebewesen, Berge, die nur nach menschlichem Verständnis Hindernisse sind, nahezu unbedeutend werden. Im Hinblick auf das Raumverhalten von Tieren ist zwischen natürlichen und nutzungsbedingten (d.h. anthropogenen) Raumwiderständen zu unterscheiden. Die Grenze zwischen beiden ist unscharf und vielleicht eher eine Frage der Konvention als ein objektiver Zustand. Nutzungsbedingte Widerstände entstehen teilweise unabhängig und immer zusätzlich zu den natürlichen und können diese ggf. verstärken. Insofern ist die Abgrenzung ähnlich strittig wie die Antwort auf oft polemisierend gestellte Fragen, wie die nach der Trennung von Natur und Landschaft (vgl. Haber 1999; Küster 2000). Die hier favorisierte Trennungsmöglichkeit nutzt als Hilfskriterium die „Güteklasse“ der Grenze. Sie unterscheidet harte Grenzen beim nutzungsbedingten von weichen Säumen beim natürlichen Raumwiderstand und beschreibt damit die Dauer einer Grenze in der Zeit, also den „Bestandsschutz“. Säume verändern sich oft schon durch Änderungen der (Land-)Nutzung. Grenzen entstehen dagegen durch Baumaßnahmen und sind nur durch Rückbaumaßnahmen zu verschieben. Hinter einer solchen Konvention steht das Bewusstsein, dass auch Säume, z.B. als geo-ökologische Barrieren zwischen Land und Wasser, erheblich längeren Bestand haben können als nutzungsbedingte Grenzen (Verkehrswege, Siedlungen). Der Begriff Raumwiderstand ist insofern nichts weiter als eine qualifizierende und quantifizierende Metapher für einen der wichtigen Antriebe in der Evolution –
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die geografische Isolation. Das Paradoxon: Durch anthropogene Verstärkung des Raumwiderstandes droht, dass sich die Isolation als „Schwungrad der Evolution“ (Quammen 1996: 167) in das Gegenteil verkehrt und zu ihrem Bremsklotz wird. 2.2.3 Populationsökologie und Raumwiderstand In der Ausrichtung der Forschungsansätze der Ökologie vollzieht sich eine bemerkenswerte Trendwende. Hatte es der Empiriker in der Vergangenheit schwer, seine Befunde in Theorien einzuordnen und mit Modellen zu verifizieren, so steht er heute vor der Frage: Wie finde ich in der Vielzahl der Theorien und Modelle den richtigen Ansatz? Mittlerweile besteht das Dilemma, dass die empirische Forschung die methodischen Voraussetzungen der Theorie- und Modellentwicklung oft nur noch unzureichend erfüllen kann. Die Gründe dafür sind breit gefächert. Einer der wesentlichen liegt wohl in der unzureichenden Verallgemeinerung und in Defiziten der vergleichenden Betrachtung. Übersichtsreferate sind zu vielen Themen immer noch rar. Für Außenstehende, insbesondere auf der Anwenderseite, wird es deshalb zunehmend aufwendig und belastend, den Überblick zu behalten und im rechten Augenblick die richtige Wahl zu treffen. Wie also ist der Raumwiderstand in das theoretische Rüstzeug der Ökologie einzuordnen? Das Verhalten von Lebewesen im Raum wird von art- und raumspezifischen Potenzialen und Widerständen bestimmt. Im Zentrum des Interesses stehen die mehr oder weniger kontinuierlichen Spektren von Angebot (Umwelt) und Nachfrage (Tier) im theoretisch unendlichen Raum. Erklärt und beschrieben wird die Interaktion von Tier und Umwelt durch Kosten-Nutzen-Relationen (vgl. Kap. 2.1.3 bis 2.1.5). Die Bezugsebenen sind also das Individuum bzw. die Population und der quasi kontinuierliche Raum – anders formuliert, die gesamte Landschaft. Der Einfluss räumlicher Effekte auf die Überlebenswahrscheinlichkeit von Populationen ist erstmals durch die Inseltheorie von Mac Arthur u. Wilson (1963, 1967) verallgemeinert worden. In aller Konsequenz schaffte dann das MetaPopulationskonzept von Levins (1969, 1970) eine Sichtweise, die den Raum – hier präziser die Habitat-Insel – als wesentlichen Regulationsfaktor für die Überlebenswahrscheinlichkeit von Populationen identifiziert. Neben der traditionellen Theorie der dichteabhängigen Regulation von Populationen (vgl. Wilson u. Bossert 1973) ist damit ein Konzept entstanden, dessen kreative Wirkungen für die theoretische Ökologie und die Naturschutzforschung Reich u. Grimm (1996) nachgezeichnet haben. Der Schlüsselfaktor im Ideengebäude von Inseltheorie und MetaPopulations-Konzept ist die Annahme eines „klar abgegrenzten Habitats“ (vgl. Reich u. Grimm 1996: 125) bzw. Fragments. Fragmentierungs-Modelle sind insofern lediglich raumbezogene Varianten des Meta-Populationskonzeptes. Das Verhalten von Individuen in Bezug auf die Fragmente ist vor eine klare „Alles-oder-Nichts“-Entscheidung gestellt. Ein Überleben ist nur in den Fragmenten möglich. Können Fragmente nicht erreicht werden, muss das Tier sterben. Der Raum ist in besiedelbare (Habitat-Patches, Fragmente) und nicht-besiedelbare Bereiche (sog. Habitatzwischenräume) geteilt. A priori werden damit Habitateigenschaften für die besiedelbaren Flächen vorausgesetzt und umgekehrt ausge-
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schlossen. Die Fragmente sind durch konkrete Eigenschaften definiert: Größe, Lage und Entfernung. Das gestattet es, theoretische Wahrscheinlichkeiten für die Besiedlungsdynamik von Arten und Populationen zu ermitteln. In die Vorstellung von streng diskreten Räumen lässt sich der Raumwiderstand nur schwer integrieren. Der Raum wird hier vielmehr als Kontinuum aufgefasst, dessen Zustand für Individuen oder Populationen mit den Begriffen „mehr oder weniger“ geeignet, d.h. mit Potenzialen beschrieben wird. Dass die Schwarz-weiß-Vorstellung diskreter Räume schwerlich durchzuhalten ist, beweisen empirische Befunde, u.a. von verschiedenen Amphibienarten. Gemeinhin als relativ langsam und immobil geltend sowie an klar abgegrenzte Habitate gebunden, erfüllen sie auf den ersten Blick geradezu typisch das Bild eines Lebenswandels zwischen Fragmenten: Der alljährliche Wechsel zwischen Laichgewässer hier und Winterquartier dort. Der Raum dazwischen ist nichts außer Hindernis und mit der unerfreulichen Vorstellung von straßendurchzogenen Äckern verbunden. So gar nicht in dieses Schema passt die Beobachtung, dass das Hindernis „Acker“ offensichtlich ein wichtiger Lebensraum mit, je nach Bewirtschaftung, Vor- und Nachteilen für den Populationserhalt der Lurche sein kann. Der Herpetologe Meitzner (2002) bewertet seine Studien wie folgt: „Äcker sind bedeutende Sommerlebensräume für Amphibien … Über 55 % der erfassten Moorfrösche … waren nicht laichbereite, juvenile Tiere, die die Äcker zur Nahrungssuche besiedeln … Darüber hinaus … sind auch Knoblauchkröte, Grasfrosch und Erdkröte … nachgewiesen worden. Sie gehören zum ganzjährigen Artenbestand der Äcker“ (Meitzner 2002: 15). Indes kann sich unter ungünstigen Bedingungen die Überlebenswahrscheinlichkeit durch die überall praktizierte mineralische Düngung auf < 50 % reduzieren (Hill 1997 in Meitzner 2002; s. auch Tobias u. Romanowsky 1999).
Ein Individuum hat dadurch wesentlich differenziertere Entscheidungsoptionen als Tod oder Leben. Der Denkansatz des Raumwiderstandes versucht, das Verhalten von Individuen und Populationen in die Komplexität der Landschaft zu integrieren. Das spezifische Raumwiderstandsspektrum der Landschaft ist für jede Art bzw. jedes Individuum durch „die Summe“ der Größen, Lagebeziehungen und Entfernungen aller Flächenelemente der Landschaft, d.h. aller Habitat-Fragmente plus aller Habitatzwischenräume, gekennzeichnet. Ändert sich die Konfiguration eines Elementes, so kann sich das ganze System ändern. Aus diesem multivariaten Ansatz resultieren analytische Probleme, die die Möglichkeiten der Datenverarbeitung, aber auch die der Biologen an ihre Grenzen bringen. Es ist bisher nahezu ausgeschlossen, die für komplexe Modellierungen notwendigen Daten in der entsprechenden Güte, Menge und Flächendeckung zu sammeln. Abhilfe können hier z.B. Fuzzy- oder regelbasierte Ansätze schaffen (z.B. Lutze et al. 1997, 1999; Kleyer et al. 1999/2000; Schultz 2002; Schultz et al. 2003).
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2.3 Die Zeit im Raum 2.3.1 Zeitlos – Raumwiderstand in der Naturlandschaft Unbeantwortet blieb bisher die Frage, ob und inwieweit die „Güteklasse“ von Raumwiderständen das Raum-Zeit-Verhalten von Tieren beeinflusst und ob die sog. „harten“, von Menschen gezogenen Grenzen andere Konsequenzen haben als die natürlichen Ausbreitungshindernisse. Gibt es im Vergleich von Natur- und Kulturlandschaft (resp. Planungslandschaft, s. folg. Kap.) vielleicht prinzipielle Unterschiede in der Struktur und Dynamik von Populationen bzw. Ökosystemen? Von der Beantwortung dieser Frage hängt auch ab, ob nutzungsbedingte Raumwiderstände anders zu bewerten sind als natürliche. Die verkürzte Antwort: Relevant für das Überleben von Populationen ist nicht die Konfiguration der Raumwiderstände im Status quo, sondern die intrapopulare Fähigkeit, das Tempo im Wechselspiel der Raumwiderstände (Entstehung, Persistenz) mitzuhalten. Es ist nichts von Dauer. Die entscheidende Schnittstelle für Unterschiede in der „Güteklasse“ von Raumwiderständen ist demnach der Faktor „Zeit“4. Allerdings, solange eine Population nicht erloschen oder existenzgefährdet ist, bleibt die Bewertung eines Raumwiderstandes immer eine Frage des persönlichen Ermessens. Das gilt umso mehr, je stärker die Umwelt einer Population fluktuiert und je weniger vorhersehbar das Schicksal einer Population ist. Die mehr oder weniger rasche Veränderung der Umwelt ist in den meisten Ökosystemen und Populationen nicht Ausnahme, sondern Regel. Unter natürlichen Verhältnissen tendieren die Systeme meist zu einem „Gleichgewicht“, befinden sich aber letztlich überwiegend im „Ungleichgewicht“. Das Pendeln zwischen diesen Zuständen wird als „Fließgleichgewicht“ verstanden (vgl. Begon et al. 1991; Pickett et al. 1992; Jax 2002). Als Auslöser von Ungleichgewichten gelten zeitlich variable Störungen durch Opponenten (Prädatoren, Konkurrenten, Parasi4
Spätestens an dieser Stelle ist eine Anmerkung zum Raum-Zeit-Phänomen angebracht. Dazu, weil vergleichsweise kurz und gut verständlich, Peres (2003, S 86): Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646–1716) „… definierte den Raum als ‚Nebeneinander oder Koexistenz der Dinge’, die Zeit ‚als Nacheinander oder Sukzession der Dinge’. Was so lapidar klingt, impliziert ungeheure Folgerungen: Sofern mit ‚Dinge’ alles gemeint ist, was ist, ob für uns wahrnehmbar oder nicht, existieren Raum und Zeit also nicht unabhängig von diesen Entitäten.“ Es „… fehlt ihnen der absolute Charakter. Vielmehr sind Raum und Zeit relativ auf die Dinge wie auch aufeinander bezogen. Das hat Konsequenzen: Wenn Raum und Zeit nicht ‚Behälter’ für Seiendes darstellen, sondern erst durch die Dinge konstruiert werden, dann kann es kein ‚Zwischen’ und kein ‚Außerhalb’ geben, also weder leeren Raum noch leere Zeit. Alles, was ist, bildet ein Raum-Zeit-Kontinuum. Einfache Entitäten wie auch komplexe Dinge sind durchgängig miteinander vernetzt. Der Wahrnehmung ist diese Wirklichkeit nicht zugänglich.“
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ten etc.) sowie physikalisch-chemische Bedingungen, die in sich und mit den Populationssystemen auf vielfältige Art nichtlinear gekoppelt sind und sich wechselseitig beeinflussen. Innerhalb eines Systems wirken die Störungen als distinkte Ereignisse, sie verursachen Raumwiderstände auf „Widerruf“ und werden von regenerativen Phasen abgelöst. Es geht nie zurück. Die Dynamik im Wechselspiel von Störung und Regeneration versucht man z.B. mit sog. Mosaik-Zyklus-Modellen zu verstehen und zu beschreiben. Dahinter steht die Vorstellung, dass ein System nicht homogen strukturiert ist, sondern aus verschiedenen Teilsystemen mit jeweils unterschiedlichen Entwicklungsstadien besteht, die ständig oder zeitweise im Austausch stehen. Wie in einem Mosaik sollten sich so die Teilsysteme zu einem funktionalen Bildwerk fügen. Innerhalb des Mosaiks können die Zyklen zeitlich sehr verschieden, synchron bis asynchron verlaufen. Auch ist nicht auszuschließen, dass Störungen extrem lange wirken und dadurch Raumwiderstände geschaffen werden, die als ökologische Barrieren Austauschbeziehungen nachhaltig behindern. Grundsätzlich gilt aber – als ein entscheidender Unterschied zu den durch intensive menschliche Nutzung geprägten Ökosystemen, dass Störungen in Naturlandschaften zwar Auslöser von Ungleichgewichten sind, die systeminterne Regulation aber zumeist ein Teil zyklischer Abläufe ist, wobei sie zumeist eine Entwicklung in Richtung des Ausgangszustandes bewirkt („Wiedereinstellungs-Mechanismus“, Begon et al. 1991: 836). Weil mit jeder Wiedereinstellung wegen zahlreicher zufälliger Umweltveränderungen die Anfangs- und Prozessbedingungen nie exakt dieselben sind, kann allerdings der vorhergehende Zustand nur annähernd erreicht werden. Dieses Bild von zyklischer Entwicklung widerspiegelt sich in der Vorstellung eines spiralförmig kreisenden Zeitpfeils (vgl. Reichholf 2002). Der Einfluss des Zufalls auf den Verlauf von Zyklen ist u.a. vom Ausmaß der Umweltvariabilität abhängig. Das klassische Beispiel dafür ist die Stochastik von Störungen durch Umweltkatastrophen, in deren Folge die Ketten vorheriger Entwicklungen vollständig abreißen und selbst größere Populationen erlöschen können (vgl. Amler et al. 1999: 49). Es geht immer auch anders. Nach den Voraussagen der Inseltheorie von Mac Arthur u. Wilson (1963, 1967) sollte sich die Rolle des Zufalls mit dem Grad der Isolation der Populationen bzw. Ökosysteme sowie mit der Verkleinerung von Flächen verstärken. Das ist das Resultat abnehmender Austauschbeziehungen und sich verringernder Populationsgrößen. Beides kann seinerseits intrapopulare Zufallsprozesse auslösen: demografische Stochastik, wie die Verschiebung von Geschlechter- und Altersverhältnissen sowie genetische Stochastik, wie die Veränderung von Allel-Anteilen (s.a. Shaffer 1981 nach Amler et al. 1999). Inseleffekte sind durchaus auch bei Festlandspopulationen zu finden: Je stärker und länger Raumwiderstände die Austauschbeziehungen behindern und je kleiner die eingeschlossenen Gebiete sind, desto weniger ist die Entwicklung der Populationen und Ökosysteme vorhersehbar und desto weniger greift der Wiedereinstellungs-Mechanismus. Statt dessen dominieren zahlreiche Randbedingungen die Dynamik des Systems. Die darin verborgenen vielfältigen, nichtlinearen (Rück-) Koppelungen erhöhen im Laufe der Zeit die Wahrscheinlichkeit, dass trotz glei-
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cher Ausgangsbedingungen (Ursachen) ganz verschiedene Wirkungen entstehen. Solche Systeme reagieren chaotisch. Im Prinzip ist das auch im umgekehrten Fall, beim Vorhandensein großer Flächen und ungehinderter Austauschbeziehungen, möglich, da – vor allem wegen der vergleichsweise ungehinderten Austauschbeziehungen – das System auf Störungen robust reagieren kann, weil die Pufferkapazität größer ist. Aquarianer wissen, dass ein kleines Aquarium viel schneller zu Zustandsschwankungen bis hin zum kurzfristigen „Umkippen“ neigt als ein großes Becken, das, einmal eingestellt, Jahre ohne größeren Eingriff stabil bleiben kann. Derartige Effekte der Wiedereinstellung und ggf. Selbstverstärkung gibt es insbesondere bei anwachsenden Populationen. Ein hervorragendes Beispiel dafür liefert auch die gegenwärtige Populationsentwicklung des Kormorans in Mittel- und Westeuropa. Modellierungen von gezielten Eingriffen zur Populationsbegrenzung im Zusammenspiel mit der Dichteabhängigkeit von Parametern, wie z.B. der Fruchtbarkeit, haben gezeigt, dass manchmal selbst drastische Verminderungen von Beständen kaum nachhaltigen Effekt zeigen (Fredericksen et al. 2001).
Nach den Gesetzen der Stochastik sind die systeminternen Prozesse weder umkehrbar noch wiederholbar. Daraus folgt einerseits, dass die WiedereinstellungsMechanismen keine originalgetreuen Reproduktionen des Ausgangszustandes bewirken und andererseits, dass es in der Entwicklung von Populationen und Ökosystemen keine stabilen (End-) Zustände gibt. Vielmehr kann ein „reifes“ System bei relativ konstanten Umweltbedingungen über die positive Rückkopplung „… in einen metastabilen Zwischenzustand …“ hineinlaufen, der seinerseits wieder Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung ist (Küppers 1993: 82). Bei aller Unordnung haben damit die Systeme in der Naturlandschaft eine gewisse Regelhaftigkeit, das sog. deterministische Chaos. Es herrscht die nur auf den ersten Blick paradoxe Situation der „geordneten Unordnung“. Es ist nie zu spät. Ob und wie unter diesen Bedingungen Selbstverstärkung und -organisation zu systeminternen Prozessen werden, bestimmt letztendlich die für die permanente Systemerneuerung verfügbare Zeit. Das Angebot an Zeit muss ausreichen, um den Zeitbedarf für die evolutive Anpassung, d.h. für die Selektion und Regeneration von Systemelementen, zu decken. Bei Populationen ist das mindestens der Zeitabschnitt einer Generation. Überlebenschancen bestehen für eine Population indes nur, wenn sie mit der zeit-räumlichen Dynamik des Raumwiderstandes mithalten kann. Das Risiko für die Populationen schwankt mit der Dauerhaftigkeit, der Gleichzeitigkeit und der Intensität des Raumwiderstandes. Unter diesem Aspekt bewirken die zeitlosen Mosaik-Zyklen in Naturlandschaften eine gewisse Risikostreuung: Früher oder später erhält jede Art bzw. Population an jedem geeigneten Ort eine Chance. 2.3.2 Zeitschnell – Geldzins und Raumwiderstand Während in der Naturlandschaft „die Zeit die Wunden heilt“, gilt in dem Maße, wie sich die Kulturlandschaft in eine Planungslandschaft (s.u.) wandelt, zunehmend das zum Slogan gewordene Gesetz der Wirtschaft: „Zeit ist Geld“. Als Wirtschaftsraum wird die Landschaft zum nachgeordneten Teil eines sozioökonomischen Systems, das sich weitgehend eigenständig ohne Rückkopplung auf die äußere Umwelt organisiert. Zwar sind externe Stoff- und Energiezufuhr für den Lebenserhalt des Systems unverzichtbar, die Regeln ihrer Verwertung laufen
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aber anders, nach systeminternen Rückkopplungen, ab. Dadurch entsteht in heutigen sozio-ökonomischen Systemen eine eigenständige, von der äußeren Umwelt entfremdete, innere Umwelt (Luhmann 1986, 1996; Immler 1989). Deren wichtigste Referenzoberfläche ist der Wirtschafts-Markt. Er wird angetrieben und aufrechterhalten durch den fortwährenden Umlauf von Kapital, das sich durch die systeminterne positive Rückkopplung der Zinseszinswirtschaft quasi im Selbstlauf vermehrt (vgl. Söllner 1999). Unter dem Druck dieser Eigendynamik entsteht in immer kürzerer Zeit immer mehr Kapital, was die Nachfrage nach Anlagemöglichkeiten immer rascher vorantreibt. Damit geht eine ebenso automatische wie erstaunliche Veränderung einher: Das Kapital „… verlagert seine Existenz mehr und mehr weg aus dem Raum in die Zeit hinein …“ (Fischer 1998: 40). Anders ausgedrückt: Das Kapital kann sich auch ohne Bodenhaftung im Wettbewerb um die Zeit vermehren. Das ökonomische Grundprinzip: Zeit ist Geld … und Geld kann, entsprechende Renditeaussichten vorausgesetzt, zu jeder Zeit und an jedem Ort nahezu unbegrenzt verfügbar gemacht werden. Infolge des Zinseszins-Effektes wächst das Geldvermögen exponentiell. „Der Zins bestimmt, … wie schnell die Wirtschaft wachsen muss“ (Kennedy 1994: 25) und damit das Tempo des strukturellen Wandels der Landschaft und der Lebensräume. In der exponentiellen Phase des Geldzuwachses wächst dementsprechend das Risiko, dass sich die Schere zwischen Raumwiderständen und Umweltangeboten (für die Tiere) stärker, vor allem aber zunehmend schneller öffnet. Der enge Zusammenhang von Zeit und Zins ist auch ein altes religiöses Thema. Das kanonische Recht fasste den Zins als Preis des Verleihers für die Zeit des Geldverzichts auf. Es vertrat den Standpunkt, Zeit sei „… ein Geschenk Gottes … und dürfe nicht verkauft werden …“ (Müller 2003: 25). In die gleiche Richtung dachte schon, lange zuvor, Aristoteles: „Das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende, und durch den Zins entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur“ (Müller a.a.O.).5 Wenn die Rückkopplungs-Mechanismen auf die äußere Umwelt fehlen, hat das dort zwangsläufig unvorhersehbare Auswirkungen. Jede raumfordernde bzw. raumbeeinflussende Investition schafft direkt oder indirekt für einen Teil der Artengarnitur Raumwiderstände, für einen anderen im gleichen Zuge mitunter auch Umweltangebote, z.B. in der Bergbaufolgelandschaft. Beides entsteht außerhalb der „normalen“ Umweltvariabilität und erzeugt eine in hohem Maß spontane Variabilität. Für die öko-biologischen Systeme ist das gleichbedeutend mit dem Ver5
In gewisser Weise erlebt dieser Standpunkt in den neueren Ansätzen der ökonomischen Theorie, z. B. der „Ecological Economics“, eine Renaissance, ohne aber für ein simples „Pro“ und „Kontra“ zu votieren. Für das Ziel, die Intensität der Naturnutzung zu steuern und den Naturerhalt zu fördern, kann und muss der Zins nach Meinung von Hampicke (1992) nicht abgeschafft werden. Allerdings darf er „… als Instrument eigennütziger Klugheit … ethischen Prinzipien, wie dem Erhalt der Natur für künftige Generationen, nicht die Priorität streitig machen. Ihm ist nur erlaubt, aus der Menge aller ökologischzukunftsethisch akzeptierbaren Allokationen diejenige herauszuselektieren, welche auch den heutigen Nutzen maximiert“ (S 423).
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lust an Anpassungsfähigkeit: Die sich mit wachsendem Tempo ständig und unkalkulierbar ändernden Ausgangs- und Rahmenbedingungen erschweren das Entstehen von Wiedereinstellungs-Mechanismen, überfordern schon aus zeitlichen Gründen die Reaktionsfähigkeit der Populationen und behindern Selbstverstärkungs- sowie Selbstorganisationsprozesse. Anstelle natürlicher Rhythmen bzw. Umweltschwankungen und Mosaik-Zyklen dominieren verstärkt die kurzfristigen Konjunktur-Zyklen – in Überlagerung mit den „langen Wellen“ der wirtschaftlichen Entwicklung – die Entwicklung der Ökosysteme (Huber 1986)6. Das gesellschaftliche Ergebnis: Die geplante Planlosigkeit. Bezzel (2001) hat versucht, diese neue Qualität der Landschaftsentwicklung mit dem Begriff „Planungslandschaft“ zu umschreiben, weil „… kaum ein Flächenteil Mitteleuropas frei von Absichten und Auswirkungen menschlicher Planungen oder von nicht vorhergesehenen Folgen von Eingriffen …“ ist, „… die in immer kürzeren Zeitabschnitten mehr oder minder entscheidende, oft sehr rasche und abrupte Änderungen der biologischen Dynamik bewirken“ (Bezzel 2001: 161). Angesichts der großen Bedeutung von Zufallsprozessen trifft Bezzels Wortschöpfung nur teilweise den Kern. Suggeriert doch der Begriff „Planung“ ein einheitliches, vernunftgemäßes Vorgehen auf der Grundlage einer systematischen Vorbereitung – wird aber offensichtlich von den verschiedenen Fachbereichen unterschiedlich definiert, weshalb es keinen einheitlichen Planungsbegriff gibt (Fürst 1995; Kran u. Splett 1999). So kann Planung statt Vorsorge auch Nachsorge sein und der Ordnung, Entwicklung und Sicherung der vom Markt vernachlässigten, weil monetär nicht bewertbaren, langfristigen gesellschaftlichen Ziele dienen. Als Nachsorge für die Auswirkungen der freien Marktkräfte wird aus Planung oft Planlosigkeit (Marten 1997). In deren Ergebnis unterliegt das ökologische System „Landschaft“ einem fluktuierenden Veränderungsprozess, der die quasi-stabilen Zustände der überkommenen Kulturlandschaft, wie die relativ feststehenden Flächen- und Verteilungsrelationen zwischen Wald, Offenland und Siedlungen, in Mitteleuropa zunehmend aufhebt. Wegen der weitgehenden Unvorhersagbarkeit von Zeitpunkt, Richtung und Umfang dieser Veränderungen sowie ihrer zunehmenden Abhängigkeit von extern angestoßenen sozio-ökonomischen Prozessen beschreibt der Begriff „Eingriffslandschaft“ (Bezzel 2001) die gegenwärtige Situation wohl erheblich besser. Der fortwährende strukturelle Wandel der Eingriffslandschaft ist die direkte und indirekte Folge der bisherigen Zinswirtschaft. Sie führt dazu „… das Nutzungs6
Ohne den Hintergrund der jeweils eigenen Zeitlichkeit in der Natur und in der Gesellschaft ist die Landschaft, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur unvollkommen zu verstehen. Für Braudel (1990, zit. nach Beck 2003: 10), der die Sozialgeschichte der Mittelmeerwelt des 16. Jahrhunderts beschrieb, sind „… Landschaft, Klima, das ‚geographische Milieu’ oder der ‚Raum’ … Teil einer ‚träge dahinfließende[n] Geschichte, die nur langsame Wandlungen kennt’, einer Geschichte der ‚langen’, ja ‚sehr langen Zeitabläufe’ (‚longue durée’), die sich von der ‚Geschichte der Ereignisse’ mit ihren kurzen Rhythmen (‚courte durée’) abhebt.“ Deshalb habe man „… sich mehr und mehr daran gewöhnt, von Strukturen und Konjunkturen zu sprechen und mit jenen die langen, mit diesen die kurzen Zeiträume zu bezeichnen“ (vgl. Beck 2003: 236).
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tempo natürlicher Ressourcen zu steigern“ (Hampicke 1992: 78). Das Ergebnis widerspiegelt sich auf strukturell-räumlicher Ebene im komplexen und teilweise widersprüchlichen Wirken globaler (z.B. Loslösung internationaler Finanzmärkte vom Raumbezug), kontinentaler (z.B. „Diktat“ einer europaweit vereinheitlichten Struktur- und Raumentwicklungspolitik) und regionaler Wirtschaftsentwicklungen (z.B. von Lobbyinteressen beherrschte Raumerschließung). „Für jede(n) der/die sich um eine mögliche Übernutzung natürlicher Ressourcen sorgt, ist dies ein Alarmsignal; die betriebswirtschaftliche Rationalität nach Maßgabe des Kapitalverwertungskalküls verdient aus ökologischen Gründen zweifellos Misstrauen“ (Hampicke a.a.O.). Die landschaftlichen Folgen: Beschleunigter Wandel. In der Konsequenz verstärkt sich der Trend, dass die Umwelt- und Requisitenangebote für die Arten, Populationen und Lebensgemeinschaften kurzlebiger werden und stärker fluktuieren als in der traditionellen Kulturlandschaft. Betroffen davon sind alle Dimensionen der Tierlebensräume. An vorderer Stelle der fachlichen, neuerdings auch öffentlichen Wahrnehmung, stehen zufallsdeterminierte, räumlich-strukturelle Veränderungen der Ökosysteme, Biotoptypen und Biotope (vgl. Küster 1995, 1998; Konold 1996; Gatter 2000), die sich aber auch, weniger beachtet, in den inneren Strukturen der Habitate und Mikrohabitate reflektieren (vgl. Briemle et al.1991; Ostendorp 1993; Spiecker et al. 1996; Gatter 2000). Entsprechendes gilt, zwangsläufig auch wegen der engen funktionellen Wechselbeziehungen, für die chemisch-physikalische und die biologische Dimension. Hier zeigt sich die zunehmende Frequenz zufallsbestimmter Umweltveränderungen in immer neuen Konstellationen der Konkurrenz- und Räuber-Beute-Beziehungen sowie im unkalkulierbaren Wirken von Nähr- und Schadstoff- sowie Klimaeinflüssen, die direkt oder indirekt das Lebensraum- und Nahrungsangebot für Tiere bestimmen. Beispiele über die Faktoren-Wirkungen und ihre vielfältigen wechselseitigen Verknüpfungen liefern u.a. Steinicke et al. (2002) für die Herpetofauna, Gatter (2000) für die Vogelwelt sowie MitchellJones et al. (1999) für die Säugetiere in Mitteleuropa. Dazu zwei Beispiele: Man sollte meinen, Haussperling und Schwarzstorch sind Arten, wie sie für den Naturschutz verschiedener nicht sein können. Ist der eine der Inbegriff des Gewöhnlichen, so ist der andere der des Außergewöhnlichen. Vor dem Gesetz des Zufalls sind aber beide auf verblüffende Weise gleich. Rund ein Vierteljahrhundert landwirtschaftlicher Strukturwandel von der bäuerlichen zur industrialisierten Produktion und Verarbeitung war ausreichend, um den Sperlingsbestand in Westeuropa zu halbieren und aus einem gemeinen Spatz den Titelträger „Vogel des Jahres 2002“ zu machen. Das Zufallsereignis der deutschen Wiedervereinigung hat innerhalb nur eines Jahrzehnts dafür gesorgt, dass diese Entwicklung inzwischen auch ganz Ostdeutschland betrifft (Engler u. Bauer 2002; Hole et al. 2002). Und: Die Bestandsdynamik des Schwarzstorches wird nicht etwa allein durch die Witterung im afrikanischen Winterquartier oder in den heimischen Brutgebieten, sondern auch durch das deutsche Osterwetter bestimmt. Gutes Wetter lockt Tausende Osterspaziergänger in den Wald, die das Brutgeschäft in einer hochsensiblen Phase der Fortpflanzung so nachhaltig stören können, dass im betreffenden Jahr der Bruterfolg ausfällt. So gesehen wird für den Storch zufallsbedingt schlechtes Wetter zum guten Wetter (für Brandenburg, U. Köppen, mdl. Mittlg.).
Das populare Risiko: Unkalkulierbare Umwelt. Die aus der zunehmenden Bedeutung stochastischer Prozesse erwachsenden Risiken für die Populationserhaltung können graduell u.a. durch das Leben in Teilpopulationen, die durch mehr
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oder weniger intensiven Austausch in einer Metapopulation (vgl. Kap. 7.5) miteinander verbunden sind, abgefedert werden. Als Anpassung an zeit-räumlich diskontinuierliche Schwankungen der Umweltbedingungen setzt eine erfolgreiche Dismigration von Individuen aber voraus, dass deren Raumdurchdringungsfähigkeit größer ist als der Raumwiderstand. Nur dann können Störungen letztlich diskrete Ereignisse bleiben, die früher oder später eine Wiederbesiedlung erlauben. Je rascher und spontaner sich die nutzungsbedingten Raumwiderstände in einer sog. Planungslandschaft ändern, desto unkalkulierbarer sind die Risiken der Dismigration. Ständig neu entstehende und sich verändernde harte Grenzen in den Siedlungs- und Infrastrukturen sowie azyklische und rasche Nutzungsartenänderungen schaffen zusammen mit einer anhaltenden Nutzungsintensivierung in den Agrarund Forstökosystemen in hohem Umfang zufallsbedingte Prozesse, für die es in vergleichbaren Naturlandschaften nur wenige Pendants gibt. Die Antworten der Individuen und Populationen auf einen erhöhten, mehr und mehr zufallsbedingten Raumwiderstand sind offenbar ebenso unsicher und schwierig zu prognostizieren wie die Entwicklung ihrer Umwelt selbst. Nach einer Reihe von Modellen und empirischen Untersuchungen über die Fortpflanzungsstrategien in einer „fluktuierenden“ Umwelt könnten im Kontinuum zwischen rund K-Strategien die ersteren im Vorteil sein (r – hohe Reproduktionsleistung, hohe Elastizität gegenüber der Umwelt, K – geringe Reproduktionsleistung, geringe Elastizität). Allerdings kann es in Abhängigkeit vom Wachstumsniveau der Population auch andere Optionen geben (vgl. Krebs u. Davies 1981, 1996; Begon et al. 1991). Immerhin scheinen Feldstudien, die Entwicklungen zu einer ubiquitären Fauna konstatieren, die Voraussagen der theoretischen Modelle zur Verlagerung des Artenspektrums in Richtung der rStrategen zu stützen (vgl. Sukopp u. Werner 1987; Flade 1994; Bauer u. Berthold 1997; Dolton u. Brooke 1999; Bauer u. Boschert 2002). Aber auch für den gegensätzlichen Fall gibt es Beispiele: Dass die K-selektierten Tierarten der Megafauna von Braunbär bis Seeadler (Kollmann et al. 2002; Langgemach 2002; Linnell et al. 2002) selbst in suburbane Landschaften vordringen, bezeugt nicht etwa die Rückkehr der Natur und damit der heilen Welt, sondern lediglich das räumlich und zeitlich zufällige Vorhandensein „freier“ Energieströme (und damit freier ökologischer Nischen) aus sozioökonomischen Systemen (vgl. Kap. 11.1.2). Ob das ein gutes Zeichen für den Zustand der (Planungs-) Landschaft ist, darf aus dieser Sicht bezweifelt werden.
Das Naturschutzproblem: Gibt es ein neues Wertesystem? Mit – zugegeben – reichlich Sarkasmus gesagt, reduzieren sich damit viele biologische Feldstudien zu einem lediglich ökologisch etwas gefilterten Blick in den Spiegel des eigenen sozio-ökonomischen Systems. Künftig wird man wahrscheinlich stärker hinterfragen müssen, ob z.B. die öko-biologischen (Arten-)Monitoringprogramme die in sie gesetzten Hoffnungen wirklich erfüllen können: In dem Maße, wie die Arten und ihre Populationsdynamik zum integralen Bestandteil eines geschlossenen sozio-ökonomischen Systems wurden und werden, nimmt ihr Indikatorwert für den Zustand der äußeren Umwelt ab. Wenn aber das Monitoring nur den Zustand der eigenen „inneren Umwelt“ abbildet, ist zu erklären, wie die gewonnenen Informationen zu bewerten sind und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben. Wie will man entscheiden, welche Populationen intakt sind, was „zuviel“ oder „zuwenig“ ist? Welche Instrumente sind verfügbar, um der Bewertung eine praktische Konsequenz folgen zu lassen? Um solche Fragen zu beantworten, wird
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es mehr als bisher nötig sein, die gleiche Aufmerksamkeit, die der Erfassung der Arten zuteil wird, auch den für ihr Vorkommen maßgeblichen anthropogenen und natürlichen Standortfaktoren zukommen zu lassen. Wie man versuchen kann, solche Probleme anzugehen, zeigen Schlumprecht et al. (2001) sowie Schlumprecht u. Südbeck (2002). 2.3.3 Der Wettlauf um die Zeit Wenn der Wirtschaftsraum „Landschaft“ ohne Rückkopplung auf die äußere Umwelt als autarkes sozio-ökonomisches System existieren kann (Luhmann 1986, 1996) und „… der Mensch endgültig seine Existenz in Regie nimmt und den Naturzustand verlässt …“ (Böhme 1992: 197), ist zu fragen, wie sich solche Systeme (selbst-) regulieren. Für Tomášek (1980: 303) ist diese Frage zu beantworten, wenn man den sozioökonomischen (sog. technischen) Systemen analog zu natürlichen Ausleseprozessen eine eigene „technische Evolution“ zugesteht: „Die Mutation ist hier die zufällige Erzeugung von Ideen bei der Konstruktion der technischen Systeme; die Selektion ist die Auslese dieser Ideen durch die Umwelt, insbesondere die Märkte“7. Der wesentliche Unterschied zwischen der biologischen und der technischen Evolution8 liegt in der Verschiedenheit ihrer Geschwindigkeiten.
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Tomášek (1980) steht in der Tradition von gesellschaftskritischen Denkrichtungen, die im „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“ unter Berufung u.a. auf Friedrich Engels und Karl Marx das Mittel „… für die Ausbeutung der Natur …“ sehen und es für seinen Zweck halten, die Ausbeutung so zu rationalisieren, „… daß auch ihre entfernteren Auswirkungen kontrollierbar bleiben. Damit soll die Natur Schritt für Schritt um die Möglichkeit gebracht werden, sich an den Menschen doch noch für deren Siege über sie zu rächen“ (Bierhals 1984: 123; vgl. Engels 1896). Das, so wird gefolgert, kann nur um den Preis „… der totalen Kontrolle über jeden Naturprozeß …“ (Mumford 1977, zit. nach Bierhals 1984: 123) erfolgen, die konsequenterweise die natürliche Evolution durch eine „technische“ ersetzt und den „… Menschen … zum Schöpfer der Natur …“ macht (Lenk 1983, zit. nach Bierhals 1984: 123). Aus dem Blickwinkel der Evolutionsbiologie ist eine Sicht, die die evolutiven Faktoren auf Anpassung und Auslese reduziert und auf sozio-ökonomische Prozesse anwendet, gleichzeitig aber anderes, wie z.B. die ökologische Nischenbildung und die Isolation, nicht erwähnt, vorsichtig gesagt, unkonventionell (vgl. Mayr 2002). Gleichwohl wäre es ignorant und würde einem gesellschaftlichen Anliegen wie dem Naturschutz nicht gerecht, die Diskussion zu Themen wie dem Verhältnis von Sozio-Ökonomie und Evolution auszublenden. In der Literatur erfolgt die Übertragung und Anwendung des Evolutionsgedankens und -begriffes über seinen unmittelbaren biologischen Ursprung hinaus unter Stichworten wie öko-biologische, sozio-biologische, kulturelle, sozio-ökonomische und technische Evolution. Dass hier auf die Begriffe „biologische“ und „technische“ Evolution zurückgegriffen wird, ist nicht einer vertieften Einsicht in die theoretische und begriffliche Diskussion geschuldet (s. dazu Heft 1 der Zeitschrift „Ethik und Sozialwissenschaften“ 4 (1993)), sondern lediglich dem Bemühen um Lesbarkeit.
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Der Anpassungsfähigkeit der Arten und mit ihnen der öko-biologischen Systeme sind durch die Zeitgebundenheit der Vererbung und damit durch die Endlichkeit im Tempo der Generationsfolgen natürliche Grenzen gesetzt, die es für die sozio-ökonomischen Systeme nicht gibt. Der Prozess von Informationserzeugung (Mutation) und Informationsvernichtung (Selektion) ist im sozio-ökonomischen System nicht an eine Generationsfolge gebunden, sondern Resultat einer theoretisch unbegrenzt anwachsenden Geschwindigkeit und eines höheren Wirkungsgrades in der Informationsverarbeitung. In sozio-ökonomischen Systemen können quasi vorweg die Ergebnisse eines Selektionsprozesses per Modellbildung und Versuch zeitsparend ausprobiert werden. Die technische Evolution wird gegenüber der biologischen Evolution durch ihre Doppeleigenschaft in Vorteil gesetzt: „Sie vollzieht sich erstens in jedem Individuum (Mensch; R.H.), indem es sich Wissen und Verhalten aneignet; zweitens entsteht durch die Externalisierung von Wissen und Verhaltensregeln von den Individuen auf die Gesellschaft, beispielsweise mittels Kommunikation und Information (Symbole, Sprache, Werkzeuge etc.), eine gesellschaftliche Speicherung von Entwicklungszuständen und -linien, so dass keine Generation mehr von neuem beginnen muss“ (Immler 1989: 54). Im Vergleich zu öko-biologischen Systemen, in denen der selektive Erfolg oder Misserfolg meistens erst nach Ablauf der individuellen Lebenszeit feststeht, erspart das Zeit und Energie. In sozioökonomischen Systemen würden demnach nicht Gene, sondern intellektuelle Informationen in Form von Modellen, Erfahrungen, Fähigkeiten etc. selektiert. Weil die Menge der verfügbaren Information mit dem Zinseszins des Kapitals korreliert und von diesem abhängig ist, wächst die Geschwindigkeit des technischen Evolutionsprozesses exponentiell. Sie läuft deshalb um „Größenordnungen“ energiesparender und schneller ab als in öko-biologischen Systemen9. In der Folge wird „… von zwei um die gleiche Ressource konkurrierenden Systemen auf Dauer dasjenige übrigbleiben, das eine schnellere Evolution und damit Umweltanpassung hat“ (Tomášek 1980: 304). Das Ergebnis im Wettbewerb von Mensch und Tier um Raum ist also durch die unterschiedlichen Chancen in der Nutzbarkeit des Zeitfaktors vorbestimmt: Es ist eine schleichende, sich anhaltend beschleunigende Absorption der Natur- und Kulturlandschaft sowie der mehr oder weniger natürlichen Landschaftsteile und Prozesse durch das sozio-ökonomische System. Damit geht für die wildlebende Tier- und Pflanzenwelt zwar nicht die Evolution an sich, aber deren Unabhängig9
Unter diesen ungleichen Bedingungen sind keine Voraussetzungen für eine Co-Evolution beider Systeme vorhanden. Co-Evolution, bekannt vor allem durch die evolutionsgeschichtlichen Beziehungen zwischen Wirt und Parasit, auch zwischen Beute und Räuber oder zwischen Symbionten, wird seit van Valen (1973) nach einem literarischen Vorbild von Lewis Carroll (1872) auch „Red-Queen-Evolution“ genannt. Langfristig, also über evolutionsbedeutsame Zeit quasistabile Gleichgewichtszustände zwischen den beteiligten Komponenten können nur bestehen, wenn sie gleichen Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen unterliegen. Das ist insbesondere hinsichtlich der Geschwindigkeit der Evolutionsprozesse wichtig, deren Synchronisierung (zyklische Verläufe) für den Fortbestand der Beziehung bzw. des Systems von entscheidender Bedeutung ist.
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keit vom sozio-ökonomischen System sukzessive verloren. Die biologische Evolution wird gewissermaßen in eine Nachfolge-Evolution10 des sozio-ökonomischen Systems gedrängt. An die Stelle von m.o.w. voraussagbaren Abläufen, die sich in naturbedingten Regularien, Zyklen, Oszillationen und Fluktuationen widerspiegeln, tritt vermehrt die Hegemonie des von menschlichen Aktivitäten bestimmten Faktors Zufall. Anders formuliert: Spontanereignisse, die in der Natur „außerhalb der Norm“ liegen und durchaus den Zusammenbruch von Teilpopulationen oder gar das Aussterben seltener Arten auslösen können, werden zunehmend häufiger. Dadurch verliert das Aussterben von Arten nach und nach den Status des Außergewöhnlichen, wandelt sich unmerklich in Normalität und wird schließlich auch im öffentlichen Bewusstsein als solche bewertet. Zugleich wird so auch die paradigmatische Trennung von Natur (öko-biologischen Systemen) und Wirtschaftsprozessen (sozio-ökonomischen Systemen) aufgelöst. „Spätestens mit der Industrie wird die Schwelle überschritten, von der ab die Evolution der Natur und der gesellschaftliche Prozess der Zivilisation nicht mehr als zwei Dinge begriffen werden dürfen“ (Immler 1989: 14). Insofern beantwortet sich die Frage nach den Folgen der Unterlegenheit der öko-biologischen Systeme fast von selbst; als solche hören sie strenggenommen auf zu existieren. Auf die Spitze getrieben wird diese fatale Logik durch die oft kritisierte, zukunftspessimistische Ansicht von Nagl (1993: 14), der mit dem Menschen „… das vorläufige (und vielleicht absolute) Endglied einer Devolution11 …“ gekommen sieht. 2.3.4 Ein Pyrrhussieg: Zeit gewinnen heißt Raum verlieren Markiert also der Beginn der Industrialisierung den Anfang vom Ende der bisherigen biologischen Evolutionsgeschichte? Und: Ist in der Geburtsstunde des Naturschutzes, als Beispiel für jene Instrumente, die die menschliche Gesellschaft zur „Bewahrung der Schöpfung“ erfunden hat, bereits über seine Selbstauflösung entschieden worden?12 Die Verschiebung der evolutionären Prozesse zugunsten 10
„Nachfolge“ darf auch hier nicht im Sinne von Co-Evolution aufgefasst werden, da die Bedingungen beider Systeme ungleich sind (s. vorstehenden Absatz). 11 Unter anderem kommentierten Vollmer (1993) und Wuketits (1993) diese Auffassung mit dem Hinweis, dass die Evolution keine Richtung „verfolge“, z.B. zur Höherentwicklung, mithin Devolution nichts als Teil der Evolution sei und man sich eine begriffliche Trennung ersparen könne. 12 Zur Rolle des Naturschutzes im spätkapitalistischen System hier eine Meinung Röhrs (1998: 192 f): „Aus den Perspektiven der Verwaltung stellt sich Naturschutz als eine notwendige Handlung zur Systemerhaltung dar. In diesem Sinne ist Naturschutz dann nicht mehr ein Verständigungsproblem des staatsbürgerlichen Publikums, sondern ein Steuerungsproblem des Staates. Er muss betrieben werden, damit der Staat auf der Basis eines ausgeglichenen wirtschaftlichen Wachstums handlungsfähig bleibt, und nicht, weil es dem Willen des politischen Publikums entspräche, der aus lebensrechtlichen Bedürfnissen resultiert … Das heißt, Naturschutzpolitik ist nur dann im Sinne des Verwaltungshandelns rational, wenn sie dazu beiträgt, daß die privatwirtschaftliche Kapitalakkumulation erhalten bleibt.“
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der sozio-ökonomischen Systeme wird begleitet von der vollständigen Vereinnahmung des Raumes. Untrennbar von der Evolution der Technik ist der Kampf um Raum, der noch immer als „Urkampf gegen die Natur“ geführt wird: „Auch wenn einfache Landbesetzung und Kolonisierung mangels Masse kaum mehr stattfinden können, versteht sich die industrielle Rationalität auf immer neue und raffiniertere Formen der Inbesitznahme. Heute sind es die Mikro- und Megaräume, die nach der Ausplünderung der Mesoräume als Lieferanten unendlicher Produktivität ins Visier genommen werden“ (Immler 1989: 167). Der Vereinnahmungsprozess von Raum und Zeit hinterlässt womöglich insbesondere bei den Kselektierten Arten eine breite Spur der Erosion. Unter Berufung auf Soules (1980) Untersuchungen in den Tropen befürchtet Quammen (1996: 695 f), dass für die großen und langlebigen Tier- und Pflanzenarten der Anfang vom Ende gekommen ist. „Die Welt wird ein unbewohnter, einsamer Ort sein.“ Aber es gibt im Wettlauf um die Zeit nicht nur Verlierer. „Immerhin können wir Menschen wahrscheinlich einer gemeinsamen Zukunft mit einer beträchtlichen Zahl von Käfern, Bandwürmern, Pilzen, Vertretern der Korbblütlergattung Madia, Mollusken und Milben entgegensehen. Mit Löwenzahn und Silberfischchen dürfen wir gleichfalls zuversichtlich rechnen.“
Der Raum von morgen: Ent- oder Beschleunigung der Erschließung? Der Verlauf der technischen Evolution entscheidet die Zukunft der räumlichen Ordnung. Wie diese sich dadurch neu organisiert, ist im Allgemeinen als auch im Besonderen nur sehr schwer zu prognostizieren. Mit einiger Wahrscheinlichkeit geht der Trend in Richtung einer Auflösung der bestehenden Raumkonfiguration und des heutigen ländlichen Raumes. Diese Entwicklung kann und wird aber weder in der Zeit noch im Raum gradlinig und frei von scheinbar Widersprüchlichem sein. So sind im westlichen Europa kurz- wie auch mittelfristig sowohl partielle Verdichtungen als auch Vergröberungen der Maschenweite räumlicher Infra- und Siedlungsstrukturen zu erwarten. Im Zusammenwirken mit vorübergehenden ökonomischen und ökologischen Krisen könnten Teile der Landschaft oder ganze Regionen aus der industriemäßigen (Land-) Nutzung herausfallen und damit der biologischen Evolution zeitweilig Nischen öffnen. Beispiele dafür liefern die in der gegenwärtigen Situation als sog. strukturschwache Regionen bezeichneten Räume (z.B. in einigen europäischen Mittelgebirgen). Wegen des Exodus von Millionen Menschen aus dem Osten Deutschlands laufen schon jetzt „… einige ländliche Regionen regelrecht leer, geradezu dramatisch in der Uckermark, in Vorpommern, in der Altmark und der Lausitz.“ Das sei, so Kil (2003) durchaus kein Makel, denn der überraschende wie „… unvergleichliche Flächenluxus überschüssiger Räume …“ böte für Leute, die etwas Neues machen, die unbegrenzten Möglichkeiten von „New Territories“. Ganz ähnlich wird die Entwicklung in der Flächennachfrage durch die Landschaftsökologie prognostiziert. Nach einer Analyse der Landnutzung in Deutschland seit dem frühen Mittelalter kommt Bork (2001: 37) zur Ansicht: „In den nächsten Jahrzehnten ist von einer umfangreichen und dauerhaften Aufgabe der agrarischen Landnutzung auf den ertragsarmen Standorten Deutschlands auszugehen. Die nachfolgende natürliche Sukzession dürfte in der zweiten Hälfte des 21. und im 22. Jahrhundert den Waldanteil erheblich anwachsen lassen – auf Werte, die zuletzt im Deutschland des 15. Jh. zu registrieren waren.“ Für Österreich haben Haberl et al. (2000) die Veränderungen der Raum- und Landnutzung, d.h. der „Kolonisierung terrestrischer Ökosysteme“, anhand der gesellschaftlichen Aneignung der NettoPrimär-Produktion (NPP) analysiert. Durch die Ausbeutung fossiler Energien hat sich die NPP zwischen 1830 und 1995 um 40 % erhöht. „Dies geht nicht nur auf den Zuwachs der Produktivität der Agrarökosysteme, sondern auf die Zunahme der Waldfläche zurück. Diese Zunahme der Waldfläche wurde indirekt ebenfalls durch den Produktivitätsgewinn der Agrarökosysteme ermöglicht, weil die benötigten Agrarprodukte auf einer kleineren Fläche produziert werden konnten. Die Zunahme des
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Baulandes konnte vom Wachstum der Produktivität am Acker- und Grünland sowie vom Wachstum der Waldflächen mehr als wettgemacht werden. All das ermöglichte einen Zuwachs der geernteten Biomassemenge um 72 % gegenüber 1830 bei einer gleichzeitigen Verringerung der …“ gesellschaftlichen Aneignung der NPP von 60 % auf 50 %. „Es konnte also der Biomasse-Metabolismus von der NPP-Aneignung ‚entkoppelt’ werden, was erklärt, warum eine Verdoppelung der Einwohnerzahl Österreichs von 1830–1995 ohne Verdoppelung der …“ gesellschaftlichen Aneignung der NPP „… und ohne Konsumverzicht möglich war“. Der hohe Preis: „Die Steigerung der Produktivität der Agrarökosysteme wurde durch eine enorme Steigerung des Fossilenergieinputs erzielt. Dies scheint sowohl auf Grund der Begrenztheit der Ressourcen, als auch wegen der mit ihrem Einsatz verbundenen Treibhausgasemissionen unter dem Gesichtspunkt einer nachhaltigen Entwicklung problematisch“ (Haberl et al. 2000: 13 f).
