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German Pages 280 Year 2014
Susanne Binas-Preisendörfer Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit
Studien zur Popularmusik
Susanne Binas-Preisendörfer (Prof. Dr. phil.) lehrt und forscht zu »Musik und Medien« am Institut für Musik der Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie mediatisierter Musikformen, Musik und Globalisierung, Musikwirtschaft, Jugendkulturen und populäre Musik, Kultur- und Kunstpolitik.
Susanne Binas-Preisendörfer Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit. Popmusik auf globalen Märkten und in lokalen Kontexten
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© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Jack Simanzik, Potsdam/photocase.com Lektorat: Susanne Binas-Preisendörfer Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Satz: Uwe Preisendörfer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1459-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I NHALT Ein methodisches Postulat - Vorwort 1
Populäre Musik und Globalisierung: Übergreifende Aspekte, beispielhafte Ereig Ereignisse und spezielle Fragen
1.1 Differenzierung und analytische Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes 1.2 »Rorogwela Lullaby … Sweet Lullaby … Komodo«: Dokumentation einer beispielhaften Begebenheit als empirische Ausgangsbasis der Untersuchung 1.2.1 »Sweet Lullaby« – zur ästhetischen und kommerziellen Wirkung eines melanesischen Wiegenliedes 1.2.2 Die Deep-Forest-Affäre – widersprüchliche Positionen angesichts der Aneignung »traditioneller Musikformen« durch Deep Forest 1.2.3 Interessen im Konflikt – Anmerkungen zu unterschiedlichen Positionen der Akteure im Musikprozess 1.2.4 Schlitztrommeln, Panflöten und Reggae – Klangformen und musikalische Praktiken in der südpazifischen Inselwelt 1.2.5 Mauro Picottos »Komodo« – das Wiegenlied im Kontext elektronischer Dance Music 1.2.6 Südseeträume – unendliche Geschichten wider einer »entzauberten Welt« (Weber 1934) 1.3 Fragen an den Gegenstand der Untersuchung 1.3.1 Konfigurationen aktueller Popmusik – empirische Befunde 1.3.2 Konfigurationen aktueller Popmusik – methodische Herausforderungen 2
Musiken der Welt – World Music – Global Pop
2.1 Historische Voraussetzungen und Strategien kultureller Durchdringung und Transformation 2.1.1 Kulturelle Durchdringung als Voraussetzung und Resultat der Schaffung von bedeutungsvollen Unterschieden und Differenz 2.1.2 Kulturelle Durchdringung als Hoffnung auf Synthese und Ganzheitlichkeit 2.1.3 Kulturelle Begegnungen: Historisch konkrete Resultate gesellschaftlicher Modernisierung und ihre Auswirkungen auf das Verhältnis von Differenz und Synthese 2.2 »Anxiety & Celebration« – zu einigen theoretischen Positionen bei der Erörterung von World Music 2.2.1 Homogenisierung oder Diversifikation? 2.2.2 World Music – Repräsentation »glokalisierter« Klänge
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2.3 Weltmusiken – World Music – zur Geschichte eines Phänomens, einer Repertoire-Kategorie und einer Forschungstradition 2.3.1 World Music – eine Repertoire-Kategorie im 20. Jahrhundert 2.3.2 Evolutionäre und universalistische Weltbilder – zu den Anfängen einer »Weltmusikgeschichtsschreibung« 2.3.3 Rekonstruktion von kulturellen Verstehenssystemen – Weltmusikgeschichtsschreibungen nach 1950 2.3.4 »Recordings too – not just ›live‹« (1) – Quellen der Erforschung populärer Musik 2.3.5 World Music als Gegenstand der Erforschung populärer Musik 2.3.6 Kulturelle Durchlässigkeit und starke Zeichen 2.3.7 Ethnische Repräsentationen als Orientierungshilfen 3
M Mediale ediale Verfügbarkeit
3.1 »When a white anthropologist first recorded it …« – zur medialen Integration lokaler Musikformen in den globalen Musikprozess 3.1.1 Allgemeine historische Voraussetzungen und Konsequenzen medialer Verfügbarkeit 3.1.2 Methodik und inhaltliche Prämissen bei der Analyse technologischer und ökonomischer Dimensionen des Musikprozesses 3.1.3 Ein indigener Klang im Prisma phonotechnischer Möglichkeiten 3.2 Wachswalzen und Sampler – zur Bedeutung phonotechnischer Verfahren bei der Herausbildung globalisierter Musikformen 3.2.1 »Recordings too, not just live« (2) 3.2.2 Tonträgerformate und lokale Musikpraktiken 3.2.3 Sampling the »World« – Klänge im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit 3.2.4 »Verfügbarkeit« und »Konvergenz« – zusammenfassende Überlegungen zur Bedeutung phonotechnischer Verfahren im Musikprozess 3.3 MTV-Mandarin – zur Bedeutung regionaler bzw. lokaler Märkte für die global agierende Musikwirtschaft 3.3.1 »think globally, act locally« (Sony) – »globalize local repertoire« (BMG) 3.3.2 »One Planet – One Music«? (MTV) 3.3.3 Wettbewerbsvorteile – zusammenfassende Überlegungen zur Bedeutung lokaler Märkte
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»Populäre Musik, mediale Verfügbarkeit Verfügbarkeit und Globalisierung« wissenschaftstheo wissenschaftstheoretische und musikpolitische Perspektiven Nachwort
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Literatur
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Diskographie
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E IN METHODISCHES P OSTULAT - V ORWORT Im Sommer des Jahres 1973 – damals war ich neun Jahre alt – schien Ostberlin eine weltoffene Stadt. Rings um den Alexanderplatz, die Karl-Marx-Allee und im Volkspark Friedrichshain tummelten sich – so jedenfalls meine Erinnerung – Menschen aus aller Herren Länder. Meine Mutter diskutierte mit einem Westberliner Studenten und einem echten »Indianer« und ich sammelte emsig Unterschriften von Gästen der X. Weltjugendfestspiele aus dem Sudan, Iran, aus Chile, Mexico, Burundi, Finnland, Frankreich, Kurdistan, Algerien, Zaire, Ungarn, der Sowjetunion, den USA und aus Vietnam. Unter freiem Himmel erlebten wir den Auftritt von zauberhaft kostümierten Nordkoreanerinnen. Sie schwebten in bodenlangen Seidenkleidern zu traditionellen Klängen über die Bühne. Heute würde ich meinen, dass diese Tage in Berlin die ersten waren, an denen in mir das Gefühl aufkam, Teil von Gesellschaft und öffentlichem Leben zu werden, mitten unter den Leuten aus so vielen Regionen der Welt. Geographie gehörte zu meinen Lieblingsfächern. Ich wusste nahezu jede Hauptstadt ihrem Land zuzuordnen, über den Ausbruch der Vulkaninsel Krakatau im Pazifik hielt ich einen leidenschaftlichen Vortrag. Mein Vater brachte von seinen Reisen als Dokumentarfilm-Kameramann Schallplatten, Bilder und kleine Objekte, Schmuck, Andenken und Instrumente mit. Da die Instrumente für Touristen gefertigt waren, konnte ich ihnen kaum mehr als ein Pfeifen entlocken. Von den Schallplatten interessierten mich die bunten Cover mehr als die Musik. Ravi Shankar, Violeta Parra, Billy Bragg, Chris Cutler und Heiner Goebbels mit ihrer Band Cassiber erlebte ich während des Festivals des Politischen Liedes in Berlin/Ost. Anfang der 1980er Jahre rieten mir meine Eltern, Musikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität zu studieren. Dort gäbe es auch einen musikethnologischen Zweig. Was Musikethnologie sein könnte, davon hatte ich damals nicht den Hauch einer Ahnung. Wichtig war mir allein die Hoffnung, einmal in ferne Länder reisen zu können. Die Vorlesungen zur Musikethnologie erwiesen sich nach meinem Dafürhalten als langweilig und ernüchternd. Wir hörten vom Stamme der Tutsi in Ruanda, der Anzahl ihrer Schweine und Enten in einem kleinen Dorf und sollten eine persische Schrift übersetzen. Dass unter den Lehrinhalten auch hervorragende Ausführungen zum arabischen Maqam waren, habe ich damals ignoriert. 7
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Mitte der 1980er Jahre richtete sich meine Neugier auf Lebensweisen und weite Kulturbegriffe (Dietrich Mühlberg), die Erfindung des Brausepulvers im beginnenden Industriezeitalter und warum in der Fernsehwerbung für Bügeleisen immer nur Frauen zu sehen waren (Irene Dölling). Ein Oberseminar Medienästhetik (Günter Mayer) ermöglichte Einblicke in die Theorien von Kracauer, Benjamin und Adorno. An einer Universität in der DDR konnte man sich nicht wirklich aussuchen, welche Vorlesungen und Seminare man besuchte. Die Lehrinhalte waren wie Schulstundenpläne organisiert. Dennoch entwickelten wir Vorlieben und vertieften bestimmte Aspekte. Dazu gehörten für mich Vorlesungen zur Musiksoziologie (Christian Kaden), eine Musiktheatergeschichte, die als Kulturgeschichte konzipiert war (Gerd Rienäcker) und die wohl ersten systematischen Vorlesungen zur Geschichte der populären Musik (Peter Wicke), die an einer deutschen Universität gehalten wurden. Allerdings missfiel es mir, wenn Fragen zu Musikindustrie und Fankulturen fortwährend am Beispiel von Michael Jackson abgehandelt wurden. Weder mit seiner Musik noch seinem Image konnte ich damals etwas anfangen. Die eigene Band (der expander des fortschritts) gehörte zum so genannten Berliner Offground, von den einschlägigen Medien auch »die anderen Bands« genannt. »Was tun Leute, denen die Musik, die ihnen vorgesetzt wird, nicht gefällt?« oder »Sind wir verwirrte Verwirrer, die sich an Wirrköpfe wenden? Reisen wir als Aufklärungszirkus durch dieses kleine Land und treten offene Ohren ein« – so beschrieben wir uns 1988 in mühsam kopierten Faltblättern. Musikalisch orientierte sich die Band an Cassiber, den Residents oder der Tödlichen Doris und Frieder Butzmann. Größtes Vergnügen bereitete im Probenraum, auf Bühnen und im Tonstudio ein kleiner Casio-Sampler, mit dem wir damals mehr schlecht als recht jedwede Klänge aufnehmen und wiedergeben wollten und die technische Unzulänglichkeit dieses im Intershop für Westgeld erworbenen Spielzeugs zum ästhetischen Prinzip erklärten. Dazu bastelten wir analoge Endlosschleifen auf Kassetten und montierten die Schreie von »Nebelkrähen beim Überfliegen einer offenen Kulturlandschaft« (Originalstimme bzw. -kommentar Günter Tembrock, Verhaltensbiologe und Bioakustiker) in einen Song, dessen Text von Friedrich Nietzsche geliehen war. Heiner Müller oder Claude Lévi-Strauss gehörten ebenso zu den gesampelten oder rezitierten Quellen. »Jede Nacht wird sein Pferd von sogenannten Vampirfledermäusen überfallen. Er schützt es mit Zeltplanen, aber das Tier zerreißt sie an den Ästen der Bäume. Nun versucht er es mit Pfeffer, dann mit Kupfersulfat einzureiben, aber die Vampire wischen alles mit ihren Flügeln ab und saugen weiter das Blut des armen Tieres aus. Das einzig wirksame Mittel ist das Pferd mit Hilfe von vier zerschnittenen und zusammengenähten Häuten als Stachelschwein zu tarnen.« (Claude Lévi-Strauss 1988, »Traurige Tropen«: 417, verwendet im Titel »Wolfszeit«, der expander des fortschritts 1990)
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Ein methodisches Postulat
Dann fiel die Mauer und unsere Art, mit Musik, Sounds und Texten umzugehen, verlor ihren Reiz, ihren Sinn, und fand kein zahlendes Publikum. Noch wussten wir mit Begriffen wie Projektförderung und Marketing überhaupt nichts anzufangen. Als Gruppe waren wir nicht überlebensfähig, als Einzelne gingen wir unterschiedliche Wege. Auf internationalen Kongressen der International Association for the Study of Popular Music in Stockton (Kalifornien/USA), Kanazawa (Japan) oder Sydney lernte ich in den 1990er Jahren Kollegen und Konzepte kennen, die sich auf die unterschiedlichsten Musikpraktiken der Welt und deren Veränderungen angesichts des rasanten Globalisierungsprozesses im ausgehenden 20. Jahrhundert bezogen. Musikethnologen, die sich mit populären Musikformen befassten und Musik- und Kulturwissenschaftler, die der Bedeutung von lokalen Musikpraktiken nachgingen. Im Kern ging es dabei um die Auswirkungen globaler Umbruchprozesse, Aspekte medialer Verfügbarkeit und insbesondere auch um postkoloniale Scham gegenüber einer verheerenden Kultur- und Wissenspolitik nationaler Imperien und Deutungsmuster. Auf den Mittelstreifen von Sydneys Autotrassen sah ich 1997 Aborigines an den erinnerten Orten ihrer Vorfahren kauern, im Tax-free-Shop von Cairns’ Flughafen Unmengen von Didgeridoos, im E-Werk – einem angesagten Berliner Technoclub – präsentierte 1995 das Festival Urbane Aboriginale – Australien einen so genannten »Sydney-Rave« mit Janawirri Yiparka (Didgeridoo) und DJ Zeitgeist! Als 1996 Rowohlt und die Journalisten Hans-Peter Martin und Harald Schumann das Buch »Die Globalisierungsfalle – Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand« auf den Buchmarkt brachten, war das Thema in den Deutschen Feuilletons und Talkshows angekommen. Die politische, die kulturelle und auch die wissenschaftliche Debatte hatte einen neuen Leitbegriff: Globalisierung – ein Begriff, der anders als der der Postmoderne nun alle Bereiche des Lebens erfassen konnte. Mehr als zehn Jahre danach hat das Thema Globalisierung keineswegs an Bedeutung verloren, nur tragen die Bücher, Nachrichten und Parolen zu den aktuellen sozialen und ökonomischen Verhältnissen, die wirtschaftspolitischen Debatten oder die kulturellen Diskurse andere Titel. Die »Schere zwischen Arm und Reich« ist, wie damals schon prophezeit, erheblich auseinandergegangen. Eine »globale Finanzkrise« lässt nationale Volkswirtschaften und internationale Handelsbeziehungen nahezu aus dem Ruder laufen. Illegale Downloads und »File-Sharing« lehren der Tonträgerindustrie das Fürchten. Die einst umsatzverwöhnten Medienindustrien drängen die politisch Verantwortlichen, das erodierende Urheberrecht zu stärken. All diese Fragen lassen sich längst nicht mehr innerhalb nationaler Systeme sinnvoll verhandeln. Deutschland hat sich offiziell viel zu spät den Status eines Einwanderungslandes gegeben. Entlang und auch quer zu sozialen Milieus und politischen Lagern polarisieren sich Konzepte von Leitkultur und Diversity. Seit Mitte der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts wird wohin man hört ein Hohelied auf »kulturelle Vielfalt« gesungen. Staat, Länder und Kommunen mögen in der Lage sein, auch
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weiterhin das Erbe deutscher Kultur öffentlich zu finanzieren und vor den alles dominierenden Wettbewerbskräften des globalen Marktes zu schützen. Interkultur und interkulturelle Bildung gelten als neue und notwendige Felder kulturpolitischer Aktivitäten, Parallelgesellschaften, Re-Ethnisierungen, Pluralisierung, die Heterogenität und Multiperspektivität der handelnden Akteure als Herausforderungen. Auf staatlicher Ebene ist eine Kulturalisierung der politischen Debatte zu verzeichnen: Armut und Ausschluss seien ein Produkt von Kulturversagen, nur bestandene Sprachkurse und Einbürgerungstests ein sicheres Indiz für Leistungswilligkeit. Unterschiedlichste Formen und Prozesse der Fremd- und der Selbstethnisierung kennzeichnen heute nicht nur die Migrationspolitik. Als ich im Sommer 2008 vom niedersächsischen Ministerium für Kunst und Wissenschaft angefragt wurde, eine Laudatio für die Tuareg-Band Tinariwen anlässlich der Verleihung des Prätorius Musikpreis Niedersachsen in der Kategorie »Internationaler Friedensmusikpreis« zu halten, habe ich gern zugesagt und mit allen in der verbleibenden Zeit zur Verfügung stehenden Mitteln der Recherche (Bücher, Internet, CDs, E-Mail, Telefonate) versucht, ein angemessenes Bild der Musikerinnen und Musiker von Tinariwen aus der südlichen Sahara zu zeichnen. In einem Song ihres im Jahr 2007 veröffentlichten und von Justin Adams produzierten Albums »Amam Iman« greift Tinariwen eine Vision des Tuareg-Führers und Friedensvermittlers Mano Dayak auf, in der es sinngemäß heißt, dass er einen glücklichen Tuareg gesehen habe, angelehnt an einen Schatten spendenden Baum kann er sich mit seiner Viehherde ausruhen und über ein Handy Kontakt zu anderen Hirten oder Familienmitgliedern aufnehmen. Mit anderen Worten: Tuaregs könnten sich wieder in ihren (traditionellen) Lebensräumen bewegen und gleichzeitig Teil der modernen Welt sein. Lebensräume und der Anschluss an moderne Kommunikationsmittel sind für die meisten Tuareg jedoch in weiter Ferne. Die Varianten ihres Elends heißen: Unterwerfung, Befriedung, Kolonisierung, Entkolonisierung, nationale Grenzziehungen, Klimawandel. In kürzester Zeit – so Mano Dayak – hat die Geschichte aus den Tuareg eine Gruppe von Menschen gemacht, die dem Verfall preisgegeben ist (vgl. Dayak 2001). Die europäischen Chronisten der Geschichtsschreibung bezeichneten die Tuareg als Banditen der Wüste, als Räuber und unerbittliche Sklavenhändler. Zugleich war man fasziniert von ihrer Lebensweise und beschrieb sie als wild, jähzornig und stolz. Heute zieren ihre von indigoblauen Tüchern nahezu verhüllten Gesichter Tourismuskataloge und Reiseführer. Die Musik von Tinariwen erinnert an die repetitiven Muster im Blues, bekannter geworden eher durch den aus Mali kommenden Ali Farka Toure (1939 2006) mit halbakustischer Gitarre, Perkussion, Djembe, Kalabassen, Handclapping und weibliche Backgroundstimmen mit den für den arabischen Raum typischen nasalen Timbres und hochfrequent kreischendem Jodeln. Mit dieser Musik haben Tinariwen zunächst ein Mittel gefunden, die eigenen Sehnsüchte und Visionen in Klang, Metrum und Text zu artikulieren. Gleichsam bietet sie für das Publikum vor Ort – in und an den Rändern der Sahara – und anderswo auf der Welt – vor allem in Europa – eine soziale, kulturelle und sogar politische Plattform, die zwischen
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Ein methodisches Postulat
traditionellen Metren, Melodien und modernen Sounds zu vermitteln sucht. Sie verwenden eine globale Musiksprache mit lokalem Slang. Sie produzieren digital in einem Studio in Bamako, der Hauptstadt von Mali. Ihre Musik dürfte westlich sozialisierten Hörern populärer Musik nicht fremd sein, weil die oben genannten Instrumente bzw. Sounds mittlerweile den Status des Unbekannten und Exotischen eigentlich verloren haben. Die Musiker von Tinariwen und ihr von Großbritannien aus operierendes Management wollen nicht unter dem Label »World Music« promotet und vertrieben werden, und dennoch gelingt es ihnen kaum, jenseits dieser Repertoire-Kategorie in Europa ein Publikum zu finden. Zur Verleihung des Michael Prätorius Musikpreises, Kategorie »Friedensmusikpreis«, traten sie in der durch das Scheinwerferlicht unerträglich aufgeheizten Oper von Hannover in traditioneller Kleidung auf. Sie wissen um die Erwartungshaltungen der Europäer. Das Preisgeld wollten sie einer im Jahr 2004 gegründeten Non-For-Profit-Organisation zur Förderung von Kultur und Entwicklung in der südlichen Sahara stiften – unter anderem Träger des Sahara Musik Festival in Essouk, einer Radiostation, einem mobilen Aufnahmestudio und einer Bibliothek – um Ausbildungsmöglichkeiten zu entwickeln und moderne Kommunikationsmittel anzuschaffen. Mit diesen Erinnerungsfragmenten und Ausführungen meines persönlichen Verhältnisses zum Thema populäre Musik und Globalisierung hoffe ich die Position deutlich und kenntlich gemacht zu haben, aus der heraus mein Anliegen, die Fragestellungen und das Verhältnis zum Gegenstand des nun folgenden Textes entstanden sind. Dieses methodische Postulat soll nicht als selbstverliebte Spiegelung missverstanden, sondern als Selbstverständigung einer (auch eigenen) Praxis gelesen werden. »Was aus dem Gedächtnis aufsteigt, hat zwar die naive Direktheit verloren, doch die Qualität nachdenkender Reflexion [und das hoffe ich im Folgenden zeigen zu können – S. B.-P.] hinzugewonnen.« (Glaser 2009: 55) Insbesondere in den Kulturwissenschaften, den Ethnologien und den Forschungen zur populären Musik haben sich in der jüngeren Vergangenheit methodische Ansätze durchgesetzt (hier nur einige Beispiele: Popper 2006, Foucault 1978, Butler 2003, Vogt 2004, Terkessidis 2006, Jackes 2008), die die Position des Sprechers1 verdeutlichen und mitdenken, weil sie sich dessen bewusst sind, dass ein Forscher das »Objekt« bzw. den Gegenstand seiner Forschung permanent mitkonstruiert (vgl. Terkessidis 2006: 158). Die Frage ist dabei nicht so sehr die nach der eigenen Identität, »sondern eine der Reflexion der eigenen Beziehung zu den verschiedenen Linien und Dimensionen, Orten und Räumen, zum Kontext, den man erforscht und darlegt, und zwar theoretisch, politisch, kulturell und institutionell« (Grossberg 1999: 77).
Leider lassen insbesondere weite Teile der Musikwissenschaft eine subjektive Positionsbestimmung im Verhältnis zu den Forschungsgegenständen bisher vermis1
Mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 11
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sen. Dieses Faktum rührt aus der Konzeptionalisierung ihres Forschungsgegenstandes – zumeist einem musikalischen Werk, der Analyse anhand des Notenmaterials, dem Schöpfer in seiner Zeit etc. Erstmals im Rahmen der so genannten Erinnerungs- und Gedächtnisforschung und seit längerer Zeit auch in musikethnologischen Untersuchungen findet eine Positionsbestimmung und Dekonstruktion ideologischer Behauptungen – Dichotomisierung der Welt in einen Westen und einen »Rest« der Welt in der Orientierung auf so genannte außereuropäische Musikkulturen – der eigenen Fachdisziplin und den betreffenden methodischen Postulaten statt. In ihren Überlegungen zur Relevanz der Musikethnologie weisen auch in Deutschland Vertreter des Faches darauf hin, »dass [musikalische bzw. kulturelle] Identitäten nicht objektiv gegeben sind, sondern in einem Prozess konstruiert werden, der das ›Selbst‹ wie auch das ›Andere‹ definiert. [Deshalb – S. B.-P.] … ist zwangsläufig zu fragen, ob wissenschaftliche Forschung nicht weniger ein Finden und Beschreiben als vielmehr ein Erfinden und Konstruieren darstellt. Die Diskussionen um diese Problematik, die in den 1980er Jahren v. a. in der Ethnologie geführt wurden, werden heute in der Regel unter dem Terminus ›Krise der Repräsentation‹ gefasst. In der Ethnologie richtete sich diese fachliche Selbstkritik […] gegen die bis dahin vorherrschende Annahme, als Außenstehende objektive, präzise und umfassend die Realität einer wie auch immer gearteten anderen sozialen Gruppe erfassen und darstellen zu können.« (Klenke/Koch/Mendívil/Schumacher/Seibt/Vogels 2003: 268)
Jeder – nicht nur geisteswissenschaftliche – Forschungsgegenstand wird immer auch im eigenen Erfahrungsraum angeeignet und bewältigt. Als notwendig erachte ich deshalb in allen Bereichen der Wissensproduktion eine Abwendung von wissenschaftlichen Verfahren der Anonymisierung und Darstellung des Forschers als kulturell nicht verortete (man), allwissende Instanz (wir). Der nachfolgende Text geht im Kern auf eigene Studien aus den Jahren 1997 bis 2002 zurück und ist im Rahmen einer Habilitationsförderung der VolkswagenStiftung – der ich an dieser Stelle besonders danken möchte – entstanden. Die Volkswagen-Stiftung hatte Mitte der 1990er Jahre das Thema Globalisierung ausdrücklich als einen Förderschwerpunkt ausgewiesen. Auch diesem Faktum verdanke ich wohl die Unterstützung meines Vorhabens, dass unter dem Arbeitstitel »›Weltmusiken‹ – ›World Music‹: Eine theoretische und empirische Untersuchung zur Transkulturation populärer Musikformen« beantragt und bewilligt wurde. Wie so viele meiner Kolleginnen und Kollegen unter den Nachwuchswissenschaftlern musste ich mich zum Ende der Förderfrist verstärkt der familiären Existenzsicherung zuwenden. Der damals vorliegende Text blieb liegen, andere Aufträge mussten bearbeitet und akquiriert werden. Mit der Berufung als Professorin für Musik und Medien an die Universität Oldenburg im Jahr 2005 hatte ich mir fest vorgenommen, die Arbeit am Text so schnell als möglich wieder aufzunehmen. Lehre, universitäre Selbstverwaltung, Bologna-Prozess und meine Arbeit als sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Kultur in
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Ein methodisches Postulat
Deutschland« verzögerten das Vorhaben. Zugleich eröffneten mir die gesellschaftlichen Veränderungen, der fachliche Austausch mit anderen Wissenschaftlern und vor allem auch mit den Studierenden der Universität Oldenburg und die selbst gewählten Anforderungen im Rahmen meiner kultur- und kunstpolitischen Beraterinnentätigkeit neue Perspektiven auf den »Gegenstand« meiner Forschung, mein Anliegen und die daraus folgenden Fragestellungen und Antworten. Die empirischen Befunde mussten überprüft bzw. in ihrer Veränderung – dies betrifft insbesondere die Fragen der medialen Verfügbarkeit (Stichwort Digitalisierung, Internet) und die aktuellen Operationsmodi der Musikwirtschaft – aufgefrischt und neu geschrieben werden. Einige Erkenntnisse der folgenden Arbeit wurden in Aufsatzsammlungen bereits veröffentlicht. Dies betrifft den Beitrag »Klänge, die verzaubern. Sehnsucht nach Unversehrtheit und Verständigung in der Weltmusik« (Binas 2005), den mich der Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforscher Dieter Senghaas gebeten hatte für den Band »Vom hörbaren Frieden« (Lück/Senghaas 2005) beizusteuern. Im Rahmen einer Tagung und deren Publikation zum Thema »OriginalKopie. Praktiken des Sekundären des Kölner Sonderforschungsbereiches Medien und Kulturelle Kommunikation« (Fehrmann/Linz/Schumacher/Weingart 2004) wurde der Aufsatz »Echte Kopien – Soundsampling in der Popmusik« (Binas 2004) veröffentlicht. Daneben seien noch die Aufsätze »Sound-Shifts. Kulturelle Durchdringung als Voraussetzung und Resultat der Schaffung von bedeutungsvollen Unterschieden und Differenz« (Binas 2002), »Pieces of Paradise – von der Südseeinsel Malaita in die europäischen Dancecharts« (Binas 2002), »Musik – eine Weltsprache? Befunde und Vorschläge zur Dekonstruktion eines Mythos« (Binas-Preisendörfer 2008) und »Mythos Musikindustrie« (Binas-Preisendörfer 2005) genannt, die empirisch und konzeptionell auf Überlegungen des Projektes Populäre Musik und Globalisierung fußen. Die hier vorliegende umfangreiche Publikation gibt mir erstmals die Gelegenheit, konsequent den Zusammenhang zwischen den kulturell-sozialen und den technologisch-ökonomischen Aspekten von Popmusik und Globalisierung darzulegen.
Berlin, im September 2009
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1 P OPULÄRE M USIK UND G LOBALISIERUNG : ÜBERGREIFENDE A SPEKTE ,
BEISPIELHAFTE
UND SPEZIELLE
E REIGNISSE
F RAGEN
1.1 Differ Differenzierung enzierung und analytische Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Globale Präsenz Die verschiedenen und mannigfachen Formen populärer Musik gehören wie diejenigen des Films und andere industriell produzierte Kulturgüter zum Standard-Repertoire dessen, was an der Wende zum und zu Beginn des dritten Jahrtausend unter dem schillernden Begriffspaar von »Kultur« und »Globalisierung« diskutiert wurde und wird. Dass populäre Musik seit den 1990er Jahren Eingang in entsprechende Debatten gefunden hatte, ist sicherlich vor allem ihrer augen- und ohrenscheinlichen Präsenz rund um den Globus geschuldet. Noch im entferntesten Dorf dröhne Madonna aus den Transistorradios, gebe die Popmusik amerikanischer Prägung Takt und Ton an und beherrschen Oligopole, deren Anzahl man an den Fingern einer Hand abzählen kann und durch Fusionen immer weiter schrumpft, unbeeindruckt von der »eigentlichen« Vielfalt musikalischer Äußerungsformen die Gehörgänge der Menschheit. Selbst Autoren, die angesichts der lautstarken Appelle wider den vermuteten moralischen Niedergang, die Verdummung, den Verlust von Traditionen und Identitäten diesen einen Spiegel vorhalten und all jenen, die meinen »die Welt werde immer schlechter« erklären, dass es darauf ankäme, auch die eigene Position in der Beurteilung zum Beispiel von nachfolgenden Generationen oder den Bewohnern des Regenwaldes im Umgang mit kulturellen Symbolen des »Westens« zu relativieren – ja selbst jene finden für Popmusik im angedeuteten Sinne kaum ein gutes Wort. Stellvertretend hierfür sei die britische Journalistin Polly Toynbee zitiert: »Melodien, Stile, neue Klänge treiben durch die Welt ohne Respekt vor Grenzen und wirken auf jeden ein, der sie hört, ob er will oder nicht. Pop ergießt sich aus den Lautsprechern aller 15
Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit Supermärkte, der letzte Hit traktiert die Trommelfelle der Menschen an jeder Straßenecke, unter jeder Jakaranda und unter jeder Palme. […] Das kleine Rinnsal an Einfluss, das via Weltmusik und in Form von anderen Klängen zurückfließt, ist winzig, verglichen mit der Sturzflut von Tönen, die vom Westen aus in andere Weltohren hineinströmen.« (Toynbee 2001: 255)
Bis heute sind diese Appelle nicht verstummt. Angesichts der beachtlichen und durchgreifenden technologischen Veränderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Stichwort Digitalisierung, Internet – haben sich die Akzente ein wenig verschoben: aus den Ängsten gegenüber einer globalen Penetrierung durch Superstars und ihre Hits ist die Hoffnung der vielstimmigen medialen Teilhabe geworden, die sich umgekehrt dann darüber wundert, warum viele Musiker der nichtenglischsprachigen Welt so klingen wollen wie die Stars der westlichen Welt und ein Basecap zu deren beliebtesten Kopfbedeckungen gehört: »Natürlich möchten sie mehr von den Dingen haben, die wir längst besitzen. Kulturelle Globalisierung bedeutet für sie die Gelegenheit, an unserem wohlständigen Lebensstil zu partizipieren, auch wenn – traurigerweise – eine Baseballkappe alles ist, was sie schließlich ergattern können.« (Ebd.: 237)
Modernisierungsprozesse Modernisierungsprozesse Tatsächlich stehen die Formen populärer Musik in einem medienvermittelten weltumspannenden Zusammenhang und sind das Ergebnis von tief greifenden technologischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen der vergangenen 150 Jahre, also eines Prozesses, der nicht erst Ende des 20. Jahrhunderts beginnt. Verschiedene Muster und Szenarien bestimmen dabei die Darstellung und Bewertung dieser Entwicklung in Bezug auf Fragen von Globalisierungs- und so genannten Lokalisierungsprozessen. Grob systematisiert proklamiert das eine Szenario die zunehmende Ortlosigkeit, das andere betont die Bedeutsamkeit lokaler Bindungen von populärer Musik. In groben Zügen seien nachfolgend diese Argumentationsstränge – wie sie insbesondere Mitte und Ende der 1990er Jahre im Zuge einer breit geführten Globalisierungsdebatte auftauchten – skizziert und ins Gedächtnis gerufen. Szenario Eins - Ortlosigkeit Im Zeitalter hochgradig technologischer und ökonomischer Vernetzung schrumpft die Distanz zwischen »Sender« und »Empfänger«, zwischen Klangquelle, Tonträger und Konsument technisch auf einen Mausklick zusammen. Einmal fixiert bzw. gespeichert werden Musik und alle nur denkbaren Klangformen potenziell allerorts verfügbar und damit aus ihren ortsbezogenen Kontexten genommen. Woher bestimmte Klänge kommen, ist kaum mehr nachvollziehbar und wird in der Konsequenz für die handelnden Akteure uninteressant. Im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit bleiben die »realen« Klangquellen zunehmend abstrakt und werden 16
Populäre Musik und Globalisierung
schließlich bedeutungslos, wenn es sie denn überhaupt noch gibt, weil die »totale Digitalisierung« (Negroponte 1997) nicht nur die Reproduktion, sondern letztlich die Transformation und Konstruktion jedes nur denk- und hörbaren Klanges ermöglicht. Friedrich Kittler (Kittler 2000) datiert den Beginn dieser »akustischen Neuzeit« weit vor die Zeit der Digitalisierung in eine Zeit, als Klänge in Zeichen und Zahlen codierbar und manifestiert werden konnten. Schon die Einführung der temperierten Stimmung Anfang des 17. Jahrhunderts (in Europa) verursachte seiner Meinung nach einen nachhaltigen Umsturz aller musikalischen Werte mit tief greifenden medienästhetischen Konsequenzen, die Kittler insbesondere an der technischen »Quantisierung« festmacht. Voraussetzung dessen sei die »informations- und kommunikationstechnische Dauerrevolution« (Beck 1997b), die bereits seit gut 300 Jahren, vor allem aber im Laufe des 20. Jahrhunderts, Kommunikationstechnologien, -formen und -strategien entwickelt und verfügbar gemacht hatte, die in fortschreitendem Maße Prozesse der geographischen Ausdehnung und zunehmenden Interaktionsdichte des internationalen Handels, der weltweiten Vernetzung der Finanzmärkte und Unternehmensstrukturen hervorbrachte (von der Kolonialisierung bis zum Finanzhandel an den Börsen der Welt). »Die Dynamik der Globalisierung […] wird sich wechselseitig verstärkenden Faktoren zugeschrieben, insbesondere einer durch Satellitennetzwerke und das Internet bereitgestellten kommunikativen Infrastruktur, sinkenden Transportkosten, der Intensivierung grenzüberschreitender Kontakte sowie exponentiell zunehmenden Finanztransaktionen.« (Müller 2002: 8)
Weil Distanzen im Laufe dieser Entwicklung in immer kürzerer Zeit überwunden werden konnten, verloren auch räumliche Dimensionen und Markierungen zunehmend an Bedeutung. Letztere fungieren immer weniger als relevante Sinn- und Aktivitätsgrenzen (Bolz 2000: 83). Die »Beherrscher von Territorien« unterliegen heute den »Meistern der Geschwindigkeit« (Menzel 1998). Modernität wurde durch die Entwicklung, vor allem aber die Anwendung und den erfolgreichen Umgang mit den so genannten neuen Technologien und den (immer wieder) Neuen Medien verkörpert. Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien »sind mittlerweile zu einem wesentlichen Faktor der Infrastruktur geworden, von dem die Gesellschaften immer stärker abhängen. Zunehmend werden die Menschen, Organisationen, Unternehmen und Staaten durch die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien integriert und koordiniert, wobei viele räumliche Strukturen allmählich an Bedeutung verlieren werden« (Rötzer 1999: 55).
In die unterschiedlichsten Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens – private, öffentliche, wirtschaftliche, berufliche etc. – hatten zum Ende des 20. Jahr-
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hunderts in vielen, aber nicht allen Teilen der Welt die Möglichkeiten der digitalen Aufnahme-, Speicher- und Wiedergabeverfahren und das World Wide Web Eingang gefunden. Räumliche Verdichtungen und Zentralisierungen zum Beispiel in Form von Städten und der Anballung von Institutionen schienen nunmehr abgelöst und in medialen Strukturen aufgelöst. Es sei nicht mehr wichtig, wo man lebt, wichtig allein sei, dass man kommuniziert. Die Intensivierung, Zuspitzung und Beschleunigung des vor allem durch die Entwicklung von Kommunikationstechnologien gekennzeichneten Modernisierungsprozesses, der zu immensen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen führte, wurde in den 1990er Jahren mit dem zum Leitbegriff avancierten Begriff der Globalisierung beschrieben bzw. etikettiert. Der Terminus Globalisierung wurde in den 1990er Jahren zu einem viel gebrauchten und missbrauchten, immer auch sehr nebulösen, vor allem aber politisch wirkungsvollen Begriff (vgl. Beck 1997b) stilisiert. Ulrich Beck selbst versuchte den Begriff der Globalisierung zu systematisieren, indem er ihn als Zustand, Prozess und insbesondere auch als eine ideologische Wendung bzw. ein ideologisches Programm (Beck 1997b) untersuchte. Im Zentrum einer von Politikwissenschaftlern und Soziologen geführten Debatte stand dabei vor allem die »Transformation der nationalstaatlich verfassten und mit sozialer Kompetenz ausgestatteten modernen Industriegesellschaften« (Menzel 1998: 14f.), die einem erheblichen »Globalisierungsdruck ausgesetzt [wurden und sich in] postmoderne Dienstleistungsgesellschaften als Folge eines beschleunigten technologischen Wandels, insbesondere im Bereich der Informationstechnologien umgestalten. Die damit verbundene Kompression von Raum und Zeit verlangt den Meister der Geschwindigkeit und nicht mehr den Beherrscher des Territoriums. Folglich sind alle territorial gebundenen Systeme wie öffentliche Verwaltungen, Parlamente, Gewerkschaften, öffentlichrechtlich verfasste Medien oder die staatliche Fähigkeit zur Bereitstellung öffentlicher Güter auf dem Rückzug zugunsten der neuen Medien, Finanzmärkte, der internationalen Schattenwirtschaft und des organisierten Verbrechens, der Steuerparadiese, Billigflaggen und Billigfluglinien. Nicht mehr der territorial und ethnisch definierte Nationalstaat mit seiner Homogenisierungs- und Integrationsmacht nach innen, sondern der weltweite Markt, die entgrenzte und entstofflichte Wirtschaft ohne eigentlichen Standort, erscheint als die dominante Sphäre.« (Ebd.)
Globalisierung schaffe, so Ulrich Beck, Orte ohne Gemeinschaft und Gemeinschaften ohne Orte. Nationale politische Systeme verlieren dabei ihre Zugriffs- und Erzwingungsmöglichkeiten gegenüber der globalen Ausbreitung und Entfaltung von medialen Kommunikationssystemen, Unternehmensstrukturen und ökologischen Risiken, weil ihr Verantwortungsbereich territorial begrenzt ist. Die Globalisierungsdebatte begleitete die von wirtschaftsliberalen Kreisen durchgesetzten Privatisierungswellen und forderte zugleich transnationale staatliche Regulierungsvorhaben heraus. Die wenn auch vor allem wirtschaftspolitisch motivierten Strate-
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gien der Europäischen Union waren und sind beredtes Zeugnis des Versuchs, Globalisierungsprozesse »in den Griff« zu bekommen. Abgeleitet und dennoch jenseits politischer Aktivitäten und Stellungnahmen beschreiben Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Globalisierung vor allem als eine »raum-zeitliche Ausdehnung sozialer Praktiken über staatliche Grenzen, die Entstehung transnationaler Institutionen und Diffusion kultureller Muster […] – ein Prozess, der sich durch seinen Tiefgang, seine Geschwindigkeit und seine Reichweite von konventionellen Formen der Modernisierung unterscheidet« (Müller 2002: 8).
Die Untersuchungen entsprechender sozialer Praktiken, Institutionen und kultureller Muster bilden die Grundlage und den Rahmen einer adäquaten Analyse populärer Musikformen. Szenario Zwei - Ortsgebundenheit Die kulturelle Anziehungskraft und der kommerzielle Erfolg populärer Musikformen sind – so viele Autoren aus dem Feld der Cultural Studies und der Musikethnologie – maßgeblich durch das Image von Identitäten, die Poesie des Lokalen (Lipsitz 1994/1999), Authentizität und Nähe geprägt. Mögen diese auch das Resultat von Konstruktionen sein, Erfindungen von Journalisten, Repertoire-Bezeichnungen der Marketingabteilungen von Tonträgerunternehmen oder Selbstbezeichnungen von Szenen: die Images bestimmter geographischer Orte wie Detroit-Techno, Berlin-Dub und Wiener Electronica (Höller 2001; Lindner 2002), oder Authentizitäts- bzw. Ethnisierungskonstruktionen wie zum Beispiel das rituelle »Schwarz-Werden« verweisen auch direkt in bestimmte »lokale« oder regionale Erfahrungsräume. Das »Globale« ist nur im »lokalen« Raum greifbar, weil die Praktiken populärer Musik als unmittelbare kulturelle Aktivitäten jenseits lokaler Handlungsfelder sich weder rekonstruieren noch verstehen lassen. Kultur ist eine Praxis des Vergleichens von Lebensweisen und der Artikulation von Unterschieden als soziale Praxis. Dabei spielen lokale Unterschiede dessen, was als kulturell Bedeutsames artikuliert wird, eine wichtige Rolle im Prozess der Produktion von sozialer Identität. Die kulturellen Aktivitäten selbst, also zum Beispiel der Umgang mit bestimmten Formen populärer Musik, finden nicht in einem virtuellen undefinierten Raum statt, sondern in sehr konkreten lokalen Zusammenhängen und soziokulturell dynamischen Gesellungsformen, die durch Geographie und Geschichte bestimmt sind. Der Anthropologe und Ethnologe Clifford Geertz (Geertz 1983) spricht von Kultur als lokaler Sinnproduktion. Wesenhaft oder hybrid Die Bedeutsamkeit von »lokalen« Faktoren in ihrer Auswirkung auf Beziehungen zwischen Kulturen wird seit Mitte der 1990er Jahre kontrovers diskutiert.
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Prominent geführte Debatten stellten ins Zentrum ihrer Argumentation, dass die Vorstellungen, die vor allem an bestimmte Kulturräume, Kulturkreise und weltanschauliche Gemeinschaften, die großen Religionen der Welt, gebunden sind, zunehmend fragmentiert erscheinen und erheblichen Zündstoff enthalten. Huntingtons »Kulturkampfthese« (Huntington 1996) und Tibis »Krieg der Weltanschauungen« (Tibi 1995) sahen die Welt in in sich geschlossene Kulturen eingeteilt und ihre auch an Territorien gebundenen Religionen unversöhnlich und konkurrierend gegenüber. Ein wesentlicher Grund dieser tief greifenden Fragmentarisierung basiere wiederum auf den strukturellen Prozessen von Globalisierung, also ihren technologischen und ökonomischen Triebkräften und dem Expansionsdrang von Kapital und Werten aus den westlichen – christlich geprägten – Regionen der Welt. Die »McDonaldisierung der Gesellschaften« (Ritzer 1996) führte zur Gegenwehr, weil Menschen erahnen, dass der Weltmarkt nicht nur Videorekorder und Coca Cola ins Haus bringt, sondern ihnen auch Stück für Stück die Kontrolle über ihre Lebensverhältnisse und Identität, respektive traditioneller Werte entzieht. Immer mehr Gruppen und Staaten waren im Begriff, ihre Identität aufzurüsten (Assmann 1994). Gesteigerte Identitätsproklamationen entstanden – so die Begründung der Autoren – offensichtlich immer dort und dann, wenn das Maß universeller – globaler – Anforderungen, die auch als hegemoniale erlebt wurden – ausgeglichen werden musste. Andere Einschätzungen gingen davon aus, dass sich zunehmend ein völlig neuer Typus transkultureller globaler Phänomene herausgebildet hatte, gekennzeichnet von Phänomenen, die quer zu bestimmten kulturellen Räumen nachweisbar sind. Ulf Hannerz sprach von »Kreolisierung« (Hannerz 1992) – ein Begriff, der zunächst in den Sprachwissenschaften entwickelt wurde und die Vermischung unterschiedlicher Sprachen meint. In der Intention vergleichbar schrieb Wolfgang Welsch: »An die Stelle der Kulturen alten Zuschnitts – die man sich immer als eine Art Nationaloder Regionalkulturen vorgestellt hat – sind heute diverse Lebensformen getreten. Diese Lebensformen machen nicht an den Grenzen der alten Kulturen halt, sondern gehen quer durch diese hindurch.« (Welsch 1992: 5)
Migrationsprozesse und technologische Entwicklungen haben dazu geführt, dass »andere« Kulturen – so auch Welsch – zu Referenzsystemen im positiven wie im negativen Sinne werden konnten. Transkulturelle Erscheinungen seien von der wechselseitigen Durchdringung unterschiedlicher kultureller Systeme gekennzeichnet. Mit Konzepten der Hybridisierung, Transkulturalität oder Kreolisierung etc. werden – so Jochen Dreher und Peter Stegmaier in ihren Überlegungen zu Fragen »Kultureller Differenz« – soziale Entwicklungen und ihre Akteure beschrieben, die:
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Populäre Musik und Globalisierung »nicht ganz selbstverständlich zusammen leben können. […] Indem die Zeichen und Diskurse kolonialer Macht umgewertet, entstellt und unscharf gemacht werden, werden Grenzen der vermeintlich totalen Beherrschung der Kolonisierten [d. h. der Unterlegenen – S. B.-P.] aufgezeigt.« (Dreher/Stegmaier 2007: 9)
Die Konzepte von Hybridisierung, Transkulturalität oder Kreolisierung waren und sind auch politische Projekte, die, welche kulturellen Felder auch immer damit angesprochen werden, als Widerstands- und Umdeutungsstrategien im Diskurs um Deutungshoheiten entstanden und als solche zu verstehen sind. Ein anderes, das Konzept der »Ethnoscapes« (Appadurai 1998) versuchte den Sachverhalt der fortschreitenden »Enträumlichung« (Deterritorialisation) von ethnischen Bezügen vor dem Hintergrund der Herausbildung neuer globaler Räume in den Blick zu nehmen: die Herausbildung von »imaginären Gemeinschaften« außerhalb von Nationen, worunter man Transiträume wie zum Beispiel Bahnhöfe, Häfen, Flugzeuge, Feriendörfer und Asylantenheime verstehen kann, und ebenso die imaginäre Teilhabe unzähliger Individuen an den Symbolen von Lebensformen anderer Nationalkulturen. Diese Argumentationen lehnten jegliche Form von Essenzialität, Wesenhaftigkeit und das strikte Gebundensein von Kultur an bestimmte Orte und Regionen ab. Peter Sloterdijk zum Beispiel (Sloterdijk 1999) sprach von Containergesellschaften, die lediglich in einer konkreten historischen Situation der Sesshaftwerdung entstanden und heutigen gesellschaftlichen Konstellationen nicht mehr entsprechen können: »Die Verbindung von Ort und Selbst ist nicht unter allen Umständen so stabil, wie es in den politischen Folkloren des Territorialismus – von den archaischen und antiken Ackerbaukulturen bis zum modernen Nationalstaat – gefordert und vorgespiegelt worden war. […] Mit ihren jeweiligen Konzepten von ›Land‹, ›Dorf‹, und ›Mutterwelt‹ bezeichnen die Völker, die aus der neolithischen Revolution als Ackerbauern hervor gegangen waren, die positive Seite ihrer Sesshaftigkeit. In den diversen Ausdrücken für den befreundeten Raum – z.B. Heimat – artikulieren die sesshaften Völker ihre Symbiose mit den felder- und gräbertragenden Böden. […] Der ›territorial fallacy‹ (der Trugschluss vom Territorium auf den Besitzer) gehört zu den bis heute wirksamsten und problematischsten Erbstücken des sesshaften Weltalters, weil an ihr der Grundreflex aller scheinbar legitimen politischen Gewaltanwendung, die so genannte ›Landesverteidigung‹ sich festmacht. Sie beruht auf der obsessiven Gleichsetzung von Ort und Selbst. […] Dieser schicksalsmächtige Denkfehler wird zunehmend bloßgestellt, seit eine historisch beispiellose Woge transnationaler Mobilität dafür sorgt, dass Völker und Territorien allerorts ihre Liaison miteinander relativieren.« (Ebd.: 24ff.)
Die Ethnologinnen Joana Breidenbach und Ina Zukrigl untersuchten kulturelles Verhalten vor Ort in Bezug auf bestimmte globale Phänomene (Arbeitsmigration, Filme, Musik) und fanden in ihren Studien heraus, dass Menschen globale Phänomene, Waren und Ideen lokal höchst unterschiedlich interpretieren:
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit »Weltweit verfügbare Waren, Medien, Ideen und Institutionen des modernen Lebens führen nicht zu einer Angleichung der Kulturen, sondern werden von Menschen auf die unterschiedlichste Art und Weise in ihr eigenes Weltbild integriert.« (Breidenbach/Zukrigl 2000: 35) »Gesellschaftssysteme scheinen eine ganz erstaunliche Fähigkeit aufzuweisen, die Einflüsse, die sie eigentlich in ihrer Identität bedrohen, umzuwandeln und zu domestizieren. Fremdes wird, wie der Ethnologe Sahlins es formuliert, von Menschen auch dazu eingesetzt, um ›mehr wie sie selbst zu werden‹.« (Ebd.: 57)
Waren, Ideen und auch der Umgang mit musikalischen Phänomenen basieren in dieser Lesart auf den Voraussetzungen lokaler Sinnproduktion (Geertz 1983) und damit auf lokalen Zusammenhängen, die keineswegs ihre Bedeutung im Prozess der Globalisierung verloren haben. In diesem Sinne sei es keineswegs gleichgültig, wo man hört, was man hört und mit wem man es hört. Die hier referierten allgemeinen Einschätzungen zum Stichwort Globalisierung folgen bestimmten Erfahrungsperspektiven und Positionierungen im wissenschaftlichen und auch im politischen Feld. Dem kann und soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Bemerkenswert bleibt die mehrfache Polarisierung, die auch in der offenkundigen Widersprüchlichkeit der betreffenden Prozesse begründet sein dürfte. Saskia Sassen schlussfolgerte, dass unter den Bedingungen einer fortschreitenden Konzentration von Eigentum, wirtschaftlicher Kontrolle und Macht die Gleichzeitigkeit von globaler Streuung und globaler Integration an Bedeutung gewinnt (Sassen 1996). Norbert Bolz prognostizierte: »[J]e größer die globalen Interdependenzen, desto größer die regionalen Differenzen.« (Bolz 2000: 86) Diese Aussagen deuten in letzter Konsequenz auf in sich inverse Konstellationen aufeinander bezogener Entwicklungen. Diese Entwicklungen haben eine Geschichte, eine konkrete Geschichte in Raum und Zeit, in lokalen Zusammenhängen und konkreten Verläufen. Dabei handelt es sich offenbar auch um eine Geschichte der schrittweisen Ablösung und Neudefinition von Orten, Traditionen, spezifischen Gebrauchszusammenhängen, Verstehenssystemen, Kontexten, kulturellen Bezügen und ökonomischen Konstellationen. Globalisierung in der Musik? Im hier fokussierten Feld populärer Musik sind zweifellos so etwas wie globalisierte, sich permanent verändernde, gegenseitig sich beeinflussende Formen von Musik entstanden. Nicht immer, aber auch, hört man ihnen den Transfer und die Begegnung kultureller Konzepte als symbolisch repräsentierte Identifikationsmuster an. Populäre Musikformen sind bekannt für ihre hochgradige Standardisierung, die Wiederkehr ästhetischer Muster. Sie sind aber auch bekannt für klangliche Auffälligkeiten, die 22
Populäre Musik und Globalisierung
unmittelbar wahrgenommen werden können und müssen, weil struktureller – auf »innermusikalische« Parameter gerichteter – Nachvollzug konzeptionell nicht intendiert ist. Ethnische Selbst- und Fremddeutungen spielen in den aisthetischen und ästhetischen Wirk- und Wirkungszusammenhängen populärer Musik eine bemerkenswerte Rolle. Haben die fortgesetzten Globalisierungsprozesse ihre Spuren in den populären Musikformen der Gegenwart hinterlassen, und wenn ja, wo bzw. wie: in der Musik, in den Klängen selbst oder eher in den sozialen und kulturellen Praktiken ihrer Aneignung? Welche Rolle spielen dabei die im Rahmen von Globalisierungsprozessen immer wieder angesprochenen technologischen Entwicklungen? Oder lässt sich der Zusammenhang von populärer Musik und Globalisierung am besten an Fragen der Unternehmensorganisation ihrer kommerziellen Verwertung festmachen, am Verhältnis von global agierenden Tonträgerunternehmen und deren Wettbewerbsstrategien gegenüber den so genannten kleinen oder unabhängigen Unternehmensformen, deren Wirkungskreis man eher in lokalen Zusammenhängen vermutet? Die Geschichte der Globalisierung begann nicht erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, sondern lässt sich zurückverfolgen bis zu der zunächst zaghaften, dann aber fortschreitenden Ausbreitung und Entwicklung des Handels, Fernhandels und der Existenz von Märkten im Laufe eines Jahrhunderte dauernden Prozesses der Modernisierung, die aus Sicht einer europäischen Beobachterin von Europa ausgingen. Einige dieser historischen Verläufe und Daten haben unmittelbare Auswirkungen auf die Entwicklung und Geschichte bestimmter Musikformen und -kulturen gehabt. Nicht zuletzt die technologischen Verfahren der Aufnahme, Verarbeitung und Wiedergabe von Klang führten zur Entwicklung von Phänomenen, die die Konzeptionalisierung von Musik wohl grundsätzlich und auch weltweit veränderten. Traditionelle Musikformen gerieten in den Strudel ihrer medialen Verfügbarkeit und Kunstmusiktraditionen, ob aus Europa oder Asien, gelangten in neue Kontexte ihrer Darbietung, Rezeption und Vermittlung. Im Laufe dieser Entwicklung veränderten sich die Akteure und Strukturen des Musiklebens fortwährend. Szenario Eins (Ortlosigkeit) und Szenario Zwei (Ortsgebundenheit) sind jeweils für sich genommen plausibel. In der Beschreibung jener Zusammenhänge, die für das Verständnis aktueller musikalischer Entwicklungen wichtig sind, schließen sie sich jedoch nicht aus. Es sind die kontroversen theoretischen und auch politischen Debatten um Fragen der Globalisierung, die diese Arbeit ganz unmittelbar angeregt und beeinflusst haben. Parallel dazu waren es die interessanten Entwicklungen der Musikkultur selbst, vor Ort und auf dem Globus. Homogenisierung vs. Fragmentarisierung Diskussionen zum Thema »Globalisierung« ringen aus unterschiedlichen Perspektiven um Erklärungs- und Deutungsmodelle bei der Erfassung der komplexen ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse auf dem Globus bzw. auch sehr 23
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unterschiedlich von diesen Prozessen betroffenen Regionen der Welt. Immerhin geriet mit dem Ende der Ära des kalten Krieges seit Beginn der 1990er Jahre der Globus in den Blick (dichte Folge von Weltkonferenzen zur Umweltzerstörung, Armut und zum Bevölkerungswachstum; UNESCO Koalition für Kulturelle Vielfalt u. ä.). Es waren allerdings vor allem Politiker, Ökonomen, Kulturanthropologen, Kultur-, Kunst- und Musikwissenschaftler sowie Kommunikations- und Medientheoretiker aus Nordamerika und Westeuropa, die den Globus für sich entdeckt hatten und folgerichtig in den Kategorien ihrer Denktraditionen zu beschreiben suchten. Hierbei findet man wiederum grob umrissen zwei Lager vor, die für sich in Anspruch nahmen und nehmen, treffende Erklärungsmuster für die Phänomene und Wirkungen aktueller kultureller Globalisierungstendenzen gefunden zu haben. Die einen betonen, dass es vor allem zu kulturellen Homogenisierungsprozessen und dem Verlust von Vielfalt, die anderen, dass es in erster Linie zu kulturellen Fragmentarisierungsprozessen und Unübersichtlichkeit bzw. Differenz gekommen sei. Nicht erst seit Mitte der 1990er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind es immer wieder auch die damit verbundenen Bedrohungsszenarien, die aus dem Konzept einer scheinbar konsistenten Geschichte und Tradition westlicher insbesondere europäischer Kunst- und Kulturformen heraus formuliert werden. Durch Globalisierungsprozesse werden einst eigenständige Gesellschaften mit den gleichen Waren und Medien überschwemmt und verlieren dadurch ihre Eigenständigkeit und Identität. Hauptsächlich die so genannte kulturelle Vielfalt in den einzelnen Gesellschaften werde dadurch akut bedroht oder gar vernichtet. Als Reaktion auf derartige Homogenisierungsprozesse schotten sich Menschen mittels übersteigertem ethnischen und religiösen Bewusstsein und Handlungen gegenüber anderen Kulturen ab. Sie suchen Zuflucht in kulturell und religiös begründeten Traditionen und ihren symbolischen Repräsentationen (Fragmentarisierung). Wenn man sich mit konkreten kulturellen Phänomenen beschäftigt – Joana Breidenbach und Ina Zukrigl hatten sich aus der ethnologischen Forschungsperspektive südafrikanischen Organisationstechniken, Lebensentwürfen junger Deutschtürken oder chinesischen Migranten in Ungarn zugewandt – erweisen sich die Annahmen, auf denen sowohl die Erklärungsmodelle der Homogenisierungsals auch der Fragmentarisierungsvisionen bzw. -apokalypsen basieren, jedoch als fragwürdig und vor allem uneindeutig. Kulturelle Globalisierung folgt einer komplexen widerspruchsvollen Dynamik. Kulturelle Formen populärer Musik, die zwischen traditionellen lokalen musikalischen Praktiken und Märkten, ob globaler oder eher lokaler Reichweite, zirkulieren, Soundfiles im Internet oder Unternehmensstrukturen der Musikwirtschaft, tragen – so meine Erfahrungen und These – nicht zwangsläufig zur Einebnung kultureller Vielfalt bei, schaffen weder vollkommene Ortlosigkeit noch erzeugen sie fundamentale, ewige kulturelle Bindungen. Aus der Perspektive europäischer Kunstmusiktraditionen werden sie zumeist ausschließlich als Resultate eines Kommerzialisierungs- und damit Manipulations- und Homogenisierungsprozesses ge-
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deutet. Globalisierungsprozesse bleiben vor diesem Hintergrund als fortgesetzte Verstärkung eines musikalischen Deformationsprozesses missverstanden. Ziel und Untersuchungsfeld Die folgende Arbeit möchte dazu beitragen, die angedeuteten Missverständnisse aufzuklären, indem einige maßgebliche Voraussetzungen, Tendenzen und Konsequenzen gesellschaftlicher Entwicklungen, wie sie sich an der Wende zum 21. Jahrhundert unter dem Stichwort der Globalisierung vollzogen und ereigneten, für bestimmte Formen populärer Musik historisch sehr konkret aufgegriffen, nachgezeichnet, untersucht und aufgezeigt werden. Die Arbeit will informieren und reflektieren. Dabei kommt es auch darauf an, adäquate Methoden einer möglichst systematischen Erörterung des Zusammenhangs von populärer Musik und Globalisierung vorzuschlagen. Es werden solche Formen populärer Musik im Zentrum der Untersuchung stehen, die sowohl in ihrer ästhetischen, kulturellen und ökonomischen Signatur das Transitorische verkörpern, das »Glokalisierte« (Robertson 1995), Weltumspannende, auf bestimmte lokale Zusammenhänge Verweisende, als auch auf das gleichsam von lokalen Bedeutungszusammenhängen sich unbeeindruckt Zeigende. Populäre Musik ist, und schon ein oberflächlicher Blick auf ihre diversen Phänomene würde diese Feststellung stützen, ein transkulturelles Phänomen. Welche Formen wären dann hervorzuheben, wären ins Zentrum der Analyse zu rücken? World Music als eine Repertoire- und Marketing-Kategorie mit zweifellos auch beschreibbaren ästhetischen und stilistischen Besonderheiten dürfte nicht unbeachtet bleiben, aber auch nicht ausschließlich den Kern einer solchen Untersuchung bilden. Das Transkulturelle ließe sich ebenso im amerikanischen Rock ’n’ Roll der 1950er Jahre nachweisen, oder im nicht nur in Japan kulturell beliebten und kommerziell einträglichen Karaoke-Singen, in den diversen Tangoformen von Argentinien bis nach Finnland oder den lokal spezifischen Reggae- und Hip-HopVersionen, die trotz aller Unterschiedlichkeit zwischen Maori-Rap und Hip-Hop in türkischen Communities in Deutschland ein allenthalben gemeinsames kulturelles Bezugsfeld konstruieren bzw. imaginieren. Wofür das Beispiel? Beispiel? Erkenntnisinteressen Im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Titel »Setu-Gesänge und Didgeridoo-Sample – lokale Musikpraktiken im globalen Kulturprozess« im Sommersemester 2000 brachte ein Student der Rechtswissenschaften, der im Nebenfach Ethnologie studierte, eine Kassette mit einem Wiegenlied von der melanesischen Pazifikinsel Malaita mit ins Seminar. Aufgenommen von einem Schweizer Musikethnologen Ende der 1960er war es Anfang der 1990er Jahre auf die vorderen Plätze der amerikanischen Billboard-Charts geschnellt. Etwa zehn Jahre später tauchte es als »Zwischenspiel« eines DanceTracks in Diskotheken, auf CD und im Hörfunk in Deutschland wieder auf. MaxPeter Baumann – ein deutscher Musikethnologe – hatte es in einem Aufsatz mit 25
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dem Titel »Zwischen Globalisierung und Ethnisierung. Zur Musik der offenen Regionen« (Baumann 1998) zum Anlass genommen, Fragen des Perspektivwechsels kultureller Produktionen und Aneignung vom »Zentrum« zur »Peripherie« zu behandeln. Die merkwürdige Reise eines Wiegenliedes von der melanesischen Insel Malaita in die amerikanischen Billboard- und europäischen Dance-Charts soll im Folgenden exemplarisch für einen Prozess stehen, der immer wieder die Gemüter erhitzt, weil ihm auf den ersten Blick all das inhärent ist, was mit den Begriffen Homogenisierung, Manipulation, Zentralisation, Verwestlichung, Zerstörung kultureller Traditionen, Identitäten und dem Ende kultureller Vielfalt angesichts fortschreitender Globalisierungsprozesse kulturkritisch auf den Begriff gebracht scheint. Das Beispiel kann aber auch zeigen, dass es keinesfalls nur eine Möglichkeit bzw. Richtung der Interpretation gibt bzw. dass bei genauerer Betrachtung der komplexen Zusammenhänge, in die es während dieser Reise geriet, manch Vorwurf gegenstandslos wird bzw. relativiert werden muss, weil aus dem Kontext heraus sich daneben andere Erklärungsmuster aufdrängen. Die Schilderung der »ungewöhnlichen« Reise des melanesischen Wiegenliedes eröffnet vor allem eine Untersuchungsperspektive, die die Globalisierungserscheinungen in den verschiedenen Zusammenhängen des Musikprozesses selbst ausfindig macht. Das Beispiel wird gleichsam die im Laufe dieser Arbeit notwendig zu entfaltenden Untersuchungsdimensionen, Analysemethoden und weiter reichenden empirischen Erkundungen begründen und helfen, ein Denk- bzw. Untersuchungsmodell zu entwickeln, das es vielleicht ermöglicht, Antworten zu finden auf die Frage, was kulturelle Globalisierung ist, was sie mit entsprechenden ökonomischen und technischen Prozessen und Zuständen gemeinsam hat und was sie davon unterscheidet. Ulrich Beck betonte in seinen Überlegungen zum Thema, dass Globalität kein eindimensionales Phänomen sei, sondern »nebeneinander die verschiedenen Eigenlogiken der ökologischen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen, zivilgesellschaftlichen Globalisierung [existieren – S. B.-P], die nicht aufeinander reduzierbar oder abbildbar sind, sondern jede für sich und in ihren Interdependenzen entschlüsselt und verstanden werden müssen« (Beck 1997b: 29).
Beck verwies darauf, dass man die unterschiedlichen Logiken dieses Prozesses ernst nehmen muss. Populäre Musikformen halten in ihrer kulturellen, sozialen und ökonomischen Logik ein geradezu prototypisches Reservoire an Phänomenen bereit, den komplizierten und widersprüchlichen Konstellationen der viel diskutierten Globalisierungsvoraussetzungen, -prozesse und -konsequenzen exemplarisch nachzugehen. Ohne eine möglichst genaue Aufarbeitung der widersprüchlichen Zusammenhänge und Konstellationen wird es kaum möglich sein, Aussagen zum Charakter musikkultureller Prozesse der Gegenwart zu treffen. Sicherlich kann es dabei nicht
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darum gehen, sich fortwährend im Detail zu ergehen. Theoretische Annahmen, die abstrahierendes Modellieren und damit immer auch eine Reduktion und vage Rekonstruktion der Wirklichkeit nach sich ziehen, ermöglichen umgekehrt die Entscheidung zur Untersuchung bestimmter Dimensionen des gewählten Gegenstandes. Kulturell ästhetische, soziale, technologische und ökonomische Aspekte des Musikprozesses müssen dennoch gleichermaßen ernst genommen und vor allem aufeinander bezogen werden. Fachspezifisch und interdisziplinär Die Konzentration auf verschiedene Facetten des Musikprozesses darf andererseits nicht bedeuten, dass die folgende Arbeit vor allem als eine Art empirische Zusammenschau diverser Globalisierungsphänomene im Kontext der Entwicklung bestimmter Formen populärer Musik wird. Selbstverständlich muss es auch darauf ankommen, Begriffe anzustrengen und Verallgemeinerungen zu treffen, theoriegeleitet empirische Zusammenhänge aufzuarbeiten und umgekehrt. Die vorliegende Arbeit versteht sich dennoch weniger als ein theoretischer Beitrag mit Vorschlägen zur Anstrengung neuer, noch besserer, schlüssigerer Begrifflichkeiten im Kontext der sozial- und politikwissenschaftlich orientierten Debatten um kulturelle Globalisierung. Termini wie »Kreolisierung« (Hannerz 1992), »Hybridisierung« (Baumann 1992) oder »Transkulturation« (Welsch 1992) waren – darauf wurde weiter vorn bereits hingewiesen – immer auch Resultate eines politischen Projektes, eines Projektes, das vor allem auf Multiperspektivität und Pluralisierung von Meinungen und Repräsentationen im kulturellen – und auch im wissenschaftlichen und kulturpolitischen – Raum gerichtet war und ist. Diese Perspektive ist mir sympathisch und wert, aufgegriffen zu werden. Allerdings möchte ich anders als zum Beispiel Welsch oder Beck mich mit dem Verweis auf empirische Beispiele – solche, die die Theorien und Begriffe eher illustrieren denn verifizieren – nicht begnügen. In dieser Arbeit soll ein konkretes Beispiel zum Ausgangspunkt der Untersuchungen gemacht werden. Das von Ulrich Beck in seiner viel zitierten Publikation »Was ist Globalisierung?« (Beck 1997b) aus dem Kontext der damals aktuellen populären Musik gewählte Beispiel »Khaled, der König des Rai« (Beck 1997b: 41f.) lässt aus Sicht einer Musikforscherin auf einen recht oberflächlichen Umgang mit dem Beispiel schließen, nicht allein, dass hier die Stil- bzw. Repertoire-Bezeichnung falsch geschrieben bzw. gedruckt wurde – richtig muss es Raï heißen –, sondern auch, dass ein musikkulturell und -politisch äußerst kompliziertes und brisantes Phänomen die Bedeutsamkeit regionaler Musikkulturen auf den weltweiten Bühnen in eher reduzierter Form illustrieren muss. Beck schreibt, dass Khaled gegen die Arabophobie des Westens ansinge. Khaled und seine Plattenfirma taten meines Erachtens aber vor allem Folgendes: Sie hatten eine in den vorkolonialen, kolonialen und postkolonialen Konflikten zwischen Algerien und Frankreich entstandene Musikform kommerziell erfolgreich gemacht. Dies konnte nur deshalb gelingen, weil es auf Seiten der Hörer und Fans sehr unterschiedliche Motive in der Aneignung von 27
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Khaled gab und gibt. Sie können von Erinnerungen an den letzten Tunesien/Marokko-Urlaub bis zu Identifizierungen konkreter Migrantengenerationen in den französischen Vorstädten reichen. Wer ist in diesem Szenario der Westen? Das »Arabische« in dieser Musik wird höchstens noch durch die für arabische Musik typischen melismatischen Wendungen repräsentiert. Inmitten der prall gefüllten Klangregale können sie Aufmerksamkeit erregen. Diese Klänge schmeicheln eher dem mitteleuropäischen Gehör und erinnern es an den letzten sonnendurchfluteten Tunesienurlaub, als dass sie in die Bedeutungshöfe der Angst vor muslimisch-arabischem Fundamentalismus weisen würden und also davon zeugen könnten, dass die entsprechenden Probleme mittels »kultureller Globalisierung« (ebd.: 42) gelöst schienen. Angesichts der wenig konkreten Untersuchungen im kulturellen Feld von Globalisierungsprozessen ist der vorliegende Text als ein kultur- und wissenschaftspolitisch motivierter fachspezifischer Beitrag der Musikforschung angelegt, in dem es darum geht, einige zentrale Aspekte der Geschichte globalisierter populärer Musikformen in ihren ästhetisch-kulturellen und den ökonomisch-technologischen Dimensionen zu ergründen. Interessant sind dabei insbesondere die Abhängigkeiten bzw. Interdependenzen zwischen beiden. Diese Untersuchung geht aber auch davon aus, dass Aspekte von kulturell und Aspekte von ökonomisch ausgerichteten Globalisierungsprozessen ihre jeweilige Eigenlogik (Beck 1997b: 29) haben. Globalisierung deutet vom Begriff her auf das Ganze, das alles Umfassende. Globalisierung setzt in der gesellschaftlichen Praxis jedoch immer nur an bestimmten Funktionssystemen von Praxis an, vor allem an dem der Wirtschaft, des Finanzwesens, des Handels und an den Informations- und Kommunikationssystemen. Für die Bedeutung populärer Musikformen, zumindest in ihrer ökonomischen Dimension, dürfte dies relevant sein. Populäre Musikformen sind ohne technische Kommunikationssysteme und vor allem die Akteure der Musikwirtschaft nicht denkbar. Diese Untersuchung will einige Aspekte und Ergebnisse der Globalisierungsdebatte für die Musikforschung selbst fruchtbar machen. Darum werden insbesondere die Ökonomie des Musikprozesses und solche technischen Kommunikationssysteme untersucht, die Funktionssysteme gesellschaftlicher Praxis sind und die strukturell den Prozess der Globalisierung wesentlich kennzeichnen. Damit ist allerdings auch angedeutet, in welchem methodischen Spannungsfeld diese Arbeit angesiedelt ist. Will sie sich als ein fachspezifischer Beitrag aus der Perspektive der Musikforschung verstehen, so muss sie auch nach den gestaltspezifischen Besonderheiten der im Musikprozess resonierenden klanglichen Artefakte fragen. Nun legt der Hinweis auf den Musikprozess als Gegenstand dieser Untersuchung nahe, dass auch diejenigen Zusammenhänge von Interesse sind, die nicht in erster Linie klingen: technologische, ökonomische, soziale, kulturelle. Aktuelle Überlegungen zum Verhältnis von Musikwissenschaft und Popmusikforschung weisen bisher leider keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Wenn Helmut Rösing in seinen Darlegungen zur »Popularmusikforschung« in Deutschland konstatiert (Rö-
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sing 2002), dass sich diese nicht »dank als vielmehr trotz des universitären Fachs Musikwissenschaft hat etablieren können« (ebd.: 28), dann ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass beide Fächer eher nebeneinander als miteinander existieren. Das Miteinander von »Musikwissenschaft« und »Popmusikforschung« gestaltet sich oftmals schwierig, weil die Auffassungen darüber, was der Gegenstand der Analyse ist, und die entsprechenden methodischen Präferenzen sich folgerichtig stark unterscheiden. Leider haben sich entsprechende Fronten innerhalb der Musikforschung in den letzten Jahren eher verhärtet. Die Erforschung populärer Musikformen ist vor allem gekennzeichnet durch sehr disparate disziplinäre Perspektiven und methodische Präferenzen wie zum Beispiel die der Soziologie, den Cultural Studies, der Linguistik, den Medienwissenschaften, Sozialpädagogik, Ethnologie und Wirtschaftswissenschaften, und zurecht bedauern einige ihrer wichtigsten Vertreter, dass das Klangliche dabei oftmals kaum eine Rolle spielt. Umgekehrt lassen sich die hier zur Debatte stehenden Materialebenen – eine scheinbar immer gleiche Melodie, verschiedene RepertoireSegmente, technologische Verfahren, Organisationsformen des Musikbetriebes, regionale Märkte usw. – nicht unmittelbar an den Klangformen ablesen. Dennoch ist Musikforschung bei der Untersuchung aktueller Musikformen mehr denn je gefragt, will sie nicht die Legitimation gegenüber ihrem eigenen Gegenstand verlieren: Musik. Ich schließe mich einer Konzeptionalisierung von Musik an, die davon ausgeht, dass sie nicht von einer klanglichen Substanz getragen wird, die als solche von den kulturellen, technologischen und kommerziellen Zusammenhängen abgehoben untersucht werden könnte (Wicke 1995). Eingebettet in komplexe, historisch konkrete ökonomische Zusammenhänge bilden die unterschiedlichen Formen populärer Musik eine Art kulturellen Rahmen, um soziale Erfahrungen und Erlebnisse zu organisieren, sozialen Sinn zu artikulieren und alltägliche kulturelle Bedürfnisse zu befriedigen und zu entfalten. Damit erhält (populäre) Musik eine sozial-kulturelle und eine ökonomische Bedeutsamkeit, die über die klangliche Ebene zum Beispiel eines Wiegenliedes, einer Sinfonie auf einem Tonträger, einer Jazz-Improvisation im Club, einer Klanginstallation im öffentlichen oder privaten Raum, einem Konzert-Event oder eines Dance-Tracks in seinen unterschiedlichen Remixes hinausreicht und auf dieser klanglichen Ebene im Einzelnen zwar nicht ablesbar ist, dennoch in unterschiedlichster Art »resoniert«. Neben der visuellen, performativen, juristischen und ökonomischen Dimension des Musikprozesses ist die klangliche Erscheinungsform populärer Musik das Medium, in dem sich diese unterschiedlichen Zusammenhänge auf je besondere Weise vermitteln. Fragen von Technologie oder Ökonomie sind der Musik nichts Äußerliches und müssen, auch in ihrer Eigenlogik, verstanden und ins Verhältnis zu den hier thematisierten Musikformen gesetzt werden. Die künstliche Trennung von so genanntem Innermusikalischen und so genanntem Außermusikalischen ist bei der Untersuchung populärer Musikformen gegenstandslos.
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Die Musikforschung hält in ihrer Geschichte und Gegenwart Untersuchungsund Gegenstandsperspektiven bereit, vor allem in der Vergleichenden Musikwissenschaft, in der Musikethnologie und in der Erforschung der Sozialgeschichte von Musik, die sich als geeignete Anknüpfungspunkte zur Untersuchung von Formen populärer Musik erwiesen haben. Ihnen soll in dieser Arbeit nachgegangen werden, auch weil hier solche Formen zur empirischen Grundlage gemacht werden, die Teil verschiedener »kultureller Kontexte« geworden sind und deren Bedeutung für die Untersuchungen medial produzierter Musikformen thematisiert werden müssen. Eine These Zweifellos ist die Gestaltqualität eines Songs in ihren Parametern aus Sound, Metrik, Rhythmik, Melodik, Timbre der Stimmen und den Songtexten keineswegs beliebig. Es ist anzunehmen, so die These, dass nur, wenn sie eine in bestimmten kulturellen Kontexten bedeutsame sinnliche Wirkkraft (Aisthesis) besitzt, sie auch das notwendige kommunikative und kommerzielle Potenzial enthält, um zum ChartErfolg zu führen oder einen geeigneten Kassiber für »subkulturelle« Zusammenhänge bereitzuhalten. Der Reiz des Fremden, Skurrilen, Anderen stellt dabei möglicherweise eine besondere Anmutungsqualität dar, eine ästhetische und soziale Faszination, die erfahrungsgemäß auch ökonomisch erfolgreich eingesetzt werden kann. Der gestaltwirksame Charakter oder Anschein von Fremdheit bzw. Ungewohntem erzeugt Aufmerksamkeit und wertet damit ein »Gut« auf. Er ermöglicht ästhetisch prägnante, kulturell und sozial geprägte Differenzen und damit immer auch ökonomische Potenziale zu seiner Verwertbarkeit, inklusive Profitabilität. Aus Differenz erwächst Identität. Austausch Im Zentrum dieser Untersuchung stehen Musikformen, die vor allem durch die Geschichte von kulturellen und technologischen Vermittlungen gekennzeichnet sind; hier vor allem solche, die durch den Austausch einst regional sehr spezifischer kultureller Äußerungs- und/oder Gebrauchsformen geprägt, durch die Vermittlung von technischen Medien oder im Zuge von Urbanisierungsprozessen entstanden sind, durch ökonomische und politische Zwänge gemachte kulturelle Erfahrungen von Diaspora und Migration. Es sollen aber auch solche Musikformen betrachtet werden, die moderne Anforderungen von Rationalität, Individualismus und »instrumenteller Vernunft« spiegeln und transzendieren, indem sie negative Erfahrungen im Zivilisationsprozess und unerfüllte Sehnsüchte auf vormoderne Lebensformen projizieren. Die Geschichte der Neuzeit scheint der fortgesetzte Versuch, die Autorität traditioneller Sozialisationsformen zu untergraben bzw. solche zu kreieren, die in der Lage wären, deren einstige Funktionen aufzuheben. An die Stelle von Bräuchen, Familienbanden und Religionen sind die inkorporierten Normsysteme instrumenteller Vernunft getreten. Die Autorität von Bräuchen und gelebter Erfahrung wird 30
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durch komplexe Systeme rationaler Normen ersetzt. Eine im traditionellen – vorindustriellen – Sinne integrierte Gesellschaft, die die rasante Zunahme von Funktionen und Rollen überbrücken könnte, existiert, falls überhaupt, nur noch in imaginierten Gemeinschaften. Jugendszenen, Tourismusmarketing oder MySpace sind an die Stelle dessen getreten, was einst die Deutungsmuster gemeinschaftlicher Sinnvermittlung herstellte. Sie sind selbst zu den Deutungsmustern gemeinschaftlicher Sinnvermittlungen geworden. Dabei handelt es sich bei näherer Betrachtung keineswegs nur mehr um imaginierte Gemeinschaften, sondern um ganz konkrete, reelle soziale Handlungsräume. Kulturelle Identitätskonzepte werden sowohl von den fortschreitenden Differenzierungsprozessen innerhalb der Gesellschaften als auch von der Vereinheitlichung einst als voneinander verschieden erlebten lokalen Verbindlichkeiten und Lebenswelten verunsichert. Universelle – übergreifende – Vorstellungen und insbesondere entsprechende Ideologismen gerieten spätestens in den 1980er Jahren in den Verdacht, als große Erzählungen der Moderne ausgedient zu haben. Seit dieser Zeit wagte sich kaum ein Theoretiker, die Wirklichkeit als ein ganzheitliches, integriertes System zu denken. Die Rationalität kapitalistischer Betriebsamkeit gliedert, differenziert, kalkuliert und projektiert. Max Webers vielzitierter Topos von der »Entzauberung der Welt« umschreibt nach wie vor recht treffend den unaufhaltsamen Prozess der strukturellen Rationalisierung aller Gesellschafts-, Wissens- und Lebensbereiche und schließt gleichsam dessen Gegenbewegungen ein. Aus der Geschichte der Moderne sind uns zahllose Bewegungen, Konzepte und Utopien bekannt, die »den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen« (Max Weber) und ihren unwiderstehlichen Abläufen immer wieder erneut Hoffnungen auf Synthese und Ganzheitlichkeit entgegenzusetzen suchen. Romantische Bewegungen, Re-Mythologisierungen des Denkens, esoterische Weltbilder, Verinnerlichungen, Europamüdigkeit, Verwilderungswünsche, die Rehabilitierung von Fragen nach Einheit, Ganzheit und Sinn weben sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der westlichen Moderne. E. T. A. Hoffmann machte vor knapp 200 Jahren den »Maschinenstaat« und seine »normative Gesinnung« als diejenigen Kräfte aus, die »die Wälder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorfschulen verbessern, Akazien und Pappeln pflanzen, der Jugend ihr Abendlied zweistimmig absingen und die Kuhpocken einimpfen lassen« (Hoffmann 1967: 16). Als Ende des 18. Jahrhunderts in den westlichen Gesellschaften die Industrialisierung mit ihren auf Arbeitsteilung, Spezialisierung und Rationalisierung basierenden Produktions- und Lebensprinzipien sich durchzusetzen begann, konzipierten unterschiedlichste Denkströmungen »den Beginn eines nachmodernen Zeitalters der großen Synthese, der Versöhnung, der auf höherer Entwicklungsstufe wieder gewonnenen Einheit und Ganzheit« (Klinger 1995: 85). Immerfort wurden derartige Vorstellungen zu einem wichtigen Teil kultureller Bewegungen der Moderne. Auch nahezu 200 Jahre, nachdem E. T. A. Hoffmann seine Kritik am »Maschinenstaat« formulierte, existieren kulturelle Vorstellungen und Formen, die trotz
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aller Unbeliebtheit totalisierender Bewertungsmuster umso mehr von »einer seltsamen Nostalgie für die Totalität« (Erlmann 1995: 16) gekennzeichnet sind. Die auf intellektueller Ebene längst als Meta-Geschichten abgelehnten Vorstellungen von Ganzheit, Geschichte, Harmonie und narrativer Struktur sind dabei wohl nirgends so präsent, wie in den kommerziell produzierten Bildern, Klängen und Images der Populärkultur (Werbung, Kinofilme, Soaps, Popmusik). Sie treffen dabei auf ein Publikum, das augen- und ohrenscheinlich nichts so sehr schätzt wie die Angebote zur »Verzauberung«, den Mythos vom Einklang mit sich und der Natur, die Nähe und Unmittelbarkeit in der Kommunikation, das große Ganze und die überschaubaren schönen Geschichten. Wiederverzauberung Wiederverzauberung Klang (und Tanz) als ganzheitliche Erlebnisse von gefühlter und gehörter Bewegung scheinen in einer sich zunehmend differenzierenden und partikularisierenden Welt eine geeignete Möglichkeit, situative, also zeitlich und räumlich begrenzte bzw. überschaubare Erfahrungen immer wieder ins Spiel bringen. Dabei handelt es sich heute keineswegs ausschließlich um den Rückgriff auf vormoderne Motive bzw. Klänge, sondern um multimedial choreographierte Bühnenshows oder DVDs und Klänge aller Art in Dolby-Surround-Qualität im Kino oder in Konzertarenen. Populäre Musik kann alle Sinne ansprechen, also »Wirklichkeit« sinnlich fassbar und körperlich spürbar werden lassen. Vieles spricht dafür, dass die verschiedenen Formen populärer Musik ganz offensichtlich ein geeignetes, kulturelles und ökonomisches Medium darstellen, das auf der um sich greifenden Sehnsucht nach »Wiederverzauberung« der »entzauberten Welt« (Weber 1934) der Moderne gründet. Die Mehrzahl der kommerziell erfolgreichen Formen populärer Musik ließe sich als »romantisches« Konstrukt deuten, das der »kalten«, »seelenlosen« Rationalität moderner Lebenswelten wieder »Gefühl«, »Wärme« und »Authentizität« einhaucht (Gebhardt/Hitzler/Pfadenhauer 2000). Die Utopien einer radikalen Umgestaltung des Lebens und der Gesellschaft scheinen nur in ästhetischen Kategorien artikulierbar zu sein, weil die Perspektiven von Einheit, Ganzheit und Sinn im gesellschaftlichen Kontext – auch bezogen auf das einzelne Subjekt und dessen Biographie – kaum noch vorhersehbar sind: »Im Zuge des Ausdifferenzierungsprozesses der Gesellschaft in verschiedene institutionelle Bereiche und Subsysteme haben die Fragen nach Einheit, Ganzheit und Sinn aufgehört, eine objektive, öffentliche – in der Regel durch eine »offizielle«, allgemein verbindliche Religion verwaltete Funktion für den Bestand des gesellschaftlichen Gefüges zu haben. Die ausdifferenzierten Bereiche folgen ihrer jeweils eigenen Logik und entwickeln ihre systemspezifische Rationalität offenbar nur umso effizienter, je weit gehender sie von der Rücksicht und von der Sorge um ein übergreifendes Ganzes entlastet sind.« (Klinger 1995: 11)
Da verwundert es kaum, dass es insbesondere die bereits angesprochenen »romantischen Konstrukte und Projektionen« sind, die kulturell und gleichermaßen öko32
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nomisch nachweislich vor allem dort von großem Interesse sind, wo Rationalität, Individualismus und »instrumentelle Vernunft« in überwiegendem Maße die gesellschaftlichen Zusammenhänge bestimmen: in den westlichen Gesellschaften und den von ihrer ökonomischen und kulturellen Logik dominierten Regionen der Welt.
1.2 »Rorogwela Lullaby … Sweet Lullaby … Komodo«: Dokumentation einer beispielhaften Begebenheit als empirische Ausgangsbasis der Untersuchung 1.2.1 »SWEET LULLABY« - ZUR ÄSTHETISCHEN UND KOMMERZIELLEN W IRKUNG EINES MELANESISCHEN WIEGENLIEDES Im Herbst 2000 erstürmte ein Techno-Trance-Track aus den Studios des italienischen DJs und Produzenten Mauro Picotto die deutschen Single-Charts. Dafür erhielt das bei Universal Music/Polydor veröffentlichte Album den German-DanceAward 2000, einen Medienpreis für Dance Music, Clubkultur und Lifestyle. »Komodo« – so der Titel des Tracks – wurde als bester Radio-Dance-Hit, Mauro Picotto als bester Produzent und DJ des gleichen Jahres geehrt. Was den Track von anderen aus der Repertoire-Kategorie »Euro-Dance« unterschied, oder besser: was seine ästhetische Wirkkraft ausmachte, war eine in der Popmusikgeschichte bereits bekannte melodische Sequenz. Sie hatte Anfang der 1990er Jahre dem französischbelgischen Popduo Deep Forest im Repertoire-Segment World Music schon einmal zu außergewöhnlich großem Erfolg verholfen. Ihr Titel »Sweet Lullaby« hielt sich damals 25 Wochen in den Bill-Board-Charts. Er lieferte den Soundtrack zu diversen Werbespots, etwa für Haarshampoo, Sony und Porsche. Zwei Millionen Exemplare des Albums »World Mix« konnten weltweit verkauft werden und Deep Forest füllte auf seinen Tourneen Konzertarenen in Sydney, London oder Tokio. Doch der Erfolg hatte einen Makel. Er war begleitet von der so genannten »Deep-Forest-Affäre«. Der erfolgreiche Song »Sweet Lullaby« basierte auf einem Sample aus mehreren Takten eines melanesischen Wiegenliedes namens »Rorogwela Lullaby«. Ein Schweizer Musikethnologe – Hugo Zempt – hatte es Ende der 1960er Jahre während eines längeren Forschungsaufenthaltes auf Malaita im Südpazifik aufgenommen. Vergeblich blieb der Versuch, die seines Erachtens illegale Verwendung und Verwertung durch ein global agierendes Tonträgerunternehmen juristisch aufzuklären. »Rorogwela Lullaby« – »Sweet Lullaby« – »Komodo« hießen die Stationen einer außergewöhnlichen Reise durch verschiedene musikkulturelle Kontexte und Verstehenssysteme, die zunächst durch die räumliche Distanz ihres »Ursprungs« auffallen. Ein Wiegenlied aus einer konkreten lokalen Musikpraxis wurde Teil des globalen Kulturprozesses. Dabei vermittelt seine ästhetische Gestalt – der Sound, die harmonische und metrische Funktionalisierung, seine performative »Beset33
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zung« und dramaturgische Platzierung im Song bzw. Track – die Codes des jeweiligen musikkulturellen Verstehenssystems und des Repertoire-Segmentes, in dem es kommerziell wirksam wurde. Die beiden modernen Versionen haben die traditionelle »Vorgabe« auf unterschiedliche Weise in ihre jeweilige Klangtextur integriert. Dabei unterscheiden sich die Strategien der Bedeutungsbildung erheblich. Die Fragen nach »der Quelle«, den kulturellen Bezügen und Autoren stellte sich jeweils neu und anders – nicht nur aus kulturhistorischer und ästhetischer, sondern auch aus juristischer und wirtschaftlicher Sicht. Die Technologien moderner Kommunikationsverfahren hatten das melanesische Wiegenlied verfügbar gemacht, es aus seinen traditionellen Zusammenhängen gerissen und inmitten der Verhältnisse moderner Gebrauchs- und Verwertungsformen von Musik platziert. In den urbanen und modernisierten Lebenswelten war es eines von zigtausend Produkten des Musikmarktes geworden. Dennoch erlangte es eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit, die mit Marketinginstrumenten allein nicht zu haben gewesen wäre. Aus heutiger Perspektive (2009) handelt es sich bei diesem Beispiel um ein Stück Musikgeschichte bzw. eine Geschichte populärer Musik, an die sich nur noch diejenigen erinnern, denen der Titel damals etwas bedeutete. An ihm lässt sich jedoch in exemplarischer Weise zeigen, durch welche Aspekte und Dimensionen der Zusammenhang von populärer Musik und Globalisierung vor allem gekennzeichnet ist. Auch wenn nahezu zehn Jahre nach »den Ereignissen« rings um das melanesische Wiegenlied der aktuelle Musikprozess vor allem von den Fragen eines fundamentalen Umbruchs der Musikwirtschaft angesichts der Bedeutung des Internets für den Vertrieb und die veränderten Verwertungsstrukturen von Musik gekennzeichnet ist, lassen sich ausgehend vom gewählten Beispiel die Fluchtpunkte »medialer Verfügbarkeit« – als wohl wichtigstem Kennzeichen kultureller Globalisierungsprozesse – markieren. Auch damals schon waren es die Fragen von Autorschaft, Verwertungsrechten und Nutzerinteressen, die durch die fortschreitende Mediatisierung relevant geworden waren. Doch diese allein stellen nicht den Rahmen dieser Untersuchung dar. Es interessieren hier auch die Fragen kultureller Praktiken der Gegenwart, einer Zeit, die durch verstärkte Migrationsprozesse, Selbst- und Fremdethnisierung und Diskussionen um kulturelle Differenz und Vielfalt gekennzeichnet ist. Die kulturelle Logik moderner Subjektpositionen erzeugt Neugierde am Ungewöhnlichen, »anderen«, Differenten und erschließt sich Strategien, das »Eigene« immer wieder neu zu konstruieren. Dabei wird die kulturelle Logik von der Logik kommerzieller Verwertungsinteressen gestützt. Mediale Entwicklungen technologischer und wirtschaftlicher Art stellen beiden heutzutage Ressourcen wie Bilder, Klänge und bzw. als Zeichen zur Verfügung, die nicht mehr dauerhaft lokal oder kulturell gebunden sein müssen, sondern in Bewegung sind und sich in einem dynamischen Prozess der Veränderung befinden.
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Einfach nur schön Fremd und doch ausgesprochen eingängig eroberte im Sommer 1992 eine melanesische Frauenstimme die Top-Fifty der französischen Album-Charts. Die Frauenstimme war als »Echte Kopie« (Binas 2004) – als digitales Sample – in einen Song montiert. Das englische Wort Sample bedeutet im wörtlichen Sinn: Probe bzw. Muster. Im Kontext der digitalen Klangverarbeitung bezeichnet »Sampling« die technische Umwandlung eines analogen Signals in digitale Werte. Der Begriff bezieht sich auf den Vorgang der Abtastung des kontinuierlichen Eingangssignals, dem dabei in regelmäßigen minimalen Zeitabständen Proben entnommen werden. Ein Wandler formt im Prozess der Pulse-Code-Modulation die so gewonnenen Messwerte des Amplitudenverlaufes in digitale Informationen um. Auf dieser Grundlage beruhen sämtliche Verfahren der digitalen Schallaufzeichnung und Wiedergabe (A-D-A-Wandlung). In Bezug auf die elektronische Klangsynthese bezeichnet der Begriff des Samplings die digitale Speicherung von natürlichen oder künstlichen Klangstrukturen in einem Computer bzw. Sampler, so dass dieses Material für die nachträgliche Bearbeitung zur Verfügung steht. Samples aus der musikethnologischen Feldforschungsaufnahme »Rorogwela Lullaby« (Auvidis/IICMSD/UNESCO 1990) bilden in Gestalt einer sich dreimal wiederholenden pentatonischen Sequenz die »Substanz« eines Strophenliedes. Die metrische Gestalt des Songs ist streng geradzahlig (4/4) und das Sample technisch perfekt eingewoben in einen unaufdringlichen Pop-Rhythmus, der durch die Sounds und Akzente von Perkussion, Bass, Keyboards und mit speziellen Klangeffekten durch Panflöte und Human-Voice eine federnde Anmutung erhält. Die Sound-Gestaltung ist transparent – basslastige, mittlere und hohe Frequenzen stehen in einem ausgewogenen Verhältnis. Es dominieren Vokale, die für europäische Ohren in introvertiert näselnder Art die Tonhöhen im Oktavraum mit Ganztönen ausschreiten, wobei die Quarte und die große Septime fehlen, dabei mühelos zwischen Kopf- und Bruststimme wechselnd, dem Jodeln ähnlich ein wenig angeschliffen und die modal wirkende Ganztonreihe umspielend. In der zweiten und dritten Strophe wird die Frauenstimme vergleichbar einem Cantus Firmus harmonisiert. Der gesampelten Frauenstimme wurde ein tonales Kadenzsystem unterlegt. Während der letzten Strophe fehlt das Sample ganz. Es dominieren die auf der Basis der melodischen Fortschreitungen der Frauenstimme gewonnenen Harmonien und der darauf basierende hinzukomponierte dreistimmige Satzgesang. Der perkussive Rahmen, die synthetischen Panflöten und echoartig gesetzten HumanVoice-Delays beenden im Fade-Out den Song. Magische Klangräume Produziert wurde der Song von Eric Mouquet und Michel Sanchez – später vor allem als Produzententeam unter anderem für Youssou N’Dour und viele andere Musiker bekannt – für ihr erstes Album »World Mix« im Jahr 1992 (Deep Forest 1992). Die Veröffentlichungsrechte lagen zunächst bei Céline Music, einem französischen Verlag und Label. 10 Jahre später wurden sie von Sony Music/France 35
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vertreten, nach der Fusion mit Bertelsmann von Sony BMG. Die meisten Songs auf dem Album enthalten Samples; zum Beispiel von Stimmen aus Kamerun, Burundi, Senegal und von Pygmäen. Das Album wurde zur Zeit seiner Veröffentlichung in den Repertoire-Kategorien World Music, Ethnopop und New Age gelistet, während es knapp zehn Jahre (2001) nach seinem Erscheinen in den Auslagen von Musikhändlern wie Wom und Saturn und im Online-CD-Katalog von Amazon mit Alben des Techno-Stars Sven Väth (Väth 1993), der Pop-Ikone Madonna (Madonna 2000) und der Ethno-Pop-Sängerin Natacha Atlas (Atlas 1999) beworben wurde. Aktuell ist es in sämtlichen CD-Online-Katalogen oder direkt über die Website von Deep Forest erhältlich. »Sweet Lullaby« und die anderen »afrikanischen« Samples eröffneten dem westlichen Hörer exotische Klangräume. Kehlige Stimmen, unaufdringlich bewegte House-Rhythmen, effektvoll eingesetzte Synthesizersequenzen und akzentuierende Breakbeats auf fließenden Sound-Plateaus wurden in rhythmisch metrische Strukturen nach Maßgaben eines westlichen Pop-Songs integriert. Viele der Rhythmen basieren auf Sample-Loops. Sie bestimmen den klangästhetischen Charakter der Songs. Das Booklet des »World-Mix«-Albums verstärkte in Bild und Wort das Image des Produktes »Deep Forest«: satt grüne Blätter, archaische Zeichen und Objekte in freundlich warmen Ocker- und Gelbtönen, darin die geheimnisvollen Augen eines wunderschönen schwarzen Menschen, die staunend und gleichsam misstrauisch den Betrachter fixieren. Im Begleittext dominiert eine Sprache, die aus dem Reservoire magisch-mythischen Bewusstseins schöpft, ein wenig esoterisch, jenseits historisch und geographisch konkreter Orte und Zeiten, irgendwo dort, wo »Mensch und Natur« in Einklang miteinander leben: »Imprinted with the ancestral wisdom of African chants, the music of Deep Forest immediately touches everyone’s soul and instinct. The forest of all civilizations is a mysterious place where the yarn of tales and legends is woven with images of men, women, children, animals and fairies. Not only living creatures, but also trees steep in magical powers. Universal rites and customs have been profoundly marked by the influence of the forest, a place of power and knowledge passed down from generation to generation by the oral traditions of primitive societies.« (Deep Forest 1992)
In verschiedenen zum Song produzierten Videoclips wurde das Motiv eines sich durch die Welt träumenden Kindes inszeniert. Das Kind »stammt« aus Afrika oder von einem Eiland im Ozean und begegnet den Bildern von zerstörerischer Zivilisation: achtspurigen Autobahnen, gigantischen Gebäuden der Macht (chinesische Mauer, Kreml, Manhattan), abgewrackten stählernen Ozeangiganten an Bangladeshs Küste, dem Tatsch Mahal in Indien und einem Flugzeugträger. Auf der Webseite von Deep Forest wurden die Musiker Eric Mouquet und Michel Sanchez im Jahr 2000 als Klangreporter präsentiert. Die Tonträgerfirma Sony Music/France warb auf der Deep-Forest-Homepage:
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Populäre Musik und Globalisierung »Eric Mouquet and Michel Sanchez of Deep Forest are sound reporters. A voiceless musical duo, they draw on voices from every corner of the world. Under their patronage, infinitely distant utterances have become familiar to us. Hymns of joy and cries of anger, prayers and aubades, songs of hope and despair have all been brought to shake our certainties, seize our senses and stir our emotions. From Africa or Eastern Europe, from pygmies to nomads, the human visions brought to us by Deep Forest have helped greatly in narrowing the musical gap between hemispheres.« (www.sonymusic.fr/deepforest/; 28.09.2000)
Nahezu systematisch durchforsteten Eric Mouquet und Michel Sanchez in den 1990er Jahren die Klangwelten und -archive der Welt. Für ihr 1994 veröffentlichtes Album »Boheme« verwendeten sie vor allem Stimmen und Samples aus den südeuropäischen Balkangebieten und aus Ungarn. Sie ließen sich von den für mitteleuropäische Ohren außergewöhnlichen und fremden Stimmen inspirieren, bearbeiteten sie im Studio und kreierten auf diesem Wege ihre eigenen Songs und Alben. Auch die nachfolgend produzierten und veröffentlichten Alben (meist zwischen Techno und Ambient) orientierten sich an diesem Muster. Die meisten der für die genannten Alben verwendeten Aufnahmen stammten von Musikethnologen, die zumeist im Auftrag ethnologischer Abteilungen völkerkundlich orientierter Museen und als Teil breit angelegter Studienprojekte westlicher Forschungseinrichtungen in »entlegenen« Gebieten des Globus traditionelle Musikpraktiken und -formen dokumentieren und untersuchen. Seitdem Musikethnologen Aufnahmegeräte zur Verfügung standen – zu Beginn des 20. Jahrhunderts die legendären Phonographenwalzen, später Magnettonbänder und heute digitale Aufnahmeverfahren wie das Digital-Audio-Tape oder professionelle Handy-Recorder – gehörte die technische (Moment-)Aufnahme als Dokumentationsverfahren der zu untersuchenden musikalischen Formen zu einer der wichtigsten Methoden musikethnologischen Arbeitens. Auf diesem Wege wurden auch die von Deep Forest verwendeten Aufnahmen des hier zum Ausgangspunkt der Untersuchung gewählten melanesischen Wiegenliedes (technisch) zugänglich gemacht. ChartChart-Erfolg und WerbeWerbe-Track Das Album »World Mix« erreichte im Jahr 1992 allein in Frankreich einen Verkaufserfolg von ca. 100.000 Exemplaren – ein Nachfragepotenzial, dass das Interesse an weit reichenden Lizenzverträgen – zum Beispiel durch eine französische Fernsehgesellschaft – erzeugte. Das Ziel von Lizenzhandel oder auch Künstlermerchandising besteht darin, das Image eines Produktes, einer Marke oder einer berühmten Person auf ein anderes Produkt zu transferieren. Unter Nutzung des positiven Images, der Sympathie, des Interesses, das von einem bestimmten Produkt ausgeht, kann versucht werden, sich von Konkurrenzprodukten abzugrenzen (Schulze 1996). Die französische Fernsehgesellschaft verwendete »Sweet Lullaby« als Soundtrack eines Werbespots für Haarshampoo. Noch drei Jahre später konnte sich das 37
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Album in den amerikanischen Billboard-Charts 25 Wochen lang platzieren, immerhin wurden über zwei Millionen Exemplare des Albums weltweit verkauft. Auch Porsche, Sony, Coca Cola und andere global agierende Marken-Compagnies signalisierten ihr Interesse und erwarben eine entsprechende Nutzungs-Lizenz. Sie produzierten Werbespots, denen der Soundtrack von »Sweet Lullaby« unterlegt war, und zahlten entsprechende Nutzungsgebühren an diejenigen Tonträgerfirmen und Verlage, welche die Rechte am Song und am Album jeweils hielten (Mills 1996: 59). Wenngleich die auf diesem Erfolg basierenden Einnahmen und Umsatzzahlen auf Seiten der Musikwirtschaft nicht recherchiert werden können, darf davon ausgegangen werden, dass der kommerzielle Erfolg erhebliche Größenordnungen erreicht haben muss. Ein solcher Erfolg lässt sich nicht »herbeimanipulieren«. Durchdachte Image-Entwicklung, PA (Öffentlichkeitsarbeit) und eine abgestimmte Marketing-Strategie dürften einhergegangen sein mit einem zu dieser Zeit in bestimmten (auch lokalen, hier urbanen) Zusammenhängen kulturell disponierten Interesse an entsprechenden Produkten. In der Sound-Gestalt der Songs, in der Cover- und Website-Gestaltung und den Musikvideoclips hatte dieses kulturelle Interesse sein Medium gefunden. Offenbar war es gelungen, eine zahlungskräftige Nachfrage aufzuspüren bzw. zu generieren, ein Publikum anzusprechen, dass sein soziales und kulturelles Selbstverständnis durch Musikformen dieser Art in den Repertoire-Kategorien von World Music und New Age repräsentiert sah. Deep Forest bediente damals schon einen Markt, der nicht mehr eindeutig dem RepertoireSegment World Music zuzuordnen war, sondern mit den ästhetischen Mustern von elektronischer Clubmusik in Verbindung stand. Die weltweit agierenden Tonträgerunternehmen mit ihren Marketing-Abteilungen werden wachsam diesen Prozess verfolgt und angesichts der steigenden Verkaufszahlen den Trend aufgegriffen und forciert haben. 1994 wurde das »World-Mix«-Album für einen internationalen Grammy nominiert. Schließlich erhielt das zweite Album von Deep Forest »Boheme« 1995 den Grammy für das beste World-Music-Album. Warum aber konnte gerade ein melanesisches Wiegenlied, einst gesungen von einer jungen Frau des ’Are’are-Stammes von der Salomoninsel Malaita im südlichen Pazifik, diese unterschiedlichsten Interessen vermitteln? Welche ästhetischen und kulturellen Anziehungskräfte gingen von diesem Wiegenlied aus? 1.2.2 DIE DEEP-FOREST-AFFÄRE – WIDERSPRÜCHLICHE POSITIONEN ANGESICHTS DER ANEIGNUNG »TRADITIONELLER MUSIKFORMEN « DURCH DEEP FOREST Motive musikethnologischer Forschungsarbeit Der Schweizer Musikethnologe Hugo Zemp hatte Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die Aufnahmen der Baegu-Gesänge auf Malaita als Teil seiner ethnologischen Studien im Auftrag des French National Center For Scientific Re-
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search (CNRS) durchgeführt. Für ihn stellten sich angesichts des enormen Erfolges des »World-Mix«-Albums von Deep Forest verständlicherweise andere Fragen. Zemp sah sowohl seine eigene Arbeit, vor allem aber die Baegu-Gesänge des ’Are’are-Stammes, durch die »Machenschaften« der international agierenden Musikindustrie missbraucht. »I was so disgusted by this affair that I had no desire to listen to it [gemeint ist die CD von Deep Forest, vor allem der Titel »Sweet Lullaby« – S. B.-P]« (Zemp 1996: 46). Nachdem Hugo Zemp durch Nachforschungen der amerikanischen Ethnologin Sherylle Mills, die sich intensiv mit der rechtlichen Situation so genannter indigener Musik auseinandergesetzt hatte (Mills 1996), mit der Urheberrechtsproblematik in Bezug auf die Veröffentlichung des Deep-ForestAlbums »World Mix« konfrontiert wurde und Erkundigungen dazu einholte, schrieb er im Juli 1996 an Eric Mouquet und Michel Sanchez von Deep Forest einen längeren Brief. Kopien gingen auch an verantwortliche Mitarbeiter der UNESCO, an das International Council for Traditional Music (ICTM), das Internationale Institut für Traditionelle Musik – damals mit Sitz in Berlin – und an die verantwortlichen Mitarbeiter der Plattenfirmen Cèline Music, Sony Music/France und Auvidis: »Sirs, On your disc Deep Forest you used a sample from a recording which I made in the Solomon Islands and had published on the disc Solomon Islands: Faleka and Baegu Music of Malaita, originally issued in the UNESCO Collection Musical Sources by Philips and re-issued by Auvidis-UNESCO. You usurped my name in declaring that your enterprise had my support; I never gave you my permission for this recording. […] The piece which you entitled ›Sweet Lullaby‹ which you improperly credited as your composition, stealing the tune which belongs to the Baegu People of Malaita […] has become an international success. […] You have been disrespectful first to the musical heritage of the Solomon Islands, using without permission a piece of music and concealing the source of your arrangement on the CD notes (you are mentioning only African sources), and second to the ethnomusicological discipline in usurping my name, making believe that I have given my support to your purely commercial enterprise. […] You write on the CD notes that ›The chants of Deep Forest […] transmit a part of this important oral tradition gathering all peoples and joining all continents through the universal language of Music. Deep Forest is the respect of this tradition which humanity should cherish as a treasure that marries world harmony, a harmony often compromised today.« (Booklet Deep Forest 1992) »It is time to put your good words into action and pay back of your profits to the real owners of this music, to a cultural/scientific association of the Solomon Islands that really cares for the preservation of artistic heritage. […] Waiting for your reply.« (Zemp 1996: 48f.)
Was war passiert? Warum äußerte sich der Musikethnologe Hugo Zemp erst 1996? Wie begründete er sein Engagement in dieser komplizierten Angelegenheit? Mehr als 20 Jahre lagen zwischen den Aufnahmen auf Malaita von 1969/70 und der Veröffentlichung des betreffenden Deep-Forest-Albums aus dem Jahr
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1992. Hatte es die Plattenfirma von Deep Forest versäumt, sich auf legalem Wege Informationen über die Rechtslage und Befürwortungen zur Übernahme der betreffenden Aufnahme zu beschaffen? Im Jahr 1973 lag der Song bereits als Schallplattenaufnahme vor, herausgegeben von UNESCO Collection Auvidis. Für die Serie »Musics and Musicians of the World« hatte Hugo Zemp die Aufnahmen zur Verfügung gestellt, vertraglich geregelt zwischen dem French National Center for Scientific Research, in dessen Auftrag Hugo Zemp Ende der 1960er Jahre auf Forschungsreisen zu den Salomoninseln gegangen war, und dem Internationalen Institut für vergleichende Musikstudien und Dokumentation. Finanziell unterstützt wurde die Veröffentlichung durch die Abteilung Musik und Tanz des französischen Ministeriums für Kultur und Kommunikation. Im Jahr 1990 wurden die Aufnahmen erneut, diesmal auf CD veröffentlicht (Auvidis/IICMSD/UNESCO 1990). Am Anfang war das Tape Als Tondokument erfuhr das Wiegenlied seine erste technische Fixierung und nachfolgend die Vergegenständlichung auf einem Tonträger: zunächst auf einer Schallplatte mit analoger Aufnahme- und Wiedergabetechnik, später in digitalisierter Form auf einer Compact-Disc. Niemals zuvor hatte ein solches Wiegenlied jenseits seines unmittelbaren, durch Geographie, Traditionen und orale Überlieferungen bestimmten Gebrauchs existiert – und damit unabhängig von seinen Sängerinnen. Eine Besonderheit melanesischer Wiegenlieder der Baegu-Gesänge besteht darin, dass sie zumeist nicht von der Mutter eines Kindes, sondern von dessen ältester Schwester gesungen werden. Die Worte beschreiben eine Situation, in der die ältere Schwester das kleine Kind bittet, nicht so laut zu schreien, weil es ohnehin niemanden gibt, der es hören kann. Oftmals seien die Eltern bereits tot, schreibt Hugo Zemp in den Begleittexten zur Schallplatten- und CD-Veröffentlichung seiner Aufnahmen (ebd.: 4f.). Nun geriet das Wiegenlied in völlig neue und andere Zusammenhänge der Memorierung, der Darbietung und des Gebrauchs. Aus der durch alltäglichen Gebrauch bestimmten Musikpraktik und Funktion als Wiegenlied wurde mit der Fixierung auf einem Tonträger eine physisch existierende Werk- und Warenform, die sich potenziell hervorragend als Objekt künstlerischer, kultureller und vor allem auch ökonomischer Interessen eignen sollte: mit allen Konsequenzen, die ein solcher Transformationsprozess mit sich bringt. Doch dazu später mehr. Traditionen bewahren Der Musikethnologe Hugo Zemp war Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in den Südpazifik gereist, um die musikalischen Praktiken auf den Salomoninseln kennen zu lernen, auf Tonbändern zu dokumentieren bzw. vor dem Vergessen zu retten. Ihm war bekannt geworden, dass die traditionellen Formen der Baegu-Musikkultur im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts angesichts der Ein40
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flüsse der britischen Kolonialmacht zu verschwinden drohten. Auch im Südpazifik wurden zunehmend die sich verbreitenden kulturellen Transformationserscheinungen globaler Reichweite spürbar. Immer weniger Mitglieder der Bewohner Malaitas kannten und gebrauchten laut Aussagen des Anthropologen Daniel de Coppet die traditionellen Formen: »The ’Are’are offered me their music; what I was going to give in exchange? I answered that through my work, their traditional music would be preserved for future generations. I knew […] that half of the ’Are’are population belonged to a fundamental Protestant church where the performing of traditional music was forbidden and that most young people preferred panPacific pop. Perhaps if records were pressed and their music transmitted on the national radio, young people would better recognize the value of their heritage, I said.« (Zemp 1996: 37)
Die Wissenschaftler hofften, dass durch ihre Arbeit ein Bewusstsein für die traditionellen Musikformen zu erhalten wäre. Hier nun aber eröffnen sich zwei Problembzw. Untersuchungsebenen: • Zum Ersten muss man die Frage stellen, welche Folgen die technische Fixierung von musikalischen Formen für diese selbst haben? • Zum Zweiten geht es um die weit reichende und vor allem kontrovers diskutierte Frage nach der Konsistenz kultureller Gemeinschaften und ihrer kulturellen Äußerungsformen. Sind Kulturen weitestgehend in sich abgeschlossene, beständige Gebilde, gebunden an Orte, bestimmte Lebensauffassungen, Religionen? Oder sind sie permanenten Veränderungen und innerer Dynamik ausgesetzt und Vorstellungen von in sich geschlossenen kulturellen Gemeinschaften damit eh eine Fiktion, eine Konstruktion? Die erste Frage zielt auf die Darstellung und Bedeutung des historischen Werdegangs »medialer Verfügbarkeit«, wie sie Max Peter Baumann in seinen Darlegungen zu Musikformen im interkulturellen Dialog als zentrale Voraussetzung neuzeitlicher Entwicklungen benannte (Baumann 1996): mediale Verfügbarkeit, die auch dazu beiträgt, den abendländischen Universalanspruch der »Philosophie einer [Hervorhebung S. B.-P] Kultur« (ebd.: 43) grundsätzlich in Frage zu stellen. Hätte Hugo Zemp nicht ahnen und wissen müssen, dass von dem Zeitpunkt an, als er das Wiegenlied technisch dokumentiert und fixiert hatte, ein Zugriff von wo und von wem auch immer möglich geworden war? Die »technologische Dauerrevolution« (Beck 1997b) hatte etwa fünfzehn Jahre, nachdem Hugo Zemp die Musik der ’Are’are auf Malaita aufgenommen hatte, mit der Möglichkeit, jegliche Datenformate zu digitalisieren, zumindest technologisch die geographischen Barrieren kultureller Grenzen überwunden bzw. niedergerissen. Das konnte Hugo Zemp nicht ahnen. Weder Bild noch Klang ließen sich nun potenziell dem Zugriff
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anderer entziehen, es sei denn, man verschließt sie in Tresoren und Panzerschränken unzugänglicher Archive. Öffentliche Archive und Dokumentationszentren in Forschungseinrichtungen und Museen folgen vor allem dem Grundsatz, nachfolgenden Generationen, vor Ort und jenseits jener Regionen, dessen kulturelle Artefakte man gesammelt hatte, diese kulturellen Artefakte zugänglich zu machen. Nationale Archive und Museen sind zumeist Gründungen aus der Zeit der Gründung von Nationalstaaten. Die zu sammelnden Objekte sollten ein wertvolles und authentisches Reservoire nationalen Selbstbewusstseins darstellen bzw. herstellen helfen. Durchaus in der Tradition fürstlicher Wunderkammern wurden sie von selbstbewussten bürgerlichen Intellektuellen bzw. urbanen Eliten gegründet. Das Sammlungsinteresse war einerseits auf originale und originelle Dokumente ländlichen Lebens in den besagten Nationalstaaten (Volkskunde) und andererseits auf die kulturellen Zeugnisse jener Völker gerichtet, die man als Kolonien unterworfen hatte. Die Depots entsprechender Archive und Museen sind voller entsprechender Artefakte des kolonialen Erbes und Objekte ländlicher Arbeits- und Kulturformen. Dass museale Praktiken in diesem Zusammenhang aus der heutigen Perspektive auch fragwürdig sind – man denke etwa an den Abtransport historisch einzigartiger Zeugnisse aus bestimmten Regionen der Welt in die Museen der westlichen Metropolen – muss hier dahingestellt und undiskutiert bleiben. Zweifellos haben die Sammlungsaktivitäten »westlicher« Anthropologen und Ethnologen viele kulturelle Zeugnisse vor dem Verfall bzw. Vergessen gerettet, gleichsam aber auch koloniale Hegemonie reproduziert. Die Objekte erlangten einen eigenwilligen Fetischcharakter, der ihrer »ursprüngliche Funktion« nicht gerecht werden konnte. Musikethnologische Abteilungen völkerkundlicher Museen, zum Beispiel Sammlungen von Instrumenten oder auch Wachszylindern, und auch Rundfunkarchive sind interessante Orte, um Zeugnisse traditioneller Kultur- und Musikformen zu sammeln, zu bewahren und zu präsentieren. Mit ihren spezifischen Mitteln und Methoden tragen entsprechende Forschungsansätze dazu bei, Gesellschaftsformen in einem bestimmten kulturellen »Zustand« zu verstehen. Verständigungsprobleme tauchen jedoch immer dann auf, wenn die westliche Perspektive für sich in Anspruch nimmt zu wissen, was als Original, was als authentisch und was als traditionelle Kultur bezeichnet wird. Angesichts technologischer Möglichkeiten der Aufnahme und Wiedergabe von Klang macht zum Beispiel die Bezeichnung der »originalen« Version keinen Sinn (Moyle 2000). Kennen orale Praktiken der Weitergabe von Musikformen in »traditionellen« Kulturen überhaupt eine »Originalversion«? Kann es eine originale Version des melanesischen Wiegenliedes geben? Jenseits von Musikmärkten Aufschlussreiche Darlegungen zu den Möglichkeiten, der Verantwortung und den Problemen im Umgang mit Dokumenten musikethnologischer Feldforschung fin42
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det man bei dem amerikanischen Musikethnologen Steven Feld. Nur einige tausend Kilometer entfernt von Malaita hatte er zwischen 1976 und 1984 seine berühmten Feldstudien und Dokumentationen zur Sprache, Kultur und Musik der Kaluli im Bosavi-Regenwald Papua-Neuguineas durchgeführt, »where ›the last unknown‹ (a phrase originated by Gavin Souter’s 1963 book title) people of the highland interior have come into contact with outsiders only in the last fifty years« (Feld 1994: 275f.).
Auch Feld veröffentlichte seine Klangdokumentationen auf Schallplatten im musikethnologischen Kontext. Eine der Aufnahmen wurde als erste Veröffentlichung einer Schallplatten- und Kassettenserie des Institute Of Papua New Guinea Studies konzipiert, eine andere als dritter, von Hans Oesch herausgegebener Band einer Serie zu Musik aus Ozeanien beim Bärenreiter-Verlag verlegt. Beide Tonträger kursierten zunächst ausschließlich in akademischen Kreisen, und nur sehr wenige Exemplare wurden in diesem Zusammenhang verkauft. Steven Feld musste deshalb davon ausgehen, dass ein Großteil derer, die sich immer wieder auf die schriftlichen Ergebnisse seiner Arbeit bezogen, Feld referierten, die Musik der Kaluli niemals gehört hatte. Keineswegs nur Musikethnologen und -soziologen (Kaden 1993) waren beeindruckt von den Zeugnissen dieser eigenwilligen Musikpraktiken, sondern auch Musiker und Veranstalter populärer Genres. Als Steven Feld seine Aufnahmen aus den Regenwäldern von Papua-Neuguinea eher zufällig Musikern in den USA vorspielte, stießen die Klänge auf offene Ohren, Neugierde und immenses Interesse. Mickey Hart zum Beispiel, der Perkussionist der bekannten kalifornischen Band Grateful Dead, die im Umfeld der von Kalifornien (USA) ausgehenden HippieBewegung in den 1970er Jahren international für Aufmerksamkeit gesorgt hatte, und Gründer des Rycodisc Labels, das auch heute noch vor allem Tonträger im Repertoire-Segment World Music produziert und vertreibt, reagierte laut Feld geradezu euphorisch, als er im Studio die Kaluli-Aufnahmen von Steven Feld hörte. Als Hart 1984 im Smithonian Institution Office of Folklife Programs und an der Universität von Kalifornien einige Ethnologen um die Beratung bei der Erarbeitung einer Publikation zu Perkussionsinstrumenten der Welt bat, empfahl man ihm, sich an Steven Feld zu wenden, um etwas zur Verwendung von Trommeln auf Papua-Neuguinea zu erfahren. Als Mickey Hart schließlich während einer Tournee mit seiner Band Grateful Dead nach Philadelphia kam, sprachen beide über die Musik der Kaluli. Feld lud Hart ein, sich die Tapes aus Papua-Neuguinea anzuhören. Nachdem beide in die Aufnahmen hineingehört hatten, äußerte sich Hart überwältigt: »That’s incredible, and it’s much too important to be kept an academic secret.« (Feld 1994: 278) An außergewöhnlichen Klängen und den Lebensweisen und -philosophien von Kulturen interessiert, die jenseits »westlicher« Vernunftmodelle Spiritualität und magisches Bewusstsein praktizierten, hatte Mickey Hart den Musikethnologen
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Steven Feld gebeten, das klanglich für ihn außerordentlich interessante Material für eigene Arbeiten im Studio und auf Tonträgern und Konzerten von und mit der Band Greadful Dead verwenden zu dürfen. Steven Feld fragte damals verwundert: »You want to play this at a Grateful Dead show?« Mickey Hart soll mit einem verschmitzten Lächeln geantwortet haben: »Of course! Twenty thousand Deadheads will turn into tree-climbing monkeys about two minutes after I crank up the volume.« Feld wiederum war stark verunsichert. Eigentlich hatte er niemals vor, die Musik der Kaluli einem größeren Publikum zu präsentieren, nur weil es dem womöglich gefallen könnte. Andererseits hatte er sich immer gewünscht, dass möglichst viele Menschen seine Begeisterung an der Musik der Kaluli teilen würden: »I felt equally embarrassed by the realization that academia punished populizers, that I could easily succumb to guilt over both the urge to have the music heard and the knowledge that I might be contributing to an escalation of audio voyeurism, exotism, and crass capitalism if really participated in the kinds of commercial productions that would make it heard.« (Feld 1994: 278)
Einige Jahre der Unentschlossenheit auf Seiten Steven Felds vergingen, ehe er sich entschied, zusammen mit Mickey Hart, der sich unter anderem auch der Spiritualität tibetanischer Mönchsgesänge widmete, ein Projekt zur Präsentation indigener Musik aus Papua-Neuguinea mit dem Titel »Voices of the Rainforest« zu organisieren. Für Steven Feld blieben dennoch die Fragen zur Verantwortung eines Musikethnologen gegenüber den Ergebnissen musikalischer Feldforschungsarbeit: »Once sounds like these are split from their sources, that splitting is dynamically connected to escalating cycles of distortion mutuality, which in turn is linked to polarizing interpretations of meaning and value.« (Feld 1994: 289)
Es geht also um die Frage, was passiert, wenn in Zeiten medialer Verfügbarkeit Musikformen von scheinbar autarken Kulturen dokumentiert werden, in wessen Hände sie geraten könnten, welchen Interessen damit entsprochen bzw. zugespielt wird, was andere damit anfangen werden und ob es überhaupt Sinn macht, einer wie auch immer angelegten Veränderung des »Materials« Einhalt zu gebieten. Steven Feld gab zu bedenken, dass nicht zuletzt Wissenschaftler Teil der universellen Warenkultur geworden sind. Mit ihren wissenschaftlichen Themen, meist als »wissenschaftliche Gegenstände« bezeichnet, können sie keineswegs völlig außerhalb solcher Zusammenhänge agieren, die durch Märkte und ihre Wettbewerbsstrategien geprägt sind. Den Argumenten »imperialistischer Nostalgien« konnte Feld wenig abgewinnen. Wie könne man aus einer gesicherten Position heraus zornig und verständnislos den Resultaten und Transformationen dessen gegenüberstehen, was man selbst mit angestoßen hatte!?
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Das schlechte Gewissen Das Beispiel der Kaluli aus den tropischen Regenwäldern Papua-Neuguineas erlangte neben dem rein akademischen einen hohen symbolischen Wert, handelte es sich dabei doch um Klänge bzw. Musikformen einer Kultur, die in den bedrohten Regenwäldern das Zusammenleben und die magischen Sublimierungen und Verwandlungen der so genannten »Vogelmenschen« verkörpern, der Letzten ihrer Art. Auch der Musiksoziologe Christian Kaden widmete sich im Kontext seiner Darlegungen zu verschiedenen Aspekten der Sozialgeschichte von Musik (Kaden 1993) der Untersuchung der musikalischen Praktiken der Kaluli nicht allein ihrer musikalischen und sozialen Struktur und Funktion wegen, also aus rein musiksoziologischem Interesse, sondern auch wegen des aus seiner Sicht bemerkenswerten »Fließgleichgewichtes«, das er auf andere gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen wissen wollte: »Wo je Musik die Vielheit menschlicher Wesenszüge in ein Fließgleichgewicht, ein Gleichgewicht der Komplementaritäten zu bringen trachtete: in der Kunst der Kaluli (die lediglich auf technische Zurüstung verzichtet) wäre es gelungen. Musik […] könne mehr stiften als Kommunikation: Verwandlungsgabe, ›Ehrfurcht‹ vor dem Lebendigen (wie die Indianer es ausdrücken) […]. Vielleicht jedoch genügt es einstweilen festzuhalten, dass nahe schon bei den Ursprüngen der Musik, und besonders in ihrer Nähe, eine Lebensklugheit waltet, die vom weiteren Gang der Geschichte eher zugeschüttet worden ist.« (Ebd.: 36)
Steven Feld schrieb in seinen Überlegungen zur Verantwortung eines Musikethnologen angesichts der universellen Verfügbarkeit »traditioneller Stimmen«: »The thinning out of ecological systems may proceed at a rate much slower than the rubbing out of cultures, but cultural rub-out is a particularly effective way to accelerate ecological thin-out. The politics of rainforest ecological and aesthetic coevolution and co-devolution are one, and Mickey’s initial reaction to hearing the Bosavi rainforest was eerily appropriate in the larger political economy of musical and cultural destruction: this is too important to remain an academic secret.« (Feld 1994: 289)
Abgeholzte tropische Regenwälder und die verstummenden Klänge der Kaluli – gäbe es eine deutlichere Metapher für die unumkehrbaren Resultate fortschrittsgläubigen Modernismus, ungebremster Wachstumsphantasien ökonomischer und kultureller Provenienz, der Bedeutungszunahme instrumenteller Vernunft, der auf Rationalismus und Effektivität gründenden Ökonomien und Lebensformen, des Zeitregimes der raumübergreifenden und natürliche Ressourcen vernichtenden Industrialisierung, der Markterweiterung, des vor allem von Europa ausgehenden Kolonialismus, der sich hemmungslos zunächst der »natürlichen« und im Verlaufe der Geschichte der kulturellen Ressourcen anderer Völker bemächtigt hatte? Sich diesen Fragen zu entziehen, hieße die Augen zu schließen vor der ethischen Dimension der Fragestellung. Eine eindeutige Antwort fällt schwer. 45
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Wohin führt die Geschichte medialer Verfügbarkeit? Was bedeutet der vielfach prognostizierte soziale und ökonomische Wandel für die Kulturen auf diesem Globus? Welche Kräfte führen zur Begegnung, zum Austausch und zur Veränderung kultureller Systeme? Konsistenz oder Dynamik Wie die Begegnung zwischen den Formen musikalischer Praktiken der Kaluli und konkreten Formen »westlicher« Popmusik ist auch die Geschichte, die das besagte melanesische Wiegenlied von der pazifischen Insel Malaita bis in die internationalen Popcharts genommen hatte, von einer Fülle interessengeleiteter Aktivitäten und deren Auswirkungen bestimmt. Viele möchten sich sicherlich tendenziell dem Unmut Hugo Zemps anschließen, der sich von den »Machenschaften« der internationalen Musikindustrie hintergangen und in seinen redlichen Absichten torpediert fühlte, der die traditionellen Praktiken zerstört sah und damit eine »ganze« Kultur. In letzter Konsequenz kann diese Frage aber nicht moralisch beantwortet werden. Zunächst kommt es darauf an, die komplizierten Allianzen und Widersprüche zu sichten. Wie Steven Feld auch machten sich viele Menschen Sorgen, dass sie durch ihren Besuch – ob Ethnologen oder zunehmend auch Touristen – genau das verderben oder gar vernichten würden, was ihnen so wichtig war. Die eingangs zitierte britische Journalistin vermutet den Grund in der schwierigen Lage der Selbstkonzeptionalisierung westlich sozialisierter Menschen: »Um an unser elementares Selbst glauben zu können, brauchen wir die Vorstellung von Eskimos und Nomaden, von Indianern und Yanomani, die sich von ihren alten, natürlichen Lebensweisen kaum oder nur wenig entfernt haben. Diese Vorstellung liefert uns die Bestätigung dafür, dass es einen ›natürlichen‹ Zustand der Menschheit vor der Zivilisation gibt, an den wir wieder Anschluss gewinnen und an den wir uns halten können, wenn wir uns verloren fühlen.« (Toynbee 2001: 236)
Diese Untersuchung geht davon aus, dass Kulturen unbeständig und voneinander abhängig sind. Sie können einander durchdringen und sind keine in sich geschlossenen Gebilde. Sie sind weder an bestimmte Orte dauerhaft gebunden, noch an eine bestimmte Gruppe von Menschen, Religion oder Nation. Auch eine ethnische Fundierung ist keine zwingende Voraussetzung kultureller Identifikation bestimmter Gruppen. Eine Dorfgemeinschaft aus dem alpinen Wallis hat wahrscheinlich mehr Gemeinsamkeiten mit nepalesischen Bergbauern als mit ihren Eidgenossen im großstädtischen Bern, ein libanesischer Komponist elektronischer Musik mehr Berührungspunkte mit einem Kollegen aus Köln als mit einem libanesischen Popsänger (Burkhalter 2009)! Kulturelle Differenz lässt sich nicht notwendigerweise entlang von traditionellen, ethnischen oder nationalen Zugehörigkeiten herstellen. Offenbar existieren heute daneben weitaus wirksamere kulturelle Aneignungssysteme, in denen bestimmte Zeichen und Symbole Bedeutung tragen 46
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bzw. erlangen können. Wer möchte dabei entscheiden oder darüber richten, welche Form bzw. Praktiken menschlichen Lebens die besseren sind, ob »technische Zurüstung« in modernen Metropolen oder »ritueller Kannibalismus« in klaustrophobischen Subsistenzwirtschaftsgemeinschaften? Die Diskussionen um das Bewahren und bzw. oder die Zerstörung von Kulturen sind meistenteils nicht nur geprägt von ethnozentrischen Vorstellungen, sondern auch von anthropozentrischen Denkfiguren, Begriffen und Wertungen. Vielleicht werden auch deshalb in der Tradition ästhetischer Theoriebildung und Geschichtsphilosophie im Sinne Adornos die real stattfindenden, aus dieser Perspektive nichtemanzipatorischen Annäherungen zwischen diversen Musikformen mittels Kulturindustrie, Illusionskultur und Designer-Konsum (Fehér/Heller 1986) fast ausschließlich mit Argwohn und Ablehnung betrachtet. Im Laufe der vergangenen 500 Jahre Menschheitsgeschichte hat sich von Europa ausgehend ein ökonomisches Paradigma entwickelt (Wallerstein 1986), das zunehmend zum allumfassenden Sinnsystem geworden ist und sämtliches Handeln von Menschen beurteilt und bewertet. Peter Bendixen (Bendixen 2001) schreibt dazu: »Die moderne Marktwirtschaft ist im Schoße der abendländischen Kultur aus der Verschmelzung von mittelalterlichem Markthandeln mit den alten grundherrschaftlichen Wirtschaftsweisen entstanden; ein historischer Geburtsprozess, von dem man inzwischen weiß, dass seine Wiege in der englischen Agrarwirtschaft des 14. Jahrhunderts lag.« (Ebd.: 19)
Die Dominanz des Ökonomischen über die übrigen Bereiche der Gesellschaft scheint ein historisches Faktum geworden zu sein, nicht zuletzt die jüngsten Krisen verstärken diese Annahme. Die Entwicklung ökonomisierter und technisierter Gesellschaftsformen wird im Zuge des Globalisierungsprozesses der Märkte intensiviert und dehnt sich weltweit aus. An die Stelle des Vertrauens in eine sich in den Formen der Ökonomie entfaltenden universellen rationalen Vernunft ist ein gehöriges Maß an Skepsis getreten, der Kampf gegen das Abholzen tropischer Regenwälder und gegen das »Sterben« indigener Sprachen, wider zivilisierte Bewegungsarmut und rational kalkulierte Lebensläufe. Nicht zuletzt eine Fülle romantischer Sehnsüchte nach Ganzheit und Sinn (Klinger 1995), einander bekämpfende Zivilisationen (Huntington 1996) oder renaturalisierte Gemeinschaftsvorstellungen (Assmann 1994) verweisen auf eine komplizierte Gemengelage kulturellen Selbstverständnisses. Schon der vorsichtige Versuch einer Rekonstruktion jener eigenwilligen Odyssee von »Sweet Lullaby« zeugt von der Komplexität kultureller Prozesse in Zeiten medialer Vernetzung, ökonomischer Globalisierung und sozialem Wandel.
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1.2.3 INTERESSEN IM K ONFLIKT – ANMERKUNGEN ZU UNTERSCHIEDLICHEN POSITIONEN DER AKTEURE IM MUSIKPROZESS Schlagworte, alte und neue Ideologien und begrifflich zunehmend bedenklich erscheinende Konzeptionalisierungen von Kulturen und Identitäten bestimmen die Diskussionen um musikkulturelle Phänomene in Zeiten der so genannten Globalisierung. Das Konfliktpotenzial ist erheblich, die Interessen der in diesen Zusammenhängen Agierenden sehr unterschiedlich, oftmals geradezu konträr. Auf der einen Seite die Proklamation von Bedrohungsszenarien, Beharrungsvermögen und traditionelle Überheblichkeiten, andererseits Missverständnisse, Widerstandsstrategien, Fortschrittsglaube oder Hoffnungen auf Teilhabe mittels technologischer Entwicklungen. Im Zeitalter von Digitalisierung und Internet stellen sich Fragen nach Zentrum und Peripherie, Macht und »Ermächtigung« anders, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Das betrifft insbesondere auch das Musikleben und die in ihm handelnden Personen und Akteure. Akteure des Musikprozesses Musiker, in diesem Falle Michel Sanchez und Eric Mouquet von Deep Forest, wollen sich zunächst einmal mit ihrer Musik selbst verwirklichen, Musik kennen lernen, erspielen, proben, improvisieren, im Studio erarbeiten und aufnehmen, komponieren, arrangieren, live präsentieren und wenn es möglich ist von »ihrer« Musik leben, das heißt ihre Existenz sichern. Dies tun sie in einem konkreten gesellschaftlichen Umfeld, das den Möglichkeiten und Zwängen des Musikmachens oder in diesem Falle auch Musikproduzierens einen Rahmen setzt. Auch »frühe« Kulturen brachten Spezialisten für akustische Kommunikationsformen hervor, die keineswegs zweckfrei ihr Können in den Kontext sozialen Gebrauchs und Austauschs stellten. Nur kannten diese Gesellungsformen weder ein so genanntes Autorensubjekt, die Vergegenständlichung ihrer akustischen Äußerungsformen in fixierter Form wie Noten und Tonaufnahmen, noch die Maßgaben der von Originalität bestimmten Kreativität, die auf geistiger Schöpfung des »noch nie Dagewesenen« basiert. Es existieren historisch und geographisch konkrete, dennoch in sich dynamische Auffassungen darüber, was Musik ist, was sie den unterschiedlichen Gemeinschaften bedeutet, ob es einen Schöpfer gibt, wer der Autor ist und vor welchem Hintergrund und zu welchem Zwecke musikalisch kommuniziert wird. Höchst diskursiv geprägt ist auch das Verständnis darüber, was Musik ist und wer ihre maßgeblichen Träger sind. Auch die Systeme der Rechtsprechung, zum Beispiel das bürgerliche Urheberrecht, folgen jeweils historisch konkreten Subjekt- und »Eigentumsvorstellungen«. Die Unterscheidung von öffentlichen und privaten Räumen macht zum Beispiel erst dann Sinn, wenn Klänge nicht mehr (nur) rituelle Gebrauchsform sind oder zur Ehrerbietung an ein »höheres Wesen« geschaffen werden. Im so genannten europäischen Generalbasszeitalter, als man zur Ehre Gottes die »Vorgaben« der Generalbassschrift ausführte, litt man keineswegs darunter, 48
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allwöchentlich eine Kantate für den Kirchenchor und die Gemeinde »auszusetzen« – ein Vorgang, der später, im 18. und 19. Jahrhundert, als ein wenig kreativer galt und nicht mehr im Zentrum kompositorischen Selbstverständnisses stand. Erst im Zuge der Verbürgerlichung des Musiklebens – ab ca. Mitte des 18. Jahrhunderts – setzte sich das Prinzip der Autorschaft umfassend durch, der Komponist stand ab dieser Zeit einem anonymen Publikum gegenüber, deren Interessen er nur erahnen konnte und deren Zahlungsbereitschaft mühsam organisiert werden musste. Unter den Bedingungen kapitalistischer Warenproduktion werden auch kulturelle Aktivitäten maßgeblich über die Ware-Geld-Beziehung geregelt. Wer seine Existenz als Musiker sichern oder die Musik zum Beruf machen möchte, wird nicht im »stillen Kämmerlein« verweilen dürfen, für sich selbst oder für ein paar Freunde Konzerte geben oder ohne ein Entgelt zum Tanz aufspielen. Er wird sich auf die Musikmärkte begeben müssen, die dem Prinzip von Angebot und Nachfrage folgen. Sicher gibt es auch Aktivitäten im Musikleben bürgerlicher Gesellschaften, die frei von pekuniären Erwägungen sind. Doch selbst Hausmusik, der Besuch einer Musikschule, das Gitarrespielen am Lagerfeuer oder das Profil einer MySpace-Seite sind irgendwie immer auch im System der Ware-Geld-Beziehung verankert. Es müssen Instrumente gekauft, die Musikschulgebühr bezahlt oder die Werbung auf den MySpace-Seiten »ignoriert« und die heimische Flatrate sichergestellt werden. Schon am Beginn einer Musikerlaufbahn steht der Kontakt zur »unbestimmten« Öffentlichkeit, einem Publikum, das sich nicht nur aus Freunden, Verwandten und Bekannten zusammensetzt. Ein solcher Zusammenhang muss organisiert werden, ein Club betrieben, Konzerte organisiert, ein Veranstaltungsort unterhalten, Personal bezahlt, eine Bühne auf- und eine PA bereitgestellt werden. Sobald Musik, welcher Art auch immer, im öffentlichen Raum dargeboten, als Song oder Stück wieder aufgeführt, interpretiert oder in Soundtracks für Werbeclips lizenziert wird, greifen Honorarvereinbaren, Urheberrechts- und Leistungsschutzregelungen. Damit ein Veranstaltungsort betrieben werden kann und der Musiker nicht zeitlebens, was die Einnahmen angeht, »gegen die Tür spielen« muss, reicht keineswegs die Mund-zu-Mund-Propaganda aus. Das potenzielle Publikum für ein Konzert zu interessieren, dazu bedarf es gezielter Formen der Ansprache des Publikums und der Öffentlichkeit, der Organisation von Interessen, die sich letztlich im Kauf einer Konzert- oder Clubkarte manifestieren. So wie Musik über ihren unmittelbaren Gebrauchswert zum Tanzen, Hören und Schunkeln hinaus auch einen Tauschwert besitzt und damit zur Ware wurde, trifft dies für Musik auf Tonträgern im Besonderen zu. Um die Herstellung und Distribution von Tonträgern hat sich seit deren Existenz eine komplex organisierte Industrie entwickelt. Die Musikindustrie, vor allem die Tonträgerunternehmen, Verlage und audiovisuellen Medien in Form von Rundfunk-, TV-Sendern und diversen Print- und Online-Anbietern, sorgten für die massenhafte Verwertung von Musik als Ware. Ihr Interesse besteht einzig und allein darin, die in das Produkt »Künstler« investierten Mittel möglichst Gewinn bringend über den Verkauf von Tonträ-
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gern zu verwerten. Dazu wurden spezielle Instrumente der Kalkulierbarkeit dieser Prozesse entwickelt, zum Beispiel die Charts. Image-Bildung für Promotion-Zwecke und Marketing als das Generieren von Zielgruppen stehen im Zentrum entsprechender Aktivitäten, um das kommerzielle Risiko so gering wie nur möglich zu halten. Technologische Entwicklungen haben dieses System immer wieder gestört und herausgefordert (Tschmuck 2003). Ohne technisches Equipment, Instrumente usw. ist weder die Produktion von Tonträgern noch jegliche Live-Darbietung heutzutage denkbar. Ob am Computer programmiert oder aber durch ein Kunstkopfmikrofon im Konzertsaal aufgenommen, Musik ist ohne technische Vermittlung kaum mehr zu produzieren. Die Zuhörer, Käufer etc. haben sich an diese Form technisch vermittelter Musik gewöhnt, die klangästhetischen Präferenzen werden entscheidend durch die Erfahrungen im Umgang mit technischen Medien, mit Hard- und Software, beeinflusst. Medienästhetische Erwartungshaltungen entscheiden oftmals über die Resonanz beim Publikum. Mag ein Tonträger bzw. eine Wave-Datei noch so perfekt abgemischt sein, Millionen Dollar in die Werbekampagne, in Videoproduktion, Konzerte und Tourneen investiert worden oder aber eine interessierte Nische gefunden sein, wenn das Produkt in seiner ästhetischen Vermittlungsform, dem Medium Klang, nicht auf ein bestimmtes kulturelles Bedürfnis trifft, ist aller Einsatz umsonst. Die Unternehmen der Musikwirtschaft – ob klein oder groß – müssen deshalb spezifische Strategien entwickeln, um im Wettbewerb mit- und gegeneinander bestehen zu können (Schulze 1996). Dabei ist eine ökonomische Inwertsetzung jenseits sozialer und kultureller Interessen letztendlich nicht möglich. Populäre Musik ist vor allem ein Sozialisationsinstrument, über sie wird Sinn gestiftet, Emotionalität und Körperlichkeit repräsentiert und werden Identitäten vermittelt. Die Träger sozialer Gemeinschaften beziehen sich hierbei immer auch auf die Zeichenwelten kommerzieller Produkte. Die Geschichte der Sub- und Jugendkulturen ist beredter Ausdruck dieses Aushandlungsprozesses (siehe dazu auch Kap. 2.1 Historische Voraussetzungen und Strategien kultureller Durchdringung und Transformation). »... mehr wie sie selbst zu werden« Deep Forests »World-Mix«-Album konnte nur deshalb so enorme Verkaufszahlen erreichen, weil ganz offensichtlich bestimmte kulturelle Interessen dazu führten, dass dieser Tonträger nachgefragt wurde. Welche Interessen hierbei dominierten, das kann nur vage versucht werden zu umschreiben und zu rekonstruieren. Vermutlich waren es die ungestillten Sehnsüchte nach Ganzheitlichkeit, Einklang von Natur und Mensch, die Lust am Geheimnisvollen und Irrationalen, Magischen, an Rauschzuständen und Ritualen, wie mancher sie bei den so genannten indigenen Völkern im Regenwald und auf den Atollen des Südpazifik vermutet. Aber die dazu referierten, also gesampelten Klänge assoziieren nur andeutungsweise, so unmittelbar sie die Sinne der ihnen Zugewandten auch ansprechen mögen. Es handelt sich keineswegs um signifikante Verweise nach Malaita, sondern vielmehr um 50
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Verweise auf die technologischen, kommerziellen und sozialen Zusammenhänge ihrer Aneignung jenseits des »Paradieses«. Sie verweisen zum Beispiel auf die Akteure des Musikbetriebs. Und sie repräsentieren die Arbeitsweisen und das technische Knowhow des Sound-Samplings, die Gebrauchszusammenhänge von Tonträger, Konzert und Club, die Marketing-Strategien der Repertoire-Kategorien World Music, Ethno Pop und Ethno Beat. Schließlich verweisen die Interessen an »bedrohten« Klängen auf die sicherlich schwerer einzugrenzenden bzw. zu beschreibenden kulturellen Bedürfnisse der potenziellen Käufer des Albums und derjenigen, die die Konzerte von Deep Forest weltweit damals besucht haben. Dabei dominierten solche kulturellen Strategien, die den Ort »des guten Lebens«, das kulturelle Territorium, mit dem man sich identifizieren mochte, in fortwährend neuen Allianzen immer wieder neu erfanden. In den unterschiedlichen Musikvideoclips zum Song wird jedoch deutlich, wie durchlässig diese Perspektive für unterschiedliche Projektionen ist, für direkte Verweise ebenso wie für ironische Brechungen. Eine komplizierte Rechtssituation Ein »indigener« Sound im globalen Kulturprozess – das ist keineswegs ein Widerspruch. Die scheinbare Distanz in Raum und Zeit markiert genau jene Pole, durch die die seit der Erfindung und Entwicklung technischer Kommunikationsmedien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sich zunehmend beschleunigende Unabhängigkeit und Abhängigkeit von Orten auf diesem Globus gekennzeichnet ist, die Entwicklung und Verschiebung von Zentren und so genannten Peripherien, das Inverse von lokalen und globalen Perspektiven und Abhängigkeiten, Problemen und Interessen. Diese Distanz birgt andererseits erhebliche Konfliktpotenziale. Sie konfrontiert Musikauffassungen, die als Teil historisch und geographisch konkreter Realitätskonzepte bestimmter Gemeinschaften vor allem auch Machtgefälle zwischen diesen Gesellschaften verdeutlichen. Insbesondere in urheberrechtlichen Interessenskonflikten wurde dieses Gefälle evident: »While an ethnomusicologist seeking purely academic knowledge may make effort to pursue a copyright on behalf of the community, a member of the concerns: marketability and profitability.« (Mills 1996: 65)
Es standen sich wissenschaftliche Erkenntnis und das Verantwortungsgefühl gegenüber den traditionellen Musikformen der Baegu, die Neugierde der Musiker und das Streben nach Profitabilität auf Seiten der Musikwirtschaft gegenüber. Sampling mit Hilfe der UNESCO Hugo Zemp konnte das zweifellos verständliche und vor allem moralisch und ethisch motivierte Interesse an der Wahrung der Fairness gegenüber der melanesischen Sängerin und seiner Arbeit als Ethnologe nicht einklagen. Zu viele Interessen der Beteiligten waren inzwischen in Kollision geraten.