Nach anderen Szenarien könnten eben diese Räume für den industriemäßigen Anbau nachwachsender Rohstoffe bzw. für die alternative Energieerzeugung und der Freizeitnutzung von wirtschaftsstrategischem Interesse zur Bekämpfung der infolge der Ausbeutung fossiler Energieträger eingetretenen ökonomischökologischen Krisen sein. Vermutlich würde damit eine Verdichtung der Infrastruktur einhergehen. Ein geradezu klassisches Beispiel dazu liefert das Vordringen der alternativen Energieerzeugung in Europas „letzte große Wildnisgebiete“, die Meere und Hochgebirge. Diese vorübergehende Widersprüchlichkeit in der Raumnutzung wird jedoch nur so lange dauern, bis die technischen Evolutionsabläufe „… die Rahmenbedingungen begrenzter Stoff- und Energieressourcen verinnerlicht haben und … mit raffinierten Recycling- und Energiesparsystemen …“ bis hin zur Direktumsetzung von Sonnenenergie antworten (Tomášek 1980: 305). Und auch ohne diese Zeitenwende sollte man den Einfallsreichtum und die Anpassungsfähigkeit der Landnutzer und Investoren nicht unterschätzen. Nur selten haben sich bisher die Prognosen der Wissenschaftler über den Verlauf und die Ergebnisse des infrastrukturellen und agrarischen Nutzungswandels erfüllt. Die damit oft vorschnell verknüpften Hoffnungen der Landschaftsökologen und Naturschützer auf einen „nachhaltigen“ Umgang mit dem Raum und den natürlichen Ressourcen, insbesondere auf einen nennenswerten und dauerhaften Rückzug energieintensiver Nutzungen aus der Fläche, blieben bisher überwiegend unerfüllt. Der Raum von übermorgen – wird von der Zeit eingeholt. Entgegen aller Erwartung wird die Lösung des Energieproblems nicht zwangsläufig ein ökologischer und ökonomischer Befreiungsschlag sein und keineswegs den Faktor „Zeitdruck“ aus dem ökonomischen Wettbewerb nehmen. Die Frage nach den Folgen und Grenzen dieses „evolutiven Katapultstarts“ in die Welt der Superindustrialisierung, d.h. nach dem „Wohin?“ und „Was nun?“, steht unverändert. Vielleicht erstmals in ihrer Jahrtausende alten Geschichte hat die Evolution der Technik einen neuralgischen Punkt erreicht: „Sie wird bei ihrem Versuch, extern die Evolution des Menschen nachzubilden, stellenweise der Evolution des Menschen ebenbürtig oder gar überlegen“ (Immler 1989: 170). Die bisherige Einseitigkeit und Dominanz der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung gegenüber dem Ökologischen und Moralischen wird sich erhalten und womöglich verstärken. Ursächlich liegt das vor allem an qualitativ und quantitativ völlig neuartigen Verfahren bei der Erschließung alternativer Energieformen, bei der Synthetisierung von Materialien sowie in der nano-, bio- und mikroelektronischen (Hoch-)
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Technologie. Als Konsequenzen ergeben sich daraus (1.) eine massive Erhöhung des Kapitalbedarfs für die Hochrüstung des wissenschaftlich-industriellen Komplexes, (2.) die völlige Neuordnung des Raumes mit seinen Produktions-, Siedlungs- und Infrastrukturen, (3.) die Neuorganisation und Verdichtung von Verteilungsnetzen zum globalen Absatz der Produktion, (4.) die Zunahme der Unternehmenskonzentration und die Verschärfung der weltweiten Marktkonkurrenz sowie (5.) die dramatische Zunahme der nationalen und multinationalen Bevölkerungsmobilität. Schließlich kann das in ein gefährliches sozio-ökologisches Konfliktpotenzial münden; ein wichtiger Teil dessen wird die Konkurrenz um die vollständige und allseitige Verfügbarkeit über den Raum sein. Immler (1989: 171 f.) schreibt dazu: „Nicht nur für einzelne Unternehmen, sondern für ganze Industriestaaten entsteht ein zeitlicher, qualitativer und quantitativer Druck zur rücksichtslosen Vermarktung neuentdeckter Produktivitäten. Jeder Vorsprung muss schnell zu möglichst vielen und möglichst billigen Produkten führen. Dieses sind aber genau die Bedingungen, die einem ökologisch verantwortlichen Umgang mit den meist noch unbekannten und unerprobten Produktivkräften entgegenstehen. Insofern ist es einfach, mit der weltweiten Verbreitung des Superindustrialismus eine weltweite Vermehrung der ökologischen Probleme zu prognostizieren.“ Letztlich wird damit auch der Gewinn an Zeit relativiert. Der Zeitpfeil „fliegt immer schneller“. Zusehends verlieren Raum und Zeit ihren Status als Ordnungsbegriffe. Aus dem Nebeneinander von Gegenständen und dem Nacheinander von Zeit werden raumzeitliche Ereignisse. An die Stelle des Zeitpfeils müssen so andere Metaphern treten: Die Vorstellung von „Zeit-Netzen“ und „Zeit-Flächen“ als Bilder für die weltweit zeitnahen Verknüpfungen von Entwicklungen und Zuständen (vgl. Peres 2003). Die Raum-Zeit-Konvergenz: Eine Gefahr für die Evolution? Für den Naturerhalt und den Fortgang der Evolution hat die Raum-Zeit-Konvergenz der Wirtschaft (vgl. Kap. 2.2.1) voraussichtlich einschneidende Wirkungen. Sie befördert vor allem den Trend zur globalen Gleichschaltung von anthropogenen Umwelteinflüssen und natürlichen Evolutionsfaktoren. Insgesamt könnte damit, so Immler, auch das erstklassige gesellschaftliche Ziel, die Möglichkeit der Erhaltung der menschlichen Art, zur Disposition stehen. Er argumentiert weiter, dass diese Gefahr solange nicht gebannt ist, wie sich die menschliche Gesellschaft als unfähig erweist, den Wertewandel für unsere physischen Lebensbedingungen von einer selbstverständlichen Voraussetzung zu einem zu erarbeitenden Ziel (an-) zu erkennen. Die Einsicht, dass die physischen Lebensbedingungen nicht einfach vorhanden sind, sondern erarbeitet werden müssen, stellt vielleicht die schmerzlichste Erkenntnis der jüngeren Menschheitsgeschichte dar. Um diese Einsicht zu befördern und dem obigen bedrohlichen Szenario zu entgehen, entwickelte Immler (1989) eine programmatische Skizze zur ökologischen Reform der Industriegesellschaft. Deren Kern liegt in der Überwindung der Trennung von Natur und Mensch und in der Einbeziehung der Natur in die industrieökonomische Rationalität. Ziel dieses Ansatzes ist eine sozialökologische Produktionsweise durch „… erstens den Ansatz der menschlich-gesellschaftlichen Arbeit und Vernunft zur Wiederherstellung der angeschlagenen natürlichen Lebensbedingungen, was dasselbe ist wie bewusste Erzeugung von Natur bzw. Errichtung einer
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ökologischen Produktionsweise; zweitens das Tätigwerden der Produktivität der Natur für die Menschen und damit die Herstellung von Bedingungen, bei denen ein Gleichgewicht von biologischer und sozialökologischer Evolution erreicht werden kann“ (Immler 1989: 183). Wichtigste Voraussetzung ist, dass der Natur, anders als in der bisherigen kapitalistischen Wert- und Preislehre, ein von ihr produzierter Wert zugestanden wird. Wenn Natur für die menschliche Reproduktion kostenlos ist, wird logischerweise die Zerstörung von Natur nicht als Zerstörung von Wirtschaftswerten registriert. Also muss die Gegenthese lauten: „Alle ökonomischen Werte werden von der Natur einschließlich der menschlichen Natur und ihrer Arbeitskraft erzeugt“ (S 227). Überträgt man diesen Ansatz auf die Ökonomie, so hat das dort erhebliche wissenschafts-theoretische Konsequenzen.
2.4 Der freie Raum am freien Markt 2.4.1 Ohne Nachfrage kein Wert, ohne Wert kein Schutz In der bisherigen umwelt- und naturschutzökonomischen Forschung, wie auch in der alltäglichen Ökonomie, findet der Raum bei den Bewertungsversuchen für Arten, Biotope und Landschaften oder wirtschaftliche Standortqualitäten bzw. Ressourcenvorkommen entweder gar keine oder allenfalls indirekt als Mitnahmeeffekt Berücksichtigung (vgl. Hampicke 1991). Diese Bewertungslücke hat vor allem folgenden Grund: In der Umwelt- und Naturschutzökonomie sowie in der Volkswirtschaft gibt es keine Nachfrage für den Raum „an sich“. Ebenso wie die „Umweltmedien“ Boden, Luft und Wasser nur durch bestimmte Qualitätsmerkmale einen (Bestands-)Wert erhalten (Primack 1995), wird der Raum erst durch seinen Inhalt zum Wertobjekt; das können u.U. durchaus auch subjektiv empfundene Erlebniswerte, z.B. Stille, Einsamkeit, Schönheit, sein. Lassen sich solche „diffusen“ Werte nicht auch als „harte“ Werte reklamieren, dann fehlen die ökonomischen Bewertungsgrundlagen. Die „grüne“ Denkrichtung der neoklassischen Ökonomie hat versucht, diese Wertlücke durch eine um altruistische Komponenten erweiterte Bewertungsgrundlage auszumerzen. So subsumiert Krutilla (1967, in Hampicke 1992: 122 f.) in einer „etwas pedantischen“ Begriffsdifferenzierung auf der Nutzenseite außer den egoistischen Motiven auch altruistische Präferenzen der Menschen. Er unterscheidet „… neben dem egoistischen ‚Erlebniswert’, welcher für die Natur empfunden werden kann, einen ‚Existenzwert’ (Zahlungsbereitschaft dafür, daß etwas überhaupt vorhanden ist, ohne daß man es persönlich wahrnimmt, etwa für das Überleben bestimmter Tierarten), einen ‚Vermächtniswert’ (Zahlungsbereitschaft dafür, ein u.U. selbst nicht präferiertes Gut an die Nachwelt zu vererben) und einen ‚Optionswert’ (Zahlungsbereitschaft dafür, die Möglichkeiten eines künftigen Erlebnisses zu gewährleisten, d.h. insbesondere, irreversiblen Verlusten zuvorzukommen)“. Grundsätzlich wäre es auf diesem Weg möglich, das vorhandene ökobiologische Inventar in die Kosten-Nutzen-Abwägungen der Ökonomie einzustellen und damit einem „Erhaltungsgebot bzw. Verschlechterungsverbot“ zu entsprechen. Ungeklärt bleibt aber der Umgang mit ökologischen Entwicklungspotenzialen („Verbesserungsgebot“), deren Vorhandensein oder Wiederherstellung insbe-
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sondere in anthropogen belasteten Landschaften oft die maßgebliche Voraussetzung für die Erhaltung der altruistischen Werte ist. Aber selbst wenn diese Situation nicht bestünde, hat es ein optionaler Wert, d.h. die Aussicht, dass eine Art o.ä. irgendwann in der Zukunft für den Menschen nutzbringend sein könnte, schwer, sich ökonomisch zu etablieren. Die Zeitspannen, in denen sich die Nachfrage-Prognosen realisieren, umfassen nicht selten die Dauer von Menschen-Generationen oder laufen sogar gegen unendlich. Damit steht die Zeit, genauer die Langsamkeit, mit der sich eine Zurückhaltung gegenüber altruistischen Werten „bezahlt macht“, gegen den auf den Märkten herrschenden Trend, immer schneller Rendite zu erzielen. Hampicke (1992: 137 f) bringt es auf einen kurzen Nenner: „Die neoklassische Ökonomie unterstellt …“, dass den „… Individuen … ein in ihrer Seele eingebauter Ungedulds- (‚impatience’) oder Kurzsichtigkeitsfaktor (‚myopia’) …“ eigen ist, der sie veranlasst, „… ein Stück Schokolade heute höher zu bewerten als das selbe Stück morgen, und zwar nur aus dem Grunde, weil ein bestimmtes Quantum Zeit zwischen beiden Genüssen liegt“. Die Konsequenz: Raum ohne Inhalt hat keinen Wert. Aus der Vernachlässigung eines möglichen Marktwertes für das „ökologische Entwicklungspotenzial“ und schwer fassbarer altruistischer Werte resultiert auf ganz direkte Weise ein großzügiger und nachlässiger Raumverbrauch. „Was nichts kostet, ist nichts wert“ – diese Devise bestimmt auch das alltägliche Verwaltungshandeln des Naturschutzes. So wird beispielsweise ein Agrarraum ohne „schützenswerte Arten, Wertbiotope sowie landschaftliche Eigenart und Schönheit“ nicht nur verbal als „Agrarsteppe“ stigmatisiert, sondern fällt auch in der Bewertung durch die Landschaftsplanung und naturschutzrechtliche Eingriffsregelung als „ökologisch und naturschutzfachlich“ (fast) wertlos unter den Behördentisch (vgl. Beckmann 1981; Usher u. Erz 1994; Köppel et al. 1998). Diese unzureichende Wertbestimmung des Raumes erleichtert seine kommerzielle Verwertung. Angesichts der Eigendynamik, mit der die biologische Evolution in der technischen Evolution aufgeht (vgl. Kap. 2.3.3), ist der prinzipielle Gegensatz in der Bewertung des Zeitfaktors durch die Ökonomie (zeitintolerant) einerseits und die Ökologie (zeittolerant) andererseits keine Überraschung. Folgt man diesem Gedanken, so ist es fraglich, ob und wie die neoklassischen Marktmechanismen überhaupt ein taugliches Instrument zum Schutz des Raumes, der Arten und ihrer Lebensräume bieten können. 2.4.2 Im Sog des Kapitals Der Einfluss des Geldes auf den Raum ist besser zu verstehen, wenn der Raumbegriff von der „Ausgedehntheit materieller Dinge“ auf den einer wirtschaftlich nutzbaren Ressource eingeengt wird. Von diesem „kapitalistischen“ Standpunkt aus lässt sich die Zukunft des Raumes auf der Grundlage der herrschenden neoklassisch-marktwirtschaftlichen Theorie prognostizieren. Ob und wieweit dieser Ansatz in der Alltagsökonomie (Praxis) zwangsläufig insgesamt auf eine Zerstörung der nichtregenerierbaren natürlichen Ressourcen hinausläuft, hat Hampicke
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(1992) ausführlich analysiert und kommentiert. Die nachstehenden Erörterungen zitieren überwiegend diese Studie und versuchen, speziell die raumrelevanten Aspekte herauszustellen. Marktdogma: Alles muss ersetzbar sein. Die neoklassische Theorie fasst natürliche Ressourcen „… lapidar als einen Spezialfall des Kapitals …“ auf (Hampicke 1992: 132). Diese Gleichsetzung von natürlichen Ressourcen mit Kapital ist ökonomisch gleichbedeutend mit ihrer vollkommenen Austauschbarkeit. Wie für das Kapital ist die ökonomische Welt der Ressourcen „… eine Welt der Mobilität …“ (S 134). Mittelpunkt dieser Welt ist das Substitutionsparadigma. Stiglitz (1974, zit. in Hampicke 1992: 107) befindet zur vollkommenen Integration der natürlichen Ressourcen in die Kapitaltheorie: „A pool of oil or vein of iron or deposit of copper in the ground is a capital asset to society and to its owner … The only difference is that the natural resource is not reproducible, so the size of existing stock can never increase through time”. In der Neoklassik ist die Schonung einer Ressource nie Selbstzweck, sondern Teil eines Optimierungsprozesses auf der Suche nach dem optimalen Verkaufsprofil. So wenig wie man „Sand in der Sahara“ spart (Hampicke 1992: 108), spart man an Ressourcen. Für die Ökonomie müssen deren Vorräte möglichst knapp sein oder gehalten werden. Die Wirtschaft mit erschöpfbaren natürlichen Ressourcen hat jedoch einen Zwangspunkt: Zur „richtigen“ Zeit muss für den zur Neige gehenden Vorrat eine Substitutionstechnologie verfügbar sein. Zwar wird die Wachstumsrate des Preises durch den Zins und die Marktform bestimmt, „… seine Höhe hängt jedoch in entscheidendem Maß …“ von den Kosten, der Verfügbarkeit und dem Einführungszeitpunkt der Substitute ab. Hampicke hält es für unausweichlich, dass eine Substitutionstechnologie beigebracht werden muss; „… kommt sie nie, so kann auch Sparen den ,Weltuntergang’ nur verschieben, nicht aber ganz verhindern“ (Hampicke 1992: 108). Da es auf Dauer schwieriger wird, die notwendigen Substitute zur rechten Zeit beizubringen, haben die Ökonomen versucht, das Problem der Ressourcenerschöpfung analytisch besser in den Griff zu bekommen. Marktkonflikt: Wird die Ersetzbarkeit zu teuer? Das ökonomische „Weltmodell“ des Nobelpreisträgers Solow (zit. in Hampicke 1992: 111 ff.) untersucht, „… unter welchen Bedingungen es möglich oder nicht möglich ist, in Gegenwart einer sich erschöpfenden Ressource ein bestimmtes, insbesondere ein konstantes Sozialprodukt zu erzeugen. Die Frage entscheidet sich positiv, wenn es gelingt, die natürliche Ressource rechtzeitig durch das akkumulierte Kapital zu ersetzen“; sie lautet: Welche Akkumulation ist nötig, um den konstanten Konsum zu maximieren? Ist die Akkumulation zu gering, so kann eine regressive Ressource womöglich nicht im erforderlichen Umfang substituiert werden. Tritt das Gegenteil ein, so „… wächst der Kapitalstock ‚als Selbstzweck’, womit der Konsumtion unnötigerweise Ressourcen entzogen werden“ (Hampicke 1992: 117). Das Ergebnis: Wirtschaften mit erschöpfbaren Ressourcen bedeutet für „alle Zeiten“ konstanten Konsum. Solows „Weltmodell“ eröffnete der Neoklassik für das Problem der nicht regenerierbaren natürlichen Ressourcen eine andere Perspektive und schuf die Grund-
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lage für einen neuen Ansatz, die „Economics of Natural Environment“13. Den zentralen Widerspruch der neoklassisch-marktwirtschaftlichen Wachstumstheorie konnte er jedoch bislang offensichtlich nicht lösen. Unrealistisch ist vor allen Dingen die grundlegende Prämisse des Modells, nach der die Kapitalakkumulation an keine Grenzen stoßen darf. Das daraus folgende Hauptproblem sieht Hampicke in einem immer rascher steigenden investiven Bedarf bei womöglich gleichzeitig abnehmenden Möglichkeiten, natürliche Ressourcen durch „künstlichen“ Ersatz abzulösen. Auf die Länge der Zeit ist es kaum vorstellbar, dass der enorme Akkumulationsbedarf nicht negative externe Effekte erzeugt. Zwar sei, wie im Modell gefordert „… ein konstanter Konsum … an produzierten Gütern …, nicht aber gleichzeitig ein konstanter Nutzen …“ zu gewährleisten (Hampicke 1992: 119). Aus dieser Unsicherheit erwächst die Gefahr der Überakkumulation (z.B. das Überziehen großer Landschaftsteile mit Windgeneratoren zur Ölsubstitution), die nur durch den technischen Fortschritt abgewendet werden kann, auf dessen Wirksamkeit und Eintreffen jedoch nicht „blindlings“ vertraut werden darf. Immler (1989: 330) sieht das optimistischer. Die sogenannten ‚Neuen Technologien’ könnten zu einem Schlüsselfaktor für die Ablösung des mechanischen Zeitalters werden und den Weg in ein Wirtschaftssystem öffnen, in dem Industrie und Natur zu einem „gesellschaftlichen Körper der Produktion“ verschmelzen. Die neuen Technologien ermöglichen die Existenz eines eigenständigen, theoretisch von der äußeren Umwelt unabhängigen globalen Industrie-Organismus mit „Verstand und Nervensystem“. Markfrage: Ist Raum ersetzbar? Hampickes Skepsis gegenüber der Wirksamkeit des technischen Fortschritts bei der Substitution gründet sich auch auf die Tatsache, dass der „… Kreis solcher im Prinzip vollständig substituierbarer Ressourcen …“ nicht allzu groß ist (1992: 120). Die in sich konsistente Einordnung der Ressource „Raum“ ist aus diesem Blickwinkel nicht ganz ohne Tücken. Zwar ist der Raum endlich, prinzipiell ist jedoch seine funktionelle Ersetzbarkeit, z.B. durch Rückbaumaßnahmen oder Flächenrecycling, denkbar. Allerdings wäre(n) damit nur der Raum als solcher substituiert, nicht aber andere zeitnah an ihn gebundene Ressourcen – wie z.B. Arten, Lebensräume incl. der damit verknüpften biotischen und abiotischen Eigenschaften und Funktionen. Wenn das überhaupt machbar ist, dann bedarf es dazu sehr langer Zeiträume, die sich durch die klassischen Instrumente der Wirtschaft – Akkumulation, Investition – nur schwer überbrücken lassen. In „menschlich-historischen Zeiträumen“ dürften deshalb die ökobiologischen Folgen des Raumverbrauchs irreversibel sein (Hampicke 1992: 125). Marktschutz: Kollektivbewusstsein für unersetzbare Ressourcen? Die offensichtlichen Bewertungsschwierigkeiten der erschöpfbaren natürlichen Ressourcen versuchen die „Economics of Natural Environment“ mit Kosten-Nutzen-Analysen zu bewältigen. Dabei werden die gesamten volkswirtschaftlichen Opportunitätskosten gegen den Gesamtnutzen gerechnet. Der Nutzen impliziert auch die ökolo13
Dieser Zweig der neoklassischen Ökonomie verfolgt die Berücksichtigung von Opportunitätskosten, die entstehen, wenn auf den Nettonutzen einer naturverbrauchenden Aktivität zugunsten des Naturerhalts verzichtet wird (Hampicke 1992).
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gischen, ideellen und wissenschaftlichen Werte. Da sich gemeinhin solche Werte nicht am Markt manifestieren, ist man darauf angewiesen, sie indirekt, durch Befragungen von „unabhängigen souveränen Subjekten“ über deren Zahlungsbereitschaft, zu erfassen. Ziel dieses Vorgehens ist eine ökonomische „Gesamtkonfliktbewältigung“ unter Einschluss marktfähig aufbereiteter Kollektivgüter. Die Ursachen für die Bewertungsschwierigkeiten des Nutzens erschöpfbarer natürlicher Ressourcen im Vergleich zu herkömmlichen Waren liegen in den Besonderheiten ihrer Wertbildung und -ermittlung. Sie besitzen (1.) ausgeprägte Kollektivguteigenschaften, (2.) die Ungewissheit des Nutzens, (3.) die Irreversibilität der Ausrottung bzw. des Verbrauchs, (4.) die geringe bzw. fehlende Substituierbarkeit und (5.) eine intergenerationelle Existenz (vgl. Hampicke 1991: 82). Marktopfer: Warum ist im Naturschutz ohne Moos nichts los? Welche Schwierigkeiten die Alltagsökonomie mit dieser Problemsicht hat, wird selbst in den Bereichen sichtbar, die auf den ersten Blick am weitesten vom „Sog des Kapitals“ entfernt sind. Entgegen der sich beständig wiederholenden Selbstbeschwörungen, Natur um ihrer selbst willen zu schützen, kann sich auch der Naturschutz nicht dem Wertmaßstab des Geldes entziehen. Macht und Ohnmacht der Naturschutzverwaltung speisen „… sich aus der Ressource Steuern und (sind; R.H.) dadurch an die volkswirtschaftliche Rationalität des ökonomischen Systems gebunden. Das heißt, um interventionsfähig zu sein, muss die Verwaltung mit der Macht selektiv umgehen, um dabei den Antriebsmechanismus der kapitalistischen Verwertung nicht zu stören“ (Röhrs 1998: 191). Nach wie vor wird in Naturschutzkreisen mit diesem Erfahrungshintergrund dem Nachweis „harter“ materieller Begründungen für den Schutz von Arten und Lebensräumen mehr Aussicht auf Erfolg beschieden als „weichen“ Motiven mit einem ästhetisch-emotionalen Argumentenetz (vgl. Pfriem 2000). Im Grunde macht das deutlich, wie sehr das alltägliche ökonomische Denken und Handeln in Bezug auf die biologischen Ressourcen noch immer in dem traditionellen Nützlichkeits-Schädlichkeits-Schema gefangen ist. Unbestreitbar haben die „Economics of Natural Environment“ den ökologischen Gesichtskreis der neoklassischen Ökonomie wissenschafts-theoretisch erheblich erweitert. Dadurch wurden die nichtregenerativen natürlichen Ressourcen als „Formen physischer Knappheit“ in ökonomischen Kategorien erfassbar. Allerdings sind damit nach Auffassung von Hampicke (1992) die grundlegenden Probleme und Folgen „… einer überwiegend markt-, preis- und gleichgewichtsorientierten ‚naiv-neoklassischen’ Behandlung …“ für die natürlichen Ressourcen methodisch nicht behoben. Insbesondere die „… Bewirtschaftung räumlich ausgedehnter, komplexer und fragiler Ressourcen mehr qualitativen Charakters, welche nicht unmittelbar ‚vermarktet’ werden können und deren schleichende Auszehrung oftmals ökonomisch unbemerkt bleibt, findet ebenso wie die Bedrängung von Tier- und Pflanzenarten, der Böden, globalen Stoffkreisläufe und des Klimas …“ keine ihre Nichtregenerierbarkeit ausreichend berücksichtigende, ökonomische Antwort (Hampicke 1992: 134).
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2.4.3 Ökologische Ökonomie, Plan und Nachhaltigkeit Dass Kapital und Zins die Erhaltung der physischen Produktions- und Reproduktionskräfte sichern können, wird solange nicht gelingen, wie das Kapital lediglich über den „… Organisationsfaktor ‚Markt’ und damit ausschließlich über eine Tauschwertrationalität …“ verfügt (Immler 1989: 332). Enthaltung: Kein (Frei-)Raumschutz ohne Selbstbeschränkung. Weil das Substitutionsparadigma der neoklassischen Ökonomie nicht aufrecht erhalten werden kann, also das Prinzip der marktwirtschaftlichen Selbstregulation unzureichend ist, besteht die entscheidende Forderung einer „Ökologischen Ökonomie“14 „… darin, dass Grenzen aufgerichtet werden, innerhalb derer sich alles Wirtschaften nur abspielen darf“ (Hampicke 1992: 307). Die Forderung, Grenzen zu errichten, ist letztlich der Ruf nach „Sustainable Development“ bzw. „Sustainability“. Das kann nur als kollektive Aufgabe begriffen werden, scheint allerdings theoretisch wie praktisch schwierig zu sein. Konflikthaft wird es spätestens, „… wenn räumliche Aspekte ins Spiel kommen – es kommt fast nie allein darauf an, daß etwas getan oder unterlassen wird, sondern wo dies der Fall ist“ (Hampicke 1992: 328; Hervorhebungen wie im Original). Gratwanderung: (Frei-)Raumschutz zwischen Plan- und Marktwirtschaft. Die Notwendigkeit und die Schwierigkeit räumlicher Planung erwachsen aus den spezifischen Eigentumsverhältnissen an den Ressourcen resp. Requisiten im Raum: Privates und kollektives Gut überlagern sich hier zu einem komplizierten Kontinuum (Hampicke 1991: 69 ff.). Regularien sind vor allem auch deshalb unumgänglich, weil die Vernutzung und das „Parasitieren“ von öffentlichem Gut augenscheinlich tiefsitzenden sozialen Verhaltensmustern folgen und die daraus erwachsende Rücksichtslosigkeit belohnt, kooperatives Verhalten dagegen bestraft wird (Barash 1980; Eibl-Eibesfeldt 1986). Deshalb, und auch wegen des stark beschädigten Images von Planungs-Ökonomien sozialistischer Prägung, schultert eine Ökologische Ökonomie theoretische und praktische Probleme, auf die es keine einfachen Antworten gibt: Auf dem Weg zu einer nachhaltig wirtschaftenden, individualistischen Modellgesellschaft bedarf es einer Klärung und Entscheidung zur Rolle der Kollektivgüter, zur intergenerationellen Gerechtigkeit, zu den Zielen des Naturerhalts, zum Umgang mit Kapital und Zins, zur Konsumentensouveränität etc. Bedenkt man die Sackgasse, in die sich die Neoklassik manövriert hat, gibt es dazu kaum Alternativen. „Alle, die heute über …“ das Scheitern der Planwirtschaft „… frohlocken, freuen sich zu früh – den ersten Lösungsversuch gibt es nicht mehr, aber die Probleme stehen unverändert“ (Hampicke 1992: 327, Hervorhebungen wie im Original). 14
Die „Ecological Economics“ sind eine qualitativ relativ eigenständige Richtung der Ökonomie, die sich „… ausdrücklich zu intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit und zur Errichtung kollektiver Schranken gegenüber langfristig nicht tragbarem Ressourcenverzehr …“ bekennt sowie das Substitutionsparadigma der Neoklassik für nicht tragfähig hält (Hampicke 1992: 424). Zum Problem der Begriffsbildung s.a. Mannstetten (1995).
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Verunsicherung: Missachtet (Frei-)Raumschutz die Regeln der Demokratie? Ob eine Ökologische Ökonomie diese Probleme lösen kann, einen wirklichen alternativen Ansatz zur Neoklassischen Ökonomie bietet und geeignet ist, den gordischen Knoten im Substitutionsparadigma zu entwirren, wird auf Seiten der Ökologie und des Naturschutzes durchaus kontrovers diskutiert. Die Zweifel rekrutieren sich vor allem aus den ökologischen Grundlagen und den gesellschaftspolitischen Konsequenzen des Konzeptes. Das Aufrichten von Grenzen für die Wirtschaft (Hampicke 2002, s.o.), der nachhaltige Umgang mit den „kritischen Naturkapitalien“ (Döring u. Ott 2002, s.u.) und die Umsetzung dieses Ziels mit dem Instrument des physischen Bilanzprinzips, v.a. mittels Stoff- und Energiebilanzen (Hofmeister 1989), beruhen letztlich auf ethisch motivierten Begründungen. Demnach sollten Ökosysteme u.ä. mit der ihnen eigenen Struktur und Dynamik einen für ihre Existenz essentiellen Eigenwert und Zustand haben. Die Kritik: „Es gibt keine allgemein akzeptierten theoretisch und prognostisch aussagefähigen Allzweckdefinitionen von ‚Ökosystemen’ oder ‚community’. Noch mehr gilt dies für die Referenzzustände, d.h. für jene Zustände des Systems, die als seine ‚normalen’ angesehen werden und in denen sich ausdrückt, wann die ‚Gesamtfunktion’ des Systems noch gewahrt ist“ (Jax 2001: 326). Im Endeffekt, so argumentieren Nagel und Eisel (2001: 282) „… bedeutet die Anwendung des Instrumentes der Stoff- und Energiebilanz,. dass sich die Produktionsweise wie auch die Gesellschaft der organischen Natur und deren ökologischen Gesetzen als ein beide – Natur und Gesellschaft – übergreifender Organismus zu unterwerfen haben, damit beide mit diesem Gesamtorganismus nicht in Konflikt geraten“ (Hervorhebung wie im Original). Das bedeutet letztlich nichts anderes, als die prioritären Werte demokratischer Gesellschaften dem Funktionieren des Naturhaushaltes unterzuordnen. Die Ökologische Ökonomie ist nach Auffassung von Nagel u. Eisel (2001: 311) keine Alternative zur Neoklassischen Ökonomie, „… sondern deren ‚Steigerung’ dahingehend …, dass die Natur als produktives System nun in verbesserter Weise als bisher, nämlich nachhaltig, in den Verwertungsprozess einbezogen werden kann“ (s. auch Schultz 1993). Entscheidung: (Frei-)Raumplanung ja, aber wie? Die Fragen und Unsicherheiten des Naturschutzes über die Zukunft des Raumes können augenscheinlich auch mit einer Ökologischen Ökonomie nicht ausgeräumt werden. Das grundlegende Problem der kapitalistischen Ökonomie, eine, wenn auch möglichst effiziente Ausbeutung der Naturressourcen zu realisieren, bleibt bestehen und mit ihm der Zwang zur Raumerschließung. Für den Schutz und den Erhalt des (Frei-)Raumes als Grundlage der Naturentwicklung bedarf es also vorerst weiter der gesellschaftlichen Planung und der Kontrolle des Staates. Unbestritten gibt es daneben und darüber hinaus zahlreiche zielorientierte Wege, auf denen Naturschutz „dezentral-marktmäßig zu betreiben“ ist. Die Grenzen des Ansatzes bestehen da oder müssen dort errichtet werden, wo „räumlich bezogenes“ Handeln unerlässlich ist. Ohne planmäßiges Vorgehen sind alle Fragen, die den Umgang mit Raum betreffen, unlösbar. Planmäßigkeit muss dabei keineswegs dem „Prinzip Individualismus“ entgegenstehen. Die Souveränität des Individuums bzw. des Konsumenten bleibt durch die Rückkopplung auf deren Zahlungsbereit-
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schaft für den Naturerhalt gewahrt. „Auf der Basis dieses Ansatzes wird eine Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnis auch dann erreicht, wenn über konkrete Maßnahmen, vor allem solche mit räumlichem Bezug, kollektiv entschieden werden muss“ (Hampicke 1992: 456). Ohnehin führt an der Suche nach alternativen Formen der (Landschafts-) Planung kein Weg vorbei. Nach weitverbreiteter Meinung hat es die Naturschutzadministration zwar erreicht, den Zustand der Natur mit immer ausgeklügelteren Methoden „objektiv“ zu erfassen und „intersubjektiv“ zu bewerten, gleichwohl hat das die anhaltende Vernutzung von Natur nicht verhindert (vgl. Scherzinger 1997). Der maßgebliche Grund für das allseits beklagte „Vollzugsdefizit“ wird darum weniger im Mangel an „objektiver als an kommunikativer Rationalität“ gesehen: Die Zweckrationalität der herkömmlichen administrativen Planung bedient die fachliche Funktionsfähigkeit einer Maßnahme, nicht aber ihre sozialökonomische Notwendigkeit (vgl. Trepl 1987; Eisel 1989; Röhrs 1998). Soweit man diese Hoffnung auf den Plan teilt, sollte Bertolt Brechts resignative Einsicht (zit. in Busch 1969) nicht vergessen werden: „Ja, mach nur einen Plan. Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan. Gehen tun sie beide nicht“ (Dreigroschenoper); und weiter dann, wie zum Trotz, fast marktideologisch: „... Ist das nötige Geld vorhanden Ist das Ende meistens gut“ (Dreigroschenfilm).
Hoffnung: Fördert die Nachhaltigkeitsidee den (Frei-)Raumschutz? Im Spannungsfeld zwischen Markt und Plan wird die Diskussion um Schutz und Nutzung des Raumes zwangsläufig zu einer Diskussion um die Grenzen und Möglichkeiten des Nachhaltigkeitskonzeptes. Döring u. Ott (2002) leiten aus der Pflicht zur Nachhaltigkeit eine Pflicht zur Bildung von Hinterlassenschaften für künftige Generationen ab. Mit dem Aufbau von Hinterlassenschaften findet eine Kapitalbildung statt. Aus ökonomischer Perspektive ist der Raum übergreifender Bestandteil verschiedener Kapitalien, z.B. von Sachkapital, Naturkapital und von kultiviertem Naturkapital (vgl. Döring u. Ott 2002). Die Antwort auf die Frage, wie „hoch“ der Anteil des Raumes an der Kapitalbildung ist, sollte alternativlos sein: Raum im engeren Sinne hat keine Substitutionsmöglichkeiten und ist nicht vermehrbar. Nach dem Konzept der Nachhaltigkeit sind solche Kapitalien, die in der Zeit konstant bleiben, „nicht erneuerbare Ressourcen“. Trotzdem bestehen prinzipielle Schwierigkeiten, den Raum in das Konzept einzuordnen. Als integraler Bestandteil aller Kapitalien kann er theoretisch zwischen den Kapitalien, z.B. vom Naturkapital in das Sachkapital, „verschoben“ werden, ohne dass die Substanz des Kapitals angegriffen wird – ein Argument, das für die Substitutionselastizität und gegen eine zu strenge Auslegung des Nachhaltigkeitsprinzips spricht. Die Zweifel an der Inanspruchnahme der Substituierbarkeits-Prämisse als Gradmesser der Nachhaltigkeit hat Bartmann (2001) in Döring u. Ott (2002) zusammengefasst. Eine der wesentlichen Unsicherheiten ist wahrscheinlich mit der Multifunktionalität vieler Systeme verknüpft, die den potenziellen Substituten in der Regel fehlt. In diesem Fall müssten für jede einzelne ökologische Funktion und
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die Vernetzung zwischen verschiedenen Funktionen entsprechende Substitute nachgewiesen werden – das ist, auch angesichts der ökosystemaren Vielfalt, ein nahezu aussichtsloses Unterfangen.
Schließt man Komplementierung und Substituierbarkeit aus, bleibt im Sinne der Nachhaltigkeit für den Raum nur der Begriff des sog. „kritischen Naturkapitals“. Das ist nach vorläufiger Meinung von Döring u. Ott (2002: 92) eine „… in sich komplexe Größe …“, die die „… Ressourcenbasis, Biodiversität auf verschiedenen Ebenen (Gene, Spezies, Ökosysteme), die umfassende Leistungsfähigkeit ökologischer Systemzusammenhänge (‚Naturhaushalt’) sowie Gegenstände kultureller Wertschöpfung (‚units of significance’) …“ umfasst. Es mag sein, dass dieser Differenzierungsgrad der Begriffe angesichts der ohnehin inflationären Nachhaltigkeitsdiskussion reichlich überstrapaziert wirken muss, gleichwohl könnte er helfen, für die theoretische Ökonomie und den praktischen Naturschutz Nachweise und Begründungen dafür zu liefern, was für Physiker und Philosophen fraglos ist – es gibt keinen „leeren Raum“ (vgl. Peres 2003: 86). Befürchtung: Versagen ökologische Argumente beim (Frei-)Raumschutz? Eine eindeutige Identifikation von Nachhaltigkeitsgrenzen ist damit, ganz abgesehen von der unbeantworteten Frage nach den Grenzen der sozial-ökonomischen Zumutbarkeit, noch nicht gesichert. Da es keine analytisch bestimmbaren „Referenzzustände“ gibt, an denen die Funktionsfähigkeit der „Ökosysteme“ und des Naturhaushaltes ablesbar wäre (vgl. Nagel u. Eisel 2001; Jax 2001), steht die Suche nach begründeten Nachhaltigkeitskriterien und -indikatoren teilweise auf unsicherem naturwissenschaftlichen Fundament. Und weil aus der Natur a priori keine Grenzen für die Nachhaltigkeit, das Wirtschaftswachstum etc. herzuleiten sind, lassen sich für den Naturschutz mit dem jetzt modernen Konzept des „Sustainable Development“ nicht mehr und nicht weniger Erwartungen verknüpfen als mit früheren Strategieentwürfen (vgl. Haber 1993; s.a. Kap. 11.1.2): Die Nachhaltigkeitsdiskussion unterstellt, dass soziale Systeme „willentlich gestaltbar“ sind, sowie nach „Zielen und Präferenzen“ handeln. Das, so Haberl et al. (2001), ist eine Unterschätzung ihrer Eigenkomplexität. Nachhaltigkeit ist keine Frage eines Zustandes, sondern eines dynamischen Verhältnisses von „biologischer zu kultureller Evolution“ (s.a. Munn 1992; Fischer-Kowalski 1998; Norgaard 1998). Solange nicht bewiesen oder widerlegt ist, dass Ökosysteme „… bei einer deutlich geringeren Artenvielfalt …“ überlebensnotwendige Funktionen nicht mehr erfüllen, „gibt es … keine Garantie, dass … innerhalb der heute als zumutbar erscheinenden Schranken nachhaltige Entwicklungspfade …“ möglich sind (Haberl et al. 2001: 8 f.). 2.4.4 Raum für den Naturschutz: Kleckern oder Klotzen? Ungeachtet des Erkenntniszuwachses in der Landschafts- und Naturschutzökonomie bemüht auch Hampicke (1991: 76) für den Schutz in der Fläche das Instrument der Planung, weil es „… einen vollständig ,marktwirtschaftlichen’ Naturschutz …“ nie geben wird, um an anderer Stelle einzugestehen, dass der Natur-
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schutz z.B. in zentralen strategischen Fragen der (Raum-)Planung nicht der Logik ökonomischer Analysen, sondern ideologischen Zielen folgt (Hampicke 2002). Kontrovers wird nach wie vor die entscheidende Frage der ökologischen Raumordnung diskutiert, ob ein integrativer oder segregativer Ansatz den Zielen des Naturschutzes und der Landschaftspflege gerecht wird. Der Naturschutz tut sich bis heute mit einer Entscheidung schwer15. Im Wissen um die anhaltende Zerschneidung und Fragmentierung von Landschaften und Lebensräumen, deren Negativfolgen für Arten und Populationen durch zahlreiche Forschungsergebnisse (zusammenfassend z.B. Amler et al. 1999) belegt sind, gibt es auf den ersten Blick plausible Argumente für einen Schutz von Natur und Landschaft auf ganzer Fläche. Die unbestreitbar suggestive Wirkung dieses Ganzheitsanspruchs macht es schwer, den Boden für einen unverstellten Blick auf diese Kontroverse zu bereiten, ohne Gefahr zu laufen, als vermeintlicher Handlanger der „Nutzerseite“ enttarnt zu werden. Die Gründe, die gegen einen integrativen Ansatz und damit für eine Segregation in der Raumnutzung sprechen, liegen tiefer. Erkennt man an, dass die heutige Arten-, Biotop- und Lebensraumstrukturnutzung ein Relikt der vorindustriellen Zeit ist, so folgt daraus – entgegen der allgemeinen Auffassung – eine Bestätigung der Segregation, die bis zum ersten Intensivierungsschub der Landnutzung im Zuge der bäuerlichen Separation und Agrarreform ab Anfang des 19. Jh. das übergreifende Ordnungsprinzip der Landschaft war. Nicht die nach dem Produktionsmitteleinsatz zwar extensiv, vom Arbeitseinsatz her aber sehr intensiv genutzten Landwirtschaftsflächen (praktisch nur Äcker und hofnahes Mähgrünland) haben als Rückgrat der damaligen Biodiversität zu gelten, sondern die rund 20–40 % der Landesfläche, die über Jahrhunderte in einem un- bis halbkultivierten Zustand existierten (für das agrarisch immer vergleichsweise intensiv genutzte Pommern siehe Stamm-Kuhlmann 1999). Dass es sich dabei trotzdem um zumindest indirekt von den historischen und rezenten Nutzungsansprüchen des Menschen und nicht um von unberührter Wildnis geprägte Landschaften handelte, wird oft vergessen, ändert aber wenig an ihrer strategischen Funktion (vgl. Suchanek 2001; Zucchi 2002). Bork et al. (1998) sehen einen der wesentlichen Schlüsselfaktoren in der Genese der mitteleuropäischen Landschaft seit dem frühen Mittelalter vor allem in den durch die massiven Waldrodungen im 11. bis 13. Jahrhundert ausgelösten klimatischen und hydrologischen Veränderungen (vgl. Küster 1995). Die ökologische Krise, das sog. Artensterben und der Biodiversitätsverlust, findet, so gesehen, ihren Anfang in der Neuordnung der seit dem Nach-Mittelalter gewachsenen Eigentums- und Nutzungsstrukturen und der daran gekoppelten, nach und nach die ganze Fläche erfassenden „Landeskultur“. Das Ergebnis war zunächst die Integration der Biodiversität in eine Kulturlandschaft im wörtlichen Sinne. Bis heute gelten die bis zur „Energiewende“ durch Primärnutzungen entwi15
Einen Fingerzeig, wie andere „raumbedeutsame“ Fragen beantwortet wurden, kann hier die Erinnerung an eine schwierige Epoche der deutschen Geschichte liefern, in der Konrad Adenauer, 1. deutscher Bundeskanzler, eine in der Sache anders gelagerte, aber im Grunde vergleichbare strategische Entscheidung in die folgenreichen Worte: „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb“ gefasst haben soll.
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ckelten sowie im 19. Jh. auch planvoll angelegten Landschaften als das Naturschutzleitbild. Dass sich daraus fast nahtlos eine hochintensive Landnutzung entwickelt hat, deren Nutzungsertrag bis auf das Zehnfache zugenommen, deren Integrationskraft für die Biodiversität aber im gleichen Zug um Größenordnungen abgenommen hat, ist eine unbestrittene Tatsache. Verkannt wird dabei, dass in diesen Relationen der limitierende Faktor für einen integrativen Naturschutz liegt: Ein Leistungsverzicht von beispielsweise etwa 20 %, der hart an die heutige Rentabilitätsgrenze und den Mindeststandard der Güterversorgung geht, kann in einer Landschaft, deren Biodiversität sich bei einem Leistungsniveau von „mindestens 75 %“ unter dem jetzigen Niveau herausgebildet hat, nicht die heutigen bioökologischen Naturschutzziele erfüllen. Demzufolge muss „… bei der Extensivierung … nicht ,gekleckert’, sondern ,geklotzt’ werden“ (Hampicke 1991: 271, siehe auch 1987, 1988). Möglich wird das nur durch eine konsequente Segregation16 von großflächigen und vernetzten Räumen mit einem besonderen ökologischen Entwicklungspotenzial, also z.B. von Natur aus besonders nährstoffarmen, trockenen, humus- und torfbildenden bzw. feucht-nassen Landschaften mit einer hohen Dynamik. Unberührt von diesen besonderen bioökologischen Anforderungen bestehen für die Erhaltung und Entwicklung allgemeiner ökologischer und sensueller Qualitäten in der gesamten Landschaft gesetzliche Ziele, die nur mit einem integrativen Ansatz umzusetzen sind. Ausblick. Mit der sozial-ökonomischen Vereinnahmung des Raumes und der damit verbundenen Zunahme des Raumwiderstandes für Tiere (und Pflanzen) geht eine schleichende Vereinnahmung der biologischen Evolution einher. Die ökobiologischen Konsequenzen dessen sind nicht abschließend zu beurteilen, gehen aber vermutlich in Richtung einer allgemeinen Nivellierung von Qualitäts- und Quantitätsdifferenzen zwischen den Lebensgemeinschaften sowie der Erhöhung des Existenzrisikos für Arten und Populationen durch Verstärkung von zufallsgeprägten Einflüssen. Das Ergebnis ist der zunehmende Verlust an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der biologischen Evolution von den sozio-ökonomischen Prozessen. Wenn die sich fortwährend beschleunigende Absorption des Natürlichen durch das Technische gesellschaftspolitisch nicht gewollt ist, weil sie möglicherweise sozial und ökonomisch nachteilig wirken kann oder als existenzbedrohend bewertet wird, muss via konsensorientierter Konventionen eine möglichst eigenständige Entwicklung der ‚biologisch-naturbetonten’ Ökosysteme (Haber 1999) erhalten und wiederhergestellt werden. Dabei ist die Frage, wie das erreicht werden kann, noch ebenso ohne endgültige Antwort wie die Frage, was Natur ist und was Naturerhalt bedeutet (Immler 1989; Hampicke 1992). Das gängige Na16
Es ist eine Frage des Ermessens und der angestrebten Naturschutzziele, bei welcher räumlichen Maschenweite Integration in Segregation übergeht. Zur Vermeidung von Missverständnissen sollte immer die räumliche Dimension für die Gültigkeit des einen oder anderen Prinzips benannt werden. Die Übergänge sind fließend. In einer intensiv genutzten Landschaft ist das Integrationsprinzip auch dann gewahrt, wenn Naturschutzanforderungen auf kleinen, von der intensiv genutzten Landschaft segregierten Flächen erfüllt werden. Maßgeblich für die Wahl der Strategie sollte der beabsichtigte (Schutz-) Zweck sein.
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turbild ist ein „… kulturelles Konstrukt, und daher ist Naturschutz eine ‚Kulturaufgabe’ (Haber 1999: 27, in Anlehnung an Markl 1986). Für den Naturerhalt bedarf es zuvorderst statt der Landeskultur einer Landschaftskultur, durch die die Kulturlandschaft in einem „… Prozess mit ständiger Dynamik …“ (Haber 1999: 30) nachhaltig entwickelt wird. Vor allem sozio-ökonomische (Hampicke 1991, 1992) und erkenntnistheoretische Gründe (Immler 1989) sprechen dafür, dass der Prozess „Natur durch Landschaftskultur“ (Haber 2003) mit einem segregativen Ansatz wahrscheinlich effizienter gestaltet werden kann als durch den Versuch, ihn in die technischen Systeme zu integrieren. Ein wichtiger Schritt in Richtung der Anerkennung und Umsetzung dieses Ansatzes wäre das gesellschaftliche Bekenntnis zu einer konsensfähigen ökologischen Raumplanung, die auf der Grundlage einer schlüssigen Theoriebildung und einer von gesellschaftlichen und politischen Einflüssen unabhängigen Analytik das Segregations-Prinzip und damit den Schutz hochwertiger Raumqualitäten in das Zentrum stellt (vgl. Röhrs 1998). Keineswegs ist das eine völlige Absage an das Integrations-Prinzip – dieses bleibt in der „normalen Hochleistungs-Landschaft“ der einzige und unabweisbare Weg zum Erhalt eines Mindestmaßes an Biodiversität, landschaftlicher Vielfalt und zum Schutz der abiotischen Naturgüter. So ist dies auch keine Absage an eine naturschutzgerechte Nutzung, Entwicklung und Gestaltung der „Kultur-Landschaft“. Naturschutzfachliches und -politisches Ziel ist hier die Bewahrung und Wiederherstellung der Integrität des Raumes und der bio-ökologischen Raumstrukturen sowie des Wirkens der landschaftsökologischen Schlüsselfaktoren: naturnahe Wasserhaushalts-, Bodenbildungs- und Vegetationsentwicklungs-Prozesse. Aus dieser Perspektive erfährt die von Immler (1989) beschworene Überwindung der Trennung von Zivilisation und Natur die komplizierte Dialektik jeder partnerschaftlichen Beziehung. Ohne Respekt für die Sphäre des jeweils anderen ist sie zum Scheitern verurteilt. Im Kontext mit der Segregation verbindet sich mit dem seit 1979 bzw. 1992 verfolgten europäischen Gemeinschaftswerk zur Entwicklung eines kohärenten Netzes „NATURA 2000“ die besondere Chance, europaweit erstmalig ein rechtsverbindliches, nicht-technisches Raum-Gefüge zu konzipieren, das im gleichen europarechtlichen Rang wie die europäische Verkehrsinfra- und Siedlungsstruktur entwickelt werden kann (vgl. Plachter u. Reich 1994; SRU 2000). Sollten sich dieses Projekt und das des Pan-Europäischen Ökologischen Netzwerkes (CoE 2000a) im Kontext mit der Europäischen Landschaftskonvention des Europarates (CoE 2000b) verwirklichen und dauerhaft behaupten können, dann wäre das nicht nur ein überzeugender Beweis für die Effizienz des Planes gegenüber den freien Marktkräften, sondern auch ein Beitrag zur Bewahrung einer gewissen Eigenständigkeit der biologischen Evolution (vgl. Kap. 2.3.3), und sei es nur aus Respekt vor der „Schöpfung“. Anstelle der statisch-konservierenden Ansätze müssten diese Vorhaben allerdings die dynamisch-evolutiven Komponenten des Naturschutzes entwickeln und fördern. Das könnte auch helfen, seine bisher weitgehend vermisste öffentliche Breitenwirkung und politische Akzeptanz zu verbessern.
3 Raumnutzung und Raumerschließung durch den Menschen Siegfried Losch Die heutigen Bodennutzungen sind das langjährige Ergebnis vielfältiger sozialer, wirtschaftlicher, kultureller, aber auch ökologischer Entwicklungen. Art, Umfang und Intensität der einzelnen Bodennutzungen verändern die Freiräume; häufig sind die Veränderungen so stark, dass sie in ihren Funktionen entscheidend geschwächt oder gar als Freiräume zerstört werden. Das gesamte Ausmaß der Bodenbeanspruchung direkt, z.B. durch Umwidmung der Freiräume zu Bauland und Verkehrsfläche, sowie indirekt, z.B. durch Überlagerungen und Durchschneidungen von Freiräumen, wird jedoch erst sichtbar, wenn die unterschiedlichen Formen der Freiraumbeanspruchung zusammen betrachtet werden. 3.1 Der umkämpfte Raum Jede menschliche Gesellschaft gestaltet den Raum, in dem sie lebt, nach ihren Zielen, Bedürfnissen und Vorstellungen. Sie weist dem Raum Nutzungsfunktionen zu, die sich jedoch in Raum und Zeit verändern. Generell nutzt der Mensch den Raum bzw. die Fläche als Standort für Gebäude und Anlagen, als Produktionsgrundlage für die Land- und Forstwirtschaft, als Rohstoffquelle oder als Verkehrsund Erholungsraum. Zugleich ist er gemeinsamer Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen. Seit je ist der Raum in Deutschland vom Menschen intensiv genutzt und gestaltet worden. Heute jedoch hinterlassen eine hohe Entwicklungsdymanik in den Städten und die immer schneller werdenden Modernisierungszyklen in Stadt und Land deutlich irreversible Spuren in der Landschaft: Stadtregionen wachsen mit ihren hohen Flächenansprüchen relativ ungebremst in den Freiraum, verändern hier radikal die bestehenden Freiraumstrukturen. Korridore mit linienartigen Bestandteilen der Infrastruktur (Straße, Schiene, Leitungen) nehmen ständig zu, ziehen sich wie breite Bänder durch die Landschaft, zerschneiden zusammenhängende Landschaftsräume und Biotope, verändern dadurch Naturräume, oft aber auch über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaften. Rohstoffgewinnungs- und Bergbaugebiete greifen durch Art und Umfang des Abbaus massiv in die bestehenden Freiräume ein – mit teilweise hohen Verlusten an biotischem und abiotischem Potenzial, denn die biotischen und abiotischen Verluste der ausgebeuteten Flächen können nur teilweise durch deren Rekultivierung aufgefangen werden.