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Hugo Zemp musste allerdings auch feststellen, dass es nicht zuletzt Verantwortliche der UNESCO selbst waren – einer Spezialorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Paris, die für die Verständigung und den Ausgleich kultureller Interessen zwischen den Staaten ihrer Mitgliedsländer gegründet worden war –, die das Einverständnis zur Übernahme der ethnologischen Aufnahmen für den Tonträger von Deep Forest gegeben hatten. Die verschiedenen Kommissionen und Gremien der UNESCO sind nicht mit konkreten Regelungs- noch mit Handlungsbefugnissen ausgestattet. Im betreffenden Fall beschränkte sich ihr Einfluss auf empfehlende Appelle. Die Ende der 1980er Jahre verabschiedeten Empfehlungen zum Schutz traditioneller Kulturen und der Folklore griffen die Problematik ungeklärter Rechtsverhältnisse zwar auf, konnten aber international vor allem deshalb nicht wirksam werden, weil die Grundlagen der Rechtsprechung in gesellschaftlichen Systemen bzw. Nationen mit unterschiedlichem Subjektverständnis divergieren. Mit dem Verweis auf die World Intellectual Property Organization (WIPO) drängte man auf die Klärung solcher Probleme, wie sie zum Beispiel im Zusammenhang mit dem melanesischen Wiegenlied akut geworden waren. Allerdings richteten sich entsprechende Empfehlungen nicht in erster Linie auf die illegale bzw. legale Verwendung »traditioneller Musikformen« in Popsongs und die damit verbundenen Urheberrechts- bzw. Leistungsregelungen als vielmehr an die Regierungen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, die Arbeit von Archivaren, Feldforschern und entsprechenden Initiativen und Institutionen zu unterstützen, das heißt finanziell besser auszustatten. So hieß es auf einem Expertensymposium der UNESCO zum Thema »Culture: A Form Of Merchandise Like No Other? Culture; The Market And Globalisation« (UNESCO 1989): »Member States should: (a) regarding the ›intellectual property‹ aspects: call the attention of relevant authorities to the important work of UNESCO and WIPO in relation to intellectual property, while recognizing that this work relates to only one aspect of folklore protection and that the need for separate action in a range of areas to safeguard folklore is urgent; (b) recording the other rights involved: (i) protect the informant as the transmitter of tradition; (ii) protect the interest of the collector by ensuring that the material gathered are conserved in archives in good condition and in a methodical manner; (iii) adopt the necessary measures to safeguard the materials gathered against misuse, whether intentional or otherwise; (iv) recognize the responsibility of archives to monitor the use made of the materials gathered.« (http://portal.unesco.org/culture/ 29.06.2009)
Sherylle Mills konnte in ihrem Aufsatz »Indigenous Music and the Law: an Analysis of national and international Legislation« (Mills 1996) lediglich auf ein in den USA im Jahr 1994 verabschiedetes Gesetz verweisen, das eher im Nebeneffekt als explizit sich dem Schutz traditioneller Musikformen widmete und festlegte, dass im Gefolge von Bemühungen der USA im Kontext der GATT-Verhandlungen die Aufnahme, Weitergabe, Sendung und Verbreitung von Tonaufnahmen von Live-
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Darbietungen ohne die Genehmigung der Darbietenden bzw. Aufführenden untersagt ist (Ebd.: 65). In einem Artikel aus dem Jahr 1996 bekräftigte Hugo Zemp, dass er zunächst jeglichen »Übernahmen« von ethnologischen Aufnahmen durch Musiker, Bands und Projekten im Kontext von Popmusik ablehnend gegenüberstand. UNESCOVertreter brachten ihm gegenüber jedoch Argumente vor, die ihn überzeugten, diese strikte Ablehnung aufzukündigen. Ähnlich wie Steven Feld war er schließlich überzeugt, dass es auf diesem Wege möglich sei, traditionellen Musikformen einen größeren Verbreitungsgrad zu ermöglichen. Zemp schloss sich damit den Intentionen und Zielen der damals aktuellen und künftigen internationalen Kulturpolitik der UNESCO an: »[T]he importance of the cultural dimension of development, preservation of cultural identities, international cultural cooperation and dialogue between cultures, together with the notion that access to the information society and the role of the new technologies are one of the major changes facing cultural policy today and still more so in future. […] When (a cultural good) comes to the cultural industries, there is no getting away from the fact that these goods are produced, circulated and exploited according to a logic, which is economic and markedrelated. […] The discussion enabled the implications of the international trade negotiations to be reviewed, together with the role which cultural products should or should not play in them.« (UNESCO 1989: 1f.)
Dennoch wandte Zemp sich gegen die Verwendung derartiger Aufnahmen im Kontext von Popmusik: »[T]his would allow the UNESCO Collection [zum Beispiel »Musics and Musicians of the World«, siehe www.unesco.org./culture/cdmusic/index.html – S. B.-P] as well as the African music concerned to be better known […] but I was against this kind of exploitation and that UNESCO should promote its own records of traditional music, which preserve the cultural heritage of the different peoples, rather than these commercial productions, which we call in France ›World Music‹ and which are mostly mixed in the big studios of European capitals to fit the taste of an international public.« (Zemp 1996: 45)
Im Vorfeld der Veröffentlichung des »World-Mix«-Albums von Deep Forest hatte man es seitens der UNESCO nicht versäumt, Hugo Zemps Verständnis einzuholen. Der Vertreter der UNESCO Francis Bebey – ein Musiker und Komponist aus Kamerun – hatte ihn angerufen: »He said, that these young musicians [von Deep Forest – S. B.-P.] were interesting creators and asked me why I refused. I told him that I was not requesting any royalties, since I was not the author of the music, but that the Baule people from Côte d’Ivoire should be asked and paid. As I had changed the geographical orientation of my research, I had not been back
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit to Africa since 1967 and would not know whom to contact among the Baule people.« (Ebd.: 45)
Zemp bezog sich in seiner Zustimmung auf die Samples aus Afrika, nicht auf das melanesische Wiegenlied. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass man Hugo Zemp seitens der UNESCO und seitens der Produzenten des Albums verschwiegen hatte, dass es im Zusammenhang mit der Erlangung des Einverständnisses zur Veröffentlichung des Albums auch um das auf Malaita aufgenommene Wiegenlied gehen sollte: »Bebey answered that he understood my point of view, but that he was embarrassed since he had encouraged these young musicians. Since Bebey, a well known African composer and musician (who wrote also a book of traditional African Music), gave his personal support to the matter, I reconsidered my point of view, and out of respect to him, I said O.K. on the telephone to him. After all, I thought, it was for a justifiable aim: preserving and protecting tropical rain forest in the world.« (Ebd.: 45)
Das CD-Booklet von »World Mix« (Deep Forest 1992) enthielt deshalb den Spendenaufruf: »Join us in helping save the African Pygmies and preserve their unique Rain Forest Songs and Music by sending your tax-deductible donation directly to: The Pygmy Fund.«
Noch am folgenden Tag schrieb Bebey einen Brief an den Produzenten von Celine Music, der damaligen Plattenfirma von Deep Forest. Allerdings hatte er vergessen, die versprochene Kopie an Hugo Zemp zu schicken: »Mr. Zemp, after making sure that I really believed in the value of using his recordings in the context of a modern musical creation as yours, was remarkably courteous and understanding. At the end of our telephone conversation, he consented to let you use forty seconds of music taken from his disc. As I did not insist on obtaining from him a written answer, I will send him a copy of this letter which I consider, as far as I am concerned, to be permission given my Mr. Zemp himself. I hope that this allows you to finish your project for The Day of The Earth successfully. Yours […].« (Zemp 1996: 47)
Damit hatte der Vertreter der UNESCO seine Einwilligung, zumal schriftlich, für die Übernahme der betreffenden Samples gegenüber Celine Music gegeben. Es reichen wenige Sekunden »Material«, aus einer ästhetisch ansprechenden Soundsequenz einen interessanten Sample-basierten Rhythmus zu kreieren: ganz so wie es das Produzententeam mit Samples von Gesängen aus dem Benin, Kamerun oder von Pygmäen für das »World-Mix«-Album gehandhabt hatte. Urheberund Leistungsschutzregelungen greifen in diesem Zusammenhang nicht, weil ein
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Populäre Musik und Globalisierung
Autor oder Interpret im Sinne der Urheberrechts- oder Leistungsschutzregelungen nicht existiert, die ursprünglichen Aufnahmen also rechtlich nicht geschützt sind und es niemanden gibt, der im Sinne der Urheberrechts- oder Leistungsschutzgesellschaften die Rechte an traditioneller Musik bzw. winzigen Klangproben daraus verwalten würde. Ohnehin sind Klänge rechtlich nicht geschützt, sie gelten ähnlich wie Rhythmen oder Harmoniefolgen als Basisparameter von Musik, es sei denn, ihr Charakter verweist deutlich auf einen Autor, zum Beispiel auf die Blues- und Folk-Sängerin Jannis Joplin, deren Stimme unverkennbar ist (vgl. Kapitel 3.2.3). Wenn man von Rechten in diesem Zusammenhang sprechen kann, dann lagen sie, wenn überhaupt, bei der UNESCO bzw. den an der Veröffentlichung der verschiedenen UNESCO-Serien beteiligten Verantwortlichen. Die Rechte an der CD »Solomon Islands: Fataleka and Baegu Music from Malaita«, aufgenommen von Hugo Zemp, teilen sich die französische Tonträgerfirma Auvidis, das International Institute for Comparative Music Studies and Documentation Berlin (IICMSD) und die UNESCO (Auvidis/IICMSD/UNESCO 1990). Alle Transferleistungen hin zu denjenigen, die das »originale« Klangmaterial lieferten, basieren auf »Good-WillVerabredungen« zwischen den Musikethnologen und den Musikern und Sängern vor Ort. Hugo Zemp hatte vereinbart, jedem an den Aufnahmen beteiligten Musiker und Sänger eine Entlohnung zukommen zu lassen, die einem durch die Regierung der Salomoninsel festgesetzten Verdienst pro Tag damals vergleichbar war. Dieser Tagessatz betrug im Jahr 1969 einen australischen Dollar (A$). Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt betrug auf den Salomoninseln 1990 pro Kopf 734 A$ (45 Prozent Landwirtschaft/Fischerei, zwei Prozent Bergbau, vier Prozent verarbeitende Industrie, neun Prozent Handel, fünf Prozent Transport-Kommunikation, vier Prozent Baugewerbe, 31 Prozent anderes). Damit gehörten und gehören auch heute noch die Salomoninseln zu den ärmsten Inseln des südpazifischen Raums. Das Bruttoinlandsprodukt lag im gleichen Jahr pro Kopf beispielsweise in Papua-Neuguinea bei 1302 A$, in Tuvalu bei 1245 und auf Vanuatu bei 1379 A$ (Nohlen/Nuscheler 1996: 326f.). Noch heute stellen Fischerei und Landwirtschaft auf Malaita die Haupterwerbs- und Existenzsicherungsquelle dar, der Anteil des Fremdenverkehrs stieg, kommt jedoch angesichts ethnischer Auseinandersetzungen immer wieder auch zum Erliegen (z. B. 1998). Trotz Einrichtung und Aufrechterhaltung der Kolonialverwaltung bis 1978 konnte auf den Salomoninseln niemals eine dem europäischen Sinne vergleichbare »Ordnung« der Rechtssicherheit hergestellt werden. Auf Grund der Undurchdringlichkeit der großen Regenwaldgebiete und der schwierigen Bergländer beschränkte sich der Einfluss der Kolonialadministration auf die Hafenstationen und Küstenbereiche. Angesichts der kulturellen und sozialen Organisation der naturbezogenen, subsistenzorientierten »ländlichen« Lebensformen ließ sich das Westminster-Modell parlamentarischen Demokratieverständnisses nicht übertragen. Das für die oben beschriebenen Lebensformen notwendige Streben nach Konsens widersprach schon vom Wesen her par-
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teipolitisch orientiertem Konfliktverhalten und dem System von Mehrheitsentscheidungen des Westminsterparlamentarismus. Der genannte Tagessatz von einem australischen Dollar im Jahr 1969 war als Kompensation für notwendige Arbeiten in den Gärten und auf den Kokosnussplantagen gedacht, denen man angesichts der zeitaufwendigen Tonaufnahmen nicht hatte nachgehen können. Diese Musik kann man nicht kaufen Die Musiker und Sänger von Malaita bestanden gegenüber Hugo Zemp darauf, dass er ihre Musik niemals kaufen könne, weil sie Teil bestimmter Rituale, von Bräuchen und Festen oder von Begräbniszeremonien war. Die Stammesältesten des ’Are’are-Stammes hatten ihm erklärt, dass Musiker und Panflöten-Ensembles auf Malaita mit traditionellem Muschelgeld entlohnt werden, wenn sie auf Festen auftreten. Im Vergleich zum australischen Dollar hätte dies eine Summe ergeben, die Hugo Zemp niemals hätte aufbringen können. Das Geld, was er vom French National Centre For Scientific Research für seine einjährige Feldforschungsreise mitbekommen hatte, wäre nach wenigen Wochen aufgebraucht gewesen. Das eigentliche Problem aber bestand darin, dass Hugo Zemp als Ethnologe nicht Teil der sozialen Gemeinschaft der ’Are’are war und sein konnte. Innerhalb dieser Gemeinschaft war es üblich, die Menge des zur »Entlohnung« veranschlagten Muschelgeldes gar nicht physisch auszutauschen oder zu hinterlegen. »When an ’Are’are musician receives shell money for a performance, he cannot freely dispose of this money; when he organizes a funeral feast in honour of his father, for example, he must re-distribute part of what he received. As an ethnomusicologist from abroad, I could not enter into this ceremonial cycle of money exchange.« (Zemp 1996: 37)
1.2.4 SCHLITZTROMMELN , PANFLÖTEN UND REGGAE KLANGFORMEN UND MUSIKALISCHE PRAKTIKEN IN DER SÜDPAZIFISCHEN INSELWELT Die auf dem malaiischen Archipel praktizierten musikalischen Formen sind vielfältig und »Ursprünge« oder »fremde« Einflüsse auf ihre Formen, Gestalten und Funktionen nicht eindeutig zu klären bzw. zu rekonstruieren. Dem Ohr des Europäers angenehm Der maßgeblich am Aufbau des Berliner Phonogramm-Archivs beteiligte Erich Moritz von Hornbostel schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Zusammenschau zur »Musik auf den nordwestlichen Salomonen-Inseln«: »Die hohe Ausbildung eines tonalen Instrumentes, der Panpfeife, das orchestrale Zusammenspiel und die Verbindung von instrumentaler und vokaler Musik – Erscheinungen, die
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Populäre Musik und Globalisierung sich bei sogen. Naturvölkern nur äußerst selten finden – scheinen die meisten charakteristischen Eigentümlichkeiten der Salomonier-Tonkunst zu bedingen. Die Abhängigkeit der Gesangsmelodik von instrumentalen Vorbildern wird wahrscheinlich durch die Verwendung ›unsanglicher‹ großer Intervallschritte (Quarten und Quinten), die im unbegleiteten Gesang enger intoniert werden; durch ein an das Jodeln unserer Alpenbewohner erinnernde Gesangsmanier, deren Charakteristika: Falsett, Legatosprünge (große Intervalle) und vokalreiche sinnlose Silben anstelle des Textes – die Klangfarbe der Singstimme der von (überblasenen) Pfeifen ähnlichen [! Vgl. auch melanesisches Wiegenlied – S. B.-P] […]. Durch die Mehrstimmigkeit, die auch Zusammenklänge in der Terz und Sexte nicht vermeidet, und durch die Fülle und Weichheit des Klangs ist die Musik der Salomonier auch dem Ohr des Europäers angenehm […]. Gegen den nahe liegenden Verdacht, dass die Mehrstimmigkeit der Salomonier Musik sich unter europäischem Einfluss entwickelt habe, sprechen gewichtige Gründe. Die Mission ist in dem hier betrachteten Gebiet noch jung und bisher wenig erfolgreich.« (Hornbostel 1912: 492f.)
Obwohl der Gestaltpsychologe, Archivar und Vergleichende Musikwissenschaftler Erich Moritz von Hornbostel hierbei sein Augenmerk auf die Salomoninseln legte, begründete er die Darstellung zur Besonderheit und den möglichen kulturellen Einflüssen entsprechender Musikformen mit der Tatsache, dass es sich bei der Inselwelt des Südpazifik inklusive Hawaii und Osterinseln um einen Meeresraum von ca. 70 Millionen Quadratkilometern handelt – das sind etwa 40 Prozent der Gesamtfläche des Pazifischen Ozeans – und damit ein Territorium angesprochen ist, dass schon wegen seiner geographischen, klimatischen und kulturellen Vielfalt keine Konsistenz und klaren Traditionslinien aufweisen kann. Ethnokulturelle Fusionen Ganze 8000 Kilometer in der Nord-Süd-Distanz und 10.000 Kilometer in der West-Ost-Distanz trennen die extremen Pole dieses vielfach auch mit Ozeanien oder Südsee umschriebenen Inselreiches. Zu den Kennzeichen der südpazifischen Inselwelt zählen neben ihrer extremen Dispersion über ungeahnte ozeanische Weiten vor allem ihre linguistisch und kulturell stark fragmentierten und dezentralisierten Gesellschaften. Von den etwa 10.000 Inseln im Südpazifik sind nach einer Schätzung, die Ende der 1980er Jahre unternommen wurde (Krosigk 1996), lediglich 2000 bis 3000 dauerhaft bewohnt. Im Südpazifik existieren generell Staaten bzw. Territorien, die sich aus einer Vielzahl von Archipelen zusammensetzen, die über eine unglaublich große Wasserfläche verstreut liegen. Die natürlichen Strukturmerkmale und Entwicklungsbedingungen fast aller pazifischen Inseln sind vom andauernden Vulkanismus einerseits (Papua-Neuguinea, Salomonen) und den äußerst niedrigen, aus Korallen geformten Inseln (Samoa, Tonga, Fidschi) geprägt. Auf den Koralleninseln sind die Menschen immer wieder schutzlos den sommerlichen Taifunen ausgeliefert, Seebeben, Wirbelstürme und die von ihnen erzeugten Flutwellen verwüsten Siedlungen und Plantagen und lassen ganze Atolle in der See versinken. 57
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In Anspielung auf jenes »Missverständnis«, nach dem der Südkontinent seine Entdeckung der vergeblichen Suche der Europäer nach dem sagenumwobenen Südkontinent, der »Terra australia incognita« verdankt, entstand die Namensgebung »Südsee«, die vornehmlich in der Kolonialsprache des 19. Jahrhunderts gebräuchlich wurde und dieser Inselwelt ihren zusammenfassenden geographischen Nenner gab (Krosigk 1996). Einen Versuch, die Vielzahl der Inseln und die Vielfalt der Inselwelt zu ordnen, stellt die Ordnung nach ethnokulturellen Merkmalen dar. Ozeanien wird noch heute in drei so genannte Kulturkreise untergliedert: Polynesien, Mikronesien und Melanesien. »Diese gebräuchliche triadische geografische Differenzierung wird allerdings von einem ethnisch-kulturellen Dualismus überlagert, der die dunkelhäutigen, kraushaarigen Melanisier nicht nur äußerlich ins Hintertreffen gegenüber den hellhäutigen Polynesiern und Mikronesiern versetzt; auch ihre Intelligenz und ihre ›anarchische‹ soziale Organisation wird als minderwertig, barbarisch eingestuft.« (Krosigk 1996: 303)
Diese Deklassierung beruht vor allem auf einer aus der Geschichte des europäischen Umgangs mit den insularen »Unübersichtlichkeiten« stammenden Sicht auf Melanesien, das mehr noch als die anderen Regionen der südpazifischen Inselwelt kulturell in keinerlei Hinsicht einheitlich ist: »Die Tatsache, dass sich die Europäer leichter taten, die stärker hierarchisch organisierten, teils als Monarchien operierenden polynesischen Gesellschaften zu kooptieren und für weitere Expansionszwecke und Missionspläne zu funktionalisieren […] sind im Denken über die Menschen und Völker Ozeaniens lange prägend geblieben. Neue Erkenntnisse, vermittelt über Forschungsergebnisse von Anthropologen, Archäologie, Ethnologie, Ethnobotanik, Genforschung sowie Sprachwissenschaft, deuten dagegen auf die Notwendigkeit des Umdenkens in der Betrachtung Ozeaniens. Nach Jahrzehnten der Akzeptanz eines quasi ›naturgegebenen‹ melanesisch-polynesischen Dualismus rückt heute das Paradigma der Verflechtung beider Kulturen in den Vordergrund.« (Ebd.: 303f.)
Allein auf den Salomoninseln werden mehr als 80 Sprachen und Dialekte gesprochen. Linguistische als auch ethnobotanische Erkenntnisse verweisen auf vielerlei ethnokulturelle Fusionen. Dabei stand Melanesien bereits 30.000 bis 40.000 Jahre vor Christus in einem Kommunikations- und Migrationsverbund mit den großen Inseln Südostasiens. Das melanesische Wiegenlied »stammt« aus einem übergreifenden, in sich nicht geschlossenen Kulturraum im südpazifischen Raum. Melanesien umfasst die bei weitem bevölkerungsreichsten politischen Entitäten im Südpazifik. Zu ihnen gehört Papua-Neuguinea, wo nur im Hochland heute noch Menschen leben, die nicht direkt der Kolonialisierung durch Europäer und Amerikaner ausgesetzt waren. Dabei handelt es sich unter anderem um die Dörfer der Kaluli, deren Lebensweise und Musikkultur Steven Feld erforscht hatte. Neben
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Papua-Neuguinea, das politisch den Bismarckarchipel, Bougainville und Buka einschließt, zählen auch Vanuatu, Neukaledonien, die Fidschi- und die Salomoninseln zu Melanesien. Letztere erhielten ihren heutigen Namen vom Spanier Alvaro de Mendanã y Neyra, der 1568 als erster Europäer an Land ging und die Inseln nach dem spanischen König Salomon benannte, um diesen für die Finanzierung weiterer Reisen in die sagenhaften Regionen zu gewinnen. Eine andere Interpretation geht davon aus, dass die europäischen Seefahrer dort nochmals die Heimat des schwarzen Königs Salomo und seiner sagenhaften Schätze vermuteten, die man in Afrika nicht gefunden hatte. Die dunkle bis schwarze Hautfarbe der Inselbewohner sei der Anlass für die europäische Benennung des Archipels gewesen. Die von Mendanã vermuteten Goldschätze fand man dort nie, und so vergingen Jahrhunderte, bis die Inseln von Briten und von Deutschen, die ihren Teil der Salomoninseln schließlich gegen Westsamoa eintauschten, kolonisiert wurden. Die Salomoninseln sind seit 1978 unabhängig, aber nach wie vor Teil der britischen Krone, das heißt der konstitutionellen Monarchie, dessen Staatsoberhaupt Queen Elizabeth II. ist. Ozeanien zählt heute zu den von europäischen bzw. amerikanischen Missionen am stärksten durchdrungenen der Welt, obwohl der Südpazifik den Kolonialmächten des 19. Jahrhunderts im klassischen Sinne – Großbritannien, Frankreich und den USA – keine attraktive »Beute-Perspektiven« eröffnete, weil es weder als Absatzmarkt noch als Reservoire mineralischer Ressourcen oder agrarischer Produkte taugte. Nur für den deutschen Kolonialismus wurden einige wenige Inseln zum nationalen Prestige-Unternehmen im Ringen um einen »Platz an der Sonne«, motiviert von ökonomischen Interessen an Mineralien, die man seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Samoa aus zu den Hamburger Häfen verschiffte. Und so verwundert es vielleicht auch nicht, dass Erich Moritz von Hornbostel seine Analysen und Aussagen vor allem auf die Inseln Buka, Boubainville und Samoa der damals deutschen Salomonen bezog und feststellen musste, dass es sich hierbei um von den europäischen Missionen kaum durchdrungene Territorien handelt. Hornbostel hatte den Südpazifik niemals persönlich bereist, seine Untersuchungen fußten größtenteils auf Phonogrammaufnahmen, Sammlungen von Panpfeifen und Aufzeichnungen, die der deutsche Ethnologe Richard Thurnwald während einer Forschungsreise auf die von Deutschland kolonisierten Inseln des südpazifischen Raumes in den Jahren 1906 bis 1909 unternommen hatte: »Am 9. April 1907 schlägt Thurnwald sein ›Basislager‹ in Toma auf, das ca. 30 km von Herbertshöhe entfernt liegt. […] nicht nur um von dort aus seine Sammlungen auf den Weg zu bringen, sondern wohl auch, um Neuigkeiten zu erfahren. Er schickt Phonographenwalzen, Gipsabdrücke, Pausen von Ritzzeichnungen in Palmen, ausgefüllte anthropologische Messungsformulare, aber auch große Objekte, für die spezielle Kisten gezimmert werden müssen, nach Deutschland.« (Melk-Koch 1989: 74f.)
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Unterhaltsame Zeremonien Die Musikkultur der Salomoninseln, nachzulesen auch bei Steven Feld (Feld 2000a) und mittlerweile auch im Internet präsent, ist heutzutage vor allem durch eine Vielfalt solistisch und in Gruppen praktizierter Vokal-Stilistiken gekennzeichnet. Daneben findet man die viele Musiker starken Schlitztrommel-Gruppen, und auf Malaita vor allem die Panflöten-Ensembles. Besonders bekannt geworden ist das Narasirato Pan Pipers Ensemble vom ’Are’Are-Stamm, bei denen auch Hugo Zemp seine Feldaufnahmen und -forschungen durchgeführt hatte. Es vereint bis zu zehn Musiker mit Panflöten verschiedener Größe, die zu traditionellen Zeremonien, aber auch zur Unterhaltung spielen. Die Panflöten sind harmonisch aufeinander abgestimmt und damit in der Lage, ein umfangreiches Repertoire polyphoner Lieder erklingen zu lassen. Ein im Jahr 2008 veröffentlichtes Album vereint an Country & Western orientierte englischsprachige Songs unter dem Titel »Cry of the Ancestors«; »Urig-fröhliche Panflötenmusik mit Perkussion, wie Sie sie noch nie gehört haben, vom Insel-Paradies der Salomoninseln« (Narasirato Pan Pipers 2008). Ein in europäischen Kulturkritikmustern geübter Rezensent würde wahrscheinlich den Eklektizismus der Aufnahmen herausstellen und als Resultat einer der Tourismuswirtschaft geopferten Kultur brandmarken. Tatsächlich folgen auf der CD für unsere Ohren wenig harmonischen Gesängen und Panflötensequenzen »fröhliche« Bamboo-Reigen, Jodel und Panflöten, die im Klangbild an die längst ausgestorbenen Orchestrien deutscher Jahrmärkte erinnern. Seit den 1920er Jahren hatten sich in der Region verschiedene Formen und Varianten der so genannten Bamboo Music entwickelt. Bambusrohre verschiedener Länge und unterschiedlichen Durchmessers wurden zunächst mit Kokosnussschalen geschlagen, so dass ein »twangy bouncing island sound« (Feld 2000b: 186) entstand, der ein wenig an Ukulelen erinnert. Mit den Amerikanern, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs rings um die Hauptstadt Honiara Militärbasen errichteten und sich erbitterte Kämpfe mit den Japanern lieferten, kamen nicht nur die Ölfässer, die man sogleich, ähnlich wie auf Trinidad, in die heimischen Musikformen der »Steel Bands« integrierte, sondern auch das Schuhwerk der Japaner. PlastikSandalen – seit einigen Jahren in Europa als Flip-Flops modern – ersetzten die Kokosnussschalen und wurden sehr bald zu einem äußerst beliebten Accessoire und gleichsam klangerzeugenden Requisit der Bamboo-Bands. Andere Bands spezialisierten sich auf die Verknüpfung von durch Plattenfirmen wie Island Music aus Polynesien stammenden oder christlich beeinflussten Musikformen und verbanden diese mit den traditionellen Sprachen der Salomoninseln. Daneben existieren seit den 1970er Jahren lokale Varianten von Rock und Reggae und unterschiedliche Fusionsentwicklungen, die auch von den Narasirato ’Are’are Pan Pipers aufgegriffen wurden. Hierbei trafen »indigene« Bambusklänge auf die Klänge der großen Panflöten-Ensembles Malaitas und die mit den beliebten Gummilatschen geschlagenen riesigen Bambusröhren. In dieser Kombination ergibt sich eine rhythmisch vitale und klanglich eigenwillige Kombination von tiefen und hohen Frequenzen offener Röhrensysteme. Von den Narasirato 60
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’Are’are Pan Pipers existieren verschiedene Aufnahmen auf Kassetten und CDs, die im eigenen Lande und auch international kursieren. Die Gruppe tritt live in den auf den Inseln errichteten Kulturzentren auf und ist seit den 1990er Jahren auf Tourneen auch außerhalb der Salomoninseln in Australien, Neuseeland, Kanada und Großbritannien unterwegs (Feld 2000b: 186f.). Es ist anzunehmen, dass auf den Hauptinseln der Salomoninseln Guadalcanal und Malaita in den Kulturzentren kleine Tonstudios existieren, in denen zunächst Kassetten und heutzutage CDs aufgenommen und vervielfältigt wurden und werden. Auf der melanesischen Insel Vanuatu, auf der es bis Ende der 1990er Jahre weder Autos noch Elektrizität gab (Ammann 2000), zeigten neben einigen bekannten Ensembles auch die einzelnen Familien und Stämme großes Interesse an audiovisuellen Mitschnitten ihrer eigenen musikalischen Aktivitäten. Kamen Video- oder Recording-Teams auf die Inseln, so mussten diese immer mindestens eine Kopie ihrer Aufnahmen im Kulturzentrum hinterlegen. Als Raymond Ammann Ende der 1990er Jahre in Vanuatu weilte, besaßen viele Familien keine Wiedergabegeräte. In diesem Falle bestanden sie dennoch darauf, von den Aufnahmen eine Kopie zu bekommen. Sollte es sich dabei um so genanntes »Secret Material« handeln, um rituelle Gesänge, die beispielsweise vom anderen Geschlecht nicht gehört werden dürfen, oder um Lieder, in denen Entscheidungen über die Verteilung von Land und Boden getroffen wurden, so verblieben die Aufnahmen im »Tabu-Room« des Kulturzentrums. Seit 1984 arbeitet das Kulturzentrum Vanuatus mit Solarenergie. Waren in den 1990er Jahren die für die Aufnahmen von stundenlangen Zeremonien notwendigen Aufnahmematerialen und Regalflächen rar, so kann man sich mittlerweile weltweit auf der Internetseite des Kulturzentrums www.vanuatu music.com (29.06.2009) informieren! Allerdings macht die betreffende Internetseite nicht den Eindruck, als würden weiterhin Tabu-Räume existieren, man findet auf ihr Künstler- und Ensemblenamen, die entlang der Kategorien Acoustic, Alternative Rock, Classic Rock, Hip-Hop, Pop, Reggae, Religious, Rock, Vanuatu und Vanuatu String Band gesucht werden können. Hingegen findet man lediglich unter den Kategorien Pop, Religious, Vanuatu und Vanuatu String Band Eintragungen. Dies deutet darauf hin, dass globalisierte Vorstellungen – wer auch immer das Redaktionssystem für die betreffende Seite vorgegeben hat – von der Einteilung populärer Musik in bestimmte Stilistiken bzw. Repertoire-Gruppen für das Musikleben auf Vanuatu nicht greifen bzw. irrelevant sind. 1.2.5 MAURO P ICOTTOS »KOMODO« DAS W IEGENLIED IM KONTEXT ELEKTRONISCHER DANCE MUSIC »Sampling with the support of UNESCO« – so lautete eine Station der Reise, die mit dem Chart-Erfolg von »Sweet Lullaby« in der ersten Hälfte der 1990er Jahre keineswegs ihr Ende gefunden haben sollte. Für etwas weniger Aufsehen sorgten
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Versionen des im Jazz- und New-Age-Kontext bekannten Musikers Jan Garbarek (Garbarek 1998). Interessant wurde die Geschichte wieder und erhielt gleichsam neuen Zündstoff, als im Mai 2000 der italienische DJ und Produzent Mauro Picotto erneut auf das Wiegenlied aus Melanesien zugriff. Nunmehr unter dem Titel »Komodo« – Komodo ist eine der kleinen Sundainseln Indonesiens, gelegen zwischen Sumbawa und Flores, nur etwa 480 Quadratkilometer groß – wurde es Teil eines TechnoTrance-Tracks. Vom Wiegenlied blieb nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Tonspur (wie im Film). In dieser Bedeutung verwies der Begriff des »Tracks«, der seit den späten 1980er Jahren Termini wie »Titel« und »Song« ersetzte, explizit auf die technische Generierbarkeit dieser Musikformen am Computer oder Sequenzer. Mauro Picotto arbeitete damals gleichzeitig als Manager und Produzent seines eigenen Labels BxR. Zusammen mit Gigi D’Agostino, einem seinerzeit bekannten italienischen DJ, Sänger und Produzenten, stand er Ende der 1990er Jahre für einen Dance-Stil, den die Tonträgerindustrie mit dem Edikett »Mediterranien Progressive« versah: »[A] completely new label, BxR Noise Matter, were ideated thanks to some important experiments, for instance sweetening the basis throught wind instruments or guitars, with piano riffs and bow virtuosm.« (Universal Music GmbH 2000)
Mauro Picotto hatte schon seit Mitte der 1980er Jahre als DJ aufgelegt, zunächst vor allem im lokalen Umfeld der italienischen Stadt Turin und seit Mitte der 1990er Jahre in allen großen populären Techno-Locations Europas: auf Ibiza, in Amsterdam und in Großbritannien. Sein Track »Iguana« belegte 1999 den ersten Platz der deutschen Dance-Charts. Das Video dazu wurde in Frankfurt a.M. produziert – eine der damaligen deutschen Technometropolen. Danach befragt, wie er seine Musik beschreiben würde, antwortete Picotto im Jahr 2000: »Techno-Trance by using various effects, that takes my public in a journey.« (Ebd.) In den Radio-Charts öffentlicher und privater Sendestationen in Europa erlangte Picottos Track »Komodo« – vor allem in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland – schnell einen enormen Bekanntheitsgrad. Wiederum war es die schlichte melanesische Sequenz, die den Reiz, das Besondere des Tracks ausmachte: die Melodie im Mittelteil, die Stimmen, die so schön …, so geheimnisvoll …, irgendwie von woanders sind. Mauro Picotto verwendete nicht mehr das »originale« Wiegenlied. Er montierte eine dem Wiegenlied nachempfundene Passage in die zweite Hälfte des Tracks mit den ansonsten für diese Stilistik typischen Computer-Drum-Pattern und den aus Hochgeschwindigkeitsbeats gewonnenen wummernd-pulsierenden Klang-Plateaus. Eine Frauenstimme sang nun in englischer Sprache: »if you want to believe in paradise come together with a smile«. Die Frauenstimme war nun harmonisch klar geführt, das im »Original-Sample« bzw. seinen montierten Teilen noch hörbare Anschleifen der Töne nicht mehr vor-
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handen. Dennoch ist die Melodie klar zu erkennen. Im Track von Picotto wurde sie zur tragenden Struktur des Mittelteils, der im Unterschied zu den vorangegangenen und nachfolgenden Abschnitten des Tracks im übertragenen Sinn eine Art Chillout-Zone darstellte – »to chill« bedeutet im Englischen »abkühlen« –, hier dann ohne den ansonsten den Track dominierenden treibenden Dance-Beat. In der A – B (Wiegenlied) – A-Form ahmte der Track gewissermaßen eine technisch fixierte Partysituation nach: Tanzen – Chillen – Tanzen. Zur Sound-Gestaltung wurden die im Kontext von elektronischer Pop- und Dance Music bekannten technischen Tools von PC-Programmen verwendet. Auf dem Booklet zur CD »The Album« (Picotto 2000) befand sich weder ein Hinweis auf den Ursprungsort des verwendeten Materials, die UNESCO-CD, noch auf Hugo Zemp, dafür aber die Binnenstruktur derjenigen Tonträgerunternehmen, die die Rechte an Mauro Picottos Album hielten: • »Zeitgeist is the exclusive label of Polydor Zeitgeist, a department of Polydor, Polydor is a division of Universal Music GmbH, Hamburg« (Picotto 2000) und • das Ikon der Kampagne der deutschen Branche der International Federation of Phonographic Industries (IFPI) und der Deutschen Phonoakademie: »Copy Kills Music«. Seit es massenhaft unbespielte CDs im Handel gab, zunächst vor allem verkauft als wieder bespielbare Datenträger für sämtliche Computeranwendungen, und entsprechende digitale Kopierprogramme die Vervielfältigung von digital gespeicherten Audiodaten ermöglichten, ging das Interesse am Kauf bespielter CDs zurück. Angesichts der rückläufigen Verkaufszahlen von bespielten CDs hatten die Verbände der Tonträgerindustrie um die Jahrtausendwende eine Kampagne unter dem Motto »Copy kills Music« gestartet, die sich gegen das illegale Kopieren, insbesondere die so genannte Schulhofpiraterie richtete – ein Wetterleuchten der späterhin aufwendig und prominent durchgeführten Kampagnen in Anbetracht der zweistelligen Umsatzrückgänge der Tonträgerindustrie, die mit der CD – einem physischen Tonträger in der Tradition von Schellackplatte und Vinyl – ihr wichtigstes Produkt durch Internettauschbörsen, Download etc. offenbar verliert. Anfang Oktober des Jahres 2000 war Mauro Picotto Gast des öffentlich-rechtlichen Jugendsenders der Region Berlin-Brandenburg Radio Fritz. Im Vorfeld des Interviews hatte sein Promotion-Manager von Universal festgelegt, man könne – so die Aussage des betreffenden Moderators im persönlichen Gespräch mit der Autorin – über alles reden, nur nicht über die Urheberrechtsangelegenheiten rings um den Track »Komodo«! Das Sampling-Verfahren, deutsch »Proben nehmen«, stellt eine wichtige Grundlage der Arbeitsweise und Klangästhetik im stilistischen Umfeld von elektronischer Popmusik dar. Kein anderer Stil, mit Ausnahme von Hip-Hop oder dem jüngeren Drum ’n’ Bass, geht so offensiv mit der Präsentation und Bearbeitung bereits vorhandenen Klangmaterials um. Das Auflegen bzw. Auswählen von Plat-
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ten oder zum Beispiel bestimmten Breaks aus Funk- und Soul-Titeln der 1960er und 1970er Jahre im Hip-Hop stellt im übertragenen Sinne einen ähnlichen Vorgang wie den des Samplings dar. DJs und Produzenten wie Mauro Picotto waren zu jener Zeit vor allem am puren ästhetischen Material interessiert. Weder der Sampler, Sampling-CDs, SampleProgramme oder Ähnliches noch vergleichbares Equipment wurden in diesem Umfeld verwendet, um – anders als im Hip-Hop – im »klassischen« Sinne zu zitieren oder sich direkt auf bestimmte kulturelle und lokale Zusammenhänge zu beziehen. Vielmehr galt es, die Neugier nach neuem, frischem und außergewöhnlichem Klang-Material zu stillen. Es interessierte dabei nur am Rande, woher die Samples kamen, ob sie mit bestimmten musikkulturellen Traditionen und welche Rechte möglicherweise mit ihnen verbunden sind. Im Kontext populärer Musik gilt der Sampler zu recht als das postmoderne Instrument par excellence. Dennoch verwies die Bezeichnung des Tracks »Komodo« durchaus auf einen Zusammenhang, der im Kontext von Techno-Trance Sinn ergab, selbst wenn nicht jeder wusste, was mit »Komodo« gemeint ist oder gemeint sein könnte. Zunächst handelt es sich um eine kleine Insel im Südpazifik, auf der der gleichnamige Komodo-Waran lebt – eine vom Aussterben bedrohte Brückenechse, die in unmittelbarer Genealogie steht zu den vor allem jenseits des südpazifischen Raumes ausgestorbenen Saurierarten. Komodo-Warane sind jedoch vor allem äußerst gefährliche Raubtiere. Ihre Taktik ist der Hinterhalt, ihre Zähne sind messerscharf, ihr Speichel trägt tödliche Bakterien und verursacht Wundbrand und Blutvergiftungen. Komodo-Warane vertilgen alles, was ihnen über den Weg läuft: Hirsche, Wildschweine und selbst Wasserbüffel sind für diese Echsen nicht zu groß. Im Videoclip zu Picottos »Komodo« begibt sich ein Mann – Mauro Picotto – auf die Suche nach dem mysteriösen Komodo, einer Männer verführenden und mordenden Frau, deren Spur durch das Nachtleben mit kleinen Komodo-Waranen und einer Chipkarte gezeichnet ist. Komodo bezeichnet heute auch eine Integrierte SoftwareEntwick-lungsumgebung für mehrere Skriptsprachen. »Komodo« – im angesprochenen Aneignungszusammenhang populärer Musik markiert dieser Titel einen plausiblen Bedeutungshof. Track-Bezeichnung und die Gestalt des Tracks waren auffällig genug, um im Umfeld ähnlicher Produkte wahrgenommen zu werden und mochte die Assoziation auch noch so vage, doppeldeutig und letztlich unkonkret sein. Das Spiel mit phantastischen Bildern, nicht-linearen Geschichten, ungewöhnlichen Begegnungen und Verknüpfungen, Mashups und Remixes gehörte in diese Form populärer Musik, wie die Dreiakkord-Ästhetik in den Punk.
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Populäre Musik und Globalisierung
1.2.6 SÜDSEETRÄUME - UNENDLICHE GESCHICHTEN WIDER EINER »ENTZAUBERTEN W ELT« (WEBER 1934) Nicht allein Paul Gauguin Komodo, Warane, Südseeinseln, Federgeld und Muschelketten, schon James Cook soll bei seiner Ankunft 1768 auf einer der Südseeinseln von der selbstlosen Freundlichkeit der Inselbewohner so beeindruckt gewesen sein, dass er beschloss, dieses Paradies fortan nicht mehr zu verlassen. Ebenso angetan vom herzlichen Empfang durch die Insulaner, die ihm und seiner Besatzung sogleich ihre Frauen anboten, notiert 1768 Louis-Antoine de Bougainville: »Es schien mir der Garten Eden zu sein […]: Ein recht großes Volk genießt hier die Schätze, welche die Natur ihm in so reichem Maße austeilt. […] Allenthalben herrschten Gastfreiheit, Ruhe, sanfte Freude, und dem Anschein nach waren die Bewohner sehr glücklich.« (Zitiert nach Heinken 1997: 30)
Angezogen vom scheinbar Fremden, Ungewohnten, Seltenen, Geheimnisvollen und Besonderen folgten Cook und de Bougainville nicht nur Missionare und Gewürzhändler, Ethnologen, Künstler und Touristen, sondern auch eine ganze Reihe von artifizielle Projektionen. Seit den frühen Erkundungsreisen galt die pazifische Inselwelt, die Vasco de Balboa vor gut 500 Jahren Südsee nannte, den Europäern als Eden auf Erden. Sten Nadolny, der in die gesellschaftspolitische Debatte Deutschlands Mitte der 1990er Jahre den Begriff der »Erfindung der Langsamkeit« einführte, vermutete die Anziehungskräfte des südlichen Pazifik in der das bürgerliche Prinzip des protestantischen Rationalismus aufhebenden Üppigkeit einer die Sinne ansprechenden Naturhaftigkeit: »Das erstaunliche Hellgrün auf den Vorbergen der alten Vulkangipfel, der sich mit einem dicken, dunklen Wolkenhut zu bedecken pflegt – darunter böse Geister in Mengen. Überall wuchernde, exhibitionistische Natur. […] Was liegt näher als die Idee – oder besser der Irrtum – auch der europäische Mensch könne hier in pflanzenhafter Selbstverständlichkeit, in natürlicher Würde gedeihen und ›einfach nur lernen‹. Fletcher Christian und seine Meuterer von der ›Bounty‹ opferten dafür ihre bürgerliche Existenz, Bernard Moitessier verschenkt seinen Sieg in der Einhand-Regatta um die Welt, um auf Tahiti ›einfach nur zu leben‹. Frei sein, sich mühelos nähren von dieser Natur, weit weg von den europäischen Schranken, sozusagen unschuldig, auch erotisch ohne die Ängste, von denen die Priesterkaste lebte […].« (Nadolny 1997: 43)
Der Maler Paul Gauguin war Ende des 19. Jahrhunderts keineswegs der erste Europäer, den es nach Tahiti zog, und er sollte nicht der letzte bleiben, den der Mythos Südsee in seinen Bann zog.
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Authentische Fremdheit Das Interesse an der Südsee war im Europa der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert so groß, dass neben Alltagsgegenständen auch ihre Bewohner ausgestellt wurden. Den Höhepunkt fand diese recht fragwürdige »Völkerschau« 1896 auf einer Kolonialausstellung in Berlin. Ähnlich bestückt wie die Raritätenkabinette und Kuriositätenkammern des sich von den fürstlichen Sammlungen emanzipierenden Museumswesens setzte man auf Objekte, die es normalerweise in der eigenen gewohnten Umgebung nicht zu sehen gab. Noch 1910 wurden in Hagenbecks Hamburger Tierpark junge Frauen aus der deutschen Kolonie Samoa ausgestellt und vorgeführt. Frühe Photographien wählten immer wieder sanfte Schönheit und Verlockungen verheißende Mädchen in paradiesischen Landschaften der Südsee als Motiv. Kaum eine Region der Welt ist von Europa aus mit einer solchen Fülle romantischen Projektionen versehen worden: weiße Strände und türkisfarbene Lagunen, Müßiggang, schöne Frauen und freie Liebe – das sind die Attribute der europäischen Sehnsucht nach einer heilen Welt, die im südpazifischen Raum vermutet wurde: Utopia in der Südsee, der Traum vom süßen unbeschwerlichen Leben. Damals wie heute ist dieses Paradies in der Realität eine Fiktion. Nur sehr wenige Koralleninseln entsprechen auf Grund ihrer natürlichen Lebensbedingungen dem romantischen Klischee der Südseeinseln. Wirbelstürme, See- und Erdbeben verwüsten mit ihren bis zu 20 Meter hohen Flutwellen immer wieder die natürlichen und gebauten Lebens- und Existenzbedingungen ihrer Bewohner. Was die Touristen als Naturgewalt faszinieren mag, ist für die Bewohner lebensbedrohlich. Die in den zahlreichen europäischen Schilderungen durch zerklüftete Vulkankegel, tiefe Täler, zahlreiche Wasserfälle und endlose Strände gepriesenen Küsten und landschaftlichen Schönheiten sind eher selten. Im Gegenteil: Atomtests und die Gefahr einer Hebung des Meeresspiegels im Gefolge der globalen Erwärmung des Klimas – sie bedeuten das geographische Verschwinden für die äußerst niedrig gelegenen Lagunenparadiese und Atollstaaten wie Kiribati, Tuvalu und die Marshallinseln – haben zur Eskalation der Krisenstimmung im Südpazifik beigetragen. Es bleibt die Frage, warum derartige romantische Projektionen noch heute mit und in den Medien aktueller Kultur- und Kunstproduktion von anhaltendem Interesse sind. Neben dem Besonderen haftet dem »Fremden« immer auch etwas Geheimnisvolles an: »Die Anziehungskraft, die von manchen esoterisch-exotischen Kulten ausgeht, liegt zum einen sicher darin begründet, dass diese simple, scheinbar sichere Weltbilder vermitteln; zum anderen aber auch darin, dass sie rational nicht zu verstehen sind, also ein Geheimnis erhalten bleibt.« (Bausinger 1995: 279)
Das Begehren nach authentischer Fremdheit (Terkessidis 2002) hat sich längst als eine erfolgreiche kommerzielle Strategie etabliert. Nicht zuletzt die Aneignung derartiger Klangformen und das Image entsprechender Produkte wie CD-Booklets, Track-Bezeichnungen, Namen von Clubs, Video- und DVD-Produktionen stützen 66
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diese These. Insofern unterscheiden sich diese kulturellen Produkte nicht von anderen Räumen bzw. Medien der Selbstbeobachtung von Gesellschaften. Rorogwela Lullaby ... Sweet Lullaby ... Komodo ... Auf Malaita soll die sanfte Melodie ein kleines Waisenkind in den Schlaf begleiten. Hugo Zemp wollte ein vermeintliches Stückchen verloren gehende Musik dokumentieren und analysieren. Teile der Einnahmen am Deep-Forests-Album »World Mix« kamen einem Fonds zum Schutz des Regenwaldes zugute, und der aus dem Album ausgekoppelte Song »Sweet Lullaby« warb gleichsam für ein Haarshampoo im französischen Fernsehen und sorgte für Atmosphäre in einer Porsche-Werbung. Mauro Picottos »Komodo« spielte mit der Anziehungskraft von Verführung und Tod: eine Sequenz, mehrere Varianten, unterschiedliche Intensionen und Funktionen, verschiedene Aneignungssituationen und Marktsegmente. Hugo Zemp hatte die Anstrengungen ethnologischer Forschungsarbeit auf sich genommen, um einen möglichst umfassenden Einblick in die Musikkultur dieser melanesischen Insel zu bekommen. Es war ihm gelungen, einmalige Klangdokumente aus dem musikalischen Alltag, aber auch Festformen und religiöse Rituale zu fixieren. Nun konnte jedermann zugreifen. Er fühlte sich schuldig, die Ungerechtigkeit in Gang gebracht zu haben, und versuchte, den Rechtsweg zu rekonstruieren, letztlich aber ohne Erfolg für die nach seiner Meinung übervorteilte junge Frau aus Malaita.
1.3 Fragen an den Gegenstand der Untersuchung 1.3.1 K ONFIGURATIONEN AKTUELLER POPMUSIK - EMPIRISCHE BEFUNDE Das bemerkenswerte und dennoch willkürlich herausgegriffene Beispiel mag andeuten, welche Wege Klänge und Musiken um die Wende zum dritten Jahrtausend nehmen können. Mittels Radiostationen, Klangdokumenten, CDs, Samples, Dancefloor, international organisierten Tonträgerunternehmen, deren Dependancen und Vertriebsorganisationen, Soundbanken oder Soundfiles geraten sie in Kontexte jenseits ihres »ursprünglichen« Gebrauchszusammenhanges, verändern sich radikal und sind potenziell allerorts verfügbar. In verschiedenen kulturellen Zusammenhängen kann ein und dieselbe Melodie, in ihren jeweiligen Varianten, Bedeutung erlangen. Neben diesem medialen Transfer sind Musiker weltweit live in Konzerten zu hören. Der internationale Tourneebetrieb boomt. In Städten mit einem hohen Anteil von Migranten haben sich spezielle Musikszenen entwickelt, die sowohl traditionelle Musikkulturen vom einen zum anderen Ort »reisen« als auch völlig neue Stile entstehen ließen, solche, die mit einigen Versatzstücken ethnischer Verweise spielen (Balkan Beat) als auch solche, denen man nicht im Geringsten einen Herkunftsort anhört (elektronische Musik). Angesichts solcher Transforma-
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tionen ist es müßig, von ursprünglichen, traditionellen oder von in sich konsistenten, kulturell reinen musikkulturellen Zusammenhängen zu sprechen. Die anfangs benannten unterschiedlichen Einschätzungen zum Stellenwert lokaler Repräsentationen und Zusammenhänge in ihrer Auswirkung auf Beziehungen zwischen Kulturen spielen dennoch in den Diskussionen um aktuelle Formen populärer Musik eine bemerkenswerte Rolle. Nicht zuletzt die immer wieder auffindbaren Verweise auf Örtlichkeiten legen die Vermutung nahe, dass Orte als Ordnungssysteme menschlicher Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten auch im Zeitalter von Internet und Globalisierung keineswegs ausgedient haben, Globalisierung vor diesem Hintergrund lediglich eine abstrakte Kategorie bildet. Die strukturellen Aspekte anhaltender Globalisierungsprozesse, die technologischen und ökonomischen, haben zweifellos einen globalen Musikmarkt entstehen lassen. Im Resultat dessen entstanden Ängste um kulturelle Vielfalt, andererseits die Freude um endlose Fusionen, Crossover und Grenzüberschreitungen. Schon in den 1960er Jahren – als massenkulturelle Erscheinungen erstmals auch Anerkennung in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussionen erlangten – prägte der italienische Semiotiker Umberto Eco das Begriffspaar von den »Apokalyptikern« (Kritiker der Massenkultur) auf der einen und den »Integrierten« (Verteidiger der Massenkultur) auf der anderen Seite (Eco 1984), also denjenigen, die mit Abscheu das Treiben kommerziell orientierter Kulturproduzenten – für Eco standen Comics im Zentrum der Betrachtung – kommentierten und denjenigen, die als direkt Involvierte, als Akteure dieser Prozesse eine bejahende Haltung zu den »Gegenständen« ihrer Beschäftigung entwickelten. Eco schlug damals vor, dass es vor allem darauf ankommt Argumentationen zu entwickeln, die auf der Kenntnis des »Materials« beruhen. Diesem Anspruch sieht sich diese Untersuchung in höchstem Maße verpflichtet. Freilich stehen die Forschungen zur populären Musik heute nicht mehr am Anfang. Sie können auf eine mindestens 30-jährige »Tradition« zurückblicken. Es haben sich Strömungen entwickelt und unterschiedliche »Schulen etabliert«, es gibt in Deutschland sogar einige Lehrstühle an Universitäten, die sich ausdrücklich auf Fragen zur Geschichte und Theorie populärer Musik konzentrieren. Dennoch sind das Forschungsfeld und insbesondere auch der musikpolitische Raum nicht frei von ablehnenden Haltungen, von Berührungsängsten angesichts offenkundiger Allianzen und Abhängigkeiten von Ökonomie und Kultur, Globalisierung und Musik. Gesellschaftliche Modernisierung, technologische Entwicklungen und geopolitische Veränderungen haben dazu geführt, dass heute in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen – auch in denen von Forschung, Kulturarbeit und Musikmarkt – komplexe, widersprüchliche und interdependente Erscheinungen aufzufinden sind. Die unüberhörbaren Phänomene populärer Musik selbst zeugen von diesen Konfigurationen. Mitten in Europa dröhnen alle Jahre wieder zu Beginn des Sommers aus Autoradios, Bars und Diskotheken Songs mit lateinamerikanisch-spanischem Flair. An der Seine in Paris tanzt man im Sommer 2009 Salsa. Salsa, Samba, Flamenco oder
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karibisch beeinflusste Rhythmen werden zugleich gemixt mit den jeweils aktuellen Sounds und Timbres bekannter Stars. Bei näherer Untersuchung sind es nur vage Assoziationen, der Sound einer spanischen Gitarre oder ein rhythmischer Standard, der an den Umzug einer Sambaschule erinnert, Karneval, vage Assoziationen also, die in den Ohren der meisten Zeitgenossen eher die Sehnsucht nach Sommer, Sonne, Strand, Spaß und Flirts wachrufen, als über die »Wurzeln« der Samba in südamerikanischen Favelas nachzudenken. Es bedarf allein der rhythmischen Muster, von denen man sagt: »It’s a music to find the beat by.« Kein Promotion-Manager würde jemals auf die Idee kommen, diese Songs im Februar auf den Markt zu bringen. Latin Lover und Caipirinha gehören in den Sommer, wie »Jingle Bells« und Johann Sebastian Bachs »Jauchzet frohlocket« ins Nachmittagsprogramm der Adventstage. Auch der weiße Didgeridoo-Spieler mit Dreadlocks oder ohne, der im Eingangsbereich einer Metrostation hockend seinem archaisch anmutenden Instrument ein paar erdige Töne abringt oder derjenige, der mit dem gleichen Instrument den Bass einer Band ersetzt, beide erzählten uns mehr über die kulturellen Verhältnisse in Mitteleuropa, als dass diese Begegnung zu den Aborigines nach Australien verweisen würde. Türkischer Hip-Hop, Tribal Dance, Riverdance, Balkan Beat usw. usf. – diese Stil- oder Eventbezeichnungen sind transkulturellen Charakters, der in der Aneignung lokaler und globaler Versatzstücke verschiedener Musikkulturen begründet ist. Schaut man in den südpazifischen Raum oder nach Mittelamerika, auf den Balkan oder nach Nordafrika, sieht man sich einem vergleichbar vielfältigen Szenario gegenüber, gespeist aus unterschiedlichen kulturellen Präferenzen, auch Traditionen und Umgangsformen mit Musik, vor allem aber dem Erfahrungsschatz einer lokal angeeigneten globalen Musik-Kultur. Was in Paris ein Hit ist, muss in Tokio noch lange keiner sein. Gleichzeitig kann Hip-Hop algerischen Jugendlichen heute mehr bedeuten als Raï. Allein die jeweilige Perspektive entscheidet darüber, welche Musik als diejenige Nordafrikas gilt. Globalisierung bedeutet keineswegs, dass kulturelle »Eigenheiten« vor Ort umfassend außer Kraft gesetzt sind, auch oder gerade dann, wenn nationale oder ethnische Verweise ausbleiben. Das beliebte Karaoke-Singen in Japan zum Beispiel ist durchaus ein Resultat tief verwurzelter Bedeutungen des Singens in bestimmten sozialen Gemeinschaften. In der Begegnung von technologischem Knowhow, medialen Angeboten, Mediengebrauch und musikkulturellen Traditionen entstand eine Gemengelage, die – und dieses Beispiel wird im Verlauf der Arbeit noch einmal eine Rolle spielen – erklärbar macht, warum es das so genannte »International Repertoire« so schwer hat, auf dem japanischen Markt zu bestehen. In den 1990er Jahren – als sich die Umsatzzahlen der Tonträgerwirtschaft in einem nahezu kontinuierlichen Höhenflug befanden, legte man seitens der Industrie sehr viel Wert auf die Produktion und den Vertrieb von so genanntem »Domestic Repertoire«. Damals standen auch lokale und regionale Märkte stärker im Fo-
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kus der global agierenden Tonträgerwirtschaft, als dies seit der »Krise der Musikwirtschaft« der Fall ist. Um die potenziellen Verluste risikoreicher Investitionen zu minimieren, wurden lokale Dependenzen aufgebaut, die mit der lokal und kulturell verankerten Nachfragesituation besser umgehen konnten, eine Wettbewerbsstrategie, wie sie aus den frühen Jahren der Tonträgerwirtschaft ebenfalls bekannt ist. Das betraf auch einige der Labels vor Ort, mit denen die global agierenden Unternehmensstrukturen Lizenzvereinbarungen abschlossen. Die kleineren, flexibleren Unternehmensformen vor Ort konnten in Zusammenarbeit mit Veranstaltungsorten, Agenturen und lokalen Medien auf die kulturellen Gegebenheiten lokaler bzw. regionaler Märkte besser eingehen. Angesichts der Umsatzeinbrüche auf Seiten der global agierenden Unternehmen wurden diese Allianzen meistenteils wieder aufgekündigt. Die Kleinstunternehmen der Musikwirtschaft müssen sich heute entscheiden, ob sie für einen konkreten lokalen Zusammenhang produzieren oder ob sie Nischenmärkte global bedienen. Vor Ort sind es nun vor allem die diversen Veranstaltungsorte, Clubs und Konzerthäuser, in denen populäre Musik ihre Sozialisationskraft entfaltet. Regionen und Städte stehen im Standortwettbewerb und haben die so genannten Kreativen als einen Impuls für ihre kulturelle Anziehungskraft ausgemacht. Man überlässt ihnen alte Fabrikhallen oder Industriebrachen und hofft so auf die Reurbanisierung der Städte. Musikalisch-stilistische Ausdifferenzierungen, soziale Verschiebungen, technisch-mediale Innovationen und ökonomische Veränderungen kennzeichnen das weite Feld populärer Musik. Ihre Dynamik ist kaum zu überschauen, dennoch lassen sich Aspekte herausgreifen, die die offenkundige Unübersichtlichkeit systematisieren helfen. 1.3.2 K ONFIGURATIONEN AKTUELLER POPMUSIK METHODISCHE HERAUSFORDERUNGEN Der in dieser Arbeit angesprochene Zusammenhang – populäre Musik, Medien, Kultur und Globalisierung – betrifft nicht nur einen gesellschaftlich brisanten Raum konkret handelnder Akteure. Er steht vor allem quer zum Selbstverständnis und den Methoden der »verantwortlichen« Wissenschaften, hier insbesondere der Musikforschung. Deshalb sei den folgenden Kapiteln der Hinweis vorangestellt, dass eine solche Untersuchung das Thema tangierende Forschungsergebnisse und -ebenen weiträumig sichten muss. Das betrifft Ergebnisse musikethnologischer, musiksoziologischer, kulturwissenschaftlicher, kulturpolitischer, kulturökonomischer und medienästhetischer Arbeiten. Das kann auch dazu führen, dass solche Aussagen, die nicht unmittelbar – also aus Nachbardisziplinen kommend – für diesen Zusammenhang interessant scheinen, hinzugezogen, zitiert und in einen Dialog mit dem Thema und der »eigentlichen Fachdisziplin, der Musikforschung, gesetzt werden. Vergleichbares betrifft manche empirische Felder, diese – zum Beispiel 70
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die Geschichte der phonographischen Technologien – werden in groben Zügen rekapituliert, um sie im Kontext dieser Arbeit auf spezielle Fragestellungen hin auszuwerten. Dieser Untersuchung liegen also keine unmittelbar selbst durchgeführten empirischen Studien zu Grunde, sondern zumeist die Auswertung und Vermittlungsleistung disparater Kenntnisse »Dritter«. Wenn einige Autoren, zum Beispiel Steven Feld, Krister Malm oder Peter Manual, in dieser Untersuchung mehr als zweimal zitiert werden, so ist damit aus meiner Sicht ihr Stellenwert sowohl als Quelle eines konkreten wissenschaftlichen Forschungsfeldes, als auch ihre Bedeutung als reflektiert Handelnde in Bezug auf das zur Debatte stehende Thema gewürdigt. In dieser Arbeit kommt es mir vor allem auf den Blickwinkel an, bzw. auf die permanente Veränderung des Blickwinkels; auf das reflexive Potenzial systematisierenden, wissenschaftlichen Arbeitens in deutlichem Bezug auf ein gesellschaftspolitisch brisantes, historisch nachhaltig wirkendes und zugleich schwer zu greifenden Thema. Forschungen zur populären Musik sollten auch danach fragen, wie »Klang« in bestimmten musikalischen und kulturellen Zusammenhängen Wirkungen erzielen kann, welche Bedeutung Klang in den thematisierten gesellschaftlichen Zusammenhängen erlangen kann, wer mit ihrem Klang bestimmte Bedeutungen verbindet, wer Klang mit Bedeutungen auflädt, wem welche Musik etwas bedeutet. Einen entsprechenden Zugang hoffe ich im ersten Kapitel dieses Buches mit der Darstellung der »Reise« des melanesischen Wiegenliedes eröffnet zu haben. Das »Innenleben« (post-)moderner Industrie- und Informationsgesellschaften ist offenkundig vor allem in kultureller Hinsicht von uneingelösten Sehnsüchten und Hoffnungen, Zynismen, von Trieben und Illusionen geprägt. Populäre Musik, ihre Songs, Tracks und Sounds, Images usw. sind mit der ihnen eigenen Faszination in der Lage, diese menschlichen Notwendigkeiten zu vermitteln und Zumutungen zu lindern. Warum lassen sich viele Menschen so gern auf filmische Reisen in die verschwundene Welt keltischer Schlösser und zu Fabelwesen entführen, warum folgen sie gebannt den perfekten Stepporgien der Riverdance-Show, sind fasziniert von zentralasiatischem Obertongesang oder der atemberaubenden Geschwindigkeit südosteuropäischer Bläserbands? »Das Unbehagen an der Moderne« (Taylor 1997), die mit der industriellen Produktion einhergehende »Entzauberung der Welt« (Weber 1934), die Freiheit des Individuums, die de facto die Freiheit der mit allen anderen Individuen in Konkurrenz stehende Freiheit von Individuen meint und die Beherrschung menschlichen Lebens durch die auf Effizienz gerichteten »Kosten-Nutzen-Analysen« instrumenteller Vernunft, eine »rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, geboren aus dem Geist der christlichen Askese« (Weber 1934: 202) fordern ihren sozialen, physischen und psychischen Tribut. Dies führt auf Seiten kulturell ästhetischer Verarbeitungen inmitten des mittlerweile gigantischen Kreislaufes der Kopien, Parodien und Pastiches zu einer trügerischen Sehnsucht nach Mitte, Halt und Einheit (Erlmann 1989). Diese Sehnsucht ist jedoch keinesfalls trügerisch, sie
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ist sehr real, so real wie die Zumutungen »der Moderne« gegenüber dem Sozialwesen Mensch. Sie wirklich einzulösen, das vermögen weder Fantastische Fanfaren noch melanesische Wiegenlieder. Sie offerieren Menschen jedoch Gegenräume, Räume, in denen körperliche Präsenz reell und in symbolischen Repräsentationen erlebbar wird. Welche Klänge bzw. Musikformen können diese Funktion erfüllen? Welche Wege nahmen sie, vom Punjab nach London, aus den australischen »Bushlands« in die »Chillout-Zonen« metropolitaner Partys oder aus rumänischen Dörfern in die Balkan Beat Box? Und wie gelangen umgekehrt die kulturellen Formen vermeintlich »westlicher« Popmusik nach Westafrika, Malaita oder Indien? Schon die hier formulierte Suggestion von Einbahnstraßen hält den realen Musikprozessen wahrscheinlich keineswegs stand. Diese Arbeit soll aus der Perspektive der Rekonstruktion verschiedener Aspekte des Musikprozesses – den sozialen Gebrauchszusammenhängen von Musik, den sie gleichsam tragenden ökonomischen Organisationsformen und Binnenstrukturen in lokalen und globalen Zusammenhängen, den technologischen Voraussetzungen und Konsequenzen ihrer zunehmenden medialen Verfügbarkeit und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die ästhetische Gestalt bestimmter Formen populärer Musik – versuchen, einen Beitrag zur Klärung der Frage nach der spezifisch kulturellen Dimensionen des Globalisierungsprozesses zu leisten. Dazu bedarf es zunächst einer Komplexitätsreduktion des eigentlichen Musikprozesses. Durch eine entsprechende Modellierung erscheint die Wirklichkeit vereinfacht und fragmentarisiert. Dennoch ermöglicht Komplexitätsreduktion als methodischer Schritt eine genauere Beschreibung von Realität(en). Sie ist ein wissenschaftliches Instrument zur Gewinnung von Einsichten, die angesichts der tatsächlich vorhandenen Komplexität, wie am Beispiel des melanesischen Wiegenliedes zu sehen war, nicht greifbar wären. Eine erste Modellierung ließe sich entlang der im Feld populärer Musik handelnden und aufeinander bezogenen Akteure vornehmen: I. Musiker, Bands, Produzenten; II. Jugendkulturen, Hörer, Fans, Tanzende etc.; und III. die unterschiedlichsten Akteure der Musikwirtschaft wie Manager, Label, Verlage, Medien etc. Im Musikprozess handeln diese hier modellhaft voneinander abgegrenzten Akteure ihre unterschiedlichen Interessen gegeneinander aus: I. Diverse Formen, Gattungen, Stilistiken, bei deren Spiel sich Musiker selbst verwirklichen und ihre Existenz sichern; II. Populäre Musik als Sozialisationsinstanz, Medium für das Ausagieren von Widerstand, Spaß und Frust; und III. Populäre Musik als Produkt, das auf Märkten gehandelt wird. Für die unterschiedlichen Akteure nimmt sie also unterschiedliche Existenzformen an: I. Als Set von Gattungen und Stilistiken, II. Als Teil (sub-)kultureller Praktiken oder III. Als Produkt zum Beispiel in Gestalt eines Tonträgers oder Künstlerimages. Alle diese Existenzebenen können als konkrete Materialebenen des Musikprozesses analysiert werden. Als konkretes Material der Untersuchung eignet sich also weitaus mehr als nur der Klang bestimmter Formen populärer Musik.
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Wenn das Klanggeschehen – Sound – als Materialfundus fungieren soll, dann immer nur in dem Bewusstsein, dass sich an ihm keinerlei Bedeutungen direkt ablesen lassen können. Nur wenn man Klang als Medium begreift (vgl. Wicke), kann er im übertragenen Sinne als Material der Analyse in Betracht kommen. Noten und die Transkription von musikalischen Verlaufsstrukturen stellen dabei genauso wenig eine objektive Form dar, wie die Versuche der Veranschaulichung allein durch technische Parameter, zum Beispiel Frequenzverläufe. Ob Musiker, Produzenten, Fans, Journalisten oder Wissenschaftler – sie alle hören etwas anderes, jedem prägt sich etwas anderes ein, jedem bedeutet der Song etwas anderes, weil die Perspektiven auf ihn so unterschiedlich sind. Deshalb käme es eigentlich darauf an, die verschiedenen symbolischen Ordnungen und Handlungszusammenhänge der genannten Akteure zu rekonstruieren, um ein halbwegs angemessenes Szenario zu rekonstruieren. Eine solche umfassende Ethnographie des Musikprozesses liegt bisher nicht vor und kann auch in dieser Untersuchung nicht geleistet werden. Die Wahl des Beispiels stellt deshalb auch ein Wagnis dar. Es suggeriert die Annahme, man könne über die Analyse musikalischen Materials zu Aussagen über den Gesamtzusammenhang von Verkaufszahlen der Tonträgerindustrie und Hörgewohnheiten bestimmter kultureller Gruppen gelangen. Das melanesische Wiegenlied war zunächst eine Inspirationsquelle des Nachdenkens und eine Quelle, die einen Strom von Ereignissen in der Welt der Popmusik ausgelöst hat. Nun geht es um die Herausforderung, ansatzweise den unterschiedlichen symbolischen Ordnungen und Existenzformen populärer Musikarten analytisch nachzuspüren, die Klänge dabei nicht außer Acht zu lassen, aber gewissermaßen durch sie hindurch sich den unterschiedlichen Kontexten zuzuwenden, in denen sie Bedeutung erlangen konnten. Seit Mitte der 1980er Jahre liegen vor allem aus dem angelsächsischen Sprachraum Untersuchungen vor, die sich den bis dahin eher unbekannten und unbeachteten »lokalen« Formen jenseits von Westeuropa und den USA zuwandten. »Kulturelle und lokale Identitäten« (Mitchell 1996, Stokes 1997, Cohen 1997), »das andere« (Grenier/Guilbault 1990, Erlmann 1995), »Mediation« (Malm 1993), »World Music« (Frith 1989, Feld/Keil 1994, Erlmann 1995, Guilbault 1997), »Intercultural Interpretations« (Mitsui 1998), »Changing Sounds« oder »Sound Alliances« (Hayward 1998) und »Music and Globalization« (Malm/Wallis 1984, Burnett 1996, Taylor 1997) waren und sind die Stichworte entsprechender Diskussionen im Kontext der Forschungen populärer Musikformen, die im deutschsprachigen Zusammenhang leider auf sehr wenig Resonanz gestoßen sind. Wer sich auf die Suche nach Publikationen zu Themen wie Musik und Migration oder Musik und Globalisierung begibt, wird kaum fündig. Ausnahmen bilden die Arbeiten von Max Peter Baumann (Baumann 1992, 1996, 1998) Martin Greve (Greve 2003), Christian Utz (Utz 2007), Andreas Gebesmair (Gebesmair 2008) und Thomas Burkhalter (Burkhalter 2009). Kapitel 2 dieser Untersuchung geht deshalb recht ausführlich dem Verhältnis von Musikforschung und dem hier zur Diskussion stehenden Thema nach. Wel-
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chen Stellenwert nehmen die Musiken der Welt und die unterschiedlichen Formen populärer Musik im historischen Verlauf der empirischen und theoretischen Auseinandersetzung der Musikforschung ein? Dem vorangestellt werden allgemeine und musikspezifische Fragen zur kulturellen Durchdringung, Transformation und zur Bedeutung musikkultureller Differenzen und Synthesen. Eine Beschäftigung damit ist meines Erachtens vor allem deshalb wichtig, weil diese Aspekte sowohl in den Untersuchungen zur soziokulturellen Bedeutsamkeit populärer Musikformen, zum Beispiel im Kontext so genannter Subkulturen, als auch bei der Untersuchung der Repertoire-Segmentierung von Musiken der Welt eine entscheidende Rolle spielen.