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Naturnahe Erholungspotenziale werden durch den Tourismus zunehmend überlastet und es zeigen sich deutliche Schädigungen in diesen Landschaften. Die Nutzung der Agrarflächen wird aus wirtschaftlichen Gründen in den agrarischen Gunstlagen immer stärker intensiviert; zugleich aber werden sie aus mangelnder Rentabilität auf den Marginalstandorten – insbesondere in peripheren ländlichen Räumen – vermehrt aufgegeben. Hinzu kommen Probleme mit den Wäldern. Waldbestände weisen bundesweit ein insgesamt hohes Schadensausmaß auf, wie die Waldschadenserhebungen ergeben. Eine deutlich rückläufige Schadensentwicklung ist in den heutigen Waldbeständen weder erkennbar noch zu erwarten, da die Schadensursachen – wenn auch räumlich in unterschiedlichem Ausmaß – weiter fortbestehen bzw. bereits zu irreversiblen Schäden u.a. bei den Waldbäumen oder im Boden geführt haben. Diese Schadensursachen verändern mittel- bis langfristig die Wälder in Struktur und Aufbau und führen zu Wandlungen der Waldökosysteme. Tabelle 3.2.1. Flächennutzung in der Bundesrepublik Deutschland 1993–2001
Nutzungsart
1993 [ha]
1997 [ha]
2001 [ha]
VeränVeränAnteil derung derung 2001 1997/2001 1997/2001 [%] [ha] [ha/d]
Landwirtschaftsfläche
19 511 199 19 307 474 19 102 791 – 204 683
Waldfläche
10 453 557 10 490 765 10 531 415
40 650
– 140
53,5
28
29,5
Wasserfläche
783 701
794 014
808 462
14 448
10
2,3
Flächen anderer Nutzung (ohne Friedhofsfläche)
730 311
716 133
686 957
– 29 176
– 20
1,9
Siedlungs- und Verkehrs4 030 524 flächen* dar. Gebäude- und Frei2 073 334 flächen dar. Betriebsflächen ohne 54 941 Abbauland dar. Erholungsflächen 225 474 dar. Verkehrsflächen 1 644 084 (dar. Straßen, Wege, Plätze) dar. Friedhofsfläche 32 659
4 205 216
4 393 895
188 679
129
12,3
2 193 734
2 308 079
114 345
78
6,5
61 998
73 240
11 242
8
0,2
237 385 1 678 561 1 500 537 33 536
265 853 1 711 764 1 526 406 34 960
28 468 33 203 25 870 1 424
19 23 18 1
0,7 4,8 4,3 0,1
189 437
179 578
– 9 859
–7
Abbauland Gesamtfläche
187 758
35 697 048 35 703 037 35 703 099
0,5 100,0
Quelle: Statistisches Bundesamt: Flächenerhebungen 1993, 1997 und 2001 * Siedlungs- und Verkehrsflächen sind die Summe von Gebäude- und Freiflächen, Betriebsflächen (ohne Abbauland), Erholungsflächen, Verkehrsflächen und Friedhofsflächen
Die Ursachen solcher Entwicklungen liegen weniger im Scheitern, als vielmehr gerade im Erfolg der modernen Wirtschaftsweise, die in ihrem Selbstlauf des „Immer mehr“ nicht die Grenzen des „Zu viel“ kennt. „Die modernen Ökonomien planen und rechnen so, als wären die menschlichen wie die natürlichen Ressourcen unbegrenzt und unendlich ausbeutbar. Notwendigerweise gerät diese Form des
3 Raumnutzung und Raumerschließung durch den Menschen
57
Wirtschaftens bei der heutigen Nutzung des Raumes in Widerspruch zu Vorstellungen, die sich sowohl auf die Erhaltung naturnaher sowie tradierter Landschaften als auch auf Prinzipien der Ökologie beziehen. Die ökologischen Prinzipien verlangen, dass sich die unterschiedlichen Reproduktionsformen des Lebens mit dem verfügbaren Raum begnügen. Dieses Leben richtet sich darum in Nischen ein, entfaltet sich regional, hält sich an Grenzen und bildet Kreisläufe aus. Dagegen tritt ein Denken und Handeln in Unendlichkeiten aus dieser natürlichen Ordnung heraus und zerstört sie. Für eine solche Haltung stehen im modernen Wirtschaftssystem Ausbeutung, Verschwendung, Überproduktion und hemmungsloser Konsum: Ausbeutung nicht nur der Arbeitskraft, sondern vor allem der Natur in Gestalt von Boden, Luft, Wasser und des Lebens, das sie hervorgebracht hat; Verschwendung nicht nur von Gebrauchswerten, sondern auch von Dienstleistungen, Mobilität und Geschwindigkeit; Konsum nicht nur von Gebrauchswerten, sondern ebenfalls von Menschen, Landschaften und von ganzen Lebensräumen. Schließlich hinterlässt ihr grenzenloser Verbrauch eine unübersehbare Spur … des Unbrauchbaren und des Abfalls“ (Mersch 1994). 3.2 Raumnutzungen zwischen Konkurrenz und Koexistenz Ausmaß und Struktur solcher Entwicklungen spiegeln sich im Gebiet der Bundesrepublik jedoch nur annähernd in den Erhebungen der Flächenstatistik wider (Tabelle 3.2.1). Nur auf die wichtigen Nutzungsarten soll hier kurz eingegangen werden: Landwirtschaftsflächen sind 2001 mit 53,5 % oder mit 19,1 Mill. ha die vorherrschende Bodennutzung im Bundesgebiet. Seit Jahrzehnten nehmen die Landwirtschaftsflächen ab. So hat zwischen 1993 und 2001 die Agrarfläche um ca. 408 000 ha abgenommen. Die Abnahmen der landwirtschaftlichen Flächen erfolgten vor allem zugunsten von Siedlungs- und Verkehrsflächen. Der Rückgang wird weitergehen und sich – insbesondere in der Nähe der großen Verdichtungsräume – möglicherweise sogar noch beschleunigen, weil der politische Druck auf die Gemeinden in Richtung verstärkter Baulandausweisung nicht nachlässt. In der Statistik schlagen sich Änderungen bei der landwirtschaftlichen Nutzung jedoch nur teilweise nieder. Erfasst wird die Umwidmung von landwirtschaftlichen Flächen. Nicht erfasst wird eine zeitweilige oder ständige Aufgabe der Nutzung von Agrarflächen, so dass die Dynamik der Nutzungsveränderungen in den Landschaften der Bundesrepublik weitaus größer ist, als die Zahlen es ausdrücken. Wald als weiterer wichtiger Nutzungstyp unterstützt mit 29,5 % oder mit 10,5 Mill. ha Fläche wesentlich die natürlichen Kreisläufe im Naturhaushalt und die Lebensräume von wild lebenden Pflanzen und Tieren. Waldflächen prägen zudem maßgeblich die Landschaftsbilder der Freiräume. Sie nehmen seit Jahren beständig zu. Im Zeitraum zwischen 1993 und 2001 wuchs die Waldfläche um 77 900 ha. Die Tatsache, dass Waldflächen ständig zunehmen,
58
Siegfried Losch
darf über den heute teilweise mangelhaften Zustand der Wälder nicht hinweg täuschen. Neben den waldbaulichen Fehlern schädigen auch von außen eingetragene Schadstoffe die Waldflächen. Die seit Jahrzehnten erfolgten Einträge von Schadstoffe haben eine Versauerung der Waldböden auf mehr als 90 % der Fläche (Umweltbundesamt 1996; Enquete Kommission 1998) bewirkt, was zu Schäden der Waldböden, der Wirtschaftswälder, der Waldökosysteme, aber auch des Grundwassers geführt hat. Siedlungs- und Verkehrsflächen prägen durch die jeweilige Schwere der Eingriffe in den Landschaftsraum das landschaftliche Erscheinungsbild völlig neu und entwickeln eigene Strukturmuster nicht nur im Siedlungsraum selbst, sondern auch im näheren und weiteren städtischen Umfeld. Bundesweit errechnet sich 2001 eine Siedlungs- und Verkehrsfläche von 4,4 Mill. ha oder ein Anteil von 12,3 % an der Gesamtfläche. Örtlich können diese Flächen sogar einen Anteil von ca. 75 % des jeweiligen Gemeindegebietes einnehmen. Sie haben im Zeitabschnitt 1993–2001 absolut um 363 000 ha zugenommen. Die Siedlungsund Verkehrsflächen werden zu Lasten der Freiräume auch in Zukunft zunehmen. Je nach Art, Umfang und Intensität der Nutzung ändern sich diese Flächen durch Überbauungen, Abgrabungen, Ablagerungen und durch Schadstoffbelastungen gravierend. Wasserflächen und die naturnah belassenen Flächen werden auf 4,2 % oder 1,5 Mill. ha beziffert, wobei die Wasserflächen (insbesondere durch die Baggerseen) zu-, die Moor-, Heide- und sonstigen Flächen wertvoller Biotope abnehmen. Der Rückgang der Moore und sonstiger wertvoller Biotope ist deshalb so dramatisch, weil diese sich mit ihrer spezifischen Fauna und Flora nur in sehr langen Zeitspannen entwickeln können. Naturnahe Flächen gibt es auch in den Räumen, die von der Land- und Forstwirtschaft oder von Siedlungen genutzt werden. Hierbei handelt es sich häufig um wertvolle Lebensräume für Pflanzen und Tiere oder um ökologische Ausgleichsräume. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen weiter gefährdet. Für die Landwirtschaft erbringen Moore, Hecken oder Trockenwiesen ökonomisch gesehen nur geringe Erträge. Außerdem stören sie bei der Bewirtschaftung und werden deshalb häufig beseitigt. In den Siedlungsräumen dagegen sind sie wegen der besonderen ökologischen Ausstattung bevorzugte Wohnstandorte, werden aber durch Gebäude und Anlagen entwertet. Obwohl naturnahe Flächen biotische Vielfalt erhalten und sichern sowie maßgeblich das Bild von Freiräumen prägen, sind sie im Laufe der letzten Jahrzehnte auf Restbestände geschrumpft. Damit gehen Lebensräume verloren, die für ihre Entstehung Jahrhunderte gebraucht haben. Die jeweils statistisch erfasste Struktur der Flächennutzung ist zum Zeitpunkt ihrer Erfassung nur eine Momentaufnahme in einem ständigen Veränderungsprozess der Nutzungen untereinander. Motor dieser Veränderungen sind u.a. die standortbezogenen Nutzungskonkurrenzen, bei denen sich in der Regel die Nutzung durchsetzt, die am wirtschaftlichsten zu verwerten ist. Aber auch historische Entwicklungen, alternative Bewirtschaftungsweisen, unterschiedliche Lagequalitäten zu den städtischen Zentren oder die Gunst bzw. Ungunst der natürlichen
3 Raumnutzung und Raumerschließung durch den Menschen
59
Standortfaktoren bestimmen Struktur und Mengengerüste der heutigen Flächennutzungen. Jede Ausweitung einer Nutzungsart ist häufig mit Einschränkungen anderer Nutzungsarten verbunden. Auf diese Weise verändern sich die räumlichen Nutzungsmuster ständig und bewirken einen kleinräumigen Wandel, der sich täglich vollzieht (Abb. 3.2.1).
Abb. 3.2.1. Tägliche Veränderung der Bodennutzung in der Bundesrepublik Deutschland 1993–2001 Anmerkung: In einigen Ländern beeinflussen neben tatsächlichen Nutzungsänderungen vor allem Umwidmungen und Neuzuordnungen der einzelnen Nutzungsarten im Zuge des Aufbaus des automatisierten Liegenschaftskatasters den Zeitvergleich. Saldierungen ohne Flächen anderer Nutzungen. Quelle: Eigene Berechnungen des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung nach Angaben der Flächenerhebungen 1993, 1997 und 2001; Statistisches Bundesamt: Bodenflächen nach Art der tatsächlichen Nutzung 1997, Fachserie 3, Reihe 5.1
3.3 Freiraum war und bleibt Konfliktraum Großräumig als Freiräume oder kleinräumig als Freiflächen werden die Flächen bezeichnet, denen überwiegend natürliche Funktionen zugeordnet sind oder die neben den natürlichen Funktionen zugleich nicht-bauliche Nutzungsfunktionen erfüllen. Zu den Freiräumen1 gehören daher 1. die land- und forstwirtschaftlichen Nutzflächen 2. Wasserflächen sowie die naturnahen Flächen, aber auch 3. die Grün- und Ausgleichsflächen in den Siedlungsräumen.
1
Freiraumbegriff der raumordnerischen Flächenstatistik, vgl. dazu auch Kap. 13.2
60
Siegfried Losch
Nach dieser Definition gehören ca. 90 % der Katasterfläche zu Freiräumen unterschiedlicher Größe. Freiräume sind – wie es der Sinngehalt des Wortes „frei“ nahe legen könnte – keine nutzungsfreien Räume, sondern Räume mit mehreren konkurrierenden, untereinander mehr oder weniger verträglichen Nutzungen. Ursachen und regionsübergreifende Wirkungen der Freiraumbelastungen sind in der Regel vielfältig. Nutzungen wie z.T. Wasser- und Rohstoffgewinnung oder landwirtschaftliche Nutzung und Naherholung überschneiden sich. In der Regel werden die Agrarnutzungen als überwiegend im Einklang mit den natürlichen Funktionen dargestellt, was bei den gegenwärtigen vielfältigen Schadensbildern in den Agrarlandschaften wohl nicht generell zutreffend ist; denn eine Nutzung des Freiraumes ist nur dann unbedenklich, wenn die natürlichen Ressourcen nach Art und Umfang nur so weit in Anspruch genommen werden, wie ihre Fähigkeit zur Selbstregulation nicht zerstört wird und dauerhaft erhalten bleibt. In diesem Rahmen wäre eine Agrarnutzung des Freiraumes unbedenklich. Aber der ständige Zugriff auf die nicht erneuerbare Ressource Boden und seine teilweise Zerstörung (Erosion, Bodenverdichtung, Biozidbelastungen u.a.) über die natürliche Regenerationsfähigkeit hinaus bewirken, dass eine mehr oder weniger rasche Schwächung und teilweise Zerstörung von Böden eintritt. m²/EW 600 600 450 400 240
200
200
140 50
0 Kernstadt im Durchschnitt
Mittelzentrum in der Kleinere Gemeinde in der Region, Region, vorwiegend vorwiegend Neubau Neubau
Siedlungs- und Verkehrsfläche pro Einwohner [m²] Verkehrsfläche pro Einwohner, die innerhalb des im Zusammenhang bebauten Siedlungsgebietes liegt [m²]
Abb. 3.3.1. Inanspruchnahme von Siedlungs- und Verkehrsflächen pro Einwohner in Gemeinden der Region Hannover und in der Kernstadt, Quelle: Apel et al. (2000: 53) verändert
Mittel- bis langfristig lassen sich tendenziell drei problematische Entwicklungen im Freiraum erkennen, die die Freiraumressourcen in ihrem Bestand und in ihrer Qualität beeinträchtigen, schädigen oder gar zerstören:
3 Raumnutzung und Raumerschließung durch den Menschen
61
1. Die weitere Umwidmung der Freiflächen zu Siedlungs- und Verkehrsflächen und die damit einhergehende zusätzliche Zerstörung, Zerschneidung und Isolierung von Freiräumen, 2. die Entwicklung der Landwirtschaft zu intensiven, hochspezialisierten Bewirtschaftungsformen in den agrarischen Gunstlagen sowie 3. eine Destabilisierung der Wälder durch Schadstoffeinträge, die insbesondere in Gebieten mit sauren Ausgangsgesteinen die Bodenversauerung tiefreichend verstärken, was weitreichende Folgen für die biotischen und abiotischen Faktoren hat. Zu (1.): Freiraumverbrauch durch Siedlungen und Verkehr hält an. Die Bundesrepublik zählt heute zu den am dichtesten besiedelten Staaten in Europa. Sie liegt mit einer Bevölkerungsdichte von 231 Einwohnern je km² (2003) weit über dem Durchschnitt der Europäischen Union (120 EW/km², EU-15, 2003)2. Bezogen auf die Gesamtfläche sind nur die Niederlande, Belgien und Großbritannien noch dichter besiedelt. Der hohe Grad der Raumbeanspruchung und die unterschiedliche lokale Belastung dokumentieren sich auch darin, dass von den 82,5 Mill. Menschen mehr als 80 % in den Städten leben. Daher konzentrieren sich in den Städten auch die intensiven städtebaulichen Flächennutzungen, die Güterproduktionen, die Energie- und Stoffumsätze sowie die Verkehrsleistungen. Auch künftig werden neue Siedlungen und wachsende Verkehre weitere Freiräume beanspruchen und Freiräume verändern. Status-quo-Prognosen der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (Dosch 1996) zur Nachfrage nach Wohnbauland deuten z.T. darauf hin, dass mittelfristig kein Stillstand oder gar eine Trendwende beim Landschaftsverbrauch zu erwarten ist. Diese Entwicklung zu weiteren Flächeninanspruchnahmen wird unterstützt durch tendenziell stagnierende bzw. wachsende Grundstücksgrößen und abnehmende bauliche Dichten (ARL 1999). Insgesamt werden in den nächsten 10 bis 15 Jahren schätzungsweise täglich rund 100 ha Freiflächen in Siedlungs- und Verkehrsflächen umgewandelt werden3.
2 3
Quelle: Eurostat 2004 Ergebnisse aus dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung weisen auf eine steigende Umwidmung von Freiflächen in Siedlungs- und Verkehrsflächen seit der letzten Erhebung 2001 hin (http://www.bbr.bund.de/abt/i5/flächenverbrauch.htm). Betrug die neu hinzugekommene Siedlungs- und Verkehrsfläche zwischen 1993 und 1997 noch 120 ha täglich, so erhöhte sich diese Zahl im Jahr 2001 auf 129 ha täglich. Das bedeutet, dass im Zeitraum 1997–2001 jährlich rd. 47 100 ha Freifläche umgewidmet wurden. Das Bundesamt weist aber darauf hin, dass in den nächsten 10 Jahren die Nachfrage nach Siedlungs- und Verkehrsflächen zwar weiterhin zunehmen wird; aber es gibt Anzeichen (Stagnation und demographische Alterung der Bevölkerung, flächensparendere Bauweisen, vermehrte Nutzung von Brachflächen oder der hohe Wohnungsleerstand), die eher auf einen leichten Rückgang der Siedlungs- und Verkehrsflächennachfrage in den nächsten Jahren hindeuten. Vermutlich wird dieser Wert über die nächsten 10 bis 15 Jahre bei rd. 100 ha täglich liegen – auch wenn in den neuen Ländern noch ein erheblicher Nachholbedarf an Wohnungen, Gewerbebetrieben und Verkehrsanlagen zu erwarten ist.
62
Siegfried Losch
Flächen- und Freiraumverluste verteilen sich nicht gleichförmig über die Landflächen. Aufgelockerte Siedlungsstrukturen im ländlichen Raum beanspruchen, bezogen auf die Einwohnerdichte, mehr Freiraum als Kernstädte, wie durch Abbildung 3.3.1 verdeutlicht werden kann. Auch die ständigen öffentlichen Mahnungen und Appelle aus der Politik und von den Verbänden, Bauland für Gebäude und Anlagen stärker vorsorgend auszuweisen, tragen zu weiteren Flächenansprüchen bei. Dagegen könnte eine bevorzugte Förderung der Altbausubstanz die Baulandnachfrage erheblich vermindern. Durch eine Umschichtung im Wohnungsbauetat will die Bundesregierung seit dem Jahr 2002 mit einem auf 5 Jahre befristeten Förderprogramm die Abwanderung aus den ostdeutschen Innenstädten stoppen. In den sog. Kern-, Sanierungsund Erhaltungsgebieten erhalten Altbauwohnungen eine höhere Investitionsförderung4. Programme dieser Art dürften in den neuen Bundesländern den Trend zur erheblichen Ausweitung der Siedlungsflächen in den Freiraum (Suburbanisation) vermindern, nicht aber aufhalten. Zu (2.): Intensive und extensive agrarische Bewirtschaftungsformen zukünftig. Die Landwirtschaft hat mit ihrer Bewirtschaftungsweise von jeher in Deutschland auf mehr als der Hälfte der Fläche das Bild der Freiräume geprägt. Eine entscheidende Entwicklung in der Landwirtschaft hat jedoch nach dem 2. Weltkrieg eingesetzt. Sie ist eng mit dem Einsatz von Fremdenergie und chemischen Mitteln (Düngemittel, Biozide) verbunden. Aber auch die zunehmende Arbeitsteilung (Spezialisierung) bei regionaler Produktionskonzentration einerseits und rascher technischer Fortschritt andererseits veränderten die Produktionsweisen. Damit lösten sie sich aber aus den traditionellen Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft. Vor dem Hintergrund der Agenda 2000 (BML) scheint sich in der gesamten Bundesrepublik – auch bei den moderaten Beschlüssen des Europäischen Rates von 1999 – eine langsame Entwicklung der Landwirtschaft weg von einer flächendeckenden Landbewirtschaftung und hin zu Produktionslandschaften einerseits und zu Pflegelandschaften andererseits abzuzeichnen. Denn die Senkung der Getreidestützpreise um 15 % und der Rindfleischstützpreise um 20 % seit dem Jahr 2000 wird – auch wenn die Direktzahlungen angehoben werden – die Existenz der kleineren Agrarbetriebe noch stärker als bisher in Frage stellen und damit auch eine flächendeckende Bewirtschaftung. Die Brüsseler Reform „Agenda 2000“ wird sich nicht abrupt auswirken5. Aber schon in wenigen Jahren könnte sich aus wirtschaftlichen Gründen eine weitere 4 5
Spiegel Nr. 30 vom 23.07.2001, S. 19. Die neueren Entwicklungen in der künftigen Agrarpolitik, die in den nächsten Jahren „Klasse statt Masse“ (Bundesministerin Künast) in der Agrarproduktion auf mindestens 20 % der Agrarfläche anstreben, dürften die Entwicklung zu reinen Produktionslandschaften nur vermindern; aufzuhalten ist diese Entwicklung nur begrenzt, wenn nicht eine massive Umschichtung der Subventionsmittel im Agrarbereich erfolgt. Wenn das Ziel erreicht werden sollte, zumindest auf 20 % der Agrarflächen eine alternative Produktion aufzubauen, wird der Freiraum u.a. mit seinen biotischen (u.a. Pflanzen und Tiere im Boden und auf dem Boden) und abiotischen Faktoren (u.a. chemisch-physikalische Bodenpotenziale) erheblich davon profitieren.
3 Raumnutzung und Raumerschließung durch den Menschen
63
Funktionalisierung der Agrarlandschaften ergeben. Aus dieser wachsenden Funktionalisierung in intensive Produktions- und extensive Pflegelandschaften resultiert eine Reihe von Schwierigkeiten: Neben sozialen Verwerfungen, sozioökonomischen Erosionsprozessen und Verlusten an regionaler Identität in den peripher gelegenen Agrarräumen werden in den agrarischen Produktionslandschaften die ökologischen Belastungen von Boden, Wasser, Pflanzen und Tieren auf hohem Niveau erhalten bleiben. In den Pflegegebieten wird bei der erheblichen Entwertung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes und bei dem generell hohen Schuldenstand der Landwirtschaft die Pflege der überkommenen Kulturlandschaften große Probleme aufwerfen. Diese müssen aufgefangen werden durch die Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel für die Pflege historisch gewachsener und ökologisch leistungsfähiger Freiräume. Finanzmittel sind für diesen Zweck zur Zeit nicht ausreichend vorhanden. In Zuge der Freisetzung von Agrarflächen werden bestimmte Gebiete frei werden für eine Neuorientierung künftiger Nutzungen. Diese Chance könnte zugunsten von Aufgaben genutzt werden, die bisher von der Gesellschaft zu wenig beachtet wurden: für Naturentwicklungsgebiete und für “kulturhistorisch wertvolle Landschaften“. Bei den Naturentwicklungsgebieten könnte die Natur sich selbst überlassen bleiben und der Mensch müsste nicht mehr eingreifen. Hierher gehören auch Beispiels- und Experimentalräume für Modell-Landschaften, damit sich natürliche Prozesse über längere Zeiträume ungestört entwickeln können. „Kulturhistorisch wertvolle Landschaften“ haben – je nach Ausgangsbedingungen – vielfältige Ausprägungen und Formen. Dazu gehören z.B. historische Nutzungsformen wie Heiden, Hutungen, Niederwälder, Streuwiesen, Streuobstkulturen, extensive Dauerweiden bzw. Ackerflächen oder der naturgemäße Waldbau. Diese aufwandsarmen Nutzungsformen werden heute schon in dem Modell der Biosphärenreservate (Succow 1995) – vor allem in den neuen Bundesländern – aktiv zum Erhalt spezieller Kulturlandschaften eingesetzt. Zu einem entscheidenden wirtschaftlichen Rückgrat der ländlichen Freiräume könnte eine Landwirtschaft mit vielfältigen Erwerbskombinationen (Seibert et al. 1995) werden und damit zumindest Teile der „gewachsenen Kulturlandschaften“ erhalten. Diese Erwerbskombinationen sichern im Nebenerwerb z.T. gegen Entgelt die notwendige Mindestbewirtschaftung und Pflege von erhaltenswerten Kulturlandschaften einschließlich ihrer historisch gewachsenen wertvollen Nischen. Das trifft z.T. sowohl für die ökologisch wichtigen Hutungen an den Steillagen der Mittelgebirge als auch für das Offenhalten von Wiesentälern oder Bergwiesen zu. Zu (3.): Destabilisierung der Wälder. Aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen genießt heute der Wald einen besonderen Schutz. Das Bundeswaldgesetz nennt als Ziel an erster Stelle die Erhaltung der natürlichen Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes. Erst danach kommen die Einkommenserzielung für die Waldeigentümer, die Holzversorgung durch die Forstwirtschaft und die Erholungsfunktion.
64
Siegfried Losch
Durch außenbürtige Schädigungen von Waldökosystemen und durch Probleme mit der Naturverjüngung verändert sich ein wichtiger Eckpfeiler der „gewachsenen Kulturlandschaft“ erheblich. Für den Wald kann es noch keine Entwarnung geben, wie die Ergebnisse der Waldschadenserhebungen (BML 1996 u. 1997a) und der Waldbodenzustandsbericht (BML 1997b) der Bundesregierung zeigen. Die Forstwirtschaft selbst kann sich aus eigener wirtschaftlicher Kraft nur unzureichend helfen. Denn die erhofften Renditen blieben im Staats- und Körperschaftswald weitreichend aus oder waren im Privatwald relativ gering. Sowohl der Staatswald seit 1985 als auch der Körperschaftswald seit 1988 haben in den alten Bundesländern beachtliche Verluste erlitten. Nach dem Statistischen Jahrbuch über Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 1993 (BML 1993), ergeben sich bei Reinerträgen ohne staatliche Zuschüsse, Prämien und indirekte Förderungen in den alten Ländern hohe Verluste je ha Holzbodenfläche (HB) beim Staatsforst und beim Körperschaftswald (vgl. Tabelle 3.2.2). Tabelle 3.2.2. Betriebsergebnisse in Forstbetrieben nach Besitzarten 1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
– 91
– 129
– 159
– 145
– 64
61
– 344
Staatsforst
Reinertrag (HB) [DM/ha]
2,27 Mill. ha HB
Verlust/ Gewinn [Mill.DM]
Körperschaftsforst
Reinertrag (HB) [DM/ha]
52,00
35,00
1,82 Mill. ha HB
Verlust/ Gewinn [Mill.DM]
94,64
63,70
Staats- und Körperschaftsforst
Verlust/ Gewinn [Mill.DM]
– 206,57 – 292,83 – 360,93 – 329,15 – 145,28 138,47
8
14,56
– 780,88
– 14
28
379
– 189
– 25,48
50,96
689,78
– 343,98
– 94,32
828,25
–1124,86
– 111,93 – 229,13 – 346,37 – 354,63
Eine Besserung der ökonomischen Bilanz ist nicht in Sicht, weil andere Länder auch auf lange Sicht preiswertes Holz nach Deutschland liefern können. So scheint es nur schlüssig zu sein, sich von unrentablen Formen der Waldbewirtschaftung zu verabschieden und in diesen Fällen die natürlichen Funktionen des Waldes für Klima, Boden, Luft, Wasser und für die Stoffkreisläufe über den Marktwert des Rohstoffes Holz zu stellen. Damit könnten auf ca. 18 % der Fläche des heutigen Bundesgebietes Gemeinwohlinteressen nachhaltig verwirklicht werden. Das hätte zugleich den Vorteil, dass sich die Forstwirtschaft stärker auf die Erhaltung der Wohlfahrts- und Erholungsfunktionen des Waldes konzentrieren könnte, wobei die staatlichen Fördermittel gezielter und effektiver für diese Zwecke eingesetzt werden könnten. In diesen Zusammenhang gehört auch der erforderliche Umbau von Nadelholzforsten in naturnähere Misch- oder Laubwälder.
3 Raumnutzung und Raumerschließung durch den Menschen
65
3.4 Wirkungsflächen der technischen Infrastruktur im Freiraum Neben den direkten Flächenansprüchen müssen weitere, sehr komplexe indirekte Bodennutzungsansprüche verschiedenster Arten, Intensitäten, Ursachen und raumzeitlicher Reichweiten berücksichtigt werden. Bei den indirekten Flächenansprüchen wird auch von „sekundärem Landschaftsverbrauch“, „Wirkungsflächen“, „Betroffenheitszonen“, „Änderung von Raumqualitäten durch Sekundär- und Tertiärwirkungen der Erschließung“ (Schramm 1986) gesprochen. Diesen Begriffen gemeinsam ist die Abkehr von einer zweidimensionalen Betrachtungsweise der Flächennutzungsstatistik, nach der jeder Fläche nur eine Nutzungsart zugeordnet wird (Katasterfläche oder Plannutzungen). Denn diese Sicht liefert keine Informationen über Nutzungsüberlagerungen auf und im Boden, im Luftraum oder unter der Erdoberfläche. Gerade bei den direkten Flächenansprüchen dieser Infrastrukturelemente werden weitere Flächen über- oder unterlagert, räumlich-funktional durchdrungen und zumeist dabei beeinträchtigt. Kritische Gefahrenpotenziale liegen auch und vor allem in den kumulativen Prozessen und Kettenwirkungen innerhalb der Ökosysteme. Aber gerade die sich vielschichtig überschneidenden wie die sich durchquerenden Nutzungsansprüche mit ihren Nebenwirkungen erzeugen jene Belastungsdichten, die für Boden, Luft und Wasser, aber auch für die frei lebenden Tiere und Pflanzen wie für den Erholung suchenden Menschen problematisch sind. In die freie Landschaft hinein reichen beeinträchtigende Wirkungen vor allem von linienförmigen Elementen der technischen Infrastruktur, jenen Teilen der Infrastruktur, die linienartig die Landschaft durchziehen und sich häufig zu Netzen ergänzen. Nachteilige Folgen linienförmiger Infrastrukturelemente erwachsen aus den anlagenbedingten Einschnitten, Wällen, Aufschüttungen, Breiten, Höhen und Tiefen linearer Anlagen (z.T. Straßen) mit Zerschneidungen und kleinräumigen Veränderungen von Landschaftsbildern, mit Zerstörungen von Strukturen und Funktionsbeziehungen im Naturhaushalt, z.T. durch Eingriffe in den Boden, in die Gewässer- und Biotopsysteme, aber auch aus der Nutzung von Anlagen, wodurch bei hohen Verkehrsmengenbelastungen Emissionsbänder, Verinselungseffekte bei Tier- und Pflanzengesellschaften, Kollisionen mit Tieren sowie – durch Schadstoffe bedingt – Kontaminationen der Nahrungsketten auftreten. In den zurückliegenden drei Jahrzehnten wurde diese technische Infrastruktur in den alten Bundesländern kontinuierlich erweitert, was sich in einer ständigen Zunahme der Verkehrsfläche6 dokumentiert. Die Verkehrsfläche nimmt 2001 in der Bundesrepublik 1,7 Mill. ha oder ca. 4,8 % der gesamten Katasterfläche ein. 6
Mit den Verkehrsflächen werden neben Straßen auch Rast- und Parkplätze, Fußgängerzonen oder Flächen des Schienen- und Luftverkehrs erfasst; generell führen die unterschiedlichen Erfassungs- und Abgrenzungsgrundlagen der Flächenstatistik und der BMV-Statistik „Verkehr in Zahlen“ tendenziell zu einer geringeren Erfassung der tatsächlich dem Kraftverkehr dienenden Flächen.
66
Siegfried Losch
Gegenüber 1993 hat sie sich um 67 700 ha vergrößert. Indirekt genutzte Flächen übersteigen vom Umfang her die direkt genutzten Flächen aber bei weitem. So beträgt 1997 die in der Flächenstatistik ausgewiesene Verkehrsfläche 4,7 %, die in der Tabelle 3.4.1 dagegen sehr vorsichtig berechneten Wirkungsflächen des 1996er Straßenverkehrsnetzes betragen allein schon 9,4 % des Bundesgebietes7, d.h. einzig durch den Straßenverkehr werden 14,1 % des gesamten Bundesgebietes (rd. 5 Mill. ha) belastet: Mit den Gebäudeflächen zusammen ergibt sich dann, dass mindestens 20 % des Bundesgebietes heute schon direkt und indirekt für Siedlungs- und Verkehrszwecke beansprucht werden. Tabelle 3.4.1. Wirkungsflächen von Straßen in der Bundesrepublik 1970 bis 1996 Teile der Bundesrepublik Infrastruktur Deutschland bis 1990 [1 000 km] 1970
1980
1990
Wirkungsflächen
BRD ab 1991 insgesamt [1 000 km]
[1 000 ha]
Wirkungsflächen [1 000 ha]
1970
1980
1990
1991
1996
1991
1996
61,5
113,1
134,4
10,96
11,25
164,4
168,75
Bundesautobahn
4,1
7,54
Bundesstr. insgesamt
32,2
32,60
30,90 483,0
489,0
463,5
42,10
41,50
631,5
622,50
Landesstraßen insgesamt
65,4
65,60
63,20 654,0
656,0
632,0
84,90
86,80
849,0
868,00
Kreisstraßen
60,7
66,70
71,00 303,5
333,5
355,0
88,30
91,60
441,5
458,00
8,96
Überörtl. Straßen
162,4 172,44 174,06 1502,0 1591,6
Gemeindestr. insges.
270,0 310,00 327,00 810,0
Wege f. Landu. Forstwirtsch.
930,0
1584,9 226,36 231,15
2086,4 2117,25
981,0 410,00 413,00
1230,0 1239,00
250,00
300,00
Belastungszone insgesamt
2312,0 2521,6 2565,9
3316,4
3356,25
Verkehrsfläche insgesamt
1211,0 1242,0
1644,0
1679,00
Quelle: Hrsg. Bundesministerium für Verkehr (1990/1997): Verkehr in Zahlen 1990 und 1997 Kursiv gedruckt: geschätzte Zahlen a Angenommen wurde parallel zur Straße eine beidseitig belastete Zone mit einer Gesamtbreite von 150 m für Bundesautobahnen und Bundesstraßen, von 100 m bei Landesstraßen, von 50 m bei Kreisstraßen und von 30 m bei Gemeindestraßen. b Zahlenwerte der Gemeindestraßen von 1992. c Verkehrsfläche = Flächen, die dem Straßen-, Schienen-, Luft- oder Schiffsverkehr dienen; Zahlenwerte von 1981, 1989, 1993 und 1997 zugrunde gelegt.
Bei den Berechnungen wurden weder die vielen land- und forstwirtschaftlichen Wege noch die Lärmschutzflächen der Flughäfen oder die Abstandsflächen für Bebauung an Autobahnen und an Bundesstraßen in die o.g. Wirkungsflächen einbezogen. Hinzu kommen müssten anlagen- und nutzungsbedingte Nebeneffek-
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te, die sich aus den betrieblichen, technischen und sonstigen Anforderungen verschiedener technischer Infrastruktursysteme untereinander ergeben. So gehen wechselseitige Distanzempfindlichkeiten als Mindestabstände in die technischen Regelwerke der einzelnen Infrastrukturarten ein. Das trifft für den Straßen-, Schienen- und Luftverkehr, für Rohrleitungen zum Transport gefährlicher Stoffe, Richtfunkstrecken und Hochspannungsleitungen zu, die flächensparende Kooperationen und Bündelungen der Anlagen in der Regel untereinander nicht vorsehen. Auch wenn durch Mindestabstände als Abstandsbedarf der Bündelung von mehreren Infrastrukturanlagen Grenzen gesetzt sind, so bleiben doch freiraumschonende Anpassungskonzepte für die gesamte Infrastruktur erforderlich, wie die folgenden Begründungen nachweisen. Wachsende Zerschneidungseffekte in der Freiraum-Landschaft. Von besonderer Bedeutung für die Raumstruktur sind die Straßen, die in den bislang zerschneidungsfreien Bereichen zu gravierenden Eingriffen in Natur und Landschaft geführt haben. Der Straßenausbau wurde in der Bundesrepublik über Jahrzehnte besonders gefördert, wobei das Straßennetz im Bundesgebiet zunehmend dichter geworden ist. Insgesamt misst 1996 das überörtliche Netz in der heutigen Bundesrepublik 231 100 km. Hinzu kommen 413 000 km Gemeindestraßen (1993), ca. 350 000 km land- und forstwirtschaftliche Wege, Eisenbahnstrecken von 44 100 km Länge, ein Hochspannungsnetz von mindestens 811 000 km Länge (nur alte Bundesländer), Rohr- und Gasfernleitungen von mindestens 3 300 km Länge. Alle diese durchschneiden, verändern oder „zerstören“ die FreiraumLandschaft in unterschiedlichem Maße. Weiterhin sorgen 11 große zivile und ca. 35 militärische Flughäfen im unmittelbaren Flughafenbereich mit ihren Verlärmungszonen und mit ihren Tieffluggebieten zusätzlich für eine großflächige Lärmbeeinträchtigung der Freiräume (Tabelle 3.4.2). Mit der Zunahme der Netzlängen wurden im Laufe der Jahre die Netzmaschen der einzelnen Kompartimente der Infrastruktur immer dichter und der Zerschneidungsgrad der Landschaft damit immer größer. Heute ist nahezu jeder größere Landschaftsraum von linienförmigen Infrastruktureinrichtungen durchschnitten, wie die Karte „Zerschneidende Infrastruktur“ der Bundesrepublik Deutschland (Dosch u. Beckmann 1999b) ausweist (s. Abb. 3.4.2 CD). Die Karte „Zerschneidende Infrastruktur“ zeigt räumlich auf der Kreisebene den Zerschneidungsgrad aufgrund einer Reihe von Infrastruktureinrichtungen, wobei in die Berechnungen die Längen der örtlichen und überörtlichen Straßenverkehrsnetze (1998), die des Bundesschienennetzes (1996/98), der Bundeswasserstraßen (1998) und die des Stromnetzes (1995) eingegangen sind. Wegen der wachsenden Netzdichten hin zu den städtischen Zentren sind erwartungsgemäß auch hier die Zerschneidungsgrade am höchsten (> 2 km/km²). Betroffen sind davon im besonderen Maße die Rhein-Ruhr-Region, die Rhein-MainRegion, die Rhein-Neckar-Region und eine Reihe größerer Städte wie München, Nürnberg, Hannover, Bremen, Magdeburg, Berlin, Leipzig und Dresden.
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Tabelle 3.4.2. Netzlängen von Einrichtungen der technischen Infrastruktur in der Bundesrepublik 1970 bis 1996 Infrastrukturart
Dimension
Straßen Überörtliche Straßen 1000 km davon außerorts 1000 km Gemeindestr. insges. 1000 km davon außerorts 1000 km 1000 km 6 Straßen, außerorts Wege für Ldw. u. Forst 1000 km Schienen Streckenlänge, öffentl. 1000 km Streckenlänge, privat 1000 km Streckenlänge, insges. 1000 km Luftverkehr Flughäfen, zivil Anzahl Starts und Landungen Mio. Flughäfen, militärisch Anzahl Tieffluggebiete, 75-150 m Anzahl Tiefflugstunden Std./Jahr Strom-Hochspannungsnetza Stromkreislängen 110-380 kV 1000 km Fernleitungen Rohrfernleitungen km Gasfernleitungen km Wasserstraßen (Flüsse,Kanäle)b Binnenwasserstraßen km
1970
Alte Bundesländer 1980 1990
BRD insgesamt 1991 1996
162,30 130,20 270,00 118,30 248,50
172,40 138,30 310,00 121,10 259,40 250,00
174,00 139,59 327,00 127,60 267,19
226,30 181,54 410,00 160,00 341,54 300,00
231,10 185,39 413,00b
33,10 3,20 36,30
28,50 3,10 31,60
26,90 3,00 29,90
41,10 3,00 44,10
40,70 3,40 44,10
10 0,82 35 7 68000
10 2,17 35 7
11 2,30
11 2,63
73,50
81,1c
2086,00 19,10
2222,00 28,4 c
3289,00
3300,00
4395,00
4350,00
7341,00
7339,00
10 35
50,50
Quelle: Hrsg. Bundesministerium für Verkehr: Verkehr in Zahlen 1995 und 1997 Kursiv gedruckt: geschätzte Zahlen a Faustregel nach Erfahrungswerten: Streckenlänge = ca. 50 % der Stromkreislängen b
Von Flüssen und Kanälen (mit gespundeten Uferböschungen) gehen unterschiedliche Trennwirkungen aus. Die fachlich erforderliche Unterscheidung musste aus technischen Gründen unterbleiben.
In den alten Bundesländern führten die langjährigen Suburbanisationsprozesse, in Verbindung mit einer hervorragenden Erschließung der agglomerationsnahen Randlagen, zu hohen Zerschneidungsgraden an den Ballungsrändern, die heute räumlich weit in die Freiräume hinein wirken. In den Zentren der neuen Bundesländer und in Berlin dagegen verliefen bisher die Suburbanisationsprozesse deutlich begrenzter. Entsprechend weitläufiger sind hier die technischen Infrastrukturnetze, was sich in den betreffenden Landschaftsräumen auch in einem deutlich geringeren Zerschneidungsgrad widerspiegelt. Die niedrigsten Zerschneidungsgrade entfallen auf die beiden Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sowie auf die deutschen Mittel- und Hochgebirgslagen. Die Karte „Zerschneidende Infrastruktur“ beantwortet noch nicht die Frage, wie viele großräumig unzerschnittene Freiräume es in der Bundesrepublik noch gibt und wo sie liegen. Eine maßstabsgerechte Überlagerung der oben genannten linienförmigen Elemente der Infrastruktur ergibt die Netzmaschen, die nicht von größeren Einrichtungen der technischen Infrastruktur durchzogen sind.
3 Raumnutzung und Raumerschließung durch den Menschen
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Heute ist von weniger als 100 in der beschriebenen Art „unzerschnittenen“ Räumen in Gesamtdeutschland auszugehen, deren Fläche größer als 100 km² ist (Methode s. Kap. 6 u. 12). Schwerpunktmäßig liegen sie in den beiden Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, in den Mittelgebirgen wie dem Weserbergland, Harz, Sauerland und dem Schwarzwald sowie in den Hochgebirgslandschaften der Alpen. Auf die wachsende bauliche Beanspruchung und die Zerschneidung der Freiraum-Landschaft durch linienförmige Elemente der Infrastruktur, ihre Folgen für Wanderer (Beck 1956), für wild lebende Tiere (Mader 1979b), für Erholungssuchende (Lassen 1979) oder generell für Natur und Landschaft (Losch u. Nake 1990; Billwitz et al. 1996; Grau 1998; Gawlak 2001) wird nun bereits seit mehr als 40 Jahren hingewiesen. Obwohl inzwischen der Begriff Zerschneidung als Synonym für summarische Freiraumbeeinträchtigungen steht und alle Untersuchungen massive Eingriffe in Natur und Landschaft bezeugen, führten die Erkenntnisse weder zu konkreten Aussagen in den Programmen und Plänen der Länder oder Regionen noch zu einer stärkeren Sicherung der noch verbliebenen unzerschnittenen Räume. Da politisch verbindliche Aussagen wie „Erhalt der unzerschnittenen Räume“ mit einem Verzicht dieser Region auf wirtschaftliches Wachstum verbunden sein könnten, ist bundesweit eine deutliche Eindämmung der Zuwachsraten bei der Zerschneidung auch zukünftig nicht zu erwarten; denn in dem latenten Konfliktfeld von Ökonomie und Ökologie dürften im Allgemeinen die wirtschaftlichen Interessen einer Region schwerer wiegen – es sei denn, beide Interessenlagen weisen in gleiche Richtung, wie z.B. beim naturorientierten Tourismus. Schadstoffbelastungen kumulieren zu Altlasten. Mit der kontinuierlichen legalen Bodenbelastung durch den Verkehr wurde und wird heute noch ein hohes Risikopotenzial mit großer Breitenwirkung aufgebaut. Die zukünftige Nutzung des Bodens wird wegen der hohen Schadstoffbelastung daher zumindest für bestimmte Nutzungen nicht mehr möglich sein. Damit kann zukünftig nicht mehr davon ausgegangen werden, dass grundsätzlich nahezu jede Freifläche den unterschiedlichsten Nutzungen zugeführt werden kann. Künftige Nutzer werden möglicherweise deshalb vor den Folgen des früheren Gebrauchs einer Fläche geschützt werden müssen. Über viele Jahre diffus eingetragene Schadstoffe aus dem Straßenverkehr schränken nicht nur die Nutzungseignung von bestimmten Flächen ein, sondern gefährden direkt und indirekt die Gesundheit späterer Nutzer sowie die Organismen der betroffenen natürlichen Systeme und Nahrungsketten. Der Kfz-Verkehr z.B. verursacht Schadstoffemissionen bis zu 200 m und weiter auf den Flächen neben den Straßen. Schwerpunkte der Verkehrsbelastung liegen eindeutig in den Agglomerationsräumen und auf den Straßen, die sie verknüpfen. Innerhalb von nur 25 Jahren hat sich die Verkehrsbelastung verdoppelt. Das bedeutet aber nicht, dass die Schadstoffemissionen sich verdoppelt haben, weil der Kraftstoffverbrauch pro Kfz rückläufig war und die Schadstoffzusammensetzung sich verändert hat. Einen Überblick gibt die Schadstoffliste Straßenverkehr (Tabelle 3.4.3) mit einigen Mengenangaben.
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Zunehmende Verlärmung der Freiraum-Landschaft. Öffentlich thematisiert werden heute weniger die Auswirkungen des Lärms auf die Tierwelt, sondern mehr die auf das Erholungs- und Ruhebedürfnis des Menschen. Schon 1986 waren aufgrund der gestiegenen Kfz-Fahrleistungen und der Verkehrsnetzdichte am Tage nur noch 6 % des Freiraumes der damaligen Bundesrepublik uneingeschränkt für Erholungszwecke (40 dB(A)) nutzbar (Umweltbundesamt 1989). Bei einer Lärmgrenze von 50 dB(A) erhöht sich die geeignete Fläche auf 16 % des Freiraumes. Inzwischen dürften die verlärmten Freiräume in den alten Bundesländern noch zugenommen haben. Auch kann davon ausgegangen werden, dass die verlärmten Freiräume in den neuen Bundesländern noch deutlich geringer sind. Sie dürften jedoch in den letzten 10 Jahren ebenfalls zugenommen haben, weil der Autoverkehr, die Straßenbauaktivitäten, die individuellen Fahrleistungen und die Durchgangsverkehre beachtlich gestiegen sind. Die Lärmbelastung durch den Verkehr reicht – je nach Lage der Straße – beidseitig der Trassen bis tief (2 000 m und mehr) in den Freiraum hinein (Abb. 3.4.2; vgl. auch Abb. 7.3.1.2). Die Lärmbelastung wächst ständig – einmal durch die zunehmende Verkehrsdichte auf den Straßen, aber auch durch zusätzlich gebaute Straßen, die die Netze zunehmend verdichten und dadurch die beschallten Räume ausweiten. Zur Vermeidung hoher Lärmpegel in den Erholungsgebieten sollten daher Infrastrukturmaßnahmen in den wenigen heute noch vorhandenen unzerschnittenen Freiräumen grundsätzlich nicht mehr vorgesehen werden. Ausblick. Die dargestellten Entwicklungen können keine Leitbilder für eine zukünftige Freiraumentwicklung sein; sie sind auch nicht schicksalhaft vorgegeben. Sie werden bestimmt von öffentlichen und privaten Entscheidungen, Strategien und Maßnahmen und als solche sind sie änderbar. Dennoch konnten in diesem Beitrag nicht primär die möglichen politischen Änderungspotenziale untersucht werden. Es soll hier aber immerhin auf die Schwierigkeit hingewiesen werden, nachhaltige Entwicklungen in der Freiraum-Landschaft zu etablieren. Sie ergeben sich aus unterschiedlichen Zielsetzungen, Problemlösungen und Vorsorgestrategien der Fachpolitiken (Bau- und Verkehrspolitik, Agrar- und Forstpolitik, Naturschutzpolitik, Wasserhaushaltspolitik u.a.). Raumordnungspolitik kann, selbst wenn sie die ökologischen Herausforderungen und ihren Gesetzesauftrag wahrnimmt, diese unterschiedlichen Zielsetzungen und Handlungsansätze der einzelnen Fachpolitiken nur begrenzt mit dem Instrument der Vorranggebiete raumübergreifend koordinieren, weil die Vorranggebiete zwar einen verbindlichen Rahmen für Behörden vorgeben, aber nur eingeschränkt auf die einzelnen Raumnutzer einwirken können (s. Kap. 15).
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Tabelle 3.4.3. Schadstoffliste Straßenverkehr 1980 bis 1994 Emittierte Schadstoffe
Quellen
Schwermetalle und Stäube 1 Blei 2 Cadmium Pos. 1 bis 7: 3 Kupfer Benzin, Kfz, Verbren4 Zink nung, Diesel, Schmier5 Chrom fett, Abrieb, Reifen 6 Nickel 7 Titan Stäube mit Schwermetallen [kt] Pos. 1 bis 7 8 Ruß Verbrennung, Abrieb 9 Asbest Abrieb 10 Gummi, Teer u.a. Abrieb, Verbrennung Gase und Folgechemikalien 11 Kohlenmonoxid [kt] Verbrennung 12 Kohlendioxid [Mio.t] Verbrennung 13 Stickoxide [kt] Verbrennung 14 Schwefeldioxid [kt] Verbrennung 15 Kohlenwasserstoffe Additive 16 PAK Additive 17 Benzol Kraftstoffe 18 Phenol Verbrenng. Kunststoffe 19 Aldehyde Kunststoffe 20 Ozon photochem.Reaktionen organ. Verbindungen [kt] Pos. 15 bis 19 21 Distickstoffoxid [kt] Verbrennung 22 Methan [kt] Leckagen 23 Ammoniak [kt] verschiedene Quellen 24 FCKW, Halogene [kt] Treibgase, Kühlmittel Flüssigkeiten und gelöste Stoffe 25 Öle, Fette Kfz, Tropfverluste 26 Kraftstoffe, BremsKfz, Leckagen flüssigkeiten 27 Tausalze u.ä. Streudienst, Haushalte 28 wasser- u. bodengeGefahrguttransportunfährd. Stoffe aller Art fälle, Ladungsverluste
Mengen 1990
1980
673
1994
(7 %)
402 (12 %)
754 (8 %)
11006 (71 %) 792 (15 %) 2617 (49 %) 3164 (3 %)
7426 (73 %) 709 (21 %) 1962 (65 %) 885 (7 %)
6738 905 2211 2995
(61 %) (20 %) (58 %) (2 %)
2522 (40 %) 175 (2 %) 4921 (1 %) 572 (unb.) 63 (unb.)
2212 (38 %) 182 (5 %) 4477 (1 %) 554 (unb.) 34 (unb.)
2135 219 5216 622 8
(35 %) (9 %) (1 %) (unb.) (unb.)
Quelle: Bundesministerium für Verkehr (1997): Verkehr in Zahlen 1997, Bonn PAK = polychlorierte aromatische Kohlenwasserstoffe Hinweis: Die Werte in Klammern sind die Anteile des Verkehrs an der Gesamtbelastung! Selbst wenn an Straßenseitenstreifen vorsorglich Nutzungsbeschränkungen ausgesprochenen werden, um die menschliche Nahrungskette vor einer Schadstoffaufnahme zu schützen, bleiben im Naturhaushalt die schadstoffbedingten Risiken dennoch bestehen, weil die Flächen dem ökologischen Wirkungsverbund nicht entzogen werden können. Über die Vegetationsdecke, vor allem aber über Niederschläge, Oberflächenabfluss und Versickerung ins Grundwasser, wird der Schadstoffwirkungsraum diffus vergrößert. Das Gefährdungspotenzial von Stoffeinträgen beiderseits stark befahrener Straßen – insbesondere durch problematische Schwermetalle und Kohlenwasserstoffverbindungen – belastet den Boden irreversibel, weil es bis heute nur die Möglichkeit gibt, diese mit hohem finanziellen Aufwand wieder zu entfernen.
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ha/km 8 20
300
200
300
100 1 0 50 0 Neubau, 4-streifig
Zusatzbelastung bei Ausbau von 4 auf 6 Streifen
Unmittelbarer Flächenbedarf* Staub- und Abgasimmissionen** Verlärmung*** * Der Flächenbedarf steigt beim Ausbau von 4 auf 6 Fahrstreifen um weniger als 1 ha/km. ** Eine neue Autobahn schafft ein neues Immissionsband. *** Die zusätzliche Verlärmung beim Ausbau ist gering, sogar wenn täglich doppelt so viele Fahrzeuge auf 6 Fahrstreifen verkehren wie auf 4 Fahrstreifen.
Abb. 3.4.2. Vergleich der Auswirkungen von Neubau und Ausbau (Verbreiterung) einer Autobahn im Hinblick auf Flächenbedarf und Immissionen, Quelle: Der Elsner (1985) Handbuch für Straßen- und Verkehrswesen (verändert)
4 Ökonomische und städtebauliche Aspekte des Freiraumverbrauchs Günther Moewes 4.1 Raumerschließung und Wirtschaftsvorgänge Exponentielles Wirtschaftswachstum. Exponentielles Wirtschaftswachstum gilt im Allgemeinen als eine der Ursachen der Übernutzung von Landschaft und der Zerstörung von Freiräumen. Um die tatsächlichen Auslösemechanismen der Freiraumzerstörung zu verstehen, bedarf diese Annahme der Präzisierung. Das so genannte Stabilitätsgesetz von 1967 verpflichtet alle deutschen Regierungen, sich um Wirtschaftswachstum zu bemühen. Wirtschaftswachstum ist nicht von sich aus exponentiell. Es wird lediglich exponentiell gemessen. Diese Messmethode hat politische Ursachen: sie erlaubt es, auch lineare Wachstumsvorgänge als gesellschaftlichen Problemfall darzustellen und so einen ständigen Beschleunigungszwang auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auszuüben (Moewes 1995). Exponentiell heißt auch: jeweils Verdoppelung nach gleichen Zeitschritten. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass – bezogen auf den Flächenverbrauch – den Vätern des Stabilitätsgesetzes diese mathematischen Konsequenzen bewusst waren. Da Wirtschaftswachstum nicht von sich aus exponentiell ist, begnügt sich die Wirtschaft in den Industriestaaten inzwischen mit Raten von ein bis zwei Prozent. Für die Landschaft kann das aber gleichwohl bedeuten: Verdoppelung des Bauvolumens binnen weniger Jahrzehnte. Exponentielle Wachstumsprozesse werden durch die Geldvermehrung infolge des Zinseszinses initiiert (vgl. auch Binswanger 1996; Soellner 1999). Wie alle exponentiellen Vorgänge ist auch die Geldvermehrung in Anfangszeiten von Volkswirtschaften relativ harmlos. Exponentielle Kurven verlaufen zu Beginn fast horizontal. Erst gegen Ende nehmen sie einen nahezu vertikalen Verlauf. Betrugen die privaten deutschen reinen Geldvermögen (also ohne Immobilien und Sachwerte) 1950 noch ca. 50 Millionen Mark, so lagen sie Anfang 2005 bei 5 Billionen Euro. Laut Bundesbank erzielen diese 5 Billionen eine durchschnittliche Verzinsung von nominal 5, real 3,5 Prozent. Selbst nach Abzug der Inflationsrate bedeutet das eine Kaufkraftverdopplung alle 20 Jahre (Creutz 1995, Moewes 2004). Schon heute übersteigen die privaten Geldvermögen weltweit den konkreten Geldbedarf der Realwirtschaft um das Mehrfache. Diese Tatsache hat eine Reihe gravierender wirtschaftlicher und politischer Konsequenzen: Geld darf nicht ruhen, sondern muss stets wieder angelegt werden.
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Aus vielfältigen Gründen äußert sich ein überproportionaler Teil dieses exponentiell wachsenden Kapitalumlaufes (Haushalte, Unternehmen und Staat) in Staatsverschuldung. Folge: privater Reichtum, öffentliche Armut, landschaftliche Schönheit wird verwertet. Da permanent Geldströme von der aktiven Schuldnerseite zur passiven Gläubigerseite fließen, entsteht eine ständig zunehmende Kapitalkonzentration. Der Anteil leistungsloser Kapitaleinnahmen am Volkseinkommen nimmt zu, der Anteil der Arbeitseinkommen immer mehr ab. Das ist zuerst eine zwangsläufige Folge der Industrialisierung (Übertragung von Arbeit an Maschinen und Automaten). Nicht zwangsläufig ist dagegen die vorwiegende Übertragung der Maschinisierungsgewinne an die Kapitalüberschüsse. Da die Kapitaleinkommen sich exponentiell vermehren, die Arbeitseinkommen dagegen insgesamt stagnieren oder sinken, wächst automatisch auch die soziale Ungleichverteilung in exponentiellen Maßstäben. Der ständig wachsende Anlagedruck der frei vagabundierenden Überschüsse erzeugt zu seiner Befriedigung zunehmend vermeidbare Arbeit. Die künstliche Beschaffung nicht notwendiger Arbeit erzeugt ein falsches Arbeitsverständnis. Konsequenzen für die Bebauung. Diese exponentiellen Mechanismen und die Kapitalkonzentration haben unmittelbare Konsequenzen für die Art und Weise der Bebauung. Das Pro-Kopf-Bauvolumen hat sich seit Beginn der Industrialisierung mindestens verfünfzehnfacht. Der Anstieg des absoluten Gesamtbauvolumens wurde infolge des Bevölkerungsanstiegs zusätzlich beschleunigt. Der Flächenbedarf für das Bauvolumen ist zudem wegen veränderter Lebens-, Arbeits- und Verkehrsformen stark angewachsen. Die Bebauungsdichte hat (von einigen Großstadtzentren abgesehen) insgesamt abgenommen. Ursache dafür sind u.a. wiederum auch Geldmechanismen: die Zentrifugalwirkung der Bodenpreise verlagert Bauvolumina in die billigeren Außenbereiche. Die Konzentrationsmechanismen des Geldes erzeugen auch eine Spezialisierung und Zentralisierung der Produktionen und damit immer mehr Flächenbedarf für Transport, Umschlag und mobile Lagerung (z.B. „Just-in-timeProduktion“). Die Abnahme der Bebauungsdichte resultiert u.a. aus den zu niedrigen Energiepreisen. Sie wäre ohne die enorme Verkehrszunahme infolge der zu billigen Transportenergie nicht möglich. Aber auch das „moderne“ architektonische und städtebauliche Prinzip des „Freistehenden“ wäre ohne den permissiven Umgang mit Energie nicht denkbar. Anstatt dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wird sie von der Politik noch gefördert (Subventionierung des Individualverkehrs, langer Arbeitswege und freistehender Einfamilienhäuser, Erzwingung von Bauwichen, Abstandsflächen, Grenzabständen usw.). Auf den Einfluss architektonischer und energetischer Ursachen auf Landschaft und Freiraum wird weiter unten ausführlicher eingegangen. Als Entschuldigung und zur Bagatellisierung des Freiraumverbrauchs wird von der Politik und von weiten Teilen der Bevölkerung gerne vorgebracht, dies sei eben der unvermeidliche Preis für den steigenden Wohlstand. Schonung der Landschaft sei umgekehrt nur um den Preis der wirtschaftlichen Rezession zu haben.
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Diese Annahme ist insofern fehlerhaft bzw. zu undifferenziert, als die Bevölkerungsmehrheit an Produktivitätszuwachs und Geldvermehrung nur relativ geringen Anteil hat. Ihre Wohlstandsvermehrung resultiert nicht aus Einkommenszuwächsen, sondern aus normaler Rücklagen-Akkumulation aus ihren Einkommen. Von der Umwandlung der Freiräume profitieren finanziell darum nur sehr Wenige. Diese Auseinanderentwicklung der Einkommen kann auch nicht durch das Bestreben der Raumplanung und des Länderfinanzausgleichs aufgehalten werden, überall gleiche Einkommensvoraussetzungen zu schaffen. Die Auseinanderentwicklung könnte nur durch unmittelbare Eingriffe in die Geldmechanismen aufgehalten werden, nicht durch äußerliche Eingriffe in deren Ergebnisse (Soellner 1999). Arbeitsbeschaffung und Zerstörung landschaftlicher Freiräume. Das exponentielle Wachstum der privaten Überschüsse vergrößert den Anlagedruck. Boden gehört – ebenso wie alte Kunst – zu den wenigen knappen, nicht beliebig vermehrbaren Gütern. Seine Knappheit führt zu erheblichen Preissteigerungen, die einen (wenn auch geringen) Teil des Anlagedrucks absorbieren. Gleichzeitig erhöhen diese Preissteigerungen jedoch auch die Renditen, wenn es gelingt, Boden in Baugrundstücke zu verwandeln. Diese ständige Tendenz, „ökologisch“ wertvolle landschaftliche Freiräume in Immobilien zu verwandeln, folgt nur teilweise einem tatsächlichen Bevölkerungsbedürfnis, sondern auch dem Anlagedruck der Geldüberschüsse. Wie in dem Märchen vom süßen Brei quellen Geldüberschüsse förmlich in die freie Landschaft (vgl. auch Binswanger 1991). Ein Teil unserer Wirtschaft riskiert von vorneherein die spätere, gewinn- und arbeitsplatzträchtige Reparatur und lebt so auch von der vorherigen Zerstörung. Somit sind die Zerstörung von Freiräumen einschließlich ihrer naturnahen Bestandteile und ihre anschließende aufwändige Reparatur und „Renaturierung“ gewissermaßen Bestandteile dieses Systems. Hierhin gehört auch die so genannte Eingriffsausgleichsregelung (vgl. § 18 ff. BNatSchG und § 1a BauGB). Sie ist ein besonders gutes Beispiel für das Prinzip „Arbeitsbeschaffung statt Vermeidung“. Mit Hilfe der arbeitsintensiven Umweltverträglichkeitsprüfung und der noch arbeitsintensiveren örtlichen biologischen Kartierungen werden alle Zerstörungsfolgen eines Projekts aufgelistet und addiert, um so den neuen, noch arbeitsintensiveren „Ausgleichsbedarf“ zu ermitteln. Da die Ermittlung und Prüfung dieses Ausgleichsbedarfs bei den Naturschutzbehörden liegt, die Entscheidung über die Realisierung aber bei den i.d.R. fachfremden Genehmigungsbehörden, ist keineswegs gesichert, dass für die verloren gegangene Natur auch tatsächlich wieder Natur entsteht. Meist entsteht nur ein zusammenhangsloser „Einkaufskorb“ aus lose zusammengestellten Kleinmaßnahmen, die der zwangsläufig allzu aufzählungshaften Schadensermittlung oberflächlich entspricht. „Der Streifen Abstandsgrün, die neu angelegte Feuchtwiese, das frisch gepflanzte Mischwäldchen sind der Spatz in der Hand einer Planerspezies, die den Glauben an Tauben schon längst verloren hat“ (Marten 1997). An die Stelle der zerstörten Natur tritt meist eine bunt zusammengewürfelte, kleinparzellierte Gartennatur, eine lexikalisch zusammengezimmerte Ersatznatur. Obwohl sie auch in ihrer Größenordnung häufig kaum der objektbedingten Größe
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des Planungsprojekts entspricht, wird sie von Öko-Optimisten euphorisch als „Wiedergutmachung“ oder gar als „Intensivnatur“ deklariert. Hinzu kommt, dass diese Ersatznatur oft in unmittelbarer Nähe des Eingriffsortes installiert wird, als ob die vertriebene Fauna sich zu ihren Verfolgern auch noch besonders hingezogen fühlte. Im Ruhrgebiet dürfen zum Beispiel die vor 80 Jahren vom Ruhrsiedlungsverband angelegten großzügigen Grünzonen bebaut werden, wenn dafür eine gleich große Fläche als „Ausgleichsfläche“ ausgewiesen wird. Da diese Ausgleichsfläche zwangsläufig auch in diesen Grünzonen liegt, darf so langfristig praktisch die Hälfte der ursprünglichen Grünzonen bebaut werden. Und das Nichtbebauen der anderen Hälfte wird dann als „Ausgleich“ und „Wiedergutmachung“ deklariert. Die Zerstörung der Freiraum-Landschaft durch Arbeitsbeschaffung vollzieht sich auf vielerlei Weise. Nach der deutschen Steuergesetzgebung fließt die Gewerbesteuer den Kommunen zu. Diese konkurrieren daher häufig miteinander. Dabei versuchen sie, Industrie- und Gewerbeansiedlung zu betreiben, indem sie anderen Kommunen, insbesondere aber ihrem Umland, Arbeitsplätze durch Angebote von Grundstücken in besonders guten Landschaftslagen abjagen. Dadurch werden ständig landschaftliche Freiräume in sensiblen Lagen verbraucht. Arbeitsplätze werden ins Grüne verlagert (Moewes 1994). 4.2 Energieeffizienz und Freiraum Auch der Energieverbrauch ist auf verschiedene Weise außerordentlich flächenrelevant. Grundsätzlich gilt: Alle Einsparungsmaßnahmen wirken sich positiv auf Fläche und Landschaft aus. Gewinnungsmaßnahmen wirken sich dagegen zumeist negativ aus. Das gilt auch in bestimmter Weise für die Gewinnung regenerativer Energie. Daraus würde sich ein prinzipielles Problem ergeben, wenn die Gewinnung grundsätzlich vorteilhafter wäre als die Einsparung. Genau das Umgekehrte ist jedoch – zumindest heutzutage noch – der Fall. Einsparung ohne Solarenergiegewinnung ist derzeit noch deutlich wirtschaftlicher und wirksamer als Solarenergiegewinnung ohne Einspartechnik. Der weitaus größte Anteil des Primärenergieverbrauchs entfällt auf die Beheizung von Gebäuden (Gebäudeenergie). Rechnet man die in den StatistikBereichen Industrie und Landwirtschaft enthaltene Gebäudeheizenergie hinzu, liegt der Anteil der Gebäudeenergie am Gesamtenergieverbrauch bei über 50 Prozent. Demgegenüber liegt zum Beispiel der Anteil des gesamten Verkehrs je nach Rechenweise zwischen 11 und 20 Prozent. Folgerichtig steckt auch im Bereich der Gebäudeenergie das größte Einsparpotenzial. Nicht nur, weil hier der größte Verbrauch erzeugt wird, sondern vor allem, weil hier auch das mögliche Einsparungsgefälle am größten ist. Den maximalen Energiebedarf haben ungedämmte, freistehende Einfamilienhaus-Altbauten. Hier beträgt der durchschnittliche Jahresbedarf für die Raumheizung (also ohne Strom und Warmwasser) 322 kWh/m² a. Der geringste Jahresheizbedarf wird heute im Wohnungsbau mit der so genannten Passivhaustechnik erzielt. Er beträgt nur noch
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10 kWh/m² a. Allerdings lässt sich dieser Wert nur bei dem jährlich einen Prozent Neubauten erzielen. Er ist nur eingeschränkt auf die über 90 Prozent des Altbaubereichs übertragbar. Die Einsparungsspanne zwischen dem ungünstigsten Altbau und dem günstigsten Neubau beträgt also in unseren Breiten bis zu 312 kWh/m² a. Diese Einsparung wird nur durch reine Gebäudemaßnahmen erzielt, also nicht im Versorgungsbereich. Durch optimale energetische Sanierung aller vorhandenen Altbauten ließen sich in Deutschland bis zu maximal 75 Prozent des Gebäudeenergiebedarfs einsparen, also bis zu 37,5 % des gesamten Primärenergiebedarfs. Beseitigter Energiebedarf ist grundsätzlich besser als befriedigter. Das gilt in bestimmter Weise auch für die Gewinnung regenerativer Energie. Die besten Werte, die sich heute in unseren Breiten im Gebäudebereich allein mit Solargewinnung erzielen lassen, liegen bei 50 bis 60 kWh/m² a. Sie können also quantitativ und wirtschaftlich nicht im Entferntesten mit den Einsparungsmaßnahmen konkurrieren. Überdies können schon diese Werte nur mit so genannten „saisonalen Langzeitspeichern“ erzielt werden (möglichst große Warmwasserspeicher für ganze Siedlungen), also mit Maßnahmen, die bereits über reine Gebäudemaßnahmen hinausgehen. Grundsätzlich gilt also: die Gebäudeflächen reichen nur dann für die solare Produktion des verbleibenden Restheizbedarfs aus, wenn vorher ein sehr hoher Einsparungsstandard (Passivhausstandard) erzielt wurde. Während der Einsparungsstandard mit der Geschosszahl zunimmt, nimmt wegen der gleich bleibenden Süddachfläche der mögliche Anteil an Solargewinnung mit der Geschosszahl ab. Bei höchstmöglichem Einsparungsstandard können dagegen die Gebäudeflächen größtenteils zur solaren Erzeugung von Überschussenergie genutzt werden, die über den eigenen Gebäudebedarf hinausgeht und ans Netz abgegeben werden kann. Nur so können Gebäude und Stadt zum Solarkraftwerk werden. In dem Maße wie Einsparung betrieben wird, können die ohnehin vorhandenen Gebäude zu kostenlosen Trägerkonstruktionen von Versorgungskapazität werden und so die Errichtung zusätzlicher Trägerkonstruktionen in der freien Landschaft erübrigen. Das ist der Zusammenhang von Energieeinsparung und Freiraum. Heute wird ein äußerst flächenrelevanter Aspekt des Einsparungsbereichs von den Architekten unterschätzt: die Beseitigung von freistehenden Verlustflächen, also von Baulücken, freistehenden Giebeln, sinnlosen Vor- und Rücksprüngen, so genannten Luftgeschossen, und vor allem von den äußerst flächenintensiven Flachdächern der Supermärkte, Gewerbebauten und Gewerbe-Center. Diese Unterschätzung hat architekturideologische Gründe: das Prinzip des Freistehenden und der Verlustflächen, des hohen Außenwandanteils, der Solitäre und Unikate ist das beherrschende formale Prinzip des modernen, so genannten „funktionalistischen“ Städtebaus. Auf dieses Prinzip wird im Folgekapitel eingegangen. Maß für den energieintensiven Außenwandanteil ist das so genannte Außenfläche-Volumen-Verhältnis. Es ist zum Heizbedarf direkt proportional und nimmt mit der absoluten Größe und der Kompaktheit der Gebäude ab. Die energieungünstigste Gebäudeform ist deshalb das freistehende Einfamilienhaus. Das freistehende Einfamilienhaus und der allzu großzügige Umgang mit Baulücken und sonstigen Verlustflächen sind wesentlicher Bestandteil des modernen
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Städtebaus. Die von ihnen ausgehende Energieverschwendung ist bei weitem größer als alle jemals möglichen solaren Gewinnungsmaßnahmen an Gebäuden zusammen. Auch hier gilt wiederum: Beseitigung ist prinzipiell besser als Gewinnung. Gegen die Naturbelastung aus diesem vermeidbaren Verlustflächenanteil sind beispielsweise Einwegdosen oder die Geschwindigkeit auf Autobahnen ökologische Petitessen. Gleichwohl wird dieses große Einsparpotenzial praktisch totgeschwiegen, während die Petitessen die politische Diskussion beherrschen. In dieser Situation beschränkt sich die heutige Rolle der regenerativen Energieerzeugung darauf, winzige Bruchteile der ästhetisch und ideologisch bedingten Verschwendung durch Architektur und Städtebau zu kompensieren, und das zum Teil in den Freiräumen. Freiraumbelastung hat also viel zu tun mit mangelhafter Einsparung von Energie. Umgekehrt gilt aber auch: Ohne Solarnutzung, nur durch Dämmung und Beseitigung von Verlustflächen, ist die Befreiung aus der Abhängigkeit von den fossilen Energieträgern nicht möglich. Das Flächenproblem betrifft jede Solarenergie, auch die indirekte, z.B. aus Biomasse oder Wind. Die Auseinandersetzung um den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energie findet somit auf zwei großen Gebieten statt: im Gebäudebereich und im Versorgungsbereich, wo der Strombedarf von Industrie, Bahnen und größeren Dienstleistungsbetrieben (Verwaltung, Banken, Einkaufszentren) gewonnen werden muss. 4.3 Stadtplanung und Freiraum Die bisher geschilderten Ursachen der Freiraumzerstörung sind vorwiegend ökonomischer Natur. Das heutige Bild unserer Städte wird dagegen nicht nur von rein ökonomischen Ursachen geprägt, sondern auch von epochenspezifischen Leitbildern. Dieser Ursachenkomplex beeinflusst insofern mittelbar auch den Zustand des Freiraumes. Das Bild der außerstädtischen Landschaften und das Bild der Städte waren und sind immer zwei Seiten ein und derselben Medaille. Der frühindustriellen Stadt entsprach die bäuerliche Kulturlandschaft des 19. Jahrhunderts. Erstere war die historisch bisher höchste und differenzierteste Form des Städtischen, letztere die historisch bisher höchste und differenzierteste Form des Ländlichen. Erstere erreichte die größte Dichte und Vielfalt städtischen Lebens, den höchsten Grad an Unverwechselbarkeit, an urbanem „Getümmel“. Letztere erreichte den bisher höchsten Artenreichtum und die größte Vielfalt an unverwechselbaren Landschaftsbildern. Ihre Vielfalt war weitaus höher als die der ursprünglichen Wildnis, etwa des in Deutschland vorherrschenden relativ artenarmen Rotbuchenwaldes. Diese Vielfalt der bäuerlichen Kulturlandschaft des 19. Jahrhunderts ist in mancher Hinsicht noch heute das Vorbild des Naturschutzes. Bekanntlich führten dann jedoch soziale und stadtplanerische Defizite zu unerträglichen Vermischungen von Wohnungen und emissionsintensiven Produktionsstätten und zu extremen hygienischen und wohnmedizinischen Fehlentwicklun-
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gen, besonders in den bevölkerungsreichen Arbeitervierteln. Sie wären verhältnismäßig leicht zu beheben gewesen, was die heutige Beliebtheit inzwischen sanierter Gründerzeitviertel zeigt (Kreuzberg, Schwabing usw.). Sie wurden jedoch nicht behoben und erzeugten so eine antistädtische Bewegung, die bis heute anhält. Diese reicht von der Gartenstadtbewegung über den Heimat- und Landhausstil bis hin zur heute postulierten „Solarstadt“. Die „entdichteten“ Städte verländlichten. Was durch die Zentrifugalkräfte der Bodenpreise ohnehin entstand, wurde gewissermaßen zu einem Leitbild erklärt. Fast alle bekannt gewordenen Namen von Stadtplanern nach dem Zweiten Weltkrieg stehen für diese Verländlichung: Hillebrecht, Reichow, Rainer, Sieverts, ebenso zahlreiche neue Begriffe der Fachdiskussion wie „fraktale Ränder“, „Zwischenstadt“ und das „globale elektronische Dorf“. Diese Verländlichung hatte auch damit zu tun, dass Natur nicht mehr feindlich war und strategischer Schutz und Sicherheit der Städte bedeutungslos geworden waren. Die Architektur folgte dieser Disurbanisierung. Alles, was an die Städte des 19. Jahrhunderts erinnerte, war plötzlich fragwürdig. Jahrhunderte lang war der Städtebau gekennzeichnet durch zusammenhängende Gebäudeorganismen von hoher Dichte und einem günstigen Außenwandanteil (Außenfläche-Volumen-Verhältnis), vorzugsweise durch verschiedenste Formen der so genannten „Blockrandbebauung“. Das Einzelgebäude war dem Wahrzeichen und dem ländlichen Bauen vorbehalten. Ein solcher Städtebau war nicht nur energie-, sondern auch flächensparend. An seine Stelle trat nun das genaue Gegenteil: ein flächen- und energieintensiver Aufreihungsstädtebau aus freistehenden Zeilen und Einzelgebäuden. Diese Trennung in Einzelgebäude wurde unterstützt durch eine Trennung der einzelnen Funktionen, wie sie 1933 in der „Charta von Athen“ gefordert wurde (Hilpert 1988). Darüber hinaus führten neuartige Profilierungsmechanismen im Architekturberuf dazu, dass das Solitärgebäude, das noch nie da gewesene Unikat, zum ästhetischen Entwurfsziel wurde. Wo früher die geschlossene Blockrandbebauung war, stand jetzt das viergeschossige Wohnhaus neben dem eingeschossigen Supermarkt. Über dem energieverschwendenden Flachdach des Supermarktes wurden drei Geschosse verschenkt, die sich dann in der Landschaft vor der Stadt wiederfanden. Die Trennung von Wohnen und Arbeiten führte zu reinen, aus produktionstechnischen Gründen meist eingeschossigen Gewerbegebieten und zu reinen Wohngebieten. Anstatt die ausgedehnten, energieverschwendenden Flachdachflächen emissionsarmer Gewerbegebiete mit Wohnungen und großzügigen Freisitzen zu besetzen, blieben sie ungenutzt, während die Wohngebiete sich mit winzigen angeklebten Balkons zufrieden geben mussten. Die Parkplätze der Gewerbegebiete wurden nur tagsüber, die der Wohngebiete überwiegend nur nachts benutzt, der Bedarf also durch die Trennung verdoppelt. Diese Entwicklung wurde durch baurechtliche Regulierungen irreversibel gemacht: Abstandsflächen, Bauwiche und Grenzabstände wurden zur unausweichlichen Norm. Schmale Gassen und kleine Höfe wurden praktisch verboten. Die Baulücke wurde zum Stilmittel. Diese Maßnahmen hatten eines gemeinsam: Sie
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führten in die ästhetische Verödung und sie kosteten neben Heizenergie vor allem Fläche und Freiraum vor den Toren der Städte. Gleichzeitig wurde das Einzelhaus in der Natur zum Wohnvorbild. Frank Lloyd Wrights „Haus über dem Wasserfall“ muss als Pilotmodell dieser Entwicklung angesehen werden. Architekturfotografien, Fachzeitschriften und insbesondere die Kioskpresse blenden auf ihren Gebäudeabbildungen die bebaute Umgebung sorgfältig aus, um das Gebäude als Unikat im Grünen zu suggerieren. Schließlich propagierte das so genannte „Ökologische Bauen“ das „Bauen in der Natur“ als ökologischen Idealfall, indem es Wohngesundheit mit Ökologie gleichsetzte (Moewes 1991). „Der Luxus ist grün“ frohlockte Der SPIEGEL (13/1995). Und ein so genannter „ökologischer Städtebau“ rechnet in großem Umfang solche Maßnahmen zur „Ökologie“, die ausschließlich dem Schutz und der Lebensqualität des Menschen dienen und sich dabei der Natur bedienen: Frischluftschneisen, freistehende Einfamilienhäuschen, Gebäudebegrünung, angebaute Wintergärten und vieles mehr. Diese Einstellung steht nicht nur in eklatantem Widerspruch zur weltweiten Rolle des Menschen als Ausbeuter der Natur, sondern auch zur Spracherwartung großer Bevölkerungsteile, die mit dem Begriff „Ökologie“ vor allem Naturentlastung verbinden. Solange in Deutschland die Summe aller baulichen und industriellen Brachflächen, Baulücken, Industriebrachen und Konversionsflächen den Baulandbedarf von Jahrzehnten übersteigt, ist jede Neuausweisung von Bauland in Außengebieten nicht nur vermeidbar, sondern auch ökologisch leichtfertig (vgl. hierzu auch Apel et al. 2000). Die Freiraum-Landschaft ist stärker denn je zum Abbild von Individualinteressen geworden, die fehlende Raumvorstellung zum Ausdruck fehlenden Gesamtinteresses. Der fehlende Zusammenhang der fragmentierten Landschaft spiegelt womöglich auch den fehlenden Zusammenhalt einer fragmentierten Gesellschaft wider.
5 „Freiraum“ und „Freifläche“ in der Geschichte der räumlichen Planung und des Naturschutzes Hermann Behrens Im nachfolgenden Beitrag wird ein historischer Bogen gespannt vom Freiraumproblem in der Geschichte des Städtebaus, der Landes-, Regional- und Bauleitplanung bis hin zur Rolle des Freiraums in der Geschichte des Naturschutzes. Es wird die Frage beantwortet, welche Begründungen es für ein eigenständiges Schutzgut „landschaftlicher Freiraum“ aus historischer Sicht geben könnte. 5.1 Freiraum und Freifläche in der Geschichte des Städtebaus Bis in die Neuzeit gab es keine festen Bauregeln in der Stadtentwicklung. Orientierung war die Stadtmauer, innerhalb derer dicht gebaut wurde. Wurde es innerhalb der Mauern zu eng, wurde der nächste Ring um die Stadt gelegt und der Zwischenraum erneut dicht bebaut. Durch stürmische Industrialisierung und Urbanisierung stellten sich vor allem nach Gründung des Deutschen Reiches 1871, in anderen europäischen Ländern bereits früher, Aufgaben, „… die in ihrer Art zwar nicht neu (waren), durch Umfang und Häufigkeit sowie durch die Dringlichkeit, mit der ihre Verwirklichung gefordert wurde, jedoch hohen gesellschaftlichen Rang erhielten. Gemeint sind in erster Linie die Aufgaben, die später in den Begriff ‘öffentliches Grün’ zusammengeflossen sind, worunter öffentliche Parks, Promenaden und Stadtplätze, auch Kleingärten, Stätten für Spiel- und Leibesübungen und sogar Friedhöfe verstanden werden. Sie sind am stärksten durch die sozial-hygienische Komponente bestimmt“ (Hoffmann 1963: 273). Hinzu kamen Freibäder im Grünen und der Ausbau von Grüngürteln, Grünzügen und stadtnahen Wäldern für die Naherholung (vgl. Pflug 1968: 252). Erste konkrete Planungen, mit denen durch Baumpflanzungen, breite Straßen und Platzanlagen Licht und Luft in die Innenstädte geholt werden sollten, entstanden in Paris bereits unter der Präfektur Haussmanns in den Jahren 1853–1870. Soziale und stadthygienische Probleme waren auch maßgeblich für die Entstehung der Gartenstadtbewegung (auf den Engländer Sir Ebenezer Howard zurückgehend) verantwortlich, die bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts auch in Deutschland viele Anhänger fand (Deutsche Gartenstadtgesellschaft 1902–1937). In Deutschland spielte die Freiflächenpolitik und die Entwicklung von gesamtstädtischen Freiraumsystemen erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Rolle im Städtebau bzw. der Planung der Siedlungsstruktur, obwohl in einzelnen Großstädten bereits Ämter existierten, die für die Gestaltung öffentli-
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cher Plätze und die Pflege des Stadtgrüns zuständig wurden, z.B. in Berlin mit dem Dienstantritt Gustav Meyers seit 1870 (vgl. Gröning u. Wolschke-Bulmahn 1987: 17), in Hannover seit 1890 (vgl. Heimatbund Niedersachsen e.V. 1990). Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die Diskussion über die Freiflächenproblematik im Städtebau zu. Städtebauliche Wettbewerbe wie der in Berlin (1908) führten zu Modellen, in denen der innerstädtischen Freiraumplanung eine zentrale Rolle zukam. Die Wettbewerbsergebnisse von Berlin lieferten Impulse z.B. für den Generalsiedlungsplan für das westliche Ruhrgebiet, die Grüngürtelkonzeption in Köln oder das Grünachsenmodell in Hamburg. Bedeutende Planer wie Martin Wagner oder Fritz Schumacher in Deutschland oder Le Corbusier in Frankreich sahen Stadt- und Freiraumentwicklung als komplexe, nicht zu trennende Aufgaben an. „Sie widmeten der aktiven Freiraumentwicklung sogar mehr Kraft und Aufmerksamkeit, weil das Bauen ohnehin von einer einflussreichen Lobby vorangetrieben wurde und daher eher gebremst und gelenkt als aktiviert werden musste.“ (Ermer et al. 1996: 23 f.). Dieser Sachverhalt, der Konsequenz aus der verbreiteten Bodenspekulation war, die in städtischen Quartieren ein „kumulatives Defizit an verschiedenen Freiraumarten“ (Gröning u. Wolschke-Bulmahn 1995: 11) erzeugte, besteht prinzipiell bis heute. In der Weimarer Republik wuchs in vielen Städten des damaligen Deutschen Reiches vor allem als Konsequenz aus der gewachsenen kommunalen Planungshoheit und einer verbreiteten sozialen Orientierung von Gartenarchitekten die Bedeutung der Grünplanung und Freiflächengestaltung. Die Zeit des Faschismus stellte dagegen eher eine Zeit der Stagnation der innerstädtischen Freiraumplanung dar (Gröning u. Wolschke-Bulmahn 1987, a.a.O.). Die Freiflächensicherung und -pflege erfuhr dann nach dem II. Weltkrieg zwar wiederum wachsende Aufmerksamkeit beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte. Doch erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Grünplanung (Freiraumplanung) in der „alten“ BRD zu einer allgemein anerkannten Aufgabe in der Stadtplanung. Bis dahin gab es sie vornehmlich in den größeren Städten, in denen sie durch die Tätigkeit von Stadtgartenämtern bei allen Bauvorhaben mehr oder weniger beachtet und mit Hilfe von Grünplänen auch durchgeführt wurde. Die Planung, Anlage und Pflege von städtischen Grünflächen oblag in der Regel Gartenarchitekten, die von der Ausbildung her meistens Gärtner waren (vgl. Schiller 1952). Es gab jedoch noch keine verbindlichen Grünordnungspläne für die mittleren und kleineren Städte und für die Dörfer. Wichtige „Motoren“ für die Verallgemeinerung der Aufgabe Grünplanung waren in der alten Bundesrepublik seit 1957 die Konferenz der Gartenbauamtsleiter beim Deutschen Städtetag und dann das 1960 erlassene Bundesbaugesetz, das die planerischen und rechtlichen Voraussetzungen schuf, „mit deren Hilfe das Grün zu einem selbstverständlichen Bestandteil städtebaulicher Ordnung zu werden (versprach)“ (Pflug 1968: 269). In der DDR war die Bedeutung der Grünplanung bis in die 1960er Jahre ebenfalls gering. Nicht einmal in den Aufbauplanungen für die neuen „sozialistischen“ Städte (Stalinstadt/Eisenhüttenstadt, Schwedt) spielte sie eine nennenswerte Rolle (vgl. z.B. Bundesarchiv, DH 2, II/09/7, Blätter 1–3). Erst in den 70er Jahren wurde im Zuge verstärkter Wohnungsbautätigkeit (oft auf der „Grünen Wiese“) in zahl-
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reichen Städten der DDR mit der Gründung von städtischen Gartenämtern der wachsenden Rolle des Stadtgrüns bzw. der Grünplanung entsprochen. Für einige neu errichtete Baugebiete mit industrieller Fertigbauweise entstanden umfangreiche Grünordnungskonzepte (vgl. Kirsten 1999: 15, 25). Seit Mitte der 1970er Jahre wurden in der „alten“ BRD in der städtebaulichen Diskussion vermehrt die ökologischen Funktionen in der Betrachtung der Freiflächenfunktionen hervorgehoben. Nagel et al. (1996) definieren die Aufgaben und Ebenen der innerstädtischen Freiflächenplanung heute wie folgt: „Freiraumplanung (bezieht) sich auf alle Ebenen der Stadtentwicklung. Sie greift auf übergeordneter Ebene ordnend in die Stadtstruktur ein: sie definiert die räumlichen Strukturen, die ökologische Funktionsfähigkeit und die soziale Benutzbarkeit der nicht bebauten großflächigen Landschaftsräume im Stadtumland. Als Instrument für diese großräumig grünordnerische Aufgabe fungiert in Großstädten der sog. Landschaftsrahmenplan (Hannover) oder Freiflächenentwicklungsplan (Frankfurt). Die Freihaltung von offenen Räumen, Ausweisung von Standorten für Erholungsnutzung und Schaffung von Grünraumsystemen als naturräumlich und historisch bedingte Konzepte der Stadtentwicklung bilden die Grundlage für die Flächennutzungsplanung. Eine Konkretisierung für inhaltliche Schwerpunktgebiete oder räumlich klar definierte Teilbereiche liefert auf der Ebene der Bereichsplanung der Grünstrukturplan oder das landschaftsplanerische Entwicklungskonzept“ (Nagel et al. 1996: 348f.), auf der Ebene des parzellenscharfen Bebauungsplanes der Grünordnungsplan. Die freiraumbezogenen Nutzungen sollen dabei auf allen Ebenen den Vorgaben übergeordneter Rahmenpläne (z.B. der Raumordnung und Landesplanung) folgen und abgestimmt sein mit übrigen raumwirksamen Planungsansprüchen wie Wohnungsbau, Infrastruktureinrichtungen oder Verkehrsanlagen. Ziel ist ein qualifizierter raumstruktureller Zusammenhang der Nutzungen unter besonderer Berücksichtigung stadtökologischer Erfordernisse. 5.2 Raumordnung und Landesplanung Versuche, die Freiflächenprobleme in Ballungsräumen wie Groß-Berlin und dem Ruhrgebiet zu lösen, führten fast zwangsläufig zur Begründung einer überörtlichen Siedlungs- und Verkehrsplanung, der Landesplanung, deren Institutionalisierung mit der Gründung des Zweckverbandes Groß-Berlin im Jahre 1911 begann. Landesplanung wurde zunächst auf regionaler Ebene betrieben und zwar vorrangig in den Schwerpunktgebieten urban-industrieller Entwicklung (Ruhrgebiet, Mitteldeutschland, Sachsen, Oberschlesien). Sie galt als Planungsmethode für industrielle Wachstumsgebiete, versuchte, die Flächennutzung zu steuern und die verkehrlichen Entwicklungen sowie allgemein öffentliche und private Investitionen zu koordinieren. Diese ältere Landesplanung umfasste in räumlicher Hinsicht eine Region im Sinne der heutigen Regionalplanung. Sie setzte ein, wenn die Urbanisierungsprobleme durch die noch ältere gemeindliche Stadtplanung nicht
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mehr bewältigt werden konnten, und daher ist es kein Wunder, dass sie zuerst in den sich stürmisch entwickelnden Agglomerationen entstand. Dem o.g. Zweckverband Groß-Berlin gelang es damals, die großen Wälder um Havel und Müggelsee vor der Bebauung mit Mietskasernen oder Villenkolonien zu bewahren. Mit der Gründung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin im Jahre 1920 endete seine Tätigkeit. Auf das Jahr 1920 ging dann die Gründung des zweiten Regionalverbandes, des Zweckverbandes Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk zurück. Auch hier war ein Gründungsmotiv, das Freiflächenproblem zu lösen, denn Ziel war u.a. die Schaffung und Sicherung von Grünflächen mit regionaler Bedeutung. Auch in der Folgezeit1 wurde das Freiflächenproblem als wichtiges Motiv für eine aktive Landesplanung gesehen. Freiflächensicherung und Grünplanung wurden vor allem sozialpolitisch begründete Aufgabenfelder der räumlichen Planung, die zunächst als Siedlungsplanung mit Hilfe von Flächennutzungsplänen betrieben wurde. Die Problemsicht war entsprechend auf den besiedelten Bereich und die Stadtrandzonen konzentriert. Heute wird Freiraum als Gegenbegriff zum Siedlungsraum verstanden. „Raumordnerische Ausweisungen im Freiraumbereich sollen in erster Linie eine Sicherung des Freiraums vor Besiedlung erwirken“ (Domhardt 1999a: 185). Begrifflich wird z.T. zwischen Freiraum (im unbesiedelten Bereich) und Grün- und Freiflächen (im besiedelten Bereich) unterschieden: „Freiraum ist der Teil der Erdoberfläche, der in naturnahem Zustand ist oder dessen Nutzung mit seiner ökologischen Grundfunktion überwiegend verträglich ist (z.B. Land- und Forstwirtschaft, Fischerei). Die Definition ist zweckbestimmt durch die Grundfunktion, die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts zu sichern, und somit final am Freiraumschutz orientiert. Freiraumschutz ist ein landesplanerischer Begriff, da er sich auf die überörtliche Verteilung von Raumfunktionen und -nutzungen bezieht. Im Unterschied dazu sind Freiflächen die unbebauten und unversiegelten Flächen innerhalb des Siedlungsraumes (Grün- und Freiflächen); auch sie haben ökologische Funktionen; ihr Schutz ist Gegenstand der Stadtentwicklungsplanung (auch Freiraumplanung). … Freiraum und Freiraumschutz sind relativ neue landesplanerische Begriffe, die erst in den siebziger Jahren im Zusammenhang mit der umweltpolitischen Neuorientierung der Raumordnung auftauchen. … Heute wird der schonende und sparsame Umgang mit dem freien Raum als eine der zentralen Aufgaben von Landes- und Regionalplanung angesehen“ (Ritter 1995: 315). Hieraus wird ersichtlich, dass sich die Raumordnung und Landesplanung bis in die 1970er Jahre mehr dem Erhalt von Freiflächen im besiedelten Bereich gewidmet hat. Seitdem wuchs die Erkenntnis, dass die „Durchschneidung und Verinselung (räumliche Isolierung) von Lebensräumen für Fauna und Flora durch: Autostraßen, Bahnlinien, Hochspannungsleitungen und Kanalsysteme mit ihren Zerstörungs- und Trennungseffekten; Begradigung und Betonierung von Wasserläufen“ (Ritter 1995: 316) zu wichtigen Merkmalen des Freiraumverbrauchs geworden sind. Der Freiraumschutz wird folglich als wesentliche Aufgabe der Landes- und Regionalplanung verstanden.
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Auf die einzelnen Phasen der räumlichen Planung wird hier nicht näher eingegangen.
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Raumordnung, Landes- und Regionalplanung scheinen also von der Ziel- und Aufgabenstellung zur Lösung komplexer Aufgaben, wie sie der Freiraumschutz darstellt, geeignet. Vor dem Hintergrund ihrer übergeordneten Stellung gegenüber den Fachplanungen und der örtlichen Bauleitplanung können sie durch die Begrenzung bzw. Steuerung von Planungen, die Boden in Anspruch nehmen, Freiraum erhalten und weiterem Freiraumverbrauch entgegenwirken oder zur Wiederherstellung von Freiräumen durch Sanierung und Entwicklung beitragen. Als Instrumente bieten sich vor allem auf regionaler Ebene die Formulierung von Leitbildern, Grundsätzen, Zielen, Vorrangfestlegungen, Vorbehaltsfestlegungen, Festlegungen zum Schutz und zur Nutzung sowie Eignung von Räumen oder die Ausweisung von „Freiraumsanierungs- und Entwicklungsgebieten“ an (vgl. MKRO 1996, in BMBau 1997: 27– 29). Allerdings sind in der Vergangenheit in den alten Bundesländern und heute in den neuen Bundesländern Raumordnungsprogramme und -pläne in der Regel erst beschlossen worden, als die Weichen für extensive Siedlungserweiterungen oder Verkehrswegebau bereits gestellt waren. Ein aktuelles Beispiel ist das Regionale Raumordnungsprogramm der Planungsregion „Mecklenburgische Seenplatte“, das mit Wirkung vom 26.6.1998 per Landesverordnung für behördenverbindlich erklärt wurde (GVOBL M-V vom 22. Juli 1998, Nr. 20: 644). Es enthält auch einige Aussagen und Ziele zum Problem der „Erhaltung großräumiger, weitgehend unzerschnittener und störungsarmer Räume“. Als Ziel der Landschaftsentwicklung gilt: „Zur Sicherung der ökologischen Funktionen des Naturhaushaltes und eines regionstypischen Landschaftsbildes sollen große unzerschnittene und störungsarme Räume in der Regel erhalten werden“ (Regionaler Planungsverband Planungsregion Mecklenburgische Seenplatte 1998: 49). In der Erläuterung dazu werden diese Räume als „von großer Bedeutung für den internationalen Artenschutz …, für Wasserhaushalt und Klimaausgleich … sowie für den Tourismus“ gekennzeichnet und in einer Erläuterungskarte dargestellt (Regionaler Planungsverband Planungsregion Mecklenburgische Seenplatte 1998: 50, Erläuterungskarte Nr. 6). Für eine „zerschneidungshemmende“ Steuerung der Siedlungs- und Verkehrsentwicklung kam das Programm aber zu spät. Die maßgeblichen Entwicklungen waren in der Region bis 1997 schon „gelaufen“. Die Erwartungen und Wertvorstellungen der Akteure, die seit 1990 extensive Wohnbauland- und Gewerbegebietsausweisungen zu verantworten hatten, glichen siedlungs- und verkehrspolitischen Erwartungen und Wertvorstellungen, die in den alten Bundesländern in den 50er und 60er Jahren verfolgt wurden. Das Beispiel sollte darüber hinaus für diesen Problembereich nicht als Maßstab künftiger kommunaler Planungen gelten, da die Formulierung „in der Regel“ zur Geringschätzung des Planungsziels auf kommunaler Ebene geradezu einlädt. Für den Freiraumschutz war die Raumordnung bzw. die Landes- und Regionalplanung bisher generell von geringer Wirkung, obwohl in der Vergangenheit nicht nur sozial, sondern auch ökologisch begründete Freiraumsicherungs- und -entwicklungs-Ziele in Raumordnungspläne und -programme Eingang gefunden haben (vgl. Finke et al. 1993: Anhang A). Das Ziel der sparsamen Bodennutzung, im Ergebnis der Bodenschutzdiskussion der 1980er Jahre auch in Entschließungen der Ministerkonferenz für Raumordnung formuliert (vgl. z.B. MKRO 1987: Ent-
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schließung „Raumordnung und Schutz des Bodens“) und gesetzlich in den Zielen und Grundsätzen des ROG und des BauGB verankert, ist dadurch bisher nicht erreicht worden, im Gegenteil: Die Inanspruchnahme wertvoller (insbesondere) landwirtschaftlicher Nutzflächen für Siedlung, Verkehr usw. beträgt heute ca. 120 ha/Tag (vgl. BBR 1998, 2000), so viel wie in den 1980er Jahren, als dieser Sachverhalt einer der Auslöser der Bodenschutzdiskussion wurde. 5.3 Bauleitplanung der Gemeinden Erst im Zuge der Flächennutzungsplanung der Gemeinden bzw. dann durch Bebauungspläne werden die Ziele der Raumordnung für Grundstückseigentümer oder -nutzer unmittelbar wirksam. Insofern ist es von wesentlicher Bedeutung für eine freiraumschonende Flächennutzungsentwicklung, dass Raumordnungs- oder Regionalpläne nicht nur rechtzeitig kommen, sondern darin auch von freiraumschonenden und -schützenden Leitbildern ausgegangen wird, damit auf kommunaler Ebene Einfluss auf die siedlungs- und verkehrspolitischen Wertvorstellungen und Entscheidungen genommen werden kann. Die kommunale Bauleitplanung richtet sich bisher typischerweise am Siedlungs- und Verkehrsbedarf aus, nicht am Freiraumbedarf (vgl. Ritter 1995: 317). Für die gemeindliche Bauleitplanung und die Raumordnung und Landesplanung ergeben sich gewisse Zielkonflikte zwischen einem Schutz von Freiräumen im Innenbereich und der Verhinderung der Inanspruchnahme von weiterem Freiraum im Außenbereich. Dies wird z.B. anhand von Zielen wie dem der städtebaulichen Innenentwicklung deutlich, dessen Verwirklichung auch zunehmenden Druck auf noch vorhandene Freiräume im Innenbereich bedeuten kann. Neue Leitbilder wie „Die Region ist die Stadt“2 spiegeln weniger die Lösung des dem Leitbild der Innenentwicklung innewohnenden Zielkonflikts oder den Willen zur Beschränkung des Siedlungs- und Verkehrsflächenwachstums wider, als vielmehr die Ohnmacht gegenüber anhaltenden siedlungsstrukturellen Zerfaserungsprozessen. Von der Verwirklichung dieses Leitbildes ist – unabhängig von dem Zielkonflikt zwischen Innenentwicklung und zunehmendem Druck auf den Außenbereich – die kommunale Flächennutzungsplanung weit entfernt. Vielleicht liegt dies daran, dass die meisten Ziele der städtebaulichen Innenentwicklung nicht nur Geld (der öffentlichen Hand), sondern vor allem Zeit brauchen, z.B. das Gewerbeflächen-Recycling. Die öffentliche Hand befindet sich zudem dort, wo Grundstücke, die für eine freiraumschonende Siedlungsentwicklung in Anspruch genommen werden sollen, nicht im eigenen Besitz sind, immer in der Auseinandersetzung mit privaten Grundeigentümern und deren verwertungsorientierten Nutzungsinteressen und -rechten. Diese Interessen müssen ggf. beschränkt, oder es muss in bestehende Nutzungsrechte eingegriffen werden. Ansprüche müssen abgewehrt werden. Dies erfordert nicht nur Mut und Weitsicht bei den kommuna2
So lautete das Motto der gemeinsamen Jahrestagung von ARL und DASL im September 1998 in Esslingen.
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len Entscheidungsträgern, sondern auch, dass sie selbst unabhängig (von eigenen oder fremden Verwertungsinteressen) sind. Eingriffe in private Interessen und Rechte oder deren Beschränkung haben nach geltender Rechtsprechung immer der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Grundgesetz Rechnung zu tragen. Die Maßnahmen der öffentlichen Hand werden daraufhin geprüft, ob sie sich im Rahmen der Sozialbindung des (Grund-) Eigentums bewegen oder einer Enteignung gleichkommen, die dann, in der Regel zum Verkehrswert der Nutzung, entschädigt werden muss. Dies zeigen z.B. die Schwierigkeiten, die Gemeinden bei der Erschließung und Verfügbarmachung innergemeindlichen Baulandpotenzials haben. Dieses Potenzial bleibt häufig ungenutzt, weil private Grundeigentümer Bauland horten und nicht nutzen. Die genannten Schwierigkeiten mögen die wichtigste Ursache dafür sein, dass trotz der Anerkennung des Freiraumschutzes als wesentliche Aufgabe von Städtebau, Raumordnung und Landesplanung bisher nicht die Rede davon sein kann, wiederum insbesondere nicht in den neuen Bundesländern, dass dem Freiraumverbrauch im Innen- wie im Außenbereich Einhalt geboten werden konnte. 5.4 Freiraum in der Geschichte des Naturschutzes Der Naturschutz war bis in die jüngere Vergangenheit auf den Außenbereich beschränkt. Insofern ist zu fragen, ob der Freiraum außerhalb von Siedlungen Gegenstand naturschutzpolitischer Diskussionen war. Da bis heute das wichtigste Kriterium für die Qualifizierung eines Raumes als „landschaftlicher Freiraum“ die Größe eines unzerschnittenen, störungsarmen Raumes ist (Grau 1998; s. Kap. 6), ist gleichzeitig zu fragen, ob und in welchem Zusammenhang die Raumgröße in der historischen Entwicklung von Naturschutzzielen und -kriterien eine Rolle spielte. Kernstück der Naturschutzarbeit waren und sind Naturschutzgebiete oder ihnen ähnliche, geschützte Bereiche. „Die Sicherung von Ausschnitten aus der Landschaft, ihr Bewahren vor gezielter oder unbeabsichtigter Veränderung und Zerstörung durch den Menschen, war (und ist; H. B.) ein wichtiges Leitmotiv vieler Naturschutzaktivitäten“ (Weinitschke 1987: 176). Die mit der Unterschutzstellung verbundenen Naturschutzziele und -kriterien wandelten sich seit Beginn dessen, was rückblickend als Naturschutzbewegung gekennzeichnet werden kann. Besonders anhand der Motive und der Kriterien für die Begründung und Auswahl von Schutzgebieten bzw. -objekten kann somit auch der Stellenwert des landschaftlichen Freiraums nachvollzogen werden. 5.4.1 Naturschutzziele und -kriterien bis 1945 Wilhelm Riehl war einer der ersten Zeitgenossen, die angesichts der Folgen der industriellen Revolution für Natur und Gesellschaft nicht nur von Fortschrittsoptimismus und Technikeuphorie beseelt waren. Riehl sprach sich 1853 für ein
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„Recht der Wildnis“ aus und warnte vor den Folgen der industriellen Revolution für die bäuerliche, vorindustrielle Kulturlandschaft und die dazugehörigen gesellschaftlichen Verhältnisse. 1880 verlangte Ernst Rudorff in seinem Aufsatz „Über das Verhältniss des modernen Lebens zur Natur“ mehr „Pietät für die Natur“ (Rudorff 1880)3 und später in einigen weiteren Aufsätzen neben dem Schutz von Einzelschöpfungen der Natur den ästhetisch begründeten Schutz geschlossener Territorien (Knaut 1990: 115 ff.). 1894 verfassten Kuphardt, Schoch und Trip eine „Denkschrift über die Umgestaltung der Königlichen Gärtner-Lehranstalt in Wildpark“, die offenbar aber erst 1898 veröffentlicht wurde. Angesichts des zunehmenden Erholungsverkehrs wird in der Denkschrift vorgeschlagen, in besonders „naturschönen, für die Volksgesundung unentbehrlichen Gebieten“ „Staatsparks“ einzurichten, in denen „die Rücksicht auf das Schöne in erster Linie leitender Gedanke ist“ und mit Hilfe derer der Schutz ganzer Landschaften gefordert wird (zitiert nach Gröning u. Wolschke-Bulmahn 1987: 98). Hier waren die Autoren offenbar durch die in den USA begonnene Entwicklung von Nationalparken inspiriert worden. 1864 entstand dort der Yosemite-Nationalpark, 1872 der Yellowstone-Nationalpark. Am 30.3.1898 verlangte dann der Abgeordnete des Stadtkreises Breslau im preußischen Abgeordnetenhaus, der Oberlehrer Wilhelm Wetekamp, die Einrichtung von Staatsparks nach amerikanischem Vorbild. Wie in Deutschland, so war auch in einigen anderen europäischen Ländern, z.B. Frankreich, die Erhaltung des Landschaftsbildes das wichtigste Schutzmotiv, die Ursprünglichkeit, später als Eigenart und Schönheit definiert, der überkommenen vorindustriellen Kulturlandschaften sollte geschützt werden. In einigen anderen Ländern, z.B. der Schweiz und in Schweden, fand sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in den dortigen Nationalparkkonzepten aber auch schon die Idee des Schutzes der Natur um ihrer selbst willen. Landschaften sollten sich ohne Einwirkung des Menschen entwickeln können (vgl. Henke 1990: 106ff.). Als geradezu moderner Kulturlandschafts- wie Ökosystemschutz hingegen muten die Vorstellungen von C.A. Weber in seinem Gutachten aus dem Jahre 1901 an, in dem es um die Beurteilung von Möglichkeiten zur Schaffung von Naturschutzgebieten in Moor- und Heidegebieten Norddeutschlands ging (vgl. Weber 1901, zitiert nach Ant 1971: 161 ff.). Ausgehend von einem systematischen Ansatz finden sich in dem Gutachten einige heute in Bezug auf Naturschutzgebiete übliche Gedanken wie Kernzone, Pufferzone, großräumige Betrachtungsweise, medien- bzw. schutzgutübergreifende Herangehensweise, Pflegemaßnahmen, Erfolgskontrolle, Naturschutzwacht, Erschließung, Störung und Gefährdung wieder, wenngleich in anderen Worten. Dieses Gutachten blieb in der Folge unter Naturschützern allerdings unbekannt. „In allen späteren Arbeiten, die sich mit der Geschichte des Naturschutzes beschäftigen, wird auf das Gutachten von C.A. Weber in keiner Weise hingewiesen“ (Ant 1971: 163). 1906 wurde die „Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen“ gegründet (vgl. Bundesarchiv Koblenz 1993, IV-VII). Leiter wurde (bis 1922) Hugo Conwentz, der dem Leitbild des Schutzes ganzer Territorien das Leitbild zahlrei-
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Aufsatz wieder abgedruckt in Natur und Landschaft 65 (1990): 119–125.