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2 M USIKEN DER W ELT - W ORLD M USIC - G LOBAL POP 2.1 Historische Voraussetzun Voraussetzungen gen und Strategien kultureller Durchdringung und Transformation Man kann heute davon ausgehen, dass beständige, prinzipiell in sich geschlossene, konsistente und dauerhaft an bestimmte Orte oder Ethnien gebundene kulturelle Systeme lediglich als Fiktion existieren (vgl. auch Greve 2002). Trotzdem oder gerade weil dies offensichtlich eine grundlegende Konsequenz fortgesetzter Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse ist, muss danach gefragt werden, wie und warum entsprechende Interaktionen in Gang kamen bzw. kommen. Zugegebenermaßen impliziert die Frage nach Strategien des Transfers, der Begegnung, des Austausches, der Aneignung etc. zumindest gedanklich das Vorhandensein vormals konsistenter, in sich geschlossener, nichtheterogener Systeme. Der folgende Teil dieser Untersuchung befasst sich deshalb mit dem Zusammenhang von kultureller Aneignung als Differenzbildung in kulturellen Identifikations- und Selbstbehauptungsstrategien. Theoretisch und empirisch anregend für die Musikforschung sind in dieser Hinsicht insbesondere die Arbeiten der Cultural Studies. Als eine verhältnismäßig stark von der Soziologie geprägte Disziplin richteten die Vertreter der Cultural Studies ihren Blick im Rahmen der Erforschung kultureller Praktiken erstmals auf das Verhältnis so genannter dominanter und »unterlegener« Kulturen, den »fremden« Kulturen in der eigenen Gesellschaft. Im Resultat einer Fülle empirischer Studien konzipierten die Vertreter der Cultural Studies einen »relativen« Kulturbegriff und eröffneten damit vor allem auch den Erforschungen populärer Musik eine wichtige theoretische Grundlage, weil das »Abweichende« (der Rock ’n’ Roll der 1950er Jahre z. B. galt als »Unkultur«!) nicht als das Primitive gedeutet wurde, sondern als das mit eigenen Regeln und Normen versehene andere. 2.1.1 KULTURELLE DURCHDRINGUNG ALS VORAUSSETZUNG UND R ESULTAT SCHAFFUNG VON BEDEUTUNGSVOLLEN UNTERSCHIEDEN UND DIFFERENZ
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Seit populäre Musik in den 1970er Jahren vor allem im angelsächsischen Sprachraum zum Gegenstand reflexiver Darstellungen und Analysen in akademischen
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und kulturpolitischen Zusammenhängen wurde, stehen Aspekte der wechselseitigen kulturellen Durchdringung ihrer Formen immer wieder im Zentrum entsprechender Untersuchungen, vor allem dann, wenn es darum geht, zu den »Wurzeln« und symbolischen Repräsentationen, also zu den Voraussetzungen und Resultaten transkultureller Entwicklungen »vorzudringen«. Da es anfangs weniger die im klassischen Sinne musikwissenschaftlich als vielmehr kultur-, sozialwissenschaftlich und pädagogisch orientierten Forschungsfelder waren, die sich der Untersuchung populärer Musikformen widmeten, wurde vor allem nach dem Stellenwert dieser Musikformen bei der Herausbildung bestimmter sozialer, ethnisch und lokalkulturell geprägter Identitäten gefragt. Das methodische Instrumentarium dieser Untersuchungen richtete sich in erster Linie auf den kulturellen Gebrauch populärer Musikformen und wies ihren klanglichen Formen neben Kleidung, Sprache, Accessoires, Gruppenverhalten und Habitusformen einen gleichberechtigten Platz im Reservoire der jeweiligen Bedeutungen und Sinn produzierenden Systeme zu. Die Erkenntnis, dass kulturelle Formen einander durchdringen, transformiert und in ihrer Bedeutung verändert werden, ist also keineswegs erst Resultat jener historischen Entwicklungen und Diskussionen, die seit den 1980er Jahren unter den Stichworten von Globalisierung, Kreolisierung, Hybridität oder Transkulturalität geführt werden. Simon Frith hat diese Einsicht treffend aufgegriffen: »there is no such thing as a culturally ›pure‹ one« (Frith 1989: 3). Es mag auf den ersten Blick ein logischer Widerspruch sein, wenn man das Phänomen der kulturellen Durchdringung zugleich als Voraussetzung und als Resultat der Schaffung von bedeutungsvollen Unterschieden, Differenz, schließlich kultureller Identifikation versteht. Ohne Unterschiedlichkeit würde es keinen Austausch geben und die eigenwillige Inkonsistenz kultureller Muster selbst verweist auf die widersprüchlichen Aspekte, die in einem Zeichen »geronnen« bzw. veranschaulicht sein können. Das »andere« als Quelle kultureller Selbstbehauptung Semiotische Techniken von Bricolage (Lévi-Strauss 1968) oder Pastiche (Adorno 1977), wie sie als kulturell symbolische Praktiken vor allem von den britischen Subkulturforschern in den 1970er Jahren diagnostiziert und beschrieben wurden, gehen schon im Ansatz davon aus, dass kulturelle Formen bzw. deren Zeichen und Symbole aus einander ausgrenzenden, differenten kulturellen Systemen »stammen«. Von den Vertretern bestimmter kultureller Gemeinschaften – in diesem Falle subkultureller Szenen, die gleichsam als sozialer, kultureller und kommerzieller Raum des Umgangs mit bestimmten Formen populärer Musik dienen – werden kulturelle Formen, Zeichen und Symbole aufgegriffen, umgedeutet, einverleibt, repräsentiert und damit angeeignet, um konkrete Formen ihrer »eigenen« kulturellen Selbstbehauptung herauszubilden. Geradezu modellhaft und oft zitiert schrieb Dick Hebdige (Hebdige 1983): »Man kann zum Beispiel als Bricolage bezeichnen, dass die Teds den edwardianischen Stil (den die Modemacher der Savile Row in den fünfziger Jahren für junge, wohlhabende Städ-
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Musiken der Welt – World Music – Global Pop ter wiederbelebt hatten) für ihre Zwecke stahlen. Und ähnlich konnte man auch die Mods als Bricoleurs bezeichnen, da auch sie eine Reihe von Gebrauchsgütern beschlagnahmten und einer symbolischen Ordnung einfügten, die ihre ursprünglichen Biedermann-Bedeutungen auslöschte oder untergrub. So funktionierten sie Pillen, die ursprünglich gegen neurotische Erkrankungen verschrieben worden waren, zu ihren eigenen Zwecken um, und den Motorroller, ursprünglich ein äußerst respektables Transportmittel, verwandelten sie in ein bedrohliches Symbol ihrer Gruppensolidarität.« (Ebd.: 98)
Oder: »Man konnte konkret erkennen, wie im Schnitt einer Mod-Jacke, in den Sohlen eines Teddy-Boy-Schuhes das Rohmaterial der Geschichte gebrochen, aufgefangen und behandelt …« (Hebdige 1983: 71) und damit immer auch kulturell umgedeutet wurde. Das transkulturelle Moment, das Nicht-Eindeutige, das Widersprüchliche, das andere und gleichsam Angeeignete ist im »Subkulturparadigma« stets präsent. Es dient als wichtige Quelle so genannter subkultureller bzw. widerständiger Strategien: »Indem der Zusammenhang einer Anzahl von dominanten Werten und Symbolen abgelehnt wird und die strenge Ordnung des vorherrschenden Konsens-Systems in eine widerspenstige Collage, in eine Bricolage von differenten Emblemen dekonstruiert wird, unterlaufen diese Stile die hegemoniale Ordnung.« (Erlmann 1995: 18)
Entsprechende Strategien funktionieren als eine Art Kompromisslösung zwischen dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit, Abwendung und Verschiedenheit von der Elterngeneration bzw. der hegemonialen Kultur einerseits und dem Bedürfnis, die elterliche Kultur andererseits zu reproduzieren, um eine bestimmte Position im sozialen Gefüge jener Gesellschaft zu erlangen, der man qua Geburt – im konkreten Beispiel aus den 1970er Jahren – angehörte und aus der es kaum Perspektiven gab zu entfliehen: »Ein Pool von Stilformen, Bedeutungen und Möglichkeiten wird andauernd reproduziert und ist stets jenen verfügbar, die sich, auf welche Art auch immer, von den formalisierten Einschätzungen ihrer Position abwenden und nach realistischeren Interpretationen ihres Beherrschtseins […] suchen.« (Willis 1982: 96)
Paul Willis hatte in seiner berühmten Hammertown-Studie (Willis 1977) herausgearbeitet, auf welche Art und Weise es den männlichen Jugendlichen einer mittelenglischen Kleinstadt möglich war, ihre Identität im Übergang von der Schule ins Arbeitsleben der Fabrik zu bewahren und in der unterlegenen Situation dort auszuharren und standzuhalten. Bis Mitte der 1970er Jahre, als das Kapitalprinzip polar konstruierte Handlungsformen noch als sinnvoll erscheinen ließ, eignete sich die Hegemonie-Widerstand-These von »Kultur« und »Gegenkultur« als eine adäquate Reflexions- und Bewertungsform.
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Die mit ihrer Kritik des späten Industriekapitalismus auf vergleichbaren erkenntnistheoretischen und politischen Perspektiven basierenden sowie mit ähnlichen empirischen Methoden und theoretischen Modellen beschriebenen subversiven Verhaltensmuster und Strategien Jugendlicher galten als Argumentationsgrundlage einer vor allem sozialwissenschaftlich begründeten Subkulturtheorie. Ihre Vertreter und Vertreterinnen – neben anderen Paul Willis, John Clarke, Dick Hebdige und Angela McRobbie – wiesen jedoch immer wieder auch darauf hin, dass der systemische Charakter von »westlichen« Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg dazu führte, die Struktur der Gesellschaft nach der Logik des Kapitals zu reproduzieren (Willis 1982). Folglich wurde jede der »klassischen« Subkulturen – seien es Mods, Hippies oder Punks – umgehend zu einer gut vermarkteten Pose, zu einer Mode, die neue Trends in Klang und Stil etablierte und zugleich in die entsprechenden Industrien zurückführte, gegen die man glaubte, angetreten zu sein (Hebdige 1983). Im praktischen Produktions- und Aneignungsprozess ist populäre Musik in mehrdimensionale Widerspruchs- und Auseinandersetzungsfelder eingebunden. So folgte zum Beispiel die Herstellung und Verbreitung von Tonträgern nach dem Zweiten Weltkrieg den »klassischen« Kriterien industriell organisierter – das heißt arbeitsteiliger, kooperativer, rationalisierter – Zusammenhänge auf technischer Basis und wurde in entsprechenden Unternehmensstrukturen produziert, vertrieben und verwertet. (Wicke 2001a) Auf der kulturellen Ebene dominierten dagegen diesen Prozessen scheinbar entgegen gesetzte Tendenzen, manchmal geradezu der vehemente Bezug auf ihr Gegenteil bzw. die Beschwörung und Mystifizierung des Gegenteils von rationalen Prinzipien. Wert wurde gelegt auf Communities, auf deren innere Dynamik und ihren Zusammenhalt. Es kursierten romantische und exotische Konstruktionen, ganzheitliche Entwürfe wie zum Beispiel »Eine-Welt-Vorstellungen«, in den 1960er bis 1980er Jahren zivilisations- und technikkritische Assoziationen und daran orientierte Authentizitätsvorstellungen. Diese kulturellen Interpretations- und Handlungsmuster gehören noch heute zum Standard-Repertoire populärer Images. Interessant ist, dass sie sowohl Teil der realen sozialen Bedürfnisse der kulturell Aktiven als auch zum Mittel von Verwertungs- und Marketing-Strategien der Musikindustrie geworden sind. Sie gehören zum Zeichen-Repertoire jugendkultureller Bewegungen und erscheinen gleichsam in den Songtexten, bevorzugten Sounds, den Images von internationalen Stars und den Helden regionaler Clubszenen. Um die Argumentationsstrategien von Glaubwürdigkeit und Authentizität weiß man in den lokalen Szenen und in den Marketing-Abteilungen global agierender Entertainment-Unternehmen. Allerdings sind diese Strategien dann doch Veränderungen ausgesetzt. War in den 1960er Jahren Woodstock ein authentisches Ereignis der Popkultur, konnte dies in den 1990er Jahren ein Rave sein, um die Jahrtausendwende ein stehender Sinuston im Ambiente einer Wohnzimmerparty oder heutzutage alles das zusammengenommen. Immer wieder scheint es wie
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Musiken der Welt – World Music – Global Pop »eine Parodie der Geschichte der Avantgarden […], [wenn] sich jede neue Strömung der Jugendkultur über ihre Vereinnahmung durch die Kulturindustrie beklagt oder Vorkehrungen dagegen zu treffen vorgibt. […] Spätestens das berühmte Woodstockfestival entpuppte sich im Kern als eine Fusion, eine unorthodoxe Symbiose aus Protest, Gegenkultur und Kultur.« (Grasskamp 1995: 15)
Raves und Woodstock vergleichbare Ereignisse existieren dabei weiterhin und zeugen im zeitlichen Miteinander von der exponierten »Gleichzeitigkeit« des »Ungleichzeitigen«. Selbst die »Industrie« beteiligte sich immer schon sehr bewusst an der Kreation und Auswertung (musik-)kulturell differenter Symbolsysteme, Codes und Stilistiken: »Am Ende tauchen die ehemals abweichenden Regelbrecher als unterhaltsames Schauspiel in der vorherrschenden Mythologie (aus der sie ja zum Teil hervorkamen) reintegriert wieder auf.« (Hebdige 1983: 85 – Hervorhebung S. B.-P.) Die so genannten subkulturellen oder gegenkulturellen Zeichen werden kurzerhand massenhaft produziert und erhalten damit umgehend eine Gestalt als Warenform. Dennoch bleibt das Moment der Abweichung von der Norm, das von den gesellschaftlichen Institutionen, meist den Medien der »herrschenden« Kultur gebührend geahndet wird. Bewusst inszeniert kann es gewissermaßen beide Funktionen erfüllen. Der Kultursoziologe Walter Grasskamp notierte in seiner Replik auf die Jugendbewegungen der 1960er und 1970er Jahre unter der Überschrift »Der lange Marsch durch die Illusionen« zur Versinnbildlichung der damaligen Situation folgende Anekdote: »Zwei konservativ gekleidete Manager spazieren in der Mittagspause über einen Bürgersteig in Manhattan an einem langhaarigen Hippie vorbei, der auf den Gehwegplatten sitzt und Gitarre spielt. Angewidert bemerkt der eine zum anderen: ›Es ist kaum zu fassen, aber diese Typen pumpen Jahr für Jahr Millionen Dollar in unsere Volkswirtschaft!‹ Die Pointe verdeutlicht die Ambivalenz der Situation, denn was sich als Kulturrevolution verstand, war längst auch ein Markt und als solcher natürlich hochinteressant für die Kulturindustrie. An ihre Schreibtische zurückgekehrt, werden sich die beiden Ivy-Leaggue-Passanten daher einen Ruck gegeben und beschlossen haben, diesen aufbaufähigen Markt jugendlicher Konsumenten nicht länger deren intuitiv dilettierenden Generationsgenossen zu überlassen, sondern ihn selbst in die Hand zu nehmen. Sie werden der Aufmerksamkeit ihres Aufsichtsrates die Unterhaltungselektronik als Wachstumsbranche der Zukunft empfohlen haben, für deren Erschließung man eben ein paar Langhaarige würde schlucken müssen, oder aber mit dem Vorschlag aufgetreten sein, die Leitbilder der Jeans-Werbung nicht mehr nur den sportlichen, die der Zigarettenwerbung nicht länger nur an männlichen Idealkonsumenten zu orientieren. Als Präzedenzfall konnten sie auf die Umwandlung des schwarzen ›Rhythm ’n’ Blues‹ in den weißen ›Rock ’n’ Roll‹ verweisen, der anfangs auch auf Widerstand gestoßen, letztlich aber recht profitabel gewesen war. Wenige Monate später, als sich auf den Fluren der Chefetagen das Gelächter über das unglaubliche Aussehen der Beatles oder das CountryGejammer von Bob Dylan gelegt hatte, werden sie dafür befördert worden sein und eine
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit Zeitschrift wie der ›ROLLING STONE‹ wurde denkbar, weil sie mit seriösen Anzeigenkunden rechnen konnte.« (Grasskamp 1995: 19f.)
Sowohl die sich als »semiotische Guerilla-Kämpfer« (Eco 1987/1967, Hebdige 1983) verstehenden Vertreter aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen, die als Teilkulturen, Subkulturen, Jugendkulturen (Ferchhoff 2007) und Nischenkulturen oder Szenen (Hitzler 2005) beschrieben wurden bzw. werden, als auch die daraus gespeisten Formen modischer Trends operieren nach e i n e m strukturbildenden Prinzip: der Schaffung bedeutungsvoller Unterschiede bzw. Differenzen, mit denen Verwirrung und Aufmerksamkeit erzeugt werden können. Die den sozialen beigeordneten verbalen, visuellen, klanglichen Systeme selbst stellen immer schon bestimmte Organisationsprinzipien von Differenz dar. In der Musik etwa zeigt sich solch ein Organisationsprinzip als Gefüge aus Bewegung, Zeit und Raum, aus Segmentierungen und Wiederholungen, die durch das Medium Klang repräsentiert werden. Klang an sich trägt keine Bedeutung. Erst in den historisch und sozial konkret bestimmbaren interpersonellen Kommunikationsformen manifestiert sich Bedeutung, die außerhalb entsprechender Verstehenssysteme einen anderen Sinn erzeugen kann. Die These ist, dass die zur Entschlüsselung entsprechender Codes notwendigen »Landkarten der Bedeutungen«, wie Stuart Hall schrieb (nach Hebdige 1983), das Resultat einer Auswahl aus verschiedenen kulturellen Zeichensystemen sind, die relativ zueinander in Beziehung stehen und je nach Kontext aufgegriffen, angeeignet und mit spezifischen Bedeutungen aufgeladen werden (können): »Alle Aspekte von Kultur besitzen semiotischen Wert und die selbstverständlichsten Erscheinungen können als Zeichen fungieren: als Elemente in Kommunikationssystemen, die – nicht direkt durch Erfahrung erworbenen – semantischen Regeln und Kodes unterliegen. Daher sind diese Zeichen so unverständlich wie die sozialen Verhältnisse, von denen sie hervorgebracht werden und für die sie stehen. Mit anderen Worten: Es gibt für jede Bedeutung eine ideologische Dimension: ›Das Zeichen existiert nicht einfach als Teil der Wirklichkeit. Es ist die Widerspiegelung einer anderen Wirklichkeit, wobei es diese Wirklichkeit verzerrt oder wahrheitsgetreu wiedergeben oder sie von einem bestimmten Gesichtspunkt aus wahrnehmen kann.‹ Nach Stuart Hall ›bedecken sie [die konnotativen Codes – S. B.-P.] das Gesicht des sozialen Lebens und machen es klassifizierbar, verständlich und bedeutungsvoll‹ (Stuart Hall).« (Hebdige 1983: 18)
Die Konstruktion des »anderen« als Quelle kultureller Selbstbehauptung Auch wenn es um die Wende zum 21. Jahrhundert wenig sinnvoll scheint, von Jugendsubkulturen zu sprechen, die sich über bestimmte Symbolsysteme im unmittelbaren Affront eindeutig gegen die Erwachsenenwelt und andere soziale Gruppen als soziale Kategorie definieren, weil Jugendkultur heute vielmehr in der aktiven Aneignung kommerzieller Kulturprodukte aus Musik, Mode, Film und 80
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Fernsehen, Video- und Computerspielen, MySpace etc. entsteht (Wicke 1996), haben die Strategien der Schaffung bzw. Kreation bedeutungsvoller Unterschiede keineswegs ihre strukturbildende Kraft und Bedeutung verloren. Die Unterschiede sind jedoch einerseits »feiner« und die Strategien andererseits provokanter geworden. Die kulturellen Akteure nutzen heute alle nur denkbaren Möglichkeiten, die netzartigen Verflechtungen zigfacher Abhängigkeiten irgendwie beschreibbar zu machen und sich in ihnen zu positionieren. Für erhebliche Irritationen sorgte beispielsweise Anfang der 1990er Jahre die Praktik der »Techno-Generation«, Ikons bekannter Marken, zum Beispiel Jägermeister oder Nivea, nur minimal zu verändern, um das eigene Kommunikationsmedium Flyer (Stadtmagazin im Postkartenformat) sowohl zu finanzieren, als auch zu bewerben. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts ist kaum mehr auszumachen, was als kulturelle Widerstandsstrategie verstanden werden soll und was als kommerzielles Kalkül in Marketingabteilungen der Unterhaltungsbranche konzipiert wurde. Immer deutlicher wird, dass Generationskonflikte und Widerstandsstrategien heute vor allem über die Nutzung Neuer Medien, das heißt so genannten sozialen Netzwerken im Internet, über Kompetenzdifferenzen »ausgehandelt« werden. Seit der Zeit, da alle Informationen und Symbole medial potenziell verfügbar und die Bedeutung produzierenden Allianzen verbraucht schienen, greift man zu solchen Zeichen und Bildern, die wegen ihrer geographischen, mythischen oder historischen Bezüge, zum Beispiel Symbole aus der Nazizeit, und den damit verbundenen Tabus in einem Maße provokant sind, dass ihren »Trägern« in jedem Falle Aufmerksamkeit gewiss ist. Nur starke Zeichen können Aufmerksamkeit garantieren. Die Antizipation der Erheischung von Aufmerksamkeit wird zum Motor der permanenten und mitunter »verzweifelten« Suche in den Effektenkammern der Geschichte. Die Abweichung wurde dabei wiederum zur Norm und Voraussetzung für Bedeutung produzierende Differenzen (Wicke 1999, Binas 2001a). Kurz nach Ende des II. Weltkriegs bis in die 1960er Jahre galt eher ein unmittelbares Konkurrenzprinzip, welches auf der Basis entsprechender sozialökonomischer Positionen als Alternative zu totalisierenden Auffassungen gelebt wurde. Durch die Krisen der westlichen Industrienationen, vor allem die Ölkrisen, und durch die Erschöpfung ihrer »traditionellen« Märkte seit Beginn der 1980er Jahre veränderte sich die Verwertungslogik des Kapitals zielgerichtet in eine effizienzbasierte Zielgruppenlogik. Differenz konnte darum nicht mehr als das wirklich andere fungieren, weil man angesichts der Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Gesellschaften kein wirkliches »außen« und »anderes« mehr ausmachen konnte, keine Meinung und kein Zeichen mehr ausschloss. Empathie für Transkulturelles und Hybrides Globalisierung: Die Erweiterung und Verdichtung strukturell technischer Netzwerke transportiert seit den 1980er Jahren mittels Satellitentechnik, weltweiter Luftschifffahrt und digitalisierter Kommunikation nicht mehr nur Güter und Personen, sondern in zunehmendem Maß Ströme von Bildern, Zeichen, Klängen und 81
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Kapital. Entzogen die wirtschaftlichen Dimensionen der Globalisierung – Ausdehnung und Intensivierung des zwischenstaatlichen Handels über das Errichten von Freihandelszonen und die Liberalisierung von Märkten, wachsender Einfluss transnational organisierter und operierender Unternehmen mit weltweiten Produktionsketten und der Zunahme von Direktinvestitionen im Ausland – lokalen Akteuren den Handlungsrahmen, so machten die kulturellen Dimensionen von Globalisierung auch Hoffnung auf die Pluralisierung von Meinungen und damit auf einen relativen Kulturbegriff, der ein Oben und ein Unten, Kultur und Subkultur nicht mehr kennt, sondern das Vielfältige und Hybride von Kulturen in den Vordergrund rückt. Nachdem Klassenfragen in der kulturwissenschaftlichen Diskussion in den Hintergrund getreten waren, rückten nun diejenigen nach »Ethnien«, »Sexualität« und »Religion« stärker in den Fokus. Probleme sozialer Gerechtigkeit stellten sich nicht mehr in erster Linie in Bezug auf ökonomische Verteilungsfragen, sondern konzentrierten sich auf kulturelle Machtgefälle in der Repräsentation von Ethnien, Gender, Identität und Differenz: »Heute wird soziale Gerechtigkeit nicht länger auf Verteilungsfragen beschränkt – sie schließt Fragen der Repräsentation, Identität und Differenz ein.« (Fraser 2001: 27) Fragen, die sich in der Konsequenz jedoch wieder als Fragen sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Macht entpuppten. Kulturell waren die beginnenden 1980er Jahre vor allem in den westlichen Metropolen angesichts neuer Formen der Arbeit, neuen Familienmodellen und anderen Formen von Diaspora durch eine fortgesetzte Konstruktion neuer Zugehörigkeiten und Lebensstile gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang sprach Richard Sennett (Sennett 1998) mit den Worten Frederic Jamesons (Jameson 1991) »von der ›unaufhörlichen Rotation der Elemente‹ in der modernen Erfahrung, die den verschiedenen Fenstern auf dem Computerschirm ähnelt« (ebd.: 182f.) und von der »Collage aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet – das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, ständigen Risiken entsprechen.« (Ebd.: 182) Retrospektive Stilistiken populärer Musik – zusammengesetzt aus allen möglichen Stilistiken des schon einmal Dagewesenen – kennzeichneten fortan die Konstruktionen kultureller Zugehörigkeit ebenso wie die »medial« ermöglichten Reisen in andere Welten. Dieser Prozess wurde durch verstärkte interkulturelle Berührungen, Durchdringungen und multiethnische Verbindungen in Gang gehalten und verstärkte den in den nachindustriellen Gesellschaften ohnehin bestehenden Hang zur Individualisierung und zum Entwurf flexibler, multipler Biographien. Traditionelle und ethnisch geprägte »Zugehörigkeiten« begannen sich fortlaufend zu durchkreuzen: »Marktforschungsunternehmen haben die flexibilisierten Identitäten schnell erkannt und ihre Konzepte angepasst. So erstellte die amerikanische Marktforschungsagentur ›Claritas‹ eine hoch aufgelöste Landkarte der US-amerikanischen Gesellschaft, die nicht mehr auf Her-
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Musiken der Welt – World Music – Global Pop kunft, sondern geschmacklichen Vorlieben und Lebensstilen basiert. Nun sind Amerikaner nicht mehr ›Hispanics‹ oder ›Black Americans‹, sondern gehören zu den Lebensstilkategorien ›Money & Brain‹ (wohlhabende, politisch korrekte Professionals) oder ›Rustic Elders‹ (wenig begüterte, ländliche Rentner).« (Breidenbach 2002: 3)
»Flexibilität« wurde zum Zauberwort des globalen oder – wie Peter Glotz es nannte – digitalen Kapitalismus (Glotz 2001), der eine neue Form des auf Kurzfristigkeit und Elastizität angelegten Wirtschaftens hervorgebracht hatte. Hierbei bekamen die kulturellen Transformationen und hybriden Formen gleichsam eine ideologische Legitimation, die nur umso deutlicher darauf verweist, welches die Triebkräfte derartiger Veränderungen sind – eine auf maximale Effizienz gerichtete Vorstellung des Wirtschaftens. Nichts war mehr von Dauer, auf nichts konnte man sich wirklich dauerhaft verlassen. Die traditionellen sozialen Formen wurden immer brüchiger: »Menschen werden einem ständig wandelnden Netz von Geschäftsbeziehungen unterworfen: jeder Anruf muss beantwortet, noch die flüchtigste Bekanntschaft ausgebaut werden […] Verträge sind weit gehend fiktiv […] [die] Rolle, die Menschen in Institutionen spielen, ist nicht mehr fest. […] ›Stellen‹ werden durch ›Projekte‹ und ›Arbeitsfelder‹ ersetzt. […] Ein leitender Angestellter von IBM sagte […] einmal, das flexible Unternehmen ›müsse ein Archipel verknüpfter Handlungen werden‹ […] moderne Institutionen sind selbst nicht starr und klar definiert; ihr undeutliches Wesen entsteht durch die Ablehnung jeder Routine, durch die Betonung kurzfristiger Aktivitäten, durch die Schaffung amorpher hochkomplexer Netzwerke anstelle straff organisierter Bürokratien. […] Die Risiken [trägt der/die einzelne – S. B.-P.] in einer Gesellschaft, die sowohl die Zeit als auch den Raum zu deregulieren sucht. Jeder Versuch, klare Kategorien zu dekonstruieren, sei es im Bereich der Arbeit, der Information oder des künstlerischen Stils, schafft unweigerlich Vieldeutigkeit.« (Sennett 1998: 21, 25, 27, 111)
Diskontinuität, Risiko, Vieldeutigkeit, »nirgends ankommen« und »immer wieder von vorne anfangen« – diese Erfahrungen führten aber auch unweigerlich vor allem dort, wo sie überraschend, massiv und auf wenig Erfahrung im Umgang mit entsprechenden Anforderungen stießen, zu einem immensen Potenzial an Unsicherheit, das sich auch in der Tendenz der Abschottung scheinbar »noch« homogener Kulturen gegeneinander äußerte oder mit dem Rückgriff auf reale Gemeinschaften bzw. mit dem Entwurf imaginärer Gemeinschaften versuchte, Sicherheiten zurückzugewinnen. Der kanadische Popmusikforscher Will Straw (Straw 1991) ging den Auswirkungen dieser Veränderungen auf lokale Musikpraktiken nach und konstatierte vier Merkmale von Veränderungen: • einen wachsenden Widerstand gegen die lang existierende These von der Herrschaft des angloamerikanischen Rock, seinen Musikformen, Image-Konstruktionen und dem ihm zu Grunde liegenden Band- und Starmodell;
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ein neues Interesse an der Unterschiedlichkeit und Vielfalt sich entfaltender musikalischer Praktiken in urbanen Zentren; die Aufhebung des Anspruchs an eine wie auch immer geartete »homogene« Musikkultur einer Stadt samt der Zersetzung entsprechender sozialer Einheiten, in denen sich kulturelle Auffassungen und die infrastrukturelle Basis der Musikproduktion entwickeln, reproduzieren und verändern und die Mutation so genannter Independent Labels (Indies) zu Profitzentren und Artist-and-Repertoire-Abteilungen (A&R) der international agierenden großen Tonträgerunternehmen, den so genannten Majors.
Bis Mitte der 1980er Jahre stand der Aufkauf von Indies durch Majors und die direkten vertraglichen Beziehungen zwischen beiden eher im Widerspruch zum Selbstverständnis vor allem der Indies. Das Repertoire der Indies folgte in erster Linie den Musikvorstellungen ihrer Eigentümer, deren Firmenphilosophien gründeten auf klaren Vorstellungen von Selbstbestimmung, Teilhabe und Dezentralität. Independent Labels waren vor allem aus Musikerinitiativen oder Bands hervorgegangen und verstanden sich als infrastruktureller Gegenpol zum »Big Business« der Majors. Die Indies hatten versucht, das streng arbeitsteilige Funktionsmodell der Musikproduktion mit seinen rationalisierten, hierarchisch geordneten Produktionsvorgängen zu unterlaufen, das sich ihnen in Gestalt des Hochleistungsperfektionismus der Supergroups und Stars der 1970er und 1980er Jahre als Gegenmodell darbot und von dem man sich abwenden wollte. Die Gründung vieler kleiner, zunächst unabhängiger Labels, die Eigenproduktionen und der Selbstvertrieb über lokale Radiostationen, Musiker-/inneninitiativen und der Rückbezug auf lokale Zusammenhänge und »Wurzeln« in der Auswahl musikalischer Praktiken führte in den 1980er Jahren auch zur Dezentralisierung der Musikproduktion. Aus Communities wurden Szenen (Hitzler 2005) und das Modell des »Alternativ-Rock« samt seines »sets of cultural institutions« (Straw 1991) verlor an Bedeutung. In diesem Set galten und gelten Schallplattenläden als Kommunikationszentren, und dazu zählten unabhängige kleine Labels, kleine Tonstudios, gemeinsam genutzte Probenräume, Bands und deren Tourneebetrieb, Campus-Radiostationen, Mailorder-Systeme, Fanzines. »Alternative Rock« basierte – laut Straw – auf der Kennerschaft von LP- und CD-Sammlungen, Tourneeplänen und dem Wissen um genealogische Verbindungen zwischen Bands und den sie prägenden Musikern. Zum Ende der 1980er Jahre wurde dieses Modell zunehmend überlagert von den Organisationsformen und Binnenstrukturen der »Culture of Dance Music« (ebd.) mit ihren individuellen und nicht dauerhaften Karrieren von DJs, den Clubs des Nachtlebens, DJ-Playlists, Clublabels, Flyer Markenbewusstsein, Merchandising etc. Es änderten sich die infrastrukturellen Voraussetzungen, auf denen die Werte der entsprechenden lokalen Musikpraktiken gründeten. Aus dem auf Kennerschaft, dauerhafter Zusammengehörigkeit und »harter Arbeit« im Step-by-Step-basierenden Band-Modell, und aus den Referenzpunkten des Alternativ-Rock – zum Beispiel der Psychedelic-Rock in den 1960ern, Metall in
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den 1970er und die »Dissident-Rock-Traditions« von Gruppen wie Velvet Underground – bildeten sich polyzentrisch organisierte »Archipele« und Allianzen lokaler Szenen, in denen eine Fülle musikalischer Praktiken koexistieren, die potenziell mit anderen interagieren konnten. Die Musikindustrie selbst organisierte nun ihre Talentgenerierungsstrategien nach einem anderen Modell. Zu Beginn der 1980er Jahre basierte das so genannte »Rock-Modell« auf einer Art Pyramide, an deren »Basis« die Musiker aus den lokalen Szenen standen sowie die Besitzer von Clubs und Pubs und das lokale Business. Dagegen firmierte an deren Spitze der Superstar, während es dazwischen der mühsamen Bekanntmachung durch regionale Veranstalter und Presse bedurfte, im günstigen Fall der Kenntnisnahme durch den Artist-and-Repertoire-Manager der nationalen Dependance eines weltweit agierenden Labels. Seit den 1980er Jahren schöpfte die internationale Entertainment-Industrie, die auf Fernsehen, Kino und Werbung setzte, die Trends in den verschiedenen Popkulturen auf lokaler und globaler Ebene ab und castete einen bunt gemischten Talente-Pool von Musikern, Tänzern, Models, Labels, Märkten, Ideen, Genres, Stilistiken, Clubs und Videoproduzenten (Burnett 1996). Die Szenen der »Culture of Dance Music« kultivierten, so Will Straw, einen emphatischen Begriff vom Transkulturellen und Hybriden. Sie thematisieren das gleichzeitige Existieren unzähliger lokaler und regionaler Stilistiken sowohl in »heimischen« Sounds wie zum Beispiel »Detroit-Techno«, »Miami-Bass-Style« und »Wiener Electronica«, oder – um auf ein aktuelles Beispiel zu verweisen – Netzwerken von Nischenkulturen globalen Charakters: »[A]uf der Suche nach obskuren Sounds und wenig beachteten, nahezu vergessenen Musikkulturen der Welt, […] Grenzüberschreitende Konzerte mit dem Street-leval Folk Pop von Omar Souleyman aus Syrien, der elektrisierenden Gitarrenmusik der Group Douh aus Marokko, begleitet von Subleme Frequencies DJ-Sets […].« (club transmediale 2009, Werbung für eine Veranstaltung mit der Bezeichnung »Global Alchemy«) Rock ’n’ Roller, Hippies und Punks agierten noch im Kontext des »sinnvollen« Affronts gegen eine Gesellschaft, die in Form ihrer totalisierenden, »regulierten« kulturellen Normsysteme – etwa dem Verhalten der Erwachsenen oder der Bildungs- und Erwerbstätigkeitssysteme – als Konkurrenz zwischen Gut und Böse, provokativ und konservativ, tolerant und intolerant, avantgardistisch und traditionell von Jung und Alt, weiblich und männlich erlebt und zelebriert wurde. Die Anziehungskraft des amerikanischen Rock ’n’ Roll mit seinem körperbezogenen Musizieren, der provozierenden Gebärde von Sinnlichkeit und Sexualität und der für europäische Verhältnisse der 1950er Jahre außergewöhnlichen Exotik und Erotik der »Schwarzen« stand beispielsweise im heftigen Widerspruch zur Ästhetik des traditionellen europäischen Schlagers. Wie in Amerika wurde der Rock ’n’ Roll von den Jugendlichen als eine Art Gegenwelt zu dem empfunden, was sie auf ihrem gesellschaftlichen Platz in der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaft erwartete.
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Auch die Subkultur der Hippies, die sich selbst nach dem englischen »to be hip« als »ausgeflippt« bezeichneten, um nicht als »straight«, als spießig zu gelten, stellte im Großen und Ganzen noch ein Gegenkonzept dar. Sie war die verlebendigte Ablehnung des US-amerikanischen, in den Augen der Hippies technologisch beherrschten und bürokratisch verwalteten Gesellschaftssystems, das vor allem durch den Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung und die Anti-Kommunismusdoktrin deformiert worden war. Ihre radikale Kapitalismuskritik stützten die Hippies auf die These, dass der sozialen und ökonomischen Revolution das Revolutionieren des Bewusstseins der Menschen vorangehen müsse. Darum entzogen sie sich den von ihnen als Verursacherprinzipien ausgemachten Strategien des Konkurrenzkampfes und deren Institutionen in Kommunen, die traditionell strukturierten Großfamilien nachgebildet waren; statt Zivilisation lebten sie Naturverbundenheit, die in selbst gefertigter, locker sitzender Kleidung und mit langen, offen getragenen Haaren als »Flower Power« auf den Leib geschnitten wurde; statt analytisch rationaler Vernunft bestanden sie auf unmittelbarer Kommunikation, »Love and Peace« statt Krieg. Selbst wenn die Hippie-Kultur, ähnlich wie die des Punk, immer auch Teil des Establishments war, machen Bezeichnungen wie »Gegenkultur« oder »Subkultur« für diese Zusammenhänge noch Sinn. Dies jedoch sollte sich im Laufe des ausgehenden 20. Jahrhunderts ändern. Der gesellschaftliche Strukturwandel – so argumentierte der Soziologe Richard Münchmeier (Münchmeier 1998) – erzeugte ein Konzept von »Jugend«, dass als eine eigene Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenen- und Arbeitsleben immer weniger existiert. Auf Grund der durch den »globalen Kapitalismus« (Giddens/Hutton 2001) hervorgerufenen Entmischung der Generationen (Münchmeier 1998) stand »Jungsein« von da an weniger für den Konflikt und die Abgrenzung zu den so genannten »Alten«, sondern für den Vergleich mit und dem Zugehörigseinwollen zu Gleichaltrigen. »Jugend ist der Maßstab für Jugend« (Münchmeier 1998: 4). »Jugend« blieb seit den 1990er Jahren bei aller Ausdehnung in die Kindheit (Mediengebrauch) und die Welt der Erwachsenen – die nicht mehr alt werden wollten – »unter sich«. Damit veränderte sich auch der psychologische Prozess der Identitätsbildung und -konstruktion. Die Reibungsflächen mit der Welt der Erwachsenen, etwa deren Verhältnis zum Besitz, verschwammen und verloren als Projektionsflächen aggressiv vorgetragener Angriffe auf die jeweils andere Generation an symbolischer Kraft. »Wir profitieren von der Toleranz unserer Eltern« (Berger/Festenberg/Mohr 1999: 101). Bei einer Elterngeneration, der die Distanz zu den Intoleranten die zentrale Kategorie war, musste diese Äußerung sichtlich Verwirrung stiften (Binas 2000). Die Ressourcen für das häufigen Veränderungen ausgesetzte Anderssein in dieser Lebensphase gab nun verstärkt entweder die »Freizeit-Industrie« als Differenzerzeugungs- und -ausbeutungsmaschine selbst vor, oder es bedurfte erheblicher Anstrengungen und detaillierter Nuancierungen und Konstruktionen von Ver-
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schlüsselungen, um sich – wenn überhaupt erwünscht – selbst als »Alternative« zu artikulieren und zu begreifen. Vor dem Hintergrund dieser kulturellen und sozialpsychologischen Veränderungen, lässt sich das seit den 1990er Jahren wachsende Interesse am klanglichen Repertoire traditioneller und »nichtwestlicher« Kulturen besser verstehen und einordnen: nicht als modische Attitüde, sondern eher als eine letzte Möglichkeit, »unverbrauchten« Ressourcen nachzuspüren und sie als Medium des Andersseins zu repräsentieren. Angesichts einer sich zunehmend fragmentarisierten Welt nahmen die Sehnsüchte nach Ganzheit und unmittelbarem Erleben zu. 2.1.2 KULTURELLE DURCHDRINGUNG ALS H OFFNUNG AUF SYNTHESE UND GANZHEITLICHKEIT »Music is a universal language, it draws people together and proves, as well as anything, the stupidity of racism.« (Peter Gabriel 1992: 5)
Musik die verständlichste Sprache der Welt Bei aller Unbeliebtheit totalisierender Bewertungsmuster in den Diskursen (der Postmoderne) schienen die populären Kulturproduktionen zunehmend von »einer seltsamen Nostalgie für die Totalität« (Erlmann 1995: 16) gekennzeichnet. Die auf intellektueller Ebene längst als Meta-Geschichten abgelehnten Vorstellungen von Ganzheit, Geschichte, Harmonie und narrativer Struktur sind wohl nirgends so präsent, wie in den kommerziell produzierten Bildern vom Globalen und treffen dabei auf ein Publikum, das nichts so sehr schätzt wie die Angebote der »Verzauberung«, den Mythos vom Einklang, dem großen Ganzen und die überschaubaren schönen Geschichten. Auch gehören die Proklamationen von Musik als der verständlichsten Sprache der Welt nicht nur im Kontext populärer Musik seit längerem und immer wieder zu den beliebtesten. Führen kulturelle Durchdringungen, semiotische Strategien des Transfers oder Bricolage-Techniken zu kulturellen Mustern, die in verschiedenen Verstehenszusammenhängen die gleiche Bedeutung tragen können? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Frage nach dem »Archetypischen« von Musik? Welche Geschichten und Dispositive sprechen Menschen weltweit an? »Es gab nur immer die Musik eines bestimmten Milieus, einer Schule, eines Volkes […] Sie ist im Grunde genommen nicht restlos übersetzbar, denn sie stößt auf verschiedene Perzeptionshaltungen, Gewohnheiten, Traditionen, verschiedene auditive und begriffliche Interpretationen, in einem ihr fremden Milieu gelangt sie in ein anderes semiotisches Feld.« (Lissa 1972: 22)
Schon dieses Erklärungsmodell relativiert den Mythos von der verständlichsten Sprache der Welt, der Musik. Es verweist auf verschiedene Interpretationsmodelle, 87
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andere semiotische Felder, die an bestimmte Milieus und Kulturen gebunden sind. Kann Musik nur in geschlossenen kulturellen Systemen verstanden werden, muss sie überhaupt verstanden werden, oder war Anfang der 1970er Jahre eine Aussage wie die von Sophia Lissa eher den ideologischen Barrieren und Auseinandersetzungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme geschuldet denn der theoretischen Erörterung des konfliktreichen Zusammenhangs von universalistischen und relativistischen Erklärungsmodellen? Ob ihrer Begriffslosigkeit scheint Musik sich leichter zwischen verschiedenen Kulturen zu bewegen, als verbale Texte dies zum Beispiel können. Wahrscheinlich treffen wir deshalb in den verschiedensten Zusammenhängen des Musiklebens immer wieder auf Verlautbarungen, die Musik als die verständlichste Sprache der Welt deklarieren, eine Welt-Sprache, die der Übersetzung nicht bedarf und damit scheinbar hervorragend geeignet sei, transkulturelle Begegnungen zu initiieren. »Die Musik gehört zu jenen Kunstformen, die die Fähigkeit besitzen, Grenzen zu überschreiten sowie politische und sprachliche Barrieren zu überwinden. Musik und musikalische Aufführungen kennen keine Grenzen; sie sind weltweit der vollkommenste Ausdruck für Menschlichkeit und Kreativität.« (Witte 1992: 9) Mit diesem Bekenntnis zur Universalität und Allgemeinverständlichkeit von Musik eröffnete der Bevollmächtigte für kulturelle Angelegenheiten des Außenministeriums der BRD Dr. Barthold C. Witte im Jahr 1992 eine Konferenz zum Thema »World Music, Musics of the World: Aspects of Documantation, Mass media and Acculturation«. Das dieses Ereignis mittlerweile einige Jahre zurückliegt, mindert keineswegs den Aussagewert des Zitierten, man trifft auch heute noch auf vergleichbare Worte zu ähnlichen Gelegenheiten. Dass der Initiator jener Tagung – das Internationale Institut für Traditionelle Musik unter Leitung von Prof. Dr. Max-Peter Baumann – im Jahr 1997 den Sparzwängen des Berliner Kultursenats zum Opfer fielen, gehört auf den ersten Blick nicht in das angesprochene Szenario, auf den zweiten aber sehr wohl, handelt es sich doch wahrscheinlich eher um politisch-ideologisch motivierte Aussagen aus den Sonntagsreden wohlmeinender Politiker, als um wissenschaftlich haltbare Aussagen. »Vom Leiter eines deutschen Kulturinstitutes in einem westafrikanischen Land wurde mir [gemeint ist Gerhard Kubik (Musikethnologe) – S. B.-P.] einmal erzählt, wie eine ganze Schulklasse beim Konzert eines klassischen Streichorchesters immer dann in brüllendes Lachen ausbrach, wenn die todernsten Interpreten pizzicato spielten.« (Kubik so zitiert bei Kopiez 2004: 50) Musikpsychologen – wie Reinhard Kopiez – gehen davon aus, dass es ein voraussetzungsloses Musikverstehen nicht gibt, dass sich selbst vermeintlich »sicher« gehaltene Wahrnehmungsgesetze schließlich als kulturabhängig erweisen können. Als universell erweisen sich lediglich so allgemeine Mechanismen wie die der Kategorisierung, der Generalisierungen und der Invariantendetektion. Dabei handelt es sich um musikunspezifische, allgemeine Gestalterkennungs- bzw. Wahrnehmungsmechanismen, wie man sie als so genannte Phonationsprinzipien aus der Biokommunikation kennt: Stimmfühlungsrufe, tiefe Frequenzen beim Warnstatus, Defensivlaute, Un-
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terwerfungslaute, Ruflaute. Die Prozesse der Gestaltwahrnehmung sind abhängig von Lernprozessen, also immer auch von kulturellen Lernprozessen. Wahrnehmung ist kein passiver, sondern ein konstruktiver Vorgang, abhängig von unseren Interessen und Motiven und damit ist Wahrnehmung immer auch Teil von kultureller und gesellschaftlicher Praxis von Menschen. Was Menschen für ästhetisch sinnvoll oder sinnlos (angenehm oder unangenehm, gehaltvoll oder belanglos, geil oder langweilig) erachten – was sie verstehen – lässt sich nur über kulturell geprägte Sinne kommunizieren, weil es im Gehirn auf die entsprechenden kognitiven »Landkarten« trifft. In dieser Hinsicht ist Musik abhängig von sozialen, kulturellen und auch ökonomischen Dispositionen der handelnden Akteure. Verstehen ist hier nicht im Sinne des Erkennens einer intendierten Bedeutung von musikalischen Parametern gemeint, sondern als sinnvolles Handeln im Rahmen einer kommunikativen Situation, die durch Klang vermittelt und als Musik gedeutet wird. Musik – k e i n e Weltsprache? Mehr noch als Bilder oder Worte sei Musik ohne Worte und Konventionen in der Lage, Grenzen in Raum und Zeit zu überwinden, Nähe und Unmittelbarkeit herzustellen. Karl Heinz Stockhausen kommentierte seine Anfang der 1970er Jahre uraufgeführte Komposition Telemusik: »[N]icht meine Musik zu komponieren, sondern eine Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen […] Telemusik ist keine Collage mehr. Vielmehr wird – durch Intermodulation zwischen alten, gefundenen Objekten und neuen, von mir mit modernen elektronischen Mitteln geschaffenen Klangereignissen – eine höhere Einheit erreicht: Eine Universalität [Hervorhebung wie im Original] von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von weit voneinander entfernten Ländern und Räumen […].« (Stockhausen 1971: 75f.)
Der Traum von der grenzenlosen Verständigung mittels Musik – er prägt nicht nur Kompositionskonzepte, sondern schmückt CD-Cover, inspiriert Eröffnungsredner und Werbestrategen, ob »One World – One Music« als Slogan von MTV oder als Statement international bekannter Komponisten aus dem Bereich der so genannten Neuen Musik oder auch der populären Musik. Das diesem Kapitel vorangestellte Zitat des britischen Popstars Peter Gabriel auf die Frage nach seinen Motiven zur Gründung des WOMAD (World of Music and Dance) Festivals und Unternehmensgeflechtes folgt einer vergleichbaren Argumentation. Differenzproklamierungen und Vorstellungen des Grenzenlosen – beide Argumentationen werden in diesen Fällen vor allem strategisch eingesetzt. In letzter Konsequenz zielen sie auf wirtschaftlichen, politischen und künstlerischen Erfolg. Neben diesen Argumenten sei an Phänomene erinnert, die zu Ende der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf einen toleranten Umgang unter Menschen mit Hilfe bestimmter musikalischer Praktiken angesichts der »Fundamentalkrise postmoderner Gesellschaften« (Stroh 1994) gerichtet waren. In den 1990er Jahren existierten in Deutschland eine Reihe von Musikangeboten wie Trommelkurse und Rhythmik-Workshops, »Braintechnologie«, esoterische Verlage, Zeitschriften und Labels. Ihre Protagonisten wollten mittels Musik:
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit »neue Erfahrungen vermitteln, die auf eine Tiefenschicht des Menschen verweisen, die transkulturell, d. h. allgemein menschlich [nicht an bestimmte ethnische, kulturelle oder regionale Kontexte gebunden – S. B.-P.] ist. Im Hören auf Fremdes können die Mitteleuropäer im toleranten, offenen Dialog solche neuen Erfahrungen machen. Diese Musik ist funktional und überschreitet zugleich alle Grenzen ihrer ursprünglichen Funktion.« (Stroh 1994: 319)
Dieses Konzept bezog sich auch auf Annahmen des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung, der davon ausging, »dass zum Beispiel die Mythen und Märchen der Weltliteratur bestimmte, immer und überall wieder behandelte Motive enthalten. Diesen selben Motiven begegnen wir in Fantasien, Träumen, Delirien und Wahnideen heutiger Individuen. Diese typischen Bilder und Zusammenhänge werden als archetypische Vorstellungen bezeichnet. […] Sie sind eindrucksvoll, einflussreich und faszinierend. Sie gehen hervor aus dem an sich unanschaulichen Archetypus, einer unbewussten Vorform, die zur vererbten Struktur der Psyche zu gehören scheint und sich infolgedessen auch überall als spontane Erscheinung manifestieren kann.« (Jung 1972: 32, zitiert ebd.: 322)
Ihre Faszination entfalten entsprechende Perspektiven immer dann, wenn die Ängste von Menschen, auch in konkreten kulturellen Zusammenhängen, andere Erklärungsmodelle und Handlungsstrategien obsolet machen. Es sind die verschiedenen Disziplinen der Psychologie und Sozialwissenschaften, die letztlich immer auf eines reagieren: die Krisen der Moderne. In seinen Überlegungen zu den objektiven Bedingungen der Entstehung sozialpsychologisch ausgerichteter Bedürfnisse nach kulturellen Formen, die wie zum Beispiel bei »New Age« ein transkulturelles Moment ins Zentrum ihrer Gestaltbildung und »Philosophie« stellen, erklärte Wolfgang Martin Stroh: »Die Grundmaxime der Moderne war, dass die Menschheit summa summarum eine fortschrittliche Entwicklung durchmacht – hin zu mehr Naturbeherrschung, zu mehr individueller Freiheit, zu mehr Humanität, Demokratie, Sozialverhalten, zu mehr Selbstbestimmung, Wohlstand und Friedfertigkeit. […] Es ist heute […] kaum mehr möglich, daran zu glauben, dass die Fortschrittsmaxime noch gilt und unser Handeln bestimmt. Keines der großen Globalprobleme der Menschheit ist mit Mitteln, die der wissenschaftlich technische Fortschritt hervorgebracht hat, zu lösen (unabhängig von der Frage, inwieweit die heutigen Globalprobleme sogar ein Produkt des wissenschaftlich technischen Fortschritts sind. […] Politik, Kultur und Wissenschaft sind in den postmodernen Gesellschaften im Wesentlichen damit beschäftigt, die Unlösbarkeit von Globalproblemen zu verwalten und damit die Zweifel an der Gültigkeit der Fortschrittsmaxime zu verdrängen. Nach Tschernobyl wurde […] nicht das Atomprogramm in Frage gestellt, sondern die Effektivität der Messstellen, die die vorhandene Radioaktivität messen sollen. Dadurch wird ein Kreislauf der Handlungsunfähigkeit am Laufen gehalten, der zu einem neuen Grundbedürfnis führt: dem Bedürfnis, diesen Kreislauf der Handlungsunfähigkeit aufzubrechen. Denn die Verdrängung schafft zwar eine ge-
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Wiederum stellt sich die Frage, welche sozialen und psychologischen Zustände die fortschreitende Industrialisierung, Rationalisierung und Arbeitsteilung hervorgebracht hat. »Schon die Kritik der Romantiker [gemeint ist hier die literarische Romantik des ausgehenden 18. Jahrhunderts – S. B.-P.] richtet sich gegen das analytische, zergliedernde und zerteilende Denken, das die lebendigen Strukturen und Zusammenhänge tötet, sie trifft die ›normative Gesinnung‹ (E. T. A. Hoffmann), das kalkulierbare Denken, die Rechenhaftigkeit, die Seelenlosigkeit, die Leb- und Lieblosigkeit – kurzum: das moderne Rationalitätsprinzip, und zwar sowohl in seiner theoretischen, wissenschaftlich technischen wie in seiner praktischen, moralisch gesellschaftlichen Ausprägung als ›Maschinenstaat‹ oder ›Philistertum‹.« (Klinger 1995: 84)
Das Glück ist körperlich Unterstützt wird die Annahme von der verständlichsten Sprache der Welt durch die von einigen Autoren vermuteten, vor allem im Alltagsbewusstsein präsenten Vorstellungen, Musik sei wegen ihrer an allgemeine menschliche Körperfunktionen gebundenen Eigenschaften wie dem Puls, periodisch wiederkehrender Funktionen, der Atmung und energetischer Potenziale ein kulturübergreifender, archetypischer Handlungs- und Erfahrungsraum. »Pulsationen, Zyklen und die rhythmische Bewegung in den Zwischenräumen sind die drei fundamentalen Ebenen des Rhythmus, die alle Völker auf gleiche Weise und unabhängig voneinander in ihrer Musik realisiert haben. Denn diese musikalischen Ebenen sind Spiegelbilder von Schwingungsgesetzen und Naturrhythmen, in denen und mit denen alle Menschen leben. Auf dem Fundament dieser drei Ebenen hat jeder Kulturkreis seine eigene Vielfalt an Rhythmen entwickelt.« (Flatischler so zitiert bei Stroh 1994: 322f.)
Stroh gab allerdings zu bedenken, dass trotz aller Appelle an das kulturell Übergreifende dessen praktische Versuche der Umsetzung dieses Konzeptes eher den Eindruck hinterließen, dass er »den ›vergessenen‹ Rhythmus nicht nur hervorholt, sondern in genau abgezirkelten Schrittfolgen und Handbewegungen gleich wieder kulturell zähmt« (Stroh 1994: 325). Tatsächlich spielen die affektiven Muster der Klangbewegung von Zeit im Raum, die in jedem System klanglicher Differenzen von Musik vorkommen, im 91
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Verhältnis zu den kognitiven Mustern semantischer Systeme, die auf gesellschaftlichen Verabredungen basieren, eine wichtige Rolle. Intuition und Gefühle sind Quellen der kommunikativen Potenz von Musik (Giles/Shepherd 1988: 17). Affektive Muster, könnte man meinen, tragen archetypische Züge, weil sie kulturübergreifend anthropologische Konstanten menschlicher Daseinsformen darstellen, affektive Muster an die Körperlichkeit appellieren und den Bewegungsapparat des Menschen dominant machen. In diesem Zusammenhang sei jedoch auf den Hinweis von Kopiez verwiesen, der diese Form der (affektiven) Musterbildung eher als musikunspezifische, allgemeine Gestalterkennungs- bzw. Wahrnehmungsmechanismen klassifizieren würde. Eines aber bleibt im Kontext musikalischer Praktiken bemerkenswert, sie sind und bleiben an unseren Körper gebunden. Eine derartige Verbindung von Klanggeschehen und Körper kennt kein Äquivalent im Tierreich. »Das Glück ist körperlich« (Schütz 1991) überschrieb Volker Schütz einen Aufsatz zur Genese, Form und Funktion von Rocktanz und Rockmusik. Kaum ein Autor, der sich mit den Formen populärer Musik der vergangenen Jahrhunderte befasst hat, verzichtet auf die Analyse und Darstellung des Zusammenhangs von Körper, Bewegung, Klang und Rhythmus: »[S]chon damals [1970er Jahre – S. B.-P.] schossen die neuen Tanzpaläste nicht deshalb aus dem Boden, weil die Leute nach Zentren einer neuen Gesprächskultur suchten. Sie wollten tanzen. Und so bestand bereits beim Disco-Dancing der Sinn darin, am eigenen Körper die Synthese von Licht und Ton zu spüren, zu erleben, wie Lichtanlagen den Raum aufzulösen schienen und Schallwellen den Körper schon von allein vibrieren ließen.« (Klein 1999: 137)
Auch Peter Wickes Publikation »Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik« ist konsequent entlang eines seines Erachtens konstitutiven Momentes sozialer Aneignung von Klang geschrieben: der Bedeutsamkeit von Körper, Lust, Bewegung und Klang. Im Beitrag »Into the Groove« erinnert der Autor an den Stellenwert von Körper-Lust-Bewegung und Klang zu Beginn der Technound Rave-Ära Ende der 1970er Jahre: »In den New Yorker Gay-Clubs […] war Levan […] einer der ersten DJs, der seine MusikMixtur ganz auf die Wechselwirkung von Klang, Chemie und Bewegung abstellte. Er ging mit fast wissenschaftlicher Gründlichkeit vor, um die Wirkung der verschiedenen Klangregionen auf die Tänzer zu erkunden. Dabei fand Levan immer neue Tricks, mit denen er aus den Scheiben heraus holte, was an Energie in ihnen steckte. […]. Er erschloss ein noch unbekanntes Terrain, auf dem Rhythmus, Klang und Körper eine Symbiose eingingen, die zwischen dem Bewusstsein der Tänzer und ihren Körpern einen Keil trieb. Gleichsam neben sich stehend und doch bei sich seiend entdeckten sie den Körper als eine Ressource, dessen Energien durch Musik wie durch einen Transformator in die Höhe getrieben werden konnten.« (Wicke 1998: 276)
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Auf welche Weise »das Glück« rhythmisch erzeugt werden kann, ist dennoch meines Erachtens eine Frage der kulturell disponierten Systeme von Differenz und Körperauffassungen. So konnte der schon erwähnte Afrikanist und Musikethnologe Gerhard Kubik nachweisen, dass die metrische Polyphonie, wie sie in einigen westafrikanischen Rhythmen vorkommt, von »Nichtwestafrikanern« vor dem Hintergrund ihrer vertikal orientierten Rhythmusauffassungen als synkopierte, als OffBeat-Form wahrgenommen wird. Von denjenigen aber, die entsprechende Formen in Westafrika selbst als Teil ihrer musikalischen Alltagspraxis verwenden, werden diese Rhythmen horizontal, als nacheinander einsetzende Rhythmusfiguren erlebt, die in ihrer Synthese polyphon wirken. Unterschiedliche kulturelle Erlebens- und Verstehenssysteme deuten also ein und denselben Rhythmus verschieden. Einen »kulturlosen« Körper und dessen Rhythmen gibt es nicht, weil – so das Autorenteam Ute Bechdolf und Monique Scheer (Bechdolf/Scheer 1998) –, »die unmittelbaren sensorischen Eindrücke, die der Körper dem Gehirn vermittelt, sinnlos [sind] ohne die Deutungsmuster, die Kultur liefert« (ebd.: 11). Dies gilt auch und gerade für den Körper als quasi vorkulturellen und »natürlichen« Ort von Sexualität, Fortpflanzung, Lusterzeugung und der Triebe. »Das Tanzen [zu Musik – S. B.-P.] reproduziert kulturelle Muster, indem es sie über ein scheinbar unbedeutendes soziales Handeln in die Körper einschreibt. […] In seiner Funktion als Ausgleich zum Alltag wird um das Tanzen herum in verschiedenen Abstufungen und auf unterschiedliche Weise eine Gegenwelt konstruiert. Das kann [auch] dadurch geschehen, dass eine andere Kultur zum Vorbild wird.« (Ebd.: 13)
Besonders im Kontext der Systematischen und Vergleichenden Musikwissenschaft wird nach Erklärungsmodellen gesucht, die den Zusammenhang von biologischen und kulturell bestimmten Determinanten der Klangerzeugung und -wahrnehmung aufgreifen, hinterfragen, problematisieren oder plausibel machen. Theorien der wechselseitigen Beeinflussung dieser Faktoren können hier nicht weiter verfolgt werden, werden in ihrer Bedeutung für die Auseinandersetzung der Musikforschung mit den Musiken der Welt in Kapitel 2.3.2 jedoch aufgegriffen. Die ästhetischen Erfahrungen der Performance haben insbesondere in den letzten Jahren in den kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen starken Widerhall gefunden. Hervorgehoben seien in diesem Zusammenhang insbesondere die Überlegungen der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte (FischerLichte 2004). Ihr theoretischer Ansatz – die synästhetische Affizierung eines »embodied mind« (verkörperten Geistes) – kann für die Forschungen von populärer Musik von Interesse sein, weil er sich jenseits der im Zuge von »instrumenteller Vernunft« eingeführten dichotomen Konstrukte von Körper und Geist, Material und Bedeutung, Produzent und Rezipient bewegt.
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Europäische Kunstmusik als Weltmusik Leider entpuppen sich einige – nicht alle – Konzepte der Hoffnung von Musik als der verständlichsten Sprache der Welt, einer »Sprache«, die auf Synthese und Ganzheitlichkeit gerichtet ist, im Kern als Verallgemeinerungen eines sich als universell begreifenden Musikverständnisses europäischer Kunstmusiktraditionen. Einer der heftigsten Kritiker dieses Anspruches – der 1962 in Bombay/Indien geborene Komponist Sandeep Bhagwati - er lebte seit seinem fünften Lebensjahr in Europa und wurde 2007 als Professor für Komposition nach Montreal in Kanada berufen - kommentierte die weltweite Begeisterung für »klassische« Musik einmal folgendermaßen: »Wenn die Berliner Philharmoniker in Japan Bruckner aufführen, kommen sie sicherlich unmittelbarer an, als wenn Günter Grass dort eine Lesung aus einem seiner Romane präsentieren würde. Auch wenn ein balinesisches Gamelan-Ensemble hier [in Deutschland – Einfügung S. B.-P.] spielt, berührt uns das ganz ohne Übersetzung mehr als ein Vortrag in einer der indonesischen Sprachen. Aber schon der zweite Fall zählt für die meisten der Festredner nicht zu ihrer Vorstellung von der ›Weltsprache Musik‹. Normalerweise meinen sie damit die Tatsache, dass auch junge Koreanerinnen Mozart geigen und man ein internationales Jugendorchester zusammenstellen kann, das in friedvoller Zusammenarbeit Brahms spielt. In der ganzen Welt füllen europäische Orchester die Säle und ernten begeisterten Beifall. Das ist lobenswert, aber aus der Perspektive anderer Länder und Musikkulturen ist die ganze Sache nicht so harmlos, wie sie Europäern scheint. Sie fragen sich, ob die Musik nicht vielleicht aus denselben Gründen eine ›Weltsprache‹ ist wie Englisch oder Französisch es sind, Überbleibsel alter Kolonialstrukturen, Begleiterscheinungen neuer wirtschaftlicher Abhängigkeiten.« (Bhagwati 2004)
Bhagwati stellte sich die Frage, wer eigentlich behauptet, dass Musik eine Weltsprache sei, wessen Musikverständnis verallgemeinert wird bzw. welcher Diskurs über Musik sich universell aus welchen Gründen verankern konnte (siehe dazu auch Binas-Preisendörfer 2008). Offenkundig existieren in dieser Hinsicht weit reichende Traditionen: »In einem der letzten Berichte der deutschen Neuguinea-Forschungsexpedition wird der Freude jener Wilden an unseren modernen Musikinstrumenten gedacht. […] Leider war kein Händler im Gefolge unserer Forscher: er hätte sicherlich gute Geschäfte machen können, […] vor allen Dingen mit phonographischen Apparaten. Und er hätte damit auch der Wissenschaft und Kultur gedient und nicht bloß den eigenen Säckel gefüllt. Denn ich stelle mir vor, dass diejenigen phonographischen Apparate, die wir jenen Wilden verkaufen wollen, zunächst jene Musik und Sprache wiedergeben werden, die ihnen sympathisch und verständlich sind; weil sie aus ihrem Kreise heraus wuchsen. Wir müssen also vor allen Dingen ihre Singweisen aufnehmen, wie sie ihnen bei Freud und Leid gelten und nebenher dann allgemach den Sinn auch für Besseres erwecken, andere Musik einlegen, stufenweise zu Höherem fortschreiten.« (Paul 1913: 22)
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Auch wenn der Autor dieses Berichtes davon ausging, dass man unter kaufmännischen Gesichtspunkten sehr wohl erst jene Musik aufnehmen sollte, die dem »Verstehenssystem« der anzusprechenden Käufer entspricht, also die ihnen verständliche Musik und Sprache, so schwingt der imperiale Gestus der Veredlung im Hinweis auf das »Einlegen« jener Musik mit, von der er glaubt, dass sie das Allgemeine und das Höhere verkörpere. Langfristig gehe es darum, die Differenz auszulöschen und das eigene Verstehenssystem zu verallgemeinern bzw. zur Messlatte für alle anderen zu machen. Sicherlich spricht hier vor allem der Geschäftsmann, es spricht aber auch der »weiße Eroberer«, der sich auf die universelle Gültigkeit eines ethnozentristisch und ökonomisch gewendeten Humanismus beruft. Eine vergleichbare Position »universalistischer Stärke« vertrat der österreichische Musikwissenschaftler Kurt Nemetz-Fiedler, der in einer Schrift aus dem Jahr 1968, von der »als Tatsache gegebenen europäischen Musik als Weltmusik« (Nemetz-Fiedler 1968: 211) ausging, »die aufgrund ihrer Durchsetzungskraft berufen zu sein scheine, als Modellform zu fungieren« (ebd.: 211). Kurt Nemetz-Fiedler nannte als Gründe, die seines Erachtens zur Auf- und Übernahme artifizieller Traditionen europäischer Musikformen auf der ganzen Welt führten, die entwickelte Mehrstimmigkeit und die zentrale Bedeutung der Teiltonreihe, die auf einem Naturphänomen beruhe. Bezeichnenderweise fielen aus diesem Deutungsmodell all jene Phänomene weltweit existierender artifizieller Traditionen heraus, die zum Beispiel nicht auf dem Prinzip der Teiltonreihe basieren und die sich außerhalb des klassischen Kanons vom Schönen und Guten befinden – also auch ein Großteil der im 20. Jahrhundert entwickelten Kompositionsprinzipien und Erweiterungen des musikalischen Feldes in Europa und Nordamerika: »Warum sollte die Sehnsucht nach dieser höchsten dem Menschen erreichbaren künstlerischen Vollkommenheit also nicht in den Eliten aller Rassen und Völker vorhanden sein?« (Nemetz-Fiedler 1968: 212) Einmal abgesehen davon, dass wohl kein Wissenschaftler – auch kein Musikwissenschaftler – heutzutage mehr von »den Eliten aller Rassen und Völker« sprechen würde, verdeckt diese Argumentation die eigentlichen Gründe für jene offenbar so bereitwillige Auf- und Übernahme der hier zum Modell für alle anderen Musikformen erklärten artifiziellen Formen europäischer Traditionen. Einer der Gründe dürfte in dem auf Schriftlichkeit und Notation beruhenden Geschichtsverständnis europäischer Kunstmusikformen liegen. Oral tradierte (Musik-)Kulturen – also solche, die keine schriftlichen Artefakte hinterlassen haben – galten bei Historikern als quasi geschichtslos, nur Schriftkulturen hätten eine Geschichte. Kognitive Außenspeicher (Papiergewordene Musik als wichtigste Quelle der Analyse und Auseinandersetzung) hingegen galten als Garant für Geschichte und Tradierung von Werten. Die europäische Musikgeschichte ist ohne die Erfindung und Verallgemeinerung des schriftlichen Außenspeichers – Notation – der darauf fußenden Komposition als Erfindung am Schreibtisch und deren Hervorbringern (Schöpfern), den Komponisten und insbesondere den mit der Vermittlung von Notation, Komponist und Werk befassten Institutionen (ab Mitte des 18. Jahrhunderts
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den Verlagen, Konzertvereinen, Konzerthäusern, Agenten, Intendanten, Interpreten, Orchestern) nicht denkbar. Musikphilosophie, Musikwissenschaft, Konservatorien, Musikhochschulen und Musikpolitik wurden schließlich zu Trägern entsprechender Diskurse, auch denjenigen von »Musik als verständlichster Sprache der Welt«. Chinesische Musikkulturen kannten lange vor dem 12. Jahrhundert Formen der nachträglichen Verschriftlichung. Anders als beispielsweise die Quadratnotation der römischen Choralnotation (ab ca. 11. Jahrhundert) wurde in den chinesischen Notationen jedoch keine präzise graphische Definition eines singulären Tonortes vorgenommen. Es handelte sich eher um Lautschriften. Die Projektion von konkreten Tönen in die Horizontale und Vertikale war ihnen fremd ist. Das Besondere des europäischen Notationssystems besteht in der Möglichkeit, bereits auf dem Papier – quasi beim Schreiben in einer Art Koordinatensystem – musikalische Formen und Verläufe zu erfinden, zu bearbeiten bzw. mit ihnen zu experimentieren. Graphisch vermittelte Entscheidungsstrategien bestimmen den Kompositionsprozess (vgl. Kaden 1993). Der vom Klanggeschehen abstrahierende Außenspeicher wurde so zum wichtigsten Arbeits-, Vermittlungs- und Memorierungsinstrument. Als Grundlage der Auf- und Wiederaufführung wurde er gleichsam im Verlauf des 18. Jahrhunderts – einer Zeit, die man als Verbürgerlichung des europäischen Musiklebens bezeichnen kann – zum zentralen Tauschobjekt und Beleg von Autorbzw. Urheberschaft. Notation und Werk, Schöpfertum und Originalität wurden verallgemeinert und erlangten im Kontext der europäischen Traditionen artifizieller Musik universelle Bedeutung. In ostasiatischen Kulturen sind – entgegen der westlichen Perspektive von Schöpfertum und Originalität – »Verfahren der Wiederholung, Paraphrase, Imitation und Kopie tendenziell nicht pejorativ besetzt […]; sie genießen einen Status der Selbstverständlichkeit. […] Welch relative Indifferenz gegenüber den Kategorien von ›Originalität‹, ›Authentizität‹ und ›Urheberschaft‹ als absoluten Wertansprüchen in der ostasiatischen Kultur herrscht, welch wichtige […] Funktion dem Zusammenspiel von Vorgefundenem und Neugefundenen zukommt« (Mersmann 2004: 225),
kann man vielleicht mit Blick auf die berühmte Terracotta-Armee des ersten Kaisers der Qin-Dynastie belegen, mit den Verfahren der Kalligraphie, den hundertarmigen und hundertköpfigen Buddhafiguren, der chinesischer Schrift oder Porzellanmalerei. Aus ostasiatischer Perspektive bemisst sich die »Größe« und »Mannigfaltigkeit« eines »Werkes« an der Güte technischer Reproduktion, nicht an der Originalität künstlerischer Produktion, Innovation oder Erfindung. Wer diese Sichtweise ernst nimmt, muss den Status westlicher Musik im ostasiatischen Kontext relativieren bzw. anders bewerten. »Wir« – die Westeuropäer und ihre Kultur – sind sowohl das andere als auch einfach nur ein transplantiertes Modul. Wir – bzw. Teile unserer europäischen Kultur – wurden schlichtweg einverleibt, und zwar nicht auf
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der Basis »unserer« Vorstellungen und Maßgaben, sondern nach dem Prinzip der Werthaltigkeit der technischen Reproduktion, unabhängig von Schöpfungsmacht und Ursprung. Neben dieser Erklärung aus den Perspektiven divergierender Kulturverständnisse, die offenkundig zu wechselseitigen »Einverleibungen« führen können, dürfen ökonomische und politische Interessen als Ursachen der Behauptung »Musik sei die verständlichste Sprache der Welt« nicht vernachlässigt werden. Viele Argumente zu Gunsten von Allgemeinverständlichkeit und universeller Gültigkeit kommen im Gewande des »Schönen und Guten« daher, entpuppen sich im Kern jedoch als Interessengeleitete Argumente im kulturpolitischen oder ökonomischen Raum um Anerkennung, Einfluss und Macht. »Im Jahre 1876 […] findet auf der internationalen Jahrhundertausstellung in Philadelphia die größte Ausstellung von Klavieren statt, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Auch eine Delegation aus Japan war dort. Drei Jahre später entschied die Meiji-Regierung, einen Vorrat von Klavieren und Flügeln zu kaufen, um sie in Japan nachbauen [Hervorhebung S. B.-P.] zu lassen. Die Entscheidung war als Teil einer Erziehungspolitik gedacht, die dieses Instrument zur Grundlage künftiger, am Westen orientierter Musizierpraxis in Japan machen sollte. […] Die Entscheidung der Meiji-Regierung ist gleichzeitig die ökonomische Basis für gigantische Entwicklungen in der Herstellung von Instrumenten.« (Schmitz 2000: 211f.)