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cher, überall im Lande kleinflächig verstreuter Naturdenkmäler entgegensetzte. Den Begriff Naturdenkmal hatte bereits 1818 Alexander von Humboldt geprägt. Der Ansatz „Naturdenkmalpflege“ setzte sich durch, wenngleich er schon 1911 von Hermann Löns als „Pritzelkram“ bezeichnet wurde. Er setzte sich wahrscheinlich vor allem deshalb durch, weil der Widerstand privater Grundeigentümer gegen „flächige“ Naturschutzmaßnahmen und Ausweisung von Schutzgebieten als kaum überwindbar eingeschätzt wurde. Der „Verein Naturschutzpark“, der 1909 gegründet wurde, legte bezeichnenderweise durch Landkäufe zwischen 1910 und 1920 die Grundlagen für den Naturschutzpark Lüneburger Heide, der selbst eine erste Verwirklichung der Forderungen nach einem großräumiger gedachten Naturbzw. Landschaftsschutz darstellte. Diese Forderungen rissen nicht ab, anfangs häufig begründet mit dem Hinweis auf Verschandelungen der Landschaft durch Reklameschilder, also wiederum mit dem Schutz des Landschaftsbildes. Motiviert wurden die „Landschaftsschützer“ durch Ereignisse im Ausland, so durch den „Ersten internationalen Kongress für Landschaften“ in Paris 1909. Sogar Conwentz sprach nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend von Naturschutz und war bereit, (kleinräumige) Landschaftsausschnitte als Naturdenkmäler anzuerkennen. Ein wesentlicher Auslöser für den beginnenden Sinneswandel bei Conwentz war offenbar die Moorschutzkonferenz von 1915, die sich gegen eine wahllose Kultivierung von Mooren als Arbeitsbeschaffungsprogramm für Kriegsgefangene wandte und die Einrichtung von Moorschutzgebieten forderte (vgl. Mrass 1969: 4). In der Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 wurde nicht nur der Schutz von Naturdenkmälern als staatliche Aufgabe erstmals verfassungsmäßig festgeschrieben, sondern auch der nicht näher beschriebene Schutz der Landschaft. Der Erste Weltkrieg, der in vielerlei Hinsicht einen Einschnitt in die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft darstellte (vgl. hierzu Hobsbawm 1998: 37–78), führte auch dazu, dass dem Naturschutz soziale Aufgaben zugeschrieben wurden und der innerstädtische Freiraumschutz bzw. der Freiraumschutz an den Stadträndern erstmals als Aufgabe des Naturschutzes definiert wurde. So meinte Klose, der später die „Reichsstelle für Naturschutz“ leiten sollte, in einem Rückblick 1958, dem Naturschutz sei ab 1919 ein neuer Aufgabenbereich „zugefallen“, der ihm ursprünglich fern gelegen habe, nämlich die Sicherung und pflegliche Erhaltung der Grünflächen im „Vorlande der großen Städte und Industrieorte“ (vgl. Gröning u. Wolschke-Bulmahn 1995: 166). Die Grünflächenpflege in den Städten gehörte dann bis zur Verabschiedung des Reichsnaturschutzgesetzes (RNG) im Jahre 1935 verwaltungsmäßig zum Naturschutz. Gegen Ende der Weimarer Republik verstärkten sich die Bemühungen von Naturschützern für ein reichseinheitliches Naturschutzgesetz. Forderungen danach wurden insbesondere auf dem 4. Deutschen Naturschutztag 1931 öffentlich gemacht. Erste Vorentwürfe für ein solches Gesetz wurden noch in der Weimarer Republik verfasst. Unter der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte „von oben“ gleichzeitig mit der „Verreichlichung“ des Naturschutzes ein wesentlicher organisatorischer und mit dem Erlass des Reichsnaturschutzgesetzes am 26.6.1935 (RGBL 1935, Bd 1: 821; vgl. hierzu auch Bundscherer et al. 1996: 18 f.; Schoenichen u. Weber
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1936; Mrass 1981: 199 f.) ein rechtlicher Fortschritt. Er nährte die Hoffnung auf einen „Machtzuwachs“ des Naturschutzes. Die Zuständigkeit für den Naturschutz ging im Juni 1935 vom Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung auf das Reichsforstamt über. Das RNG war ideengeschichtlich ein Rück- und Fortschritt zugleich. Das RNG galt nur für den „Außenbereich“, also für nicht zur Bebauung vorgesehene Flächen. Innerstädtische „Grünflächen“ blieben nun unberücksichtigt. Das RNG formulierte den Anspruch, umfassend den Schutz der freien Landschaft zu gewähren, dies jedoch im Sinne des Schutzes der „heimatlichen Natur“, „worin eine Hinwendung zum Vergangenen und Überkommenen erkennbar ist“ (Mrass 1969: 9). Es enthielt die Schutzinstrumente bzw. -güter: „Naturdenkmäler“ und „Naturschutzgebiete“, „Landschaftsteile“, „Artenschutz“ und „allg. Landschaftsschutz“ (RNG §§ 5, 19 und 20), gemessen an den Kriterien Seltenheit (§§ 1, 2), Schönheit, Zier- oder Schmuckwert (§§ 1, 2, 4, 5), Eigenart (§§ 1, 3, 4) sowie Interesse für Wissenschaft (§§ 1, 2, 3, 4), Heimatkunde, Volkskunde, Geschichte (§§ 1, 3, 4). Als schöne und zugleich seltene und eigenartige Landschaften galten vor allem – wie bisher – die überwiegend kleinflächigen Reste vorindustrieller Kulturlandschaften. Vom (agrar-) industriellen Zugriff möglichst unberührte Natur sollte in Naturschutzgebieten oder als Naturdenkmal vor Zugriff gesichert werden. Es war bis 1945 die Grundhaltung im Naturschutz, dass die Natur vor dem Menschen zu schützen sei. Der Begriff „Landschaftspflege“ findet sich im RNG nicht. Der Landschaftsschutz wurde in der Praxis als abgeschwächte Schutzform für Denkmäler und kleinere Gebiete angesehen. Es war seinerzeit nur an relativ kleine Landschaftsausschnitte gedacht worden. Allerdings wurden auf Grund der „unauffälligen Rechtswirkung“ auch zunehmend größere und sogar vier große Gebiete als Naturschutzgebiete ausgewiesen, letztere weniger aus Naturschutzgründen, als auf Grund der Jagdinteressen des „Reichsforstmeisters“ Hermann Göring. Es handelte sich um die „Reichsnaturschutzgebiete“ Schorfheide, Darß, Rominten und „Elchwald“ (Ostpreußen). Das Primat der Jagd galt dort nicht nur gegenüber dem Naturschutz, sondern auch gegenüber der Forstwirtschaft (vgl. Runge 1998: 19; Piechocki 2000). Eine großräumig angelegte Landschaftspflege und -gestaltung gewann eher außerhalb des Naturschutzes an Bedeutung: Im Zusammenhang mit dem Bau von Reichsautobahnen im Zuge der Wiederaufrüstung und Kriegsvorbereitung wurden landschaftspflegerische Aspekte unter ästhetischen („Landschaftsbild“) und militärischen Gesichtspunkten (Tarnung und Deckung) berücksichtigt. Naturschützer waren an diesen Arbeiten nicht beteiligt, dafür um so mehr freiberufliche Gartenund Landschaftsarchitekten. Landschaftsplanung und -gestaltung erlangten zunächst zunehmende Bedeutung in der Zusammenarbeit von Geographen, Gartenund Landschaftsarchitekten sowie Ingenieuren mit Raumplanern in den überfallenen und besetzten sowjetischen und polnischen Gebieten unter der Leitung des „Reichskommissariats für die Festigung des deutschen Volkstums“. Zu nennen ist insbesondere der berüchtigte „Generalplan Ost“, der von einer Planungsgruppe um Konrad Meyer in mehreren Etappen erarbeitet wurde. Er beinhaltete eine Neuordnung und z.T. Neubesiedelung der eroberten Gebiete im Sinne einer deutschen Oberherrschaft. Ein wichtiges Leitbild war das der bäuerlich-deutschen Kultur-
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landschaft. Es ist anzumerken, dass der Anspruch, größere Landschaftsausschnitte unter Pflege- oder Schutzgesichtspunkten zu planen und zu gestalten, nicht nur im (nationalsozialistischen) Deutschen Reich wuchs, sondern auch in anderen Industrieländern. In den 40er und 50er Jahren gab es in mehreren europäischen Ländern Anfänge einer über den konservierenden Naturschutz hinausgehenden „Landschaftsplanung“ (landscape-planning GB, landschaps-plan NL). Im Naturschutz herrschte indes das auf kleine Landschaftsteile und „Naturdenkmälerchen“ (Löns) beschränkte, vornehmlich durch die Motive Ursprünglichkeit, Schönheit, Eigenart und Seltenheit – manchmal auch Vielfalt, gedacht als vielfältige bäuerliche Kulturlandschaft – begründete Schutzkonzept vor. Die Ausweisung von kleinen Naturschutzgebieten und Naturdenkmälern und ihre Eintragung in ein Reichs-Naturschutzbuch standen im Vordergrund der praktischen Arbeit. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs zwangen die Naturschützer jedoch bald zum Umdenken. 5.4.2 Naturschutzziele und -kriterien in der DDR In der Sowjetischen Besatzungszone bzw. dann bis 1954 in der Deutschen Demokratischen Republik galten das Reichsnaturschutzgesetz (RNG) und die Durchführungsverordnung zum Reichsnaturschutzgesetz (DVO/RNG) vom 31.10.1935 sowie die Verordnung zum Schutze der wildwachsenden Pflanzen und nichtjagdbaren wildlebenden Tiere (NSchVO) vom 18. 3. 1936 vorerst weiter. In der SBZ wurde es von Anfang an allerdings für notwendig erachtet, den Naturschutz auf das Gebiet des Landschaftsschutzes bzw. der Landschaftspflege auszuweiten, d.h. aktiv an der Gestaltung und Planung der Landschaft mitzuwirken (vgl. Pniower 1951: 10). Zur Ausweitung des Aufgabenfeldes im Naturschutz führten die Probleme, über 4 Millionen Flüchtlinge zu integrieren und zu versorgen, Schäden durch militärische Nutzung, durch unmittelbare Kriegseinwirkungen und Kriegsfolgen wie dem aus Not geborenen „Waldfrevel“ sowie großräumige Landschaftsschäden in den Braunkohlenabbaugebieten zu beheben. Bereits Anfang der 50er Jahre, während der Vorarbeiten am neuen Naturschutzgesetz der DDR, das dann 1954 verabschiedet wurde, ging es wesentlich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen bisherigem „Reservate-Naturschutz“ auf kleinen Flächen und „Naturschutz als Teil der allgemeinen Landeskultur“ (vgl. Meusel 1953: 324; Pniower 1952). Naturschutzgesetz oder Landschaftspflegegesetz bzw. (später) Landeskulturgesetz? Unter anderem sollte gerade diese Frage durch die unterschiedlichen Ansätze beantwortet werden. Das RNG wurde schließlich durch das „Gesetz zur Erhaltung und Pflege der heimatlichen Natur (Naturschutzgesetz)“ vom 4.8.1954 abgelöst. Es war nicht mehr auf den Außenbereich beschränkt. Der Naturschutz wurde in der Präambel in einen Bedingungszusammenhang mit einer nachhaltigen Landwirtschaft („Erhaltung und Steigerung der Bodenfruchtbarkeit“) gestellt. Traditionelle, restriktive, dem konservierenden Naturschutz verpflichtete Ziele herrschten jedoch weiterhin vor, wenngleich die Mehrzahl derer, die sich an den Diskussio-
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nen über den Entwurf des Naturschutzgesetzes beteiligten, ein weiter gehendes Landschaftsschutzgesetz für wichtig, aber nicht für durchsetzbar hielten. Immerhin wurde mit den Landschaftsschutzgebieten ein neuer Schutzgebietstyp in das Naturschutzgesetz der DDR aufgenommen, der der Zielstellung „Erholung“ dienen sollte. Das bedeutete eine, wenngleich schwache, Verrechtlichung des Anspruchs auf Mitgestaltung der Landnutzung durch den Naturschutz. Später kam der Schutzgebietstyp Flächennaturdenkmal (bis 3 ha Größe) hinzu. Als Naturschutzkriterien werden im Gesetz und den folgenden Durchführungsverordnungen4 Schönheit, Eigenart, wissenschaftliche Bedeutung (von Tieren, Pflanzen, Landschaften bzw. Landschaftsteilen), aber auch „Nutzen für die Volkswirtschaft“ genannt. Der Versuch einer ökonomischen Begründung des Naturschutzes zieht sich durch das ganze Gesetz. Eine der wichtigsten Aufgaben der Naturschützer wurde nach Erlass des Naturschutzgesetzes der DDR die Erarbeitung des Systems der Naturschutzgebiete der DDR. Anders als noch nach dem RNG wurden die Gebiete aber nicht nach ihrer „Ursprünglichkeit“ ausgewählt – das waren in der Regel Reste vorindustrieller Kulturlandschaften, die als schön, eigenartig oder selten empfunden wurden – sondern nach wissenschaftlichen und dokumentarischen Gesichtspunkten unter dem Aspekt der Dokumentation der „… gesamte(n) Naturausstattung des Landes in ihrer Formenvielfalt in repräsentativen Ausschnitten …. Begonnen wurde mit der Auswahl waldbestandener Naturschutzgebiete, denen Gewässer-, Moor- und Wiesenschutzgebiete sowie zoologische Schutzgebiete folgten. Stets war man bemüht, den Naturraum charakterisierende typische Geländeausschnitte zu erfassen. Ökologische Reihen, etwa vom nassen über das feuchte zum frischen bis trockenen Grünland, waren ebenso Auswahlprinzip wie die etageale Abfolge der Waldgesellschaften von der planaren über die kolline bis zur montanen Stufe. Obwohl meistens geobotanische Kriterien bei der Auswahl und Abgrenzung im Vordergrund standen, wurden geologische und geomorphologische, hydrologische wie pedologische Aspekte mit herangezogen“ (Weinitschke 1998: 462). Die Diskussion um eine auf Pflege, Gestaltung und Planung der Landschaft erweiterte Ziel- und Aufgabenbestimmung des Naturschutzes ging weiter, unterstützt durch Forschungsvorhaben und Modellprojekte. Für die Entwicklung einer Naturschutzstrategie in eine Richtung, die als „in die Landeskultur integrierter Naturschutz“ schon für jene Zeit am besten ausgedrückt werden kann, waren bereits Ende der 50er Jahre die konzeptionellen Grundlagen gelegt. Sie finden sich zusammengefasst im „Planungsrahmen für die Landschafts- und Flurplanung“, der von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Flur- und Landschaftsplanung“ der Sektion Landeskultur und Naturschutz der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften erarbeitet und 1961 veröffentlicht wurde (vgl. Bauch 1961). Obwohl dafür mit dem Naturschutzgesetz von 1954 die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren, erweiterte sich die Thematik bereits Ende der 50er Jahre auf Fragen des Umweltschutzes, d.h. Bekämpfung des Lärms, Reinhaltung 4
Vgl. Gesetz zur Erhaltung und Pflege der heimatlichen Natur (Naturschutzgesetz) vom 4. August 1954 und Übersicht über weitere gesetzliche Bestimmungen zu Naturschutz und Landschaftspflege, Sonderdruck aus Bauer u. Weinitschke (1967).
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der Gewässer und der Luft, Schutz des Bodens vor Erosion, Müllbeseitigung und, infolge des Übergangs zur industriellen Großraumlandwirtschaft mit den o.g. Voraussetzungen und Folgen, Probleme der Gestaltung und Entwicklung der Kulturlandschaft insgesamt. Daraus entwickelten sich seit Anfang der 1960er Jahre fast zwangsläufig Forderungen nach einem umfassenden Gesetz, das nicht nur Fragen des Naturschutzes, sondern des Umweltschutzes regeln sollte. „Sozialistische Landeskultur“ (SLK) wurde zu einem Synonym für „Umweltpolitik“. 1970 wurde das Naturschutzgesetz dann durch das „Gesetz über die planmäßige Gestaltung der sozialistischen Landeskultur in der Deutschen Demokratischen Republik“ (Gbl. der DDR Teil 1 Nr. 12, 67), kurz Landeskulturgesetz (LKG), abgelöst. Das LKG enthielt nicht nur Regelungen für den Naturschutz im engeren Sinne („spezieller Naturschutz“), also für den Arten- und Biotopschutz, sondern auch für den Schutz des Bodens, der Gewässer, der Wälder, der Reinhaltung der Luft und zur Abfallbeseitigung. Die Instrumente, die dem speziellen Naturschutz und der Landschaftspflege mit diesem Gesetz im Abschnitt „Gestaltung und Pflege der Landschaft sowie Schutz der heimatlichen Natur“ zur Verfügung gestellt wurden, bezogen sich zum einen auf Regelungen zum Artenschutz und zum anderen auf Regelungen zu Schutzgebietstypen (Naturschutzgebiet, Landschaftsschutzgebiet und Naturdenkmal/Flächennaturdenkmal, dazu geschützte Gehölze und geschützte Parke). Im Zusammenhang mit internationalen Abkommen kamen in den 1970er Jahren die Schutzgebietstypen Feuchtgebiete Internationaler Bedeutung (FIB) und Feuchtgebiete nationaler Bedeutung (FNB) sowie Biosphärenreservate (BR) hinzu, bei denen die Großräumigkeit bereits ein wichtiges Ausweisungskriterium war. Nationalparke und Naturparke gab es in der DDR nicht. Für die Seite des Naturschutzes bestand der Fortschritt des LKG vor allem im expliziten Abrücken vom rein konservierenden Naturschutz; die Ziele „Pflege“, „Entwicklung“ und „Planung“ der Landschaft kamen in der Forderung nach Behandlungsrichtlinien für Naturschutzgebiete und nach Landschaftspflegeplänen für Landschaftsschutzgebiete zum Ausdruck. Dieser Forderung wurde mit der Naturschutzverordnung von 1970 Rechnung getragen. Für alle Naturschutzgebiete sollten als Grundlage für die Durchführung entsprechender Maßnahmen zu ihrer Entwicklung, Gestaltung und Pflege Behandlungsrichtlinien von den Räten der Bezirke beschlossen werden. NSG sollten nicht sich selbst überlassen bleiben (bis auf Ausnahmen), sondern ebenso wie die (übrige) Kulturlandschaft mit Hilfe von Normativen planmäßig gestaltet werden. Hier findet sich bezogen auf NSG der Gedanke des in die Nutzung integrierten Naturschutzes spezifisch wieder. Ende der 70er Jahre galt das Schutzgebietssystem in der DDR als abgeschlossen. Wesentliche Erweiterungen des im „Handbuch der Naturschutzgebiete“ (vgl. ILN 1972–1974 und 1980–1986) dokumentierten NSG-Systems wurden auch politisch abgelehnt. „Grundlage dafür war die Auffassung, dass mit den Naturschutzgebieten vor allem Repräsentanz- und Dokumentationsaufgaben sowie die Bereitstellung von Forschungsflächen für die Wissenschaft gegeben war“ (Reichhoff 1998: 523 f.). Ein zielbestimmter Ausbau des Schutzgebietssystems wurde nun von Naturschützern wie Mitarbeitern des Instituts für Landschaftsforschung und Naturschutz unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Gefährdung von Tier- und Pflanzenarten gefordert (Forderung: „Erhaltung der Arten- und For-
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menmannigfaltigkeit“). In diesem Zusammenhang erhielt das Kriterium Größe von Schutzgebieten eine besondere Bedeutung. Die Entwicklung der Lebensräume gefährdeter Tierarten und gefährdeter Pflanzengesellschaften bzw. Biotope sollte durch qualitative Merkmale bestimmt sein. „Diese sollten sichern, dass die Gebiete ökologisch stabil und möglichst störfrei von Randeinflüssen sein sollten. Dazu bestand die Forderung, dass bei der Entwicklung des Schutzgebietssystems die Gesamtfläche der NSG schneller ansteigen sollte als die durchschnittliche Fläche und diese schneller als die Anzahl der NSG – kurz gesagt, dass immer größere, komplexere Schutzgebiete auszuweisen sind. Unter den DDR-spezifischen naturschutzfachlichen Kriterien der Schutzgebietsentwicklung hatte dieser Trend bereits eingesetzt. Dies stand auch im Gegensatz zu den Verhältnissen in der alten Bundesrepublik Deutschland, wo die Anzahl der Schutzgebiete schneller stieg als die Fläche und damit die durchschnittliche Fläche der NSG immer weiter sank“ (Reichhoff 1998: 524). 5.4.3 Naturschutzziele und -kriterien in der BRD In der Bundesrepublik nahm der Naturschutz nach dem Krieg neben den klassischen, im RNG definierten Aufgaben ebenfalls auf den Landschaftsschutz und die Landschaftspflege erweiterte wahr. Bis in die 1960er Jahre herrschte aber auch in der Bundesrepublik der traditionelle konservierende Naturschutz auf Grundlage der Schutzziele und Schutzkriterien des Reichsnaturschutzgesetzes fort. Seit Ende der 1940er Jahre war es zunächst strittig, ob das RNG als Bundes- oder als Landesrecht fortgelten sollte. Erst 1958 legte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Reichsnaturschutzgesetz nicht als Bundesrecht, sondern als Landesrecht fortgelte. Jene Länder, die bis dahin kein eigenes Naturschutzgesetz verabschiedet hatten, mussten sich weiterhin am RNG orientieren. Vereinzelt gab es Versuche, Konzepte einer Integration landespflegerischer Aspekte in raumwirtschaftliche Planungen zu begründen (G. Kragh), z.B. auf der Jahrestagung 1955 der Arbeitsgemeinschaft beruflicher und ehrenamtlicher Naturschutz e.V. (ABN) in Düsseldorf („Natur und Wirtschaft“) mit der Formulierung von Grundsätzen des Naturschutzes wie „Erreichung einer naturgemäßen Wirtschaftslandschaft“, „Erreichung einer naturgemäßen Wohnlandschaft“ oder „Erreichung einer naturgemäßen Erholungslandschaft“. Landschaftspläne fanden auf Länderebene zunehmend Verbreitung in Form von Begleitplänen mit Bezug auf einzelne Objekte und Maßnahmen („Landschaftspflegepläne“) in Wasserwirtschaft, Bergbau, Verkehrswegebau, Flurbereinigung. Ende der 1960er und dann in den 1970er Jahren wurde das bisherige Berufsund Aufgabenbild in Naturschutz und Landschaftspflege „von außen“ erschüttert. Umweltpolitik entstand als neues Aufgabenfeld und die Landschaftsplanung wird zu einem Bestandteil der Umweltpolitik: „Fast über Nacht scheint auf uns eine Aufgabe zugekommen zu sein, von der 95 % unserer Mitmenschen nicht einmal die Vokabel, geschweige denn den damit verbundenen Begriff kannten“ (Buchwald 1970, zitiert nach Runge 1990: 237). In der „alten“ Bundesrepublik führte
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eine der in der DDR entwickelten Strategie des „in die Nutzung integrierten Naturschutzes“ ähnliche zum System der Landschaftsplanung. Damit sollte ebenfalls eine Integration von Naturschutzbelangen in die Landnutzung versucht werden. Der Strategiewandel kann auch metatheoretisch erklärt werden: Ursache dafür war – hüben wie drüben – wohl vor allem die intellektuelle Wahrnehmung und Verarbeitung der Folgen des „1950er Syndroms“, die erst gegen Ende der 1960er Jahre nicht mehr nur von Einzelnen wissenschaftlich und politisch reflektiert wurden (Entstehung der Umweltpolitik). Der unter Umwelthistorikern gebräuchliche Begriff (vgl. Pfister 1996) fasst (rückblickend) die Phänomene zusammen, die zum einen mit der in sehr kurzer Zeit abgelaufenen Industrialisierung der Landund Forstwirtschaft verbunden sind. Sie führte, forciert durch staatlich finanzierte Maßnahmen wie Flurbereinigungsverfahren, zur Ausräumung der Landschaft, zu monokulturellen Nutzungen des Naturraumpotenzials, zur Chemisierung der Landschaft (Nivellierung des Stoffhaushalts) und zur radikalen Umformung der Arbeits- und Lebensweise auf dem Lande. Der Begriff meint zum anderen die Folgen, die mit der Inwertsetzung bzw. Industrialisierung des Bereiches der „Reproduktion der Arbeitskraft“ verbunden sind. Sie führte zur umfassenden Technisierung der individuellen Haushalte, zur Freizeitindustrie und einem Boom an modebedingten Konsumartikeln, zur Massenmotorisierung, zur Chemisierung in der Nahrungsmittel- und Genussmittelpalette (umfassende Substitution von Stoffen) und neuerdings zur umfassenden Technisierung der Kommunikationsbedürfnisse (Zerstreuungs- statt Kommunikationsmittel) sowie zur Technisierung von Dienstleistungen. Eine (nochmalige) radikale Veränderung der Kulturlandschaften war die Folge. Beiden Prozessen lag in stofflich-energetischer Hinsicht eine Ergänzung der Braun- und Steinkohlenbasis um Erdgas und Erdöl zu Grunde, ohne die diese Zweite Industrielle Revolution nicht möglich gewesen wäre. Auch in der BRD setzte sich seit Ende der 1960er Jahre bei immer mehr Naturschützern die Erkenntnis durch, dass durch den restriktiven Schutz einzelner, zumeist kleiner Flächen der Rückgang von Arten und Biotopen nicht aufgehalten werden konnte und dass stattdessen ein großräumig angelegter, in die Landnutzung integrierter Naturschutz vonnöten war. Beispielhaft für den Sinneswandel sind die Themen und Beiträge auf Seminaren anlässlich des Europäischen Naturschutzjahres 1970. Von der Bundesanstalt für Vegetationskunde, Naturschutz und Landschaftspflege wurde seinerzeit u.a. ein Seminar zum Thema „Naturschutzgebiete und ihre Probleme“ durchgeführt. Dort wurde eine ernüchternde Bilanz der Naturschutzgebietspolitik in der Bundesrepublik gezogen. Die Schutzgebiete erwiesen sich in der Mehrzahl als zu klein oder aber ihre Auswahl erfolgte willkürlich. Ant fasste die Anforderungen an die zukünftige Auswahlpraxis und die Kritik an der bisherigen wie folgt zusammen: „Die Größe eines Naturschutzgebietes sollte immer von dem für die Biozönose erforderlichen Raum abhängig gemacht werden. Es ist jedoch eine Erfahrungstatsache, dass die Biozönosen umso stabiler sind, je größer der ihnen zur Verfügung stehende Raum ist. Wenn wir davon ausgehen, dass Naturschutzgebiete einen Ausschnitt aus der Erdoberfläche darstellen, der zugleich eine naturräumliche Einheit umfasst, so wären alle Schwierigkeiten bei der Abgrenzung eines NSG hinsichtlich der Größe behoben. … Ein Naturschutzgebiet stellt … weniger ein Schutzgebiet für einzelne Arten, als
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vielmehr für … Biozönosen dar. Nach allgemeinen biozönotischen Regeln kann eine Art allein für sich nicht existieren. Alle Bemühungen, einzelne Arten getrennt zu schützen, müssen daher auch fehlschlagen. Die Biozönose bildet zusammen mit dem Biotop das Ökosystem. Nur intakte Ökosysteme sollten als Naturschutzgebiete ausgewiesen werden. … Leider geschieht die Auswahl der Naturschutzgebiete in den meisten Fällen nach anderen Gesichtspunkten: Ermöglichung von Kauf oder Pacht, Einverständnis des Eigentümers oder sonstigen zufälligen Faktoren. Diese Tatsache sollte jedoch nicht dazu führen, dass bei der Unterschutzstellung nicht nach einheitlichen Kriterien für die Abgrenzung eines NSG verfahren werden sollte“ (Ant 1971: 169). Interessant aus heutiger Sicht ist, dass auf dem besagten Seminar dann eine intensive Auseinandersetzung mit den Erfahrungen folgte, die der Naturschutz in der DDR mit Ausweisungskriterien und -praxis für das dortige System der Naturschutzgebiete gemacht hatte. Dabei wurde die Übernahme von Unterschutzstellungskriterien empfohlen. Auch die Typisierung der NSG nach den in der DDR gebräuchlichen sechs Typen: waldbestandene NSG, hydrologische NSG, geologische NSG, botanische NSG, zoologische NSG und „komplexe“ NSG wurde positiv aufgegriffen (vgl. Sukopp 1971: 184). Zur bisherigen Flächengröße von NSG äußerten sich alle Referenten kritisch. Alle forderten eine Ausrichtung der Flächengröße an ökosystemaren, auf Naturraumeinheiten bezogene oder aber nach pflanzensoziologischen Kriterien. Erz forderte z.B. für die Auswahl ornithologischer Schutzgebiete, dass die „Größe des auszuweisenden Gebietes mindestens dem Minimalareal der zu schützenden Art oder Artengruppe entsprechen muss. Dabei ist sicherzustellen, dass nicht nur das Minimalareal eines einzigen Brutpaares oder Einzelvogels zu Grunde gelegt werden darf, sondern einer genügend großen Population, die zur Sicherung des Artbestandes notwendig ist“ (Erz 1971: 212). Erz forderte für Brutvögel mit größeren Revier- oder Biotopansprüchen eine eigene Schutzgebietskategorie (sog. Eurel-Reservate oder „partielle Naturschutzgebiete“). „Der Schutz solcher Vogelarten mit räumlich großen Revier- und Biotopansprüchen lässt sich wegen des damit verbundenen Flächenbedarfs durch die Ausweisung als Naturschutzgebiet im heutigen Sinn nicht ermöglichen“ (Erz 1971: 213). Zuvor hatte Makowski bereits „temporäre“ NSG für Durchzügler und Wintergäste vorgeschlagen. Zwei Schutzgebietstypen, bei denen die Großräumigkeit ausdrücklich ein zentrales Ausweisungskriterium wurde, nämlich der „Nationalpark“ sowie der „Naturpark“, fanden Eingang in das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) von 1976, das einen deutlichen „Bruch“ mit dem ideellen Naturschutz auf Grundlage des RNG bedeutete. Seit Ende der 1960er Jahre war es verstärkt zu Initiativen und Entwürfen für ein Naturschutzgesetz auf Bundesebene gekommen, so seitens des Deutschen Rates für Landespflege (1967), des Deutschen Naturschutzringes (1970) und auch seitens der Bundesregierung (1970; vgl. Ebert u. Bauer 1995). Am 24.12.1976 trat das Bundesnaturschutzgesetz in Kraft (BGBl. I S.889). Da das BNatSchG als Rahmengesetz verabschiedet wurde, blieben Detailregelungen den Ländern vorbehalten. Bundesländer, die bis dahin keine Landesnaturschutzgesetze hatten, mussten diese nun verabschieden. Die anderen mussten ihr Landesrecht den neuen Anforderungen anpassen. Das Reichsnaturschutzgesetz war damit gegenstandslos geworden.
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Die wichtigsten Neuerungen des BNatSchG gegenüber dem RNG lassen sich in folgende Punkte fassen: Die Zielsetzung und die Formulierung von Grundsätzen veränderte sich: Das Bundesnaturschutzgesetz fordert in der Zielformulierung (vgl. § 1 BNatSchG), Natur und Landschaft nicht nur „zu schützen“ und „zu pflegen“, sondern auch „zu entwickeln“ und gestörte, geschädigte und ausgeräumte Landschaftsteile „wiederherzustellen“. Gemäß § 1 BNatSchG erstreckte sich der Aufgabenbereich des Naturschutzes nunmehr sowohl auf den besiedelten als auch den unbesiedelten Bereich. Dadurch gehörte offiziell auch (wieder) der innerstädtische Freiraum zum Aufgabenspektrum des Naturschutzes. Neu war der ausgeweitete planerisch-gestalterische Ansatz: Die Ziele (§ 1) und Grundsätze (§ 2) des BNatSchG verdeutlichen die Forderung an die Naturschutzbehörden, eigenständig Aktivitäten zum Schutz, zur Pflege, aber auch zur Entwicklung und Wiederherstellung von Natur und Landschaft zu entfalten. Mit der Möglichkeit, bestimmte Teile von Natur und Landschaft als Schutzgebiete auszuweisen, sollte gewährleistet werden, dass die „wertvollsten“ Gebiete nicht beeinträchtigt werden. Damit verbunden war die Erweiterung der Schutzinstrumente: aus den „Landschaftsteilen“ wurden im BNatSchG „geschützte Landschaftsbestandteile“, aus dem „allg. Landschaftsschutz“ im RNG entwickelte sich der Schutzgebietstyp „Landschaftsschutzgebiet“. Hinzu kamen die Schutzgebietstypen „Naturpark“ und „Nationalpark“, wobei der Naturpark weniger Naturschutz- denn Erholungszwecken dient. Geblieben waren aus dem RNG das „Naturschutzgebiet“ und das „Naturdenkmal“ sowie die bekannten Schutzgüter bzw. -kriterien Tierund Pflanzenarten, Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft. Daneben traten mehr umweltpolitisch motivierte Ziele wie Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes sowie Nutzungsfähigkeit der Naturgüter. Damit wurde der Schutzgut-Katalog um die Umweltmedien Boden, Wasser, Luft und – über den Lärmschutz – Ruhe erweitert. Das Ziel, den Schutz von Natur und Landschaft um der Erholung der Menschen willen zu betreiben, war ebenfalls neu. In den Grundsätzen des § 2 BNatSchG wurde die Erhaltung unbebauter Bereiche im Innen- wie im Außenbereich in einer für ihre Funktionsfähigkeit genügenden Größe ausdrücklich als Grundsatz des Naturschutzes und der Landschaftspflege genannt.5 Ein spezielles Instrument für den Freiraumschutz im Innen- wie im Außenbereich wurde (de jure) das System der Landschaftsplanung (§§ 5 ff. BNatSchG 1976). Durch die Pläne der Landschaftsplanung sollte erreicht werden, dass die Ziele und Grundsätze des Naturschutzes dargestellt und Maßnahmen zu ihrer Umsetzung vorbereitet werden; die Verwirklichung der Ziele des Gesetzes sollte so sichergestellt werden. Mit der Einführung der Landschaftsplanung auf allen 5
In § 2 (1) Satz 2 BNatSchG 1976 heißt es: „Unbebaute Bereiche sind als Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts, die Nutzung der Naturgüter und für die Erholung in Natur und Landschaft insgesamt und auch im einzelnen in für ihre Funktionsfähigkeit genügender Größe zu erhalten. In besiedelten Bereichen sind Teile von Natur und Landschaft, auch begrünte Flächen und deren Bestände, in besonderem Maße zu schützen, zu pflegen und zu entwickeln.“
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Planungsebenen war die Hoffnung verbunden, gewissermaßen einen Gleichklang von Wirtschaftsentwicklung und Erfordernissen des Naturschutzes erreichen zu können.6 Wie oben kurz erwähnt, wurde mit den Schutzgebietstypen „Naturpark“ und „Nationalpark“ der Aspekt der „Großräumigkeit“ im Bundesnaturschutzgesetz rechtlich fixiert. Die neue Schutzgebietskategorie „Nationalpark“ wurde als Folge entsprechender Empfehlungen der IUCN aus dem Jahre 1969 aufgenommen. Nationalparke sind bekanntlich gemäß § 14 BNatSchG 1976 rechtsverbindlich festgesetzte, einheitlich zu schützende Gebiete, die 1. großräumig und von besonderer Eigenart sind und 2. im überwiegenden Teil ihres Gebietes die Voraussetzungen eines Naturschutzgebietes erfüllen. Naturparke sind gemäß § 16 BNatSchG 1976 einheitlich zu entwickelnde und zu pflegende Gebiete, die 1. großräumig sind und 2. überwiegend LSG oder NSG sind. Die Forderungen nach einer großräumigen und ökosystemaren Betrachtung der Naturschutzproblematik und Einbeziehung des Naturschutzes in die Landnutzung fanden sich seit Verabschiedung des BNatSchG regelmäßig in der „naturschutzpolitischen“ Diskussion, z.T. verbunden mit deutlicher Kritik an bisherigen Ergebnissen der Unterschutzstellungspraxis (vgl. z.B. Kernforschungszentrum Jülich 1991). In die ideengeschichtliche Reihe der Forderungen nach „großräumiger“ Betrachtungs- und Handlungsweise gehört in diesem Zusammenhang auch die „alte“ Forderung von Natur- und Landschaftsschützern, etwa 10 bis 15 %, manche sprachen auch von bis zu 20 % und sogar 30 %, der Fläche der Agrarökosysteme in der Bundesrepublik für den Arten- und Biotopschutz zur Verfügung zu stellen (vgl. ABN 1981; Heydemann 1981, 1983; Erz 1983 b; SRU 1985; LANA 1986; Schmidt 1987). Diese Richtwerte sind wissenschaftlich nie hinreichend bewiesen worden, sondern waren als pragmatisch-politische Faustzahlen für Vorrangflächen des Naturschutzes anzusehen (vgl. Kaule 1991: 368; Horlitz 1992: 101). Die Forderungen standen in den 1980er Jahren häufig im Zusammenhang mit Extensivierungs- und Stilllegungszielen in der Landwirtschaft. (vgl. BML 1985, 1987; LANA 1987: 57–61; Schmidt 1987: 59 ff.). Die Extensivierungs- und Stilllegungspolitik in der Landwirtschaft war auch ein zentraler Hintergrund der Diskussion über „Segregation oder Integration“ als Grundstrategie des Naturschutzes. Kaule und Henle schrieben z.B. 1992: „Der aktuelle Zustand verdeutlicht … unwiderlegbar, dass die bisher verfügbaren Flächen nicht ausreichen und dass die Belastung der gesamten Landschaft viel zu hoch ist. Als konsequente Forderung leitet sich eine nachhaltige, ökologisch verträgliche Flächennutzung und Wirtschaft ab sowie eine Integration des Naturschutzes in dieses veränderte Wirtschaften“ (Kaule u. Henle 1992: 127). Unter dem Motto „Segregation oder Integration“ wurde zunehmend kritisiert, dass sich der Naturschutz bisher zu sehr auf Schutzgebiete konzentrierte und einer Teilung des Agrarraumes in „Schmutz- und Schutzgebiete“ Vorschub leiste. Darüber fin6
„Die Landschaftsplanung ist für Teilfunktionen des Freiraumschutzes unverzichtbar. Ihr Nachteil liegt jedoch in ihrer beschränkten rechtlichen Verbindlichkeit und in ihrer praktischen Durchsetzungsschwäche bei Abwägungsentscheidungen, insbesondere im Rahmen der Bauleitplanung“ (Ritter 1995: 317).
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det eine bis heute anhaltende Diskussion statt (vgl. auch Kap. 2.4.5). „Naturschutz handelt bisher vorwiegend nach dem Segregationsprinzip: Die als rechtsverbindlich ausgewiesenen Schutzgebiete liegen neben den Vorrangflächen der übrigen Nutzungen oder werden von diesen überlagert. Geringe Flächengröße und Anzahl der Naturschutzgebiete, ungünstige Raumverteilung und Isolation, die Zulassung mit dem Schutzzweck unvereinbarer Nutzungen, fehlende oder mangelnde Pflege, Randeinflüsse der intensiv genutzten Umgebung sind nur einige Gründe, weshalb allein mit dem Instrument (Vorrang-) Flächenschutz weder ein umfassender Schutz von Tier- und Pflanzenpopulationen, noch ein wirksamer Schutz der übrigen Naturgüter respektive des Naturhaushaltes leistbar ist. Besonders gravierend sind neben der Summenwirkung kleinräumiger Beeinträchtigungen die flächenübergreifenden Effekte, wie z.B. der Eintrag von anthropogenem SO2 oder NOx über die Atmosphäre. … Vor diesem Hintergrund muss Naturschutz sein Blickfeld erweitern und eine auf die Gesamtfläche und die Ursachen, also die Art und Weise der Nutzungsgestaltung, ausgerichtete, somit nutzungsintegrierende Strategie entwickeln“ (Riedl 1995: 420 f.). „Die gesamte Fläche eines Landes ist Lebensraum von Arten und der durch die Nutzung direkt gebildeten oder mitbeeinflussten und gestalteten Ökosysteme. Daher ist Naturschutz auch auf der ganzen Fläche erforderlich“ (Kaule 1991: 368). Trotz der Forderungen nach großräumiger, ja flächendeckender Betrachtungsund Handlungsweise im Naturschutz wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass daraus keine Festlegungen von Mindestgrößen von Schutzgebieten, im folgenden Zitat von Naturschutzgebieten, ableitbar seien. „Die Voraussetzungen für verschiedene Ökosystemtypen sind viel zu unterschiedlich. … Die Flächengröße sollte daher für Naturschutzgebiete nur als zusätzliches Bewertungskriterium herangezogen werden“ (Kaule 1986/1991: 270). 5.4.4 Das Problem der Landschaftszerschneidung im Rückblick In der Naturschutzgeschichte lässt sich bis in die 1990er Jahre weder aus den Begründungen für Unterschutzstellungen noch aus der Entwicklung der Schutzziele und -kriterien ablesen, dass dem „landschaftlichen Freiraum“ im Außenbereich oder den Phänomenen Zerschneidung oder Störung eine strategische oder nur größere Bedeutung beigemessen wurde. Vereinzelt wurden diese Phänomene seit den 1950er Jahren im Zusammenhang mit der Beschreibung des Konfliktes zwischen zunehmender Verkehrsentwicklung und Beeinträchtigung von Erholungsinteressen durch Lärmbelästigung oder Unfallgefahren wahrgenommen (vgl. Beck 1956, nach Jaeger 2001: 4). Erst in den 1970er Jahren erschienen erste Veröffentlichungen, die sich explizit dem Problem der Zerschneidung und Verinselung von Lebensräumen nicht nur aus Gründen der Erholungsvorsorge, sondern auch des Artenschutzes zuwandten. Anlass oder Hintergrund dafür war häufig die bereits o.g. Feststellung, dass die bis dahin ausgewiesenen Schutzgebiete in aller Regel zu klein waren, um einen wirkungsvollen Artenschutz zu gewährleisten.
100
Hermann Behrens
Einige der ersten, die explizit über „Zerschneidung der Landschaft“ oder „unzerschnittene verkehrsarme Räume“ publizierten, waren Eichhorst u. German (1974), Fritz et al. (1978), Lassen (1979) und Mader (1980). Lassen stellte vor dem Hintergrund einer stichprobenhaften Ausscheidung von durch Verkehrsstraßen unzerschnittenen Räumen in den Naturparken Nordrhein-Westfalens (Fritz et al. 1978) die Ergebnisse einer Untersuchung vor, in der das gesamte Bundesgebiet auf noch unzerschnittene Räume von mindestens 100 km² Größe hin überprüft worden war. Lassen zielte vorrangig auf Erholungsvorsorge ab; er forderte, „für den Ruhe suchenden Teil der Bevölkerung Räume zu erhalten, die großflächig, unzerschnitten und damit vom Verkehrslärm unbelastet sind“ (Lassen 1979: 333). Die Ergebnisse dieser ersten bundesweiten Untersuchung waren allerdings auch für den Naturschutz interessant, denn eine Überlappung mit bereits bestehenden Schutzgebietskategorien ergab, dass großräumige, von Verkehr unbelastete Gebiete bei der Auswahl von NSG bis dahin unberücksichtigt geblieben waren. Bei Naturparken war hingegen eine Überlagerung der Flächen deutlicher zu erkennen (vgl. Lassen 1979: 333 f.). Mader kennzeichnete die Zerschneidung der Landschaft als einen der Hauptgründe für die Biotopisolierung und Verinselung von Lebensräumen und stellte fest: „Während über den Verlust wertvoller naturnaher Biotope und die Bedrohung der auf diese Gebiete angewiesenenen Lebensgemeinschaften oder einzelner Tierarten vielfach berichtet wurde und in der Bevölkerung ein erfreuliches Problembewusstsein beobachtet werden kann und auch über die Funktion und Bedeutung verschiedener Raumstrukturen für einzelne Tierarten neuere Untersuchungsergebnisse vorliegen, ist zu der letztgenannten Entwicklungstendenz, der Verinselung der Biotope und den Konsequenzen für die Biozönose bisher wenig publiziert worden. … Der Naturschutz … wird künftig auch die mit Flächengröße und Flächenisolation verbundenen Effekte in sein Planen und Handeln einbeziehen müssen, um dem weiteren Verlust einheimischer Tierarten entgegenzuwirken“ (Mader 1980: 9l f.). Als Gegenmaßnahmen befürwortete er eine Schutzgebietskonzeption, die sich gleichermaßen an den Biotopqualitäten, dem Arteninventar und den Raumstrukturverhältnissen wie auch an deren Flächenverhältnissen orientiert. Er forderte u.a., die weitere Zerstückelung naturnaher Restflächen zu verhindern; der Naturschutz müsste gegen jede weitere Parzellierung von Flächen Einspruch erheben (Mader 1980: 95 f.). Zahlreiche weitere Untersuchungen zum Problem der Biotopverinselung bzw. zum Raumbedarf bestimmter Tierarten führten in der Folge zwar zur Begründung von heute vielerorts „ausprobierten“ Gegenmaßnahmen wie Anlage von Biotopverbundsystemen, Trittsteinbiotopen usw., jedoch nicht dazu, dass der „unzerschnittene störungsarme Landschaftsraum“ einen signifikanten Bedeutungszuwachs im Naturschutz erfuhr. Zur Begründung von Naturschutzzielen im Außenbereich werden Störungsarmut und Unzerschnittenheit von Freiräumen bis heute nur selten genannt. Werden sie überhaupt genannt, dann nicht zur Begründung von Arten- und Biotopschutzzielen, sondern unter den Rubriken „Landschaftsbild/Erholung“ und „Verkehr“ (vgl. Arbeitsgemeinschaft Planungsgruppe Ökologie & Umwelt et al. 1998: 209, 228, 237, 238). Auch in einschlägigen juristischen Veröffentlichungen zum Thema Natur- und Landschaftsschutz sind „Freiraum“, „Störung“ oder „Zerschnei-
5 Freiraum und Freifläche in der Geschichte der räumlichen Planung und des Naturschutzes
101
dung“ im hier genannten Sinne bisher nicht Gegenstand der Erörterung (vgl. z.B. Gassner 1995), auch nicht dort, wo es um die juristische Handhabung der Schutzkategorie „Landschaftsbild“ bzw. der Schutzkriterien „Eigenart“ und „Schönheit“ der Landschaft geht (vgl. z.B. Fischer-Hüftle 1997: 239–244), deren materieller Gehalt häufig der unzerschnittene, störungsarme Landschaftsraum ist. Eine Bedeutung spielt allerdings in der Diskussion über Naturschutzstrategien, -ziele und -kriterien seit Anfang der 1970er Jahre das Kriterium „Raumgröße“. Die Großräumigkeit von Schutzgebieten, der ökosystemare Ansatz und die Strategie des in die Landnutzung integrierten Naturschutzes sind heute weithin anerkannte Leitmotive für den Naturschutz. Dass der Begriff „landschaftlicher Freiraum“ nunmehr in dem neuen Zusammenhang von Störungsarmut und Unzerschnittenheit verwendet wird, ist offenbar erstens und allgemein eine Konsequenz aus der urban-industriellen ‚Landnahme‘ in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, denn gerade dort gibt es (noch) in nennenswertem Umfang großflächige unzerschnittene, störungsarme Landschaftsräume. Zweitens und im Besonderen ist er Folge neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse, in denen ein Zusammenhang zwischen dem Vorkommen und der Verbreitung bestimmter Tierarten und dem Vorhandensein großflächiger unzerschnittener, störungsarmer Landschaftsräume nachgewiesen werden konnte. 5.5 Fazit und Ausblick Die urban-industrielle ‚Landnahme‘ lässt heute dort einen Mangel entstehen und spürbar werden, wo nur wenige ihn vermuten: Mangel an ‚freiem Raum‘ im Außenbereich, in der „freien Landschaft“. Der Schutz, die Pflege und Entwicklung (d.h. partielle Wiederherstellung) freier Räume, d.h. von Besiedelung, Verkehr und intensiver Freizeitnutzung, wenngleich nicht von landwirtschaftlicher (überwiegend agrarindustrieller) Nutzung, weitgehend verschonter Landschaften und Landschaftsteile wird als Notwendigkeit empfunden und dies sogar in peripheren ländlichen Räumen. Möglicherweise hat die geringe Aufmerksamkeit für den Freiraum im unbesiedelten Bereich, für den „landschaftlichen Freiraum“, damit zu tun, dass – wie gezeigt – in der Geschichte des Naturschutzes in Deutschland bzw. der DDR und BRD die weitaus meisten Natur- und Landschaftsschützer einerseits dem Schutz kleinräumiger Landschaftsteile und dem Schutz von Natur- bzw. Flächennaturdenkmalen die längste Zeit eine weitaus größere Bedeutung als der Pflege und Entwicklung großräumiger Kulturlandschaften beigemessen hatten, andererseits sich die Abkehr vom rein ideellen Naturschutz („Ursprünglichkeit“, „heimatliche Natur“ usw.) und die Verwissenschaftlichung der Ausweisungskriterien für Schutzgebiete erst relativ spät durchsetzte. Der großräumige Ansatz ist im Naturschutz heute unbestritten. Der landschaftliche Freiraum als besondere Ressourcenkategorie spielte aber in der Naturschutzgeschichte bisher eine untergeordnete Rolle. Lediglich indirekt, über die Diskussi-
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Hermann Behrens
on zur Größe von Schutzgebieten und über die Störanfälligkeit von Biotoptypen oder Lebensräumen von Arten und Populationen, wurde er quasi mitdiskutiert. Der „landschaftliche Freiraum“ wird bisher vor allem im Zusammenhang mit dem Raumbedarf bestimmter Tierarten diskutiert. Insofern wird der Schutz solcher Räume aus dem Schutz der jeweils durch Zerschneidung oder Störung gefährdeten Tierarten und ihrer Lebensräume abgeleitet. Erfreulich ist, dass die Ressourcenkategorie „unzerschnittener landschaftlicher Freiraum“ Eingang in die „Nachhaltigkeitsstrategie Deutschland“ gefunden hat (Bundesregierung 2002: 197).
6 Großflächige Analysen unzerschnittener Räume in Deutschland – ein Überblick Stephanie Grau 6.1 Struktur und Fragestellung der Recherche Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts zeigten wissenschaftliche Untersuchungen, dass die Verkehrsinfrastruktur und der Verkehr das Erholungspotential (Beck 1956) und die Funktionsfähigkeit von Ökosystemen (Schönamsgruber 1974) beeinträchtigen. Daraufhin wurden sowohl von Seiten der Wissenschaft als auch von Umweltverbänden und staatlichen Verwaltungen Zerschneidungsanalysen durchgeführt, welche die kumulativen Auswirkungen des Verkehrsnetzes und der Verkehrsströme ganzer Regionen bis hin zum gesamten deutschen Staatsgebiet (Lassen 1979) zu erfassen versuchten. Solche großräumigen Zerschneidungsanalysen sind immer auf vereinfachte und indirekte (modellbasierte) „Messungen“ der Landschaftszerschneidung angewiesen. Direkte Maße – wie z.B. tatsächliche Überquerungsraten von Verkehrswegen durch Tiere (Kappler 1997) – stehen derzeit für die großflächige Anwendung nicht zur Verfügung. Um dennoch quantitative Aussagen zur Zerschnittenheit von Bundesländern oder der Bundesrepublik zu erhalten, gibt es eine Vielzahl von Indikatoren, Kennwerten und Messgrößen (z.B. Jaeger 1999). Allgemein lassen sich diese drei Betrachtungsebenen zuordnen (Tabelle 6.1.1), die bei Zerschneidungsanalysen angewandt werden. Tabelle 6.1.1. Betrachtungsebenen bei Zerschneidungsanalysen unter beispielhafter Angabe dazugehöriger Messgrößen Zerschneidungen Unzerschnittene Räume
Zerschneidungsgrad
Betrachtungsebene Trennlinien
Flächen, die von den Trennlinien umgeben sind
Netz der Trennlinien bzw. dessen Zwischenräume
Mögliche Messgrößen (Bsp.)
Flächengröße, Raumqualität
Liniendichte, Maschenweite
Länge, Trennstärke
Im Folgenden stehen Analysen im Vordergrund, die sich mit der landes- und bundesweiten Ermittlung unzerschnittener Räume (UZR) als landschaftliche Freiräume befassen. Methodik der Recherche. Um einen aktuellen Überblick über diesbezügliche abgeschlossene und laufende Untersuchungen zu bekommen, wurde im Oktober
104
Stephanie Grau
1999 eine schriftliche Umfrage bei den Naturschutzfachbehörden der Bundesländer (außer Stadtstaaten) und beim Bundesamt für Naturschutz, beim Umweltbundesamt, beim Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung und der Bundesanstalt für Straßenwesen durchgeführt. Des Weiteren wurden Fachwissenschaftler ausgewählter Forschungseinrichtungen befragt. Die Recherche erfolgte mittels eines tabellarischen Fragebogens und war inhaltlich ähnlich aufgebaut wie die erste, 1996 durchgeführte Umfrage (Grau 1998). Sie umfasste 4 Rubriken: Allgemeine Angaben zu den abgeschlossenen oder in Bearbeitung befindlichen Untersuchungen (Titel, Autor, Anlass und Motiv der Erfassung von UZR) Methodik der Datenerfassung und -verarbeitung (Zeitraum, Untersuchungsgebiet, Datengrundlagen, Software bei digitaler Datenverarbeitung) Bezeichnung und Beschreibung der erfassten UZR (verwendeter Fachbegriff, Mindestgröße und -ausstattung, Abgrenzung) Ergebnisse der Untersuchungen und deren Umsetzung (Anzahl u. Fläche der erfassten UZR, Flächenanteil am Untersuchungsgebiet, Fläche des größten UZR). Von den 32 versandten Fragebögen wurden 25 beantwortet, wobei manche Rückmeldungen Angaben zu mehreren Untersuchungen enthielten, andere waren Fehlmeldungen. Die Umfrage ergab insgesamt 22 verschiedene Zerschneidungserfassungen (Nr. 1 bis 22 ohne 6a in den Tabellen 6.2.1 und 6.3.1), die folgende Auswahlkriterien erfüllten: nicht älter als 15 Jahre, Konzeption für das gesamte Bundes-, Landes- bzw. Bezirksgebiet sowie Anwendung im gesamten Untersuchungs- oder einem Testgebiet. Veränderungen, die sich nachträglich bis zum Oktober 2001 ergaben, wurden berücksichtigt (betrifft die Nr. 6a, 7, 13, 22 in den folgenden Tabellen). 6.2 Angewandte Verfahren Die Zusammenstellung Tabelle 6.2.1 beinhaltet 5 bundesweite Untersuchungen (Nr. 1 bis 5) sowie 18 auf einzelne Länder oder doch wenigstens größere Gebiete innerhalb der Länder bezogene (Nr. 6/6a bis 22). Von den bundesweiten Untersuchungen stellt die Erfassung der BfANL von Lassen (1987) eine exakte Wiederholung der 1977 erstmalig erfolgten Studie dar (Lassen 1979). Mit den drei jüngsten Bundesstudien (Nr. 3 bis 5) wurde die bis Ende der 1990er Jahre ausstehende gesamtdeutsche Übersicht zu den UZR endlich erbracht. Weiterhin existieren zwei ältere bundesweite Untersuchungen, in denen jedoch nur die Unzerschnittenheit der Waldflächen analysiert wurde (Fritz 1984; Heiss 1992).
6 Großflächige Analysen unzerschnittener Räume in Deutschland – ein Überblick
105
Tabelle 6.2.1. Übersicht zu aktuellen Untersuchungen zur Erfassung unzerschnittener Räume auf Bundes- und Landesebene (Deutschland, seit ca. 1985, Stand 2001) Nr.