Aneignungsstrategien nach ostasiatischem Muster und die Repräsentation von Differenz könnten entscheidende Motive für die Popularität europäischer Kunstmusik und der Berliner Philharmoniker in Japan oder Südkorea sein!? Erich Moritz von Hornbostel, der im geistigen Klima des beginnenden 20. Jahrhunderts eher universalistische denn relativistische Auffassungen in Bezug auf den Vergleich von Musikformen verschiedener Regionen der Welt vertrat (vgl. Kapitel 2.3.2), äußerte 1911, so zitiert bei Ingrid Fritsch (Fritsch 1981: 272): »Eine Universalmusik aber, die der tönende Ausdruck des ›Allgemein-Menschlichen‹ wäre und der man mit gleichem Entzücken in der Fifth Avenue und in der Kalahari lauschen würde, kann durch keinerlei Reformen angebahnt werden, sondern wird immer eine wirklichkeitsfremde Utopie bleiben. Auch würde sie besser zum Schreckgespenst taugen als zum Ideal.« (Hornbostel 1911: 67f.)
Jedenfalls werden heutzutage weltweit sowohl verschiedene Formen so genannter klassischer als auch populärer Musik gehört, die sich – jeweils für sich genommen – im Klangbild sehr stark ähneln. Musik mag ähnlich oder gleich klingen, dennoch bleibt sie zumeist Teil sehr unterschiedlicher kultureller Praktiken und Aneignungs- das heißt »Verstehenssysteme«.
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2.1.3 KULTURELLE BEGEGNUNGEN: HISTORISCH KONKRETE R ESULTATE GESELLSCHAFTLICHER MODERNISIERUNG UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF DAS V ERHÄLTNIS VON DIFFERENZ UND S YNTHESE Abgesehen von den Arbeiten der frühen Vergleichenden Musikwissenschaft (Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts) und abgesehen von den Ergebnissen der Musikethnologie und der sich von den USA aus entwickelnden »Ethnomusicology« nach 1950 (siehe dazu die Kapitel 2.3.2, 2.3.3 und 2.3.4) gibt es nur sehr wenige musikwissenschaftlich orientierte Untersuchungen, die den Fragen nach unterschiedlichen kulturellen Verstehenssystemen als auch deren gegenseitiger Durchdringung nachgehen. Es bedurfte offenkundig erst einiger auffälliger Phänomene des Musiklebens, um diese Diskussion in Gang zu bringen. Mitte der 1990er Jahre untersuchte der deutsche, heute in den USA lehrende und forschende Musikethnologe Veit Erlmann – der sich damals auch für Fragen der Geschichte und Theorie populärer Musikformen interessierte – das Phänomen World Music als eines, das aus seiner Sicht damals im Spannungsfeld von Synthese und Differenz entstanden war (Erlmann 1998): »Ein komplexes, unübersichtliches und scheinbar chaotisches Ganzes wie die globale Ökonomie (oder auch World Music) […] erreicht ein gewisses Maß an Integration nicht so sehr auf der Basis von gemeinsamen Werten, Normen und Machtverhältnissen, sondern einfach durch die Tatsache, dass es aus Subsystemen, aus Differenzen besteht.« (Ebd.: 11) Die Politik und Ästhetik der Differenz ermöglichte es den ökonomischen und den sozialen Akteuren, sich auf ihren jeweiligen Handlungsfeldern zu positionieren, obwohl es im Kontext von World Music auf den ersten Blick, so Veit Erlmann, zunächst einmal um die Hoffnung auf Synthese ging: »Aber diese Synthese ist eine Synthese neuen Typs, für welche die frühere Vorstellung einer organischen Totalität, einem nach außen abgeschlossenen Innen kaum noch zutrifft. Statt dessen haben wir es bei der World Music mit einer Art Transversalität zu tun, einem willkürlichen Spiel, in dem Identität und Differenz auf beziehungslose und unwidersprüchliche Art und Weise miteinander verwoben sind; einer Ästhetik […] die in der populären Musik […] Kreuzungen und gegenseitige Befruchtungen hervorbringt, denen vor allen Dingen eines gemeinsam ist: Es ist ihnen ihr anderes abhanden gekommen.« (Ebd.: 11)
Diese Einschätzung entsprach Erkenntnissen, die sowohl im Kontext der weiter vorn vorgestellten Subkulturforschung als auch im Zusammenhang mit jugendkulturellen Phänomenen des ausgehenden 20. Jahrhunderts gemacht wurden (vgl. dazu Kapitel 2.1.1). Wenn Veit Erlmann bestritt, dass World Music eine Art Gegengift zu Konsumkultur und Kulturimperialismus sei – eine Haltung, von der vor allem die Enthusiasten und Fans der World Music selbst ausgehen, dann folgte er einer Argumentation, wie sie Dick Hebdige ebenso vertreten hatte. Erlmann spitzte diese jedoch zu und griff für seine Erläuterungen einen Gedanken von Frederic 98
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Jamesons – amerikanischer Literaturkritiker und marxistischer Politikwissenschaftler – über die systemische Natur von kultureller Produktion im späten Kapitalismus auf, nach dem die Produktion von Differenz selbst Bestandteil der Logik des Kapitals, also von auf Warenproduktion und Tausch basierenden Gesellschaftsformen, geworden war (Jameson 1991), einer auf Effizienz, Kosten-NutzenKalkül und Mobilität basierenden Verwertungslogik. »Es ist ihnen ihr anderes abhanden gekommen« (Erlmann 1998, 11) und das Fazit »Jugend ist der Maßstab für Jugend« (Münchmeier 1998: 4) meinte im Grunde genommen sehr Ähnliches und bezog sich auf eine Entwicklung, die ebenfalls seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort »sozialer und kultureller Wandel« bis in die Gegenwart geführt wird – eine Entwicklung, die durch den Umbau der Industriegesellschaften hin zu den Informations- und Dienstleistungsgesellschaften ausgelöst wurde und kulturelle Phänomene, den Umgang mit ihnen und ihre Bewertung entscheidend beeinflussen sollte. Der Begriff World Music wird hier zunächst nicht in seiner Bedeutung als Repertoire-Kategorie der Musikindustrie benutzt, obwohl die Verwendung der englischen Schreibweise darauf hindeutet, dass es einigermaßen schwierig ist, ihn von seiner Bedeutung als Repertoire-Kategorie abzukoppeln. Zunächst soll er für alle Musikformen stehen, die jenseits der artifiziellen Traditionen europäischer Musik und der englischsprachigen Rock- und Popmusik angesiedelt sind, wiewohl mir bewusst ist, dass man damit den mannigfachen Phänomenen dieser Musikformen nicht gerecht wird. Zu Beginn der Diskussionen um World Music, traditionelle Musik ethnischer Minoritäten im Kontext von populärer Musik, Weltmusiken, Musiken der Welt etc. ging es zunächst einmal darum, jene Formen überhaupt zu untersuchen und als Teil von akademischen Diskussionen sichtbar und respektabel zu machen, die weder von den Musikauffassungen, die an den traditionellen Formen artifizieller europäischer Musik gebildet sind und von den Institutionen ihrer Darbietung und Erforschung in den Blick und zur Kenntnis genommen wurden, noch von den vor allem auf den englischen Sprachraum der USA und Westeuropa gerichteten Untersuchungen populärer Musikformen akzeptiert waren. Den Forschungen zu populären Musikformen kann in der Tat vorgeworfen werden, dass sie insbesondere zu Beginn der Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand ethnozentristisch umgegangen sind. Deborah Pacini Hernandez (Hernandez 2000) artikulierte diesen Vorwurf als Begründung für eine Tagung und Publikation zum Thema »The Global Politics in Latin America«: »If it is undeniable that rock and roll originated in the United States, popular music scholars have far too often ethnocentrically assumed that the ›rock and roll revolution‹ was solely a US/West European phenomenon. Yet simultaneous with rock and roll’s inception in the 1950s, the music and youth culture is spawned was also transported to other English and non-English speaking countries around the world. Latin America was especially receptive to this transnational process. Throughout Latin America rock and roll (and later, rock) was em-
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit braced by growing middle class youth populations in the 1960s, and by the 1980s rock was also claimed by working and lumped proletariat youth. Over time, vigorous nationally-identified rock and roll scenes have developed throughout the Americas, following similar yet divergent trajectories, and transforming the region’s cultural landscape in profound ways; contemporary Latin/o American rock has its origins in these historical processes. No nation, from revolutionary Cuba to indigenous Ecuador, has been exempt from the cultural impact of rock, yet to date there are very few studies that seek the catalogue and explore these phenomena and non that offers to do so comparatively. This volume will address that important gap.« (Hernandez 2000)
Die Geschichte der verschiedenen Formen populärer Musik kennt, wenn man davon ausgeht, dass sie in der Konsequenz das Resultat voranschreitender Modernisierungs- und Technologisierungsprozesse ist, tatsächlich geographisch benennbare Orte und damit immer auch ethnisch und kulturell disponierte Besonderheiten (vgl. Kap. 1.1 Szenario Ortsgebundenheit). Dort wo gesellschaftliche Modernisierung ständisch oder bäuerlich organisierte Sozialstrukturen aufbrach und heute noch aufbricht, entstanden solche Formen und Vorformen populärer Musik, wie sie heutzutage im Musikprozess dominant sind; wahrscheinlich überall auf der Welt und nicht nur in Europa, Großbritannien und dem Norden des amerikanischen Kontinents, sondern ebenso in Südafrika, Brasilien, Taiwan oder Indien. Heutzutage, da potenziell soziale und wirtschaftliche Akteure des gesamten Globus einander begegnen können, das melanesische Wiegenlied auf den Dance floor, die Tanzfläche gelangt oder der tuvanesische Obertongesang in Konzertsäle der Metropolen, treffen traditionelle, aus vorindustriellen Vergemeinschaftungsformen kommende Musikformen auf solche, die in ihrer Produktion, Verbreitung und ihrem Gebrauch industriellen (massenhaft und seriell) und so genannten nachindustriellen (auch individuell und in kleinen Einheiten produziert) Prinzipien folgen. Musikkulturelle Sphären öffnen sich Im Zuge der Verbürgerlichung und Bildung von Nationalstaaten kam es zu weit reichenden Veränderungen in der Sozialstruktur der betreffenden Territorien. Die vormals in eher geschlossenen Systemen – zum Beispiel ständischen Ordnungen in Europa – vermittelten Traditionen und kulturellen Muster traten immer häufiger in Kontakt und damit in einen Austausch. Das sollte nicht zuletzt für kulturelle Formen, in denen Musik eine wichtige Rolle spielte, von großer Bedeutung werden. Wiederum sind es also Formen, die in Kontakt geraten, verschmelzen und vormals kulturell kaum überwindbare Barrieren verschieben und teilweise verschwinden lassen, und dennoch ihre Anziehungskraft immer auch aus der Differenz untereinander gewinnen. In Europa herrschte bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine Trennung von kulturellen Sphären. Nur zu besonderen Angelegenheiten – wie Kirchweihfesten oder 100
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der Fastnacht – kam es zum (zelebrierten) Austausch zwischen den unterschiedlichen Ständen entlang von Berufen, Besitz und Geburt. Über Wanderer zwischen musikalischen Welten, zum Beispiel den Minnesängern, kann man bei Peter Gülke (Gülke 1975) nachlesen: »Wurden sie in Zunftgenossenschaften eingebürgert, so war es meist nicht nur mit der romantischen Aura des Wandernden, sondern auch mit den künstlerischen Qualitäten vorbei. Ausgesetzt und unterwegs zu sein war eine Bedingung ihres Daseins und ihrer Kunst; um dieser und der hier aufscheinenden Freiheit willen waren sie gezwungen, Nöte und Elend und alle Risiken auf sich zu nehmen, die eine ungebundene Existenz in einer Gesellschaftswelt mit sich brachte, in der die Formen der Untertänigkeit [und die Zugehörigkeit zu einem Stand – S. B.-P.] sehr genau definiert waren.« (Ebd.: 123)
In der mittelalterlichen Gesellschaft »hatte in einer Ordnung der Mannigfaltigkeit alles seinen festen, nämlich Gott gegebenen Platz besessen, auf dem auch das Musizieren verankert war«, schreibt Peter Wicke (Wicke 1998: 8). Dies sollte sich im Laufe der Geschichte ändern. Das Zunftwesen und die ständische Organisation der Musikausübung hielt sich in Europa bis weit ins 18. Jahrhundert: Die im Dienst der Höfe stehenden Komponisten und Musiker, die Kantoreien der Kirchen, die Ratsmusik der Städte und die Kurrenden an den Schulen stammen aus einer Zeit, da jeder noch die ihm angestammte und »angemessene Musik« hatte: »Die in den Städten sesshaft gewordenen Musiker traten […] zu Brüderschaften zusammen und suchten Privilegien zu erlangen, welche ihnen die Ausübung ihres Gewerbes in bestimmten Distrikten als Recht zusprachen und sie auch des Gesetzesschutzes und der kirchlichen Gnadenspenden teilhaftig machten. In dem einer Gilde zugesprochenen Bezirk durfte niemand für Geld spielen oder singen, der nicht zur Gilde gehörte, d. h. auch an diese seine Beiträge bezahlte.« (Riemann 1929: 2088)
Zu den Aufgaben der Zünfte und Gilden gehörte es also nicht nur, die ständische Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern auch die wirtschaftlichen Grundlagen der Existenz ihrer Zunftmitglieder zu sichern. Handgreifliche Auseinandersetzungen soll es zwischen den Zünften der Instrumentenmacher und denen, »deren Metier das ihre anscheinend streifte, nämlich den Böttchern, Drechslern und Kupferschmieden [gegeben haben]. Die Goldarbeiter protestierten gegen Verzierungen der Instrumente mit edlen Metallen und Steinen, die Kunsttischler gegen eingelegte Holzverzierungen. […] Die Pariser Trompetenmacher ließen sich 1297 […] der Zunft der Kupferschmiede angliedern.« (Riemann 1929: 2089)
Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein Großteil dieser Zünfte und Gilden aufgelöst, zu einer Zeit, als sich die ausgeprägte Schichtung des Musizierens und
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seine tradierten Bindungen an bestimmte Anlässe mit einem mehr oder weniger feststehenden Repertoire allmählich auflösten (Wicke 1998). Von da an kam es verstärkt zu den Amalgamen aus Altem und Neuem und zu Repertoire-Kreuzungen. Berühmt geworden sind in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Begegnungen von höfischen und bäuerlichen Kulturformen. So fanden beispielsweise der Walzer und die dem Walzer verwandten Allemanden – zwei Tanzformen aus ländlichen Zusammenhängen – im 18. Jahrhundert bei Hofe verstärkten Anklang und Gebrauch. Dass der Walzer auf den bäuerlichen Dreher – einen Tanz mit zwangsläufig intensivem Körperkontakt – zurückgeht, wird in den Erläuterungen musikhistorisch orientierter Lexika meist nur am Rande erwähnt. Dort sind es Frederic Chopin, Robert Schumann, Franz Liszt und Johannes Brahms, die Walzer nicht zum Tanzen, sondern als Vortragsstücke vor allem fürs Piano komponiert hatten. Joseph Lanner und Vater und Sohn Joseph Strauß werden als Meister des eigentlichen, zum Tanzen bestimmten Walzers genannt. Allein der Sohn Johann Strauß komponierte 479 Walzer, die von einem eigens zu diesem Zwecke von den Familien Strauß gegründeten und unterhaltenem Orchester und während ausgedehnter Reisen zur Aufführung gebracht wurden und dafür sorgten, dass Johann Strauß’ Sohn als Walzerkönig in die Musikgeschichte einging. Professionelle Komponisten begannen, »volkstümliche« Lieder zu komponieren. Die Klangformen bäuerlicher Musikpraktiken hörten damit nicht auf zu existieren, passten sich aber neuen Wirkungszusammenhängen im städtischen Kontext und entsprechenden Lebens- und Kommunikationsweisen an: in Form von Kompositionen für Orchester, als Aufführungen im Konzertsaal. Einher mit dieser Professionalisierung von »Volksmusik« ging im Zeichen bürgerlicher Emanzipationsbewegungen und Aufklärungsbestrebens die Popularisierung komponierter Musikformen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden durch Bearbeitungen und Auskopplungen Teile oder ganze Werke von Symphonien, vor allem aber Opern bekannter Komponisten – vor allem von Guiseppe Verdi, Richard Wagner, Gioacchino Rossini, Gaetano Donizetti – für Aufführungen auf Plätzen, in Caféhäusern, Restaurants und für die Hausmusik der kleinbürgerlichen Schichten als Salonmusik für Piano und Solostimme eingerichtet. Unzählige Notendrucke entsprechender »Auskopplungen« zeugen von der außerordentlichen Beliebtheit und Einträglichkeit dieser Musikpraxis: »Nach dem Vorbild des im Wortsinn ›tonangebenden‹ Bürgertums entstand in kürzester Zeit eine breite Laienmusikbewegung. Vom Männerchor bis hin zu proletarischen Spielmannszügen, alle mussten mit Noten versorgt werden. […] Mit Aufhebung des Zunftwesens und Einführung der Gewerbefreiheit am Beginn des 19. Jahrhunderts erhielten die bis dahin allein für den Bedarf an Musik bei Hochzeiten, Begräbnissen, Festtagen und sonstigen Feiern zuständigen Stadtmusikanten [europäischer Städte – S. B.-P.] Konkurrenz durch die mit ›Musikpatenten‹ oder ›Musiklizenzen‹ der Gewerbeämter ausgestatteten ›freien Musiker‹. In Wien hatte der als Reformkaiser geltende Joseph II. sogar schon 1782 die Musikerzünfte per
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Musiken der Welt – World Music – Global Pop Erlass aufgelöst und damit einen Anlass gegeben, der in vielen Ländern aufgegriffen wurde.« (Wicke 1998: 19ff.)
So sehr man sich auch bemühte (Konstruktion eines nationalen Erbes), von kulturell reinen Formen konnte spätestens von da an weder im Konzertsaal, auf den Opernbühnen noch auf den Tanzböden, in den Festhallen, Kaffeehäusern, während der Platzkonzerte unter freiem Himmel oder in den Gartenlokalen mehr die Rede sein. Musikalische Praktiken konnten nicht mehr eindeutig zugeordnet werden, traditionelle Gebrauchsformen veränderten sich und mussten immer auch offen für Neues sein, um auf den Märkten der Musik bestehen zu können. Auch die »ältere« europäische Musikgeschichte kannte Beispiele der Öffnung musikkultureller Sphären, vor allem dann, wenn soziale und ökonomische Verhältnisse sich veränderten, die einen um den Machterhalt rangen – zum Beispiel der Landadel in Kollaboration mit der Inquisition und deren drakonischen Maßnahmen zur Einhaltung kultureller Reinheitsgebote, – weil andere Akteure die Bühne des gesellschaftlichen Geschehens betraten. Während des 15. und 16. Jahrhunderts zum Beispiel nahm der Einfluss von Kaufmanns- und Bankiersfamilien im frankoflämischen, kastilischen und aragonesischen Raum stark zu. Sie siedelten sich insbesondere in den mediterranen Hafenstädten an und vergrößerten deren Handelsvolumen. Verbunden war dieser Machtzuwachs aber auch mit dem damals an Bedeutung und kulturellem Einfluss gewinnenden Druckereigewerbe und Verlagswesen. Angesichts dieser Veränderungen gerieten musikalische Praktiken, etwa spanische Tänze wie die Pavane oder der Canarios, in den Strudel geographischer und sozialer Durchdringungen und Koexistenzen, die dafür sorgten, dass »volkstümliche« und »gelehrte« Traditionen einander begegneten und zur Entwicklung neuartiger Formen in spezifischen kulturellen Gebrauchszusammenhängen führten, etwa auf den Tanzböden und im stilistischen Repertoire überlieferter Kompositionen. Exkurs Canario Neben der Pavane, einem langsamen Schreittanz, tauchte der Canario im Tanz-Repertoire der kontinentalspanischen Gesellschaft auf, nachdem die Nordwestafrika vorgelagerte Gruppe der Kanarischen Inseln durch die Spanische Krone in Besitz genommen wurde. Das ist der Grund dafür, dass man vom 16. bis hinein ins 18. Jahrhundert eine bestimmte Gruppe spanischer Lied- und Tanztypen als Canarios bezeichnete. Als Gesellschaftstanz verbreitete er sich rasch und wurde als Tanz im zusammengesetzten Dreiertakt (6/8) sehr beliebt. In Tanzlehrbüchern des 16. Jahrhunderts wurde er als »feuriger« Werbungstanz in Variationsform mit Refrain beschrieben. Charakterisiert sei er gewesen durch schnelles Aufstampfen von Ferse und Fußspitze und geräuschvoll schleifende Schritte, mit denen sich die Tanzpartner abwechselnd einander näherten und voneinander entfernten. Üblich seien auch Kastagnetten gewesen – ein Merkmal, das auf Querbezüge hin zum Flamenco und seinen Traditionen schließen lässt. Als zwischen 1581 und 1630 die 103
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ersten Canario-Tänze in italienischen Tanzlehrbüchern auftauchten, standen große Teile Italiens unter spanischer Herrschaft und damit unter spanischem Einfluss. C. Negris Tanzabhandlungen »Le gratie d’Amore« waren dem spanischen König Philipp III. gewidmet, dessen Regierungszeit von 1598 bis 1621 dauerte. Sie wurden 1602 im spanisch besetzten Mailand gedruckt, weil es in Spanien damals noch kein entwickeltes Verlagsgewerbe mit angeschlossenen Druckereien gab. 1630 übersetzte Balthasar Carlos Negris Tanzabhandlungen ins Spanische in einer Handschrift für Gaspar de Guzmán, dem Grafen von Olivárez und Herzog von Sanlucar und einflussreichen Minister Philipp IV. während dessen Regierungszeit von 1621 bis 1665 (vgl. MGG, »Canario«, Sp. 364–368). Der spanische Gitarrist und Organist Gaspar Sanz (1640–1710) ging ebenfalls nach Italien, und zwar als Organist an die Kapelle des Vizekönigs von Neapel, und später als Gitarrenlehrer des Sohns Philipps IV. zurück nach Spanien, um dort unter anderem das umfangreiche »Lehrbuch für das Spiel der spanischen Gitarre« zu schreiben, das nachweislich von außerordentlicher Bedeutung für die damalige Musikpraxis in Spanien war. Es enthielt zahlreiche Volkslieder und Tanzstücke, zum Beispiel Pavanas und Canarios. Noch in den Orchestersuiten von Johann Sebastian Bach, zum Beispiel die Orchestersuite Nr. 3 D-Dur BWV 1068, lebten der charakteristische Charme und die Lebhaftigkeit des Canarios fort, etwa in schnellen Sechsachteltänzen einer Gigue, hier allerdings im Gebrauchszusammenhang der barocken Spielmusik für Orchester. Doch gerade zu jener Zeit, als sich alles zu öffnen schien und musikalische Formen offenkundig weder rein noch beständig waren, erlangte in Europa ein Kulturbegriff Bedeutung, der stärker als vielleicht jemals zuvor von wohl abgegrenzten und beträchtlich voneinander verschiedenen Kulturen ausging. Restaurationsbestrebungen Aus der Zeit der Öffnung musikkultureller Sphären stammen die massiven Versuche, bestimmten Gattungen wieder eindeutige Gebrauchs- und Wirkungszusammenhänge zuzuordnen, quasi ideologische Konstruktionen, die den Begegnungs-, Austausch- und Auflösungstendenzen jene der Geschlossenheit und Reinheit versuchten entgegenzusetzen. Insbesondere die Kategorie des Fremden taucht seit dieser Zeit immer wieder auf und wurde konstitutiv für das Bild von Kulturen als etwas Wesenhaftem und voneinander Unterschiedenem. Vor allem im zentraleuropäischen Raum dominierten im Zuge der Konstitution von Nationalstaaten Ideen, etwa die von Johann Gottfried Herder, nach denen Kulturen als voneinander unabhängige Gebilde gedacht werden sollten. Der Kulturbegriff wurde zu einer Art »›Generalbegriff‹, der nicht nur einzelne, sondern alle menschlichen Lebensäußerungen umfassen soll[te], erst im späten 17. Jahrhundert, bei Samuel Pufendorf [hatte sich dieser Kulturbegriff – S. B.-P.] herausgebildet, um dann einhundert Jahre später durch Herder seine
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Musiken der Welt – World Music – Global Pop wirkmächtige Bestimmung als organische Lebensgestalt von Völkern [einer Nation – S. B.-P.] zu erfahren, in denen sich die allgemeine menschliche Humanität entfaltet.« (Welsch 1992: 6)
Die Abgrenzung von anderen Kulturen, das Volk als definitorischer Kern, Träger und Produzent der entsprechenden Kultur und die einem solchen Kulturbegriff inhärente Vereinheitlichungsfunktion prägen einen noch heute viel gebrauchten Kulturbegriff insbesondere in der Kultur- und Kunstpolitik: »Im Gegensatz zu den Lippenbekenntnissen und der allgemeinen Rhetorik der Postmoderne lassen sich die Ideen von Johann Gottfried Herder implizit in allen Debatten heraus hören: Kulturen gelten in Deutschland immer noch als voneinander unabhängige, kugelförmige Gebilde, wobei die äußerlich sichtbaren Merkmale von Personen (Aussehen, Kleidung, Gebräuche etc.) als Verkörperungen einer unsichtbaren substanziellen kulturellen Gemeinsamkeit – einer Identität – erscheinen.« (Terkessidis 2002)
»Es ist vor allem diese Vereinheitlichungsfunktion des Kulturbegriffs, die man auch dort, wo seine völkische Fundierung problematisch geworden ist, weiterhin schätzt und in Anspruch nimmt.« (Welsch 1992: 6) Heute – 2009 – sind die Debatten der Kultur- und Kunstpolitik sehr stark geprägt von den Fragen nach interkulturellen Begegnungen und Diversität, ein Faktum – was andererseits in die Lehr- und Forschungszusammenhänge der Musikwissenschaft und den Einrichtungen der Hochkultur (Oper, Konzerthäuser) kaum Eingang gefunden hat. Das Fremde als kulturell codierte soziale Ungleichheit (vgl. Dreher/Stegmair) einerseits und der Fremde als Händler auf Märkten andererseits dürften als Gründe für das spannungsreiche Mit- und Gegeneinander von Austausch und Abschottung seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa Geltung bekommen haben. Das Bild von Kulturen wurde vor allem kontrastiv, also über andere, fremde Kulturen erzeugt. Zeitgleich zur Nationenbildung hatte sich in Literatur und Wissenschaft die so genannte »Vergleichende Volkskunde« etabliert, die eng verbunden mit einer Absetzung von allem Fremden und mehr noch mit dessen Ausblendung war. Das Fremde tauchte dabei fast ausschließlich als negative Folie auf, bei Friedrich Ludwig Jahn etwa, »der der ›Ausländerei‹ die – als nationale Gesinnung verstandene – ›Volkstümlichkeit‹ entgegenstellt, oder bei Jacob Grimm, der sein monumentales Werk ›Deutsche Mythologie‹ ausdrücklich gegen die Überschätzung der antiken Mythologie entwirft. […] Das Vergleichen, eigentlich doch eine elementare kulturwissenschaftliche Perspektive, wird unter diesem Aspekt entweder ganz oder in den nationalen Binnenraum zurückgenommen.« (Bausinger 1995: 277)
Im ökonomischen Raum kannte man das Phänomen der Fremdheit und des Fremden schon seit Jahrhunderten. Vor allem in seinem frühen Stadium, als die Händler
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mit ihren Waren weite Strecken hin zu den Marktplätzen zu überwinden hatten, da war jede Reise mit einem hohen gesundheitlichen Risiko verbunden: »[…] der wandernde Händler [war] überall der Fremde, der zugleich gefürchtet und gefährdet war.« (Bendixen 1991: 136) Kulturelle Distanz, Nähe und Vermischung gehen also eine komplizierte Allianz ein und werden zu den Erscheinungsformen einer Entwicklung, die sowohl Synthese als auch Differenz als Voraussetzungen ihrer Logik braucht. Die sich ausdifferenzierenden Ebenen gesellschaftlicher Reproduktion – Politik, Ökonomie, Ideologie – erzeugten dabei durchaus beide Seiten: Differenz und Synthese. »Händler als Finder Finder« nder« »[D]as Denken von Kaufleuten [war] historisch schon sehr früh [durch] die Erfahrung von der Notwendigkeit zu […] kultureller Distanz gegenüber der beherbergenden Kommune« geprägt, argumentiert Peter Bendixen in seinen Überlegungen zu den Fundamenten der Ökonomie (Bendixen 1991: 136). Händler, Kaufleute, Krieger und Missionare waren es aber auch, die in der Überwindung räumlicher Distanzen auf dem Wege hin zu ihren Märkten, Schlachtfeldern und Missionsstationen kulturelle Begegnungen stifteten. Nicht zuletzt sie waren diejenigen, die vor allem aus der Perspektive der Erweiterung ihres Zugangs zu Ressourcen im Hinblick auf Territorien, Rohstoffe, Arbeitskräfte, Religionen und Märkte weltweite Kontakt-, Begegnungs-, Eroberungs- und Verteidigungsstrategien entwickelten. Und sie, vor allem die Händler, »waren Finder, findig im Aufspüren von Gütern, mit denen sich […] durch die Ausnutzung von Preisunterschieden und dem ergiebigsten Einsatz von Kapital […] ein guter Schnitt (Arbitrage) machen ließ.« (Bendixen 1991: 99) Die berühmten Reisen von Marco Polo, Vasco da Gama oder Columbus waren solche Finder-Fahrten im weitesten Sinne, ihnen folgten nicht nur neue Handelsströme, kommerzielle Raubzüge, koloniale Landnahmen und christliche Mission, sondern auch der Transfer von bis dahin unbekannten Pflanzen, zum Beispiel Kartoffeln und Tabak, die nachhaltig die Lebensgewohnheiten und Kulturen andernorts beeinflussten sollten. Selbst wenn um 1600 erst etwa 49 Prozent der Erde bekannt waren, davon 32 Prozent ihrer Landfläche, dagegen um 1800 etwa 83 Prozent der Erde, davon sechzig Prozent ihrer Landfläche (Kinder/Hilgemann 1995: 279), legt schon dieser flüchtige Blick in die Geschichtsbücher nahe, dass das so genannte globale Weltsystem keineswegs erst eine »Realität« des 20. Jahrhunderts ist. Imanuel Wallerstein (Wallerstein 1976/1986) spricht von einer kapitalistischen Weltökonomie, die angesichts der im 16. Jahrhundert von Europa ausgehenden kapitalistischen Dynamik immer neue traditionelle Kontinente, Räume und Nischen sozialen Lebens erfasste und von Grund auf veränderte. Eroberungen in Übersee – im 15. Jahrhundert –, Handelsbeziehungen mit fernen Kontinenten und die entstehenden Kolonialreiche der mit dem Klerus verbundenen Monarchien, denen die ökonomische Macht zunehmend von bürgerlichen 106
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Kaufmanns- und Bankiersfamilien in den reichen Hafenstädten streitig gemacht wurde, später dann die Kolonialbestrebungen der europäischen Nationalstaaten haben in ganz erheblichem Maße zu Berührungen und Begegnungen von Kulturen – und also auch von Musikkulturen – geführt. Zum Austausch kam es dabei auch an Handelsplätzen, vor allem aber auch in der Konfrontation mit dem jeweils als »anderem« erfahrenen, zwischen Unterworfenen und Unterwerfenden, zwischen jenen, die Märkte belieferten und jenen, denen man etwas verkaufen wollte, zwischen jenen, die sich die Eroberer zu Sklaven machten und denen, welche die »fremden« religiösen Auffassungen der Missionare unterminierten, indem sie diese in ihren »eigenen« kulturellen Auffassungen aufhoben, etwa der Katholizismus in Südamerika und die entsprechenden Musikpraktiken dafür. Verschleppung, Versklavung, Missionierung, Migration, Exil oder Diaspora, aber auch die Repräsentation mittels exotischer Objekte haben dafür gesorgt, dass kulturelle Verstehenssysteme den geographischen Ort gewechselt haben. Im spannungsvollen Gegen- und Miteinander entstanden und entstehen dabei Formen, die oftmals sowohl Praktiken kultureller Selbstbehauptung, die Neugier am »anderen« und Neuen, als auch die Projektionen aufkeimender Sehnsüchte und Schuldgefühle der Nachfahren von »Kolonialherren« in ein spannungsreiches Verhältnis setzen. Cajun, Bhangra, Balkan Beats – Austausch und Begegnung durch Migration Dabei sind es nicht »die Kulturen«, kulturelle Systeme oder theoretische Konstruktionen von Kulturen, sondern es sind immer auch die Menschen selbst, die sich begegnen (vgl. Dreher/Stegmaier 2007). Menschen befanden sich in der Geschichte und der Gegenwart aus verschiedenen Gründen immer wieder auf Wanderschaft. Ab-, Ein- oder Zuwanderung bezeichnet man mit dem übergreifenden Begriff der Migration. Das Phänomen der Aus- und Zuwanderung ist historisch und weltweit allgegenwärtig. Allein für Mitteleuropa lassen sich nahezu ununterbrochene Migrationsbewegungen aus und nach Europa nachzeichnen, das heißt die reelle Bewegung von Menschen zwischen verschiedenen Regionen, Territorien und Kontinenten. Das Wanderungsverhalten von Menschen wird durch die unterschiedlichsten materiellen und immateriellen – das heißt ökonomischen, sozialen und oft auch religiösen – Bestimmungsfaktoren beeinflusst: Arbeitswanderung, Wanderhandel, Flucht- und Zwangswanderung sind die zentralen Auslöser (vgl. Bade 1994) von Migrationsbewegungen. Während der so genannten europäischen Neuzeit standen Glaubensflucht und Wirtschaftshilfe im Zentrum. Reformation und Gegenreformation waren im 16. und 17. Jahrhundert insbesondere für Mittelund Nordeuropa Auslöser für Kriege, Exil und dauerhafte Neuansiedlung. Neben dem Schutz verfolgter Protestanten ging es den preußischen Königen auch um den Ausbau und ökonomischen Aufbau der von ihnen beherrschten Regionen. Folgerichtig hatte manches Kirchenlied, seine Singweise oder die Traditionen instru107
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mentalen Ensemblespiels – wie die von Posaunenchören – eine weite Reise quer durch Europa hinter sich. Daneben war die Mobilität von Musikanten seit eh und je sprichwörtlich: Wer nicht fest bestallt am Hofe oder zur Zunft der Stadtmusikanten gehörte, der musste sein Geld als Spielmann auf Märkten und Festen verdienen. Ganze Familien – zum Beispiel aus Böhmen – zogen Jahr um Jahr quer durch Europa (vgl. Müns 2005). Zu einer Zeit, als die neue Welt noch nicht entdeckt war, gab es aus dem deutschsprachigen Kulturraum kontinentale Wanderungen nach Osten. Der kontinentale Oststrom – auch der nach Russland – trat erst in den 1830er Jahren hinter den säkularen Westströmen der überseeischen europäischen Massenauswanderung in die Neue Welt zurück. Kein europäisches Land, dessen Bevölkerung daran nicht beteiligt gewesen wäre. Grund der Auswanderung war zumeist das Missverhältnis im Wachstum von Bevölkerung und Erwerbsarbeit in der Übergangskrise von der agrarischen zur industriellen Zivilisation im 19. Jahrhundert (vgl. Bade 1994). Kein europäisches Land auch, das Teile seiner Musikkultur, Instrumente, Spiel- und Tanzweisen nicht irgendwie in die Musikkulturen Nordamerikas eingebracht hätte: Country Music, Cajun Music, Zydeco oder Ragtime sind Resultate eines vielschichtigen und mehrstufigen Transformations- und Transkulturationsprozesses zwischen der so genannten Alten und der so genannten Neuen Welt, lange bevor technische Vermittlung die virtuellen Wanderungsbewegungen von Klängen, Rhythmen und kulturellen Symbolen auf die musikhistorische Tagesordnung setzten. Auf Reise gingen Instrumente und ihre Spieltechniken, Tanzformen etc. und Musiker selbst. Nicht so sehr für Deutschland und Österreich, umso mehr für Spanien, Portugal, Frankreich, Großbritannien oder die Niederlande hatte die Zeit des Kolonialimperialismus maßgebliche Folgen für deren Musikkultur nach der Zeit des Kolonialismus. Die meisten der heute in diesen europäischen Ländern lebenden Migranten mit ihren Kindern und Kindeskindern stammen aus ehemaligen Kolonialreichen der heutigen Einwanderungsländer. Die (Jugend-)Musikkulturen französischer und britischer Städte standen deshalb immer auch im Zeichen dieser Prozesse, Bhangra (aus der Punjab Region von Indien) oder Raї (Algerien), aber auch Reggae (Karibik), Ska, Hip-Hop etc. sind in vielen dieser Länder ohne Aus- und Zuwanderung nicht denkbar. Heute sind es im deutschsprachigen Raum die Bürgerkriegsflüchtlinge aus ExJugoslawien, die hier auch eine kulturelle Heimat gefunden haben. »Balkan Beat« und »Russendisco« sind dabei ein kulturelles Resultat von Aus- und Zuwanderung. Hierbei spielen neben dem Fakt der Migration auch Aspekte von medialer Präsenz und großstädtischer Partykultur keine unwesentliche Rolle. Das Publikum von Balkan-Beat-Partys, Russendisco oder Bhangra setzt sich keineswegs nur aus Migranten und ihren Nachfahren zusammen, sondern insbesondere auch aus unterschiedlichsten Publikumsgruppen, deren Familien schon etwas länger im so genannten Einwanderungsland zu Hause sind.
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Leider gibt es insbesondere im Rahmen der deutschsprachigen Musikforschung nur sehr wenige Studien zum Zusammenhang von Musik und Migration, Ausnahmen bilden Arbeiten von Martin Greve zu verschiedenen musikkulturellen Phänomenen türkischer »Gastarbeiterfamilien« in Deutschland (hier v. a. Greve 2003). Heike Wurm ging der Bedeutung populärer Musikformen bei der kulturellen Artikulation türkischer Jugendlicher in Deutschland nach (Wurm 2006), Heike Müns stellte Beiträge zu Migrationsbewegungen von Musikern und Ensembles in Ostmitteleuropa zusammen (Müns 2005) und Dorothea Kolland verfolgte die Musiktradition von Exulanten eines Böhmischen Dorfs in den Berliner Bezirk Rixdorf bzw. Neukölln infolge der durch den Dreißigjährigen Krieg ausgelösten Glaubensfluchten (Kolland 1987). Fragen von Austausch, Begegnung, Imagination, Differenz oder Synthese wurden im Gegensatz zu anderen Regionen der Welt – hier insbesondere die Geschichte des Blues – im deutschsprachigen Raum bisher kaum thematisiert.
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2.2 » »Anxiety Anxiety & Celebration« zu einigen theoretischen Positionen bei der Erörterung von World Music 2.2.1 HOMOGENISIERUNG ODER DIVERSIFIKATION ? »[…] das, was heute unter dem Namen ›World Music‹ passiert, ist nichts anderes, als das ›der Weiße‹ noch weiter ›den Wilden‹ ausbeutet. Er klaut die rhythmischen Ideen und verkauft seine exotische Präsens auf der Bühne, und als Gegenleistung bietet er dem Wilden die Verstärkung und eine simple Elektronik an. Ich möchte den Anhängern der ›World Music‹ empfehlen, als Erkennungszeichen einen kolonialen Tropenhelm auf dem Kopf zu tragen.« (Globokar 2000: 35) »Das Nebeneinander von tief schürfenden und oder auch nur unterhaltenden Wertevorstellungen zwischen den Polaritäten von indigenen Stimmen aus dem Regenwald und globalen Entwicklungsstrategien im Internet, zwischen Unikat, Massen und Einschaltquote, zwischen ritualisierter Moderne, Hightech Culture, Fuzzy Logic, Cyberspace und Kommerz, dieses Nebeneinander brachte auch die zentrifugalen Wertemonopole der Musik ins rasende Schlingern.« (Baumann 1996: 44)
»Changing Sounds. New Directions and Configurations in Popular Music«, zu diesem Thema fand 1999 in Sydney – Australien – die zehnte internationale Konferenz der IASPM (International Association for the Study of Popular Music) statt. Diese Organisation hatte sich Anfang der 1980er gegründet, um die Erforschung populärer Musik im wissenschaftlichen Rahmen anzustoßen und weltweit zu kommunizieren. Alle zwei Jahre findet auf einem der fünf Kontinente eine Konferenz statt. Nach Sydney waren verständlicherweise viele Wissenschaftler aus dem Pazifischen Raum angereist. Folgerichtig standen insbesondere auch populäre Musikformen dieser Region, ihre musikkulturellen Besonderheiten und übergreifende Herausforderungen im Zentrum der Debatten (Zusammenfassung der Tagungsergebnisse siehe Mitchell 2000). Steven Feld gab seinem Eröffnungsreferat den Titel: »Anxiety and Celebration: Mapping The Discourses of ›World Music‹« (Feld 1999/Feld 2000c). Ähnlich der weiter vorn in dieser Untersuchung vorgestellten 110
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Bedrohungsszenarien (Homogenisierung versus Fragmentarisierung) im deutschsprachigen Raum thematisierte Feld in seinen Darlegungen das Spannungsfeld von der »Sorge« einerseits und der »Feier« andererseits angesichts der im Fokus von World Music stehenden hybriden musikalischen Formen. Beide Perspektiven richten ihr Interesse dabei auf Musikformen, die an bestimmte lokale und regionale Zusammenhänge gebunden sind und als stabilisierende bzw. destabilisierte Möglichkeiten kultureller Identifikation interpretiert werden. Die Motivation, sich intensiv mit lokalen Musikformen und -prozessen zu beschäftigen, basiert auf der einen Seite auf der Angst um den Verlust kultureller Identität angesichts der vermuteten weltweiten Homogenisierung. Die Motivation und das Interesse der anderen richten sich auf die Möglichkeiten der Aufwertung und Förderung lokaler Identitäten angesichts ihrer Modernisierung. Wissenschaftliche Argumentationen und politische Maßnahmen gingen dabei – so auch Feld – nicht selten Hand in Hand. Genau zu der Zeit, als Fragen zur kulturellen Identität und dem Stellenwert traditioneller und modernisierter kultureller Formen in den kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten verstärkt diskutiert, empirisch aufgespürt und theoretisch konzeptionalisiert wurden, widmete sich in verschiedenen Ländern die öffentliche Politik der Förderung des Lokalen und der Unterstützung traditioneller Kulturen. So finanzierte beispielsweise die brasilianische Regierung schon Ende der 1950er Jahre offizielle Tourneen von Musikern und Ensembles, die traditionelle und urbanisierte traditionelle Musikformen wie Baião, Samba und Forró spielten: »Im Jahre 1958 brachte der Senator Humberto Teixeira ein Gesetz heraus (›Lei Humberto Teixeira‹), mit dem sanktioniert [und subventioniert] wurde, dass jährlich eine Gruppe brasilianischer Instrumentalisten und Sänger in Theatern, Night-Clubs und Rundfunkstationen, insbesondere Europas, auftreten sollten. […] Humberto Teixeira begleitete die Gruppen auf ihren Reisen durch Europa. Auftritte gab es in Lissabon, London (im ›Palladium‹) in Paris (im ›Olympia‹). Geboten wurde regionale Popularmusik aus dem Nordosten, d. h. viel baião sowie einige Samba-Einlagen, ein damals bereits bekanntes musikalisches Erkennungsmerkmal für Brasilien.« (Pinto 1995: 55)
Präsentation nach Außen und Barrieren nach Innen gelten als Schutzmaßnahmen nationaler Kultur- und Medienpolitik. Viele Länder verankerten die Quotierung von Radioprogrammen in ihren nationalen Mediengesetzgebungen (z. B. Kanada, Frankreich), um sich gegen die »Invasion« ausländischer Medienprogramme via Satellit (Guilbault 1995: 31f.) zu schützen, das heißt die Festlegung von Sendezeiten und prozentualen Anteilen lokaler Musikformen bzw. regionalen Sprachen und Dialekten. Für Steven Feld boten die Debatten rings um das Thema World Music einigen Zündstoff in der Auseinandersetzung mit den Positionen von Anxiety (Apokalyptiker! vgl. Eco 1984) and Celebration (Integrierte! vgl. Eco 1984). Im Kern geht es dabei immer wieder um das widersprüchliche Spannungsfeld von kommerzieller
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Verwertung und sozialer Identifikation in populären Musikformen. In den Diskussionen um World Music als allgemeinem musikalischen Phänomen des 20. Jahrhunderts und speziell als Repertoire-Kategorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts hatte dieses Spannungsfeld eine zusätzliche, eine postkoloniale (Globokar) und andererseits eine postmoderne (Baumann) Dimension in der Auseinandersetzung erhalten. Die Grundmuster der Zuordnung blieben dabei ähnlich. Was für Steven Feld die Matrix von »Anxiety« und »Celebration«, war für Peter Wicke das spannungsreiche Verhältnis von »Konsumfetischismus« – frei nach Adorno – und »Widerstandspotenzial« – frei nach Willis, bzw. den Cultural Studies des CCCS – (Wicke 1995). Schon in seinem Artikel »Notes On World Beat« (Feld 1988) verwendete Steven Feld die berühmte Metapher von der »Medaille mit den zwei Seiten«. Die Verwendung und Aneignung »traditioneller«, nichtwestlicher Musikformen zeuge einerseits von Bewunderung und Achtung gegenüber diesen Musikformen, andererseits reproduziere sie die eh existierenden Machtkonstellationen, die Ungleichbehandlung derer, denen sie gehört im Vergleich zu denen, die dafür sorgen, dass diese Musikformen in den Sog der Kommerzialisierung geraten: »Musical appropriation sings a double line with one voice. It is a melody of admiration, even homage and respect, a fundamental source of connectedness, creativity and innovation. This we locate in a discourse of ›roots‹, of reproducing and expanding ›the tradition‹. Yet this voice is harmonized by a countermelody of power, even control and domination, a fundamental source of asymmetry in ownership and commodification of musical works. This we locate in a discourse of ›rip offs‹, of reproducing ›the hegemonic‹.« (Feld 1988: 31)
Auch Steven Feld war einerseits besorgt, weil angesichts fortschreitender Industrialisierung der »Dritten« und »Vierten« Welt und transnationaler Strategien der Musikindustrie die Vielfalt musikalischer Formen und Praktiken vernichtet werde. World Music bzw. das Interesse an lokalen Musikformen sei nichts anderes als ein perfider Ausdruck und das Resultat von Homogenisierung, Zentralisation und Manipulation durch die Musikindustrie. Andererseits begrüßte er, dass »westliche« Konzepte populärer Musik (die Band Grateful Dead beispielsweise) Klänge des Indigenen und Lokalen als Ausdruck von Vielfalt, Mannigfaltigkeit und auch Widerstand integrierten. Die Referenten der Konferenz von Sydney begrüßten in überwiegendem Maße die zunehmende Präsenz, Verbreitung und das Interesse an lokalen Musikformen im Kontext von Popmusik. Sie werteten diese Prozesse als Zeugnis und Anerkennung des Reichtums lokaler Musikszenen. Wegen ihrer bemerkenswerten Fähigkeiten, Energie und sprühenden Kreativität seien lokale Musiker, Fans und kleine Unternehmen in der Lage, die »hegemonialen« Popformen für sich anzueignen und in Zeiten von Sony-CBS, MTV und Michael Jackson die Möglichkeiten progressiver, demokratischer Kräfte und Ermutigung aufzuzeigen. Seit Ende des 20. Jahrhunderts stellten die meisten Popmusikforscher in überwiegendem Maße einen po-
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sitiven Bezug zu den aktuellen Entwicklungen der Musikproduktion und ihren lokalen als auch globalen Einbindung her. Nicht wenige dieser Forscher waren studierte und aktive Ethnomusikologen. Die Präsenz lokaler Musikformen im Kontext populärer Musik stellte für sie sowohl eine Herausforderung als auch ein neues – nicht versiegendes – Terrain an Forschungsinhalten dar. Steven Feld wies in seiner Analyse darauf hin (Feld 1999/2000c), dass mit der Fokussierung auf lokale populäre Musikpraktiken eine starke Hinwendung zu empirischen Studien einherging und umfangreiche Forschungsprojekte initiiert und durchgeführt wurden, denen – leider, so Feld – eine theoretisch fundierte Intervention fehle. Die anfangs – Gründung der IASPM – gehegte Hoffnung, mittels Forschung das »millionenschwere Treiben« der Musikindustrie gezielt zu torpedieren, hatte sich schnell als Trugschluss und unmögliches Unterfangen erwiesen. Nun ging es darum, eine begründete und auch anerkannte Methodik der Erforschung populärer Musikformen zu entwickeln. Manches feststehende Paradigma – sei es das der »Homogenisierung«, »Zentralisation« oder »Manipulation« – konnte im Zuge entsprechender Untersuchungen hinterfragt worden, zum Beispiel in der Analyse von Strategien der Musikindustrie (Burnett 2001, Malm/Wallis 1984, Negus 2001, Laing 1999, Roe 2001, Rutten 1995) oder des kulturellen Gebrauchs der vielfältigen, auch lokal sehr spezifischen Formen populärer Musik (Cohen 1997, Guilbault 1996, Hernandez 2001). Mit dem offenkundigen Zuwachs an Bedeutung, den lokale Praktiken des Musikgebrauchs, Klangformen und diversifizierte Strategien sich lokal engagierender Unternehmen in den 1990er Jahren erlangt hatten, wurde es immer schwieriger, einseitige Einschätzungen zum Charakter populärer Musik, zu ihrer Produktion und ihres Gebrauchs aufrecht zu halten. Es waren die veränderten ökonomischen, technischen und sozialen Verhältnisse selbst, die polare Konfrontationen kaum mehr als sinnvolle Deutungs-, Handlungs- und Diskussionsstrategien erscheinen ließen (vgl. Kapitel 2.1.1). Der gesellschaftliche Strukturwandel erforderte in der Analyse entsprechender Phänomene die Überprüfung konzeptioneller Herangehensweisen. »Anxiety and Celebration« (Feld 2000), »Apokalyptiker und Integrierte« (Eco 1984), »Widerstandspotential oder Konsumfetischismus« (Wicke 1995) müssen als methodische Zuspitzungen komplexer Zusammenhänge gelesen werden. In der Reduktion liegt die Chance einer theoretischen Systematisierung. Die Realität lässt sich dennoch nicht in polaren Konstellationen erfassen; Fragmentarisierung und Homogenisierung, Differenz und Synthese sind immer nur Modellierungen eines schwierig abzubildenden spannungsreichen Prozesses.
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2.2.2 W ORLD MUSIC - REPRÄSENTATION »GLOKALISIERTER «2 KLÄNGE Die Diskussionen zum Thema World Music und Globalisierung lassen sich nach Steven Feld entlang von vier Argumentationssträngen zusammenfassen: 1. Das Verhältnis von Musik und sozialer sowie kultureller Identität würde sich durch den Globalisierungsprozess intensivieren. Sowohl zum Schutz vor den vermuteten negativen Auswirkungen des Globalisierungsprozesses, hier vor allem der Vereinheitlichung kultureller Ausdrucksweisen, als auch im Widerstand gegenüber den Anforderungen globaler Veränderungen wird Musik nach Meinung vieler Wissenschaftler als Identität stiftendes Medium gebraucht. Diese Diagnose basiert auf der Annahme, dass Musik Identitätsmuster vermitteln kann und der Umgang mit ihr Möglichkeiten der kulturellen Selbstbehauptung eröffnet. Durch den Transfer von Technologien, Sendestationen und Populärkultur bekämen alle potenziellen Teilhaber am Kulturprozess die Möglichkeit, kulturell präsent zu sein, obwohl oder gerade weil die transnational agierenden Unternehmen der Musikindustrie ihr Aktionsfeld permanent ausdehnen und verdichten. 2. Eine weitere Forschungsperspektive ging davon aus, dass im Zuge (phono-) technischer Entwicklungen jeder Klang potenziell an jedem Ort und zu jeder Zeit verfügbar wird. Per Mausklick lassen sich mühelos Tausende von Kilometern überwinden. Es entstehen virtuelle Klangwelten, die die Phantasien und Wirklichkeitsvorstellungen beflügeln, ohne beschwerliche Reisen und deren Vorbereitungen auf sich nehmen zu müssen. Die auf diese Art und Weise entstehenden hochgradig abstrakten – weil virtuellen, jenseits physisch erlebbarer Zeit- und RaumKontinua – Klänge werden ihrerseits naturalisiert und in das Realitätskonzept transkultureller Gemeinschaften integriert. 3. Eng verknüpft mit dieser Annahme ist die Feststellung, dass das transkulturelle Moment musikalischer Formen nicht mehr über reelle physische Kontakte zwischen Menschen (Reisen, Migration, Kolonialisierung und Diaspora), sondern über bzw. auf Datenträgern erzeugt wird. Es sei die Musikindustrie, die im Laufe ihrer fortgesetzten Marktexpansion bestimmt, was im Zeitalter zugespitzter Globalisierung als authentischer Klang gilt. 4. Die konkreten Repräsentationen von Klang, so Feld, verweisen auf eine sich zunehmend fragmentierende und verändernde Vielgestaltigkeit im Gebrauch und der Bedeutung von Formen populärer Musik. Vor diesem Hintergrund entstehe ein kaum mehr zu überschauendes Reservoire an Positionen, Strategien, Fusionen, aber auch Ausschließungen und Differenz. Steven Feld fragte sich abschließend, warum gerade und wie die Kategorie World Music zu einer in hohem Maße signifikanten Beschreibung der industriell und zunehmend auf der Basis moderner Informationstechnologien organisierten Repräsentation globaler Klänge werden konnte. Und warum andererseits gerade 2
Der Begriff »Glokalisierung« stammt von Robert Robertson (Robertson 1995) und steht für die gegenseitige Abhängigkeit von Lokalem und Globalem im Wirtschaftsleben. 114
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diese Kategorie als eine auf industrieller Herstellung und industriell organisiertem Vertrieb, technologischen Entwicklungen und strategischem Marketing basierende Repertoire-Kategorie der Musikwirtschaft im privaten und öffentlichen kulturellen Gebrauch Ende der 1980er Jahre verhältnismäßig erfolgreich Fuß fassen konnte. In einer Zeit – den 1980er Jahren –, als Synthesizer und Sampler Einzug in die Studios der Musikproduktion und auf den Bühnen hielten, versprach World Music – als Medium sozialen und kulturellen Verhaltens einer bestimmten Publikumsgruppe und als Repertoire-Kategorie – eine Art Gegenbewegung zur Technisierung in der Popmusik. Im folgenden Kapitel wird World Music als Repertoire-Kategorie bzw. als Repertoire-Segment der Musikwirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren näher untersucht, bevor Verweise in die Geschichte vergleichbarer Kategorien und musikalischer Repräsentationen aufgezeigt werden.
2.3 Weltmusiken - World Music zur Geschichte eines Phänomens, einer RepertoireRepertoire -Kategorie Katego rie und einer Forschungstradition 2.3.1 W ORLD MUSIC - EINE REPERTOIRE-KATEGORIE IM 20. J AHRHUNDERT World Music als Marketingstrategie der Musikwirtschaft Musikwirtschaft So wie es keinen Sinn macht, populäre Musik eindeutig zu definieren, weil sie aus einem nahezu unüberschaubaren Ensemble historisch veränderlicher, sehr verschiedener Genres und Gattungen besteht, kann auch eine allgemeingültige Definition dessen, was Weltmusik oder World Music ist, nicht gegeben werden. Wenn man als definitorischen Rahmen von populärer Musik ihre tendenziell massenhafte Produktion, Verbreitung und Aneignung setzt, dann sollte dies auch für eine Kategorie gelten, die in diesem musikalischen Handlungsraum angesiedelt ist. Eine begriffliche Festlegung ist auch deshalb nicht möglich, weil die Akteure der Produktion, Verbreitung und Aneignung populärer Musikformen – die Musiker, die Musikwirtschaft und das Publikum – immer auch verschiedene Interessen an populärer Musik haben, und diese mit und gegeneinander aushandeln. Begriffe zur Bezeichnung von populären Musikformen existieren als Stilbezeichnungen (Musiker), als Repertoire-Segmente (Musikwirtschaft) oder als Bezeichnungen für einen bestimmten kulturellen Raum, mit dem sich Subkulturen, Milieus oder Szenen identifizieren oder identifizieren lassen, also im diskursiven Bezug dieser verschiedenen Akteure aufeinander. Daraus folgt, dass man sich bei der Verwendung entsprechender Bezeichnungen immer darüber bewusst sein muss, wer zum Beispiel den Begriff Weltmusik bzw. World Music warum, wann und wo verwendet. In der Ausgabe des Handbuches der populären Musik aus dem Jahr 1997 (Wicke/Ziegenrücker 1997) findet man folgende Erläuterungen:
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit »Der Begriff ist schon in den fünfziger Jahren geprägt worden, von der Plattenfirma Capitol Records für ihre »Capital of the World Series«, in der sie ab 1952 Musik aus den vom einsetzenden Massentourismus neu erschlossenen Urlaubsgebieten veröffentlichte, […] Eine 1987 von einigen auf diese Musik spezialisierten Londoner Independent Labels unter dem Begriff World Music organisierte einmonatige Marketing-Kampagne löste dann einen Trend aus, der nicht unerhebliche Teile vor allem der studentischen Jugend des Westens auf der Suche nach etwas »Authentischem« und »Ursprünglichen« auf den Ethno-Trip führte.« (Ebd.: 588f.)
Als Musikformen zählt das Handbuch aus dem Jahr 1997 Salsa, High Life, Jùjú, Afro Rock, Raï, Zouk, Mbalax und Fuji auf, so genannte ethnische Minderheitenkulturen des nichtenglischsprachigen Raums. In der 2006 erschienenen Auflage gibt es lediglich geringfügige Korrekturen und Präzisierungen: »Eine im Juli 1987 von einigen auf diese Musik spezialisierten Londoner Independent Labels unter dem Begriff World Music organisierte einmonatige Marketingkampagne löste dann zur Überraschung aller Beteiligten einen Trend aus, der nicht unerhebliche Teile vor allem der studentischen Jugend des Westens auf der Suche nach etwas ›Authentischem‹ und ›Ursprünglichen‹ auf den Ethno-Trip führte.« (Wicke/Ziegenrücker 2006: 809f.)
Doch bleiben wir zunächst bei den Fakten. Im Sommer 1987 hatten sich in London etliche Independent-Label zu einer Marketingkampagne zusammengefunden, um den damals im Umfeld populärer Musikformen sich häufenden Produktionen aus dem weiten Feld lokaler Musikkulturen weltweiter Herkunft eine wiedererkennbare Verkaufsplattform zu geben. Vertreter von unabhängigen Labels, Konzertveranstalter, Artist-&-Repertoire-Verantwortliche, Promotoren und Journalisten wollten dem seinerzeit existierenden Boom und Interesse an nichtwestlicher (Pop)Musik einen Namen geben, eine identifizierbare Kategorie, ein Etikett bzw. Label, unter dem entsprechende Produkte (Tonträger, Bands, Musiker, Konzerte, Sendeformate) beworben und verkauft werden sollten. Schließlich ging es auch darum, die »nicht-westlichen« Musikformen in die Gewinnspannen der transnational agierenden Musikwirtschaft zu integrieren. In der Diskussion waren zunächst auch andere Begriffe, wie etwa »Ethnic Music«, »Folk«, »International« oder »Tropical Music«. Doch all diese schienen schließlich ungeeignet, irreführend, nicht mehr zeitgemäß oder zu speziell (vgl. Taylor 1997). Stilistisch völlig uneinheitlich wurden unter dem Label World Music sehr verschiedene Musikformen zusammengefasst. Als Repertoire-Kategorie der Musikwirtschaft bezeichnete sie damals insbesondere Musikformen wie die nordamerikanische Salsa, karibischen Soca und Zouk, algerischen Raï und westafrikanische High Life Music (vgl. Wicke/Ziegenrücker 1997). Ergänzt durch franco-amerikanische Formen (Cajun, Zydeco), sowie »modernisierte« Formen europäischer Volksmusik (z. B. Värttinä – eine finnische Frauenband, die in Frankreich produzierten Gipsy Kings oder die mit mehreren Tanzkompanien um den Globus tou-
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rende irische Tanz-Show Riverdance), durch ethnologische Raritäten und New Age ergab sich ein bizarres Bild einer globalen Klanglandschaft. In den Augen ihrer Kritiker bekamen unter diesem Label verkaufte Musikformen – insbesondere die Kollaborationen zwischen westlichen Popmusikstars wie Peter Gabriel oder Paul Simon (Graceland), David Burn von den Talking Heads oder der Gitarrist Ry Cooder, der in mehreren Alben mit unterschiedlichsten Musikern aus verschiedenen Ländern der Welt zusammenspielte, zum Beispiel für das Album »Buena Vista Social Club«, dem Soundtrack zum gleichnamigen Film von Wim Wenders,– einen unappetitlichen Beigeschmack. Man warf ihnen vor, sich angesichts der eigenen kreativen Armut anderer Musikformen zu bedienen und diese damit in einen postkolonialen Kontext zu stellen (vgl. Zitat Globakar). Eine Marketingkampagne hat die Funktion, ein bestimmtes Produkt auf den Markt zu bringen: die Sichtbarkeit eines Produktes zu erhöhen, ein bestimmtes Publikum für das Produkt zu interessieren bzw. es um ein bestimmtes Produkt herum – im Falle der Repertoire-Kategorie World Music um nichtenglischsprachige Popmusik und ihre traditionellen, ethnischen »Wurzeln« – aufzubauen. Das gesellschaftliche Klima, in das diese Londoner Kampagne fiel, war geprägt von der eingangs dieser Untersuchung beschriebenen gesellschaftlichen Situation von technologischen, ökonomischen, ideologischen und kulturellen Globalisierungsprozessen und -szenarien. In Großbritannien war mit der Regierungsübernahme von Margaret Thatcher die sozial-liberale Koalition abgelöst worden, gleiches traf für Deutschland mit dem Regierungsantritt von Helmut Kohl (CDU) 1982 zu. Die Digitalisierung sämtlicher Kommunikationstechnologien eroberte Mitte der 1980er Jahre die »Konsumentenmärkte« internationaler Metropolen, Westeuropas, Nordamerikas, Japans und Australiens. Für die Musik bedeutete dies unter anderem, dass die CD den Platz der Schallplatte eingenommen bzw. als Tonträgerformat vollständig substituiert hatte. Instrumente wie der Sampler – ein Musikcomputer –, der jeden x-beliebigen Klang speichern, bearbeiten und wiedergeben kann, hielten Einzug in den Tonstudios und auf Bühnen, wurden zunehmend technisch perfektioniert und zugleich preisgünstiger. Ökonomisch waren jene Jahre gekennzeichnet durch die Ausdehnung und Intensivierung des zwischenstaatlichen Handels und die Liberalisierung von Märkten, den wachsenden Einfluss transnational organisierter und operierender Unternehmensstrukturen (auch in der Musikbranche) und schließlich die Zunahme von Direktinvestitionen im Ausland. Gleichsam hatten sich die einstmals kolonialisierten Länder unabhängig gemacht, der Boykott der südafrikanischen Apartheidspolitik zum Beispiel genoss einen hohen symbolischen Stellenwert auch unter Popmusikern (vgl. Paul Simons Album »Graceland«, veröffentlicht im Jahr 1986, oder die Musikerinitiative Sun City, initiiert von Little Steven 1985). In den westlichen Ländern entwickelte sich die Aufmerksamkeit für ökologische Fragen. Soziale Gerechtigkeit meinte auch den emphatischen Zugang zu anderen Menschen und die Suche nach dem Selbst. Provoziert wurden diese Vorstellungen ferner von den unendlichen Strömen an Bildern, Klängen und Informa-
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tionen, wie sie von den Kulturindustrien global verbreitet wurden. Dadurch gerieten traditionelle Kulturen und Kulturvorstellungen unter Druck. Neben die Szenarien einer globalen »Kulturschmelze« traten solche, die neotraditionellen Codes und ethnischen Fundamentalismen wieder einen breiteren Raum gaben. Auf der kulturpolitischen Tagesordnung stand das Konzept Multikultur, dass den unterschiedlichen Gruppen von Migranten einen vor allem ethnisch bzw. national definierten Platz in den Einwanderungsländern zuwies. Alternativ zum Diktat des allgegenwärtigen Marktes in seiner neoliberalen Verfasstheit wünschte man sich Lebensformen, die sich dem entziehen bzw. erwehren sollten. Nicht zuletzt kulturelle Formen galten als letzte Zufluchtsstätten kritischen Denkens und toleranten Umgangs. Die Suche nach Überschaubarkeit und Nähe, Synthese und Halt erhielt angesichts der zunehmenden Fragmentarisierung menschlicher Erfahrungsräume neue Impulse. Deshalb war (und ist) World Music immer auch mehr als ein Label der Musikwirtschaft. Sie bündelt die kulturellen Bedürfnisse nach Synthese und Differenz. Sie ermöglicht Identität in der Aneignung des Fremden. Sie legt Wert auf die Dominanz des Körperlichen und ist dennoch ohne technisches Equipment weder auf die Bühnen noch auf die Tonträger zu bannen. Sie unterscheidet sich und ihre Fans von anderen Musikformen und deren Enthusiasten. World Music ist nicht die Musik der »nichtwestlichen Welt«, sie war vielmehr heute diese und morgen wieder jene Musik, die aus »der Fremde« oder der Vergangenheit kommend den eigenen Sehnsüchten anverwandelt werden konnte. All die an diesem Prozess Beteiligten (Musikwirtschaft, Publikum, Musiker etc.) wussten sicherlich auch um das kulturelle und das kommerzielle Potenzial derartiger Musikformen. »Was der Kategorie World Music dabei einverleibt wurde, […] war abhängig von den Bedingungen des Tonträgermarktes im Westen.« (Wicke/Ziegenrücker 1997: 589; Wicke/Ziegenrücker 2006: 810) Wer sich Ende der 1980er Jahre bzw. in den 1990er Jahren für World Music, Weltmusik oder Ethno Beat interessierte (im Marketing spricht man von Zielgruppen), war grob umrissen mittleren Alters, das heißt um die 30 und älter, eher weiblich, mittleren Einkommens und mit überdurchschnittlicher Bildung, zumeist im Bereich der Humandienstleistungen und Pädagogik tätig. Diese Gruppe verstand sich selbst als nonkonformistisch und multikulturell engagiert. Ihr Umgang mit World Music beschränkte sich nicht auf den Kauf von Tonträgern. Die Interessenten waren kulturell aktiv. Sie besuchten Konzerte und Workshops. Musik galt als Schule der Toleranz und des Verstehens jenseits kultureller Grenzen. Dabei spielten Dritte Welt Läden und die ökologische Bewegung eine wichtige Rolle im entsprechenden sozialen Raum. Die Suche nach dem »Authentischen« und »Ursprünglichen«, hier in der Verbindung von Körper, Bewegung, Rhythmus und »handgemachten« Sounds bildeten den kulturellen Rahmen, in dem World Music nachgefragt und angeeignet wurde. Nur in der Verbindung von ästhetisch-kulturellen Ansprüchen, die sozial organisiert sind, und den ökonomischen Aspekten, die kommerziellen Strategien fol-
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gen, sind Phänomene wie das von World Music oder Weltmusik im Rahmen populärer Musikformen erklärbar. Kommerzielle Interessen sorgen dabei keineswegs immer nur für das Ende von Vielfalt. Ohne die Möglichkeiten medialer Verfügbarkeit (technologischer und ökonomischer) wüsste man kaum von der Vielfalt der Klänge. Dennoch entzündeten sich immer wieder gerade am Phänomen von World Music, bzw. Weltmusik heftige Debatten um Einfalt und Vielfalt, Macht und Harmonie. Gemeint ist dabei vor allem eine Auffassung von Authentizität, von der wir Mitteleuropäer überzeugt sind, dass sie sich in den Kategorien von Originalität und Individualität äußert. Ethnische Traditionen wünscht man rein, unverfälscht, naturwüchsig. Viele sind enttäuscht, wenn in einer Taverne am Mittelmeer das griechische Volkslied mit synthetischen Rhythmen unterlegt ist. Aus Sicht der Musikindustrie markierte das neue Label den Versuch, eine klare Trennungs- und damit Erkennungslinie zwischen populärem angloamerikanischen Mainstream und nichtangloamerikanischer populärer Musik zu ziehen. 1991 betrug der Marktanteil von World Music in den USA nach Angaben der Recording Industry Association of America knapp drei Prozent, vergleichbar den Kategorien von Jazz und Classical Music mit ebenfalls drei bzw. 2,9 Prozent (Taylor 1997: 1). Diese Zahlen waren allerdings nicht übertragbar auf europäische Märkte, weil in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Kategorien bei der Auswertung der Marktanteile verwendet wurden. Paul Simon und Peter Gabriel galten Anfang der 1980er Jahre längst als die »Großen« des Musikgeschäftes. 1982 initiierte Peter Gabriel das erste WOMADFestival in Großbritannien – ein Festival, aus dem 1987, im sechsten Jahr seiner Existenz, sowohl ein Tonträgerunternehmen (seit 1989 Real World Records) eine Künstleragentur, eine Festivalproduktionsfirma und eine Bildungsinitiative hervorgegangen waren. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des WOMAD-Festivals veröffentlichten die Firmen WOMAD Communications und Virgin Records eine Sonderausgabe mit dem Titel »Worldwide: Ten Years of WOMAD«, dem folgendes Grußwort von Peter Gabriel vorangestellt war: »Pure enthusiasm for music from around the world led us to the idea of WOMAD in 1980 and thus to the first WOMAD Festival in 1982. We believed that there were many others who would be turned on if only they had an opportunity to hear some of the music that was exciting us. Despite a considerable lack of interest from most of the music business, I tried to gather together a group of people who could create an event which would present music and dance from all over the world together with rock, jazz and folk music from the west. […] Music is a universal language, it draws people together and proves, as well as anything, the stupidity of racism.« (Gabriel 1992: 5)
Man vertrieb diese Idee des Festivals weltweit und half so, Musiker wie den Senegalesen Youssou N’Dour oder die aus Simbabwe stammenden Bhundu Boys, zu World-Music-Stars aufzubauen. Man kooperierte geschäftlich mit anderen großen
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Festivals ähnlicher Couleur und zelebrierte eine weltweite World-Music-»Philosophie«. Sein Engagement für WOMAD formulierte Peter Gabriel damals folgendermaßen: »As a musician, WOMAD has provided me with the possibility to work with many artists from other cultures, often in a very spontaneous way. Rather than a loose jam session, I love to work on songs, but with plenty of space for improvisation. Occasionally these mixed marriages do not work at all, but more often they produce real magic, full of feeling and discovery.« (Peter Gabriel 1992: 5)
WOMAD ist mittlerweile zu einem weitverzweigten global agierenden Unternehmen der Musikwirtschaft gewachsen, inklusive aller Organisationsformen, Akteure und Binnenstrukturen, die für die Produktion und den Vertrieb von Musik notwendig sind: Tonträgerherstellung, Labels, Verlage, Studios, Agenturen, PromotionAktivitäten wie Festivals, Ausstellungen von künstlerischem Handwerk ethnischer Herkunft und auch Bildungsinitiativen. Im Jahr 2000 organisierte dieses Unternehmensgeflecht allein neun große Festivals an verschiedenen Orten der Welt, unter anderem im Londoner Globe Theater, in Singapurs Fort Canning Park, auf der Expo 2000 in Hannover, in Palermo auf Sizilien, im nordamerikanischen King Country und auf der Urlaubsinsel Gran Canaria. Die Festivals finden in den Sommermonaten unter freiem Himmel statt, sind familienorientiert und bieten neben den musikalischen Veranstaltungen Workshops in traditionellen Handwerkstechniken oder ethnischer Kochkunst. Fast zehn Jahre später ist WOMAD weiterhin weltweit als vertikal und horizontal organisiertes Musikunternehmen aktiv. Im Jahr 2008 fanden Festivals auf Sizilien, den Kanarischen Inseln, in der Bath Spa University Großbritannien, in Spanien und Neuseeland statt, im April 2009 war man zu Gast in Abu Dhabi, der Hauptstadt der Vereinigten Emirate. Ein zentrales Marketinginstrument der Musikwirtschaft stellen die Charts – Rangfolgeauflistungen der in einem bestimmten Zeitraum meistverkauften Tonträger – dar. Im Mai 1990 hatte das Billboard-Magazin seine Charts-Palette um die Billboard-World-Music-Charts erweitert. Diese Hitliste wurde vierzehntägig zusammen mit den New-Age-Charts unter der Rubrik »Top Adult Alternative Albums« veröffentlicht. »[I]t is designed to be music for grown-ups, music as wallpaper, music that does not, on its reasonably attractive and accessible surface, raise sticky problems about misogyny, racism, colonialism, what have you.« (Taylor 1997: 6) In den 1990er Jahren existierten etliche vergleichbarer Charts, die jedoch ihr Erscheinen nach dem World-Music-Boom Ende der 1990er Jahre wieder einstellten. Neben den kommerziell orientierten Charts, zum Beispiel den Africa-IwalewaCharts oder die Gypsy-Flores-Friday-Global-Village-Playlist, werden seit 1991 die von der European Broadcasting Union initiierten nicht-kommerziellen World-Music-Charts Europe (www.wmce.de) veröffentlicht, finanziell unterstützt von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – im Jahr 2009 beispielsweise vom West-
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deutschen Rundfunk Funkhaus Europa. Die Zusammenstellung der Charts erfolgt monatlich. World-Music-Spezialisten der 23 beteiligten europäischen Radiostationen stellen jeweils ihre Top-Ten-Liste gespielter Titel zusammen, aus denen eine Liste von 100 Titeln veröffentlicht wird. Bemerkenswert an diesen Charts ist ihre Unterstützung durch die Europäische Broadcasting Union, deren Vollmitglieder zumeist staatseigene Sender oder private Rundfunkanstalten mit einem öffentlichen Informationsauftrag sind, es handelt sich bei den World-Music-Charts Europe also um eine kulturpolitische Maßnahme und nicht um ein kommerziell orientiertes Marketinginstrument. Dies ist wohl auch ein Grund dafür, dass die betreffenden Charts heute noch existieren. Eingedenk dessen ermöglichen sie einige interessante Einblicke in die WorldMusic-Szenerie der vergangenen Jahre und der Gegenwart. Für die Jahre 1991–1994 und die Jahre 1997–2005 liegen vollständige Listen der von den World-Music-Redakteuren nominierten Titel im Internet vor. Sie basieren jährlich auf ca. 800 Nominierungen. Bemerkenswert ist dabei, dass der europäische World-Music-Markt von Künstlern und Bands aus Westafrika über Jahre hinweg dominiert wird. Sowohl die Auswertung der jeweils ersten zehn (Top Ten) Tonträger aus den Jahren 1991–1993, denjenigen aus den Jahren 1997–1999 als auch eine Auswertung der in den Monaten Februar–Juli 2009 nominierten CDs in den World-Music-Charts Europe lassen einen deutlichen geographischen Schwerpunkt erkennen. Er wird gebildet von Musikern und Bands aus Mali und dem Senegal, es folgen Nennungen aus Nordafrika (Algerien und Afrika), dann dem südlichen Afrika (Zaire, Südafrika). Nahezu gleichauf liegen die immer wieder gleichen europäischen Länder, vor allem Finnland, Rumänien und Großbritannien in den Jahren 1991–1993 und 1997–1999. In den aktuellen World-Music-Charts Europe (Februar 2009–Juli 2009) belegen Künstler und Bands aus dem südlichen Europa, hier insbesondere Serbien, Portugal und Spanien, sowie den Niederlanden vordere Plätze. Produktionen aus den Niederlanden, Großbritannien, der Schweiz oder Deutschland kommen von Bands, die entweder migrantischen Hintergrund haben oder ein spezielles, heute als World Musik verstandenes Genre vertreten, wie Klezmer oder so genannte Gipsy-Bands. Der Südeuropa-Boom ist der wachsenden Beliebtheit von so genanntem »Balkan Beat« in den deutschsprachigen Ländern geschuldet. Aus Mittel- und Lateinamerika gab es in den Jahren zwischen 1991 und 1993 lediglich zwei Platzierungen von Künstlern aus der Dominikanischen Republik, zwischen 1997 und 1999 aus Kuba, Brasilien und Martinique. Aus den aktuellen Top Ten sind diese Länder verschwunden, allein eine Band aus Peru ist unter den ersten zehn. Auffällig an diesen geographischen Zuordnungen dürfte der Fakt sein, dass zumindest unter den ersten zehn kein einziges Projekt aus dem asiatischen Raum zu finden ist. Die Erwartungshaltung World Music seitens europäischer Hörer ist offensichtlich sehr stark an den ethnisch geprägten populären Musikformen Westafrikas orientiert, dafür stehen Namen wie Baaba Mala (Senegal), Angélique Kidjo (Benin), Youssou N’Dour (Senegal), Cesaria Evora (Kapverden) oder Oumou Sangare
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(Maili) in den Jahren 1991–1993 als auch 1997–1999. Im Kern hatte sich diese Situation in den Jahren 1997–1999 nicht verändert. Es tauchten einige »Newcommer«, wie zum Beispiel der Kubaner Ibrahim Ferrer (präsentiert von »Buena Vista Sozial Club«) oder Femi Kuti (Nigearia), Sohn des bekannten Afrobeat-Musikers Fela Kuti, auf. Prinzipiell waren markante Veränderungen anhand der hier zu Rate gezogenen Daten zwischen den Jahren 1991–2009 jedoch nicht nachzuweisen. Das Webarchiv der World-Music-Charts Europa lässt allerdings einige Verschiebungen im Rahmen der jeweils verantwortlichen Tonträgerunternehmen erkennen. Stammten 1991 die Tonträger der Top Ten ausschließlich von so genannten Independent Labels, die sich sehr stark auf die Veröffentlichung von WorldMusic-CDs konzentrier(t)en (z. B. World Circuit, Globestyle, Mango, Piranha), tauchten seit 1992 Namen von so genannten Major Unternehmen wie Sony und BMG in den World-Music-Charts Europa auf. Allerdings muss auch davon ausgegangen werden, dass einige der aufgeführten Independent Label – wenn auch nur vorübergehend – Teil von Major Labels, bzw. selbst relativ große Unternehmen der Musikwirtschaft geworden waren (z. B. Real World). Im Jahr 1999 findet sich allerdings kein einziges der Major Label mehr unter den Labels, die als Produzenten/Vertrieb für die platzierten Musiker bzw. Bands angegeben werden. Das lässt darauf schließen, dass die betreffenden Märkte für diese nicht mehr profitabel genug waren, um sich in ihnen zu engagieren. In den 1990er Jahren wandte sich eine nicht gering zu schätzende Menge von Labels dem Repertoire-Segment World Music zu und lizenzierte ihre Produkte bald auch als Sublabel – als Teil entsprechender Organisationsstrukturen der international agierenden Tonträgerunternehmen wie zum Beispiel Mango/PolyGram, RealWorld/Virgin/EMI, Nonesuch/WEA und Windham Hill/BMG (Taylor 1997). Das Geschäft mit Künstlern im Repertoire-Segment World Music blieb jedoch bis heute weitestgehend in der Hand von Independent Labels wie Hannibal, Ellipsis Arts, World Circuit, Rykodisc, Piranha oder Globestyle (Broughton/Ellingham/ Trillo 1999; Broughton/Ellingham 2000, siehe auch entsprechende Websites der Labels heute). Einige der Letztgenannten fusionierten, wie zum Beispiel Hannibal und Ryko. Im Rahmen der Neu- und Umstrukturierungen der Majorlabels nach der Jahrtausendwende – insbesondere bei Sony, BMG und auch Universal – hat man sich von so genannten speziellen Produkten oder Labels getrennt. Pro veröffentlichten Tonträger wurden in den 1990er Jahren durchschnittlich 5000 bis maximal 10.000 Stück, meistens jedoch sehr viel weniger Exemplare verkauft. Auflagenhöhen in dieser Größenordnung sind für die transnationalen Medienkonglomerate unrentabel, weil in ihren Erfolgschancen schwer kalkulierbar, ökonomisch risikobehaftet und damit uninteressant. Nach den massiven Umsatzeinbrüchen der Musikindustrie bzw. im Tonträgerhandel Anfang des neuen Jahrhunderts sind diese Zahlen noch weiter gesunken. Die Repertoire-Kategorie World Music bewegt sich inhaltlich als auch ökonomisch in den so genannten Nischen des Musikmarktes. Nichtsdestotrotz wurde das Angebot – was das Spektrum der Akteure, Organisationsformen und Binnenstrukturen anging – immer unüberschau-
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barer. Ende der 1990er Jahre stellten die Herausgeber der neuen Auflage von »World Music: The Rough Guide« fest, dass es immer mehr Festivals und Konzerte dieser Art gibt und dass der Markt an entsprechenden CDs längst gesättigt sei (Broughton/Ellingham/Trillo 1999: IX). Neben den Charts stellen Preise ein weiteres Marketinginstrument der Musikwirtschaft dar. Einen Grammy für das beste World-Music-Album, der aus der Kategorie »Best Traditional Folk Recording« hervorgegangen war, wurde erstmals 1991 überreicht. Diesen ersten Grammy erhielt Mickey Hart and Guests (vgl. Kapitel 1.2.2) für die Produktion »Planet Drum«. Auch in den darauf folgenden Jahren gingen die World-Music-Grammys nicht an einen einzigen nichtwestlichen Musiker, sondern vor allem an Kollaborationen zwischen Stars westlicher Popmusik mit Musikern (z. B. Ry Cooder) aus den so genannten nichtwestlichen Regionen der Welt (Ry Cooder mit Ali Farka Touré). Timothy Taylor (Taylor 1997) bemerkte dazu, dass umgekehrt kaum einer der ausgezeichneten Künstler Erwähnung fand im »World Music: The Rough Guide« – eine Edition, die eher jene stark ethnisch geprägten Musikformen ins Zentrum ihrer Darstellungen rückt und eine quasi »reine« Perspektive auf World Music bevorzugt im Unterschied zu synkretischen und populären Formen, die im Crossover mit westlicher Popmusik stehen und vom amerikanischen Billboard-Magazin gelistet wurden (vgl. dazu auch The Rough Guide World Music »Africa, Europe and the Middle East« 1999 und »Latin and North America, Caribbean, India, Asia and Pacific« 2000). Seit dem Jahr 2004 vergibt man zwei verschiedene Grammys, zum einen den Grammy Award für das »Best Traditional World-Music-Album« (2009 und 2005 ging er an Ladysmith Black Mambazo) und zum anderen für das »Best Contemporary World-MusicAlbum« (2009 wiederum für Mickey Hart und eine Neuauflage von »Global Drum Project«, 2007 Klezmatics »Wonder Wheel«, 2006 Gilberto Gil »Eletracustico«). Diese Form der Diversifikation stellt offenbar auch eine Ordnung der Marktsegmente dar, die in ihrer Unüberschaubarkeit nicht mehr handhabbar war. Da die Nominierungen und Auszeichnungen mit Grammy Awards im Wesentlichen den Bedingungen nordamerikanischer Märkte folgen, tauchen hier andere Namen auf, als zum Beispiel in den European World-Music-Charts. World Music - ein Mix aus musikalischen Genres und Gattungen Reichlich zehn Jahre nach dem World-Music-Boom der 1990er Jahre existiert zwar die Kategorie World Music weiterhin als Repertoire-Kategorie des Tonträgerhandels. Doch das, was sich dahinter verbirgt, wurde – und dies war bereits in den 1990er Jahren absehbar – immer diffuser und stilistisch uneinheitlicher. Wer Mitte der 1990er Jahre den Handel aufsuchte und unter dem meist blau gestalteten Label World Music einen Tonträger suchte, dem konnte vielerlei begegnen: • ausgefallene Produktionen wie »Freedom Chants From The Roof Of The World« von The Gyoto Monks (RyKoDisc 1989);
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Sammelalben, die unter der Repertoire-Kategorie World Music entweder Musiken aus Regionen oder von bestimmten Ethnien enthalten, wie etwa »The Music of Cuba«, »English Roots Music« und »African Music«; populäre Tanzgattungen wie Tango, Calypso, Soca, Salsa Dance und Flamenco.
In diesem Sammelsurium konkurrierten sowohl die so genannten Großen unter den Kleinen als auch die Kleinstlabels und Verlage, Spezialgeschäfte, Festivals, Messen, Tonträgerunternehmen und Agenturen um potenzielle Käufer. Geführt und organisiert von kenntnisreichen Enthusiasten hatten sich vor allem Letztere einer Marktnische verschrieben und kultivieren das Image des Besonderen und Außergewöhnlichen. Die Möglichkeiten moderner Informationstechnologien gewährten zunehmenden Zugang zu detaillierten Katalogen entsprechender Labels und dazugehörigen Informationen im Internet. Damit konnte man auf spezielle Interessen des Publikums individuell eingehen. Die Repertoire-Kategorie World Music – ob nun in Gestalt quasi »reiner« Formen ethnischer Musikpraktiken oder aber als synkretische, populäre und im Crossover mit westlichen Standards populärer Musik produzierte – folgte immer den Bedingungen westlicher Tonträger- und Musikmärkte. Eine weltweit identische Kategorisierung machte keinen Sinn und wurde bzw. wird nicht praktiziert. In den USA zum Beispiel, wo es eine zahlenmäßig äußerst starke Gruppe von Latinos gibt, wurde Salsa nicht als World Music kategorisiert, hingegen in Großbritannien mit seiner zahlenmäßig bedeutend kleineren Latino-Bevölkerung sehr wohl (Guilbault 1995). Ob in Nordamerika oder in Europa, die Repertoire-Kategorie bezeichnet und umfasst vor allem die populäre Musik »der (jeweils) anderen«. In den »Herkunftsländern« selbst wurden die im Westen beliebten Genres und Formen sehr viel enger, wenn nicht ganz anders definiert. Sobald sie auf den internationalen Markt gelangten, wurden sie unkonkret, sowohl was ihre regionale Herkunft anging, als auch ihre stilistischen Besonderheiten. Tiago de Oliveira Pinto konnte diese Veränderungen anhand der Geschichte des brasilianischen Forró nachweisen. Er beschrieb sie als eine Musikform, die im Zuge der Wanderungsbewegungen von Arbeitsmigranten aus dem Nordosten Brasiliens in die urbanen Zentren von Sao Paulo und Rio de Janeiro »regional begrenzt, national rezipiert und international verbreitet« (Pinto 1995: 72) wurde. Die kleinen Spezialläden vermieden es in den 1990er Jahren meistenteils, internationale Stars anzubieten. Man wollte das Selbstwertgefühl des an Kenntnis reichen Fans nicht beleidigen. Wohl auch deshalb fand man die kommerziell erfolgreichen eher in den CD-Abteilungen der so genannten Mega-Stores, und zwar unter dem Etikett World Music neben Tango-Editionen, Afrika-Samplern und SonEditionen aus Kuba, den neuesten CDs von Youssou N’Dour und denen des Raïkönigs Khaled, aber auch indische Ragas, japanischer Kodo, Enigmas »Sadeness«, Stimmen aus dem Regenwald, traditionelle irische Musik und die Produktionen von Celtic Heartbeat. Vier Beispiele sollen hier genügen, um die stilistische
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und genrespezifische Unüberschaubarkeit zu veranschaulichen, die sich hinter dem Label World Music in den 1990er Jahren verbarg: 1. Die französische Gruppe Gipsy Kings konnte in den Jahren 1990, 1991, 1992, 1994, 1995 und 1996 erste Plätze in den frühsommerlichen Billboard’s-BestSelling-World-Musician-Charts besetzten. Mit ihren Flamenco- und Fusion-MusicHits »Djobi Djobi«, »Bamboleo«, »Volare«, »Pida Me La« und »Baila Me« halfen sie, die Urlaubsgefühle vieler Nord- und Mitteleuropäer anzuheizen. Das steigerte ihr Verkaufspotenzial (»Gipsy Kings«, Columbia Music 1994). 2. Die Gründungs-Mitglieder der finnischen Band Värttinä studierten am Volksmusikinstitut der Sibelius-Akademie von Helsinki und gerieten erst verhältnismäßig spät in den Kontakt mit den Sound-Vorstellungen populärer »westlicher« Musik. Mit fünf produzierten Alben war Värttinä in den 1990er Jahren sehr präsent im World-Music-Kontext. Interessant ist, dass die Promotion-Aktivitäten und Marketing-Strategien sich je nach Region in der Welt für die Band sehr stark unterschieden. In Finnland oder Schweden wurden Värttinä als eine dynamische und quirlige Gruppe präsentiert, die die heimatliche Volksmusik mit Pop-Elementen kombiniert. In den USA musste man hingegen das exotische Element der finnischen Folklore in den Vordergrund stellen. Die Plattenfirma wünschte sich die Präsentation einer ruhigen und friedlichen Folk-Band, musizierende Naturmenschen, die die »Reinheit« traditioneller Musik repräsentieren. Schließlich verantwortete Värttinä den Soundtrack für das Musical »Lord of the Rings« (UA Toronto 2006). 3. Das Projekt Le Mystére des Voix Bulgares entstand als Idee des Schweizer Musikethnologen und Musikproduzenten Marcel Cellier (*1925). Er komponierte für den Frauenchor des bulgarischen Rundfunks Lieder, die die traditionellen Momente ländlicher Musik aus verschiedenen Regionen des Balkans – in Melodik und Harmonik, in nicht temperierter Stimmung sowie in Rhythmik und vibratolosem Timbre – aufgriffen. In ihrer Anmutung schienen sie Hunderte von Jahren alt. 4. World-Music-Alben wechselten von Zeit zu Zeit die Repertoire-Segmente des Tonträgerhandels. Fand man ab Mitte der 1990er Jahre auch mittelalterliche Lieder der Hildegard von Bingen in der Abteilung World Music, so wurde man nach der Jahrtausendwende auf der Suche nach entsprechenden Aufnahmen eher in der Klassikabteilung unter dem Stichwort »Alte Musik« fündig. Ähnlich erging es der berühmt gewordenen Veröffentlichung »Buena Vista Social Club« (Ry Cooder). Ende der 1990er Jahre ordnete man das Album zunächst dem RepertoireSegment Jazz zu. Dort wurde es nur von »Eingeweihten« gesucht und gefunden. Anschließend verlegte man es in die Abteilung World Music. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs – parallel zur Ausstrahlung des gleichnamigen Films von Wim Wenders – rückte der Tonträger in die den Kassen nahen Regale der aktuellen AlbumCharts auf. Diese Praktik des Tonträgerhandels bezeichnet man als Rackjobbing. Wer Ende der 1990er Jahre in den Auslagen des Tonträgerhandels stöberte, konnte grob systematisiert folgende Gattungen und Stilistiken unter dem Label World Music finden (vgl. dazu auch van der Lee 1998: 45f.):
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funktionelle rituelle Musik aus ländlichen Regionen des gesamten Globus, die meist Resultate ethnologischer Feldforschung waren; Kunstmusik nichtwestlicher Hochkulturen, wie zum Beispiel indische Ragas, arabische Maqam oder Kodo aus Japan; internationale Folklore und Darbietungsmusik von Nationalballetten, EventProduktionen oder Show-Darbietungen aus den touristisch erschlossenen Regionen der Welt; verschiedene Formen populärer ländlicher und städtischer Tanzmusik mit unterschiedlichen lokalen und kulturellen Einflüssen wie Tango, Flamenco, Calypso, Son, Samba und Bossa Nova; populäre Musikformen jenseits des englischen Sprachraums, die ab der Mitte der 1980er Jahre in den westlichen Metropolen den Kern des World-MusicRepertoires bildeten und zumeist eine Art Konglomerat aus lokalen populären Musikformen und westlichen Formen populärer Musik darstellten – eine Kombination lokaler Charakteristika mit den Merkmalen international verwertbarer Popmusik: Jùjú, Fuji, Alben von Mory Kante, Ofra Haza aus Israel, Angélique Kidjo aus dem Benin, den Gipsy Kings und Projekten und Bands, die europäische Formen traditioneller Musik und westliche Sound- und Rhythmusstandards populärer Musik verbinden, auch traditionelle Stilistiken »popularisieren«, wie die finnische Band Värttinä oder die Le Mystére des Voix Bulgares; Musikformen und -praktiken so genannter ethnischer Minderheiten, die in den westlichen Metropolen im Zuge von Migration, Exil oder Diaspora entstanden sind, wie New Yorker Salsa oder algerischer Raï; Koproduktionen zwischen bekannten westlichen Musikern und Komponisten und mehr oder weniger unbekannten Musikern und Komponisten aus nichtwestlichen Regionen; zu nennen sind zum Beispiel David Byrne, Ry Cooder, vor allem aber Paul Simon; Musikproduktionen, die den Bereichen New Age, Klangtherapie und Esoterik zuzuordnen waren, wie Walgesänge und Stimmen aus dem Regenwald in unbearbeiteter und bearbeiteter Form, aber auch stark sequenzerorientierte elektronische Produktionen, beispielsweise von Andreas Vollenweider oder Tomita; Produktionen aus dem Kuriositätenkabinett des Tonträgermarketings, wie zum Beispiel Veröffentlichungen von Musik der Hildegard von Bingen oder gregorianische Gesänge im Mix mit Popmusik von Enigma.
Spätestens in Bezug auf den letztgenannten Punkt wurden die Grenzen zunehmend fließend hin zu anderen Repertoire-Segmenten, seien dies die Rubriken von Dance, Jazz, Neuer und Alter Musik, in denen je nach Verkaufskonzept der jeweiligen Händler Angebote unterbreitet werden, das heißt, in denen Käufer mit MarketingStrategien der Rubrizierung zum Kauf entsprechender Tonträger motiviert werden sollen.
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Interessanterweise führte der Bundesverband der phonographischen Wirtschaft, der als deutscher Dachverband der Phonographischen Wirtschaft mit Sitz in Hamburg (bis 2008, dann Berlin) die Interessenvertretung der Musikindustrie darstellt, in seinen Statistiken nie eine eigene Kategorie Weltmusik bzw. World Music. Sie wurde bzw. wird wie Filmmusik und Soundtracks, Instrumentalmusik, Weihnachtsproduktionen, Country und Folk unter »Sonstiges« geführt. De facto dürfte es dafür zwei Gründe geben; erstens waren die Umsatzzahlen im betreffenden Repertoire-Segment nie groß genug, zweitens sind die entsprechenden Labels nicht Mitglied der deutschen Branche der International Federation of Phonographic Industries (IFPI), sondern – wenn sie überhaupt ihren Sitz in Deutschland hatten oder haben – Mitglieder des Verbandes der Unabhängigen Tonträgerunternehmen (VUT), heute Verband unabhängiger Musikunternehmen e.V. Mit Beginn des neuen Jahrtausends ließ das kommerzielle Interesse an World Music deutlich nach. Das Billboard-Magazin stellte seine Auflistungen ein. Entsprechende Labels, Veranstalter und der hoch spezialisierte Einzelhandel konnten sich kaum noch am Markt halten und mussten, wie der bekannte Berliner Einzelhändler canzone, ihre Aktivitäten mangels Nachfrage einstellen. Die Kinder der Weltmusik-Stars schließlich, zum Beispiel Femi Kuti, gingen musikalisch neue Wege. Sie entwickelten ein anderes, vor allem ein nichtethnisch gebundenes Verhältnis zu ihren musikalischen »Wurzeln«. Der Vertrieb von Tonträgern des Labels World Music läuft gegenwärtig in überwiegendem Maße über Internetplattformen, ungeachtet dessen findet man auch im Tonträgerhandel – zum Beispiel in Berlins Kulturkaufhaus Dussmann – eine umfangreiche und wohlgeordnete Abteilung Weltmusik/World Music. Sortiert nach Kontinenten und Ländern entdeckt man hier eine nahezu unüberschaubare Menge an Musikproduktionen von allen erdenklichen Orten der Welt. Im Unterschied zu den ausgehenden 1990er Jahren fallen konzeptionell orientierte Sampler – Zusammenstellungen – zum Beispiel zu Themen wie Trauermärsche, Totenlieder, Wiegenlieder oder Tango von der ganzen Welt auf. Zu jeder für Europäer bekannten Region hat ein Reiseveranstalter (Reise Know How) »Sound Trips to …« veröffentlicht. Für bestimmte Regionen oder auch regional-religiöse Schwerpunkte stehen so genannte »Beginners Guides« zur Verfügung: »Asia Lounge«, »Buddha Lounge«, »Bellydance«, »Eastern Europe«, »Flamenco«, »Bollywood«, »Salsa«. Neben den »alten« Weltmusikstars wie Ravi Shankar, Baaba Maal oder Youssou N’Dour sind jüngere Künstler und vor allem auch Künstlerinnen wie Shakira (Kolumbien) oder Mariza (Portugal) vertreten, die eher als globale Popstars gelten dürften, denn als so genannte Weltmusikstars. Hinzu kommen Künstler – wie zum Beispiel Susheela Raman, die als Kind tamilischer Eltern in London geboren wurde und in Australien aufwuchs – bei denen eine Zuordnung zu einer bestimmten Region, Nationalität keinen Sinn mehr macht. Im Angebot – zu Spottpreisen – werden Deutsche Volkslieder zusammen mit »Revolutionsliedern« (auf dem Cover Che Guevara) und Gilberto-Gil-live und Wiederveröffentlichungen der Lieder von Vladimir Vissotski angepriesen. Zur
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Kategorie Kuriositätenkabinett gehört heute nicht mehr Hildegard von Bingen, sondern Sampler mit »Pionier- oder Parteiliedern aus der ehemaligen DDR«. Lediglich »die traditionellen« Musikformen findet man heute kaum mehr in den Weltmusikregalen eines deutschen Kulturkaufhauses. Fazit: alles, was jenseits der Klassik-Etage nicht in den Regalen von Jazz, Alternative, Soul, Electronics, Rock ’n’ Pop Deutsche Interpreten, Hard & Heavy etc. untergebracht werden kann, findet seinen Platz in der Abteilung Weltmusik bzw. World Music. Zur Geschichte der RepertoireRepertoire-Kategorie Kategorie World Music Bereits viele Jahre bevor man sich im Jahr 1987 in London auf die Bezeichnung »World Music« als Repertoire-Kategorie geeinigt hatte, gab es Versuche, Musikformen aus Gegenden jenseits des anglophonen Sprachraumes für bestimmte Märkte zu produzieren und zu vertreiben. Diese Versuche können folgendermaßen charakterisiert und chronologisch systematisiert werden:
Musik für Touristen Unter der Bezeichnung »Edition Capitol of the World Series« veröffentlichte Capitol Records – ein amerikanisches Tonträgerunternehmen, das Mitte der 1950er Jahre Teil der zunächst von London aus agierenden EMI wurde – seit 1956 Musiken aus den Urlaubsgebieten, die vom einsetzenden Massentourismus neu erschlossenen wurden. Als »Musik für Touristen«, das heißt als Andenken an »die schönsten Tage im Jahr« waren sinnenfreudige und körperbetonte Tanzgenres wie der Calypso aus der Karibik und Samba und Bossa Nova aus Südamerika auch für diejenigen, die sich eine solche Reise nicht leisten konnten, eine angenehme Abwechslung im Nachkriegsalltag. Die Wirtschaftswunderzeit ließ auch in Deutschland die Sehnsüchte nach dem Fremden und Exotischen, an Urlaub und Sonne wieder aufkommen, »wenn auf Capri …«. Erste Gastarbeiter aus Griechenland, Italien und Spanien wurden ins Land gerufen.
»Politisch korrekte« Musik Harry Belafonte, der in den 1950er und 1960er Jahren fast ununterbrochen den Grammy in der Kategorie »Best Performance Folk« gewonnen hatte, war einer der populären Stars jener Zeit. Er avancierte, wenn man so will, zum Wegbereiter der späteren Weltmusik-Stars. Als schwarzer Nordamerikaner, der fünf Jahre seiner Kindheit in Jamaika verbracht und dort die Musikkultur der ehemaligen Sklaven kennen gelernt hatte, repräsentierte er die Lust am sinnenfreudigen Vergnügen karibischen Karnevals und machte die Exotik und die Trauer der Schwarzen in einer Mischung aus Calypso, Popular Music – der nordamerikanischen Variante des Schlagers – und Political Correctness gesellschaftsfähig. Ganz offensichtlich eigneten sich die entsprechenden Musikformen für eine ausreichend massenhafte Produktion, Verbreitung und Aneignung und für Investitionen, die die ökonomischen Aufwendungen der Herstellung und des Vertriebes entsprechender Songs, Singles und Alben rechtfertigten. Belafontes Album »Calypso« (RCA 1956) ging als eines 128
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der ersten »Millionseller« in die Geschichte der Popmusik ein. Selbst in den Ländern der so genannten Zweiten Welt, den Ländern der sozialistisch orientierten Staatengemeinschaft, war Harry Belafonte ein gern gesehener Gast. Die elegante Mischung aus Befreiungskampf und Entertainment, wie sie zum Beispiel auch von Miriam Makeba verkörpert wurde, kam bei Kulturfunktionären und Publikum gleichermaßen gut an. Tatsächlich waren es ironischerweise auch die Turbulenzen der Befreiungsbewegungen, der antikolonialen Demonstrationen, der Kampf um nationale Eigenständigkeit in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren in Afrika, Asien und Lateinamerika, die auf den Märkten des Westens das Interesse an deren »authentischer« Musik forcierten. Als Trinidad im Jahr 1962 seine Unabhängigkeit erhielt, wurde ein neues Kapitel des Calypso aufgeschlagen. Er trat seinen Siegeszug um die Welt an.
Die passende Musik als Köder Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich, vor allem aus ökonomischem Kalkül, ein Interesse von Musik aus »entlegenen« Gebieten der Erde entwickelt. Allerdings ging es dabei weniger um einen Transfer musikalischer Praktiken und Klänge von einem Ort zum anderen als um das Erschließen von Märkten für die entstehende Musikwirtschaft und deren Tonträgerunternehmen. Damals verkauften die Tonträgerunternehmen neben Walzen und Schellackplatten als Software immer auch die zu ihrem Abspiel notwendige Hardware, zum Beispiel Phonographenwalzen und Grammophone. So berichtet die Phonographische Zeitschrift in einer Ausgabe aus dem Jahr 1913, dass zum Beispiel »Deutschland bei der Ausfuhr von Sprechmaschinen nach Persien an dritter Stelle steht. […] Nach den französischen Besitzungen und Schutzgebieten in Vorder- und Hinterindien wurden zum Beispiel im Jahr 1910 17 dz Sprechmaschinen und 11 dz Platten und Walzen ausgeführt.« (Phonographische Zeitschrift 1913: 317) Bis in die fünfziger Jahre hinein boten die internationalen Märkte genügend Kapazitäten, sich extensiv auf ihnen zu platzieren. Trotzdem standen die verschiedenen Firmen zum Beispiel aus patentrechtlichen Gründen von Beginn an zueinander in Konkurrenz und mussten geeignete Wege und Methoden finden, ihre Produkte, Marken und Konzepte durchzusetzen. Aus der Geschichte der Phonowirtschaft wird immer wieder berichtet, dass man nur dann Grammophone zum Beispiel in Singapur verkaufen konnte, wenn man gleichzeitig Musik auf Tonträgern anbieten konnte, die man vor Ort kannte. Also schickte man so genannte Recordingteams in die »entlegensten« Regionen der Welt, um entsprechende Aufnahmen vorzunehmen. Im März des Jahres 1903 telegraphierte zum Beispiel ein Toningenieur aus Schanghai nach Hause: »Die ersten Aufnahmen sind geschnitten. Die so genannte Musik der 15 Chinesen ist ein einziges Krachen und Knallen. Das Getöse hat meinen Verstand derart gelähmt, dass ich kaum noch denken kann.« (Wagner 1998: Radiosendung) Neben der englischen Grammophon Company, später EMI, und dem amerikanischen Victor-Label war die deutsche Firma Odeon von Beginn an einer der
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Hauptakteure auf dem internationalen Tonträgermarkt. Noch im Gründungsjahr 1904 unternahmen Toningenieure längere Reisen nach Nordafrika, Griechenland und in die Türkei. Mit den Aufnahmen, die dabei gemacht wurden, begann sich der Odeon-Katalog rasch zu füllen. 1906 enthielt er schon 11.000 Titel mit so genannter außereuropäischer Musik. Im Gegensatz zur Konkurrenz, die ein weltweites Netz von Niederlassungen betrieb, ein noch heute vor allem für SONY BMG und Universal übliches Konzept, hatte Odeon einen direkten Weg in die ausländischen Märkte gefunden (vgl. Kapitel 3.3.1). Die Firma suchte Repräsentanten vor Ort, auf deren Kenntnis der lokalen Zusammenhänge man die Aufnahmekonzepte baute. Man vertraute ihnen und ließ ihnen freie Hand in der Auswahl von Musikern und der Organisation der Verkaufsstrategien – heute würde man sagen, man überließ ihnen den Einsatz passender Marketing-Strategien. Wer sonst, wenn nicht die Odeon-Vertreter vor Ort, kannten die Vorlieben und Eigenheiten der lokalen Märkte am besten. Erst wenn eine Aufnahmesession genügend vorbereitet worden war, schickte man einen Ingenieur aus Berlin mit dem Aufnahmegerät in die entsprechenden Regionen, um ausgewählte Künstler bzw. Musik in bestmöglicher Qualität in Wachs zu schneiden. »Frühe ›World Music‹ auf Schellacks« nannte Christoph Wagner, der diese historischen Fakten recherchiert hat, die Resultate solchen »Engagements« (Wagner 1998, Radiosendung). Doch das waren sie mitnichten. Es handelte sich vielmehr um notwendige Strategien, den Verkauf von Grammophonen in den entsprechenden Regionen anzukurbeln. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Aufnahmen füllten zwar die Kataloge der Tonträgerfirmen, waren aber keinesfalls für den Export und Vertrieb in Regionen jenseits dessen gedacht, in denen sie ohnehin praktiziert wurden. Nicht nur in eigenen früheren Darstellungen und Veröffentlichungen (Binas 2001a, 2001c) wurde darum diesem historischen Phänomen eine Bedeutung zugemessen, die angesichts der Einsichten in die ökonomischen Dimensionen des Musikprozesses nicht mehr vertretbar sind. Auch Bernd Wagner irrt, wenn er glaubt, dass damals der Begriff »Weltmusik« entstanden sei. Denn es gab noch keinen Weltumfassenden Vertrieb von Musikaufnahmen aus allen Ländern, noch nicht die Vermischung musikalischen Materials und die Entstehung neuer Musik in einem ganz anderen Ausmaß, als es zuvor möglich war (vgl. Wagner 2002). Wer heutzutage durch die Antiquitätenläden indischer oder arabischer Städte streift, findet bemerkenswert viele Grammophone, die zum Verkauf dargeboten werden. Offenbar erst im Zuge der Digitalisierung wurden sie von ihren Besitzern abgegeben und durch neue Abspielgeräte ersetzt.
Fluchthilfe aus Konventionen – improvisierter Jazz Weniger die kommerziellen Notwendigkeiten als die Neugier an stilistischen Besonderheiten motivierte die Neugier an Klängen aus »entfernten« Regionen der Welt im Kontext von artifizieller Musik und Jazz seit den 1960er Jahren in Europa und Nordamerika. Das betraf vor allem die Spieltechniken und die Art der verwen-
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deten Klangerzeuger: »Ein Moment der Loslösung improvisierter Musik aus der Jazz-Orthodoxie besteht darin, den Kanon der akzeptierten Instrumente zu durchbrechen.« (Wilson 2000: 35) Auf diese Weise entstanden vielfältige Versuche, aus den Musikkulturen der verschiedenen Weltregionen eine Art Synthese zu schaffen und Begriffe dafür zu finden: Weltmusik. Angeregt durch Überlegungen von Joachim-Ernst Behrendt (Musikjournalist und Musikproduzent) sprach man im Kontext des Jazz auch dann vor allem von Weltmusik, wenn sich Jazzmusiker aus spirituellen Gründen für musikalische Traditionen aus dem arabischen, afrikanischen und asiatischen Raum öffneten (vgl. Franzen 2005: 738). Das Interesse war also keinesfalls nur musikalisch motiviert, sondern Teil der sich in bestimmten sozialen und kulturellen Zusammenhängen seit den 1960er Jahren in den westlichen Metropolen herausbildenden Hinwendung zu nichtwestlichen Lebensphilosophien, -auffassungen und Religionen. Auch bekannte Musiker aus dem Kontext populärer Musik, man denke nur an George Harrison von den Beatles, widmeten ihr musikalisches und kulturelles Interesse diesen Lebensphilosophien.
Durch Musik zum Selbst Für viele Musiker und Komponisten bedeutete der Kontakt mit nichteuropäischen Musikern und deren Musikformen also meist mehr als nur eine Quelle »neuer«, anderer Spiel- und Kompositionstechniken und Klangvorstellungen: »Die ›Fluchthilfe‹ aus Konventionen, die die fremde Musik versprach, ging für sie noch viel weiter: Das vermeintlich ›Archaische‹, ›Unverdorbene‹ der anderen Musik bot sich ihnen als ideale Projektionsfläche für all jene Sehnsüchte an, die in den psychischen und physischen Disziplinierungen der eigenen Tradition unerfüllt blieben.« (Wilson 2000: 37) Nicht erstaunen mag darum, dass auf der Schallplattenhülle zum 1990er KlangWelten-Festival folgender Text abgedruckt wurde: »Die beiden ›INUIT-Großmütter‹ aus der kanadischen Arktis führen die magische Kunst des KATAJJAK-Gesanges vor. Die beiden stehen sich gegenüber, fassen sich bei den Armen und singen sich gegenseitig in den Mund. Die Töne der immerwährenden Melodien werden immer abwechselnd von der einen und der anderen gesungen, sind also exakt ineinander verzahnte, hörbare Manifestationen einer Kultur, in der die Gruppe alles, der Einzelne wenig zählt. Zurzeit erlebt der Katajjak-Gesang eine Renaissance im Norden, weil er die Menschen zusammenbindet und hilft, den Anfechtungen der jetzt ›weißen‹ Umwelt – Leistungsdruck, Vereinzelung, Alkohol, Identitätsverlust – entgegenzutreten.« (Network 1990)
Musiker ebenso wie ihr Publikum versuchten, jener Welt, die immer stärker von den Erfahrungen instrumenteller Vernunft geprägt wurde – inklusive dem Musikbetrieb – musikalische und kulturelle Formen der Intuition, der Spiritualität und Spontaneität entgegenzusetzen. Die kulturellen und sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre in Nordamerika und Westeuropa sind beredtes Zeugnis dieser Suche nach Selbstvergewisserung und -findung mittels außereuropäischer Musikformen (vgl. Kapitel 2.3.4). Eine sehr große Anziehungskraft übten diese
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Konzepte vor allem auf die Generation aus, die in den 1950er Jahren in der »westlichen Welt« geboren wurden. Sie wuchs im Unterschied zur Generation ihrer Eltern, die den Krieg in Europa noch unmittelbar miterlebt hatten, in Wohlstand auf, sah sich dann aber im Laufe der 1960er und 1970er Jahre mit einer als problematisch empfundenen Sicherung dieses Wohlstandes konfrontiert. Erstmals wurden die Resultate fortgesetzter hemmungsloser Industrialisierung thematisiert. Zur Erfahrung der ökologischen Krise kamen die weltweit geführten Kriege, zum Beispiel in Vietnam. Im westlichen Deutschland griffen erstmals die Veränderungen einer pädagogischen Liberalisierung. Entwickelt und umgesetzt wurde ein Bildungskonzept, das den Aspekt der Selbsterfahrung und des sozialen Verhaltens fokussierte. »Nicht [der] analytisch-theoretische, sondern der emphatische Zugang zum anderen Menschen stellt die Grundlage des Wertens politischer und auch symbolisch-ästhetischer Vorgänge« (Göschel 1995: 73f.) für diese Generation dar: »Der Idee einer ›umfassenden Theorie‹ als Mittel des Weltverständnisses setzt diese 1950er Generation ein Fühlen entgegen, das in den zahlreichen Selbsterfahrungsgruppen und esoterischen Bemühungen der späten 70er Jahre und frühen 80er Jahre zum Ausdruck kommt. Die zentrale Lebenskonstruktion dieser ›Nach-68er-Generation‹ ist daher auch nicht der Wissenschaftler, Erzieher oder Pädagoge, sondern in entscheidender Wendung von Bildung zur Selbstfindung eine Figur, die vielleicht als ›Heiler‹ bezeichnet werden kann. Der aufblühende Beruf des Heilpraktikers seit Ende der 70er Jahre ist ein Indiz für diese Einstellungen, genau wie die zahlreichen Therapie-Bewegungen jenseits traditioneller Medizin oder klassischer Psychoanalyse.« (Ebd.: 73ff.)
Peter Michael Hamel (Hamel 1976) verkörpert in seinen Kompositionen und Schriften diese Position. In der von ihm angestrebten »neuen spirituellen Musik geht es darum, aus allen Musiktraditionen zu lernen, vergessene Hintergründe aufzuspüren und die ursprüngliche Funktion der Musik, ihre Bindung an tiefste menschliche Erfahrungen, wieder ins Licht zu rücken« (ebd.: 9f.). Zentrale Begriffe eines solchen Musikverständnisses sind die der Spontaneität, Intuition, Erlebnis, Begegnung, Empathie und Selbsterkenntnis. In der Abwendung von verschriftlichten Musiktraditionen und der Wiederentdeckung von verschiedenen Methoden des unmittelbaren Zusammenspielens in nichtwestlichen traditionellen Musikkulturen glaubte Hamel »eine ›Musik zwischen den Welten‹ spielen zu können, die diese Welten auch […] zu vereinen vermag« (ebd.: 37 und 161). Offenheit wollte der Autor gegen die kategorialen Kanonisierungen artifizieller Traditionen gesetzt sehen. Nicht Musik um der Musik willen, sondern musikalische Praxis als eine Möglichkeit zur »Selbsterkennung durch Musik«, steht im Zentrum dieser Musikauffassung.
Befreiung von den Traditionen abendländischer Musik In der Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition und bzw. oder der eigenen Traditionslosigkeit widmeten sich sehr viele Musiker dann solchen musikalischen
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Formen, die sich ihrer kulturellen Verwurzelung noch gewiss schienen. Ob im Kontext von Jazz, Performances, improvisierter Musik und auch der so genannten Neuen komponierten Musik – in all diesen Zusammenhängen wurde die Verwendung außereuropäischer Klangformen immer auch als eine Art »Befreiung« des Klanges aus seinen traditionellen europäischen Konventionen, Harmoniemodellen und metrischen Texturen erlebt, kommentiert und diskursiv positiv bewertet. Die Fülle entsprechender Aktivitäten, Namen, Veröffentlichungen könnte kaum zusammenfassend dargestellt werden. Ingrid Fritsch (Fritsch 1981) ließ in ihrem Aufsatz »Zur Idee der Weltmusik« einige der Protagonisten entsprechender Zusammenhänge zu Wort kommen, so zum Beispiel den Amerikaner Terry Riley – bekannt geworden auch im Kontext von »Minimal« oder »Neuer Musik«, von dessen Äußerungen und Produktionen kein geringer Einfluss auch auf manchen Popmusiker ausging und geht: »Nach Terry Riley sollte Musik ›der Ausdruck vornehmer, spiritueller Objekte sein: der Philosophie, des Wissens und der Wahrheit. […] Und diesen Objekten Ausdruck zu geben, muss Musik notwendig Ruhe und Ausgeglichenheit besitzen.‹ Hauptcharakteristikum ist die Wiederholung und gleichzeitige geringfügige Variierung kurzer Motive, wodurch ein ›andauernder und irisierender Klang entsteht, der sich allmählich ändert, ohne das sich seine Substanz wandelt‹ (Riley). ›In einem gewissen Sinn bezieht sich meine Musik stark auf die Techniken der klassischen indischen Musik, deren Interpreten endlose Folgen aus demselben Thema einem fixierten Modus oder einer rhythmischen Periode entwickeln können […]. Wenn man diese Bedingungen gegenwärtig hat, steht es einem frei, über die allmähliche Auffächerung des Universums zu meditieren‹ (Riley).« (Ebd.: 267) »Über sein Verhältnis zu außereuropäischer Musik sagt Steve Reich, der balinesische Gamelan-Musik und westafrikanische Trommeltechniken studierte: ›Ich glaube, dass die nichtwestliche Musik gegenwärtig (1974) die wichtigste Quelle neuer Ideen für westliche Komponisten und Musiker ist‹.« (Ebd.: 267)
Besonders interessiert bezog man sich zunächst in den USA, später auch in Westeuropa auf Ordnungsmodelle nichtwestlicher Musik, wie Borduntöne, Repetition und Ritual. In erster Linie ging es dabei offensichtlich um eine absichtlich herbeigeführte Synthese der Elemente verschiedener Musikkulturen in individuelle Kompositions- und Improvisationstechniken. Auch von Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und Dieter Schnebel wurde der Begriff der »Weltmusik« Anfang der 1970er Jahre verwendet. Dabei kam es zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen in der Auseinandersetzung und vor allem auch zu Auseinandersetzungen zwischen denen, die sich nun mittels »anderer« Instrumente und Spieltechniken musikalisch äußerten. Eine weitverbreitete Auffassung ging davon aus, dass wegen der oftmals begrenzten Möglichkeiten im Umgang mit den »fremden« Instrumenten ein unmittelbarerer Ausdruck möglich sei. Dieser
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Zugang und die entsprechenden musikalischen Praktiken stießen umgekehrt auch auf Kritik: »Manche dieser Spieler [vor allem aus der Improvisationsszene – S. B.-P.] haben großes Interesse an den Praktiken und Ritualen ethnischer Musik an den Tag gelegt und insbesondere daran, was man als primitive Verwendung der Stimme ansieht. In ihren Aufführungen werden Grunzen, Heulen, Schreien, Stöhnen, tibetisches Summen, tunesisches Singen, MaoriZirpen und mosambikanisches Stottern kombiniert mit afrikanischem Daumenklavier, chinesischen Tempelblocks, ghanaischer Holztrompete, Steel Drums aus Trinidad, schottischem Dudelsack, australischem Schwirrholz, ukrainischer Steinflöte und dem einbeinigen Monster aus Kanton, um ein akustisches Ereignis zu erzeugen, das in etwa so weit von der Direktheit und Würde ethnischer Musik entfernt ist wie eine thermonukleare Explosion von einem Furz«, schrieb der Musiker Derek Bailey (Bailey 1992: 6).
Trotz aller Widersprüchlichkeit wurden Geräusch, Stille, minimalistische Strukturen, Puls und Repetition, Meditation sowie statische und zyklische Zeitauffassungen von da an fester Bestandteil improvisatorischer und kompositorischer Musikpraktiken auf westlichen Konzertpodien, Festivals und Tonträgerveröffentlichungen (Berendt 1985). Sie galten auch als ein Referenzpunkt in der Verweigerung klassischer Musiker- und Komponistenkarrieren nach dem Muster des Konservatoriums, wo Handwerk und Virtuosität als Messlatten eines erfolgreichen Studiums gelten. Nachweisbar sind derlei Interessen und Bestrebungen jedoch nicht erst seit den 1960er oder 1970er Jahren oder – wenn man ein wenig in die Vergangenheit schaut – in jener Zeit, als es möglich wurde, Klang mittels technischer Apparaturen zu fixieren.
Exotismus in europäischen Kunstmusiktraditionen Die europäische Musikgeschichte kennt unter dem viel diskutierten Stichwort des »Exotismus« unter anderem Phänomene wie: • die Türkenmode und die Chinoiserien des 18. Jahrhunderts; • die Orientsehnsucht und Zigeunerromantik im 19. Jahrhundert und • das starke Interesse der französischen Impressionisten, etwa Claude Debussy, an außereuropäischen Harmoniemodellen. Der Musikwissenschaftler Georg Capellen (1869–1934) erhoffte sich für die europäische Musik eine musikalische Regeneration durch den Orient. In einem Aufsatz zum Thema »Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer Neuen Kunstentwicklung« (Capellen 1906/07) bemerkte der Autor: »Ein vorurteilsloses Studium der neueren Musikliteratur lässt leise Zweifel an der Unerschöpflichkeit europäischer Melodik, Tonalität und Rhythmik aufkommen und sehnsüchtig nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten ausschauen, nach neuen Quellen, aus denen die Fantasie schöpfen könnte, um die brach liegende Erfindungskraft zu stärken und zu beleben. Bei
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Musiken der Welt – World Music – Global Pop der enormen Erweiterung unseres geistigen und politischen Horizontes in den letzten Jahrzehnten hätte uns längst die Frage kommen sollen, ob nicht vielleicht der Orient auch musikalisch uns anregen und befruchten könnte, in ähnlicher Weise wie die moderne Malerei durch die impressionistische Linienkunst der Japaner beeinflusst wurde. […] Durch diese Vermählung von Orient und Okzident gelangen wir zu dem neuen exotischen Musikstil, zur ›Weltmusik‹.« (Ebd.: 216ff.)
Als »exotische« Musik bezeichnete man damals alles, was nicht auf dem temperierten Zwölftonstufensystem basierte, also vor allem jene musikalischen Formen, die auf pentatonischen Reihen basierten, wie sie auch in den irischen und keltischen Musiktraditionen vorkommen. Es sei die »Tyrannei des Leittones« (Capellen), die zu einer »bedauerliche[n] Einbuße an Mannigfaltigkeit, Feinfühligkeit und Charakteristik« (ebd.: 218) geführt habe. Diese Vorstellungen wurden damals keineswegs nur als bloße musikalische Verirrung abgetan (Fritsch 1981). Wenn man sich die musikkulturelle Situation in den europäischen Metropolen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergegenwärtigt, waren es jedoch vor allem die so genannten populären Genres, die Elemente »fremder« Kulturen integrierten. Die populären Genres lebten maßgeblich vom kulturellen Transfer. Bis in die 1930er Jahre zum Beispiel spielten die Tanzclubs »als Umschlagplatz für die musikalischen Einflüsse aus Übersee, aber auch für die Kreation von Leitbildern und Mode, eine nicht zu unterschätzende Rolle. […] [Ihnen] verdankt sich der Anschluss an eine unerschöpfliche Lebensader, aus der die Entwicklung der populären Musik neben der afroamerikanischen Musik seither gespeist wird. […] Vom argentinischen Tango und der Milonga über die brasilianische Maxixe, die Samba, den südamerikanischen Paso doble, von kubanischer Rumba, Mambo bis hin zu Calypso […].« (Wicke 1998: 105)
Die Geschichte von Orientsehnsüchten in den europäischen Kunstmusiktraditionen soll hier nicht vertieft werden, da es sich um eine Studie zum Zusammenhang von populärer Musik und Globalisierung handelt.
Am postmodernen Scheideweg: Avantgarde-Rock Technische Möglichkeiten – vor allem die der Digitalisierung, die Möglichkeiten der Sample-Computer in den Studios und auf den Bühnen – sorgten dafür, dass »außereuropäische« Klänge seit Mitte der 1980er Jahre auch im Umfeld des so genannten Avantgarde-Rock begannen, eine wichtige Rolle zu spielen. Sie wurden zu Referenzpunkten in einem klanglichen Selbstverständnis, das mit Zitaten und klanglichen Repräsentationen versuchte, Stellung zu beziehen im Verhältnis sowohl zum popmusikalischen »Mainstream« als auch zum Materialverständnis akademischen Komponierens des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Das vom New Yorker Noise-Art-Gitarristen Fred Frith zwischen 1979 und 1989 aufgenommene und produzierte Album »Step Across the Border«, das 1990 bei RecRec zum gleichnamigen Film von Nicolas Humbert und Werner Penzel
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veröffentlicht wurde, gilt als eines der erfolgreichsten Projekte in diesem Zusammenhang. Es griff auf Originaldokumente aus der akustischen Umwelt zu, kombinierte sie mit aus ethnischem Stimmengewirr gewonnen Sampleloops und versetzte sie mit bizarren Gitarren-Sounds und aggressiven Bläser-Riffs. Der in diesem musikalischen Umfeld sozialisierte Theatermusikkomponist Heiner Goebbels aus Frankfurt a.M. bewunderte an Fred Frith dessen konkurrenzlosen Erfindungsreichtum auf der elektrischen Gitarre. Heiner Goebbels, der selbst zu einem der Protagonisten der deutschen und internationalen Avantgarde-Rock-Szene avancierte, gab Mitte der 1980er Jahre zu bedenken, dass »das Tempo und die Rücksichtslosigkeit, mit der z. B. die Musik aus Afrika, dem nahen Osten und Bulgarien, transplantiert und vermarktet wird, grauenhaft [sei]; man kann aber deren Souveränität nicht mit moralischen Appellen schützen, weil sich diese auf dem Markt nicht durchsetzen werden, sondern nur dadurch, dass man ihren reflektierten Gebrauch diskutiert und dadurch überhaupt erst Kriterien entwickelt für Rücksicht, Differenz, Konfrontation und Geschmack bei der Überschreitung exotischer Grenzen. […] grauenhaft sind außerdem alle Versuche, sich kulturelle Injektionen zu geben, von denen man keine gelebte Ahnung hat.« (Goebbels 1998: 110)
Heiner Goebbels befand sich damals sowohl in der Tradition moderner Argumentationen, als auch an deren postmodernen Scheidewegen, indem er dafür plädierte, dass »Eklektizismus […] nicht länger ein Schimpfwort mehr sein [müsse], wenn er nicht beliebiges Kombinieren und Selbstbedienung im musikalischen Supermarkt meint, sondern wenn es sich um ein reflektiertes […] Geschichtsbewusstsein […] handelt, das unsere Wahrnehmungsweisen vorantreibt und gleichzeitig Erinnerungen aufarbeitet […] als Bestandteil einer Sprache […] mit der jetzt Neues und Genaues gesprochen werden kann. Dann wäre man […] überall zu Hause, weil es kein musikalisches Zuhause mehr gibt.« (Ebd.: 111)
Die Projekte von Fred Frith und Heiner Goebbels waren jedoch mitnichten World Music im Sinne einer Verkaufskategorie der Musikindustrie. Diese konnte sich erst wirklich durchsetzen im Zuge so populärer und kommerziell erfolgreicher Projekte wie dem WOMAD-Festival und der Veröffentlichung und den Welttourneen zu Paul Simons Album »Graceland«, zusammen mit dem dadurch zu Weltruhm gelangten südafrikanischen Zulu-Chor Ladysmith Black Mambazo (vgl. Kapitel 2.3.1). Aus der Zusammenfassung der hier dargelegten Fülle an Genres, Gattungen, Anknüpfungspunkten, Perspektiven, Statements und historischen Parallelen nun aber eine Definition ableiten zu wollen, die eindeutig sagt, was World Music ist, macht, so das Fazit, letztlich wenig Sinn. Das, was dazu gehört, wird immer wieder neu ausgehandelt – sei es in den Interessenkonflikten des kulturellen Gebrauchs,
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im künstlerischen Selbstverständnis oder im kommerziell organisierten Musikbetrieb, der Repertoire-Kategorien bildet sowie Märkte und Vertriebswege erschließt. Die Geschichte des Phänomens World Music und des Sammel-Begriffs World Music hatte keinesfalls erst in den 1980er Jahren begonnen. Die mit dem Phänomen und dem Begriff verbundenen kulturellen, ästhetischen, ökonomischen und technologischen Voraussetzungen und Implikationen wurzeln tief in den Bedingungen und Resultaten des modernen (Musik-)Kulturprozesses. Dass sie allerdings im Laufe des 20. Jahrhunderts auf den Begriff gebracht wurden – ob im Selbstverständnis von Musikern, Journalisten oder als Repertoire-Kategorie – hat vor allem auch mit jenen Prozessen zu tun, die unter dem Stichwort »Globalisierung« debattiert werden.
»We ain’t ethnic, exotic or eclectic …« globale Sounds in lokalem Slang Das Interesse an »nichtwestlichen« Musikformen und Sounds ist auch heute noch ungebrochen. Unter dem Label bzw. der Repertoire-Kategorie World Music möchte man jedoch eher nicht firmieren. Das betrifft sowohl die eingangs dieser Publikation erwähnte Tuareg-Band Tinariwen, Festivals elektronischer Music, die sich Musiker aus »entlegenen« Regionen der Welt einladen, Rapper aus Algerien oder die Migranten-Musik-Szenen europäischer Metropolen. Von London aus sorgte schon in den 1990er Jahren der so genannte Asian Underground für kulturelle Irritationen und kommerziellen Erfolg zugleich. Eine ihrer wichtigsten Vertreter – die Band Asian Dub Foundation – äußerten sich in einem Interview einmal sinngemäß: »We ain’t ethnic, exotic or eclectic. The only E we use is electric … With your liberal minds, patronise our culture … With your tourist mentality, we ’re still the natives. You’re multicultural, we ’re antiracist«. Musiker des Asian Underground vermieden direkte Bezüge zu den Traditionen ihrer aus Indien oder Pakistan stammenden Großeltern. Wenn ein Tabla-Sound erklang, dann wurde er meist elektronisch verfremdet und war als solcher kaum noch erkennbar. Weltweit vermischen sich heute globale Sounds mit lokalem Slang. Musiker und Musikerinnen in allen Teilen der Welt wollen am Puls der Zeit musizieren. Der Schweizer Musikjournalist und Ethnologe Thomas Burkhalter schrieb in einem Artikel mit der provokativen Überschrift »Kein Artenschutz für Weltmusik«: »Da […] [den] Produkten [des internationalen Repertoires] nichtwestliche Sounds meist nur als exotischer Geschmacksverstärker beigemischt wurden, konnte die Jugend anderer Kontinente das Eigene nicht als cool und trendy oder zumindest als Basis einer eigenen Soundkultur einstufen.« (Burkhalter 2003: 5) Selbstverständlich auch auf dem afrikanischen Kontinent wächst eine Generation von Musikern heran, die globale Musiksprachen mit lokalem Slang verbindet. Es verwundert kaum, dass Hip-Hop bzw. Rap in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle spielen. Deshalb sei hier ein letztes Beispiel aus dem Spannungsfeld von World Music und globalen Formen populärer Musik angeführt.
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Teil des unübersichtlichen Repertoire-Segments World Music war auch der algerische Raï. Algerische Migranten hatten ihn in den 1980er und 1990er Jahren mit nach Frankreich gebracht. In Algerien selbst galt der Raï in den 1950er und 1960er Jahren als eine vom Kolonialismus pervertierte Folklore. In der Hafenstadt Oran tönte er bereits in den 1930er Jahren aus zwielichtigen Bars und maurischen Cafés. Träger dieser Musikkultur waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts landflüchtige Berber und aus den städtischen islamischen Gemeinschaften ausgestoßene Frauen. Raï wurde gleichgesetzt mit Sittenverfall und Verwestlichung im Gegensatz zu einer andalusischen Kunstmusik, die in Algerien als Nationalmusik in den 1960er und 1970er Jahren etabliert werden sollte. Im Zuge der Islamisierung Algeriens flohen in den 1990er Jahren viele Raïmusiker aus existenziellen Gründen – berühmte Musiker wurden Opfer islamistischer Attentate – ins französische Exil und nahmen dort und in internationalen Studios Tonträger auf. International bekannt geworden sind vor allem Cheb Khaled und Cheb Mani, der zusammen mit Sting den Song »Desert Rose« aufnahm. Raï repräsentiert das vermeintlich lokale und authentische Algerien. In der Musik selbst existieren jedoch kaum mehr als Relikte an orientalisierendem melismatischen Gesang. Diese Musik ist für ein europäisches Publikum produziert und wurde unter der Repertoire-Kategorie World Music vermarktet. Anders verhält es sich mit einer Musikform, die heute die Jugend-Musikszenen algerischer Städte prägt, die vermeintlich westliche globale Popmusik: Hip-Hop und Rap: Ausdruck »amerikanischer« MTV-Kultur und Sinnbild einer verlorenen Jugend!? Warum aber sollen algerische Jugendliche nicht Teil einer modernen globalen Kultur sein und zumindest musikalisch deren »Sprache« sprechen (vgl. Burkhalter 2006)? Hip-Hop und Rap werden als Metapher für Schwarz-Sein, Anders-Sein angeeignet und sind weltweit zu einem der wichtigsten Sprachrohre von Jugendlichen geworden; in Kuba, dem Senegal, Tschechien oder Algerien etc. Dort gelten sie gleichsam als Brücke hin zu den kulturellen Praktiken algerischer Migranten in Frankreich. Die Texte sind verbale Faustschläge gegen Arbeitslosigkeit, Bildungsnotstand, fehlende Zukunftsperspektiven und Korruption. Allein in Algier und Oran soll es mehr als 100 Rapper geben. »Werfen wir die Stille in ein Leichentuch. Der Rap ist die Waffe, mit der ich meine Wut reinige. Was mit mir geschehen wird, ist egal, auch wenn ich vor dem Richter lande. Ich lebe, ich will mein Land repräsentieren …« heißt es in einem Text von MBS (le Micro Brise le Silence) aus dem Jahr 2006 (ebd.). Auf diese Weise wollen junge Leute aus den unterschiedlichsten Regionen Afrikas zeigen, wie modern sie sind, und dass ihr musikalischer Horizont keineswegs nur aus Djembe Trommeln und Weltmusikstars wie Youssou N’Dour, Khaled oder Lady Smith Black Mambazo besteht. Diese und ähnliche CDs wird man im World-Music-Regal vergeblich suchen. Ihre Musik haben algerische Rapper für algerische Kids produziert, nicht in erster Linie für ein Publikum in Mitteleuropa. Also erreichen derartige Sounds in Europa nur ausnahmsweise die Aufmerksamkeit weniger Spezialisten. Sie scheinen zu
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weltläufig, zu wenig authentisch und wenig different im Verhältnis zu den globalen Soundströmen. In den folgenden Kapiteln wird erörtert, auf welche Weise, mit welchen Methoden und mit welchen Perspektiven sich die Musikforschung den hier dargestellten Zusammenhängen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts gewidmet hat. Die Darstellung der Geschichte akademischer Bemühungen um eine »Weltmusikgeschichtsschreibung« wird sich dabei auf europäische, insbesondere auf deutsche und nordamerikanische Traditionen und Quellen beziehen. 2.3.2 EVOLUTIONÄRE UND UNIVERSALISTISCHE W ELTBILDER ZU DEN ANFÄNGEN EINER »W ELTMUSIKGESCHICHTSSCHREIBUNG « Lange bevor die verschiedenen Formen populärer Musik zum Gegenstand der Forschung wurden, waren sie Teil des kulturellen Alltags derjenigen, die sie nutzten, brauchten, aufführten, interpretierten und veränderten. In spezifische kulturelle Gebrauchsformen eingebunden, gehören sie nicht zu den exklusiven Objekten kultureller Aneignungen als vielmehr in das offene Refugium alltäglichen kulturellen Verhaltens. Sinneslust, musikalische Späße, Tanz und Vergnügen gehörten immer schon und überall zu den musikalischen Praktiken. Gleichsam vielfältig sind die musikalischen Formen auf dem Globus. Ein Interesse an deren Erforschung entwickelte sich erst zu dem Zeitpunkt, als mittels Tonaufzeichnungen entsprechende Formen aus der Flüchtigkeit ihrer unmittelbaren Hervorbringung genommen werden konnten, sie dokumentiert, über weite Strecken transportiert und erforscht werden konnten. Diese Möglichkeit führte in Europa im Rahmen einer bis dahin ausschließlich auf die Geschichte der europäischen (Kunst-)Musik gerichteten Musikforschung auch zum Nachdenken über entsprechende neue Konzeptionalisierungen und Methoden der Erforschung von Musik. Was die Musikforschung dann vor allem zu überwinden hätte, wäre ihre eurozentrische Haltung, oder anders ausgedrückt, sie hätte »alle Existenzformen und Phänomene der Musik« (Elschek 1973: 429) als Gegenstand ihrer Forschungen ernst zu nehmen und die durch verschiedene kulturelle Verstehenssysteme geprägten Hör- und Erlebnisweisen stärker zu berücksichtigen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Musikforschung durch den Wunsch nach einem solchen Paradigmenwechsel gekennzeichnet. Verfolgt und aufgegriffen wurde er vor allem durch: • Vertreter der Vergleichenden Musikwissenschaft wie Curt Sachs, Erich Moritz von Hornbostel um die Jahrhundertwende und Walter Wiora nach dem zweiten Weltkrieg; • Vertreter der Ethnomusicology nordamerikanischer Prägung wie George Herzog, Mantle Hood, Alan P. Merriam nach dem zweiten Weltkrieg; Richard A. Waterman, Charles Keil, Steven Feld und Joselyne Guilbault seit den 1980er Jahren;
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Vertreter der europäischen Musikethnologie wie Kurt Reinhard, Dieter Christensen, Artur Simon, Gerhard Kubik, Oskar Elschek, Hugo Zemp, Max Peter Baumann und Veit Erlmann sowie in den jüngeren Anstrengungen und Argumentationen zur Entwicklung einer anderen – oder »New Musicology« – neben anderen durch Michael Weber, David Horn, John Shepherd und Peter Wicke.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts erhöhte sich die Verfügbarkeit von Schallaufnahmen sprunghaft. Carl Stumpf, der Gründer des Psychologischen Institutes der Berliner Universität, das 1893 eröffnet wurde, beauftragte im Jahr 1900 zwei seiner Assistenten, Erich Moritz von Hornbostel und Otto Abraham, mit dem Aufbau einer Materialsammlung zur Entwicklung der musikalischen Perzeption. Diese Sammlung von Phonographenwalzen und später Schellackplatten mit Aufnahmen außereuropäischer Musik und europäischer Volksmusik ging in die Musikgeschichte als Berliner Phonogramm-Archiv ein. Ein Jahr zuvor hatte das Wiener Phonogrammarchiv mit der Sammlung entsprechender Aufnahmen begonnen. Die Wiener Sammlung gilt heutzutage als das älteste und am besten ausgestattete Schallarchiv der Welt. Die Berliner Sammlung wurde 1905 formell unter Hornbostels Leitung als Phonogramm-Archiv des Psychologischen Institutes der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin institutionalisiert. Im Jahre 1933 überführte man es in die relative Isolierung des Dahlemer Magazins des Völkerkundemuseums Berlin. Heute bildet das Berliner Phonogramm-Archiv mit rund 15.000 Edison-Zylindern die größte Sammlung von Edison-Zylindern der Welt. Im Laufe der Zeit wurde die Sammlung ständig durch Schellack-Platten, Tonbänder, CDs und andere Medien ergänzt und umfasst heute mehr als 150.000 Aufnahmen von Musiken aus der ganzen Welt. Angesichts der wachsenden Verfügbarkeit von Schallaufnahmen standen die Musikforscher »auf einmal« vor der »musikalischen Hinterlassenschaft der Menschheit, einem universalen Museum« (vgl. Walter Wiora in seinem Hauptwerk »Die vier Weltalter der Musik, ein universalhistorischer Entwurf« 1988). Das Bedürfnis nach einer Weltmusikgeschichtsschreibung keimte auf, die nun alle »Völker« in gleicher, historischer Weise berücksichtigen konnte und sollte (Weber 1990). Gleichwohl stand die Musikforschung damaliger Prägung ganz in der Tradition einer eurozentrisch ausgerichteten Kultur- und Musikgeschichtsschreibung und orientierte sich an universalgeschichtlichem Denken (vgl. Kapitel 2.1.3.2). Die ökonomischen Notwendigkeiten und technischen Entwicklungen hatten seit Mitte des 19. Jahrhunderts für eine aufkeimende Dominanz naturwissenschaftlichen Denkens innerhalb der Geisteswissenschaften gesorgt. Naturwissenschaftliche Perspektiven fanden Eingang in das Nachdenken darüber, was Musik sei, wie ihre Hör- und Erlebnisweisen beschreibbar wären und wie man vor allem die offensichtlich verschiedenen musikalischen Formen weltweit miteinander verglei-
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chen könnte. Für Robert Lachmann war die Untersuchung außereuropäischer Musik deshalb erst durch die Erfindung des Phonographen möglich geworden: »Während die Vortragsweise im Klangbild unmittelbarer wirkt und deshalb als rassenkundliches Merkmal untrüglicher ist als Melodie und Taktart, kommt sie im Notenbild wenig oder gar nicht zum Ausdruck. Um beim Lesen von Noten dieses fehlende Element ergänzen und uns die Musik vorstellen zu können, so wie sie wirklich klingt, müssen wir sie oftmals gehört haben. Hierzu ist der Phonograph ein unerlässliches Hilfsmittel; in der Tat ist unsere Kenntnis außereuropäischer Musik erst durch die Erfindung des Phonographen auf eine feste Grundlage gestellt worden, [… weil] die Notenschrift hinsichtlich der Vortragsweise […] auch der Melodik und Rhythmik außereuropäischer und vor allem der Naturvölker [versagt].« (Lachmann 1929: 3)
Doch nicht allein der Edison-Phonograph – 1877 erfunden, seit 1888 praktisch verfügbar –, sondern auch das so genannte Cents-System ermöglichte eine nachvollziehbare Darstellung akustischer Schwingungsverhältnisse: »Der britische Phonologe und Physiker Alexander Ellis hatte 1885 durch Tonhöhenmessungen an Musikinstrumenten, d. h. auf empirischer Basis, das von Helmholtz und auch von Hugo Riemann propagierte klassische Axiom der in Naturgesetzen begründeten universalen Skala und Harmonie widerlegt, und der Psychologe Carl Stumpf hatte mit systematisch-empirischen Untersuchungen an vokaler Musik (Lieder der Bellakula-Indianer, 1886) begonnen, womit einer naturwissenschaftlich fundierten, positivistischen Musikforschung der Weg gewiesen war.« (Christensen 1997: 1259)
Edison-Phonograph und Cents-System wurden zu verbreiteten Mitteln der vergleichenden musikwissenschaftlichen Forschung. So, wie man nun in der Lage war, Schwingungsverhältnisse physikalisch zu verstehen und abzubilden, verfolgte man Aspekte der Gehörpsychologie und -physiologie, der Gestaltpsychologie und physiologischen Akustik. Wie in anderen Wissensgebieten auch ging man daran, das Mysterium Mensch mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden zu lüften. Nachdem mit Dampfmaschine und Eisenbahn die grundlegenden Erfindungen des Industriezeitalters gemacht waren, dominierte im naturwissenschaftlichen Denken des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Suche nach physikalischen und chemischen Details zu Messzwecken aller Art. 1872 errichtete beispielsweise der Signal-Service in Washington das erste Bergobservatorium der Welt für meteorologische Beobachtungen und Messungen. Regelmäßig registriert wurden von da an Luftdruck, Temperatur, Feuchtigkeit, Windrichtung, Windstärke, Bewölkungsart und Bewölkungsgrad sowie astronomische Daten. Mitte der 1870er Jahre begann man mit der systematischen Meeres- und Tiefseeforschung, und auf der »Meterkonferenz« am 20. Mai 1875 in Paris wurde die internationale Konvention zur Vereinheitlichung der Maßsysteme unterzeichnet. Heinrich
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Schliemann begründete 1873 die moderne Archäologie. In diesem Umfeld bewegten sich folgerichtig auch die Musikforscher. Verbunden waren mit diesem Begriff des Fortschritts insbesondere evolutionäre Vorstellungen der Entwicklung vom »Niederen« zum »Höheren«. Im Kontext musikwissenschaftlicher Forschungen hatte dies zur Folge, dass man nicht nur mit äußerstem Interesse empirisches Material jenseits europäischer Formen artifizieller Musik sammelte, archivierte und analysierte, wie zum Beispiel Tonaufnahmen in den Kolonien, sondern diese in erster Linie »als Vorformen der solitären Entwicklung der europäischen Musik ansah« (Weber 1990: 22). Der evolutionäre Ansatz gründete auf der Annahme einer Entwicklungsperspektive von der Einfachheit zur Komplexität, von primitiver »ethnographischer«, melodisch enger, rhythmisch freier, oral tradierter, also nicht schriftlich fixierter Musik hin zu mensuralschriftlich fixierter Musik mit Tonsystemen und großen Formen in dichter Harmonik und Mehrstimmigkeit. Einen von Erich Moritz von Hornbostel transkribierten Sägefisch-Gesang von Feuerland-Indianern bewertete Robert Lachmann Ende der 1920er Jahre wie folgt: »Trotz aller Verschiedenheit im Einzelnen lässt sich über alle außereuropäische Musik ein allgemein gültiger Satz aussprechen: Sie wird ohne das Mittel der Schrift überliefert und muss daher, um nicht im Widerhall zu vergehen, ausdrücken, was nicht nur den Einzelnen, sondern was eine Gemeinschaft bewegt. Oder auch: Der schöpferische Einzelne muss die Kraft haben, den anderen seine Bewegung aufzuzwingen. Diese Bedingung wird umso vollkommener erfüllt, je einheitlicher ein Volkscharakter ist, je weniger die Lebensform eines Volkes Spielraum für individuelle Verästelung lässt; am vollkommensten also bei Gesellschaftsgruppen, die wir als Naturvölker zu bezeichnen pflegen.« (Lachmann 1929: 1) »Dass diese einfache Art der Melodik eine frühere Entwicklungsstufe vertritt als die reicher gestaltete anderer Indianerstämme, darf aus verschiedenen Gründen angenommen werden. Erstens sind die feuerländischen Indianer auch in ihrem sonstigen Verhalten, in ihren Vorstellungen und Lebensgewohnheiten von allen Indianerstämmen am wenigsten entwickelt. Zweitens finden wir eine sehr ähnliche und ebenso einfache Melodik bei anderen Völkerstämmen wieder, die wie sie auf niedrigster Kulturstufe stehen […].« (Ebd.: 4) »Das Tempo Rubato, das Musizieren ohne feste Maßeinheit, kommt bei Naturvölkern in den ekstatischen Gesängen vor, in denen sich durch den Mund ihrer Zauberer oder Medizinmänner (Schamanen) nach ihrer Vorstellung Dämonen offenbaren.« (Ebd.: 7)
Allerdings betonte Lachmann, dass in Bezug auf rhythmische Gestaltungsformen auch solche des gleichmäßigen Hin- und Herpendelns auftreten. »Diese Symmetrie der Zeitverhältnisse ist eine natürliche, tief im Physiologischen wurzelnde Formgebung […]. Wir finden sie z. B. in dem Singsang, mit dem Frauen ohne Unterschied der Kulturstufe ihre Arbeit begleiten oder ihre Kinder in den Schlaf singen.« (Ebd.: 8)
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Der Gebrauch von Begriffen wie »primitive Musik« oder »Musik von Naturvölkern« (vgl. auch Hagen 1892) bekräftigt einen evolutionären Ansatz in der Forschung. Verglichen und in eine evolutionäre Entwicklungsperspektive gesetzt wurde die Musik von »außereuropäischen Natur- und Kulturvölkern« (Lachmann 1929) oder »Primitiven« (Heinitz 1931) mit den »historisch sicher verbürgten Formen und Darstellungsweisen der Musik des Abendlandes« (ebd.: 5). Offenbar nur weil die musikkulturellen Formen als Vorstufen der »eigentlichen Entwicklung« verstanden wurden, konnte sich das Forschungsinteresse der damaligen Zeit überhaupt auf sie richten. Auch aus diesem Grunde war es letztlich ein eurozentristisches Weltbild, obwohl es sich erstmals mit so genannten »außereuropäischen« Musikformen beschäftigte. Die Ergebnisse dieser Forschungen stellen dennoch eine wichtige Quelle der systematischen, vergleichenden als auch der musikethnologischen Forschungsperspektive dar (Christensen 1997: 1259), nur muss man sie aus dem konkreten geistes- und naturwissenschaftlichen Kontext ihrer Zeit lesen. In der Tradition der Vergleichenden Musikwissenschaft evolutionärer Prägung argumentierte auch Walter Wiora, wenn er Anfang der 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts schrieb: »Die vergleichende Urgeschichte der Musik […] erweist die Ursprünglichkeit ›natürlicher (anthropologischer) Ordnungen‹, wie des pulsierenden Taktrhythmus, der Viertaktgruppe, der Hauptkonsonanzen‹ und zeigt das Zurückreichen von ›Elementarformen der Mehrstimmigkeit in die Urzeit‹ auf. Das ergibt sich [auch] für Wiora aus ›ihre[r] erstaunlichen Verbreitung bei so primitiven Stämmen wie den Pygmäen in Afrika und Malakka, den Buschmännern und anderen‹. Dort sind ›Urformen des responsorischen und chorischen Miteinanders erhalten‹, wie ›Kreisen in einem Mehrklang, […] der Parallelgesang und auch schon elementare Typen des Borduns und des Kanons.« (Zitiert bei Weber 1990: 24)
Ende der 1980er Jahre ergab sich laut Wiora eine Abfolge der Weltmusikgeschichte »von einer ›Ur‹-Kultur über räumliche, zeitliche und ›Wesens‹-Vielfalt der Musikkulturen zur ›globalen Industriekultur‹ und ihrem ›universalen Museum‹« (Wiora 1988: 122). An der Wiege der Vergleichenden Musikwissenschaften standen gleichsam Fragen nach der Bedeutung unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften und deren Begegnungen, Fragen also, die keineswegs ausschließlich evolutionäre Entwicklungen zu begründen, sondern zu den »Ursprüngen« und zu den »Transformationen« von Musik durch kulturellen Transfer vorzudringen suchten. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Konzept der Vergleichenden Musikwissenschaft von dem als Psychologen ausgebildeten Erich Moritz von Hornbostel und dem Frauenarzt und Psychologen Otto Abraham wie folgt umrissen: »Die vergleichende Musikwissenschaft hätte aus dem gesammelten und kritisch gesichteten Material die Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge der Musikentwicklung in allen Teilen
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit bloßzulegen [sic.], die Unterschiede aus den Kulturverhältnissen zu erklären, schließlich durch Extrapolation auf die Ursprünge zurückzuschließen.« (Abraham/Hornbostel 1904: 225)
Viele Musikethnologen der damaligen Zeit bezogen sich bei ihren Analysen auf Hornbostels Transkriptionen bzw. seine schriftlichen Aufzeichnungen zu Phonographischen Aufnahmen. Mit seiner Blasquintentheorie hatte Hornbostel »minutiös Übereinstimmungen von Tonordnungen all over the world« (Kaden 1998: 93) und mögliche Begegnungen von verschiedenen Musikkulturen versucht nachzuweisen. »Lässt sich die Faktizität [der Verwendung bestimmter melodischer und rhythmischer Eigenschaften, Intervalle, Leitern – S. B.-P.] über große räumliche bzw. zeitliche Entfernungen hin belegen, ist mit einer Über-Lieferung vom einen Ort zum anderen zu rechnen, mit Prozessen der Entlehnung, der Transmission.« (Ebd.: 90) Im Gegensatz dazu wird »die Ausgefallenheit einer kulturellen Erscheinung […] zum Maß ihrer Unikalität – und ihrer Monogenese« (ebd.). Das erinnert an Hornbostels Beschreibungen zur Musik der nordwestlichen Salomoninseln (vgl. Kapitel 1.2.4). In seinem Versuch, die Musik der Salomoninseln mit anderen zu vergleichen, ging Hornbostel davon aus, dass diese Musik ihre spezifische Gestalt nicht unter dem Einfluss der Europäer bekommen hatte, sondern eine eigenständige Entwicklung, vergleichbar derjenigen in Südamerika genommen hatte. »Die auf den Panpfeifen verkörperten absoluten Tonhöhen und das ihrer Abstimmung zugrunde liegende Tonsystem, ferner die doppelreihige Form […] weisen […] auf (mittelbare) Zusammenhänge mit südamerikanischen Kulturen (Peru, Brasilien).« (Hornbostel 1912: 294) Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kamen immer mehr Europäer durch die Entwicklung von Kommunikationsmitteln, der Personentransporttechnik, fortgesetzten kolonialen Expansionen und das sich entwickelnde Musikunternehmertum mit reisenden Gruppen von Musikern und Tänzern aus anderen Teilen der Welt in Kontakt. In völkerkundlichen Museen und während der Weltausstellungen wurden Kulturen und Musiker »fremder« Völker präsentiert. Nicht zuletzt die Weltausstellungen mit ihren Themenparks waren damals schon von erheblichem Erlebnisund Anziehungswert. Sie waren so konzipiert, dass sie vor allem mit Attraktionen aller Art die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich lenken sollten. Diese neuen und veränderten kulturellen Erfahrungen um die Wende hin zum 20. Jahrhundert, die Evolutionstheorie als Weltbild und die auf den damaligen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und ökonomischen Zwängen basierenden Vorstellungen rationaler Vernunft in den europäischen Nationalstaaten und Nordamerika waren die Grundlage für ein Verständnis von Musikforschung, das ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit naturwissenschaftlich fundierte und empirisch erfassbare Aspekte von Musik stellte und Musik als ein soziokulturelles Phänomen in Geschichte und Gegenwart untersuchen wollte. Man interessierte sich für die psychophysiologischen Voraussetzungen des Hörens und der Klangbildung und legte Wert auf naturwissenschaftlich fundierte, empirisch gestützte Aussagen.