Untersuchungsgebiet
Abschluss (geplant)
Bearbeiter/Autoren (s. Literaturverzeichnis)
Datengrundlagen für Untersuchung
1
BRD (ABL)
1987
Lassen (1987)
Internationale Weltkarte (1982) LANIS (1987) u.a.
2
BRD
1995
Dosch et al. (1995)
TÜK 500 und eigene Daten
3
BRD (ohne SL, HB, HH, BE)
1999
BfN (1999), Gawlak (2001)
TÜK 200, VMK (Stand 1995)
4
BRD
2000
BBR (2000)
eigene Daten (1998)
5
BRD
2000
IfL (2000)
ATKIS DLM 1000, CORINEDaten, BKG-Verkehrsdaten 1998
6
BW
1999
ILÖ u. IERE (1999)
Straßenverkehrszählung (1990), Netzknoten klassif. Straßen
6a
BW
2000
Jaeger et al. (2001)
ATKIS DLM (1998), RIPS
7
BY
1997
Bay.LfU (1997), Georgii (2000)
VMK 200 (1995), statistische Angaben
8
BB
1994
MUNR (1998)
VMK (Belegungsklassen Kfz und Eisenbahn, 1993/94)
9
MV
1992
Waterstraat et al. (1996)
VKM 250 (1992)
10
MV
1992, 1996
MUMV (1992), Waterstraat et al. (1996)
TK 10 (AV)
11
MV und Ostholstein
1996, 1999
Billwitz et al. (1996), Hoffmann S. (1999)
TK 50 (AS), Straßenverkehrszählung (1995)
12
MV
1999
Hoffmann T. (1999), Erdmann (1999)
TK 50 (AS), Straßenverkehrszählung (1995) u.a.
13
NW
2000
Baumann u. Hinterlang (2001)
ATKIS DLM, TK
14
RP
1998
Job (2000)
Straßenverkehrsnetzkarte 200 und -zählung (1995)
15
RP*
1999
LfUG RP (1999)
TK und eigene Erhebungen
16
SL
1999
LAU SL (1999)
TK 50
17
Bezirk Dresden
ca. 1988
Bastian (o.J.)
TK
18
SN
1999
Walz u. Schumacher (1999)
ATKIS DLM, CORINE-Daten, BKG-Daten Verkehr (1998)
19
SN
2000
LfUG SN (1999)
BNTK (Stand 1992/93)
20
ST
1996
FH Anhalt (1996)
TÜK, VMK (1993)
21
ST (Landkreis Wernigerode)
1997
Grau (1997)
BNTK (1992/93), TK 25, VMK (1995) u.a.
22 TH 1993 (2002) Hiekel u. Mitarb. (1994) Camping-Karte 300 u.a. * nur Wildkatzenlebensraum, ABL alte Bundesländer, ATKIS Amtliches Topographisch-Kartographisches Informationssystem, BB Brandenburg, BE Berlin, BKG Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, BNTK Biotop- und Nutzungstypenkarte, BW Baden-Württemberg, BY Bayern, DLM Digitales Landschaftsmodell, HB Bremen, HH Hamburg, LANIS Landschaftsinformationssystem, MV Mecklenburg-Vorpommern, NW Nordrhein-Westfalen, RIPS Räumliches Informations- und Planungssystem, RP Rheinland-Pfalz, SL Saarland, SN Sachsen, ST Sachsen-Anhalt, TH Thüringen, TK (AS) Topographische Karte (Ausgabe Staatsorgane), TK (AV) Topographische Karte (Ausgabe Volkswirtschaft), TÜK Topographische Übersichtskarte, VMK Verkehrsmengenkarte
106
Stephanie Grau
Die Bundesländer begannen erst in den 1990er Jahren flächendeckende Analysen zu konzipieren und vorzunehmen, wobei die dünn besiedelten Länder Mecklenburg-Vorpommern (MUMV 1992) und Brandenburg (MUNR 1998) eine gewisse „Vorreiterrolle“ einnahmen. Nur die Untersuchung im ehemaligen Bezirk Dresden (Nr. 17) stammt aus den 1980er Jahren. Allerdings gab es auch in den alten Bundesländern vergleichbare regionale Erfassungen der UZR (z.B. in Regierungsbezirken) aus der Zeit vor 1990. Bisher liegen für 10 der 13 Flächenstaaten landesweite Untersuchungen vor. In den Ländern Hessen und Schleswig-Holstein sind – laut Angaben der befragten Behörden – keine neueren landesweiten UZRUntersuchungen durchgeführt worden. Für Schleswig-Holstein liegt allerdings eine ältere Studie vor (Knauer u. Wolter 1980). Niedersachsen hat keine eigenständigen Untersuchungen vorgenommen, jedoch die Erfassung von der BfANL (Lassen 1987) und vom BfN (1999) auf Landesebene ausgewertet (Schupp 1991, 2001). Auch Baden-Württemberg übernahm die 1987er Analyse der BfaNL, konnte jedoch bereits zu dieser Zeit auf mehrere eigene Studien verweisen (u.a. Eichhorst u. German 1974; Reichelt 1979; später: Jaeger 1999; Stauch 2000). In mehreren Bundesländern liegen weitere regionale oder artbezogene UZR-Studien vor (z.B. LfUG RP 1995; MUF 1998). 6.3 Methodenwahl Schon der Blick auf die jeweils verwendeten Datengrundlagen (Tabelle 6.2.1 letzte Spalte) lässt vermuten, dass die Methoden zur Erfassung der UZR Unterschiede aufweisen. Wie unterschiedlich die angewendeten Methoden und wie unvergleichbar deshalb auch die Ergebnisse (s. Kap. 6.4) sind, wird schon bei der Frage nach der Definition eines UZR deutlich. Wichtigste Definitionskriterien für einen UZR sind seine Mindestflächengröße, seine Mindestausstattung sowie seine Abgrenzung, also die flächigen oder linienhaften Zerschneidungen (Tabelle 6.3.1). Bei den Untersuchungen, bei denen eine Mindestflächengröße für UZR festgesetzt wurde, dominiert der Wert von 100 km2. Dieser Mindestwert ist von Lassen (1979) für die damalige Bundesrepublik eingeführt worden und ergibt sich aus der Fläche, die für eine Tageswanderung in der Regel benötigt wird, ohne Hauptverkehrswege überqueren zu müssen oder in deren Störungszonen zu kommen. Generell muss die Mindestflächengröße jedoch immer in Abhängigkeit von den berücksichtigten Zerschneidungen beurteilt werden. Werden zur Abgrenzung der UZR nur Hauptverkehrswege berücksichtigt, ist der Wert von 100 km2 sicherlich ein sinnvolles Mindestmaß. In dünn besiedelten Bundesländern – wie z.B. Mecklenburg-Vorpommern – ergibt sich nach dieser Abgrenzung, dass fast die gesamte Landesfläche von UZR eingenommen wird (vgl. Nr. 9). In dicht besiedelten Ländern kann es dagegen vorkommen, dass kaum ein UZR mehr als 100 km2 Flächengröße erreicht (vgl. Nr. 22, 13). Deshalb ist die pauschale Festlegung einer UZR-Mindestgröße für die landesweiten Erfassungen nicht angebracht. Methodische Vereinheitlichungen für bundes- und landesweite Erfassungen wären jedoch hinsichtlich der zu berücksichtigenden Zerschneidungen sinnvoll.
6 Großflächige Analysen unzerschnittener Räume in Deutschland – ein Überblick
107
Im Vergleich zeigt sich, dass alle Untersuchungen zumindest Bundesfernstraßen (Autobahnen, Bundesstraßen) als Abgrenzungen für UZR angeben und die meisten auch (Haupt-)Bahnlinien und häufig befahrene Kreisstraßen (> 1000 Kfz/d). Enger gefasste Abgrenzungskriterien verwenden nur die Studien Nr. 6a, 11, 12, 13 und 21. Bei diesen werden u.a. auch Wege, Freileitungstrassen, Kanäle, aber auch naturnahe Elemente wie Hecken oder Gewässer einbezogen. Eine quantitative Wichtung hinsichtlich der Barrierestärke der Zerschneidungen (nach Abiotik und Nutzungsintensität) wird bei den sehr differenzierten Analysen von Hoffmann S (1999) und Grau (1997) vorgenommen. In mehreren Untersuchungen werden gewichtete Störzonen um die Zerschneidungen berücksichtigt (z.B. Nr. 10, 21). Tabelle 6.3.1. Definitionskriterien zur Erfassung unzerschnittener Räume auf Bundes- und Landesebene (Deutschland, seit ca. 1985, Stand 2001) und ausgewählte Ergebnisse Nr.
Mindestgröße eines UZR
Mindestausstattung
Abgrenzung/ Zerschneidungselemente (ZE)
Anteil der UZR am UG / Fläche des größten UZR
1
100 km2
keine
Straßen außerhalb von Orten mit > 1000 Kfz/d, Bahnlinien, die nicht in einem UZR enden
18,5 % / o.A.
2
100 km2 750 km2
keine
Bundesverkehrswege, inklusive Wasserstraßen
85,1 % / > 1000 km2 17,8 % / o.A.
3
100 km2
Gewässeranteil < 50%
B-, L- und K-Straßen mit > 1000 Kfz/d, ein- und mehrgleisige Bahnlinien
22,4 % / 587 km2
4
100 km2 (erfasst ab 250 ha)
keine
Straßen-, Schienen-, Strom- und Bundeswasserstraßennetz
o.A. / 578 km2
5
50 km2 und 100 km2
keine
B- und L-Straßen, ICE-, EC-/ICund IR-Strecken, Siedlungen > 5 km2
49,7 % / 731 km2 22,5 % / 731 km2
6
100 km2 (ab 4 bis > 100 km2)
keine
B-, L- und K-Straßen mit > 1 000 Kfz/d,
o.A.
6a
keine (ab 100 m2 , in 13 Größenklassen und 2 Kategorien)
keine
1: B-, L-, K-Straßen, Bahnlinien, Fließgewässer breiter 3m, Seen, Siedlungen 2: wie 1 plus Gemeindeverbindungsstraßen
1: 3,1% / 163,8 km2 2: 2,1% / 146,6 km2 (fürUZR>100km2)
7
100 km2 (< 50 bis > 200 km2)
keine
alle Straßen mit > 1 000 Kfz/d, mehrgleisige Bahnlinien
18,4 % / 352 km2
8
100 km2 (2 Kategorien)
keine
1: klassifizierte Straßen, Bahnlio.A. nien > 10 Züge/d (1 + 2: ca. 70 %) 2: B-Straßen und sonstige Straßen mit > 2 500 Kfz/d, Bahnlinien > 10 Züge/d
9
100 km2
keine
siehe Nr. 1
78,2 % / ca. 700 km2
geringer SVfl.anteil
Bundesfernstraßen und Haupteisenbahnlinien
rasterbezogene Angaben
10
2
80 bis 100 km
108
Stephanie Grau
Tabelle 6.3.1. (Fortsetzung) Nr.
Mindestgröße eines UZR
Mindestausstattung
11
keine (ab 5 ha)
außerhalb von befestigte Straßen, Wege, BahnliStörzonen der nien, Stromleitungen, Dämme, ZE Deiche, Hecken Siedlungen, Windparks u.a. (gewichtet)
68 % / ca. 65 km2
12
keine
keine
siehe Nr. 11
o.A.
13
1 bis 100 km2 (5Größenklassen)
keine Nutzungstypen mit zerschneidender Wirkung
klassifizierte Straßen, schiffbare Kanäle, Bahnlinien, Bebauung, Deponien, Flughäfen u.a.
0,3% / 113,6 km2 (fürUZR>100km2) 3% / o.A. (fürUZR50-–100km2)
14
100 km2 (10 km2 in VR)
keine
B-, L- und K-Straßen mit > 1 000 Kfz/d, geschlossene Orte
6 % / 190,9 km2
15
o.A.
Wildkatzenhabitat
> zweispurige Bundesstraßen, Siedlungen
18,4 % / 1443 km2
16
keine
außerhalb von B-, L- und K- und sonstige StraStörzonen der ßen, Wege, Haupt- und NebenbahZE nen
o.A.
17
50 km2
keine
Autobahnen, Fernstraßen, Hauptbahnen
o.A. / ca. 180 km2
18
50 km2
keine
B- und L-Straßen mit > 1 000 Kfz/d, ICE-, EC-/IC- und IRStrecken, Siedlungen > 2,5 km2
46,3 % / 314 km2
19
50 km2 bzw. 100 km2
keine
B-Straßen, Fernbahnen
o.A.
20
50 km2 und 100 km2
keine
B-, L- und K-Straßen mit hohem Verkehrsaufkommen, Bahnlinien, Siedlungen
29,7 % / 1042 km2 19,6 % / 1042 km2
21
keine (jeweils außerhalb der die größten des Störzonen der Landkreises in 3 ZE Kategorien)
1: alle Straßen und Bahnlinien 2: wie 1 plus befestigte Wege 3: wie 2 plus unbefestigte Wege
1: o.A. 2: o.A. 3: o.A. / 12 km2
22
50 km2
B-Straßen, Bahnlinien mit Schnell- ca. 15 % / ca. 130 km2 verkehr
keine
Abgrenzung/ Zerschneidungselemente (ZE)
Anteil der UZR am UG / Fläche des größten UZR
o.A. ohne Angaben, B-Straßen Bundesstraßen, K-Straßen Kreisstraßen, L-Straßen Landesstraßen/Staatsstraßen, SVfl. Siedlungs- und Verkehrsfläche, UG Untersuchungsgebiet, VR Verdichtungsraum
Bestimmungen zur Mindestausstattung eines UZR legen die Untersuchungen Nr. 10, 11, 13, 16, 21 (Störungsarmut) und 15 (Habitateignung) fest. Solche spezifischen Vorgaben für UZR werden vor allem bei Untersuchungen gemacht, deren Motiv nicht in erster Linie die Sicherung von weitflächigen und ruhigen Erholungsgebieten ist (UZR der 1. Generation, Haßlacher 1992), sondern eher der Schutz großflächiger Lebensräume für störungsempfindliche Tierarten (UZR der 2. Generation: Nr. 10, 11, 12, 15, teilweise auch 6a, 7, 8, 21, 22).
6 Großflächige Analysen unzerschnittener Räume in Deutschland – ein Überblick
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In jüngster Zeit wurden die klassischen Analysemethoden weiterentwickelt, um deren Schwachpunkte auszuschalten und gleichzeitig weitere Aspekte wie die Zersiedlung und/oder technogene Störreize einzubeziehen. So werten die Analysen Nr. 10 und Nr. 12 die Dichte von bebauten Flächen und Einrichtungen der technischen Infrastruktur aus, erstere sehr einfach über den Flächenanteil, letztere nach einem mehr diffizilen Wichtungs- und Auswertungsverfahren, letztlich zu einem Potentialmodell führend (im Kap. 12 als Rasteranalyse beschrieben). Kappler (1996) sowie Lienhard (1998) entwickelten zwei verschiedene integrative Ansätze, mit denen der tierartenbezogene Raumwiderstand bzw. die Raumdurchlässigkeit von Landschaften berechnet werden können. Jaeger (1999) führte das umfassend geeignete Maß der effektiven Maschenweite ein (Nr. 6a). Eine eingehende Vorstellung und Diskussion derzeitiger Methoden zur Analyse und Bewertung der Freiraumstruktur erfolgt in Kap. 12. 6.4 Ergebnisvergleich Der in der letzten Spalte der Tabelle 6.3.1. angegebene Wert für den Flächenanteil aller erfassten UZR am Untersuchungsgebiet lässt räumliche Vergleiche zur Zerschnittenheit der einzelnen Länder zu, sofern die UZR nach der gleichen Methode ermittelt wurden. Dies ist nur innerhalb der einzelnen bundesweiten Erfassungen gegeben. Nach der jüngsten Analyse des Bundesamtes für Naturschutz (BfN1999) erreicht dieser Wert in Mecklenburg-Vorpommern 53,7 % (Maximum) und in Nordrhein-Westfalen gerade 3,3 % (Minimum). Die landesbezogen erfassten Flächenanteile für UZR > 100 km2, die zwischen 0,3 und 78 % (Nr. 13 und 9) liegen, sind aus methodischen Gründen nicht vergleichbar. Gleiches gilt für die absolute Fläche des größten erfassten UZR. Verallgemeinernd gilt: Je strenger die Definitionskriterien für die UZR, desto geringer die erzielte absolute Fläche des größten UZR und desto größer der Anteil aller UZR am Untersuchungsgebiet. 6.5 Umsetzung der Ergebnisse Welche „politische Relevanz“ den wie auch immer erfassten UZR beigemessen wird, ist jeweils recht unterschiedlich. Die ersten UZR-Erfassungen trugen zunächst lediglich informativen Charakter (Monitoring, Status-quo-Analysen). Etliche Landesnaturschutzbehörden verankerten die landesweit bedeutsamen UZR als Vorsorge- oder Vorranggebiete (z.B. Nr. 6, 7, 8, 10, 11, 22) in ihren Landschaftsprogrammen. In Mecklenburg-Vorpommern wird ihnen eine Abwägungsrelevanz bei Umweltverträglichkeitsprüfungen oder der Eingriffsregelung zugesprochen (Nr. 10, 11). Den artbezogenen UZR-Feststellungen in Rheinland-Pfalz wurde teilweise sogar ein Schutzgebietsstatus zuerkannt. Ebenso dienen UZR-Erfassun-
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Stephanie Grau
gen als Grundlage für Schutz- bzw. Hilfsprojekte für gefährdete Arten (ausführlich dazu Kap. 14, s. auch Kap. 13, 15 bis 18). In zunehmendem Maße werden UZR als Schutzgut in Fachplänen berücksichtigt, so z.B. die bundesweit bedeutsamen UZR Deutschlands des BfN (1999) und des BBR (2000) innerhalb der Umweltrisikoeinschätzung für bestimmte Projekte des neuen Bundesverkehrswegeplanes (Günnewig u. Hoppenstedt 2001). Die bisherige geringe Planungsrelevanz und politische Wahrnehmung ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass begründbare Schwellenwerte für eine maximal verträgliche Zerschnittenheit von Freiraum-Landschaften (Mindestanforderungen an UZR, Mindestdurchlässigkeiten von Zerschneidungen etc.) nur für einzelne Arten bzw. Gebiete vorliegen. Diese sind Voraussetzung für standfeste Richt- oder Grenzwerte in gesetzlichen und außergesetzlichen Reglungen (s. Kap. 13 bis 18; Jaeger 2001). Ebenso würde die Einigung auf ein standardisierbares Erfassungs- und Bewertungsmethodenspektrum, das sowohl die anlagen- als auch die betriebsbedingten Zerschneidungswirkungen (Barriere-, Emissions- und Kollisionseffekte) berücksichtigt, die Chancen für den Schutz unzerschnittener Räume wesentlich verbessern.
II Freiraumzerschneidung und Störung – die ökologischen Wirkungen auf Tiere
7 Zoologisch-ökologische Grundlagen und allgemeine Wirkungen von Zerschneidung und Störung 7.1 Raum-Zeit-Systeme von Tieren Mechthild Roth, Joachim Ulbricht Die Verfügbarkeit von Raumgrößen und Raumstrukturen gehört zu den primären Determinanten von Populationen und Lebensgemeinschaften (Wiens 1976; Krebs 2001). Natürliche oder anthropogene Veränderungen der Ressource „Raum“ spiegeln sich letztendlich in strukturellen Parametern von Biozönosen wider, die von Verschiebungen der Arten-Individuen-Relationen bis zum Artenverlust reichen, mit potenziellen Konsequenzen für das ökosystemare Wirkungsgefüge (Saunders et al. 1991; Naeem et al. 1994; Mooney et al. 1996; Tilman et al. 1996; Turner 1996; Setälä et al. 1998). Zwei Eigenschaften sind es, die Tiere im Vergleich zu anderen Organismen hinsichtlich ihrer Sensibilität gegenüber der Ressource „Raum“ besonders auszeichnen: die Fähigkeit zur aktiven Ortsveränderung (Mobilität) und die Abhängigkeit von organischen Energiequellen (Heterotrophie). Beide Merkmale führten im Lauf der Evolution bei vielen Tierarten zu einer räumlichen und zeitlichen Diversifikation der ökologischen Funktionalität von Raumgrößen und Raumstrukturen. Der Umgang mit der Ressource „Raum“ manifestierte sich entsprechend in einem breiten Spektrum unterschiedlicher Lebensformtypen von sessilen bzw. standortstreuen Species bis zu Arten mit hohem Flächenbedarf und/oder obligater Mehrfachhabitatbindung. Letztere sind in ihrem Vorkommen auf die oft direkte räumliche Integration verschiedener Biotoptypen angewiesen. Beispiele für die unterschiedliche Relevanz von Raumdimensionen und Raumqualitäten finden sich bei zahlreichen systematischen Gruppen des Tierreichs. Offensichtlich werden die komplexen Ansprüche an den Raum etwa bei semiaquatischen Arten wie dem Fischotter (Heidemann u. Riecken 1988), bei zahlreichen Amphibien (Hofrichter 1998) oder Insekten mit wasserlebenden Entwicklungsstadien, deren Imagines zur Nahrungsaufnahme oder Reproduktion Landlebensräume aufsuchen müssen (Odonata: Bellmann 1987; Simuliidae, Culicidae: Jacobs u. Renner 1974). Aber auch innerhalb aquatischer und terrestrischer Lebensräume kommen Arten mit obligatem Biotopwechsel während oder zwischen spezifischen Entwicklungsphasen vor. Dazu gehören anadrome und katadrome Fische und Neunaugen, wie Lachs, Aal, Fluß- und Meerneunauge, verschiedene Vögel (z.B. Schwarzstorch, Neuntöter, Auerhuhn: Riecken 1992; Flade 1994; Scherzinger 1996) und Fledermäuse (z.B. Kleine Hufeisennase: Blab
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Scherzinger 1996) und Fledermäuse (z.B. Kleine Hufeisennase: Blab 1980) sowie zahlreiche Insekten mit bodenlebenden bzw. endobiotischen Entwicklungsstadien, deren Imagines sich von Blütenpollen ernähren (z.B. Maikäfer, Bockkäfer, Tagfalter, parasitische Hautflügler, Schwebfliegen: Jacobs u. Renner 1974; Jervis et al. 1993; Blab 1994). Aufgrund ihrer differenzierten Biotopbindung finden viele dieser Arten als integrale Indikatoren für räumlich-funktionale Beziehungen auf Landschaftsebene Eingang in die Naturschutzplanung (Riecken 1992; Flade 1994). Generell spiegelt sich auch im Raum-Zeit-System von Individuen und Gruppen die Kongruenz zwischen den artspezifischen Lebensansprüchen der Tiere und dem Raum-Zeit-Muster (a)biotischer Umweltfaktoren wider (Brown et al. 1995; Begon et al. 1996; Riecken 2000). Im wesentlichen lassen sich drei Komplexe von Steuergrößen differenzieren, die in interaktiven Prozessen zwischen den hierarchischen Ebenen „Individuum“, „Population“ und „Biozönose“ Habitatwahl und Aktionsraumgrößen bestimmen: im Lauf der Evolution erworbene morphologische Merkmale, physiologische Eigenschaften, ökologische Charakteristika sowie angeborene oder erlernte Verhaltensmuster des Individuums (artspezifische Steuergrößen), raum-zeitliche Valenz von Umweltfaktoren und Verfügbarkeit von Ressourcen (umweltspezifische Steuergrößen), intra- und interspezfische Konkurrenz. Umgekehrt resultiert die Qualität eines Habitats aus dem Zusammenspiel der o.g. Steuergrößen. Habitate können, je nachdem, in welchem Maße sie die Ansprüche einer Tierart erfüllen, in optimale, suboptimale und pessimale Habitate eingeteilt werden. Die Grenzen zwischen diesen Kategorien sind fließend. So wird die Eignung eines Habitats zwar im wesentlichen vom Vorhandensein bestimmter Ressourcen und Requisiten bestimmt, sie verringert sich aber mit zunehmender Besiedlungsdichte und daraus resultierender intraspezifischer Konkurrenz (s. Kap. 7.1.3). Die Qualität eines Habitats kommt letztlich in der Fitness seiner Bewohner, gemessen am Fortpflanzungserfolg zum Ausdruck. 7.1.1 Artspezifische Steuergrößen des Raum-Zeit-Systems Zu den artspezifischen Steuergrößen des Raum-Zeit-Systems, die sich partiell wechselseitig beeinflussen, zählen beispielsweise Körpergröße, physiologischer Zustand (z.B. Alter/Lebensphase), Geschlecht, Mobilität, trophische Einnischung, Fortpflanzungsverhalten, Reproduktionsstrategien, Sozialstruktur und individuelle Erfahrungen (Lernvorgänge). Körpergröße. So gilt in der Regel, dass aufgrund des abnehmenden physischen Raumbedarfs (Schwerdtfeger 1978) und des Stoffwechselumsatzes (McNab 1986) die Anforderungen an Flächendimensionen vergleichbarer systematischer und funktionaler Artenkreise (z.B. Carnivora) mit der Verringerung der Körpergröße sinken. Selbst innerhalb einer Species ist die individuelle Körpergröße eine wich-
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tige Determinante der Raumnutzung. Signifikante Korrelationen zwischen Körper- und Home-Range-Größe sind beispielsweise für Fähen des amerikanischen Marders, Mustela americana (Buskirk u. McDonald 1989) und Iltisrüden, Mustela putoris (Lodé 1993) dokumentiert. Altersstufe. Finck (1993) stellte in Untersuchungen am Steinkauz (Athene noctua) eine Abhängigkeit der Territoriengröße vom Alter der Tiere fest. Wie für viele Vögel typisch, ändert der Mittelspecht Dendrocopos medius sein Raum-ZeitMuster während der Reproduktionsphase, indem er zur Territorialität übergeht (Pasinelli et al. 1999). Diese Verhaltensänderung geht einher mit einer Verkleinerung der Home-Ranges. Partnerlose Weibchen des Mittelspechtes beflogen nach der selben Studie im nordostschweizerischen Mittelland vielfach größere Aktionsräume einschließlich suboptimaler Habitate als ihre brütenden Geschlechtsgenossinnen. In vielen Fällen sind Brutreviere von Vögeln jedoch größer als für den Energiebedarf einzelner Individuen nötig, da sie auch zusätzliche Nahrung für Eibildung und Nestlingsaufzucht bereitstellen müssen (Bezzel u. Prinzinger 1990). Geschlecht. Obwohl – wie z.B. Untersuchungen am Rotfuchs (Cavallini u. Lovari 1994; Lovari et al. 1994; Poulle et al. 1994) oder Mittelspecht (Pasinelli 1999) belegen – verallgemeinernde Aussagen nicht möglich sind, treten geschlechtsspezifische Unterschiede im Raumbedarf bei zahlreichen (territorialen) Säugern auf (Gerell 1970; Pulliainen 1984; Storch 1988; Marchesi 1989; Wauters u. Dhondt 1992; Walliser u. Roth 1997; Schröpfer et al. 1998). Nach Stier (1998) nutzen beispielsweise Rüden von Martes martes in der Mecklenburger Kulturlandschaft mit 227 ha deutlich größere Streifgebiete als Fähen (152 ha). In mediterranen Ökosystemen erreichte die Ausdehnung der Rüdenaktionsräume sogar den 15fachen Wert der Territorien von Baummarderfähen (Clevenger 1993). Erklärt werden die geschlechtsspezifischen Differenzen im Flächenanspruch mit der im Vergleich zu Rüden geringeren Körpermasse von Fähen und entsprechenden Abweichungen im Nahrungsbedarf (Pulliainen 1984; Storch 1988) bzw. mit unterschiedlichen Verhaltensstrategien. Während sich Fähen ernährungsorientiert verhalten, sind Rüden auf Reproduktionsmaximierung aus, indem sie möglichst viele Fähenaktionsräume umschließen (Clevenger 1993; Cavallini 1996). Trophiestufe. Die Beziehungen zwischen Flächenanspruch und Trophiestufe gründen zum einen auf den Gesetzen des Energieflusses in Ökosystemen, zum anderen auf der mit steigendem trophischen Niveau einhergehenden Größenzunahme der Individuen innerhalb eines Verwandtschaftskreises von Arten (Begon et al. 1996). Durch die Abnahme konsumierbarer Energieäquivalente pro Flächeneinheit mit zunehmender Trophiestufe (Remmert 1992) und den mit dem Größenanstieg verbundenen höheren Energiebedarf (Krebs u. Davis 1996) besitzen (Top-)Carnivore in der Regel größere Aktionsräume als Tiere niederrangigerer Nahrungsniveaus. Dies gilt besonders für endotherme Tiere (Vögel, Säuger), die durch den hohen Energieverbrauch der Wärmeregulation einen vergleichsweise ungünstigen Assimilations-Produktions-Quotienten aufweisen (Bick 1993). Zudem benötigen innerhalb eines trophischen Niveaus Nahrungsspezialisten größere Fouragiergebiete als Nahrungsgeneralisten (Krebs u. Nicholas 1996). Eine weitere
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Steuergröße des Raum-Zeit-Systems in Zusammenhang mit dem Nahrungserwerb ist bei Carnivoren die Art des Beuteerwerbs (z.B. Einzeljagd: Fuchs, Macdonald 1993; Dachs, Neal u. Cheeseman 1996; Gruppenjagd: Marderhund, Drygala et al. 2000), bei Herbivoren die Ernährungsstrategie. Beispielhaft sei auf den Schneehasen verwiesen. Lepus timidus ernährt sich während der Sommermonate von Kräutern und Gräsern, im Winter dienen Zweige, Knospen und Rinden, insbesonders von Weichhölzern als Futter. Dieser Wechsel in den Futterpflanzen spiegelt sich auch in der saisonalen Habitatwahl wider (Hulbert et al. 1996). Sozialverhalten. Macdonald u. Kruuk (1985) entwickelten bei Raubsäugern ein Modell, das den Einfluss des Sozial- und Territorialverhaltens auf die Raumnutzung verdeutlicht (s.a. Macdonald 1983). Danach lassen sich territoriale Carnivora zwei Gruppen unterschiedlicher Raumnutzungsstrategie zuordnen: „Contractors („Obstinators“ im Sinne von v. Schantz 1984) wie Dachs und Fuchs (Meia u. Weber 1995) besetzen und verteidigen zur Sicherung ihrer Lebensgrundlagen stets ein zeitlich stabiles Minimalterritorium, dessen Größe von Zeiten geringer Nahrungsverfügbarkeit bestimmt wird. In Phasen des Nahrungsüberschusses teilen sie es mit Artgenossen durch Erhöhung der Gruppengröße ihrer Sozialverbände. Die Territoriengröße bleibt auch dann konstant, wenn angrenzende Reviere unbesetzt sind. „Empires“ belaufen stets das größte gegen Konkurrenten verteidigbare Territorium. Beispiele hierfür sind der Coyote (Canis latrans) und der Wolf (Canis lupus). Soziale Aspekte spielen bei einer Reihe von Arten auch bei der Wahl des Fortpflanzungsortes eine Rolle. So erfüllt zum Beispiel das Zusammenleben in Gruppen oder Kolonien gewisse Schutzansprüche und kann zudem von Vorteil bei der Nahrungssuche sein. Zudem liefert die Anwesenheit von Artgenossen einen Anhaltspunkt für die Eignung eines (Brut-)Habitats. Individuelle Erfahrungen. Gerade bei der Wahl des Bruthabitates wird die Relevanz individueller Erfahrungen und Lernvorgänge offensichtlich. Der Ansiedlung eines Tieres an einem Brutplatz geht i.d.R. die Suche nach einem geeigneten Habitat voraus. Bei Erstansiedlern kann hierbei die Kenntnis des Habitats, in dem sie geboren wurden, von Nutzen sein. Ortskenntnisse ermöglichen z.B. eine effiziente Nutzung von Nahrungsressourcen oder die erfolgreiche Verteidigung gegen Feinde mit positiven Konsequenzen für die Fitness. Arten mit einem höheren Fortpflanzungsalter haben unter Umständen einige Jahre Zeit, um entsprechende Erfahrungen zu sammeln. Bei adulten Tieren spielen bei der Entscheidung, ob sie an einem Ort verbleiben bzw. zu diesem zurückkehren oder ob sie sich an einem neuen Platz ansiedeln, wahrscheinlich auch die Erfahrungen aus zurückliegenden Fortpflanzungsperioden eine Rolle. In diesem Zusammenhang kommt dem Bruterfolg eine gewisse Bedeutung zu. Bei einigen Vogelarten wurde festgestellt, daß Individuen ohne Bruterfolg stärker zum Brutortswechsel tendierten (z.B. Harvey et al. 1979; Newton u. Marquiss 1982; Dow u. Fredga 1983; Sonerud et al. 1988; Jakober u. Stauber 1989; Fedorov 2000). Daß es sich dabei überwiegend um weibliche Tiere handelte, hängt möglicherweise mit den Mechanismen der Revierwahl und Verpaarung zusammen.
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7.1.2 Umweltspezifische Steuergrößen des Raum-Zeit-Systems Klimafaktoren. Abgesehen von der limitierenden Wirkung auf das Verbreitungsareal von Arten beeinflusst die räumlich-zeitliche Ausprägung von Klimafaktoren direkt (oder indirekt, z.B. über die Steuerung der Nahrungsverfügbarkeit, Lucherini et al. 1995: Vulpes vulpes) die Raumnutzung von Tieren. Offenkundig werden die Wechselbeziehungen zwischen Klimaparametern und Aktionsraumgrößen in Regionen mit ausgeprägten Jahreszeiten. So konstatieren mehrere Autoren eine Verkleinerung der Aktionsräume in den Wintermonaten bei verschiedenen (territorialen) Säugern (Gerell 1970; Schröpfer et al. 1989; Walliser u. Roth 1997; Stier 1998; Abb. 7.1.2.1). Besonders gut dokumentiert sind saisonale Einflüsse auf die Home-Range-Größen bei der größten einheimischen Wildart, dem Rothirsch (Cervus elaphus) in alpinen Regionen (Georgii 1980; Schmidt u. Gossow 1991; Koubek u. Hrabe 1996). Die regelmäßige Verkleinerung der Einstandsgebiete in den Wintermonaten, die gleichzeitig mit einer Verlagerung der Aktivität in tiefere Lagen verbunden ist, wird von morphologischen Veränderungen des MagenDarmtraktes und einer Reduktion der Stoffwechselintensität begleitet (Schloeth 1988). Gesteuert wird die Veränderung der Aktionsraumgröße von der Höhe der Schneedecke (Koubek u. Hrabe 1996). Dass in diesem Zusammenhang durch Überlagerung verschiedener Faktoren unterschiedliche Ergebnisse resultieren können, wird beim Baummarder deutlich. Nach Untersuchungen von Stier (1996) und Schröpfer et al. (1989) verkleinern Baummarder in Mitteleuropa ihre Aktionsräume im Winter. Umgekehrte Verhältnisse fand Storch (1988) in Skandinavien. Aufgrund der mit der hohen Schneelage verbundenen Verschlechterung der Nahrungsverfügbarkeit muss Martes martes zur Sicherung des Energiebedarfs in Nordeuropa größere Streifgebiete belaufen. Habitatstrukturen. Verschiedene Autoren betonen die Bedeutung struktureller Habitatparameter für die Raumnutzung von Tierarten. So ist für viele Arthropoden (Araneae: Dumpert u. Platen 1985; Riecken 2000; Coleoptera: Thiele 1977; Geiser 1981) weniger die Artenzusammensetzung der Vegetationsschicht als die damit korrelierte Ausprägung von Raumstrukturen und Mikrohabitaten entscheidend für die Raumnutzung. Ähnliche Beziehungen gelten für viele Vogelarten (Scherzinger 1996). Ihre stringente Bindung an Raumstrukturen hat als Instrument der ökologischen Bewertung von Landschaften (Leitartenmodell: Flade 1994) bereits Einzug in die Planungspraxis gefunden (Riecken u. Blab 1989). Die für Indikatorvogelarten existenziellen Strukturparameter reichen dabei vom Schlußgrad der Kronenstruktur natürlicher Wälder (z.B. Strix occidentalis: Gutierrez 1985; Strix rufipes: Martinez u. Jaksic 1996;) bis zur Lückigkeit der Vegetationsschicht von Offenlandökosystemen einschließlich landwirtschaftlicher Nutzflächen (z.B. Otis tarda: Kaule 1985; Litzbarski et al. 1987). Nach der „structural cues hypothesis“ (Smith u. Shugart 1987) bestimmen Strukturmerkmale des Habitates darüber hinaus die Reviergrössen vieler Vögel. Neben dem Angebot an Wohnraum bzw. Brutplätzen korrelieren diese Schlüsselmerkmale meist mit der Verfügbarkeit an Nahrung (s.a. Renken u. Wiggers 1989; Pasinelli 1999). Ähnliche Beziehungen sind auch für Säugerarten dokumentiert (Davies 1991). Untersuchungen von Don-
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caster u. Woodroffe (1993) belegen die Relevanz der Verfügbarkeit von Bauhabitaten für die Streifgebietsgröße des Dachses (s. Kap. 7.2.3). Zumindest in montanen Regionen des Schweizer Juras beeinflusste das Angebot an Ruheplätzen die Lage der Aktionsraumgrenzen des Fuchses (Meja u. Weber 1993).
Abb. 7.1.2.1. Saisonale Veränderung der Aktionsraumgrößen beim Baummarder nach Schröpfer et al. (1989); 1–3 Rüden, 4–6 Fähen; 1 und 4 Sommeraktionsraum; 2 und 5 Aktionsraum im ersten Winter; 3 und 6 Aktionsraum im zweiten Winter; Berechnung der Aktionsraumgrößen: Concave-Polygon-Methode, Computerprogramm MC-PALL
Da der Prädationsdruck1 (Brown u. Litvaitis 1996) und das Ausmaß anthropogener Störung mit der Strukturarmut eines Habitates steigen, gehört – wie für Raubsäuger belegt – auch die Verfügbarkeit an Deckung zu den Steuergrößen der Raumnutzung. So zählen Cavallini u. Lovari (1991, 1994) neben der Verteilung von Nahrungsressourcen Qualität und Quantität deckungsreicher Strukturen zu den Schlüsselfaktoren, die beim Rotfuchs über Territoriengröße und Habitatpräferenzen entscheiden. Deckungsreiche Habitate sind dabei nicht nur als Refugium für Ruheperioden von Bedeutung, sie spielen auch eine Schlüsselrolle bei der Durchführung von Streifzügen während der Tagphase (Lucherini et al. 1995). Die nutzungsbedingte Strukturverarmung von Wäldern, insbesondere der Verlust an Tagesverstecken, z.B. in den Baumkronen (Brainerd et al. 1995) resultierte auch 1 Bei manchen Kleinsäugern, die sich bei Gefahr in ihre Erdhöhlen zurückziehen, können deckungsreiche Habitate den Prädationsdruck erhöhen. Dies ist der Fall, wenn die dichte Vegetation zu einer Einschränkung der Sichtverhältnisse (Wahrnehmung von Räubern) bzw. durch Erhöhung des Raumwiderstandes zur Verringerung der Fluchtgeschwindigkeit führt (Schooley et al. 1995)
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bei Martes americana in einer Veränderung der Raum-Zeit-Muster (Thompson 1994). Nahrungsressourcen. Gemäß der „resource dispersion hypothesis“ von Macdonald (1983) steuert die räumliche Verteilung von Nahrungsressourcen die Aktionsraumgröße carnivorer Säugetiere, während sich Qualität und Quantität der Nahrung auf das Sozialsystem auswirken (Creel u. Macdonald 1995, Sandell 1989). Die Gültigkeit der Hypothese wurde inzwischen für verschiedene Carnivora (Vulpes cana: Geffen et al. 1992, Vulpes vulpes: Lovari et al. 1991; Overskaug et al. 1995) und Rodentia (Hydrochoerus hydrochaeris: Herrera u. Macdonald 1989; Sciurus vulgaris: Wauters u. Dhondt 1992; Lurz et al. 1998; Lurz u. Garson 1998; Sciurus carolinensis: Kenward 1992) bestätigt. Entscheidend für die HomeRange-Größe sind dabei oft Zeiten minimaler Nahrungsverfügbarkeit (Kruuk u. Macdonald 1985). In Phasen des Nahrungsüberangebotes werden bei gleichbleibendem Verteilungsmuster der einzelnen „food patches“ die Aktionsräume beibehalten (contractor strategy, Kruuk u. Macdonald 1985; obstinate strategy, v. Schantz 1984) und bei manchen Raubsäugern (Dachs: Kruuk u. Macdonald 1985; Fuchs: Meja u. Weber 1995) von mehreren Artgenossen gemeinsam genutzt (s.o.). Untersuchungen am amerikanischen Marder (Martes americana) belegen in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Nutzungseingriffen. Aufgrund des geringen Nahrungsangebotes beliefen die Raubsäuger auf abgeholzten Flächen wesentlich größere Aktionsräume als in Klimaxstadien von Wäldern (Thompson u. Colgan 1987). 7.1.3 Intra- und interspezifische Konkurrenz als Steuergrößen Intraspezifische Konkurrenz. Eine besondere Bedeutung als Steuergröße der Raumnutzung von Tieren kommt der intra- und interspezifischen Konkurrenz zu (Krebs 1971). Bereits Ende der 1950er Jahre leiteten Hutchinson u. MacArthur (1959) aus theoretischen Überlegungen allgemeine Gesetzmäßigkeiten über die Beziehungen zwischen art- bzw. habitatspezifischen Faktoren und der Relevanz der intraspezifischen Konkurrenz für die Raumnutzung ab: Während mikro/mesoskalige Fluktuationen chemischer und physikalischer Habitatparameter das Raum-Zeit-Muster kleinorganismischer Populationen mit kurzen Generationszeiten dominieren, sind große Arten allein aufgrund ihrer Körperdimensionen Veränderungen abiotischer Habitatparameter weit weniger ausgesetzt. Mit der Körpergröße der Arten nimmt jedoch die Sensibilität gegenüber biotischen Interaktionen wie Konkurrenzphänomenen zu. Zudem gewinnen – vergleichbare Körpergrößen vorausgesetzt – intrinsische Populationsprozesse als Steuergrößen der Raumnutzung mit zunehmender Stabilität und Gleichförmigkeit der Lebensräume an Relevanz (Grant u. Morris 1971). Auch die Habitatwahl wird in einer heterogenen Umwelt von den Wechselbeziehungen zwischen Artgenossen gesteuert. So gilt in der Regel, dass mit zunehmender Populationsdichte, d.h. steigender intraspezifischer Konkurrenz Artgenossen auf suboptimale Habitate ausweichen (Pulliam 1988; Van Apeldoorn et al.
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1994; Delin u. Andrén 1996). Als Beispiele für die Besiedlung suboptimaler Habitate bei Erreichen hoher Populationsdichten sei auf die Untersuchungen von Kluyver u. Tinbergen (1953) an Meisen und von Glas (1962) am Buchfink verwiesen. Abgesehen von der geringeren Verfügbarkeit an Ressourcen sind die Individuen in suboptimalen Habitaten einer höheren Prädation ausgesetzt, was durch die schlechte Körperkondition häufig noch verstärkt wird (predationsensitive foraging hypothesis; Sinclair u. Arcese 1995; Villafuerte et al. 1997). Dass jüngere Tiere öfter in suboptimalen Habitaten anzutreffen sind, hat wohl vor allem damit zu tun, dass sie in Auseinandersetzungen älteren Artgenossen unterliegen. Die theoretische Begründung für den Einfluss der intraspezifischen Konkurrenz auf die Habitatwahl geht aus dem Model von Fretwell u. Lucas (1969) hervor. Unter idealen Bedingungen erfolgt die Habitatwahl eines Individuums unter dem Gesichtspunkt der Fitnessmaximierung. Sie wird entscheidend von der Habitatqualität, d.h. intrinsischen Habitatparametern und dem Konkurrenzdruck der Artgenossen bestimmt. Bei geringen Populationsdichten (Populationsdichte A, Abb. 7.1.3.1) werden demzufolge nur optimale Habitate besiedelt (Habitat 3). Mit dem Anstieg der Individuendichte (Populationsdichte B, Abb. 7.1.3.1) sinkt die zu erwartende Fitness durch intraspezifische Konkurrenz auf ein Niveau, bei dem die Besiedlung suboptimaler Habitate (Habitat 2) keine Verschlechterung der prospektiven Fitness bedeutet. Bei fortgesetztem Wachstum der Population (Populationsdichte C, Abb. 7.1.3.1) erweitert sich aufgrund der dichtebedingten Abnahme der Habitatqualität das Spektrum potenziell zu besiedelnder Biotope (Habitat 1). Bei vielen territorialen Tieren bestimmt der Konkurrenzdruck über den effizienten Umgang mit den Energieressourcen die Größe der Home-Ranges. Besetzt wird das kleinste gegen Konkurrenten ökonomisch verteidigbare Revier (Davies u. Houston 1984; Martes martes: Clevenger 1993; Vulpes vulpes: Doncaster u. Macdonald 1992), das ausreichend Ressourcen für die Reproduktion einschließt. Folglich verkleinern sich die Home-Ranges im allgemeinen mit dem Anstieg der Populationsdichte bis zu einer Mindestgröße, die auch bei Zeiten minimaler Nahrungsverfügbarkeit die Aufzucht der Jungen sichert (s. Kap. 7.1.2). Wie Untersuchungen aus Belgien am Eichhörnchen (Sciurus vulgaris) belegen, können die Reaktionsnormen gegenüber Artgenossen von der Qualität des besiedelten Habitates abhängen. Sciurus vulgaris gilt als Habitatspezialist mit einer starken Präferenz für Koniferenbestände (besonders Picea abies, Pinus sylvestris) und Mischwälder mit entsprechend hohem Nadelholzanteil (Gurnell 1987). In suboptimalen Laubwäldern beliefen die Tiere nicht nur größere Home-Ranges, sie reagierten auch wesentlich toleranter gegenüber Artgenossen als in Nadelmonokulturen, was in einer großflächigen Überlappung der Streifgebiete benachbarter Tiere zum Ausdruck kam (Wauters u. Dhondt 1992).
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Abb. 7.1.3.1. Fretwell-Lucas-Modell: Habitatselektion in Abhängigkeit von der Populationsdichte (Erläuterungen s. Text), nach Krebs (2001), verändert
Interspezifische Konkurrenz. Die Auswirkungen interspezifischer Konkurrenz auf die Raumnutzung von Tieren sind vielfältig. Sie reichen von strenger Territorialität über die Überlappung der Home-Ranges bis zur Verdrängung von Individuen und Arten durch Konkurrenten. Letzteres ist beispielsweise für die Interaktionen zwischen manchen Neozoen und einheimischen Arten belegt. Das amerikanische Eichhörnchen (Sciurus carolinensis) wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien eingebürgert (Staines 1986). Seit dieser Zeit hat die invasive Species in weiten Teilen von England, Wales und Schottland die einheimische Art Sciurus vulgaris aus den angestammten Habitaten verdrängt (Usher et al. 1992; Gurnell u. Pepper 1993), sodass S. vulgaris heute zu den bedrohten Tierarten Grossbritanniens zählt (Anonymus 1995a). Nur in Wäldern mit hohem Koniferenanteil koexistieren beide Arten (Usher et al. 1992). Sie verhalten sich territorial mit dem Effekt, dass die konkurrenzschwächere Art, S. vulgaris, in Habitatbereiche mit geringerer Nahrungsverfügbarkeit abgedrängt wird und wesentlich größere Home-Ranges beläuft als in Gebieten ohne Konkurrenzdruck durch Sciurus carolinensis. Wie die geringen Überlappungsbereiche der HomeRanges belegen, ist die Territorialität zwischen den Arten wesentlich stärker ausgeprägt als zwischen Artgenossen (Kenward u. Hodder 1998). 7.1.4 Aktionsraumgrößen: Flächenbedarf einheimischer Wirbeltierarten Welcher Parameter die Rangfolge der Steuergrößen dominiert, lässt sich aufgrund der komplexen Nischenstruktur und ihrer raum-zeitlichen Variabilität in Abhängigkeit von z.B. Entwicklungstadium, Populationsdichte, Jahreszeit, Landschaftsausstattung oder anthropogener Überprägung weder für taxonomische noch für funktionelle Artengruppen verallgemeinern. Trotz art- und umweltspezifischer Unterschiede in der Wertigkeit von Steuergrößen lässt sich aber festhalten, dass Ausdehnung und Habitatausstattung eines Home-Ranges stets aus dem Bestreben
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Mechthild Roth, Joachim Ulbricht
einer Tierart resultieren, Raum zu okkupieren, der alle für die Überlebensfähigkeit und Reproduktion im Jahresverlauf essentiellen Ressourcen sichert (Lucherini et al. 1995). Dazu zählen neben geeigneten Plätzen für die Brut- und Jungenaufzucht auch andere die Schutzansprüche der jeweiligen Art erfüllende Strukturen wie z.B. Verstecke und Aussichtspunkte. Als wichtigste Ressource muß das Nahrungsangebot eine ausreichende Versorgung der adulten Tiere und ihres Nachwuchses gewährleisten. Bedingt durch die räumlich-zeitliche Variabilität der Ressourcenverfügbarkeit und die Valenz von Umweltfaktoren differieren die Raumdimensionen eines Streifgebietes nicht nur zwischen verschiedenen Arten, sondern auch zwischen Artgenossen teilweise erheblich. Umgekehrt erlaubt die Home-Range-Größe im intraspezifischen Vergleich – ähnliche Populations- und Sozialstrukturen vorausgesetzt – Rückschlüsse auf die Habitatqualität (Clevenger 1993). So variieren nach Literaturdaten beispielsweise beim Rotfuchs (Vulpes vulpes) die Home-Ranges zwischen 25 ha (Harris 1980) und 18 800 ha (Maurel 1983). Die kleinsten Streifgebiete existieren in Stadtgebieten, ausgedehnte Aktionsräume beläuft Vulpes vulpes vor allem in ländlichen Gebieten mit geringem oder stark fluktuierendem Nahrungsangebot (Stiebling 2000). Nur für wenige der ca. 700 einheimischen Wirbeltierarten (Säuger: 100 Arten, Boye et al. 1998; Brutvögel: 288 Arten, Witt et al. 1998; Reptilien: 14 Arten, Beutler et al. 1998; Amphibien: 21, Beutler et al. 1998; Rundmaul- und Fischarten: ca. 270, Bless et al. 1998; Fricke et al. 1998) liegen fundierte Daten über die Flächenansprüche vor. Darüber hinaus erschweren Unterschiede in der Erfassungsmethodik (Telemetriestudien, Mark-Recapture-Verfahren), dem Berechnungsmodus der Aktionsraumgrößen sowie eine unpräzise Charakterisierung der analysierten Individuen oft einen direkten Vergleich von Literaturdaten (Tabelle 7.1.4.1). Dennoch wird deutlich, dass zahlreiche Vertreter einheimischer Wirbeltiere bei der infrastrukturellen Nutzungsintensität der mitteleuropäischen Kulturlandschaft Territorien beanspruchen, die die Ausdehnung unzerschnittener Flächen meist weit überschreiten.