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Nicht das Opus Perfektum, sondern auch die vielschichtige Lebendigkeit verschiedener Musikpraktiken und Praktiken sollte zum Gegenstand der Musikforschung werden. Für den Ethnomusikologen ist die in der Tradition der europäischen Kunstmusik stehende Opus-Musik nur eine der vielen ethnokulturalen Möglichkeiten (Blacking 1973). Entsprechende Diskussionen reichen bis in die Gegenwart, wenn beispielsweise Martin Greve 2002 einen Artikel mit »Writing against Europe. Vom notwendigen Verschwinden der ›Musikethnologie‹« angesichts postkolonialer und nicht mehr ethnisch zu bestimmender musikalischer Welten veröffentlichte (Greve 2002), der innerhalb der Musikethnologie in Deutschland auf massiven Widerspruch und Rechtfertigungszwang stieß (Klenke, Koch, Mendívil, Schumacher, Seibt, Vogels 2003). Sowohl die so genannte Vergleichende Musikwissenschaft, die systematische Musikwissenschaft als auch vor allem die Musikethnologie verstehen sich als Disziplinen, die in der Verknüpfung von entwicklungsgeschichtlich psychologischen und ethnographisch anthropologischen Methoden musikalische Grundlagenforschung betreiben. Eher selten wurden dabei allerdings die musikkulturellen Praktiken in europäischen Regionen untersucht – mit Ausnahme der Untersuchung ruraler Traditionen, das heißt so genannter europäischer Volksmusik. Dies ging einher mit einer Abstinenz gegenüber den verschiedenen Formen populärer Musik, wie sie sich in den zunehmend komplexer strukturierenden urbanen Zusammenhängen des 19. Jahrhunderts herausbildeten. Musik wurde als Musik von den meisten Ethnologen nur dann akzeptiert, wenn sie quasi rein existierte – in der Umgangsform des unmittelbaren Musizierens, oral tradiert, als Teil von dörflichen Ritualen und Zeremonien vorindustriell organisierter Lebens- und Gesellungsformen. Möglicherweise führten Industrialisierung und Urbanisierung als Resultate der einfachen Modernisierung auch auf Seiten der Wissenschaft zu einem Phänomen, von dem weite Kreise in den damaligen westlichen Gesellschaften ergriffen wurden. Sie wandten sich dem Vorindustriellen zu, dem scheinbar Intakten, Nichtentfremdeten – »Auf der Suche nach der menschlichen Gesellschaft« (Melk-Koch 1989). Die nationalsozialistische Machtübernahme im Januar 1933 trieb die wichtigsten Vertreter der Berliner Schule der Vergleichenden Musikwissenschaft – Erich Moritz von Hornbostel, Curt Sachs, Robert Lachmann und Mieczyslaw Kolinski – ins Exil, zumeist nach Nordamerika. Die Zeitschrift für Vergleichende Musikwissenschaft erschien 1935 zum letzten Mal. Parallel zu »den ersten systematischen Forschungen zu außereuropäischer Musik in Europa in den 1880er Jahren rückte auch in Nordamerika ›exotische‹ Musik in den Bereich akademischer Untersuchungen – allerdings aus anderen Gründen. Angesichts der praktisch abgeschlossenen internen Kolonialisierung des Kontinents und der Vernichtung indianischer Völker galt eine Bestandsaufnahme indianischen Kulturen […]«, schreibt Dieter Christensen in seinem Beitrag zum Stichwort Musikethnologie in Nordamerika (ders. 1997, 1266). Motiviert war diese Forschungsperspektive durch die Suche
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nach nichteuropäischen Zeichen und der Reklamation einer spezifisch amerikanischen Identität vor allem in den USA und Kanada. Die Suche nach spezifischen autochthonen Symbolen einer sich reell stark kulturell durchmischten Gesellschaft – vor allem durch die europäische Kolonialisierung, Sklaverei, Migrationsprozesse und deren Folgen – spielt in der Geschichte regionaler oder nationaler Selbstbehauptung immer wieder eine nachweisbar große Rolle. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und machtpolitischer Verschiebungen lassen sich verstärkt Prozesse der Re-Ethnisierung und Indigenisierung nachweisen, ebenso der Bezug auf traditionelle Kulturen, Geographie und Sprache bzw. Dialekte. Dies hatte immer auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis geisteswissenschaftlicher Forschung und die Wahl ihrer Gegenstände. Ein gesteigertes Interesse an Fragen von Kultur, Geschichte, Sprache, Ethnizität und Geographie entwickeln verschiedene institutionalisierte Bereiche gesellschaftlicher Kommunikation wie Politik und Wissenschaft, vor allem dann, wenn entsprechende Zuweisungen nicht mehr klar sind und offenkundig brüchig werden. Paul Simons Album »Graceland« konnte Ende der 1980er Jahre für die weiße südafrikanische Mittelklasse als ein vergleichbares Symbol der Selbstidentifikation Geltung bekommen. In der musikalisch stilistischen und kulturellen Synthese von internationaler Popästhetik und indigenen Klängen, zum Beispiel mit Zulu-Gesängen aus Südafrika, konnte es als ein Symbol der Aufwertung von weißen und schwarzen Identitätskonstruktionen gedeutet und willkommen geheißen werden. Auch wenn dieses Beispiel aus einer historisch jüngeren Zeit stammt und nur vor dem Hintergrund komplex strukturierter politischer, personeller, musikalisch stilistischer und kommerziell organisierter Musikprozesse verständlich ist (Meintjes 1990: 55), verweist es auf den Zusammenhang von Selbstidentifikation und -behauptung durch die Aufwertung solcher kultureller und sozialer Zusammenhänge, die zur »eigenen« de facto in einer gehörigen Distanz stehen. Verschiedene Autoren haben nachgewiesen, »how national selfconsciousness has been strengthened through the appropriation of features of peasant history and folk tradition. Peasant/folk features have been used in these cases to construct and legitimate a national heritage and identity.« (Meintjes 1990: 53) Indem die Traditionen und Zeichen von indigenen und anderen subordinierten Gruppen Teil der eigenen Identität und zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen wurden und werden und damit zumeist auch ein positives Verhältnis zu diesen Kulturen entstehen konnte, begründete man im betreffenden Land und kulturellen Zusammenhang einen Platz für sich selbst. Dies betraf, so Christensen, um die Zeit der Jahrhundertwende in Nordamerika nur die indianischen Kulturformen, nicht die Musikformen der »schwarzen«, »afrikanischen« Musikkulturen. Erst in den 1930er Jahren begann Alan Lomax die berühmten Aufnahmen und Beschreibungen für das Archive of American Song der Library of Congress. In Nordamerika stützte man sich dabei in erster Linie auf die so genannte »Culture Area Theory«, die, ähnlich wie die Kulturkreislehre, in einer nichtuniversalistischen Auffassung von Kulturen davon ausging, »dass Ideen und Erfindungen jeweils einmalig sind und dass das Vorkommen ihrer Realisierungen an verschiedenen Orten und zu
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verschiedenen Zeiten durch Wanderungen vom Orte des Ursprungs zu erklären seien« (Christensen 1997: 1266). 2.3.3 REKONSTRUKTION VON KULTURELLEN VERSTEHENSSYSTEMEN W ELTMUSIKGESCHICHTSSCHREIBUNGEN NACH 1950 Besonders in den USA wandte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg den Fragen des musikalischen Kulturwandels, der Akkulturation, Enkulturation und Transkulturation zu. Vor dem Hintergrund eines sich verstärkenden kulturellen Relativismus wurden universalhistorisch orientierte Fragestellungen zurückgedrängt. Das allgemeine gesellschaftliche Klima in den USA hatte nun auch dafür gesorgt, dass man neben der Untersuchung indianischer Musikkulturen die Fragen nach dem Einfluss afrikanischer Kulturen stellen konnte und musste. Gerade die Bürgerrechtsbewegung erweckte das Interesse an jenen kulturellen Beiträgen, die das koloniale Erbe und deren Quellen zum wichtigen Bestandteil einer spezifisch nordamerikanischen Identität werden ließ. Entsprechende Fragestellungen waren nun auf die Strukturen und Funktionen von Musikkulturen gerichtet, die als eigenständige, das heißt vor allem aus deren Selbstverständnis heraus, untersucht wurden. Folgerichtig spielten weniger universale, auf das gesamte System Musik gerichtete Fragen eine Rolle, sondern solche, die die Untersuchung spezifischer Musikpraktiken in ihren konkreten Kontexten zu verstehen suchten. Daraus ergab sich allerdings ein methodisches Problem. Wie kann ein Wissenschaftler andere Verstehenssysteme verstehen lernen? Wie können deren interne Verstehenssysteme vom forschenden Wissenschaftler im Feld erlernt werden? Mantle Hood vertrat die Auffassung, »dass gültige Einsichten in eine Musikkultur die aktive Beteiligung als Ausübender voraussetze, dass der Musikethnologe […] an der zu erforschenden Tradition aktiv teilzunehmen habe« (Christensen 1997: 1272). Diese Forderung nach Fremdverstehen wird in ihrer ganzen Tragweite vielleicht verständlich, wenn man die gesellschaftliche Situation der USA in den 1960er Jahren dazu in Beziehung setzt. Exkurs: An Ka Kaliforniens liforniens Universitäten Die 1960er Jahre waren in den westlichen Ländern geprägt von einer zunehmenden Verbürokratisierung der Machtverhältnisse, die dem rationalen Prinzip hierarchischer Positionen im ökonomischen System folgte, einem System, das im Falle der USA ökonomisch gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war und die Anforderungen intensiver Industrialisierung zum Handlungs- und Erfahrungsraum der sozialen und ökonomischen Akteure machte. Neben dem Kalten Krieg, der das Verhältnis zwischen Westeuropa, den USA und dem so genannten Ostblock prägte, tobte in Südostasien ein auch von vielen Nordamerikanern als ungerecht empfundener Krieg gegen das nördliche Vietnam, und Maßnahmen der Rassentrennung gehörten nach wie vor zu den Erfahrungen in den meisten Regionen der USA. 147
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So entstand in den 1960er Jahren in den USA ein gesellschaftliches Klima, das von erheblichen Identifikationsproblemen mit dem System und sich zuspitzenden Generationsauseinandersetzungen gekennzeichnet war. Ein Großteil der aus jener Zeit stammenden künstlerischen Experimente, Stilistiken und Trends wie Rockmusik, Film, Happening und Fluxus begannen, die daraus erwachsenen psychologischen Deformationen zu thematisieren und eigene Modelle der Welterfahrung zu entwickeln, die nicht nur den Künsten erhebliche Impulse gegeben haben. Dabei galten nichtwestliche Kulturen als wichtige Inspirationsquelle (vgl. Kapitel 2.3.1). Im Umfeld einiger amerikanischer Universitäten, insbesondere in Kalifornien, interessierten sich nicht nur die Dozenten und Professoren aus rein akademischen Gründen für nichtwestliche Lebensformen und deren kulturelle Artefakte, für solche kulturellen Praktiken, die das Bedürfnis nach Natürlichkeit, Authentizität und Unmittelbarkeit ins Zentrum ihrer Wertesysteme setzten. Es waren vor allem deren Studenten, die sich den Klangformen nichtwestlicher Herkunft zuwendeten, weil sie ihnen ein geeignetes Medium schienen, entsprechende Erfahrungen zu ermöglichen und zu transzendieren. Nicht zuletzt die klanglichen, rhythmischen und metrischen Fragmente aus verschiedenen nichtwestlichen Musikpraktiken, die in das Sound-Bild des Psychedelic-Rock von Gruppen wie Grateful Dead und Jefferson Airplane eingegangen waren – in diesem Falle besonders diejenigen Asiens und insbesondere Indiens (vgl. Kapitel 1.1.2) –, begannen die bis dahin bindenden formalen Muster der Rockmusik aufzubrechen. Improvisatorische Techniken, ostinate Rhythmusformen und die eigenwillige »Fremdheit« von Sounds oder Timbres, wie sie in nichtwestlichen Musikpraktiken vorkommen, regten die musikalischen Phantasien einer Generation an, die in die Geschichte der Jugendkulturen als »Hippies« eingegangen sind: »Musik bedeutete für die Hippies direkte Wahrnehmung, die Musik selbst und sonst nichts: Was Musik ausmachte, konnte nur musikalisch ausgedrückt werden. Musik war nicht zu dekodieren. Sie konnte die widersprüchlichen, ansonsten unausgesprochenen und profunden Sinngehalte sicher fassen. Sie konnte eine Beleidigung für den logozentrischen Unglauben und den höhnischen Rationalismus sein. […] Es war ein direktes Kommunizieren mit denen, die an sie glaubten.« (Willis 1981: 139)
In Kontakt mit nichtwestlichen Musikformen kam man – und dies war gewissermaßen die Voraussetzung des kommunikativen Aktes der angestrebten Bewusstseinserweiterung –, wenn man sich als aktiv Ausübender in die »Geheimnisse« nichtwestlicher Musikpraktiken einweisen ließ und versuchte, unmittelbare Einblicke in das entsprechende Verstehenssystem mit seinen spezifischen Wirklichkeitskonstruktionen zu gewinnen. Die unzähligen damals gegründeten Gamelan-Orchester, die Sitarspieler und Perkussionisten im Umfeld oder als Teil der Ausbildung an Musical Departments sind nur ein Beispiel für eine Orientierung, die an den Türen der Universitäten keinesfalls Halt machte:
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Musiken der Welt – World Music – Global Pop »Die jeweils von Berufsmusikern des betreffenden Landes geleiteten Gruppen wurden […] besonders in Kalifornien schnell populär, konzertierten auch öffentlich und trugen wesentlich zur Institutionalisierung des nunmehr ETHNOMUSICOLOGY genannten Faches in den Music Departments amerikanischer Universitäten bei.« (Christensen 1997: 1271)
An den Instituten wurde ein anthropologischer Ansatz verfolgt, der Musik als Kultur und somit als integralen Bestandteil der Lebensweise einer bestimmten Gruppe von Menschen konzeptionalisierte. Das Bewusstmachen von verschiedenen Lebensweisen, selbstbewusstem Handeln im Alltag und das Interesse an Lebensweisen, von denen man überzeugt war, dass sie eine Alternative zu den von rationalem Kalkül bestimmten Formen der bürgerlichen Institutionen von Familie und Arbeitswelt darstellten, galten als erstrebenswert und hilfreich bei der Konstruktion eines »authentischen Selbst«. Gesellschaften, die als verhältnismäßig »einfach« galten im Unterschied zu den hochkomplex organisierten Industriegesellschaften westlichen Zuschnitts, dienten als willkommene Untersuchungsgegenstände und Projektionsflächen dieses »authentischen Selbst«. Auch die weithin bekannt gewordenen Composer-Performer John Cage und La Monte Young befassten sich an entsprechenden Instituten mit nichtwestlichen Vorstellungen und Musikpraktiken. John Cage zum Beispiel arbeitete 1951 in seiner »›music of changes‹ mit Zufallsoperationen nach den Prinzipien des altchinesischen Buches I-Ging. Beeinflusst von Ideen des Zen-Buddhismus, mit dem er sich gleich vielen anderen amerikanischen Intellektuellen schon seit den 40er Jahren beschäftigte, bekennt er sich zu einer ›von individuellem Geschmack und Gedächtnis, von Literatur und Tradition der Kunst freien Zufallsmethode des Schaffens von Musik: Sobald irgendetwas geschieht, ist es das, was es sein soll‹.« (Fritsch 1981: 268)
Im Gespräch mit Richard Kostelanetz (Kostelanetz 1989) meinte John Cage dazu: »[D]iese Entwicklung hatte […] mit meinem Studium des Zen-Buddhismus zu tun. Anfangs wollte ich die Gedanken, mit denen ich in Asien konfrontiert worden war, musikalisch umsetzen. Das ›String Quartet‹ (1950) handelt vom indischen Verständnis der Jahreszeiten, Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung und Ruhe, sowie der indischen Kunsttheorie von den neun Grundemotionen, von denen die Ruhe im Mittelpunkt steht. Aber dann kam mir der Gedanke, diese Dinge praktisch umzusetzen, anstatt darüber zu sprechen oder zu diskutieren. Das ließ sich am besten durch eine Musik bewerkstelligen, bei der man von einer ›Leere des Geistes‹ ausgeht.« (zitiert Ebd.: 60f.)
Vor diesem Hintergrund begann Cage sich von den artifiziellen europäischen Kompositionstechniken, solchen, die auf dem temperierten Tonsystem basierten, abzuwenden. Keinen unwesentlichen Einfluss dürfte dabei auch die geographische Lage entsprechender Universitäten gehabt haben. San Francisco ist beispielsweise gleich
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weit von Europa und Asien entfernt. Asiatische Bevölkerungsgruppen sind in dieser Region der USA sehr präsent und also auch deren musikkulturelle Praktiken. An den Universitäten, zum Beispiel der von Wesleyan in Middletown Connecticut, gab es die institutionalisierten Möglichkeiten, sich in der Spieltechnik und Philosophie asiatischer Musikkulturen unterweisen zu lassen. Gamelanorchester oder Unterrichtsangebote zum Erlernen japanischer Instrumente waren selbstverständlich. Für viele Musiker und Komponisten wurde der intensive Kontakt zu »fremden« Kulturen zum Schlüsselerlebnis. Der Musikethnologe Gerhard Kubik gab in einer Darstellung afrikanischer und europäischer Transkulturationsphänomene zu bedenken, dass bei kulturellen Begegnungen »[d]ie andere Kultur […] zur Projektionsfläche geheimer [unterdrückter] Wünsche und Tendenzen [werden kann]. Was er in den Produkten der anderen Kultur und in den Handlungsweisen der Menschen sieht, interpretiert der Beobachtende als genau das, was auszuagieren er selbst [innerhalb seines »eigenen« kulturellen Systems – S. B.-P.] sich scheut oder wozu er noch nicht bereit ist. […] Während beim ersten Zusammentreffen die Angehörigen verschiedener Kulturen dazu neigen, sich gegenseitig als ›exotisch‹ […] anzusehen, ist für die zweite Phase die Projektion kulturgebundener Denkmuster, Wertesysteme und unbewusster Vorstellungen auf die andere Kultur charakteristisch.« (Kubik 1988: 324)
Die Forderungen nach dem Einbeziehen von kulturspezifischen »Wirklichkeitskonstruktionen« als einzige Möglichkeit eines Fremdverstehens haben wiederum nicht selten dazu geführt, dass nicht die kulturspezifischen, sondern im Umkehrschluss die eigenen Kriterien zu Grunde gelegt wurden. Wahrscheinlich existierte in den 1960er Jahren an nordamerikanischen Universitäten und in deren Umfeld beiderlei – sowohl der Versuch, andere Kulturen aus deren eigenen Ordnungssystemen heraus zu verstehen, das heißt innerhalb der Grenzen der entsprechenden Konventionen, als auch die Hinwendung zu nichtwestlichen Kulturen, und zwar in der Übernahme vereinzelter Elemente wie Aufführungspraktiken und Instrumenten zum Zwecke der Projektion, aber schließlich auch als Projektionsfeld von Emotionen, den Verweigerungen gegenüber den eigenen Traditionen und Nichttraditionen. Möglicherweise ist Letzteres ein Schlüssel für das Verständnis des außerordentlichen, auch kommerziellen Erfolgs, den entsprechende Musikformen erlangen konnten bzw. bestimmte Fragmente aus ihnen. Steven Felds Begegnungen mit Mickey Hart, dem Perkussionisten der kalifornischen Band Grateful Dead, und dessen Interesse für Felds Aufnahmen der Kaluli aus dem Regenwald von Papua Neuguinea waren Teil bzw. Resultat genau dieser geographischen und gesellschaftlichen Konstellationen.
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2.3.4 »RECORDINGS TOO - NOT JUST ›LIVE‹« (1) QUELLEN DER ERFORSCHUNG POPULÄRER MUSIK Ethnomusik und Musiken der Welt – diese beide Begriffe waren vor allem in den 1960er Jahren, so resümierte Steven Feld in seinem Beitrag »Anxiety and Celebration-Discourses about World Music« (Feld 2000c), angereichert mit Visionen. Wer Interesse dafür entwickelte, verortete sich deutlich in Opposition zu dem in Akademien, Opernhäusern und Konservatorien institutionalisierten Musikverständnis westlicher Kunstmusik. Angesichts der Kenntnisnahme der Fülle zugänglichen musikalischen Materials jenseits dieses Musikverständnisses hielt man es für unabdingbar, die Forschungsperspektiven der historischen Musikwissenschaft zu verändern, sich von ihnen abzugrenzen und diese Abgrenzung auch zu institutionalisieren. 1955 wurde in den USA die Society for Ethnomusicology gegründet, die seit 1958 ihre Fachzeitschrift Ethnomusicology herausgibt und jährlich Tagungen in den USA organisiert. Mit dem Perspektivwechsel hin zur Untersuchung und Förderung nichtwestlicher Musiken und Aufführungspraktiken rekonstruierte man allerdings eine bereits existierende Dichotomisierung: Eine Ideologie, die unterscheidet zwischen westlicher Kunstmusik und dem »großen« Rest. Der überwiegende »Rest« war weiterhin gekennzeichnet durch Kategorien wie »ethnisch«, »lokal«, »alltäglich« und »primitiv« – Musiken, die vom Volk bzw. vor allem von bäuerlichen und vorindustriell produzierenden Gemeinschaften praktiziert und mündlich weitergegeben wurden. Es standen Musikformen im Zentrum der Untersuchungen, die in einem »ganzheitlichen« Verständnis gebraucht werden, als Teil von Ritualen, Unterhaltung, Bewegung und Tanz. Ihre Funktion erlangen sie im Rahmen dieser Gebrauchsformen. In dem damit aufrechterhaltenen Gegensatz von »autonom zweckfreier« und »funktional traditioneller« Musik lebte ein Musikverständnis fort, das späterhin auch die Berührungsängste mit populären Musikformen akademisch und kulturpolitisch begründete. Nachweislich wurden populärer Musik aus dieser Perspektive meist nur kommerzielle Qualitäten zugestanden, getragen von körperlicher Reizstimulation, Mythenproduktionen und der Vermengung von trivialen europäischen mit authentischen ethnischen Musiktraditionen (Wicke 1993). Auch aus musikethnologischer Sicht wurden interkulturelle und transnationale Einflüsse zunächst eher skeptisch gesehen. Doch angesichts fortschreitender Modernisierung und technischer Vermittlungsformen schien dieses Verständnis von musikalischer Authentizität und Originalität stetig fragwürdiger zu werden – einer Authentizität, die auf die unmittelbare Hervorbringung von Klang durch den Menschen setzt, und einer Originalität, die letztendlich auf individueller Schöpferkraft beruht. Konzeptionell und methodisch blieb die Bedeutung kultureller Einzigartigkeit und Wesenhaftigkeit zentral – sei es in der Ethik des Dokumentarischen oder der Repräsentation von Artefakten und Instrumenten für Archive und Depots von Museen und Forschungseinrichtungen. In der Hinwendung auf traditionell »reine«
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und im Live-Kontext praktizierte Musikformen lebte ein Musikverständnis fort, das den fortgesetzten Modernisierungsschüben eher skeptisch gegenüberstand. Mit Ausnahme von Charles Keils Arbeit zum Thema »Urban Blues« aus dem Jahr 1966 wurde Feldforschung von nordamerikanischen Ethnomusikologen als »Begehen eines Terrains« im positiven Sinne verstanden: als Eindringen in eine fremde, auch geographisch entfernte Kultur. Angesichts von Forschungskonzeptionen, die ihr Hauptaugenmerk auf vorindustrielle Musikformen und -produktion richteten, und auch angesichts des Fakts, dass das Interesse von Musikethnologen und Ethnomusikologen fast ausschließlich der Erforschung von fremden und räumlich entfernten Kulturen galt, mussten Phänomene wie World Music, World Beat und Ethno Pop folgerichtig auf Ablehnung stoßen. Zögerlich nur wandte man sich den hybriden Formen zu – solchen »traditionellen« Formen, die in urbane Zusammenhänge geraten waren und damit umgehend modernisiert wurden, und zwar jenseits ihrer traditionellen Gebrauchszusammenhänge, zum Beispiel auf Tonträgern fixiert und bei einem bestimmten Label erschienen. Als sich in den 1960er und 1970er Jahren in den USA die Einwandererströme aus dem karibischen, südamerikanischen Raum und asiatischen Regionen verstärkten und schon rein quantitativ sich das Erscheinungsbild in amerikanischen Städten veränderte, weil die Einwanderer und ihre Kulturen immer präsenter wurden, erhielten solche Forschungsgegenstände Relevanz, die Fragen der ethnischen Identität in komplexen urbanen Agglomerationen betrafen: »Eine wesentliche theoretische Voraussetzung war dabei die Erkenntnis, dass die Prämisse von der Homogenität von Kulturen in urbanen Situationen unhaltbar und für die URBAN ETHNOMUSICOLOGY durch die grundsätzliche Annahme von Heterogenität ersetzt werden müsse; ferner, dass alle Gesellschaften in unterschiedlichem Maße komplex seien und musikethnologische Forschung stets von kultureller Heterogenität auszugehen hätte.« (Christensen 1997: 1271f.)
Nimmt man einige der wichtigsten Publikationsorgane in der Tradition der europäisch-amerikanischen Tradition der Musikethnologie zur Hand – etwa die Zeitschrift Ethnomusicology – Journal of the Society for Ethnomusicology oder das vom International Council of Traditional Music herausgegebene Yearbook for Traditional Music –, dann gehören »Cross-Cultural-Phenomenons« erst seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu den Untersuchungsgegenständen der Musikethnologie und Ethnomusicology. Unter dem Stichwort »Across the Fields« wurde beispielsweise die Bedeutung der norwegischen Fiddle in der aktuellen Musikkultur der norwegischen Einwanderer Amerikas untersucht. Urbane Aneignungen vormals traditioneller Formen reflektierte man unter dem Stichwort »The Rap Attack« (Keyes 1996). Dass traditionelle Formen in urbanen Kontexten vor allem identifikatorische Funktion erfüllen, diskutierte Christopher Waterman (Waterman 1990) anhand der Konstruktion einer Pan-Yoruba-Identität in modernen urbanen Kontexten. Nun gelangten offensichtlich immer häufiger solche Forschungsperspekti-
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ven ins Bewusstsein, die den Unterschied zwischen live aufgeführter Musik und »vermittelter« Musik auf Tonträgern (Keil 1984) thematisierten. Seit den 1980er Jahren widmeten sich viele nordamerikanische Musikethnologen den Forschungen zur populären Musik. Peter Manuel (Manuel 1993), Charles Keil und Steven Feld (Feld/Keil 1994) sowie Christopher Waterman (Waterman 1990) wurden zu Protagonisten einer theoretisch fundierten und empirisch durch die Methoden der Ethnomusicology beeinflussten Gruppe von Forschern, die seit Ende der 1980er Jahre die Diskussionen zum Thema »lokale Musikpraktiken«, »Globalisierung« und »Transkulturation« im Rahmen der Erforschung populärer Musikformen prägten. Der Einfluss der amerikanischen Musikethnologie auf die Forschungen populärer Musik ist vor allem deshalb immens, weil sie eine Forschungsperspektive aufzeigte, die musikkulturelle Formen, Texte und Repräsentationen im Kontext ihrer Begegnung und Vermittlung einbezieht. In diesem Zusammenhang kamen erstmals Themen wie Diaspora, Hybridität, Migration, Urbanisierung und die Bedeutung von (Massen-)Medien zur Sprache. »Recordings too – not just ›live‹« (Steven Feld) umschreibt einen Perspektivwechsel, der die Geschichte von kulturellen, sozialen und technologischen Vermittlungen zum Gegenstand der Untersuchung musikkultureller Formen machte, »ethnomusicologists began to recognise that recordings too – not just ›live‹ performances – were cultural texts and representations embodying histories of mediation. And from this it became clear that one could not continue to study ›World Music‹ as if it existed in a pre-commodity world.« (Feld 2000c: 11) Empirisches Material von Musikpraktiken jenseits der westlichen Welt wurde von den Ethnologen zunehmend in seinen modernisierten und also immer auch in transkulturellen und nicht wesenhaft an bestimmte Ethnien und geographische Räume auf ewig gebundene Formen dokumentiert und analysiert. Christopher Waterman etwa (Waterman 1990) legte in seinen Darstellungen zu Nigerianischem Jùjú Wert auf die Feststellung, dass Jùjú, lange bevor er international bekannt wurde, in Nigeria selbst Teil populärer Kulturproduktion war. Auch Veit Erlmann (Erlmann 1991, Erlmann 1996) berichtete aus Südafrika, dass dort selbstverständlich mediatisierte Musikformen und die dafür notwendigen Organisationsstrukturen des Musikbetriebes wie Aufnahmestudios und Radiostationen existierten, und zwar lange bevor in der Tradition der Zulu-Chöre stehende Ensembles wie Lady Smith Black Mambazo durch die Einbindung in das »Graceland«-Projekt von Paul Simon international bekannt geworden waren. Diese empirischen Tatsachen sowie jener Aspekt des methodisch-theoretischen Instrumentariums der Ethnomusicology, Musik als Teil kultureller Erfahrungen in komplexen sozialen Situationen zu begreifen, traten nun in einen Diskussionszusammenhang, der in Europa eher geprägt war durch die Methoden und Erklärungsmodelle der britischen Cultural Studies. Diese Forschungsperspektive auf subkulturelle Strategien, mit denen man Bedeutung produzierenden kulturellen Systemen analytisch nachging (vgl. Kapitel 2.1.1), und die Traditionen von Vergleichender Musikwissenschaft und Musiketh-
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nologie, wie sie sich in der nordamerikanischen Variante der Ethnomusicology herausgebildet hatten, bilden zwei wichtigen Quellen der Erforschung populärer Musik. Es handelt sich dabei um diejenigen konzeptionellen und methodischen Quellen, die für den Gegenstand dieser Untersuchung von Relevanz sind. Deshalb wurden beide hier so ausführlich vorgestellt. 2.3.5 W ORLD MUSIC ALS GEGENSTAND DER ERFORSCHUNG POPULÄRER MUSIK Literatur, die sich im engeren Sinne mit World Music als Repertoire-Kategorie aus akademischen Perspektiven befasst, stammt in überwiegendem Maße aus dem Forschungsbereich der Musikethnologie. Schon die Veröffentlichungsorte legen diese Vermutung nahe. Pittsburgh, New York und immer wieder Chicago werden als Sitz entsprechender Universitätsverlage genannt, Universitäten in den USA, an denen Ethnomusicology an den Musical Departements gelehrt wird und von denen aus Forschungsreisen und -untersuchungen in die entsprechenden Regionen der Welt unternommen wurden. Dabei überwiegen in den umfangreicheren Buchpublikationen: • Überblicksdarstellungen zu bestimmten Regionen der Welt (Kanahele 1980, Chernoff 1981, Danielou 1972/1982, Simon 1983, Pinto 1986, Manuel 1995); • die Analyse bestimmter Gattungen und/oder Stilistiken (Alaja-Browne 1985, Schreiner 1990, Waterman 1990, Ballantine 1992, Thomas 1992, Berliner 1993, Holst 1994, Mitchell 1994, Collins 1995, Hernandez 1995, Ospina 1997) und • enzyklopädisch aufgearbeitete Darstellungen zum Thema World Music bzw. nichtwestliche populäre Musikformen (May 1989, Trouillet 1989, Ewens 1991, Reck 1991, Sweeney 1991, Taylor 1997, Broughton/Ellingham/Muddyman/Trillo 1994/2000, Collins 1995). Einige der Letztgenannten stammen weniger aus akademischen, denn aus Kreisen interessierter und sehr kenntnisreicher Enthusiasten (Broughton/Ellingham/Muddyman/Trillo 1994/2000). Sie schrieben ihre Bücher vor allem für einen populärwissenschaftlich orientierten Markt und griffen das Informationsbedürfnis der World-Music-Produzenten, -Agenturen, -Medien und -Fans auf. Damit fungierten sie auch als Promotion-Instrumente zur Bekanntmachung entsprechender Künstler, Labels und Editionen. Geht es um bestimmte Gattungen und Stilistiken, fällt das Interesse an einer überschaubaren Anzahl von Gattungen und Stilistiken auf, die man vor allem Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre unter der Repertoire-Kategorie World Music zusammenfasste (vgl. Kapitel 2.3.1.2). Immer wieder wurden dabei musikalische Formen und Stilistiken aus Westafrika, der Karibik oder Südeuropa untersucht. Die Flut an Veröffentlichungen zum Thema Flamenco auf dem europäischen Buchmarkt ließe sich zweifellos mit dem Grad seiner Präsens in den kommerziellen Zu-
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sammenhängen der Musikmärkte vergleichen und erklären, etwa am Beispiel der Gipsy Kings. Hier bedingt das eine offenbar das andere. Auch das Interesse wissenschaftlicher Untersuchungen orientiert sich oftmals an jeweils aktuellen musikpraktischen Zusammenhängen, entsprechenden kulturellen Bedürfnissen und kommerziellen Erfolgen und versucht, diesen auch voneinander abhängigen gesellschaftlichen Bereichen problemorientiert nachzugehen. Dabei dominierten: • Fragen zum Zusammenhang von populärer Musik und lokaler Identität (Mitchell 1996); • Aspekte der Regionalisierung und Re-Indigenisierung verschiedener Formen populärer Musik (Hayward 1998a, www.norint.com); • Erklärungsversuche zum kommerziellen Bedeutungszuwachs lokaler Kulturformen (Manuel 1993, Guilbault 1997); • zum Stellenwert lokaler Musikpraktiken angesichts globaler Warenzirkulation (Lipsitz 1994/1999) und • ästhetische Signaturen entsprechender populärer Musikformen (Manuel 1995, Erlmann 1995). Das Interesse an wissenschaftlichen Darlegungen ging also auch einher mit der Bedeutsamkeit von World Music als Repertoire-Kategorie des Musikmarktes und den entsprechenden kulturellen Aktivitäten ihrer Fans, Kommentatoren und Kritiker. Von Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre waren es zunächst Darstellungen, die ihr Interesse auf jene musikalischen Stilistiken, Gattungen und Zusammenhänge in Westafrika und der Karibik richteten, die den Kern des Repertoires von World Music bildeten. In den 1990er Jahren folgten Untersuchungen und Publikationen, die sich anderen geographischen Regionen der Welt widmeten, vor allem dem pazifischen Raum (Neuenfeldt 1998, Hayward 1998a/b), und übergreifenden Themen nachgingen wie den Voraussetzungen und Resultaten »kultureller Globalisierung«, ästhetischen Besonderheiten (Erlmann 1998) und deren kommerziellen Rahmenbedingungen (Taylor 1997). Stets bildeten das Widersprüchliche und das Schwierige in der Bewertung der kaum wirklich greifbaren Phänomene den Subtext der Untersuchungen, einerseits der Respekt gegenüber der Vielfalt von musikalischen Formen, die nunmehr medial verfügbar und auch jenseits ihrer traditionellen lokalen Zusammenhänge repräsentiert wurden und andererseits aber immer auch die Fragen nach den ungebrochenen Hierarchien ökonomischer und kultureller Machtkonstellationen, für die die betreffenden Klangsynthesen stehen. Zum Referenzobjekt vieler Arbeiten zum Thema World Music wurde eine umfangreiche ethnomusikologische Studie von Louise Meintjes, die bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entstanden war, bevor sie 1990 in der Zeitschrift Ethnomusicology unter dem Titel »Paul Simon’s Graceland, South Africa, and the Mediation of Musical Meaning« (Meintjes 1990) veröffentlicht wurde. Die Autorin
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wählte Simons weltweit erfolgreiches Album, das 1986 bei Warner Brothers erschienen war, zum Ausgangspunkt ihrer Erörterungen: »The album is musically interesting: the structural integration of diverse musical elements is skilfully crafted; the production is superb; and the musicians are all experienced professionals. Additionally, Graceland is not a musical anomaly in the contemporary international market. It is part of a history of links between North American and South African music through the recording industry and through touring performers.« (Meintjes 1990: 40)
Meintjes dokumentierte und bewertete die unterschiedlichen Kommentare im Umfeld von Paul Simon, untersuchte das Verhältnis des Musikers zu den an der Produktion des Albums beteiligten Musiker, vor allem denen aus Südafrika, und analysierte auch die musikalischen Texturen der Songs in Bezug auf ihre Herkunft und die Veränderung traditioneller Formen durch die Zusammenarbeit mit Paul Simon. An Simons Album, das gewissermaßen die Ära der »modernen« RepertoireKategorie World Music einleiten half, entzündeten sich die Gemüter, artikulierten sich kulturelle und politische Interessen sehr unterschiedlicher Couleur. Das Album selbst eignete sich hervorragend als Gegenstand der Analyse jener medialen Qualitäten, durch die hindurch die so verschiedenen Interessen der am Musikprozess Beteiligten mit- und gegeneinander ausgetragen wurden. Louise Meintjes ging den Interessen der Musiker aus verschiedenen Regionen der Welt und deren Bekanntheit und denen von Tournee-Agenturen, Journalisten und politischen Kommentatoren konkret nach, indem sie die unterschiedlichen Dimensionen Bedeutung bildender Prozesse wie politische Bewertungen, wirtschaftliche Rahmenbedingungen und ästhetisch wirksame Aspekte der Songs untersuchte: »[T]here are patterns in the way the sociopolitical orientation of these interest groups relates to how various groups evaluate the presentation of Graceland as a collaborative project. The first significant dimension relates to the transcendency of musical meaning. In one view, music is regarded as a universal language that bridges cultural barriers [vgl. Kapitel 2.1.2 – S. B.-P.]. The diametrically opposed view states that music can only be understood in culturally specific terms [vgl. Kapitel 2.3.3 – S. B.-P.]. […] A second dimension refers to the stylistic revitalization versus appropriation […] Here the question is whether or not royalties and respect, as represented by copyright, are sufficient compensation for the use of musical ideas, or if this constitutes cultural and economic rip-off.« (Ebd.: 68)
2.3.6 KULTURELLE DURCHLÄSSIGKEIT UND STARKE ZEICHEN Als Schlüsselkategorie ihrer Analyse thematisierte Louise Meintjes die Botschaft des Albums »Collaboration« und ging ihr auf unterschiedlichen Analyseebenen nach: • Kollaboration im produktionstechnischen Sinne – nämlich der Zusammenarbeit von Musikern unterschiedlichen Bekanntheitsgrades aus verschiedenen
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• •
Regionen der Welt wie Südafrika und dem Senegal einschließlich ihrer verschiedenen Zugangsvoraussetzungen zum international organisierten Musikbetrieb; Kollaboration im ästhetischen Sinne – als Miteinander verschiedener musikalischer Vorstellungen, Stilistiken, Images und Konzeptionalisierungen; Kollaboration im politischen Sinne – den Allianzen der Affirmation und Ablehnung »schwarzer« und auch »weißer« Südafrikaner angesichts der Veröffentlichung des Albums und der Welttournee der beteiligten Künstler im Kontext von Apartheid und Boykottmaßnahmen gegen sie.
Nicht zuletzt das Klangbild – vor allem die wirkungsvollen Synthese aus englischen Worten und jenen der Zulu-Sprache, auf die schon der Titel »Homeless« hinweist – repräsentiert den Tenor der kulturellen Durchdringung – einer Durchdringung, die von den Spezifika einzelner kulturell voneinander verschiedener Elemente getragen wird. Bis hinein in den Produktionsprozess einzelner Songs im Vorfeld der Aufnahmen und im Tonstudio skizzierte Meintjes die ihrer Meinung nach konstitutiven Schritte der semiotischen Bedeutungsbildung und –verschiebung. »Step one involves a selection of signs from a variety of style types. Then in step two, these signs – each bringing an historical complex of meanings – are combined in ways significant to the new context (Graceland) to create a new, unique instance or token.« (Ebd.: 69) Die Autorin kam zu dem Schluss: »Graceland is a composite polysemic sign vehicle« (ebd.). Als Musikethnologin hatte sich Meintjes intensiv mit verschiedenen Stilistiken südafrikanischer Musikformen beschäftigt und konnte die entsprechenden Ketten von Signifikanten in den Songs aufspüren. Vor allem im Hit-Song des Albums »You Can Call Me Al« wurde dieses Prinzip deutlich. Die im instrumentalen Zwischenspiel dominierenden Instrumente, eine Pennywhistle – eine einfache aus irischen Folksmusiktraditionen stammende Flöte – und eine Bassgitarre, verweisen auf verschiedene schwarzafrikanische musikalische Stilistiken: Kwela, Mbube und Mbaqanga. Wichtig für diesen Zusammenhang sind nicht die Spezifika dieser Genres, sondern die Art, wie sie im Titel »bearbeitet« wurden. Meintjes analysierte aufschlussreich, wie in den unterschiedlichen Verstehenssystemen, die ein solches Album aufgreift, anspricht und auch neu erzeugt, die verwendeten Zeichen sowohl als spezifische Verweise fungieren als auch ein notwendiges Maß an kultureller Durchlässigkeit ermöglichen. Verwendete Zeichen wie Klänge, Rhythmen und Tonhöhenverläufe sowie das Timbre von Stimmen aus spezifischen kulturellen, geographischen und historischen Zusammenhängen erscheinen als kulturell durchlässig bzw. mussten kulturell durchlässig gemacht werden, um in anderen kulturellen Verstehenssystemen Wirkung zu erzielen – in diesem Fall in der internationalen Popästhetik: »In order to appeal more strongly to Graceland’s international audience, the kwela pennywhistle sound on ›You Can Call Me Al‹ is cleaned up« (Meintjes 1990: 44 – Hervorhebung im Original). Doch im Gegensatz zur traditionellen Verwendung der Pennywhistle wurde auf die üblichen Glissandi ver-
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zichtet. Das Instrument wurde auf das temperierte Tonsystem eingestimmt und dem Taktmodell des Songs angepasst, auch das Timbre war nun weniger »hauchig«. In dem Maße, wie die kulturell eigenwilligen Zeichen – zumeist Instrumente mit einem spezifischen Klang – kulturell unspezifischer, im übertragenen Sinne »abgeschliffen« werden, in dem Maße werden sie aber auch in den Vordergrund der Songs gerückt, sei es auf technische Weise beim Abmischen im Studio, bei der Performance auf den Bühnen oder im Fokus bestimmter visueller Darstellungen (z.B. in Musikvideoclips). Als starke Zeichen können sie Aufmerksamkeit binden. Sie fungieren als Eye- und Earcatcher, und zwar ohne »authentisch« und präzise in Klang und Bild ihre »Wurzeln« reproduzieren zu müssen. Als Earcatcher fungieren sie bereits im Kontext des unmittelbaren »Kompositionsprozesses«. Denn zuallererst sind es die Komponisten, Musiker, Toningenieure oder die Produzenten selbst, die fasziniert sind von ihrer ästhetischen Wirkkraft: vom Timbre einer »außergewöhnlichen« Stimme, vom Klang eines Instrumentes oder der Spezifik eines Rhythmus. Meintjes zitierte in diesem Zusammenhang Paul Simon, der sagte: »I didn’t say ›I’d love to bridge cultures somewhere in the world‹, […] No, I just fell in love with the music and wanted to play« (ebd.: 39). Im Moment ästhetischer Faszination fragt kaum jemand nach den Kontexten, Wurzeln oder künftigen Deutungsmöglichkeiten entsprechender Muster. Dieser Fakt wurde hier bereits an Deep Forest’s Beispiel »Sweet Lullaby« und »Komodo« von Mauro Picotto verdeutlicht (vgl. die Kapitel 1.2.1 und 1.2.5) Bemerkenswert scheint in diesem Zusammenhang, dass im Zuge der »Graceland«-Veröffentlichung eigentlich nur die Songs mit dem südafrikanischen ZuluChor Ladysmith Black Mambazo bekannt und erfolgreich wurden. Sie erlangten eine Aufmerksamkeit, welche um ein Vielfaches größer war als die der anderen Songs des gleichen Albums: Los Lobos, Good Rockin’Dopsie and the Twisters, Linda Ronstadt, The Everly Brothers und dem senegalesischen Weltmusik-Star Youssou N’Dour. Einer der Gründe bestand sicherlich darin, dass die Produktion und Veröffentlichung des Albums, die Welttourneen und die Präsentation des Videos in eine Zeit fielen, in der das Thema Apartheid im Süden Afrikas weltweit diskutiert und von besonderer Brisanz war. Erst am 18. März 1992 wurde die Apartheid per Gesetz in Südafrika abgeschafft. Beinahe jeder Beitrag zu diesem Thema, so indirekt er auch gewesen sein mag, konnte mit einem hohen Maß an medialer Aufmerksamkeit rechnen. Die höhere Aufmerksamkeit, welche diesen Songs entgegengebracht wurde, könnte sich aber auch aus anderem Grund ergeben haben. Denn das Maß an ästhetischer »Andersartigkeit« – das heißt die Differenz zwischen den musikalischen Gestalteigenschaften der afrikanischen Gesänge, die Paul Simon ausgewählt hatte, und der internationalen Popästhetik – war weitaus signifikanter als das Maß an Differenz zwischen der internationalen Popästhetik und den musikalischen Stilistiken nordamerikanischer Minoritäten, die durch Good Rockin’Dopsie and the
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Twisters repräsentiert wurden: »The Africans’ otherness marks their input much more clearly as their own.« (Ebd.: 48) 2.3.7 ETHNISCHE REPRÄSENTATIONEN ALS ORIENTIERUNGSHILFEN Je größer die Differenz, die Andersartigkeit oder auch das Maß an Skurrilität und Kuriosität, desto größer offensichtlich die Chance, Aufmerksamkeit zu erlangen. Der australische Ethnologe und Kommunikationswissenschaftler Karl Neuenfeldt stieß in seinen Untersuchungen zum »Faszinosum« Didgeridoo (Neuenfeldt 1998) auf ähnliche Befunde: »The dissemination and evolution of the didjeridu provides an instructive example of the movement of a musical instrument from local to national and global contexts in a relatively short period of time. […] In the last several decades […] it has come to be used globally and nationally in ways falling outside the parameters of local, ›traditional‹ Aboriginal musical, socio-cultural, and spiritual practice. The contexts chosen for examination are spectacle and therapy, in which didjeriduists and their audiences or clients consociate in practice revolving around notions of the ›curious‹.« (Ebd.: 30)
Nicht zuletzt die Abschlussveranstaltung der olympischen Sommerspiele 1996 in der US-amerikanischen Stadt Atlanta, bei der Hunderte von Didgeridoo-Spielern als Zeichen für die Begrüßung der Spiele 2000 im australischen Sydney ins Bild gesetzt wurden, verweist auf die Wirksamkeit spektakulärer Präsentationen von kulturellen Artefakten, die bewusst aus ihren »ursprünglichen« Kontexten genommen werden, um sie in neuen Kontexten als wirkungsvolle Repräsentanten einer Kultur, Region oder Ethnie anzubieten. »Similar to sounds, musical instruments can be: ›split from their sources, (and) that splitting is dynamically connected to escalating cycles of distorting mutuality, which in turn (are) linked to polarizing interpretations of meaning and value‹.« (Feld 1994: 289) Das Didgeridoo – eines der ältesten und mit entsprechenden Bedeutungen aufgeladenen Instrumente – wurde immer wieder in diesem Zusammenhang zu einem interessanten analytischen Referenzobjekt. Die australische Band Yothu Yindi, die, so die Information auf deren Website, bis mindestens 2006 existierte – und von der bis auf zwei Musiker alle Band-Mitglieder zu den australischen Ureinwohnern, den Aborigines gehören – benutzte das Didgeridoo als markanten Klangerzeuger im Tonstudio und auf der Bühne. Immer wieder erschien es auch in Video-Tracks der Band, unter anderem in ihrem bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Songs »Treaty« vom Album »Tribal Voice«, für das die Band 1991 den Best-Indigenous-Record-Award der Australian Recording Industry Association (ARIA) erhielt. Bezeichnenderweise entzündete sich an den verschiedenen Versionen des Hits »Treaty« eine heftige Debatte um den Stellenwert des Exotischen und Authentischen in der populären Musik Australiens. Allein vier akademisch orientierte Artikel (Nicol 1993, Hayward 1993, Mit-
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chell 1993 und Stubington/Dunbar-Hall 1994) diskutierten kurz nach der Veröffentlichung des Songs im Zusammenhang mit entsprechenden kultur- und musikpolitischen Diskussionen Anfang der 1990er Jahre die unterschiedlichen Varianten von »Treaty« und der Gestaltung des Videos zum Song. »Treaty« hatte man ausgekoppelt, wie das für die Hits von Alben üblich ist, und in verschiedenen Versionen als Radio- und Dance-Mix plus Video produziert. Der Song selbst bezog sich auf ein historisches Ereignis. Im Jahr 1990 hatten die Stammesältesten eines bestimmten Aborigine-Clans mit der australischen Regierung einen Vertrag abgeschlossen, um den Verkauf von Aborigine-Land zu besiegeln. Man hatte seit 1988 miteinander verhandelt, doch letztlich zu Gunsten der Minengesellschaft, die in dem strittigen Territorium Bauxit fördern wollte. Das Video, das zur ersten Auskopplung von »Treaty« produziert worden war, bebilderte und illustrierte den geschilderten Vorgang sehr direkt: Kinder schauen in einem Klassenraum Fernsehen, und die Filmsequenzen zeigen den Regierungschef, wie er – gleich einem Aborigine – einen Speer wirft und ein Didgeridoo bläst. Mit dieser Video-Sequenz wollte man – so Lisa Nicol (Nicol 1993) – den Zynismus der Integrationsbestrebungen vonseiten der australischen Regierung und seitens der Medien und deren Fernsehpropaganda bloßstellen. Montiert wurden die Takes mit Bildern aus der Aborigine-Kultur, die emphatisch auf das Selbstbewusstsein und die Kraft junger Aborigine verweisen. Ein halbes Jahr nach dieser Produktion folgte eine zweite, der so genannte »Filthy Lucre Remix«. Song und Video hatten sich verändert. Man hatte den Remix den damals erfolgreichen Popmusikformen und ihren visuellen Präsentationen angepasst. Aus dem Song wurde ein Dance-Mix, entsprechende Rhythmen wurden unterlegt, und man verzichtete auf die englischsprachigen Sequenzen zu Gunsten markanter Worte aus der Sprache der Aborigines. Wichtiger wurden Synthesizer und Bass, ein Drum-Synthesizer, Echogeräte und Sampler. Traditionelle Instrumente wie die aneinandergeschlagenen Bumerang-Sticks und das Didgeridoo wurden soundtechnisch in den Vordergrund gemixt und waren nun viel deutlicher zu hören. Das zu diesem Remix produzierte Video stellte traditionelle Symbole der Aborigine-Kultur in den Vordergrund. Im Zentrum standen nun Bewegung und Tanz von jungen AborigineMädchen in knappen Röcken. Die Bilder von der Bauxit-Mine waren verschwunden, ebenso die Politiker und die Fernsehen guckenden Kinder im Klassenraum. Das Video war weitaus schneller geschnitten, Fragmente und Effekte dominierten die Ästhetik. Aus einem narrativ angelegten Video wurde ein Konzeptvideo im Sinne der MTV-Ästhetik. Die lokale Presse notierte, dass Yothu Yindi mit dieser Version einen Platz auf der Weltkarte der populären Musik finden werde. Brian Eno, David Burne und Peter Gabriel boten ihre Zusammenarbeit an. Die Kommentatoren aus den akademischen Zusammenhängen formulierten den Vorwurf, dass in der zweiten Version »Exotik vor die politische Aussage rücke und die politische Aussage im Namen der Popularität preisgegeben werde« (Nicol 1993: 25). Mandawuy Yunupingu, der Leiter von Yothu Yindi, äußerte sich angesichts einer Diskussion während des New Music Seminars – seit 1980 in New York
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stattfindendes Musikfestival mit zahlreichen Konzerten, Vorträgen, Diskussionen und Schulungen – 1991 in New York jedoch folgendermaßen: »At first I didn’t know what a dance mix was – someone had to take me aside and explained. But we gave them the go ahead as long as they kept the Yolngu3 side, the Aboriginal Side, intact it doesn’t lose the magic that we’ve got. They respected that and when I heard it I thought it was really good […] these days we’re doing more compromising in terms of cultural situations, and you’ve got to do it because you ’re dealing with the commercial aspects of the industry. As long as our values, beliefs and principles remain intact then I think that’s the way to go – and I think we’ve got the strength to do it that […] I don’t want to be a museum piece. We aim to make people aware that we have unique culture that can co-exist with Western culture.« (Zitiert bei Mitchell 1993: 332)
Ethnische Repräsentationen rufen bei »westlichen« Beobachtern nahezu reflexartig Fragen nach kulturellen Traditionen und deren Bewahrung hervor. Ihre Koexistenz oder Überzeichnung mit globalen Sounds wird als Verfälschung und Entwertung gedeutet. Aus der Perspektive ihrer »Träger« stellt sich dieser Zusammenhang jedoch oftmals anders dar. Sie wollen modern und Teil des globalisierten Musikprozesses sein, können in ihm umgekehrt jedoch nur Gehör finden, wenn sie ausreichend ethnische Repräsentationen – starke Zeichen – in ihre Musikformen und Performances integrieren. Wenn hingegen in lokalen Musikkulturen Imitate medialer Superstars auftauchen, dann wird diese Situation von europäischen Beobachtern eher bedauert. Peter Wicke berichtete zum Beispiel in einem Gespräch mit dem Musikethnologen Veit Erlmann zum Thema »Das Eigene und das Fremde: über die Chancen lokaler Kulturen« (Erlmann/Wicke 1992). »Ich hatte das Glück, [in Ghana – S. B.-P.] Live-Musik zu hören, etwas, das die Ghanesen sehr stolz präsentieren, zudem dort ungeheuer populär. Und doch war es etwas sehr Absurdes: eine nachgerade verblüffende, hundertprozentige Kopie von Michael Jackson, perfekt bis ins kleinste Detail, eingeschlossen ein fast doppelgängerhaftes Äußeres.« (Ebd.: 6) Warum bewerten westliche Beobachter diese Situation als eine absurde? Warum erwarten sie eine »unberührte« kulturelle Präsentation? Das Dilemma postkolonialer Hybridität lässt sich nicht einfach auflösen. Immer wieder sind insbesondere diejenigen erfolgreich (ökonomisch, wissenschaftspolitisch, kulturpolitisch) – vergleiche auch die Verleihung des internationalen Friedensmusikpreises an die Tuareg-Band Tinariwen oder der Siegeszug des Balkan Beat in europäischen Clubs und den European World-Music-Charts – die mit starken Zeichen, vor allem ethnisch fundierten Klängen, Melodiebildungen, Rhythmen und Metren auftreten bzw. auf sich aufmerksam machen. Wie lässt sich der Erfolg derartiger Klischees und Stereotypen erklären?
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»Yolngu« ist die Selbstbezeichnung eines Stammes australischer Ureinwohner aus dem Arnhemland im Nordosten Australiens. »Yolngu« bedeutet so viel wie »Menschen«. 161
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Unser psychoakustisches Wahrnehmungssystem ist darauf angewiesen, Strategien der Selektion und Typisierung vorzunehmen. Andernfalls wäre Informationsverarbeitung und Gestaltbildung – und dies betrifft alle menschlichen Sinne – nicht möglich. Die sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnis von Welt basiert auf der Zuordnung und dem Vergleichen schon gemachter Erfahrungen und deren Verarbeitung. Stereotypen haben sich dabei als notwendige Hilfsmittel zur Klassifizierung und Einordnung von Eindrücken aus der Umwelt erwiesen. Gleichzeitig zeugt die Beliebtheit von Klischees und Stereotypen vom Bedürfnis nach urteilender bzw. wertender Kontrolle. Schlimmstenfalls werden sie dramatisch zugespitzt und bestimmen dann als rassistische Motive die Objektwelt (vgl. Stiftung Jüdisches Museum Berlin/Jüdisches Museum Wien 2008), geflügelte Worte oder zum Beispiel Kinderlieder: »Zehn kleine Negerlein« oder »C-A-F-F-E-E – trink nicht so viel Kaffee. Nicht für Kinder ist der Türkentrank«. »Afrikaner haben den Rhythmus im Blut« und »Asiaten sind stets freundlich, lächeln und können ihre Gefühle verbergen«. Die Zuschreibung von vermeintlichen Wesensmerkmalen durchzieht insbesondere die Zeichenwelten der Alltags- und Populärkulturen. Das Fremde bzw. andere gilt als zentrales Problem der empirischen und theoretischen Kulturwissenschaften. Hermann Bausinger – Nestor der empirischen Kulturwissenschaft und europäischen Ethnologie der Universität Tübingen – betonte, dass Klischees und Stereotypenbildungen das Fremde handhabbar und vertraut machen, ohne dabei die Fremdheit zu beseitigen (Bausinger 1994). Bemerkenswert ist dabei, dass insbesondere sozialpsychologische Untersuchungen zur Bildung und Geltung von Stereotypen überwiegend die dominanten Klischees herausstellen und sie bestimmten Gruppen der Bevölkerung zuordnen. Immer wieder wird dabei – so Bausinger – der Nachweis über die in den Stereotypen liegenden Defizite geführt. Angemahnt werden der Hang von Klischees und Stereotypen zur Übergeneralisierung, Erstarrung und Immunisierung gegenüber Vielfalt und Komplexität, ihre eigentliche Inkonsistenz und der unbewältigte Widerspruch von Klassifikation und Zuschreibung. Vergessen hingegen wird dabei – so Bausinger – oftmals deren Funktion zur strukturellen Orientierung. Denn Stereotypen bewirken auch eine Ordnung diffusen Materials und damit eine für viele Wahrnehmungsund Darstellungszusammenhänge notwendige Reduktion von Komplexität, die wiederum Realität und Identität stiften können. Man denke dabei zum Beispiel an die Zeichenwelt von Jugendsubkulturen, deren Accessoires und Symbole, bevorzugte Musikformen und Habitualisierungen. Auch die vor allem medial angeeigneten Zeichenwelten heutiger jugendlicher Kulturformen – Hip-Hop, Metal etc. – bauen auf diesen Stereotypen. Insbesondere dann und dort, wenn und wo die Fülle an Informationen Wahrnehmungsmodalitäten überfordern, werden folgerichtig auch Prinzipien der Aufmerksamkeitsfokussierung eingesetzt, seitens der »Sender« (z. B. Werbung, Imagebildung, »Branding«) und seitens der »Empfänger« (Zeichen, Kleidung, Habitus). Lokale Repräsentationen spielen in diesen Zusammenhängen eine bemerkenswerte Rolle: Liverpool Sound, Wiener Electronica, Balkan Beat als Bezeichnungen
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für bestimmte musikbezogene Szenen sind wohlgemerkt mediale Konstruktionen, deren Funktion vor allem der Selektion und Klassifikation von Zugehörigkeit und Repräsentation dient. Der Versuch die vielfältige Klangwelt – Musik – zu verstehen, ist durch nichts so sehr gekennzeichnet, wie durch die Suche nach wiederkehrenden Merkmalen, Formen und Typisierungen, Mustern, Pattern und Standards. Ganz maßgeblich betreibt auch Wissenschaft die Suche nach repräsentativen Begriffen für mannigfaltige und widersprüchliche Phänomene, weil sie sich andernfalls in ihrer tatsächlichen und multivalenten Komplexität kaum erklären und kommunizieren lassen. Wissenschaft sucht und findet Begriffe und Definitionen, schlägt Denkmodelle und Versuchsanordnungen vor, die immer auch von Teilaspekten der Wirklichkeit abstrahieren und andere zuspitzen. Vielleicht fällt es auch deshalb so schwer, kulturelle Komplexität in pluralistischen und globalisierten Gesellschaften zu denken und zu erklären. Insbesondere ethnische Repräsentationen stellen ein schwieriges Deutungsund Erfahrungsmuster dar, weil sie einerseits Wahrnehmung – da diese immer selektiv und vergleichend ist – überhaupt ermöglichen, andererseits sich aber in begrifflicher und ideologischer Reichweite zu dem der Rasse befinden. Fast alle Musikformen haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts losgesagt von nationalen Konzepten und im Rahmen von Globalisierungsprozessen ebenso von ethnischen Zuweisungen. Denkt man aber an New Orleans oder Chicago Jazz, Salsa, Raї, Balkan Beat oder Klezmer, so spielen ethnische Repräsentationen und lokale oder auch religiöse Bezüge eben immer wieder sehr wohl eine Rolle. Bei aller Durchlässigkeit von Stilen, musikkulturellen Praktiken und Geschmacksvorstellungen dienen sie der Orientierung, Identifikation, der Faszination und – nicht zu vergessen – als Verkaufsanreiz. Bis hinein in Klangvorstellungen sind wir in der Lage, bestimmten Bezeichnungen von »fremder« Musik einen Repräsentanten zuzuordnen. Meist sind es Klänge, die von bestimmten, typischen reellen oder heute auch synthetischen Instrumenten erzeugt sind und eine reizvolle Anmutungsqualität besitzen – vergleiche Darstellungen zum Didgeridoo. Landkarten von Bedeutungen gleich haben wir Bilder und Klänge von Musikern, Stilistiken, Accessoires und Regionen im Kopf. Musik wird zugeschrieben, dass sie anders als Sprache keine eindeutigen Bedeutungszuordnungen kenne bzw. zulasse. Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, dass Klänge nicht einem Abdruck oder Wörterbuch vergleichbar bestimmte Bedeutungen beinhalten, sondern dass die Aneignenden, diejenigen, die sie in bestimmten praktischen Zusammenhängen gebrauchen, die ihr zum Beispiel unter Kopfhörern oder vor dem Radio, Internet zuhören, die zu ihr tanzen oder Tanzenden bzw. Musizierenden zuschauen etc., dem Klanggeschehen vor dem Hintergrund der schon gemachten Erfahrungen – Landkarten von Bedeutung – eine bestimmte Bedeutung beimessen. Lokale bzw. ethnische Bezüge spielen hierbei immer wieder eine bemerkenswerte Rolle.
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Die Praxis der Bedeutungszuordnung ergibt sich aus der jeweiligen sozialen und kulturellen Praxis, in denen die Betreffenden konkret agieren, in denen sie ihre Erfahrungen gesammelt und Deutungsmuster ausgeprägt haben. Insbesondere in den diversen Formen der Populärkultur nimmt das »Fremde« dabei eine dominante Position ein, denn sie sind um Aufmerksamkeit bemüht und nicht um Transzendenz und Kontemplation. In populären Musikformen geht es in erster Linie um körperliche Aneignung, kulturelle Identifikation, Sehnsüchte und Sinnlichkeit auf Seiten des Publikums, um Selbstverwirklichung seitens der Musiker und Musikerinnen, und es geht um möglichst profitable Verwertung seitens ökonomischer Strukturen, zum Beispiel der Musikwirtschaft. Das so genannte »Ethnomarketing« – ob in der Mode, Innenarchitektur, im Tourismus oder in der Musik – hat sich bei der Ansprache und dem Aufbau bestimmter Publikumsgruppen seit den ausgehenden 1980er Jahren als eine erfolgreiche Verkaufsstrategie erwiesen. Auch in diesem Kontext muss man das Phänomen, die Kategorie bzw. das Repertoire-Segment Word Music betrachten. Wahrscheinlich ist dieses Phänomen – Anziehungskraft des »Fremden« – durchaus mit den europäischen Orientsehnsüchten vorangegangener Jahrhunderte zu vergleichen, wobei die Exklusivität in der Aneignung (Chinesisches Porzellan in Fürstenhäusern, Kaffee im bürgerlichen Salon, Opernhaus) tendenziell verschwindet. Heute kann (fast) jeder zum »Inder« Essen gehen, eine japanische Glückskatze kaufen oder einen Urlaub nach Tunesien buchen. Der Charakter von Fremdheit und Innovation wertet kulturelle Phänomene immer auch auf. Unzählige Werbetexte von Musik- und/oder Kulturveranstaltungen beziehen sich verbal auf Motive des Geheimnisvollen, Neuartigen, Fremden, des noch nie Dagewesenen, und versuchen, damit anzulocken. Kultur lebt vom Unterschied und kultiviert Gegensätze! Ethnische Klischees und Stereotype können diese kulturellen Differenzen augen- und ohrenscheinlich hervorragend repräsentieren.