7 Zoologisch-ökologische Grundlagen – allgemeine Wirkungen von Zerschneidung und Störung
123
Tabelle 7.1.4.1. Home-Range-Größen einheimischer Wirbeltierarten nach Literaturdaten Tierart Wanderfalke
Gefährdung 3
Rotfuchs
Größe [ha] 5200–22000 25–18800
Merkmale
Region
Quelle
GHR M, W
Großbritannien
GHR
Mitteleuropa
Bezzel u. Prinzinger (1990) Harris 1980, Mauel (1983) Bezzel u. Prinzinger (1990) Flade (1994) Bezzel u. Prinzinger (1990) Mühlenberg u. Hovestadt (1993) Bezzel u. Prinzinger (1990) Flade (1994) Bezzel u. Prinzinger (1990) Bezzel u. Prinzinger (1990) Bezzel u. Prinzinger (1990) Stier (2000)
Steinadler
2
5400–10300
GHR M, W
Alpen
Schreiadler Sperber
1
200–10000 10–3500
BR HR M, W
Mitteleuropa Großbritannien
Steinkauz
2
10–3500
Uhu
GHR
Mitteleuropa
>1000 100–400
BR
Brandenburg Mitteleuropa
Sperlingskauz
45–400
HR M
Mitteleuropa
Grünspecht
320–350
HR M
Mitteleuropa
227 152 80–180
HR M HR W BR
MecklenburgVorpommern
Großtrappe Schwarzspecht
Baummarder Mäusebussard
1200–2000
HR
2
V
Mitteleuropa
Bezzel u. Prinzinger (1990) Mittelspecht V 21–147 GHR NO-Schweiz Pasinelli et al. (1999) Auerhuhn 1 >100 BR Flade (1994) Waldkauz 25–100 GHR Mitteleuropa Bezzel u. Prinzinger (1990) Großer 2 11–70 BR Mitteleuropa Bezzel u. Brachvogel Prinzinger (1990) Buntspecht 6–60 HR M, W Mitteleuropa Bezzel u. Prinzinger (1990) Raubwürger 1 25–60 BR Dübener Heide Rothhaupt u. Vogel (1996) Eichhörnchen 2,8–5,0 HR W Belgien Wauters u. Dhondt (1992) 3,6–6,4 HR M Belgien Wauters u. Dhondt (1992) Heidelerche 3 2–6 HR Dübener Heide Rothhaupt u. Vogel (1996) Kleiber 1–4 Mühlenberg u. Hovestadt (1993) Feldlerche 0,2–4,6 BR Mitteleuropa Bezzel u. Prinzinger (1990) HR Home-Range, GHR Ganzjahres-Home-Range, BR Brutrevier, M Männchen, W Weibchen, 1 Vom Aussterben bedroht, 2 Stark gefährdet, 3 Gefährdet, V Arten der Vorwarnliste
124
7.2 Räumlich-zeitliche Habitatnutzung einiger Modellarten Vorgestellt werden Arten für die im Rahmen des Projektes eine umfangreiche Datenbasis zum Einfluss von Zerschneidungen und Störungen auf aut- und populationsökologische Parameter erarbeitet werden konnte. Alle Arten sind – als Besiedler aquatischer und terrestrischer Lebensräume – repräsentativ für weite Bereiche der nordostdeutschen Kulturlandschaft. 7.2.1 Habitatnutzung der Bachforelle Arno Waterstraat Grundlagen der Habitat- und Raumnutzung bei Fischen. Durch die Vielzahl der besiedelten aquatischen Lebensräume gibt es bei der größten Wirbeltierklasse eine unermessliche Anpassung an die umgebenden Habitate, so dass in dieser kurzen Einführung nur auf die heimischen Süß- und Wanderfischarten eingegangen werden kann. Schon die Einteilung in anadrome (zur Reproduktion in die Binnengewässer wandernde) und katadrome (zur Reproduktion in das Meer wandernde) sowie ständig im Süßwasser lebende Arten deutet die Vielfalt der unterschiedlichen Raumnutzung an. Von den in Deutschland nach Bless et al. (1994) vorkommenden 70 Arten wandern 11 zwischen marinen und limnischen Lebensräumen, 35 sind obligat oder fakultativ Fließgewässerbewohner und 17 Arten leben vorwiegend in stehenden Gewässern. Großräumige Wanderungen treten besonders bei den rhithralen und Wanderfischarten auf. Wanderungen werden in nahezu allen Lebensphasen durchgeführt. Bereits Jungfische passen sich in ihrer Habitatnutzung der vorhandenen Sedimentstruktur an (Bless 1983) und für viele Flussbewohner sind intensive Austauschprozesse zwischen Strom und Nebengewässer typisch (Schiemer u. Wiedbacher 1992). Die größten Ausdehnungen der Wanderung werden jedoch bei den meisten Arten zur Erreichung der Laichplätze vollzogen. Die unterschiedlichen Reproduktionstypen unserer heimischen Fischfauna (Balon 1975) sind an charakteristische Sediment- und Vegetationsstrukturen gebunden, die nur in spezifischen Gewässerabschnitten vorkommen. Besonders Hartsubstratlaicher wie die überwiegende Zahl der Wanderfische und rhithralen Arten sind auf das Ablaichen in schnellfließenden Oberläufen unserer Flüsse und Bäche angewiesen. Inzwischen wurden jedoch die ursprünglich unverbauten Flüsse (Dynesius u. Nielsson 1994) durch Staudämme, Wehre und Staue in viele von einander isolierte Abschnitte zerteilt, die eine Laichwanderung erschweren oder verhindern (zu den Konsequenzen für die Fische s. Kap. 9.3.1). Charakterisierung der Bachforelle als stationäre Ausprägung der polytypischen Art Salmo trutta. Bach- und Meerforellen gehören zu den einer breiten Öffentlichkeit bekannten Fischarten. Sie siedeln in wenig belasteten, sauerstoffreichen
7 Zoologisch-ökologische Grundlagen – allgemeine Wirkungen von Zerschneidung und Störung
125
Bächen, Flüssen und Seen des Flachlandes und der Gebirge. Ursprünglich lediglich in Europa verbreitet, kommt die Art inzwischen weltweit in der temperierten Klimazone vor. Die systematische Stellung der Forellenbestände ist bisher noch umstritten. Großräumig werden 5 phylogenetische Stämme in Europa getrennt (Bernatchez et al. 1992). Neben den in Deutschland vorkommenden atlantischen und Donaustämmen sind ein adriatischer, ein mediterraner und der Marmoratus-Stamm beschrieben. Die Mehrheit der Autoren zählt alle diese Stämme zu Salmo trutta (Lelek 1987; Elliott 1994). Die in der Fachliteratur noch übliche Unterteilung in die „Formen“ oder Unterarten See-, Meer- und Bachforelle, die jeweils alle stationären oder Wanderformen Europas vereinen, muss nach neueren Erkenntnissen (Elliott 1994; Schreiber 1997) jedoch abgelehnt werden. Genetische Besonderheiten stationärer See- und Bachpopulationen, die von einem kolonisierenden Meerforellenbestand abzuleiten sind, stehen jedoch außer Frage2. Die polytypische Natur der Forellen drückt sich in der großen Variation ökologischer Prozesse sowohl innerhalb als auch zwischen den Populationen aus. Relativ standorttreue Populationen, wie die im weiteren Verlauf beschriebenen Bachforellen unseres Untersuchungsgebietes, bleiben zeitlebens innerhalb eines Bachoder Flussgebietes. In anderen Populationen leben nur die juvenilen Fische im Elternbach und wandern dann zur Nahrungssuche in den nächstgelegenen See, ein Ästuar oder das Meer. In den Fließgewässern ernähren sich die Fische vorwiegend von Insektenlarven, Bachflohkrebsen und auf die Wasseroberfläche fallende Anflugnahrung. In Seen und im Meer wird auch größere Beute wie Fische genommen. Forellen können mehrfach ablaichen und erreichen in vielen Populationen ein Alter von 5–8 Jahren. Die Reproduktion im Spätherbst findet in kiesigen schnellfließenden Bachabschnitten statt. Die tief im Sediment eingegrabenen Eier entwickeln sich im Winter langsam, so dass der Schlupf der Brut bei uns zu Frühlingsbeginn erfolgt. Die Jungfische halten sich zunächst in den umgebenden Kiesbänken auf. Nach einigen Wochen erreichen die jungen Forellen das „ParrStadium“ mit den charakteristischen 9–10 schwarzen Streifen an den Körperseiten. In dieser Phase verteilen sich die Tiere in ihrem Heimatgewässer. Elliott (1994) unterscheidet im Anschluss an das Parr-Stadium 4 verschiedene Strategien. Die Fische können entweder zeit ihres Lebens in ihrem Geburtsbach bleiben und sich dort mehrfach reproduzieren oder auch mit zunehmendem Alter in die Unterläufe abwandern und erst zur Reproduktion wieder in die Reproduktionsbäche zurückkehren. Eine dritte Variante stellt die Abwanderung in angrenzende Seen dar. Forellen, die dagegen in das Meer oder die Ästuare abwandern, müssen ihre gesamte Osmoregulation umstellen. Diese Smoltifikation genannte Phase wird zumeist vor der Abwanderung im Alter von 2–3 Jahren durchgeführt.
2
Kottelat (1997) lehnt jedoch insgesamt das Konzept einer Art ab und favorisiert ein Mehrarten-Forellenkonzept mit der Zusammenfassung aller Meer-, Bach- und Seeforellen der atlantischen, Nordsee- und Ostseebestände zu Salmo trutta und die Aufspaltung aller anderen Bestände in bis zu 24 Arten.
126
Arno Waterstraat
Nachstehend wird im wesentlichen die Raum- und Habitatnutzung jener Bachforellen beschrieben, die zeit ihres Lebens den ersten beiden Strategien folgen. Raumnutzung adulter Bachforellen außerhalb der Laichzeit. Außerhalb der Reproduktionszeit gelten Bachforellen als relativ standorttreu (resident). Angaben aus Tieflandbächen liegen jedoch kaum vor. Hesthagen (1988) gibt für einen norwegischen Küstenbach einen täglichen Aktionsraum von residenten Bachforellen von 75 m an. Auch Bridcut u. Giller (1993) ermittelten einen täglichen Aktionsraum von 30 m (90 m²) für ein- bis dreijährige Forellen. Young (1996) fand an einer anderen ebenfalls standorttreuen Salmonidenart (Oncorhynchus clarki pleuriticus) innerhalb von 20 bis 80 Tagen ein durchschnittliches Home-Range der einzelnen Tiere von 300 m. In unseren Untersuchungen im Fluss Nebel in Mecklenburg-Vorpommern (s. Karte Kap. 9.3.1 und Waterstraat 2001) erwiesen sich die Forellen ebenfalls als sehr standorttreu. Zum Teil hielten sich die Forellen über einen langen Zeitraum nur in einem Bereich von 100 m auf (s. Abb. 7.2.1.1).
Nr. 10
Entfernung (m)
5500
5300
5100 30.09.97
28.10.97
25.11.97
23.12.97
20.01.98
17.02.98
17.03.98
14.04.98
Datum
Abb. 7.2.1.1. Raumnutzung der Bachforelle Nr. 10/1997
Zwar existierten bei den einzelnen Forellen unterschiedliche Muster der Raumund Habitatnutzung, insgesamt erreichten die Home-Ranges aber maximal eine Ausdehnung von 500 m. (Abb. 7.2.1.2). Wie aus den Quartilen (50 % aller Peilungen) ersichtlich, hielten sich die Tiere zumeist in einem deutlich engeren Kernbereich von 100 m auf. In unserem Untersuchungsgebiet Nebel stellten wir jedoch auch immer wieder die zeitweise oder ständige Besiedlung neuer Standorte fest. Als Ursachen hierfür sind innerartliche Konkurrenz, Prädationsrisiko oder Störungen zu nennen. Solo-
7 Zoologisch-ökologische Grundlagen – allgemeine Wirkungen von Zerschneidung und Störung
127
mon (1982) sowie Bridcut u. Giller (1993) beschreiben auch teilweise großräumige Wanderungen von Forellen außerhalb der Reproduktionszeit. Hesthagen (1988) fand in seinen Untersuchungen eine mobile (ca. 20 % des Bestandes) und eine mehr stationäre Form. Großräumige Wanderungen betreffen wohl vor allem den mobilen Populationsteil. Fredrich (2001) bezeichnet das kurzzeitige Verlassen des täglichen Aktionsraumes und die anschließende Rückkehr zum alten Einstand bei den von ihm untersuchten potamalen Fischarten Döbel, Rapfen und Zander als Exkursionen zur Erkundigung des Lebensraumes. Darüber hinaus scheint die Abwärtswanderung von Forellen dichteabhängig zu sein und bevorzugt die konkurrenzschwächeren kleinen Tiere zu betreffen (Le Cren 1965). Andererseits müssen auch die Habitatbedingungen des Gewässers berücksichtigt werden. Adulte große Forellen präferieren tiefere Gewässerabschnitte (Bohlin 1977; Bridcut u. Giller 1993) und dürften daher in unserem Untersuchungsgewässer gezielt aus den schnell fließenden, zumeist jedoch flacheren Oberlaufbereichen in weiter unterhalb gelegene Abschnitte ausweichen. 300
150
Minimum
Distanz (m)
Maximum n=114
114
69
23
55
93
107
89
Quartil 25%
0
Quartil 75% Mittelwert -150
Median
-300
10
14
13-1
13-2
12
8
9
11
Tier-Nr.
Abb. 7.2.1.2. Home-Range der Bachforellen außerhalb der Laichzeit 1997; n Anzahl der Peilungen
In unseren Untersuchungen kam es bei sechs Forellen (Nr. 1/1996; 5/1996; 13/1997; 11/1997; 8/1997; 12/1997) mindestens einmal innerhalb des Untersuchungszeitraumes zu großräumigeren Ortsveränderungen. Wenn auch der neue Standort (mit Ausnahme der Forelle 13/1997 mit zeitweiligem neuen Standort nach Laichwanderung) nicht weiter als 2 000 m vom Ursprungsort lokalisiert war,
128
Arno Waterstraat
ist davon auszugehen, dass in der mehrjährigen Adultphase mehrere zum Teil weit voneinander entfernte Standorte besiedelt werden. Auf diese Weise gelangen regelmäßig adulte Bachforellen in einen unterhalb des Hauptwehres Güstrow gelegenen Bachabschnitt. Da dort geeignete Laichhabitate fehlen, gehen sie der Population verloren. Nur so sind die wiederholten Fänge adulter Bachforellen in den ausgebauten Nebelabschnitten unterhalb des Hauptwehres Güstrow zu erklären. Abb. 7.2.1.3 zeigt die Raumnutzung einer Bachforelle (Nr. 1/1996) nach der Laichzeit an zwei ca. 750 m von einander entfernten Standorten. Innerhalb der jeweiligen Standortbereiche wird wieder ein kleines Home-Range besiedelt.
11000
Entfernung (m)
9000
Nr. 1
7000
Laichzeit
5000
3000
1000
-1000
29.10.96
03.11.96
08.11.96
13.11.96
18.11.96
Datum
Abb. 7.2.1.3. Raumnutzung der Bachforelle Nr. 1/1996
Für größere Wanderungen unabhängig von der Reproduktionszeit sprechen auch unsere Reusenfänge juveniler und subadulter Forellen. Danach passierten in den Monaten Oktober und November 1995–1997 ca. 125 nicht geschlechtsreife Bachforellen die Fischaufstiegshilfe (FAH ), die Hälfte davon gehörte zum im gleichen Jahr geborenen Jahrgang 0+. Raumnutzung adulter Forellen zur Laichzeit – Laichwanderung. Adulte Forellen führen im Spätherbst eine ausgedehnte Laichwanderung aus ihrem Sommerlebensraum im Fluss, Ästuar oder Meer in die Oberläufe der Flüsse und Bäche mit anschließender Rückwanderung durch. Residente Forellen (S. trutta fario) sind im Vergleich zu den Meerforellen keine Langdistanzwanderer (Elliott 1994). Das Ausmaß der Laichwanderung ist jedoch auch hier abhängig von der Habitatausstattung.
7 Zoologisch-ökologische Grundlagen – allgemeine Wirkungen von Zerschneidung und Störung
129
Abb. 7.2.1.4. Übersicht über die Wanderung aller Forellen 1997 während der Laichzeit (1 Meßwert pro Tag; Nulllinie: Stationierung der Fischaufstiegshilfe) 6000
5000
Nr. 8 4000
Entfernung (m)
Laichzeit 3000
2000
1000
0
-1000 30.09.97
28.10.97
25.11.97
23.12.97
20.01.98
17.02.98
17.03.98
14.04.98
Datum
Abb. 7.2.1.5. Laichwanderung der Forelle Nr. 8 im Herbst 1997
1997 nahmen von den sieben in unseren Untersuchungen einbezogenen Forellen fünf an der Reproduktion teil. Die zwei sich nicht reproduzierenden Forellen blieben bis zum Erlöschen der Sender im Frühjahr-Sommer 1998 in ihren ur-
130
Arno Waterstraat
sprünglichen Habitaten. Dass nicht alle adulten Forellen an der Fortpflanzung teilnehmen, zeigten bereits Evensen (1985) und Stuart (1953). Die restlichen Forellen legten zwischen 8 200 m und 2 300 m von der Fang- und Aussetzstelle bis zum Laichplatz zurück. Forelle 13 überwand die FAH und suchte einen ca. 3 000 m oberhalb gelegenen Laichplatz auf, eine andere konnte bei der erfolglosen Suche nach dem Einstieg der FAH gepeilt werden. Drei von fünf Forellen kehrten nach dem Ablaichen, Forelle Nr. 8/1997 sogar ein zweites Mal während der Laichzeit (Abb. 7.2.1.5), an ihren Standort zurück. Nur eine Forelle suchte sich zunächst einen neuen Einstand. Drei Monate nach Abschluss der Reproduktion kehrte auch dieses Tier an seinen ursprünglichen Standort zurück. Die Forellen in der Nebel sind in der Lage, auch über größere Entfernungen nach der Reproduktion ihren alten Standort wiederzuerkennen und an diesen zurückzukehren Wir gehen davon aus, dass auch die 1996 nach der Reproduktion besetzten Territorien mit großer Wahrscheinlichkeit mit den Ausgangsterritorien vor der Laichzeit übereinstimmten. Bemerkenswert ist jedoch, dass ein Tier (5/1996) ein Territorium in der Lößnitz, einem Nebenbach der Nebel über 10 km vom Aussetzungspunkt entfernt, aufsuchte. Die Fähigkeit, auch weit entfernt gelegene Habitate wiederzufinden, bestätigen Armstrong u. Herbert (1997). In einem Aussetzungsversuch radiotelemetrierter Bachforellen kehrten 12 von 14 Tieren an ihre 800– 3 600 m entfernt gelegenen ursprünglichen Standorte zurück. Da die Suchbewegungen gerichtet und nicht zufällig waren, gehen die Autoren von Homing aus. Aus unseren Telemetriedaten lässt sich ableiten, dass Forellen während der Laichzeit erhebliche Distanzen (>10 000 m) sowohl stromauf als auch stromab zurücklegen. Um die Migrationsdistanz zu bestimmen, wurden die Maximalentfernungen der einzelnen Forellen zwischen Nahrungslebensraum und Laichplatz bzw. FAH erfasst. Insgesamt betrug die durchschnittlich von uns festgestellte Migrationsleistung 4 430 m (s = 2 998 m; n = 11). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass 1996 alle von uns in der FAH gefangenen und darunter wieder ausgesetzten Forellen ohne unsere Fangaktion den nächsten Laichplatz oberhalb des Wehres Kölln (zusätzlich mindestens 1 500 m) erreicht hätten. Die Forellen können in der Nebel eine Maximalstrecke von 23 000 m zurücklegen. Dies tritt jedoch, bedingt durch ihre Verteilung im Flusslauf, kaum auf. Wir stellten eine Maximalentfernung von 12 500 m zwischen Laichplatz und Nahrungshabitat fest. In der Nebel begannen in der ersten Phase besonders die Männchen mit der Laichwanderung. Die Wanderung der Weibchen setzte dagegen erst Ende Oktober, kurz vor Beginn der Anlage der ersten Gruben ein. Wie Fänge in der Reuse 1996 und 1997 belegen, wanderten bei den Weibchen zuerst die großen Tiere zu den Laichplätzen. Elliott (1994) fand bei seinen Untersuchungen an laichenden Meerforellen ebenfalls, dass große Weibchen zuerst ablaichen und eine negative Korrelation zwischen Körperlänge der Weibchen und Ablaichzeitpunkt besteht. Auch Sakowicz (1962) kam bei ablaichenden Seeforellen (S. trutta m. lacustris) im polnischen Wdzydze-See im Verlauf der Laichsaison zum gleichen Ergebnis.
7 Zoologisch-ökologische Grundlagen – allgemeine Wirkungen von Zerschneidung und Störung
131
Tabelle 7.2.1.1. Laichplatzverhalten radiotelemetrierter Forellen 1996 und 1997 Nr. Jahr
8 11 13 2 4 5 9 12 1 3 6
1997 1997 1997 1996 1996 1996 1997 1997 1996 1996 1996
Geschlecht
w w w w w w m m m m m
Laichzeit
08.11.–13.11. 04.11.–10.11. 11.11.–17.11. 29.10.–02.11. 29.10.–08.11. 29.10. -03.11. 06.11.–07.11. 06.11.–15.11. 29.10.–07.11. 29.10.–04.11. 29.10.–16.11.
Dauer [d] 6 6 7 4 9 6 2 10 10 7 19
Anzahl Gruben 4 3 1 1 2 1 2 6 6 4 3–5
Aufenthalt pro Laichplatz [d] max. 2 4 7 2 7 5 1 2 1 2 400 m
80% 60% 40% 20% 0%
100% 80% 60% 40% 20% 0%
0-100 m
101-200 m
Flucht
201-300 m
Aufmerken
keine Reaktion
Abb. 9.1.1. Reaktionen von Graugänsen auf anthropogene Störreize im Sammel- und Rastgebiet Güstrow 1994–1997 in Abhängigkeit von der Entfernung zur Störquelle, Anteil der Ereignisse [%], oben fahrende Autos auf Feldwegen (n = 96), unten Fußgänger auf Feldwegen (n = 94), nach Klenke u. Ulbricht (2000b)
175
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
Tabelle 9.1.1. Relative Häufigkeiten, mit denen Trupps der Graugans auf unterschiedliche Störreize in verschiedenen Entfernungen mit Flucht reagierten; in Klammern jeweils die Gesamtzahl der beobachteten Ereignisse, Ulbricht u. Klenke (2000b) Störreiz-Typ
0–100 m
Fußgänger auf Feldwegen (n = 94) fahrende Autos auf Feldwegen (n = 96) fahrende Autos auf Straßen (n = 103)
85 % 56 % 8%
101–200 m 80 % 22 % —
201–300 m 22 % 8% —
Anzahl der Fälle
70 60
Sperber (n = 7)
50
Habicht (n = 6) Schwarzmilan (n = 7)
40
Rotmilan (n = 13) 30
Mäusebussard (n = 94)
20 10 0 Annähern Annähern >50m: 50 m, Annäherung < 50 m und Klopfen an den Horstbaum, nach Ulbricht u. Klenke (2000a)
Die individuell-situativen Fluchtdistanzen innerhalb einer Art werden wie die Störungsdisposition im allgemeinen von zahlreichen Faktoren gesteuert. Als exogene Faktoren können Charakteristika des Lebensraumes einen Einfluss auf das Fluchtverhalten haben. So zeigten Rohrweihen (Circus aeruginosus) in gedeckten, mit Baumgruppen und Hecken bestandenen Landschaften eine geringere Fluchtdistanz als in offenem Gelände (Gamauf u. Preleuthner 1996). Gemsen (Rupicapra rupicapra) und Rothirsche (Cervus elaphus) reagierten bei fehlender oder geringer Deckung heftiger auf Hängegleiter und Gleitsegler, d.h. sie flohen bereits in größeren Entfernungen zu den Störquellen (Zeitler 1995). Dass hierbei abgesehen von Umweltparametern auch endogene Faktoren von Bedeutung sind, belegen bereits die Untersuchungen von Lorenz (1943, zitiert in Eibl-Eibesfeldt 1978). Entenvögel, die lange Zeit keinen Störreizen ausgesetzt waren, zeigten eine deutliche Schwellenerniedrigung der Fluchtreaktion und reagierten auf immer geringere Anlässe mit Flucht. Als individuelle Eigenschaften spielen beispielsweise der physiologische Zustand (Hunger, Krankheit etc., z.B. Sell 1991; Schober et al. 1995), die Lebensphase und die augenblickliche Aktivität
176
Joachim Ulbricht, Mechthild Roth
eines Tieres eine Rolle (Kempf u. Hüppop 1996). Graugänse, die sich in der Schwingenmauser befinden und während dieser Phase flugunfähig sind, verhalten sich in der Regel scheuer als außerhalb der Mauserzeit (Ulbricht 1999; s.a. Mosbach u. Glahder 1991). Zudem ist allgemein bekannt, dass die Bindung der Vögel an den Horst vom Brutstadium beeinflusst wird. Im Laufe der Brutphase nimmt die Fluchtbereitschaft zugunsten der Verteidigungsbereitschaft ab, so dass Vögel in einer frühen Phase der Bebrütung nicht so „fest“ auf ihrem Gelege sitzen wie wenige Tage vor dem Schlüpfen der Jungen (z.B. Weißkopfadler, Watson 1993). Dies erklärt wohl z.T. auch die Unterschiede im Fluchtverhalten anderer brütender Greifvögel (Abb. 9.1.2). Auch Flußseeschwalben fliegen in der Zeit des Schlüpfens der Jungen in einer deutlich geringeren Distanz von ihren Nestern auf als während der Bebrütung der Eier. Möglicherweise ist eine vorübergehende Verringerung der Fluchtdistanz in dieser sensiblen Phase adaptiv (Siebolts 1998). Von Bedeutung ist weiterhin der soziale Kontext, in dem sich ein Tier befindet. Tiere, die Junge führen, sind in ihrer Möglichkeit zu fliehen oftmals eingeschränkt (falls die Jungtiere nicht durch andere Schutzmechanismen, z.B. kryptische Färbung oder Verhaltensweisen vor Feinden geschützt sind) und deshalb meist relativ scheu. Nach Keller (1991) war bei der Eiderente die mittlere Fluchtdistanz von „Kindergärten“ mehr als doppelt so groß wie die von Altvögeln ohne Nachwuchs. Junge führende Tiere sind in der Regel auch wachsamer als andere (z.B. Lazarus u. Inglis 1978; Alonso u. Alonso 1993). In Verbänden nehmen sie oft als erste Störreize wahr und ihre Reaktion bestimmt dann häufig das Verhalten aller Gruppenmitglieder (Mitreisseffekt). Generell spielt das Leben in Gruppen eine Rolle für das Fluchtverhalten. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die – zumindest bei einigen Vogelarten – einen Zusammenhang zwischen Gruppengröße und Fluchtdistanz nahelegen. Dass große Trupps eine größere Fluchtdistanz haben als kleinere, stellten Owens (1977) an Ringelgänsen (Branta bernicla), Madsen (1985) an Kurzschnabelgänsen (Anser brachyrhynchus) und Spilling et al. (1999) an Bless- und Saatgänsen (Anser albifrons, A. fabalis) fest. Allerdings nahm die Fluchtdistanz mit der Gruppengröße nicht kontinuierlich zu; bei Spilling et al. (1999) blieb sie ab einer Truppgröße von etwa 150 Tieren auf einem Level von 200 m. Hingegen fanden sowohl Wille (1995) bei Blessgänsen als auch Roberts u. Evans (1994) bei Sanderlingen (Calidris alba) keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Truppgröße und Fluchtdistanz. Ein den Vögeln entgegengesetztes Verhaltensmuster auf anthropogene Störreize, die Verkleinerung der Fluchtdistanz mit der Gruppengröße zeigen teilweise in Verbänden lebende Säugetiere, so die Dickhornschafe, Ovis canadensis californiana (Hicks u. Elder 1979), Gemsen, Rupicapra pyrenaica (Patterson 1988), Alpensteinböcke, Capra ibex ibex (Schütz et al. 1995) und Caribous, Rangifer caribou (Klein 1974). Bei letzteren reagierten Mutter-Kind-Gruppen wesentlich stärker auf Flugzeuge als männliche Gruppen. Die Reaktionsstärke stieg mit zunehmender Zahl der Kälber in der Herde (Gunn u. Miller 1980). Auch bei Alpensteinböcken wurde festgestellt, dass neben der Gruppengröße die Altersstruktur die Fluchtdistanz beeinflusst (Schütz et al. 1995). Die Ausweichdistanz war umso geringer, je höher der relative Anteil alter Böcke in der Gruppe war. Jüngere Bö-
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9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
cke, die ansonsten zu größeren Ausweichdistanzen tendierten, richteten sich nach den älteren Tieren (Lerneffekte). Andererseits können – wie es Owens (1977) bei Ringelgänsen annimmt – Tiere mit einer niedrigeren Reizschwelle andere Gruppenmitglieder „mitreißen“, wobei hierbei sicherlich auch altersunabhängige Erfahrungen eine Rolle spielen. Zu den „inneren“ Faktoren gehören darüber hinaus die bisherigen Erfahrungen des Individuums bzw. der Gruppe mit Störereignissen. Negative Erfahrungen (z.B. wiederholtes Aufjagen von Gänsetrupps) können eine Erhöhung, positive Erfahrungen (z.B. Ungefährlichkeit eines Störreizes) eine Verringerung der Fluchtdistanz bewirken. Zu den „negativen Erfahrungen“ zählt zweifellos die Bejagung. Hierzu gibt es eine Reihe von Ergebnissen an Gänsen. Madsen (1988) stellte bei Ringelgänsen zu Beginn der Herbstrast eine mittlere Fluchtdistanz von 211 m fest; im Verlaufe der Jagdsaison erhöhte sich dieser Wert auf 367 m. Wille (1995) wies bei Bless- und Saatgänsen nach, dass Bejagung eine Vergrößerung der Reaktionsdistanz sowohl für die Fluchtreaktion als auch für das Aufmerken bewirkt. Auch andere Autoren konstatierten bei Wildgänsen eine zunehmende Scheu während der Jagdzeiten (Übersicht in Bell u. Owen 1990; Madsen u. Fox 1995; Gill et al. 1996; Fox u. Madsen 1997). Aus der intraspezifischen Variabilität des Fluchtverhaltens lässt sich allerdings nicht ableiten, dass keine Unterschiede zwischen den Arten existieren. So ist hinlänglich bekannt, dass einige Arten eine größere, andere hingegen eine geringere Scheu gegenüber dem Menschen und anthropogenen Störquellen zeigen. Die Ursachen für diese Unterschiede können vielfältig sein (s. Kap. 7.4). In erster Linie sind sie wohl auf das im Laufe der Phylogenese erworbene Verhaltensinventar einer Art und auf Lernvorgänge zurückzuführen. Tabelle 9.1.2. Fluchtdistanzen verschiedener Watvogelarten gegenüber Fußgängern in niederländischen Rastgebieten, nach Smit u. Visser (1993) Art Brachvogel (Numenius arquata) Pfuhlschnepfe (Limosa lapponica) Austernfischer (Haematopus ostralegus) Goldregenpfeifer (Pluvialis apricaria) Kiebitzregenpfeifer (Pluvialis squatarola) Sandregenpfeifer (Charadrius hiaticula) Rotschenkel (Tringa totanus) Steinwälzer (Arenaria interpres) Alpenstrandläufer (Calidris alpina)
Entfernung [m] arithm. Mittel Spanne 77 … 339 a 71–550 73 … 219 a 43–225 25–300 60 … 136 a 44 25–63 124 50–150 121 80–162 96 71–118 47 31–250 57–300 71 … 163 a
a
Gibt es mehrere Mittelwerte (aus verschiedenen Stichproben), so werden jeweils der kleinste und der größte Mittelwert angegeben.
Eine in dieser Hinsicht gut untersuchte Tiergruppe sind die Watvögel (Tabelle 9.1.2). Trotz der großen innerartlichen Variationsbreite dokumentiert die Studie von Smit u. Visser (1993) Differenzen in den Reaktionsnormen der Arten. Ähnli-
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Joachim Ulbricht, Mechthild Roth
che Ergebnisse erzielten auch Koepff u. Dietrich (1986), die die Fluchtdistanzen verschiedener Watvogelarten gegenüber Booten und Surfern ermittelten. Auch bei Entenvögeln existieren spezifische Unterschiede. So zeigten in einer Untersuchung von Sell (1991) Stock-, Reiher- und Tafelente (Anas platyrhynchos, Aythya fuligula, A. ferina) in Bezug auf menschliche Aktivitäten an einem Freizeitstausee im Ruhrgebiet signifikant geringere Fluchtdistanzen als die Schellente (Bucephala clangula) und der Gänsesäger (Mergus merganser). Spezifische Unterschiede sind bei Vögeln auch in Bezug auf ihre Reaktion auf Fluglärm belegt. Nach den bisherigen Untersuchungen führt Überschallknall bei Wasservögeln meist zu panikartiger Flucht. Greifvögel und Wildtruthühner weisen diesbezüglich wohl eine geringere Störungsdisposition auf. Ähnliches scheint für Säugetiere zu gelten (Literaturübersicht in Kempf u. Hüppop 1996). Allerdings sind auch bei Säugern spezifische Unterschiede in den Fluchtdistanzen gegenüber Flugzeugen dokumentiert. In seinen Untersuchungen über die Auswirkungen von Flugzeugen und Helikoptern ermittelte Klein (1974, zitiert in Mosler-Berger 1994) folgende Reihung der Störungsanfälligkeit: Grizzly > Caribou > Elch > Wolf. Grizzlybären flohen selbst bei großen Distanzen zum Flugzeug. Bei direktem Überflug änderten sie abrupt ihre Fluchtrichtung. In der offenen Tundra suchten sie Deckung in Weidengebüschen. Bei den Elchen flüchteten nur Kälber führende Kühe vor den Flugzeugen. Tabelle 9.1.3. Mittlere Fluchtdistanzen von Austernfischern (Haematopus ostralegus) und Brachvögeln (Numenius arquata) gegenüber verschiedenen Störreizen, Daten aus Smit u. Visser (1993) Störreiz Kleinflugzeug Hubschrauber Auto Fußgänger Landwirt Hund(e) Kühe
Austernfischer
Brachvogel
500 m — 106 m 82 m 60 m — 10 m
— 200 m 188 m 213 m 129 m 90 m —
Reaktionsdeterminante Störquelle. Detaillierte Untersuchungen liegen zur Wirkung verschiedener Flugobjekte vor (Übersicht in Mosler-Berger 1994 sowie Kempf u. Hüppop 1996). Kempf u. Hüppop (1996) schließen aus der Literaturanalyse, dass Helikopter eine stärkere Wirkung auf Wildtiere haben als Tragflächenflugzeuge. Unter letzteren scheinen Sportflugzeuge – zumindest bei Vögeln – heftigere Reaktionen hervor zu rufen als Düsenjets. Entscheidend scheint darüber hinaus bei allen Flugobjekten die Flughöhe zu sein. Bei Vögeln sind starke Reaktionen bei Flughöhen unter 300 m, bei Säugetieren unter 150 m häufig (Literaturübersicht in Kempf u. Hüppop 1996). Nach Schnidrig-Petrig u. Ingold (1995) reagieren Gemsen auch unterschiedlich auf das Erscheinen von Gleitschirmen, je nachdem, ob diese direkt über sie hinweg oder etwa auf gleicher Höhe an ihnen
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vorbei fliegen. Neben der Distanz ist also auch der Winkel zwischen Störreizquelle und Tier entscheidend. Obwohl Gander u. Ingold (1995) keine deutlichen Differenzen zwischen den Fluchtdistanzen von Gemsböcken (Rupicapra r. rupicapra) gegenüber Wanderern, Joggern und Mountainbikefahrern feststellten, dokumentieren zahlreiche Literaturdaten, wie unterschiedlich sich Tiere gegenüber diversen Boden gebundenen Störreizen verhalten (Miller u. Gunn 1979). Als Beispiele seien die Fluchtdistanzen von Austernfischern und Brachvögeln angeführt (Tabelle 9.1.3). Graugänse reagierten am stärksten auf Fußgänger, während sie gegenüber Autos eine geringere Fluchtdistanz zeigten. Doch sind auch Kraftfahrzeuge in ihrer Störwirkung differenziert zu betrachten. Fahrende Autos auf Straßen werden von den Vögeln offenbar als weniger gefährlich eingestuft als Autos, die anhalten. Dies bestätigten auch Untersuchungen von Klein (1993) an verschiedenen Wasservogelarten in Florida. Während fahrende Autos eine relativ geringe Störquelle darstellten, löste das Anhalten der Kraftfahrzeuge nicht selten Flucht aus. Beim Aussteigen von Personen ergriffen die Tiere fast immer die Flucht. Ähnliche Ergebnisse lieferten auch die Untersuchungen an rastenden Gänsen und Kranichen in Mecklenburg-Vorpommern (Ulbricht u. Klenke 2000b). Ebenso differenziert und im wesentlichen vom Verhalten der „Störquelle“ in der freien Natur gesteuert, sind in vielen Fällen auch die Reaktionen auf das Erscheinen des Menschen selbst. Zugleich dokumentieren sie die Fähigkeit der Tiere, relevante von irrelevanten Störreizen zu unterscheiden, d.h. die Mechanismen der Habituation (s. Kap. 7.4). So stellten Mainini et al. (1991) fest, dass Murmeltiere (Marmota m. marmota) gegenüber Wanderern auf Wegen geringere Fluchtdistanzen aufwiesen als gegenüber Fußgängern, die das Gebiet abseits von Wegen durchquerten (s.a. Franceschina-Zimmerli 1995). Ähnliches ist für Rehe und Waldohreulen belegt. Auch hier lösten Fußgänger abseits von Waldwegen – im Vergleich zu Fußgängern auf Waldwegen – häufiger Fluchtreaktionen (Capreolus capreolus: Herbold 1995) bzw. eine Erhöhung der Herzfrequenz (Asio otus: Berger 1992, 1994) aus (s. dazu auch Helb u. Hüppop 1991; Hüppop 1995). Keller (1991) konstatierte, dass von Altvögeln betreute Jungengruppen (sog. Kindergärten = creches) der Eiderente (Somateria mollissima), die sich am Ufer aufhielten, auf wasserseitige Störreize (Surfer, Boote) deutlich heftiger reagierten als auf Störreize, die von Land ausgingen (Fußgänger). Hierfür war vermutlich weniger der Störreiz-Typ als vielmehr die fehlende Möglichkeit zur Flucht aufs Wasser bei wasserseitigen Störreizen entscheidend. Erhöhte Aufmerksamkeit. Wachsamkeitsverhalten dient dem Schutz vor Feinden und gehört zum Verhaltensinventar vieler Wirbeltiere. Es äußert sich vor allem in regelmäßigem Sichern (Aufmerken2). Besonders augenscheinlich ist dieses Verhalten bei Arten, die in Gruppen oder Verbänden leben. So gibt es in einer Gruppe 2
Die Aufmerksamkeit wird bei zahlreichen Tierarten auch deutlich gezeigt, denn neben ihrem eigentlichen Zweck signalisiert sie einem möglichen Angreifer, dass eine Überraschung und damit erhöhte Chance auf Beute wenig wahrscheinlich ist. Innerhalb der Gruppe lenkt gerichtetes Sichern die Aufmerksamkeit von Artgenossen auf verdächtige Erscheinungen.
180
Joachim Ulbricht, Mechthild Roth
oder in einem größeren Verband stets einen mehr oder weniger hohen Anteil sichernder Tiere. Er ist in größeren Gruppen in der Regel geringer als in kleineren (z.B. Rutschke 1994). Auch die Zahl Junge führender Tiere, die meist eine erhöhte Wachsamkeit zeigen (Lazarus u. Inglis 1978; Alonso u. Alonso 1993), dürfte darauf einen Einfluß haben. Nach Krebs u. Davies (1976) ist in der kollektiven Wachsamkeit ein Vorteil des Lebens in Gruppen zu sehen (s.a. Dimond u. Lazarus 1974). Zwar ist in der Gruppe die Aufmerksamkeit des Einzeltieres zumeist geringer als bei solitären Arten; durch die mehr oder weniger große Zahl ständig sichernder Tiere wird dieser Effekt aber deutlich kompensiert. Beim Auftreten eines Störreizes ist zunächst eine sprunghafte Erhöhung der Zahl aufmerkender Tiere festzustellen. Sie kann – bei entsprechender Reizstärke – letztlich alle Tiere eines Trupps einschließen. Auch nach einem Störereignis liegt der Anteil aufmerkender Tiere oft noch einige Zeit über dem Wert vor dem Störereignis (Abb. 9.1.3). Ereignis: Insassen eines auf dem Plattenweg parkenden Pkw zünden zwei Feuerwerkskörper, Kranichtrupp in ca. 300 m Entfernung
Verhaltensanteile
100% 80%
Andere
60%
Flucht Aufmerken
40%
Lokomotion Komfortverhalten
20%
Fressen
0% 16.051Uhr
2 Uhr 16.14
3 Uhr 16.35
Ereignis: Trecker passiert Kranichtrupp in ca. 200 m Entfernung 100%
Verhaltensanteile
80%
Andere Aufmerken
60%
Lokomotion Komfortverhalten
40%
Fressen
20% 0% 13.30 Uhr
13.45 Uhr
13.55 Uhr
Abb 9.1.3. Reaktionen eines Kranichtrupps auf verschiedene Störreize, nach Ulbricht et al. (1996)
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
181
Wie das Fluchtverhalten ist auch die Reaktion „Aufmerken“ u.a. abhängig von der Art bzw. Stärke des Reizes und somit von der Entfernung zur Störreizquelle. Die Reaktionsdistanz ist hier aber zumeist größer, so dass das Verhaltensmuster „Aufmerken“ gut geeignet ist, um die Reichweite von Störreizen festzustellen. So können bei Graugänsen diverse Störreize ein verstärktes Aufmerken bis zu einer Entfernung von 400 m bewirken (Abb. 9.1.3). Gemsen „sichern“ beim Erscheinen eines Gleitschirms schon ab einer Distanz von 1 000 m, während erst in einem Entfernungsbereich von 400 bis 600 m mit Flucht zu rechnen ist (Schnidrig-Petrig et al. 1994). Bei Seehunden (Phoca vitulina) hingegen liegen die relativ hohen Reaktionsdistanzen von Sichern und Flucht dicht beisammen (Vogel 1994). Es sei an dieser Stelle nochmals auf die z.T. ausgeprägte Fähigkeit zur Gewöhnung an ungefährliche Störreize hingewiesen. Andererseits können negative Erfahrungen, z.B. Bejagung, zur Vergrößerung der Reaktionsdistanz für verstärktes Aufmerken führen. Nach Wille (1995) zeigten beispielsweise Blessgänse zur Zeit der Bejagung anhaltendes Aufmerken im Mittel in einer Entfernung von 140 m, außerhalb der Jagdsaison dagegen erst in einer Entfernung von 64 m.
182
9.2 Einfluss von Störungen auf das Zeit-Aktivitäts-Muster Joachim Ulbricht, Mechthild Roth Die durch anthropogene Störreize ausgelösten Verhaltensweisen aus dem Funktionskreis des Feindverhaltens führen häufig zu einer Veränderung des ZeitAktivitäts-Systems von Tieren. Störungseffekte spiegeln sich vor allem in zwei ethologischen Parametern wider, die auch häufig ineinander greifen: der (meist diurnalen) Aktivitätsrhythmik, d.h. der zeitlichen Verteilung verschiedener Verhaltensweisen im Tag-Nacht-Verlauf (Aktivitätsmuster) und dem Zeit-Aktivitäts-Budget3, d.h. den Zeitanteilen die ein Tier während des Tages oder in der Nacht für verschiedene Verhaltensweisen aufwendet. Die für verschiedene Verhaltensweisen aufgewandten Zeitanteile unterliegen auch ohne anthropogene Störreize sowohl tageszeitlichen als auch saisonalen Schwankungen und unterscheiden sich individuell, z.B. in Abhängigkeit vom sozialen Status (Alonso u. Alonso 1993) oder den körpereigenen Energiereserven (Ely 1992). Außerdem wird der Zeitaufwand für verschiedene Verhaltensweisen von exogenen Umweltfaktoren beeinflusst, zu denen neben der Witterung die Qualität der Nahrung gehört. Letztere steuert – wie die Untersuchungen von Gauthier et al. (1988) an Schneegänsen (Anser caerulescens) belegen – vor allem die Dauer (den Umfang) der Aktivität „Nahrungsaufnahme“ im täglichen Zeitbudget. Im allgemeinen ist der Zeitaufwand für die Aufnahme einer adäquaten Menge bei energiereicher Nahrung geringer als bei energiearmer (z.B. Blessgänse, Ely 1992). Besonders in den Sammel-, Rast- und Überwinterungsgebieten müssen Vögel naturgemäß viel Zeit für die Nahrungsaufnahme verwenden. Dieser Zeitaufwand ergibt sich aus dem täglichen Energiebedarf und der Erfordernis des Aufbaus von Fettreserven für den anstehenden Zug oder die Brutsaison (s. Fox u. Madsen 1981; Ebbinge u. Spaans 1995). Die in dieser Hinsicht vermutlich am besten untersuchte Tiergruppe sind die Anatidae, insbesondere Enten und Gänse (s. Paulus 1988), da sich diese Arten auch außerhalb der Brutzeit relativ gut beobachten lassen (s. Keller 1995). Blessgänse beispielsweise fressen im Überwinterungsgebiet täglich 650–800 g Gras; das sind mehr als 25 % ihres Körpergewichtes. An den kurzen Wintertagen verbringen sie dafür über 90 % ihrer Zeit auf den Nahrungsflächen. Erst mit zunehmender Tageslänge reduziert sich der Zeitanteil für die Nahrungsaufnahme (Owen 1972). Bei Graugänsen im Sammel- und Rastgebiet bei Güstrow 3
Zur Bestimmung von Zeit-Aktivitäts-Budgets dienen zumeist die von Altmann (1974) vorgeschlagenen Methoden – das „focal-animal sampling“ und das „instantaneous and scan sampling“. Beim „focal-animal sampling“ wird ein sog. Fokustier eine zeitlang unter Beobachtung gehalten. Dadurch sind jedoch nur Aussagen zu einem Individuum möglich. Mit dem „instantaneous and scan sampling“ hingegen werden die Verhaltensanteile einer größeren Anzahl von Individuen in einer Gruppe erfasst.
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
183
betrug der mittlere Zeitanteil für die Nahrungsaufnahme 66 %; wobei sich der Anteil gegen Ende der Rastperiode durch die Ausdehnung der morgendlichen und abendlichen Phase der Nahrungsaufnahme erhöhte – bei gleichbleibender Nahrungsqualität (Fissenewert 1998). Die Notwendigkeit zur ausgiebigen Nahrungsaufnahme in ihren Sammel-, Rast- und Überwinterungsgebieten macht viele Vogelarten gerade hier anfällig für anthropogene Störungen. Selbst verstärktes Aufmerken, eine vergleichsweise schwache Reaktion auf einen Störreiz, kann – bei allzu großer Häufigkeit – zu Verschiebungen im Aktivitätsmuster bzw. im Zeit-Aktivitäts-Budget führen, verbunden mit einer Einschränkung der Nahrungsaufnahme. Kruckenberg et al. (1998) stellten fest, dass Blessgänse mit zunehmender Annäherung an stark frequentierte Straßen einen größeren Zeitanteil für das Aufmerken verwendeten, der zu Lasten des Fressens ging (s.a. Jaene et al. 1998). Auch bei Schneegänsen haben häufige Störungen durch die Auslösung des Fluchtverhaltens (Auffliegen) und eine erhöhte Wachsamkeit über die Dauer des Störereignisses hinaus eine Verringerung des Zeit-Budgets für die Nahrungsaufnahme zur Folge (Bélanger u. Bédard 1989, 1990). Stock u. Hofeditz (1994) kamen für Ringelgänse (Branta b. bernicla) zu ähnlichen Ergebnissen. Allerdings kompensierten die Tiere die Zeit(und Energie-)Verluste zumindest teilweise in der verbleibenden Zeit durch intensiveres Fressen. Da Tiere in relativ gering gestörten Gebieten aber 12 % mehr Fettreserven anlagern konnten, sind die Grenzen der Kompensation auch bei Ringelgänsen klar erkennbar. Zudem veränderte sich bei Ringelgänsen unter dem Einfluss von Störungen auch der – durch die Tide mitbestimmte – Tagesrhythmus der Nahrungsaufnahme im Wattenmeer. Ähnliches stellten Fox et al. (1993) an Pfeifenten (Anas penelope) fest. Bélanger u. Bédard (1990) fanden heraus, dass Schneegänse nach störungsreichen Tagen auch nachts der Nahrungssuche nachgehen, wahrscheinlich um die durch häufiges Auffliegen verursachten Energieverluste auszugleichen. Ein solches Verhalten konnte allerdings – auch in störungsreichen Phasen – im Rahmen der Projektuntersuchungen an Bless- und Saatgänsen im Rastgebiet Rügen (Ulbricht u. Klenke unveröff.) nicht beobachtet werden. Auch Kindergartengruppen der Eiderente verlieren durch Störungen Zeit für die Nahrungsaufnahme (Keller 1991). Da sich die Erreichbarkeit ihrer Nahrung weitgehend auf Zeiten mit niedriger Tide beschränkt, sind die Möglichkeiten zur Kompensation von Defiziten begrenzt. Bei Kranichen (Grus grus) hängt die Dauer der täglichen Nahrungsaufnahme während ihres zum Teil wochenlangen Aufenthaltes im Rastgebiet von der Qualität der Nahrungsressource ab. Für die Aufnahme von Maiskörnern (aus Kolbenbruchstücken von der Bodenoberfläche) ist der mittlere Zeitaufwand mit 55 % vergleichsweise gering, während die Vögel für die Aufnahme einer entsprechenden Menge Wintergetreidekörner (gedrillte Saat aus dem Boden) 85 % ihrer Zeit auf den Nahrungsflächen benötigen (Nowald 1994; Ulbricht u. Klenke 2000b). Nach Untersuchungen auf der Insel Rügen verlassen Kraniche bei stärkeren Störungen in der Regel ihre Nahrungsfläche im Rastgebiet und suchen vorübergehend eine oder mehrere Ausweichflächen (meistens Grünland) in der Nähe auf (Abb. 9.2.1; Ulbricht u. Klenke 2000b; s.a. Nowald 1994). Diese „Zwangspausen“ nutzen sie u.a. für die Gefiederpflege oder für Ruhephasen. So lag an störungsarmen
184
Joachim Ulbricht, Mechthild Roth
Tagen (0–1 Störungen/d) der Zeitanteil der Nahrungsaufnahme im Mittel bei 77,9 %, an störungsreichen Tagen (4–6 Störungen/d) hingegen bei 60,8 % (s. Abb. 9.2.2). Eine signifikante Erhöhung des Anteils Nahrung aufnehmender Tiere im Nachgang von Störungen war nicht festzustellen, so dass der Zeitverlust auf diese Weise offenbar nicht kompensiert wird. 100 90
Anteil der Kraniche (%)
80 70 60 50 40 30 20 10 0 7:45
9:15
8:30
10:00
10:45
11:30
12:15
13:00
13:45
14:30
15:15
16:00
16:45
17:45
Uhrzeit
Abb. 9.2.1. Aufenthalt von Kranichen (max. 830 Tiere, grau) auf der Nahrungsfläche (frisch gedrilltes Wintergetreide) an einem störungsreichen Tag im Rastgebiet Rügen, Pfeile Störungen, die zum vorübergehenden Verlassen der Nahrungsfläche führten, aus Ulbricht u. Klenke (2000b)
Nahrungsaufnahme (%)
70 65 60 55 50 45 40
0
1
2
3
4
5
6
Störungen/Tag
Abb 9.2.2. Veränderung des täglichen Zeitanteils der Nahrungsaufnahme beim Kranich in Abhängigkeit von der Anzahl der Störungen, aus Ulbricht u. Klenke (2000b)
Die potenziellen Effekte eingeschränkter Nahrungsaufnahme für den Kranich soll folgendes Beispiel veranschaulichen: Nach Nowald (1994) benötigt ein Kranich zur Deckung des täglichen Energiebedarfs in den Rastgebieten etwa 120 g Getreidekörner (Trockenmasse). Der Aufbau der Energiereserven für den
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
185
1 900 km langen Non-Stop-Flug ins Überwinterungsgebiet (Laguna de Gallocanta, Spanien) erfordert darüber hinaus die Ingestion von insgesamt ca. 1 180 g Getreidekörnern (Nowald 1994). Werden – wie unter weitgehend ungestörten Bedingungen üblich – pro Tag ca. 260 g Getreide aufgenommen (Schluckrate: 20 Körner/min, Nowald 1994), reichen (bei Nahrungsüberschuss von 140 g/d) ca. 8 Tage zum Aufbau der Fettdepots aus. An störungsreichen Tagen, an denen sich die Nahrungsmenge um 22 % auf 200 g reduziert, verbleiben nur 80 g für den Aufbau von Energiereserven. Unter den Bedingungen häufiger Störungen wird demzufolge für die Anlage von Fettreserven fast die doppelte Zeit benötigt. In dieser Kalkulation unberücksichtigt sind nur schwer abschätzbare stressbedingte Energieverluste von der Erhöhung der Herzschlagrate bis zur Fluchtreaktion (Auffliegen und Ausweichen auf benachbarte Flächen). Sie können zu einer weiteren Verlängerung der notwendigen Rastdauer4 führen. Diese Verzögerung kann bedeuten, dass Vögel während ihres Zuges widrigen Witterungsbedingungen ausgesetzt sind. Auch bei Säugetieren gibt es Untersuchungen, die den Einfluss von Störungen auf das Aktivitätsmuster und Zeit-Aktivitäts-Budget belegen. Alpenmurmeltiere halten sich zu Zeiten, in denen ihr Lebensraum stark von Menschen frequentiert wird, nicht nur seltener außerhalb ihrer Baue auf, sie sind auch weniger mit Fressen beschäftigt (Franceschina-Zimmerli u. Ingold 1995). Das Ausmaß der Störung wird dabei entscheidend vom Verhalten der Wanderer (Abweichen von Wegen, Mitführen von Hunden) beeinflusst (Ingold et al. 1993). Zum Ausgleich der Defizite änderten die Tiere ihr Aktivitätsmuster und verlagerten die Nahrungsaufnahme stärker in die Morgen- und Abendstunden. Nach Herbold (1995) nimmt bei Rehen an störungsreichen Tagen (Wochenenden) die Verhaltensweise „Ruhen“ durch den Rückzug der Tiere in deckungsreiche Zonen einen größeren Zeitanteil ein (Schober et al. 1995). Auch das Aktivitätsmuster veränderte sich störungsbedingt – insbesondere durch verstärkte nächtliche Fressaktivität (Herbold 1995). Werden Rehe und Rotwild in der Phase der Nahrungsaufnahme gestört, dann wird ein größerer Teil der Zeit für das Sichern verwendet, während sich der Zeitanteil für das Fressen verringert (Herbold et al. 1994). Stockwell et al. (1991) führten im Grand Canyon National Park Untersuchungen zum Einfluss von Helikopterflügen auf das Zeit-Aktivitäts-Budget von Dickhornschafen durch. Im Winter ging die Dauer der Nahrungsaufnahme um 43 % zurück. Zu dieser Jahreszeit hielten sich die Schafe im oberen Bereich des Canyons und damit in einer geringen Entfernung zu den Helikoptern auf. Ein Einfluss von Störungen auf das Aktivitätsmuster wurde auch bei Seehunden festgestellt (Bach 1994; Vogel 1994). Die durch Störungen eingeschränkte Nutzung von Liegeplätzen verschiebt vermutlich nicht nur die zeitliche Verteilung der Ruhephasen, sondern verringert auch ihren Anteil im täglichen Zeitbudget.
4
Durch eine verlängerte Rastdauer nimmt auch die für den Grundumsatz benötigte Nahrungsmenge zu. Bei der Aufnahme von gedrilltem Wintergetreide führt das zur Verstärkung von Konflikten.
186
9.3. Auswirkungen von Zerschneidung und von Störungen auf die Raumnutzung Auswirkungen auf die Raumnutzung von Individuen und Gruppen ergeben sich vor allem aus der Barrierewirkung technischer Infrastrukturelemente. Zum anderen gehen von diesen Strukturen – z.B. bei Verkehrstrassen und Windkraftanlagen in Abhängigkeit ihrer Nutzungsintensität flächenwirksame, meist opto-akustische Störreize unterschiedlicher Reichweite aus. Sie können – ebenso wie alle anderen anthropogen bedingten Störreize – zur Meidung von Habitaten und letztendlich zum Verlust von Lebensraum (Nahrungsflächen, Ruheplätze) führen. Konsequenzen auf populationsökologischer Ebene sind möglich (Sutherland 1996). 9.3.1 Barriereeffekte technischer Infrastrukturelemente Arno Waterstraat, Mechthild Roth Terrestrische Lebensräume. Technische Infrastrukturelemente, insbesondere Verkehrstrassen, tragen teilweise erheblich zur Erhöhung des Raumwiderstandspotenzials (s. Kap. 2.2 und Beitrag Kappler auf der CD) von Tierlebensräumen an Land bei (Bennett 1991). Selbst für flugfähige Arten wie Fledermäuse oder Vögel sind Verkehrstrassen – wenn auch keine absoluten Barrieren – so doch zu einem gewissen Grad Hindernisse, die deren Raumnutzung beeinflussen. So überfliegen Fledermäuse Straßen nicht auf dem kürzesten Weg; vielmehr nehmen die Tiere energieverbrauchende Umwege in Kauf und nutzen zur Querung der Strassen Unterführungen (z.B. Braunes Langohr, Fuhrmann 1991, Wimpernfledermaus: Krull 1991) oder Brückenbauten (z.B. Wasser- und Zwergfledermäuse, Häussler u. Kalko 1991). Wie für die Raumnutzung der Fledermäuse üblich (Dietz u. Richarz 1993; Krull et al. 1991; Limpens u. Kapteyn 1991) spielen auch bei der Überwindung von Verkehrstrassen natürliche und naturnahe lineare Strukturelemente (z.B. Gebüsch, Alleebäume) als Leitlinien eine große Rolle (Richarz 2000). Die Wahrscheinlichkeit, dass Vögel eine Trasse überfliegen, nimmt nach Müller (2001) zumindest bei einigen Arten mit zunehmender Breite stark ab. Als Beispiele werden Bewohner geschlossener Gehölzbestände (z.B. Waldbaumläufer, Haubenmeise) genannt. In einer vierjährigen Fang-Wiederfang-Studie während der Bauphase und nach Inbetriebnahme eines Autobahnabschnittes der A 66 in Hessen stellten Simonis et al. (1997) bei Singvogelarten artspezifische und teilweise erhebliche Barrierewirkungen der Verkehrstrasse fest. Für die Suche nach Nahrung schränkte die Trasse bereits vor Inbetriebnahme als offene Fläche die Querungsereignisse von Kohlmeise, Kleiber und Tannenmeise drastisch ein. Gleiches galt für Parus major hinsichtlich der Suche nach Übernachtungsquartieren im Winter. Nur für ausfliegende Jungvögel stellte die Autobahntrasse vor Inbetriebnahme kein Hindernis dar.
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
187
Offensichtlich ist die Trennwirkung und damit die potenzielle Isolation von Subpopulationen bei bodengebundenen, laufaktiven Arten. Belegt sind Barriereeffekte für einige Insekten (Heuschrecken: Weidemann et al. 1996, Laufkäfer: Mader 1984), Spinnen (Mader et al. 1990), Schnecken (Baur u. Baur 1990), Amphibien (Bennet 1991) und Reptilien (Andrews 1990, zitiert in Kuitunen et al. 1998). Zahlreiche Untersuchungen zur Barrierewirkung von Straßen existieren in Form von Fang-Wiederfang-Studien auch für Kleinsäuger, insbesondere Mäuse (Mader 1979; Bakowski u. Kozakiewicz 1988; Burnett 1992; Slater 1994; Richardson et al. 1997). Die Studien belegen eine Zunahme der trennenden Wirkung mit der Breite der Straße bzw. der Anzahl der Fahrspuren und dem Verkehrsaufkommen (Kozel u. Fleharty 1979; Wilkens 1982). So sank nach Daten von Oxley (1974, zitiert nach Korn u. Pitzke 1988) die Überquerungshäufigkeit (ausgedrückt als Anteil an der Gesamtzahl der Wiederfänge) der Weißfußmaus (Peromyscus leucopus) von 11,8 % bei 11–14,5 m breiten, geschotterten Straßen über 4,4 % bei 19–27 m breiten asphaltierten Straßen geringer Verkehrsdichte auf 1,8 % bei 30– 31 m breiten „Highways“ hoher Verkehrsdichte. Highways mit einer Breite von 118,3–137 m (einschließlich Randstreifen) wurden von P. leucopus nicht passiert. Streifenhörnchen überquerten in der Studie ausschließlich die 11–14,5 m breiten, geschotterten Strassen. Wie die Arbeit von Merriam et al. (1989) an der Weißfußmaus in Kanada dokumentiert, schränken aber selbst geschotterte Waldstraßen mit geringen Verkehrsdichten (1–2 Kraftfahrzeuge/Stunde) die Raumnutzung ein, wenn sie auch nicht als absolute Barrieren wirken. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Hinderniswirkung von Straßen werden mit Unterschieden in der Mobilität und der Aktionsraumgröße von männlichen und weiblichen Tieren erklärt (Korn u. Pitzke 1988). So querten Rötelmaus-Weibchen, deren Aktionsräume wesentlich kleiner als die der Männchen sind, einen Holzabfuhrweg und eine 8 m breite Landstraße wesentlich seltener als die Männchen. Fragt man nach den Ursachen der Barriereeffekte bei Kleinsäugern, sind – abgesehen von der wahrscheinlich synergistischen Wirkung opto-akustischer Störungen – vor allem die mit den Eingriffen in strukturelle Parameter verbundenen Lebensraumveränderungen zu nennen (Oxley et al. 1974). So resultieren aus der fehlenden Vegetationsbedeckung beispielsweise Veränderungen des Mikroklimas, und des Angebots an Deckung. Mittel- und Großsäuger sind aufgrund ihrer ausgedehnten Home-Ranges von Fragmentierungen bzw. Segmentierungen ihrer Lebensräume i.d.R. stärker betroffen als Kleinsäuger. Barriereeffekte zerschneidender Lineamente wie Verkehrstrassen treten jedoch mit zunehmender Körpergröße und der damit verbundenen höheren Mobilität meist in den Hintergrund (Belovsky 1987; van Apeldoorn et al. 1994). Diese Hypothese stützen nicht nur die hohen verkehrsbedingten Mortalitäten bei Mittel- und Großsäugern (s. Kap. 10.2), sondern auch Untersuchungen zur Raumnutzung des Dachses auf der Insel Rügen im Rahmen des UZLAR-Projektes. Zwar dienten Straßen ebenso wie natürliche und naturnahe lineare Landschaftselemente (z.B. Wassergräben, Hecken) dem Raubsäuger als Territoriumsgrenze (Kruuk 1989; Walliser u. Roth 1997). Durchzogen Verkehrswege aber die Home-Ranges wurden selbst stark befahrene Strassen (z.B. Bundesstraßen) vom Dachs während seiner nächtlichen Streifzüge regelmäßig überquert
188
Arno Waterstraat, Mechthild Roth
(Abb. 9.3.1.1). Entsprechende Ergebnisse erzielte Walliser (2002) in durch Ackernutzung dominierten Agrarlandschaften der Insel Rügen, in denen die Tiere aufgrund der weiträumigeren Verteilung geeigneter Nahrungsflächen größere Aktionsräume beliefen als in weitgehend geschlossenen Waldgebieten (s. Kap. 7.2.3; Roth et al. 2000; Walliser u. Roth 1997). Aber auch bei Tieren deren Aktionsräume fast vollständig in Wäldern lagen, sprechen die Verkehrsmortalitäten von Meles meles gegen Barriereeffekte von Straßen, zumindest unter den herrschenden Verkehrsfrequenzen im Untersuchungsgebiet. Allerdings deuten sich durchaus opportunistische Verhaltensmuster im Umgang mit Straßen an, die einen Einfluss der Nahrungsressourcenqualität des Habitats nahelegen. So konstatierten Pratje u. Storch (1998), dass durch Straßen abgeschnittene Waldflächen in den HomeRanges weniger häufig als unzerschnittene vom Dachs frequentiert wurden.
Abb. 9.3.1.1. Individuelle Home-Ranges des Dachses im Einflussbereich von Straßen (Hauptbaue durch Pfeile markiert, Waldflächen grau, Straßen mit einer Verkehrsfrequenz > 2 000 Fahrzeuge als schwarze Linien), aus Pratje u. Storch (1998)
Aquatische Lebensräume. Eine Vielzahl von Längs- und Querbauwerken beeinflussen Wasserhaushalt, Güte und ökologische Funktionsfähigkeit der Fließgewässer. Ohne auf die Vielfalt möglicher Bauwerke einzugehen (verwiesen sei hier auf Schönborn 1992), richtet sich insbesondere bei den Querverbauungen die Konstruktion der Bauwerke nach der Größe der Fließgewässer. Für Gräben und Bäche sind kleine Staue und Überfälle charakteristisch. Mit zunehmender Größe werden diese durch feste oder regulierbare Wehre ersetzt, die dann bis in kleinere Flüsse
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
189
die typischen Querverbauung darstellen. Schleusen, Staudämme und Staustufen sind charakteristisch für kleinere bis größere Flüsse. Gemeinsam ist allen Bauwerken im Gewässer, dass sie zur Abflussregulierung, insbesondere zur Verhinderung extremer Abflüsse beitragen und damit in dynamische Prozesse der Flusssysteme eingreifen (Tabelle 9.3.1.1). Tabelle 9.3.1.1. Wirkungsebenen von Gewässerfragmentierungen auf die Ökosysteme und die darin lebenden Organismen Wirkungsebene
Auswirkungen
Verhinderung extremer Abflüsse Unterbrechung der Habitatkontinuität
auf dynamische Prozesse auf Diversität und Standorttypie; Veränderung der Habitatbesiedlung auf Beeinflussung von Dismigration, Dispersion, Raum und Habitatnutzung
Fragmentierung
Wie Plachter (1998) und Diester (1998) am Beispiel der letzten natürlichen mittel- und westeuropäischen Flüsse beschreiben sind unregulierte Flüsse charakterisiert durch: unregelmäßiges Auftreten von Hochwässern, keine Reduzierung der maximal im Jahr möglichen Hochwässer, räumliche Begrenzung der Auswirkungen von Hochwässern nur durch das Talrelief und keine anthropogene Beeinträchtigung des Transports und der räumlichen Verteilung von Geschieben bzw. Sedimenten. Allerdings sind nach Dynesius u. Nielsson (1994) auf der gesamten Nordhalbkugel außerhalb der Arktis kaum noch unregulierte Flüsse vorhanden. Bei der Analyse aller 139 großen Flüsse mit Abflüssen über 350 m³/s im nördlichen Drittel der Erde waren noch 39 % nicht durch Regulation beeinträchtigt. Alle diese Gewässersysteme liegen in der arktischen Region bzw. in den Tundren Amerikas und Eurasiens. Zu den durchschnittlich beeinflussten Flüssen dieser Größenordnung (19 %) gehören in Deutschland danach der Rhein und die Oder, während Donau und Elbe durch Fragmentierung stark beeinflusst (42 %) sind. Während die Unterbrechung der Habitatkontinuität durch die Querbauwerke zu den in Kap. 10.4 und 10.5 beschriebenen Veränderungen der Besiedlung durch die Fischfauna führt, hat die Fragmentierung der Habitate zusätzlich auch gravierende Veränderungen auf die Raum- und Habitatnutzung. Dies geschieht immer dann, wenn die Anforderungen der Arten an die Raumgröße (s. Kap. 7.2.1) unterschritten werden. Dies wird bei der Analyse der Raumnutzung der Bachforellen (Salmo trutta) des Untersuchungsgebietes Nebel deutlich (Spieß et al. 1998; Waterstraat 2001). Dabei handelt es sich um einen Warnowzufluss in Mecklenburg-Vorpommern, der mit einem Mittelwasser von 1,2 m³/s zur unteren Forellenregion (Äschenregion) zu rechnen ist und in der Vergangenheit von mehren Wehren zerschnitten wurde (Abb. 9.3.1.2). Die Errichtung von Wehren in der Nebel führte zu einer ungleichen Verteilung von Habitaten für die einzelnen Alterstadien bzw. Lebensphasen der Bachforelle
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Arno Waterstraat, Mechthild Roth
in den drei getrennten Flussabschnitten. Besonders deutlich wird dies an dem Angebot potenzieller Laichplätze für Kieslaicher (Abb. 9.3.1.3). Erhebliche Unterschiede treten in der Menge und Verteilung des Laichplatzangebotes für die Forellen in der Nebel auf. Unterhalb des Wehres Kölln im Abschnitt Hoppenrade konzentrieren sich die geeigneten kiesigen Schotterstrecken im Anschluss an das Wehr auf einen sehr kleinen Bereich. Oberhalb des Wehres verteilen sich die Laichhabitate im Abschnitt Ahrenshagen sehr gleichmäßig bis zum oberhalb anschließenden Wehr Kuchelmiß; auch im Oberlauf bis Serrahn gab es im Verhältnis zur gesamten Flusslänge ausreichend Laichplatzangebote.
Abb. 9.3.1.2. Lage des Untersuchungsgebietes im Fluss Nebel, Warnow-Einzugsgebiet (Mecklenburg-Vorpommern), nach Spieß et al. (1998), verändert
Die unterschiedliche Verteilung des Laichplatzangebotes spiegelte sich auch in der Nutzung durch die laichenden Forellen wider (Abb. 9.3.1.4). Während im unteren Flussabschnitt die Forellen nur in einem ca. 1 000 m langen Flussbereich ablaichen konnten, verteilten sich die Laichgruben im gesamten Mittellauf. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur geeignete Habitate angenommen werden. Olsson u. Persson (1986 u. 1988) geben als Optimum groben Kies mit 18 mm Korngröße und Fließgeschwindigkeiten um 0,47 m/s an. Dabei werden insbesondere Flächen angenommen, die direkt oberhalb einer Strecke mit erhöhter Fließgeschwindigkeit liegen (Heggeberget et al. 1988).
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9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
16000
12000 Länge (m)
Laichplatz kein Laichplatz
Fließrichtung
14000
10000 8000 6000 4000 2000 0
Serrahn
Ahrenshagen
Hoppenrade
Abschnitt
Abb. 9.3.1.3. Verteilung der als Laichplatz geeigneten Bachbereiche in den drei von Bachforellen besiedelten Abschnitten der Nebel
16 14 12 10 8 6
Anzahl Laichgruben
4 2
100
Mittellauf 91
82
64
Unterlauf 73
Bachlänge [%]
55
46
37
28
19
10
1
0
Abb. 9.3.1.4. Verteilung der Laichgruben im Lauf der Nebel 1997 an den einzelnen Stationen im Unterlauf unterhalb Kölln und im Mittellauf zwischen Kölln und Kuchelmiß
Auch die Dichte der Bachforellenweibchen in den einzelnen Bereichen unterschied sich gravierend. In unseren Untersuchungen konzentrierten sich vor der Errichtung der Fischaufstiegshilfe (FAH) am Wehr Kölln die laichwilligen Weibchen des Unterlaufes auf einen sehr kleinen Flussabschnitt. Mit Errichtung der FAH änderte sich dies grundlegend und viele Forellen konnten zum Ablaichen in den Mittellauf einwandern.
192
Arno Waterstraat, Mechthild Roth
Diese Änderung des Laichverhaltens ist auch durch Telemetriedaten (s. Kap. 7.2.1), die das Aufsuchen neuer Laichplätze im Mittellauf der Nebel und die anschließende Rückwanderung über das Wehr in den ursprünglichen Einstand und die Probleme bei der Überwindung der FAH am Wehr Kölln belegen sowie durch die Kontrollen des Laichaufstiegs an der gleichen Fischaufstiegshilfe nachzuweisen. In den Jahren 1996 und 1997 wanderten jeweils ca. 50 laichwillige Bachforellen durch die FAH (Waterstraat 2001). Die Untersuchungen zeigten, dass – durch ihre Ortstreue bedingt – die adulten Tiere außerhalb der Laichzeit in ihrer Raumnutzung nur selten durch die Fragmentierung beeinträchtigt werden. Charakteristisch sind kleinräumige Wanderungen im 100-m- und zeitweise 500-m-Bereich. Kommt es jedoch infolge unterschiedlicher Faktoren (z.B. innerartliche Konkurrenz, Prädation oder anthropogene Störungen) zu ausgedehnten Wanderungen (hier bis zu 12 000 m beobachtet) über die vorhandenen Wehre flussabwärts, so sind die davon betroffenen Tiere für die Population verloren. Während der Laichzeit kommt es im norddeutschen Tiefland mit typischem Laichplatzmangel häufig zu einem starken Ansteigen der Mehrfachnutzung der Laichplätze. Wenngleich es trotz vorhandener Fischaufstiegshilfe in den Laichhabitaten unterhalb des Wehres noch immer bis zu einer fast 3-fachen Dichte der Weibchen kommt, ist das bereits eine Entlastung. Ohne diese FAH müsste etwa mit der 5-fachen Dichte in den Laichhabitaten gerechnet werden. Etwa 20 bis 30 % der adulten Tiere aus dem Nebelabschnitt unterhalb des Wehres Kölln durchwandern die FAH und tragen so zu einem besserem Reproduktionserfolg der Gesamtpopulation bei.. Die Auswirkungen von Barrieren auf das individuelle Raumnutzungsverhalten untersuchten innerhalb des Projektes auch Lemcke u. Winkler (1998) am Flussneunauge (Lampetra planeri). Durch Versuche in einem künstlichen Gerinne gelang der Nachweis, dass bereits geringe Niveauunterschiede eines überströmten Wehres von 15 cm zwischen Ober- und Unterwasser nicht zu passieren sind, das Einbringen von Sohlsubstraten die Passierbarkeit jedoch verbessert (s. auch Kap. 10.4.) Versuche an einem unterströmten Wehr zeigten, dass Fließgeschwindigkeiten von 1,2 m/s praktisch kein Wanderhindernis darstellten. Höhere Fließgeschwindigkeiten waren problematisch und ab 1,9 m/s war das Wehr nicht mehr passierbar. Die auch in anderen Untersuchungen festgestellten artspezifischen Grenzgeschwindigkeiten und überwindbaren Absturzhöhen sind eine wichtige Ursache für die unterschiedliche Ausbreitung der Arten in fragmentierten Fließgewässern.
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
193
9.3.2 Störwirkung von Einrichtungen der technischen Infrastruktur Mechthild Roth, Joachim Ulbricht, Frithjof Erdmann Häufig gehen von Einrichtungen der technischen Infrastruktur in Abhängigkeit von ihrer Nutzungsintensität opto-akustische Störreize unterschiedlicher Reichweite aus, mit potenziellen Konsequenzen für die Raumnutzung von Individuen und Gruppen (z.B. Weißkopfseeadler: Buehler et al. 1991; Montopoli u. Anderson 1991). Möglicherweise sind bei Tieren, in deren Verhalten der Geruchsinn eine große Rolle spielt, auch olfaktorische Störreize in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Meideverhalten gegenüber Straßen. Der Einfluss von Straßen auf die Raumnutzung ist relativ gut an rastenden Gänsen dokumentiert (z.B. Mooij 1982; Madsen 1985; Keller 1991). Die Tiere nutzen in ihren Rastgebieten zur Nahrungssuche vorwiegend offene Agrarflächen (s. Kap. 7.2.2), die nicht selten an Straßen oder Feldwege mit opto-akustischem Störpotenzial grenzen. Nach Mooij (1982) hielten Saat- und Blessgänse am Niederrhein zu wenig befahrenen Straßen Abstände von 250 m, zu stark befahrenen Straßen Distanzen von 400 m ein. Keller (1991) ermittelte in Schottland bei Kurzschnabel- und Grauganstrupps ebenfalls Entfernungen von 400 m (Median) zu Straßen. Nach Madsen (1985) beeinflussten in Dänemark Straßen die Raumnutzung von Kurzschnabelgänsen sogar bis zu einer Distanz von 500 m. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Gill et al. (1996) bei ihren Studien an der selben Art in England. Bei einer im Rahmen des Projektes im Rastgebiet auf Rügen durchgeführten großräumigen Rasterkartierung (Größe der Grundfelder 500 m × 500 m) von Gänsen und Kranich auf Nahrungsflächen zeigte sich, dass Grundfelder, deren Mittelpunkte weiter als 250 m von Straßen oder Siedlungen entfernt lagen, überproportional genutzt wurden. Besonders deutlich fiel dieses Ergebnis beim Kranich aus (Abb. 9.3.2.1). Ähnliche Resultate erzielte auch Nowald (1999) mit Hilfe telemetrischer Studien zur Raumnutzung von Kranichfamilien. Altvögel mit ihren Jungen mieden die Nähe von Straßen. Kraniche und auch Gänse – ebenso wie der Schreiadler, Aquila pomarina, (Scheller et al. 1999) – scheinen somit zerschnittene Bereiche mit einem optoakustischen Störungspotenzial als Nahrungsflächen in einem geringeren Maße zu nutzen. Dies bestätigten auch Analysen der kleinräumigen Verteilung der Tiere auf den als Nahrungsflächen genutzten Feldern im Projekt. Bei allen untersuchten Arten wurde hierbei deutlich, dass sich bis zu einer Entfernung von 100 m zu einer Straße weniger Trupps aufhielten als im Entfernungsbereich 100–200 m (Tabelle 9.3.2.1; s. auch Spilling 1998). Verglichen mit den anfangs zitierten Literaturdaten sind die im Rahmen des Projektes ermittelten Meidedistanzen gering. Es sei jedoch erwähnt, dass in neuerer Zeit auch am Niederrhein eine stärkere Annäherung an Straßen festgestellt wurde (V. Wille, pers. Mitt.). Untersuchungen an Bless- und Nonnengänsen (Anser albifrons, Branta leucopsis) am Dollart (NW-Deutschland) ergaben ebenfalls lediglich bis zu einer Distanz von 100 m zu stark befahrenen Straßen eine Beein-
194
Mechthild Roth, Joachim Ulbricht, Frithjof Erdmann
Abweichung vom Erwartungswert [%]
trächtigung der Raumnutzung (Jaene u. Kruckenberg 1996; Jaene et al. 1998; Kruckenberg et al. 1998). Auch Spilling (1998) stellte nur im Nahbereich (< 100 m) von Straßen eine deutlich unterproportionale Nutzung von Nahrungsflächen an der Unteren Mittelelbe fest. 90 70 50 30 10 -10 -30 -50 -70 0 ... 250 250 ... 500 500 ... 750 750 ... 1000 Entfernung zu überörtlichen Straßen bzw. Siedlungen [m] Abb. 9.3.2.1. Abweichungen vom erwarteten Anteil der Nutzung von Grundfeldern eines Gitternetzes durch Kraniche auf Rügen in Abhängigkeit von der Entfernung der GrundfeldMittelpunkte zu nächstliegenden Bundes-, Landes- oder Kreisstraßen bzw. Siedlungen (Erläuterungen im Text), nach Ulbricht u. Klenke (2000b)
Tabelle 9.3.2.1. Anteile der sich im Nahbereich von Straßen aufhaltenden Trupps von Gänsen und Kranichen nach Untersuchungen im Projekt Art
Untersuchungsgebiet
Graugans
Güstrow Warder See Rügen Rügen Goldberg
Bless- und Saatgans Kranich
Anteil [%] 0 bis 100 m 6,5 14,5 14 11 8
Anteil [%] 100 bis 200 m 26 33 28,5 23,5 25,5
Diese geringen Meidedistanzen lassen aber nur bedingt auf eine zunehmende Toleranz (Habituation, s. Kap. 7.4) der Gänse gegenüber dem Straßenverkehr schließen. Ebenso wahrscheinlich ist die Annäherung an den Straßenrand, d.h. das Ausweichen auf suboptimale Habitate, aufgrund der Limitierung der Nahrungsressourcen. Kruckenberg et al. (1998) vermuten Nahrungsverknappung als Grund für die stärkere Annäherung, denn straßennahe Bereiche wurden erst gegen Ende der Überwinterung zunehmend in die Nahrungssuche einbezogen (s. auch Jaene et al. 1998). Eine Verringerung der Abstände von Gänsetrupps zu Straßen im Verlaufe des Winters aufgrund einer Abnahme des Nahrungsangebotes konstatierte in manchen Jahren auch Spilling (1998). Außerdem ist ein Einfluss des lokalen bzw. regionalen Verfolgungsdrucks auf die zu Straßen gehaltene Distanz zu vermuten.
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
195
Während von ausgebauten, regelmäßig befahrenen Straßen mehr oder weniger permanente Störwirkungen durch den Kraftverkehr ausgehen, die zur Meidung von Flächen in der Nähe der Verkehrswege führen, nähern sich Gänse wenig frequentierten Feldwegen mit sporadischen Störereignissen oft sehr stark an (s. auch Percival 1993; Jaene u. Kruckenberg 1996). Bei Erscheinen eines Fahrzeuges ist dann die Fluchtdistanz sehr schnell unterschritten und die Fläche wird nicht selten verlassen. Diese sporadischen Störungen können für Individuen und Gruppen durch den mit der Fluchtreaktion verbundenen Energieverbrauch gravierendere Folgen haben als die prophylaktische Meidung straßennaher Bereiche. Das Abstandsverhalten spiegelt somit die Störwirkung von Verkehrswegen nicht immer adäquat wider. Auch Fußgänger und Radfahrer auf üblicherweise schwach frequentierten Wegen können bei empfindlichen Arten starke und anhaltende Störungen hervorrufen, insbesondere beim Zusammentreffen mit anderen, für sich kaum Flucht auslösenden Störreizen, wie z.B. Prädatoren außerhalb der Fluchtdistanz (z.B. Laursen u. Rasmussen 2002). Das Fluchtverhalten der Tiere entspricht in solchen Fällen dem beim Erscheinen von Prädatoren (vgl. Frid u. Dill 2002; s. auch Kap. 9.2.3). Offenbar kann erst bei mehrfachen derartigen Ereignissen eine Beziehung zu dem gering frequentierten Verkehrsweg hergestellt werden, dessen Nahbereich dann gemieden wird. Der gewählte Schutzabstand ist dann i.d.R. geringer als die bei plötzlichen Fluchten hergestellte Distanz zur Quelle des Störreizes. Bei Brutvögeln ist das Meideverhalten oft noch stärker durch Habituation und Effekte der Landschaftsstruktur beeinflusst, Befunde aus verschiedenen Gebieten fallen nicht ganz einheitlich aus (z.B. Reijnen et al. 1995; Helldin u. Seiler 2003). Der Einfluss des Straßenverkehrs auf die Raumnutzung wildlebender Tiere ist auch bei Säugern dokumentiert. In verkehrsberuhigten Regionen der Rocky Mountains verkleinerten sich die Home-Ranges von Cervus elaphus nelsoni, da die Tiere nicht über relativ weite Strecken ziehen mussten, um dem Menschen weniger zugängliche Habitate aufzusuchen (Coel et al. 1997). Nach Thurber et al. (1994) nutzt der Wolf in Alaska Habitate in der Nähe stark frequentierter Straßen deutlich seltener als Bereiche, die nicht von Straßen zerschnitten sind. Erst ab einer Entfernung von 2,1 km zu Straßen ergaben sich keine Unterschiede mehr in der Raumnutzung. Ausgenommen waren Wölfe, deren Bau in der Nähe (1 km) der Straßen lag. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Whittington et al. (2004). Windkraftanlagen. Die Wirkung von Windkraftanlagen auf die Raumnutzung von Tieren wurde und wird häufig diskutiert. Allerdings ist der sichere Nachweis der Einflüsse wegen methodischer Probleme (s. Scherner 1999) oft nur schwierig zu erbringen. Zu rotierenden Windkraftanlagen halten viele Vogelarten eine größere Distanz als zu „ruhenden“ Einrichtungen (Leitungen, Masten, s.u.), oft „Scheuchwirkung“ genannt (z.B. Isselbächer u. Isselbächer 2001; Winkelman 1989, 1990b). Bezeichnenderweise reagieren auch hier schwarmbildende größere Arten wie Brachvögel und Goldregenpfeifer (z.B. Schreiber 1993), Gänse und Kraniche offenbar heftiger als in kleinen Gruppen Nahrung suchende Krähen oder unter den Anlagen brütende oder fressende Kleinvögel (z.B. Braunkehlchen, Berghänfling). Studien in Dänemark ergaben, dass Kurzschnabelgänse einen Abstand von mindestens 400 m zu Windkraftanlagen einhielten, was zu erheblichen Einschrän-
196
Mechthild Roth, Joachim Ulbricht, Frithjof Erdmann
kungen in der Nutzung der Nahrungsgründe führte (Ornis Consult 1989). Jaene u. Kruckenberg (1998) schätzen den „Verlust“ an potenzieller Nahrungsfläche für Blessgänse durch die Wirkung einer Windkraftanlage auf 40 ha. Kraniche hielten in Mecklenburg-Vorpommern Distanzen von mindestens 500 m zu Windkraftanlagen ein, während sich auch größere Gänsetrupps mitunter bis auf 200 m annäherten (Ulbricht u. Klenke 2000b). Bei Kranichen, die in der Umgebung von Windparks brüten (Paare, Familien, kleine Trupps), kann es offenbar zur Habituation kommen; sie nähern sich bei der Nahrungssuche zumindest den äußeren Anlagen stärker an (z.B. 100–140 m, Beob. F. Erdmann). Bei Zugvögeln, die Bereiche von Windparks passieren, werden ähnliche Reaktionen wie an Hochspannungsleitungen beobachtet, meist aber früher (bessere Sichtbarkeit) und oft heftiger (z.B. Auflösen der Flugformation, Abdrehen, weiträumiges oder hohes Ausweichen; Böttger et al. 1991; Isselbächer u. Isselbächer 2001). Tabelle 9.3.2.2. Phänomene niederfrequenter elektrischer und magnetischer Felder und ihre potenziellen Effekte auf die Brutbiologie freilebender Vogelarten, nach Daten von Hammann et al. (1998), verändert Phänomene
Effekte
Wirkung auf biologische Rhythmen
Legebeginn
Beeinflussung des Immunsystems Effekte auf Wachstum, Entwicklung und Fortpflanzung Beeinträchtigung des Stoffwechsels (Calciumhaushalt)
Sterblichkeit von Nestlingen und Altvögeln Missbildungsraten, Schlüpfraten, Gelegegröße, Eivolumina, Nestlingssterblichkeit Schlüpfraten, Gelegegröße, Eivolumina,
Energiefreileitungen. Der Einfluss von Energiefreileitungen auf die Raumnutzung wurde bisher vor allem an überwinternden Bless- und Saatgänsen am Unteren Niederrhein untersucht (Ballasus 1996; Ballasus u. Sossinka 1996; Kreutzer 1997; Sossinka u. Ballasus 1997; s.a. Heijnis 1980; Altemüller u. Reich 1997). Ballasus (1996) stellte fest, dass die Tiere den Nahbereich von Hochspannungstrassen (< 40–80 m) seltener zur Nahrungssuche nutzten als entferntere Bereiche. Nach Kreutzer (1997) erstreckte sich der Bereich geringerer Nutzungsintensität bis zu einer Entfernung von 300 m von Freileitungen. Auch die Untersuchungen auf Rügen im Rahmen des Projektes lassen auf einen Einfluss von Hochspannungstrassen auf die Raumnutzung von rastenden Großvögeln schließen. Auf Nahrungsflächen, die von Hochspannungsleitungen überquert wurden, suchten im Mittel 25 % weniger Gänse und 61 % weniger Kraniche Futter als auf unzerschnittenen Nahrungsflächen (Ulbricht u. Klenke 2000). Dieses Meideverhalten ist – abgesehen von optischen Störreizen – eventuell auch die Folge elektromagnetischer Störreize im unmittelbaren Trassenbereich (Ballasus u. Sossinka 1996; Silny 1997). Obwohl aus Laboruntersuchungen bekannte teratogene Effekte elektromagnetischer Wellen von Hammann et al. (1998) an höhlenbrütenden Vogelarten nicht nachweisbar waren, sind in der Literatur verschiedene Phänomene niederfrequenter elektrischer und magnetischer Felder und deren mögliche Auswirkungen auf die Brutbiologie freilebender Populationen beschrieben (Tabelle 9.3.2.2).
9 Auswirkungen auf Individuen und Gruppen
197
Darüber hinaus kann die Beeinträchtigung der Raumnutzung im Bereich von Energiefreileitungen auch eine Folge erhöhter Prädatorendichte sein, vermutlich schon durch eine ständige Präsenz von Prädatoren ausgelöst. Die Attraktivität für Räuber entsteht sowohl wegen des Angebots von Sitzwarten als auch wegen der regelmäßigen Leitungsopfer (Heijnis 1980; Sossinka u. Ballasus 1997; s.a. Kap. 10.2). Zudem ist es vorstellbar, dass bestimmte Verhaltensabläufe (z.B. Balzflüge) unter Leitungen oder Windkraftanlagen beeinträchtigt werden. Vor allem für größere und schwarmbildende Vogelarten kommt außerdem ein erschwerter An- und Abflug zu Nahrungs- oder Ruheflächen – auch bei einer Flucht – als mögliche Ursache für die eingeschränkte Raumnutzung in Betracht.
9.3.3 Störwirkungen abseits von Einrichtungen der technischen Infrastruktur Joachim Ulbricht, Mechthild Roth Störquellen Jagd und Vertreibung. Ein von zerschneidenden Strukturelementen weitgehend unabhängiger Störfaktor der Raumnutzung ist die Jagd. Sie kann sogar dazu führen, dass ein Ruhe- oder Rastgebiet vorübergehend oder ganz gemieden wird (z.B. Bell u. Owen 1990; Madsen u. Fox 1995; Wille 1995; Fox u. Madsen 1997). Werden Gänse am Schlafgewässer bejagt, wie in Mecklenburg-Vorpommern noch oft der Fall, wechseln sie nicht selten den Schlafplatz – meist mit Konsequenzen für die Nutzung der Nahrungsflächen (Schröder 1974; Beob. J. Ulbricht). Dass die Jagd auch einen Einfluss auf die großräumige Verteilung von Wasservögeln hat, wurde nach der Ausweisung von Jagdschutzzonen in Dänemark deutlich. In den Schutzzonen hielt sich eine deutlich größere Zahl rastender Wasservögel, z.B. Pfeifenten (Anas penelope) auf als in den bejagten Bereichen (Madsen 1994; Madsen et al. 1998). Versuche mit nur tageweise zulässiger Jagd (z.B. an Wochenenden: Bregnballe et al. 2001) zeigten keine ausreichenden Beruhigungs- bzw. Schutzeffekte für jene jagdbaren Arten, die auf die Nutzung der zeitweise beunruhigten Bereiche angewiesen sind (z.B. Feuchtgrünland: Krickente Anas crecca, Bekassine Gallinago gallinago; Madsen u. Holm 2002). Ähnlich wie die Bejagung wirkt sich die gezielte Vertreibung der Tiere von landwirtschaftlich genutzten Nahrungsflächen aus. Davon betroffen sind nicht nur Wildgänse, sondern auch Kraniche. Besonders wirkungsvoll ist die Vertreibung mit Schreckschüssen. Die Vögel wechseln auf andere Flächen, werden dort unter Umständen erneut vertrieben. In ihren Auswirkungen auf die Raum- und Habitatnutzung übertreffen die Vertreibungsaktionen gebietsweise die Bejagung bei weitem. In einigen Rastgebieten findet man demzufolge kaum noch eine von anthropogenen Störungen unbeeinflusste Verteilung der Tiere vor. Störquelle Freizeitaktivitäten. Für eine Reihe von Tierarten sind als Störfaktor Freizeitaktivitäten von Bedeutung, bei denen Menschen nicht selten in entlegenste Bereiche abseits von Straßen vordringen. So wird die Raumnutzung von Gemsen (Rupicapra r. rupicapra) in den Schweizer Alpen sehr stark durch das Gleit-
198
Joachim Ulbricht, Mechthild Roth
schirmfliegen beeinflusst (Schnidrig-Petrig 1994; Schnidrig-Petrig u. Ingold 1995). Bei aufkommendem Gleitschirmbetrieb zogen sich die Tiere von ihren Weideflächen für mehrere Stunden in den Wald zurück. Nur manchmal verließen die Gemsen die Deckung, um in Waldrandnähe zu äsen. An Tagen ohne Gleitschirmbetrieb hingegen verbrachten die Tiere die Tagesstunden vorwiegend in offenen Bereichen – ähnlich wie in Gebieten ohne Gleitschirmaktivitäten. Auch der Wanderbetrieb wirkt sich nach Schnidrig et al. (1991) auf die Raumnutzung der Gemsen aus. Zu Zeiten, in denen viele Wanderer unterwegs waren, mieden die Tiere die wegnahen Bereiche ihres Lebensraumes. Herbold (1995) stellte anhand telemetrischer Untersuchungen an Rehen (Capreolus capreolus) fest, dass sich die Tiere an Tagen mit hoher Spaziergängerfrequenz (an Wochenenden) häufiger und länger in der Deckung aufhielten. Die Veränderungen im Zeit-Aktivitäts-Budget und der Aktivitätsrhythmik sowie deren Konsequenzen für die Raumnutzung werden als Anpassung an menschliche Aktivitäten interpretiert. Im Rahmen des UZLAR-Projekts im Warnowgebiet (Mecklenburg-Vorpommern) durchgeführte Untersuchungen ergaben, dass Fischotter (Lutra lutra) die Rastplätze von Wasserwanderern oder Anglern während der Sommersaison seltener aufsuchten (Binner et al. 1999; Binner u. Waterstraat 2003). Freizeitaktivitäten haben erwartungsgemäß auch Auswirkungen auf die Raumnutzung von Vögeln. So können z.B. Skifahrer die Raumnutzung von Raufußhühnern beeinflussen (Zeitler 1995). Die meisten Untersuchungsergebnisse zum Einfluss von Freizeitaktivitäten beziehen sich auf Wasser- und Watvögel, zumal sich diese Vogelarten relativ gut beobachten lassen. Auch wenn Beweise nur schwer zu erbringen sind, deuten die Ergebnisse doch in vielen Fällen auf die störungsbedingte Meidung bestimmter Habitatbereiche hin. So werden verschiedene Entenarten durch Boote und Surfer zumindest vorübergehend von ihren bevorzugten Nahrungs- und Ruheplätzen verdrängt (z.B. Batten 1977; Tuite et al. 1984; Frenzel u. Schneider 1987; Sell 1991; Bauer et al. 1992; Schneider-Jacoby et al. 1993; Blew u. Südbeck 1996). Starke Störungen können sogar die Meidung ganzer Gewässer durch Entenvögel bedingen. Während der Großgefiedermauser sind Wasservögel in besonderem Maße auf ungestörte Bereiche angewiesen. So konzentrierten sich z.B. mausernde Eider- und Brandenten (Somateria mollissima, Tadorna tadorna) im schleswig-holsteinischen Wattenmeer auf von Sportbooten wenig frequentierte Bereiche (Stock et al. 1994). In der Naturschutzpraxis ergibt sich daraus die Notwendigkeit, Schutzzonen für Wasservögel einzurichten (Keller 1992). Watvögel sind menschlichen Störungen sowohl im Watt auf ihren Nahrungsflächen als auch an den Hochwasserrastplätzen (hier vor allem durch Boote, z.B. Koepff u. Dietrich 1986; Dietrich u. Koepff 1995) ausgesetzt. So werden von Watvogeltrupps als Reaktion auf Störreize nicht selten Ausweichflüge über größere Distanzen durchgeführt, wodurch sich die Raumnutzung verändert (Cayford 1993). Einen bedeutenden Einfluss auf das Raum-Zeit-Muster von Wasser- und Watvögeln im Wattenmeer haben auch Flugzeuge verschiedenen Typs (z.B. Küsters u. van Raden 1986, 1987; Koolhaas et al. 1993; Smit u. Visser 1993). Die Funktion isolierter Habitate (z.B. Rastgewässer von Wat- und Wasservögeln im Binnenland) kann bei intensiver Störung durch Luftfahrzeuge (Flugsport, militärischer Übungsbetrieb) erheblich beeinträchtigt werden (z.B. Niemann u. Sossinka 1992).
10 Die Wirkungen von Zerschneidung und von Störungen auf Populationen und Biozönosen 10.1 Einfluss von Störungen auf den Fortpflanzungserfolg Joachim Ulbricht, Mechthild Roth Der Einfluss von Störungen auf den Fortpflanzungserfolg wurde vor allem bei Vögeln ermittelt (Übersicht in Keller 1995), da bei dieser Tiergruppe der Bruterfolg methodisch relativ gut erfassbar ist. Abgesehen von der direkten Beeinflussung des Fortpflanzungserfolges können Störungen1 auch indirekt über eine Beeinträchtigung der Kondition (z.B. durch stressbedingte hormonelle Veränderungen des Fortpflanzungsverhaltens oder ungünstige Energiebilanzen aufgrund beeinträchtigter Zeit-Aktivitäts-Budgets, s.a. Kap. 9.2) zu einer Verringerung der Nachkommenzahl führen. Direkte Einflüsse auf das Fortpflanzungsgeschehen. Alle direkten Beeinflussungen des Bruterfolges sind ursächlich auf die störungsbedingte Auslösung von Verhaltensweisen aus dem Funktionskreis des Feindverhaltens (vor allem Fluchtreaktion) und den damit verbundenen Änderungen des Zeit-Aktivitäts-Budgets zurückzuführen. Wie Untersuchungen an Vögeln belegen, ist dies auf verschiedene Weise möglich: Bei panikartiger Flucht können Eier beschädigt werden oder aus dem Nest rollen. Auch Jungvögel werden beim plötzlichen Auffliegen teilweise mitgerissen (Bunnel et al. 1981). Kehren die Altvögel nach einer oder mehrfacher Störung nicht mehr zum Nest zurück, um die Bebrütung der Eier fortzusetzen, sterben die Embryonen in den Eiern, die Nestlinge oder Jungvögel durch Abkühlung, Überhitzung, Prädation bzw. Nahrungsmangel. Selbst wenn die Altvögel nach einer Flucht zum Nest zurückkehren, besteht die Gefahr, dass Embryonen während der Abwesenheit der Elterntiere an Unter1
Die (meist unbeabsichtigte) Zerstörung eines Geleges bzw. Tötung von Jungvögeln durch Menschen (oder deren Fahrzeuge, Haustiere usw.), wie sie insbesondere bei bodenbrütenden Vögeln vorkommt, ist nicht das Resultat einer Störung im engeren Sinne. In vielen Fällen lassen sich aber solche Ereignisse nicht von Verlusten unterscheiden, die auf Störungen zurückgehen. Als Beispiel hierzu seien Gelegeverluste beim Seeregenpfeifer (Charadrius alexandrinus) genannt, die in von Touristen stark frequentierten Küstenabschnitten sowohl durch das Zertreten von Gelegen und kleinen Dunenjungen als auch durch das störungsbedingte häufige Verlassen des Geleges bzw. der Jungen entstanden sein können (Schulz u. Stock 1993).
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kühlung oder Überhitzung und Austrocknung sterben, da bei den meisten Vogelarten ein sehr enger Temperaturbereich während der Bebrütungsphase eingehalten werden muss (Webb 1987; Suter u. Jones 1981). Ähnliches gilt für Jungvögel. Werden Nestlinge bzw. Jungvögel aufgrund häufiger Störungen von ihren Eltern nur unzureichend mit Nahrung versorgt, sinken die Überlebenschancen verglichen mit Nestlingen bzw. Jungvögeln aus ungestörten Bruten (s.a. Verringerung der Kondition). Das gilt auch für Jungvögel von Nestflüchtern (z.B. Limikolen), die aufgrund häufiger Störungen unter Umständen nicht ausreichend Nahrung aufnehmen können (z.B. Flemming et al. 1988; Yalden u. Yalden 1990). Das vorübergehende Verlassen des Geleges oder der Jungen erhöht die Zugriffsmöglichkeit für Prädatoren. Werden vor der Flucht Verhaltensweisen, die dem Schutz des Geleges vor Raubfeinden dienen (z.B. Haubentaucher: Abdecken der Eier mit Pflanzenmaterial) nicht ausgeführt, erhöht sich das Prädationsrisiko (Keller 1989). Durch störungsbedingte Bebrütungspausen kann sich die Embryonalentwicklung verlangsamen. Entsprechend verlängert sich die Bebrütungsphase und damit die Zeit, in der das Gelege von Prädatoren geplündert werden kann (Hüppop 1993, 1995). Analoges gilt für die Zeitdauer der Nestlingsaufzucht. In Vogelkolonien (insbesondere in Möwenkolonien) können Attacken durch Altvögel benachbarter Reviere zu Jungvogelverlusten führen, insbesondere wenn die Küken ihren Sitzplatz verlassen (vgl. Brown u. Morris 1995).
Ab welcher Entfernung ein Störreiz entsprechende Reaktionen auslöst, hängt u.a. von der artspezifischen und individuellen Fluchtdistanz ab, die aus der situativen Risiko-Nutzen-Abschätzung resultiert (s. Kap. 7.4). Dabei gilt in der Regel, dass die Bindung an das Gelege mit dem Bebrütungsgrad der Eier steigt und umgekehrt die Tendenz das Nest sporadisch oder permanent zu verlassen mit zunehmender Brutdauer sinkt (Gaitzenauer 1990, Watson 1993). Konkrete Untersuchungen existieren vor allem bei Greifvögeln. Gravierende Auswirkungen haben Freizeitaktivitäten wie der Klettersport beispielsweise auf den Wanderfalken (Snow 1972, Olsen u. Olsen 1980). Selbst wenn sich die Bergsteiger außerhalb des unmittelbaren Horstbereichs aufhalten, reicht schon der mit dem Bergsport verbundene Geräuschpegel aus, dass Altvögel ihre Nester verlassen (Call 1979; Ratcliffe 1980; Kelly 1996). Als störungsempfindlich gelten auch verschiedene Adlerarten, obwohl sich hier regionale Unterschiede abzeichnen. Jenni (1992) – zitiert in Mosler-Berger (1994) – stellte fest, dass Menschen näher als 300 m zum Horst den Steinadler zum Wegflug veranlassen. In einem Zeitraum von 5 Jahren wurden 30 Bruten aufgegeben. Für fast 1/3 der Ereignisse waren anthropogene Störungen die Ursache (Sprengarbeiten in Horstnähe, Helikopter, Hängegleiter und neugierige Horstbesucher). Helander (1985) vermutet, dass ein Großteil der Brutaufgaben beim Seeadler im schwedischen Lappland auf Störungen durch Schneemobile während der Bebrütungsphase (April/Mai) zurückzuführen ist. Andererseits sind Untersuchungen dokumentiert, in denen die Adler trotz Störungen erfolgreich brüteten (Hauff 1996). Während Mathisen (1968) bzw.
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Fraser et al. (1985) beim nordamerikanischen Weißkopfseeadler (Haliaeetus leucocephalus) keine Korrelation zwischen Störungshäufigkeit und Bruterfolg konstatierten, deuten die Beobachtungen von Grubb et al. (1992) auf einen solchen Zusammenhang hin. Auch nach Anthony u. Isaacs (1989) war der Bruterfolg an Plätzen mit einem größeren Störungspotenzial im Mittel niedriger als an Plätzen mit einer geringeren Störungswahrscheinlichkeit. Tjernberg (1983) verglich den Bruterfolg des Steinadlers (Aquila chrysaetos) in Schweden an Plätzen mit unterschiedlicher Störungsexposition (Sichtbarkeit, Erreichbarkeit von Straßen etc.) ohne Unterschiede festzustellen. Zum Fischadler (Pandion haliaetus) gibt es einige Untersuchungen aus Nordamerika. Levenson u. Koplin (1984) stellten eine Abnahme des Bruterfolges mit zunehmender Störungshäufigkeit fest. Auch nach van Daele u. van Daele (1982) brüteten Paare, die > 1500 m von menschlichen Siedlungen entfernt nisteten, erfolgreicher. Poole (1981) hingegen fand keine Auswirkungen von Störungen auf den Fortpflanzungserfolg. In Mitteleuropa nisten Fischadler in neuerer Zeit überwiegend auf Strommasten, die sich nicht selten in der Nähe menschlicher Siedlungen befinden. Nach Reichle (1996) flogen brütende Fischadler vor allem dann vom Nest ab, wenn sich Menschen den Brutmasten näherten. Ob der – im Vergleich zur Umgebung – geringere Bruterfolg der Art im Müritz-Nationalpark mit derartigen Störungen in Zusammenhang steht, bedarf einer näheren Untersuchung (Reichle 1996). Im Rahmen des UZLAR-Projektes am Mäusebussard in Mecklenburg-Vorpommern durchgeführte Studien erbrachten keinen Einfluss von Straßen und Siedlungen auf den Bruterfolg (Ulbricht u. Klenke 2000). Buteo buteo zeigte auch bei der Brutplatzwahl eine relativ große Toleranz gegenüber potenziellen Störquellen. Im Gegensatz dazu kam Schimmelpfennig (1996) zu dem Ergebnis, dass näher an Wegen und Straßen nistende Paare des Mäusebussards im Mittel ein schlechteres Brutergebnis hatten. Positive Effekte verkehrsbedingter Störungen sind bei Rebhühnern nachgewiesen. Nach Birkan et al. (1994) hatten Rebhühner (Perdix perdix) im Nahbereich einer Autobahn in der Region Beauce einen höheren Bruterfolg als Hennen abseits der Straße. Als mögliche Ursachen werden das Fehlen von Pestizideinträgen und anderer landwirtschaftlicher Einflüsse sowie eine bessere Nahrungsverfügbarkeit diskutiert. Indirekter Einfluss: Verringerung der Kondition. Dass Individuen, die aufgrund von Nahrungsmangel eine schlechte Körperkondition erreichen, oft weniger erfolgreich reproduzieren bzw. gar nicht erst zur Fortpflanzung schreiten, ist ein hinlänglich bekanntes Phänomen (Übersicht in z.B. Drent u. Daan 1980; Newton 1998). Ähnliche Effekte sind zu erwarten, wenn Nahrung zwar ausreichend vorhanden, die Möglichkeiten zur Nahrungsaufnahme durch störungsbedingte Änderungen des Zeit-Aktivitäts-Budgets aber eingeschränkt ist (s. Kap. 9.2). Betroffen sind vor allem Tierarten, die eine Beeinträchtigung der Aktivität „Nahrungsaufnahme“ – und darüber hinaus die zusätzlichen störungsbedingten Energieverluste (z.B. durch Erhöhung der Herzfrequenz oder Fluchtreaktion) nicht durch intensivere Nahrungsaufnahme oder Änderungen des Aktivitätsmusters (z.B. Ausweitung bzw. Verlagerung der Freßphasen) kompensieren können. Dass bereits erstaunlich geringe Veränderungen im Energiehaushalt Lebensdauer und Reproduk-
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tionsrate und damit die „lifetime reproduction“ beeinflussen, belegen Laboruntersuchungen an Zebrafinken. So sank bei künstlicher Erhöhung des Energieverbrauchs um 0,6 bis 4,7 % ohne Kompensation durch zusätzliches Futter die Überlebensrate der Tiere von 0,79 auf bis zu 0,35, der Abstand zwischen einzelnen Bruten vergrößerte sich von 57 Tagen auf 60 bis 128 Tage (Lemon 1993). Offenbar besonders hoch sind nicht kompensierbare störungsbedingte Energieverluste bei Gänsen (z.B. Schneegans: Bélanger u. Bédard 1990). Ringelgänse (Branta bernicla) müssen während ihrer Frühjahrsrast ausreichend Fettreserven anlegen, um den Energiebedarf für den Heimzug in ihre sibirischen Brutgebiete und die anschließende Brutperiode decken zu können (Bergmann et al. 1994, s.a. Stock u. Hofeditz 1997). Das gilt insbesondere für Weibchen, da diese in den Bebrütungspausen nur relativ wenig Nahrung aufnehmen können. Ebbinge u. Spaans (1992, 1995) stellten fest, dass Weibchen, die im Frühjahr ein höheres relatives Gewicht aufwiesen, mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgreich brüteten als Artgenossinnen mit einem geringeren Gewicht. Einen Zusammenhang zwischen anthropogener Störungshäufigkeit, Körperkondition und dem Fortpflanzungserfolg der Kurzschnabelgans (Anser brachyrhynchus) konstatierte Madsen (1994). Kurzschnabelgänse rasten auf ihrem Weg von Dänemark ins Brutgebiet Spitzbergen im Mai noch eine bis drei Wochen in Nordnorwegen, um erneut Energievorräte anzulegen. Tiere, die während ihres Aufenthaltes durch Landwirte häufig zum Auffliegen gebracht wurden, erreichten eine geringere Kondition2 als Individuen in störungsärmeren Bereichen des Rastgebietes (Abb. 10.1.1). Von den Gänsen, die im darauf folgenden Herbst/Winter wieder im dänischen Rastgebiet gesichtet wurden, führten 46 % der Individuen, die im Frühjahr eine gute Kondition aufwiesen, Jungvögel mit. Hingegen hatten nur 17 % der Vögel mit schlechter Kondition einen Bruterfolg. Eine störungsbedingte Verringerung des Fortpflanzungserfolges durch Beeinträchtigung der Kondition legen auch die Untersuchungen von Schnidrig-Petrig (1994) in den Schweizer Alpen an Gemsen nahe. Der Autor stellte fest, dass Gemsen in Gebieten mit starkem Gleitschirmbetrieb im Durchschnitt weniger Jungtiere mitführten als Individuen in störungsärmeren Bereichen (s. Tabelle 10.1.1). Die Ursache liegt auch hier wahrscheinlich in einer Beeinträchtigung des ZeitAktivitäts-Budgets. Bei Störungen durch Gleitschirmflieger verlassen die Tiere zeitweilig ihre bevorzugten Nahrungsgebiete (s. a. Schnidrig-Petrig u. Ingold 1995). Treten solche Störungen mit großer Häufigkeit auf, sind Defizite in der Energieversorgung zu erwarten, die sich in einer Verringerung der Kondition der Tiere manifestieren. Das gilt insbesondere für jungeführende Weibchen, die durch die Produktion von Milch und die notwendige Bildung von Fettreserven für den Winter einen überdurchschnittlich hohen Energiebedarf haben. So erreichten die Gemsen in Gebieten mit starkem Gleitschirmbetrieb auch ein geringeres Gewicht als Individuen in störungsärmeren Regionen.
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Die Körperkondition wurde anhand der Rundung des Abdomens (Abdominalprofilindex) geschätzt.
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Adominalprofil-Index
7 6 5 4
ungestört gestört
3 0
1
2
3
4
>4
Tage nach der ersten Beobachtung
Abb. 10.1.1. Entwicklung der Abdominalprofile von individuell markierten weiblichen Kurzschnabelgänsen unter ungestörten und gestörten Bedingungen im Rastgebiet Vesterålen, N-Norwegen, nach Madsen (1994)
Tabelle 10.1.1. Körpergewichte [kg] von Gemsen in zwei Gebieten der Schweizer Alpen vor (1979–1984) bzw. nach (1987–1992) Beginn des Gleitschirmbetriebes, Angaben aus Schnidrig-Petrig (1994) 1979-84 SD
n
Mittel
1987-92 SD
n
Mann-Whitney U-Test
14,3 20,1
1,50 1,65
14 14
12,7 19,2
2,18 1,91
30 32