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3 M EDIALE V ERFÜGBARKEIT 3.1 » »When When a white anthropologist first recorded it …« zur medialen Integration lokaler Musikformen in den globalen Musikprozess »Discourses about Australian Aboriginal music are often generated through ideas about authenticity, and they display all the paradoxes associated with the term. Proponents and promoters of Aboriginal music claim an original identity for it, but this original identity only emerges in relations with the outside. Aboriginal tribal groups have played music for many thousands of years, but ›it‹ wasn’t ›Aboriginal music‹ then. ›Aboriginal music‹ began in 1899, when a white anthropologist first recorded it.« (Castles 1998: 11 – Hervorhebung S. B.-P.)
3.1.1 ALLGEMEINE HISTORISCHE VORAUSSETZUNGEN UND KONSEQUENZEN MEDIALER V ERFÜGBARKEIT Mit der Möglichkeit, Klang technisch zu speichern und damit in seiner Einmaligkeit zu fixieren, wurde Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Kapitel der Musikgeschichte aufgeschlagen. Die Technik konvertierender Übertragungsmedien hatte dies ermöglicht. Sie kann eine akustische Schwingung in eine mechanische und in eine elektrische Schwingung konvertieren, das heißt umwandeln. Dabei hält sie die individuelle Spezifik des komplexen Frequenzverlaufs eines Klangs fest, indem sie dessen Merkmale wie Ein- und Ausschwingvorgänge in der Lage ist aufzunehmen und wiederzugeben. Bei Stimmen etwa oder akustischen Instrumenten gibt es immer einen Resonanzkörper, der bestimmte Frequenzen verstärkt und andere dämpft. Diese charakteristischen Anhebungen und Einbrüche im Frequenzbereich, die so genannten Formanten, sind unabhängig von der gespielten Tonhöhe und ermöglichen die Identifizierung von Klangfarben. Je nach Art der Klangerzeugung und Bauweise eines Instrumentes oder den charakteristischen Aspekten der indivi-
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duellen Stimmbildung werden Grundschwingungen und harmonische Obertonschwingungen in einem für das Instrument bzw. die Stimme typischen – und damit wiedererkennbaren – Verhältnis angeregt. Hinzu kommt, dass ein Klang kein stationäres, sondern ein vom Verlauf in der Zeit abhängiges Ereignis ist. Die Zeitabhängigkeit wird in spezifischen Einschwing-, quasi stationären und in Ausschwingvorgängen dargestellt. Anderenfalls könnte man beispielsweise die von Gitarren-, Klavier- und gezupften Cello-Saiten erzeugten Klänge nicht voneinander unterscheiden und als spezifische, von der Gitarre, dem Klavier oder dem Cello erzeugte Klänge erkennen. Es war Thomas Alva Edison, der 1877 die erste funktionierende Apparatur zur Speicherung und Reproduktion von Musik und Sprache konstruierte und schließlich als Sprechmaschine zum Patent anmeldete. Erst mit der Erfindung dieses so genannten Phonographen konnte auch eine menschliche Stimme gespeichert und wiedergegeben werden. Der erste Phonograph war ein auf einer Schraubspindel montierter Zylinder mit Handkurbel, der mit einer Zinnfolie als Aufnahmemedium bespannt war. Über eine Schallmembran und einen Aufnahmestichel konnte man die Schallschwingungen in Form einer Art Tiefenschrift festhalten, die sich dann beim Abspielen mittels Wiedergabenadel und Trichter wieder hörbar machen ließen. Nicht konvertierende Übertragungsmedien sind als akustische Kommunikationsmittel hingegen schon sehr lange bekannt; etwa die Trommeltelegraphie in tropischen Urwaldregionen, Signalhörner, Sprechrohrsysteme oder Francois Sudres Telefonium von 1828. Die Geschichte akustischer Medien reicht auch in der westlichen Welt bis weit ins 19. Jahrhundert zurück (Hiebler u. a. 1998). Vergleichsweise alt sind auch die Versuche, mechanische Musikinstrumente als Toninformationsträger zu nutzen, zum Beispiel die frühen Stiftwalzen am Hofe des Kalifen in Bagdad um 820, mechanische Glockenspiele seit dem 14. Jahrhundert, Musikschränke oder die Lochkarten in den imposanten Orchestrien der Jahrmärkte. Was alle diese Instrumente nicht konnten, war die Aufzeichnung und Wiedergabe der menschlichen Stimme und komplexer individueller Frequenzverläufe, das heißt die Reproduktion spezifischer Klangfarben. Die menschliche Stimme aufzunehmen und wiederzugeben – von der Lösung dieses Problems war Edisons Erfindung geleitet. Zumindest dürfte so eine der plausibelsten Deutungen von Edison Erfindungsdrang lauten. Am 18. Juli 1877 notierte er in sein Tagebuch: »Habe soeben mit einer Membran experimentiert, an der eine Nadel befestigt ist. Die Nadelspitze ließ ich gegen sich schnell fortbewegendes Paraffinpapier drücken. Die Schwingungen der Sprache wurden deutlich eingegraben, und ich habe keinen Zweifel, dass ich in der Lage sein werde, die menschliche Stimme aufzuzeichnen und im gewünschten Augenblick automatisch und perfekt wiederzugeben.« (Großmann-Vendrey 1985: X)
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Edison ging es also in erster Linie um die Aufzeichnung der menschlichen Stimme und Sprache, denn mit mechanischen, nichtkonvertierbaren Übertragungsmedien war das bis dahin nicht möglich gewesen. In Edisons Aufzeichnungen fand man Angaben zu Verwendungsmöglichkeiten, die neben der Wiedergabe von Musik – zum Beispiel in Form von Spieldosen und Archiven für Aussprüche und Lernhilfen zum Auffrischen von Gedichten – vor allem die eher ökonomisch interessanten Neuerungen hervorhoben: das Schreiben von Briefen und Diktaten ohne Zuhilfenahme eines Stenographen (de Vries 1977: 43). Die Diktiermaschine sollte in erster Linie eine spürbare Erleichterung und Rationalisierung der Arbeit im Kontor bringen, die Einsparung menschlicher Arbeitskraft mit den ihnen eigenen Unzulänglichkeiten. »In Verbindung mit dem Telefon könnte der Apparat dazu dienen, Mitteilungen zu überbringen, die von bleibendem oder unschätzbarem Wert sind und die sonst unmittelbar sich verflüchtigen.« (Vries 1977: 43). Edisons Phonograph gehörte in eine ganze Reihe vergleichbarer Erfindungen. 1876 meldeten »der schottische Gehörlosenlehrer Alexander Graham Bell (1847–1922) und der amerikanische Telegrafist Elisha Gray (1835–1901) […] unabhängig voneinander Fernsprechapparate zum Patent an. Obwohl die Entwicklung Grays technisch gleichwertig ist, erhält am 7. März nur Bell das Patent und geht damit als Erfinder des ersten praktisch brauchbaren Telefons in die Geschichte ein. Damit erschließt er die bedeutendste Technik zur (akustischen) Kommunikation auf Distanz.« (Geiss 1993: 636 – Hervorhebung S. B.-P.)
Diese Erfindungen sollten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts helfen, die zunehmend sich komplexer gestaltenden Steuerungs- und Kommunikationsanforderungen und sich daraus ergebenden Probleme der sich rasant industrialisierenden westlichen Welt zu lösen. In den USA zum Beispiel landeten damals, so berichteten Zeitzeugen, Eisenbahnwaggons voller Ladung auf Abstellgleisen und gelangten niemals an ihren eigentlichen Bestimmungsort. Denn »die ersten transnationalen Eisenbahngesellschaften der USA waren völlig unfähig, den Fluss der Waggons so zu organisieren, dass nicht dauernd die größte Verwirrung entstand und Waggons manchmal monatelang unauffindbar waren.« (Benninger 1986, so zitiert bei Schulte-Sasse 1988) Mit der Entwicklung solcher Technologien wurde auch den modernen Massenkommunikationsmitteln des 20. Jahrhunderts, und damit der Moderne und deren impliziten Globalisierungsprozessen, der Weg bereitet. Das Erschließen weiträumiger Absatzmärkte für die nunmehr massenhaft hergestellten Güter verlangte vor allem nach Methoden, ihre Verteilung sinnvoll zu organisieren und zu koordinieren. Eine reibungslose Steuerung des erhöhten Warenflusses wurde notwendig: »Die von der industriellen Revolution ausgelöste Steuerungskrise hat zu einer phasenverschobenen Steuerungsrevolution geführt, die im Laufe eines knappen Jahrhunderts die Geschwindigkeit der Material- und Informationsverarbeitung radikal erhöht hat. Diese Revolution bestand zu keiner Zeit aus einer bloß organisatorischen Leistung. Sie leitete eine ganze
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit Reihe von Erfindungen ein, die im Endeffekt zur massenhaften Einführung neuer Medien und zur gesellschaftlichen Umstrukturierung menschlicher Kommunikation geführt hat. Am Anfang dieser Entwicklung standen Verbesserungen und Erfindungen in der Drucktechnologie.« (Schulte-Sasse 1988: 431)
Dies traf auch auf die Geschichte der Verbreitung von Musik zu. Dem für die vor allem europäische Musikgeschichte so wichtigen Notendruck ermöglichte das »Lithographie« genannte Steindruckverfahren – erfunden 1797 von Alois Senefelder – billige Massenauflagen, die »erstmals in nennenswerter Größenordnung die raumzeitlichen Grenzen des Musizierens« (Wicke 1998: 17) überwinden konnten. »Das als ›chemische Druckerei‹ in die Geschichte eingegangene Verfahren war die erste Reproduktionstechnologie, die eine massenhafte Vervielfältigung von Musik erlaubte, selbst wenn das noch auf ein graphisches Substitut, die Noten, beschränkt blieb.« (Ebd.) Erste kommerzielle Erfolge als Wiedergabegerät für Klang erlebte der Phonograph Ende der 1890er Jahre, als eingebaute Elektromotoren mit Zentrifugalregulatoren eine kontinuierliche Walzendrehung ermöglichten. Inzwischen hatten Graham Bell und Charles Tainter die Zinnfolie durch einen mit Wachs beschichteten Pappzylinder ersetzt, in den mithilfe eines Grabstichels die Schallrillen nicht mehr gedrückt, sondern »geschnitten« werden konnten. Dies ermöglichte nicht nur eine verfeinerte und differenziertere Aufzeichnung, sondern vor allem auch eine quasi massenhafte Reproduktion der Aufnahmen, weil der Wachszylinder viele Male für Aufnahmen abgedreht werden konnte. Im Jahr der Pariser Weltausstellung 1889 stellte der Direktor der Pacific Phonograph Company in San Francisco einen als Musikbox umgebauten Edison-Phonographen auf. Diese so genannten »Coin-inthe-Slot-Phonographen«, versehen mit mehreren Abhörschläuchen, wurden in öffentlichen Lokalen und auf Jahrmärkten schon bald zur Attraktion. Sie verdrängten die dort einst so beliebten Spielwerke und Orchestrien und förderten die Nachfrage nach Wachswalzen mit Musikaufnahmen. Bis zu zehn Stunden seien die Geräte täglich im Gebrauch, berichtete Louise Glass aus San Francisco, »each bringing up to $ 1000 per annum« (Laing 1991: 2). Die »Nickel-in-the-Slot«-Maschinen bewirkten schon bald erhebliche Umsatzsteigerungen bei den Gastwirten (Garofalo 2001: 117). Um die Herstellung und den Vertrieb für den öffentlichen und privaten Gebrauch entsprechender Geräte und der entsprechenden Tonträger kümmerte sich zum Beispiel die Edison National Phonograph Company mit ihren 33 Tochtergesellschaften. »Jede der Tochtergesellschaften der National Phonograph Company hatte ihre eigenen Aufnahmestudios, in denen gleichzeitig z. B. von lauten Blasinstrumenten zehn Originale, von Sängern mit Klavierbegleitung drei bis fünf Masteraufnahmen gemacht werden konnten.« (Großmann-Vendrey 1985: XIV) Im Laufe der Geschichte waren es allerdings nicht Edisons Walzen, sondern die Erfindung Emil Berliners, der statt einer Zink- bzw. Wachswalze eine mit einer dünnen Wachsschicht überzogene rotierende Zinkscheibe als Aufzeichnungs- und
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Wiedergabemedium verwendete. Auf dieser Zinkscheibe wurde nach dem Prinzip der Seitenschrift eine von außen nach innen spiralförmig verlaufende Tonrille eingeritzt und abgetastet. Diese Technologie beeinflusste Gestalt und Prinzip der Aufzeichnung nachfolgender Tonträgerformate wie das der Schellack- und Langspielplatten sowie der Singles aus Vinyl und schließlich auch der CD mehr, als Edisons Technik es tat. Der Deutsch-Amerikaner Emil Berliner (1851–1929) hatte sein Patent für das Grammophon 1887 in Washington angemeldet. Während einer Vorführung seiner Erfindung im Jahr 1888 soll er prophezeit haben, dass mit dieser Technologie ein riesiger Unterhaltungsmarkt entstehen könnte und dass die Produktion von Tonträgern dann den Kern der Musikproduktion ausmachen und den Künstlern ein verkaufsabhängiges Tantiemen-System bringen werde (Garofalo 2001: 118). 1894 konnte man in den USA die erste Seven-Inch-Platte mit einer Aufnahme des Humoristen Russell Hunting kaufen. Das Geschäft mit den Phonographenwalzen und den Schellackplatten begann, allerdings noch als eine Randerscheinung des Musikgeschäftes. Noch standen die Notendrucke im Zentrum des kaufmännischen Interesses an Musik, und die Verleger gehörten zu den wichtigsten bzw. maßgeblichen Akteuren des Musikgeschäftes. Die Plattenfirmen übernahmen erst ab dem Zeitpunkt die Macht unter den Akteuren der Musikwirtschaft, als die Tonträger die Vorherrschaft erlangten, weil sie technisch so weit entwickelt worden waren, dass man sie massenhaft produzieren und reproduzieren konnte (Wicke 1993: Garofalo 2001). Erst als im Laufe der 1910er Jahre das Interesse an Notendrucken und Klavieren zurückging, drängten die Musikverleger auf tief greifende Veränderungen der bis dato gültigen Urheberrechtsregelungen, um ihre Stellung in der Musikwirtschaft zurückzugewinnen. Bereits um die Jahrhundertwende hatte sich der Verband der deutschen Sprechmaschinen gegründet und begonnen, die klassischen Aufgaben eines Branchenverbandes wahrzunehmen, etwa die Koordinierung gemeinsamer Branchenbelange nach innen und außen, die Lobby-Arbeit bei Regierungen, Parlamenten und Behörden und die Veröffentlichung von Umsatzstatistiken und Brancheninformationen. In der entsprechenden Verbandszeitschrift, der Phonographischen Zeitschrift zum Beispiel, wurden damals schon nicht nur die Verkaufszahlen von Sprechmaschinen in Persien oder dem fernen Osten veröffentlicht, sondern immer wieder auch Inserate, die auf das »unbefugte Duplizieren« von Walzen aufmerksam machten. Denn ohne den Einsatz technologischer Verfahren der Klangspeicherung, -bearbeitung und -wiedergabe, betont der amerikanische Popmusikforscher Steve Jones, »without electronics, and without accompanying technical supports and technical experimentations, there could not be the mass production of music, and therefore there would not be the mass-mediated popular music.« (Jones 1990: 1) Die Möglichkeiten der technischen Aufzeichnung und Vermittlung wirkten sich vor allem auf das Gefüge musikalischer Strukturen, Funktionen und auf die Institutionen, das heißt die verschiedenen Organisationsformen des gesamten Mu-
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siklebens der damaligen Zeit aus. Denn erstmals in der Geschichte der Musik konnten potenziell musikalische Formen in ihrem konkreten Klanggeschehen (Elste 1992) massenhaft reproduziert werden. Umgekehrt flossen erhebliche Investitionen der Musikindustrie immer wieder in die Verbesserung entsprechender Technologien. Daraus ergab sich insgesamt ein kompliziertes Geflecht der Beziehungen aus technischen Innovationen, den ökonomischen Interessen der musikindustriellen Branche und den kulturellen Rahmenbedingungen, in die diese Prozesse eingebettet waren und sind: »Music in the twentieth century is, to a large degree, a technologically dependent, leisure commodity whose existence is guaranteed by the organized activities of a number of large corporate enterprises and media outlets. As in other areas of commodity culture, rapid changes in musical style, fashion, and technology go hand in hand with contemporary modes of production and distribution.« (Théberge 1997: 20)
Die zeitgleich mit der Erfindung Phonographischer Apparaturen sich entwickelnde Phonographische Industrie wurde bis zur massenhaften Nutzung des Internets für den Tausch und Download von Musik (etwa seit 2003) zur entscheidenden Organisationsform der Musikwirtschaft. Ihr »Geschäftsmodell […] basiert auf dem Tonträger als Grundlage der Musikverwertung« (Wicke 2009: 437). In diesem Kontext erhielt die Entwicklung Phonographischer Technologien ihre gesellschaftliche Wirkung. Sie wurde selbst zum Agens gesellschaftlicher Interessen und einer Reproduktionslogik, die vor allem der Maximierung im Einsatz von knappen Ressourcen folgt und damit der Profitsteigerung bzw. der Abwendung ökonomisch unrentabler Prozesse gilt. Die rasanten Schübe bei der Entwicklung phonotechnischer Verfahren und die Ablösung alter durch immer wieder neue Verfahren, deren Geschwindigkeit im Laufe der Geschichte permanent an Dynamik gewann, ist kein der Technik immanenter Aspekt, sondern gründet in ihrer gesellschaftlichen Funktionsbestimmung als Agens wirtschaftlicher Profitabilitätserwartungen. Dass eine ebensolche technologische Entwicklung (Internet) zum potenziellen Totengräber ihres eigenen Geschäftsmodells wird, mag gewisse ironische Züge tragen, soll an dieser Stelle jedoch nicht diskutiert werden. Die umfassende Mediatisierung der Musikentwicklung sollte im 20. Jahrhundert keinen Bereich des Musikalischen unberührt lassen (Wicke 2001b: 22). Denn die technische Fixierbarkeit eröffnete vor allem die Möglichkeit, Klänge auch jenseits der Flüchtigkeit ihrer unmittelbaren Hervorbringung durch menschliche Körper und deren Bewegungs- und Stimmbildungsorgane herzustellen. »Technik triumphiert über Mnemotechnik« (Kittler 1986: 125) und entließ die Menschen, zumindest auf den ersten Blick, aus ihrer körperlichen Beziehung zur Musik. Jede Einführung einer neuen Technologie, vom Buchdruck an, war von utopischen Hoffnungen und von apokalyptischen Visionen zugleich begleitet. Den Menschen letztlich auch überflüssig zu machen – eine kulturphilosophische Metapher, deren immanente Logik Technik als ein Projekt der Überbietung des Men-
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schen deutet – diese Logik wohnt durchaus auch der Geschichte phonotechnischer Entwicklungen inne. »Ohne den Menschen« heißt hierbei aber niemals tatsächlich »ohne den Menschen«. Denn Klang kann als unumstößlich psycho-physisches und aisthetisches Phänomen trotz aller Vermitteltheit durch Peripheriegeräte immer nur mithilfe der an bestimmte körperliche Funktionen gebundenen Sinnesorgane hervorgebracht und wahrgenommen werden. Vor allem die vielen Genres, Stilistiken und Spielarten populärer Musik gründen auf dem Prinzip der Intensivierung des Körpergefühls. Die Geräte selbst wie etwa Verstärkersysteme auf den Bühnen und diejenigen für die individuelle »Abhörtechnik«, ob High Fidelity oder Lowtech, Effekte der Live- und Studiotechnik ermöglichen dabei eine »sehr direkt auf den Körper zielende Klangsinnlichkeit« (Wicke 2001b: 55). Die Geburtsstunde der audiovisuellen Massenmedien entkoppelte den Musikgebrauch technisch zwar von der unmittelbaren Physikalität seiner Hervorbringung, löste ihn aber keineswegs aus den Koordinaten der durch klangsinnliche Eigenschaften getragenen Besonderheiten akustischer Kommunikation. Ebenso weit reichend sollten die Auswirkungen dieser technologischen Möglichkeiten für das Musikleben als Ganzem sein, auf die sich zunehmend arbeitsteilig organisierenden Formen der Herstellung und Verbreitung von Musik, auf die Veränderung des Verhältnisses von Musikausübung und Musikhören, von Berufsprofilen, von Musikproduktion und Rezeption. All diese Begriffe wurden letztlich mit neuen Aspekten ihrer Funktionalität und Bedeutung gefüllt. Musikalität wurde in neuen gesellschaftlichen Zusammenhängen wirksam. Die Trennung vom Hier und Jetzt, von Körper, Bewegung und Klang bedeutete gewissermaßen auch das Ende der an entsprechende Kategorien gebundenen Exklusivität musikalischer Ereignisse. Denn was einmal gespeichert, kann beliebig reproduziert, verändert, montiert, über weite Strecken transportiert und weiter verarbeitet werden – ganz im Sinne Walter Benjamins, der die Auswirkungen der »Trennung vom Hier und Jetzt« an visuellen Medien (Photographie und Film) in seinem medienhistorisch berühmt gewordenen Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (Benjamin 1936) erörtert hatte. Technologische Entwicklungen und ihre gesellschaftliche Bestimmtheit trieben auch die in den Traditionen der artifiziellen europäischen Musik bereits angelegte Trennung der Produktion und Rezeption nun noch weiter auseinander und stellte neue Anforderungen an die Vermittlungsnotwendigkeiten der Institutionen dieser Musikpraxis, insbesondere den Konzertbetrieb. Auf völlig neue Art und Weise konnte Musik nun in das Leben von Menschen integriert werden. Nicht nur im Alltag von Musikliebhabern und Plattensammlern, Radiohörern und Konzertbesuchern, sondern vor allem auch integriert in die Produktionsbedingungen des klanglichen Materials selbst ermöglichen die technischen Verfahren der Speicherung, Übertragung, Wiedergabe und Erzeugung tendenziell das Auswählen, Sortieren, Umgruppieren, Auswerten und Verändern von akustischen Signalen. Waren es zunächst vor allem technische Unzulänglichkeiten, die eine Speicherung, Übertragung und wirklichkeitsnahe Wiedergabe einschränkten, wurde es im
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Laufe des 20. Jahrhunderts möglich, durch die Einführung und Verwendung elektrischer Verstärkersysteme, durch die Generierung synthetischer Klänge und schließlich den Einsatz digitaler Technologien jeden vorhandenen und denkbaren Klang der Welt bereitzuhalten und miteinander zu kombinieren. Dabei ist es nach reichlich einem Jahrhundert akkumulierter Erfahrungen im Umgang mit phonotechnischen Aufnahme-, Speicher- und Wiedergabesystemen nicht im Geringsten ein Problem, Klänge jenseits ihrer unmittelbaren Hervorbringung als Musik wahrzunehmen und zu akzeptieren. Heutzutage ist dies etwas völlig Normales. Die Wahrnehmungsweisen von Musik haben sich verändert. Niemand würde auf die Idee kommen, während des Hörens die Lautsprecher der Abspielgeräte mit den Augen zu fixieren – ein Bild, wie es Photographen aus der Zeit der beginnenden Phonographischen Entwicklung dokumentieren konnten. Für Kulturen jenseits der europäischen Kunstmusiktraditionen, deren Musik beispielsweise nicht in den Kategorien von Produktion, Aufführung, Darbietung oder Rezeption und Aneignung aufgehen – dies betrifft keineswegs alle Formen nichtwestlicher Musikkulturen –, stellt sich das Problem der Entkopplung von Musikausübung und Musikhören, von Produktion und Aneignung zumeist etwas komplizierter dar. Dort, wo es zum Beispiel keinen expliziten Ort und Anlass zur »Darbietung« gibt, sondern Musik vor allem in unmittelbaren sozialen Gebrauchszusammenhängen steht, dort führt die quasi doppelte Herauslösung aus den Zusammenhängen der unmittelbaren Hervorbringung, vor allem die an die »Körper in Bewegung« gebundenen Aktivitäten – Tanz und Musik bilden in diesen Kulturen zumeist eine untrennbare Einheit – zu erstaunlichen Situationen. So berichtete beispielsweise ein Ethnologe von einer Forschungsreise zu kanadischen Inuit, dass diese immer wieder versuchten, seinem Aufnahmegerät Essen anzubieten. Auch Dave Laing (Laing 1991) berichtet von einer Begebenheit, die sich laut Aussagen des Ethnomusikologen Christian Leden Ende des 19. Jahrhunderts abgespielt haben soll. Ebenfalls unterwegs auf Forschungsreise bei Inuit versagten ihm diese die Aufnahmen ihrer Lieder mittels Phonographen mit der Begründung: »if the demon in the white man’s box steals my soul, I must die« (Laing 1991: 4). Anderseits ist bekannt, dass zum Beispiel der Kassettenrekorder in traditionellen Lebensgemeinschaften oftmals weniger zögerlich in den Alltag integriert wurde, als dies beispielsweise in modernen vor allem europäisch-westlichen Zusammenhängen der Fall war, gleiches gilt für Radios oder die multifunktionalen Handys heute. Schließlich haben die technischen Möglichkeiten der Speicherung und Konservierung von Klang mittels konvertierender akustischer Übertragungsmedien dafür gesorgt, dass die bis dahin ausschließlich schriftlos tradierten Musikformen potenziell in Zusammenhänge jenseits ihrer durch Geographie, Traditionen und lang existierenden Gebrauch und durch Funktion bestimmten Kontexte und Verstehenssysteme auftauchten und in neue Kontexte integriert wurden. Entsprechende Beispiele gibt es schon aus der Zeit der Wachswalzen. Seit Mitte der 1980er Jahre »verschlang« der Sampler alle nur denkbaren Klänge, für deren Nutzer es zumeist von keinerlei Bedeutung war zu wissen, wo-
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her diese kamen und in welchen kulturellen Zusammenhängen sie standen oder stehen bzw. worauf sie verweisen. In Datenbanken stehen heute Sounds aus allen Regionen der Welt zur Verfügung. In digitalisierter Form als Soundfiles können sie potenziell jederzeit und von jedem Ort aus abgerufen werden. Auf Webseiten des südpazifischen Inselstaates Vanuatu (vgl. Kapitel 1.2.4) kann man Lieder der dort lebenden Musiker anklicken. Und es dauert nur zwei oder drei Tage, bis mittels eines internationalen Tonträgervertriebes eine online bestellte CD (!) von den Narasirato Pan Pipers (Solomon Islands) im eigenen Briefkasten in Berlin liegt. Medientechnische Entwicklungen – hier bezogen auf die Aufnahme, Bearbeitung und Wiedergabe von Klang – haben jedoch nicht nur die globale Verbreitung, Kenntnisnahme und »Integration« geographisch vormals entfernter Musikpraktiken ermöglicht, sondern führten zur Veränderungen dieser Musikpraktiken selbst. Krister Malm – ein schwedischer Musikethnologe – hatte sich Mitte der 1980er Jahre (u. a. zusammen mit Roger Wallis [Malm/Wallis 1984]) sehr intensiv mit diesen Veränderungsprozessen befasst. Zusammenfassend konstatierte Malm, dass technologische Entwicklungen theoretisch zur Verfügbarkeit jeglicher Klänge und damit – bezogen auf seinen Untersuchungsgegenstand – zur Ablösung von Musik aus ihren traditionellen Zusammenhängen führt. Für Malm markierten das weltweite Vorhandensein von Transistorradios und nachfolgend Kassettentechnik den Beginn der weltweiten, massenmedialen Verbreitung von Musik. Insbesondere diese Gerätetechniken übten unmittelbaren Einfluss auf die von Ethnologen untersuchten Musikpraktiken aus. Nicht selten trafen sie in »entlegenen« Dörfern auf Radio- und Kassettengeräte, noch bevor Straßen, Wasserleitungen und Elektrizität dorthin führten. Erstmals – so Malm – wuchs vor diesem Hintergrund in der Geschichte eine Generation heran, die gewissermaßen gemeinsame musikalische Erfahrungen machte, die neben deren jeweils lokal spezifischen Erfahrungen im Umgang mit Musik existierten (ebd.: 339f.). Verantwortlich seien dafür sehr konkrete – von ihm und Wallis zusammenfassend als – »Mediation« bezeichnete Prozesse. Folgende Aspekte untersuchte Malm und hob sie in ihrer Bedeutung für die Prozesse der »Mediation« hervor:
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die Möglichkeiten im Tonstudio:
»In the studio environment feedback from the media system and market hits the performers directly. Here they are confronted with record producers, microphones, multitrack and digital technology, new kinds of instruments, sampling, and so on. Interestingly, performers of traditional musics quite quickly learn how to handle the machines they happen to stumble on in the studio.« (Malm 1993: 344f.)
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der Umgang mit elektronischem Instrumentarium:
»Soon of course the new keyboard musicians went on from merely imitating the mezued sound to experiments with new sounds, thus gradually changing the traditions). […] [Ein Musiker aus Tansania – S. B.-P.] »was quite happy to be able to put together music that in a traditional context would have required quite a big group of performers. The result was a
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit music that basically is structured like traditional […] music, but with new sounds such as sampled and electronic drums, synthesized bass and computer-generated glissandi. […] They don’t play [traditionelle Instrumente – S. B.-P.] in the traditional way any more. They just use them to feed the computer with information on how to execute the computer sound files.« (Ebd.: 345f.)
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das Vermeiden direkter lokaler Bezüge und Eigenheiten:
»If the performers of a traditional music want access to the broadcasting media, the gatekeepers want the lyrics to comply with generally accepted public speech behaviour. This means no offensive language, nothing obscene, and no odd political statements. The other component is the record producers’ ambition to reach an international audience. Thus all allusions to local incidents and conditions in the lyrics must be eliminated. […] The tempo increased, and the local content of the lyrics was changed to simple exclamations about the happiness of being at a party.« (Ebd.: 346f.)
Hauptsächlich durch diese drei Aspekte haben sich – so Krister Malm – traditionelle Musikformen angesichts der fortschreitenden technologischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse verändert und sind aus ihren traditionellen Zusammenhängen getreten. Neben den Wirkungen der technischen Apparaturen maß Malm aber auch den Institutionen und Akteuren der lokal und global agierenden Musikwirtschaft große Bedeutung im Rahmen der Mediationsprozesse bei. Beides, technologische Entwicklungen und deren gesellschaftliches Wirksamwerden in den Institutionen des nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten organisierten Musikbetriebes, sorgten für bemerkenswerte Veränderungs- und Ablösungsprozesse. Malm ging in seiner Argumentation bzw. Bewertung dieser Prozesse sogar soweit zu sagen, dass die betreffenden musikalischen Traditionen ohne diese technischen und ökonomischen Modernisierungsprozesse keine Chance des Überlebens hätten. Auf der einen Seite wurden internationale Stilistiken den lokalen einverleibt, was immer auch bedeuten kann, dass sie lokal interpretiert bzw. gedeutet werden. Vor Ort entstand eine wachsende Menge von Musikformen mit nur sehr vagen Reminiszenzen an lokale Zusammenhänge. Malm nannte sie »media music hybrid styles« (Malm 1993: 349). Auf der anderen Seite beobachtete er fundamentalistisch orientierte Musikpraktiken, die bis ins kleinste Detail auf den eigenen lokalen Traditionen beharr(t)en: »Sometimes unique stylistic traits are exaggerated in a way that has been termed ›Mannerism‹. In the folk fiddling revival of the 1970s in Sweden, recordings of certain local fiddlers became the norm for a lot of young fiddlers, who in many cases adopted a purist attitude.« (Ebd.: 349f.) Malm verwies hier darauf, dass das Beharren auf der Erhaltung regionaler Besonderheiten und kultureller Spezifika in seiner fundamentalistischen Zuspitzung reaktionäre Züge aufweisen kann. Auch der amerikanische Musikethnologe Peter Manual merkte in seinen Untersuchungen zur Kassettenindustrie und zur populären Musik Nordindiens an (Manuel 1991, 1993), dass die Dezentralisierung der Mu-
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sikproduktion und das Beharren auf dem unbedingten Erhalt regionaler Sprachen und Musikformen deren eigenwillige Konservierung zur Folge haben kann. Die Entwicklungen Phonographischer Verfahren haben in den vergangenen einhundert Jahren metaphorisch gesprochen die Verdichtung von Raum und Zeit in immensem Maße forciert, das heißt, sie haben Musikformen geographisch entfernter Regionen und Traditionen historisch sehr unterschiedlicher »Epochen« einander nähergebracht, nebeneinandergestellt und/oder transformiert. Nicht zuletzt infolge der Entwicklung Phonographischer Verfahren sind so etwas wie globalisierte Existenzformen von Musik entstanden. Technologisch, weil die »Übertragungswege« immer kürzer geworden sind, ästhetisch, weil in ihnen musikalische Stilistiken, Formen und Gattungen, Klänge und/oder metrische Muster aus unterschiedlichen Regionen technisch vermittelt werden können und ökonomisch, weil die »großen« (Oligopole – Majors) und heutzutage zunehmend auch die »kleinen« (Kleinstunternehmen und Einmannunternehmen – Indies) Akteure der Musikwirtschaft weltweit agieren und aus kommerziellen Gründen darauf bedacht sind, möglichst große oder viele Märkte zu erschließen. Nachweislich spielten insbesondere ökonomische Interessen und Strategien schon seit den frühen Tagen der phonotechnischen Aufnahme- und Wiedergabemöglichkeiten eine maßgebliche Rolle im Globalisierungsprozess von Musik. Abhängig vom Tonträgerformat variieren die Distributionsmöglichkeiten ganz erheblich. Nicht zuletzt die Tonträgerformate – ob Phonograph, Tonband, Schallplatte, Musikkassette, CD, MP3 – prägen das Verhältnis von »Sender« und »Empfänger«, Produzent und Konsument, zwischen Klangquelle, Tonträger, Autor und Rezipient. Die letztgenannten Kategorien werden im Laufe der Geschichte phonotechnischer Verfahren und ihrer gesellschaftlichen Wirkung technisch und kulturell immer wieder auch außer Kraft gesetzt bzw. in Frage gestellt. Insgesamt bedeutet mediale Verfügbarkeit im hier angesprochenen technisch bestimmten Sinne jedoch nicht, dass die damit angesprochenen globalisierten Formen von Musik ein kulturell ortloses, jenseits bestimmter Verstehenssysteme existierendes oder virtuelles Dasein führen. Selbst die jüngsten Formate der Datenklangspeicherung und -übertragung, derer man nicht mehr haptisch habhaft werden kann oder muss, konstituieren kulturelle und soziale Interaktionsräume, die zwar nicht mehr in erster Linie an bestimmte geographische Orte gebunden sind, dennoch nicht als total entgrenzte, das heißt im strukturellen Sinne globale, Räume »begehbar« wären. Auch das Internet ist zu einem Medium stark fragmentarisierten Kommunikationsverhaltens geworden, soziale Netzwerke setzten auf Identifikation, Integration und auf Selektion. Bleibt hinzuzufügen, dass die technisch mögliche Hinwendung zu geographisch entfernten musikalischen Phänomenen keineswegs egalitär oder immer am unmittelbaren Interesse an den betreffenden Musikformen orientiert war oder ist. So wie die Kategorie World Music (vgl. Kap. 2.3.1) den Bedingungen des vorzugsweise europäischen Musikmarktes folgte, entsandt man Anfang des 20. Jahrhunderts so genannte Recordingteams nach Singapur, nicht, weil man die Musik
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Singapurs anderswo auf der Welt anbieten wollte, sondern um letztendlich dort – in Singapur – Grammophone zu verkaufen. Ohne die lokal vertraute Musik wäre dies kaum möglich gewesen. Und auch die Ethnologen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Afrika, Asien oder Südamerika Tonaufnahmen machten, trugen diese Dokumente wohl keinesfalls mit einem antikolonialen Gestus zusammen. Ihre Aufnahmen, Transkriptionen und Analysen waren eher Ausdruck der interpretierenden Perspektive europäischer Sammler und Wissenschaftler. Aus einer damals in Europa vorherrschenden evolutionären Kulturauffassung war ihre Perspektive gegenüber den »anderen« Musikkulturen vor allem die einer sich über diese erhebende. (vgl. Kap. 2.3.2). Globalisierung bleibt tendenziell exklusiv für diejenigen, denen die technischen Ressourcen zur Erschließung von Welt (Musiken der Welt) zur Verfügung stehen. 3.1.2 METHODIK UND INHALTLICHE PRÄMISSEN BEI DER ANALYSE TECHNOLOGISCHER UND ÖKONOMISCHER D IMENSIONEN DES M USIKPROZESSES Die hier zur Debatte stehenden globalisierten Musikformen sind – wie im vorangegangenen Kapitel angedeutet wurde – weder allein aus den technisch apparativen Konsequenzen der Entwicklung Phonographischer Technologien heraus zu erklären, noch allein durch ihre Bewegung auf verschiedenen Märkten der Musikindustrie, die ihre gesellschaftliche Formierung und Funktionsbestimmung ausmachen. Dennoch wird der Verständlichkeit halber jeweils einer der genannten Aspekte im Zentrum der folgenden Unterkapitel stehen (Kapitel 3.2 und 3.3). Folgende Fragen sollen dabei wieder aufgegriffen werden: • Wie werden »lokale« Musikpraktiken Teil »globalisierter« Kulturprozesse? • In welchem Verhältnis stehen beide zueinander? • Wie werden global produzierte Musikformen lokal angeeignet? Die Entwicklung von Medientechnologien und die Institutionen des Medienbetriebes stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Technologieentwicklung ist immer auch eine Funktion gesellschaftlicher Entwicklung. Für den Kultur- und insbesondere auch den Musikprozess hat vor allem Alfred Smudits in der Tradition des Wiener Musiksoziologen Kurt Blaukopf diesen Zusammenhang entlang der »Mediamorphosen des Kulturschaffens. Kunst und Kommunikationstechnologien im Wandel« (Smudits 2002) herausgearbeitet. Nichtsdestotrotz scheint es gerade angesichts der Fülle von Darstellungen, die Mediengeschichte vor allem als Technikgeschichte begreifen, unumgänglich, das Erkenntnisinteresse auch auf deren gesellschaftliches Wirksamwerden in entsprechenden Organisationsformen – so wie Smudits oder auch Tschmuck (Tschmuck 2003) es ausgeführt haben – zu lenken, hinzuweisen auf die immense Bedeutung von Musikindustrie, Tonträgerunternehmen und Medienanstalten in diesem Prozess.
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Die Autoren der Publikation »Die Medien: Logik – Leistung – Geschichte« (Hiebler u. a. 1998) begründen ihren technikgeschichtlichen Ansatz folgendermaßen: »Die Wahl eines einheitlichen Leitkriteriums, die Konzentration auf die technische Entwicklung der Medien mit dem Schwerpunkt auf verwerteten Erfindungen, bestimmte sowohl die Erstellung der zitierten Medienchronik wie die Abfassung des Medien-Kommentars. Aspekte der gesellschaftlichen Verbreitung fanden Eingang in unsere Überlegungen, waren aber nicht primäres Erkenntnisziel; ebenso zählen die Aspekte der ökonomischen, sozialgeschichtlichen und programmgeschichtlichen Konsequenzen medialer Umbrüche nicht zum eigentlichen Gebiet der Untersuchung, da uns die technikgeschichtliche Perspektive die unabdingbare Basis für eine elementare, ›logische‹ Analyse von Funktionsweise und Leistung der jeweiligen Medien sowie der Techniken der Speicherung, Übertragung, Aufnahme, Vervielfachung und Reproduktion, Wiedergabe und Be- bzw. Verarbeitung zu sein schien.« (Ebd.: 10f.)
Die Annahme, jegliche mediale Entwicklungen seien in erster Linie technologisch determiniert, bestimmt – so meine Beobachtung – den Großteil medienhistorischer Darstellungen. Walter Benjamin hatte in seinem berühmt gewordenen Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (Benjamin 1984/1936) anhand der Analyse des frühen Films darauf hingewiesen, dass der Film auf industrietechnische Reproduzierbarkeit hin in einer historisch neuen Art und Weise, vor allem aber aus ökonomischem Kalkül industrietechnisch produziert wurde. Ein einseitig technisch definierter Medienbegriff ist aus meiner Sicht verführerisch, vor allem aber fragwürdig, wenn angesichts der so genannten dritten technischen Revolution, der Digitalisierung, nahezu ausschließlich die technisch apparative Ebene und deren Auswirkungen auf ästhetisches Verhalten thematisiert wird. Eine solche, einseitige, Definition des Medienbegriffs verwischt den spannungsreichen Zusammenhang zwischen der technisch apparativen Ebene von Medien und ihrer institutionellen Formierung und Funktionsbestimmung – die Tatsache also, dass technische Apparaturen erst durch bestimmte Institutionen und Organisationsformen gesellschaftlich wirksam werden (vgl. Mayer 1997: 5f.) und gegebenenfalls in Konflikt geraten. Das Insistieren auf einer dialektischen Herangehensweise soll keinesfalls bestimmte kultur- und technikkritische Aspekte aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts nun zum Ausgangspunkt der Methodik dieser Untersuchung machen. Was sie aber zu verhindern sucht, ist eine fraglose Euphorie angesichts »der schönen neuen Medienwelt«, eine Euphorie, die vor allem zu Beginn der Digitalisierung (Mitte der 1990er Jahre) in den fast unkommentierten Darstellungen technikgeschichtlicher Entwicklungen resonierte. Wenn beispielsweise die medientheoretischen Auseinandersetzungen von Norbert Bolz in der Aussage kulminierten, dass sich unsere Gesellschaft heutzutage erstmals als das beschreibt, was sie schon immer
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war, nämlich radikal abhängig von technischen Medien und deren Algorithmen (Bolz 1997), dann unterschlägt der Autor schlichtweg die Motoren und Motive dieser Einschätzung. Gutenbergs bewegliche Lettern waren technische Entwicklungen einer Zeit, die mit Ablassbriefen der katholischen Kirche zu handeln suchte, und Edisons Phonograph letztlich das Resultat einer gewaltigen ökonomischen und gesellschaftlichen Steuerungskrise. Vielleicht war es zur Jahrtausendwende die Faszination der kleinen, geradezu winzigen, handlichen, digitalen, zunehmend polyfunktionalen Geräte, die kaum jemandem mehr wegen der physischen Dimensionen ihrer technischen Apparaturen Skepsis einflößten. Längst hat jedoch auch diese Technologie auf vielerlei Ebenen zu Irritationen geführt (totale Erreichbarkeit, Überwachung, Datenschutz etc.) und verdeutlicht, wie hochgradig verflochten technologische Entwicklungen mit Prozessen des sozialen und ökonomischen Wandels sind. Die Existenz von globalisierten Musikformen ist meines Erachtens nur dann hinlänglich zu erklären, wenn man sich sowohl dem einen wie dem anderen Aspekt und ihren Interdependenzen zuwendet. Es sind die genannten Abhängigkeiten und Einflüsse, die in ihren Auswirkungen auf entsprechende Klanggestalten und Gebrauchszusammenhänge bzw. die Auseinandersetzungsprozesse um die kulturelle Bedeutung solcher Klänge, die Signaturen jeweils aktueller Popmusik und ihrer Geschichte beschreibbar machen. Im Anschluss an diese theoretisch und methodisch orientierte Einführung in den Zusammenhang von phonotechnischen Entwicklungen und Musikprozess soll zunächst die Bedeutung Phonographischer Technologien für den Verlauf der Modernisierung und Globalisierung beispielhaft vertieft werden (siehe Kapitel 3.2). Folgende Fragen gilt es dabei zu klären: • Welchen Einfluss hatten bestimmte Entwicklungen der technisch apparativen Ebene – zum Beispiel Aufnahme-, Bearbeitungs- und Wiedergabeverfahren und die entsprechenden Geräte – auf verschiedene Musikformen und ihre mediale Verfügbarkeit weltweit, bzw. bezogen auf bestimmte Regionen? • Wie werden dabei traditionelle Musikformen integriert und konserviert? • Welchen Einfluss hatten bestimmte Tonträgerformate auf die Existenz lokaler Musikpraktiken und -formen? • Wie veränderten sich durch die Einführung digitaler Technologien einige zentrale Aspekte der Musikproduktion? Unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Verbreitung und Verwertung durch die Akteure der Musikwirtschaft und ihre Märkte (siehe Kapitel 3.3) wird an Beispielen aus der Geschichte und Gegenwart dieser Entwicklung dargestellt, auf welche Weise die technischen Apparaturen in bestimmten Institutionen, Organisationsformen und deren Binnenstrukturen gesellschaftlich wirksam werden, das heißt, wie die komplexen Prozesse der Herstellung und Verbreitung von Musik in bestimmten lokalen Zusammenhängen organisiert sind bzw. wurden. Dabei soll vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen auch diskutiert werden, wann
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und warum das Interesse an lokalen Zusammenhängen bedeutungsvoll oder auch weniger bedeutungsvoll war bzw. ist. • Wie werden globale Märkte organisiert, und welche Bedeutungen kommen dabei wann lokalen Zusammenhängen zu? • Wie sind global agierende Unternehmen der Musikwirtschaft strukturiert, und welches Selbstverständnis propagieren sie in Bezug auf ihre weltweiten Interessen? Welche Veränderungen lassen sich in dieser Hinsicht in der jüngeren Vergangenheit – Vergleich 1990er Jahre, erste Dekade des 21. Jahrhunderts – ausmachen? • Gibt es Grenzen der Globalisierung, und welche Strategien haben die global agierenden Unternehmen der Musikwirtschaft entwickelt, um mit lokalen Besonderheiten bzw. den Grenzen globaler Aktionsradien umzugehen? Wie wichtig sind ihnen aus wettbewerbstechnischen Gründen lokale Märkte? Welche Organisationsformen der Musikwirtschaft widmen sich vornehmlich lokalen Märkten, welche nicht? • Macht es Sinn, angesichts der weltweiten Vernetzung heute noch von lokalen Märkten zu sprechen? Im Kontext dieser Arbeit – vergleiche vor allem Kapitel 1 – werden die Fragen zur kulturellen Bedeutung regionaler und lokaler Märkte in erster Linie an solchen empirischen Phänomenen diskutiert, die zunächst jenseits globalisierter Zusammenhänge zu stehen scheinen – an Musikformen also, die nicht vom »Anbeginn ihrer Existenz« Teil urbaner Musikkulturen und moderner Lebensweisen waren, sondern aus eher traditionellen Zusammenhängen »stammen«. Gemeint sind damit insbesondere die so genannten indigenen Stimmen und Instrumente, die zum Beispiel mittels Sampling zum Material populärer Musikkonzepte geworden sind. Die kulturelle Distanz zwischen einem Didgeridoo – gespielt im Kontext seiner traditionellen Funktionen – und einem Didgeridoo-Sample oder einem Didgeridoo neben einem Rapper im Hip-Hop – ist eigentlich immens groß. Noch heute ist das schätzungsweise 30.000 Jahre alte Instrument Teil einer relativ unveränderten Form musikalisch-magischer Praktiken. Der Sampler steht für moderne Praktiken der Klangreproduktion und -synthese. Ein Didgeridoo im Hip-Hop kann beispielsweise die Funktion eines Bass-Instrumentes übernehmen. Außerdem erzeugt es klangliche und visuelle Differenz und Aufmerksamkeit im Kontext unzähliger anderer Bands des gleichen Genres und entsprechender Szenen. Eine schriftlose Musikkultur kann durch die Konservierung mittels phonotechnischer Verfahren nicht nur in andere Formen des Memorierens gestellt werden, sondern lässt sie vor allem im Akt der Vergegenständlichung, der Konservierung, überhaupt erst zum exponierten Gegenstand »fremden« Interesses werden. Seit Tausenden von Jahren haben die verschiedenen Stammesgemeinschaften auf dem australischen Kontinent Musik gemacht. Als »Aboriginal Music« aber wurde sie erst dann bezeichnet, als ein weißer Anthropologe sie erstmals mit seinem Phonographen aufgenommen hatte (Castles 1998: 11 – vgl. Beginn des Kapitels).
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Die Musikpraktiken der Ureinwohner mit dem Begriff »Aboriginal Music« zu beschreiben, verweist auf eine starke Abstraktion, eine Verallgemeinerung, einen kleinsten am Fremdverständnis orientierten Nenner, der von den konkreten Phänomenen und Besonderheiten der zig Spielarten regional sehr unterschiedlicher Musikformen absieht und absehen muss – in diesem Falle von derjenigen der Ureinwohner Australiens. Dass es sich dabei keineswegs nur um ein linguistisches oder kommerzielles Problem handelt, sondern diese Abstraktion gleichsam eine Öffnung darstellt und bestimmte Aspekte einer Musikkultur, zum Beispiel das Didgeridoo, fragmentarisiert als multiple Projektionsfläche sehr verschiedener Interessen darbietet – dieses Szenario passt hervorragend in das kulturelle Gefüge, in dem Klang in modernen und so genannten nachmodernen Gesellschaften wahrgenommen und kommuniziert wird. Es ist nicht zuletzt der Klang, dessen Physikalität wir im Laufe der Geschichte phonotechnischer Entwicklungen gelernt haben in der Imagination des Hörens zu rekonstruieren. Entsprechende Imaginations- bzw. Rekonstruktionsleistungen sind kulturell disponiert. Die Fülle von Schallwellen, die auf unsere Hörnerven treffen, wird kulturell – durch bereits gemachte Erfahrungen – selektiert und gefiltert und in die jeweils Bedeutung bildenden Prozesse integriert. Nur diejenigen Klänge können wir mit Bedeutung versehen, die im jeweiligen System Bedeutung bildender Differenzen Sinn machen. Dabei spielen gestaltbildende Prozesse der Fragmentarisierung, Ordnungsbildung, der Überhöhung, Kuriosa, Kontextualisierungen und Dekontextualisierungen auf Seiten der ästhetischen Sinnbildung mittels Klang eine entscheidende Rolle (vgl. Kapitel 2.3.6/7). Um diese Prozesse müssen die Akteure der Musikwirtschaft wissen. Bei der Auswahl und Promotion von Künstlern, Marketing-Aktivitäten und RepertoireBildungen für bestimmte Zielgruppen suchen sie, so gut es geht, die Unwägbarkeiten dieser kulturellen Dispositionen und Filter zu kalkulieren und auch zu bedienen. Die Ästhetik der kulturellen Differenz wird strategisch eingesetzt. Das werbewirksam optimierte Handlungsfeld der visuellen Kommunikation kennt für diesen Vorgang den Begriff des »Eye-Catchers«. »Ear-Catcher« stellen im Kontext der akustischen Kommunikation offensichtlich ebenso einen entscheidenden ästhetischen bzw. aisthetischen Wirkfaktor dar. »Rorogwela Lullaby« – das Wiegenlied von der südpazifischen Insel Malaita –, »Sweet Lullaby« – der World-Music-Hit des französisch-belgischen Popduos Deep Forest aus dem Jahr 1992 –, und schließlich »Komodo« – der Dance-Hit des italienischen DJs und Produzenten Mauro Picotto –, so hießen die eingangs vorgestellten Stationen einer außergewöhnlichen Reise durch verschiedene kulturelle Kontexte und Repertoire-Segmente populärer Musik. Sie wurden zum Ausgangspunkt der verschiedenen Fragen an den Gegenstand dieser Arbeit. Es war faktisch zunächst die Überwindung einer enormen geographisch und ästhetisch kulturellen Distanz, die den Reiz der Beschäftigung mit diesem Beispiel ausmachte. Woher aber kamen die Neugier der betreffenden Musiker und das Interesse von Musikwirtschaft und Publikum? Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang die
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phonotechnischen Möglichkeiten der Aufnahme, Bearbeitung und Wiedergabe gespeicherter Musik und deren Live-Repräsentation auf Konzertbühnen? Insbesondere die beiden letzten Fragen sollen im Kontext des thematischen Fokus »Mediale Verfügbarkeit« zum Abschluss dieses Unterkapitels »When a white anthropologist first recordet it …« nun untersucht werden. 3.1.3 EIN INDIGENER KLANG IM P RISMA PHONOTECHNISCHER MÖGLICHKEITEN Dem Wiegenlied von der melanesischen Insel Malaita ist vor allem eines widerfahren: Es war mittels phonotechnischer Verfahren akustisch konserviert bzw. fixiert worden. Auch wenn die Interessen desjenigen, der die folgenreiche Aufnahmeprozedur vorgenommen hatte, sicherlich weitaus vielfältiger und anderen Intensionen geschuldet waren (vgl. Kapitel 1), existierte es nun »recorded too, not just live«. Welche Konsequenzen dies haben sollte, konnte Hugo Zemp 1969 nicht ahnen. Als technisch fixierte Form stand es nun zur Verfügung, in andere Zusammenhänge zu gelangen, ausgewählt, fragmentiert, montiert, ausgewertet, angeeignet und verwertet zu werden. Insbesondere auch den Möglichkeiten einer Veränderung durch technische Eingriffe stand nichts mehr im Wege. Einmal technisch fixiert – zunächst auf Tonband, später als LP-Veröffentlichung der UNESCO und später als CD – geriet das Stück Musik in immer wieder neue Zusammenhänge seiner Memorierung, Darbietungsform und Funktion. So änderten sich auch die Vorstellungen darüber, wer eigentlich der Autor und was »Recht und Unrecht« im Umgang mit ihm sei. Deep Forest hatte aus der digital bearbeiteten Neuauflage der UNESCO-CD gesampelt, einem »Ausgangsmaterial« bzw. Original, das technisch gesehen bereits mehrere Formatwandlungen auf Seiten des Speichermediums (Tonträger) durchlaufen hatte und somit eine Kopie (des Vinyls) der Kopie (der Tonbandaufnahme) darstellt. Das Sample in »Sweet Lullaby« wird vom Hörer als verlustfreie Kopie von »Rorogwela Lullaby« wahrgenommen, wenn er denn überhaupt von der Existenz des ethnologischen Materials weiß. Es erscheint als »Ganzkörpersample« (Cutler 1985), ganz so als wäre ein längerer Abschnitt des Ausgangsmaterials ausgewählt, herausgelöst und in unveränderter Form im Sinne geklonten Medienmaterials kopiert worden. In letzter Konsequenz erweist sich diese Annahme jedoch als Täuschung, die dem analytischen Hören und der technischen Beweisführung nicht standhält. Eine 16-taktige Passage (ca. 40 Sekunden) des »Rorogwela Lullaby« (auf der CD 1 Minute 41 Sekunden lang) erscheint quasi als Original in den drei Strophen von »Sweet Lullaby«. Untersucht man den Verlauf dieser Sample-Passage etwas genauer, gliedert ihn zum Beispiel in acht zweitaktige Takes (jeweils ca. fünf Sekunden), dann wird deutlich, dass auch Deep Forest vermutlich das Ausgangsmaterial in zweitaktige Takes zerschnitten und einzelne Sequenzen – die im Original nicht aufeinander folgen – montiert hat. Ein solches Selektionsverfahren ist klangtechnisch und gestaltungstechnisch motiviert. Die Sängerin des »Rorogwela Lullaby« macht beispielsweise zwischen den einzelnen Passagen hörbare
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Atempausen, sie gerät geringfügig außer Takt, verschluckt manche Passagen oder singt andere mit besonderer Emphase. In manchen Textpassagen überwiegen Konsonanten und Knacklaute, so dass die gesungene Melodie kaum mehr hörbar ist. Ihren spezifischen Charakter erhält die solistische Frauenstimme durch angeschliffene, aber konkrete Tonhöhen und Pentatonik ohne Quarte und große Septime mit einem Tonvorrat von a-h-e-fis-a. Eine solche Darstellungsform anhand von europäischen Tonhöhenbezeichnungen temperierter Stimmungsverhältnisse verbietet sich eigentlich, weil der ’Are’are-Stamm in seinen musikalischen Praktiken keine temperierte Stimmung in diesem Sinne verwendet. Für »Sweet Lullaby« wurden diejenigen Teile des geschnittenen Ausgangsmaterials aneinandermontiert, die einen flüssigen, leichten und dennoch im Sinne westeuropäischen Harmonieverlaufes spannungsreichen Verlauf der Strophe gewährleisten. Bis auf geringfügige metrische Anpassungen und die Verwendung eines rhythmisch getakteten Echos bedurfte es keiner weiteren technischen Maßnahmen. Anfang der 1990er Jahre war es kein Problem mehr, mittels Sampling eine klangtreue Wiedergabe jedes beliebigen Klanges zu realisieren. In der Fusion von Sampling und Harddisc-Recording funktionierte der Sampler schließlich wie eine virtuelle Bandmaschine, mit dessen Hilfe man unterschiedliche Spuren/Stimmen – oder Teile daraus – aufnehmen und miteinander verknüpfen konnte. Die dynamische Aufsplittung des Samples auf die beiden Stereokanäle imaginiert ein Raumgefühl von Tiefe und Bewegung. In der zweiten Strophe von »Sweet Lullaby« wurde der Samplepassage ein mehrstimmiger Chor unterlegt, sie erhält damit die Funktion einer Art Cantus Firmus (erste Stimme), die hinzugekommenen Stimmen harmonisieren im Sinne der auf Dreiklängen (Grundton, Terz, Quinte) bestehenden Dur/Moll-tonalen Musik. Schon im zweiten Teil der zweiten Strophe wird der Klangeindruck vom Chor dominiert, die Samplepassage taucht nur noch fragmentarisch auf, bis sie schließlich in der dritten Strophe ganz verschwindet. Für ihre Alben, die Anfang der 1990er Jahre im Repertoire-Segment World Music platziert wurden, nutzte Deep Forest wiederholt Stimmen von indigenen und nichtwestlichen Kulturen, vorzugsweise von Pygmäen und Völkern aus dem Benin und vom Balkan. Deep Forest kreierte aus den Fragmenten dieser Stimmen prägnante Loops, Schleifen oder auch Schlaufen, die in Folge ein und dasselbe Sample wiederholen. Im musikalisch-technischen Zusammenhang ist der Loop ein musikalischer Ausschnitt, der wiederholt wird. Durch entsprechend ausgestattete Mixer kann der DJ einen Loop von beispielsweise zwei Takten auswählen und beliebig oft einspielen. Dadurch erhält sein Mix eine individuelle Note. Auch in der Graffiti-Kultur werden Loops praktiziert, die dort das zusammengerollte Ende eines Buchstabens bezeichnen (Wörterbuch der Szenesprachen 2000). Die Loops von Deep Forest waren in den Intros auf die akustische Anmutungsqualität der Songs gerichtet und fungierten damit als eine Art Einstimmungselement. Vor allem in metrischen Verschachtelungen lieferten sie die rhythmische Basis der Songs, zum Beispiel die Übergänge von Strophen zu Refrains. Mithilfe
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verschiedener moderner technischer Verfahren wie dem Pitching, Morphing, Expanding, Delay und Hall wurden die Samples eingepasst und in ihrer vor allem atmosphärischen Wirkung benutzt. Von den aus den Samples gewonnenen Loops, deren Herkunft hörbar bleibt, geht bei Deep Forest eine struktur- und den Klang prägende Kraft aus. Im Zuge der Veröffentlichung ihrer Alben ging Deep Forest zu PromotionZwecken in den 1990er Jahren auf Welttourneen und füllte riesige Konzerthallen und Arenen. Die Aufnahme und Veröffentlichung eines Konzertmitschnittes aus der Tokioter Koseinkin Hall setzte an die Stelle des vorgetäuschten »GanzkörperSamples« der melanesischen Frauenstimme eine Live-Sängerin. Geriet der Song also in den Kontext der Konzertsituation, musste die Stimme auch körperlich auf der Bühne präsent gemacht werden. Erst das raumgreifende Agieren physisch präsenter Musiker bzw. hier einer Musikerin sowie der Umstand, dass die Sängerin nicht aus Melanesien stammte, ihr Timbre eher »westlich« war, die Töne zwar entsprechend der ursprünglichen Melodie gesetzt, doch weder angeschliffen, noch in der dem Sample eigenen schwebenden Harmonik, ermöglichte den während eines Konzertes erwarteten Kontakt zwischen Publikum und Bühne. Hierbei wurde die Klangerzeugung mit den Bedingungen ihrer Aufführung quasi wieder rückgebunden, auch wenn zwischen Musikern, Sängern und Publikum Hunderte Meter Elektrokabel, Mikrophone, Mischpulte und Verstärkeranlagen lagen. In der Konzertsituation wurde die Trennung von Stimme und Körper, von Aufführung und Aneignung, von Hören und Sehen wieder aufgehoben. Vor allem die Situation der unmittelbaren Hervorbringung wurde zumindest imaginiert und damit auch körperlich im psychophysischen Sinne dominant gemacht. Phonotechnische Verfahren sind Verfahren zur Aufzeichnung, Bearbeitung und Wiedergabe von Klang. Umgekehrt bedarf es im Rahmen der Live-Präsentation von Songs, die mittels Tonträger zunächst bekannt wurden, bestimmter Tricks, die Songs wieder als unmittelbar erzeugte erscheinen zu lassen. Bühnen-Shows, Choreographien, Inszenierungen, Performance und Kleidung der Musiker, Licht, Nebel, Bühnenaufbau und Klang, der unmittelbar erzeugt und ausgelöst wird, müssen so gestaltet sein, dass sie den Erwartungen der Konzertbesucher sowohl an die bekannten Songs als auch an das Live-Erlebnis unmittelbar präsenter Musiker entsprechen. Im angesprochenen Beispiel wurde das »strenge« Konzept von Strophe und Refrain zu Gunsten ausgedehnter Zeit- und Bewegungsräume für solistische Passagen teilweise aufgegeben. Halbakustische Instrumente (Gitarre und Drumset) gewannen an dynamischer und vor allem visueller Präsenz. Pausen und Spannungsbögen wurden so platziert, dass dem Publikum Raum und Zeit für Anteilnahme und Applaus blieb. Das Konzertereignis stellt eine besondere Gebrauchsform populärer Musik dar, die auch seit der Produktion von Tonträgern in der Geschichte der populären Musik nie seine Bedeutung verloren hat. Auf Konzerten können das Publikum oder die Fans endlich ihre Stars leibhaftig erleben. Im Live-Betrieb hat sich der Großteil von Musikern seine Bedeutung erspielt. Im Zuge der massiven Umsatzeinbrüche
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der Tonträgerwirtschaft seit Beginn des neuen Jahrhunderts ist insbesondere auch der Konzertbetrieb wieder zu einem lukrativen Geschäft für Musikagenten und Musiker geworden. Manche internationale Stars – zum Beispiel Madonna – haben ihren Vertrag mit einem Major der Tonträgerindustrie aufgekündigt und lassen sich nun von einem großen Konzertunternehmen vertreten. Diese Situation stellte sich jedoch zu Zeiten von »Sweet Lullaby« noch völlig anders dar. Konzerte galten als Promotion-Instrument für den Verkauf von Alben und nicht umgekehrt. Wieder anderen Erwartungshaltungen musste der Techno-Dance-Track Mauro Picottos genügen. Tracks als Songs, die in der »Tradition« elektronischer Tanzmusikformen wie Techno und House stehen, wollen die beteiligten »Zuhörer nicht mehr als Empfänger von Botschaften erreichen, sondern als Generator. Tanz meint Beteiligung« (Schweinfurth 1998: 61). Und so sind die Tracks vor allem durch einen permanent wiederkehrenden Beat von Rhythmusgerät und Bassline (4/4) gekennzeichnet, der in einen scheinbar endlosen Fluss bzw. Weg des Sounds eingebettet ist. »Track« ist die englische Bezeichnung für die Tonspuren auf einem Mehrspurband oder einem Film, dem so genannten Soundtrack. Seit den späten 1980er Jahren wurde der Begriff zugleich für die auf Schallplatten und CDs enthaltenen Stücke elektronischer Musik verwendet. Man sprach dann nicht mehr von Titeln oder Songs, sondern von Tracks und hob damit auch deren technische Generierbarkeit hervor. Die Song-Struktur aus Strophe, Refrain und verbalem Text, die einst die populären Musikformen vor allem geprägt hatte, verschwand in elektronischer Popmusik zu Gunsten von Arrangements von in- und übereinander geschichteten Sound- und Puls-Plateaus. Nicht mehr Bands, sondern DJs kreierten diese Klangtexturen, ihre Instrumente waren vorzugsweise Turntables, Rhythmusgeräte und Synthesizer mit eingebauten Rhythmus- und Sequenzerfunktionen. Die so entstandenen Klanggestalten wurden fast ausnahmslos auf der Basis elektronischer Spannungssteuerung geformt. Ohne die entsprechenden Module zur elektronischen Klangverstärkung, zur Klang- und Geräuscherzeugung, zur Klangverarbeitung und zur Klangsteuerung waren sie folglich nicht existent. Rein elektronische Klangerzeugung und die Technologien des DJings hatten im Laufe der 1990er Jahre das Klangbild populärer Musik stark beeinflusst und verändert. Gerade beim DJing kam es vor allem darauf an, den Track des einen Vinyls nahtlos in den des anderen übergehen zu lassen oder so zu verknüpfen, dass ein im jeweiligen Kontext Bedeutung produzierender Cut ’n’ Mix erzeugt werden konnte. Die Tage dauernden Raves auf den Brachen der niedergehenden Industriekultur, Chillout-Zonen und Lounge-Atmosphären und die ausnahmslos stark an elektronischen Klangbildern orientierten Musikformen haben versatzstückartig Eingang in die industriell gefertigten Produkte der Musikindustrie gefunden. Mauro Picottos »Komodo« gehört in diesen Zusammenhang und steht in dieser Tradition – einer Tradition, die sich selbst in einem unmittelbaren und positiven Verhältnis zwischen »Mensch und Maschine« und zu den Technologien ihrer Sound-
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Produktion auf den Begriff gebracht hatte: Techno. In dieser Ordnung bildeten Mensch und Maschine, Körper und Künstlichkeit keinen Gegensatz (Klein 1999). Sicherlich war Picottos »Komodo« weit entfernt von dem, was in den 1980er und 1990er Jahren als Techno, House und Ähnliches als subkulturelle Szene bezeichnet wurde. Dennoch lassen sich in seinen technisch generierten Klangtexturen wichtige Versatzstücke der oben beschriebenen Charakteristika auffinden. Zunächst fällt auf, dass die auf dem Album veröffentlichten Tracks nahtlos ineinander übergehen. Die Anzahl der Beats pro Minute (BpM) aller einzelnen Tracks bleibt das ganze Album über konstant. Wie in einem Club wird der Bewegungsfluss der Tanzenden möglichst nicht unterbrochen. Der Track »Komodo« beginnt mit einem ultrakurzen Scratching-Geräusch – dem Geräusch einer Technik, mit der DJs lautstark die Nadel des Turntabels an die Stelle des dann ausgewählten Titels bzw. Tracks setzen. Es folgen Aufschichtungen verschiedener Rhythmus-Plateaus, die ausschließlich aus synthetisch generierten Drumsounds gewonnen sind. Zusammen mit eher melodiös orientierten kurzen Klang-Plateaus nehmen sie den weitaus größten Raum im Rahmen des gesamten Tracks ein. Breaks werden mittels technisch erzeugter Beschleunigungen von Drumpattern gesetzt, die dann zu einer eigenständigen Klangschicht mutieren. Nach gut der Hälfte des Tracks, der in der Albumversion fünf Minuten und zwanzig Sekunden lang ist, verlässt man den Dancefloor und begibt sich quasi in die Chillout-Zone des Tracks. Dort nun befindet sich die Melodie des melanesischen Wiegenliedes, die, umgeben von einem hauchig wirkenden Klangteppich, das Gefühl vermittelt, wie aus einer anderen Welt zu sein. Auf diese Weise erhält der Track die charakteristische Dynamik seines körperlichen Engagements im Kontext seines gewünschten und erinnerten Gebrauchs. Als Käufer- bzw. Zielgruppe hatte man heranwachsende Mädchen im Alter von 12 bis 18 Jahren im Auge. Das Album und der Track in seinen verschiedenen Versionen wurden vor allem für den europäischen Markt produziert. Erfolgreich war er in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Offensichtlich vermittelte die eingebaute Sequenz auch das notwendige Maß an Grenzerfahrung und Wiedererkennbarkeit im unendlichen Fluss von geradzahligen Beats und Klang-Plateaus unzähliger vergleichbarer Titel; ein Ear-Catcher. Woher die so eigenwillig anmutende Melodie kam, wem sie zuzuschreiben war und »gehörte«, spielte im Kontext von vor allem auf synthetischer Klangerzeugung basierenden Klängen zum Tanzen keinerlei Rolle. Auch deren Produzenten hielten ihre eigentliche und authentische Identität permanent in der Schwebe (Papenburg 2001). Sie veröffentlichen unter einer Vielzahl von Kürzeln artifizieller Bezeichnungen, die eher an Typenbezeichnungen technischen Equipments (z. B. »Console«, »panasonic«) als an Namen von Personen bürgerlicher Herkunft erinnerten. Autorschaft wurde verweigert bzw. dekonstruiert. Ähnliche Schwebezustände, Bedeutungsverschiebungen und Dekontextualisierungen konnten auch bei der Untersuchung des variantenreichen Umgangs mit dem australischen Didgeridoo nachgewiesen werden (Binas 2001). Das Motiv, sich mit
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dem Didgeridoo musikalisch auseinanderzusetzen, – so das Ergebnis der entsprechenden Fallstudie – war von Fall zu Fall sehr verschieden. Es reichte von den Versuchen, das archaische Image des Instrumentes zu reproduzieren, vor allem im Kontext therapeutischer Anwendungen und esoterischer Strömungen, es im Jazz und als World Music pur solistisch und ohne Verstärkung zum Klingen zu bringen, bis hin zur Verwendung von Sampleloops in Acid Jazz (Jamiroquai) und Tribal Dance, die aus kurzen Passagen und Einwürfen eines Didgeridoo-Klangs bestehen. Noch heute taucht dieses Instrument immer einmal wieder in den »absurdesten« Konstellationen auf. Daraus ergibt sich für das Instrument selbst sowohl ein breites Spektrum seiner Verwendung im Rahmen bestimmter musikalischer Stilistiken als auch ein multiples Szenario seines kulturellen Gebrauchs – ein jeweiliges Netz von Verweisen, in dem die »traditionelle« Bedeutung des Instrumentes und seines Sounds, der Herkunftsort und/oder rituelle Zusammenhänge manchmal vage assoziiert, letztlich aber aufgelöst werden. Der Grad der Ablösung wurde und wird dabei immer auch durch den Einsatz von Technologie und die Position und Bedeutung bestimmt, die Technik im jeweiligen stilistischen und kulturellen System einnimmt. Das Wiegenlied aus einer konkreten lokalen Musikpraxis wurde Teil des globalen Kulturprozesses. Dabei vermittelten die verschiedenen Versionen im Umgang mit dem »ursprünglichen« Material in ihrer spezifischen Klanggestaltung, den harmonischen und metrischen Ausdeutungen der »Quelle«, der dramaturgischen Platzierung im Song bzw. Track die Codes sehr verschiedener kultureller Verstehenssysteme. Das kleine Stück Musik geriet in konkrete Kontexte unterschiedlicher Repertoire-Segmente populärer Musik und wurde zugleich mit den unterschiedlichsten Bedeutungen aufgeladen. Die Klanggestalt eines konkreten Songs bzw. Tracks erhält nur dann Bedeutung, wenn bestimmte Parameter der Klanggestaltung mit den in bestimmten kulturellen Gruppen praktizierten Handlungs- und Wertungsmustern resonieren. Deshalb musste das Wiegenlied immer wieder (auch technisch) verändert werden, um reizvoll und ästhetisch wirksam zu sein. Erst im Transfer bzw. der Aneignung durch ein bestimmtes musikalisches Interesse, der Platzierung im »fremden« Kontext erhielt es seine besondere Anziehungskraft. Dieses Lied beweist in vielerlei Hinsicht, dass Musik bzw. Klang keinerlei objektive Bedeutung besitzt, sondern immer wieder neu in konkreten Zusammenhängen angeeignet und von seinen Hörern mit Bedeutung aufgeladen wird. Ein Song bzw. Track funktioniert als eine Art Medium, nicht als Objekt expliziter Aneignung und Rezeption im traditionellen musikwissenschaftlichen Sinne. Darum lässt sich an seinen Parametern – zum Beispiel Aufbau, metrische Gestaltung, Timbre der Stimme, Verwendung auffälliger Sounds – nicht allgemein gültig erklären, welche Bedeutung ihm zukommt. Diese Bedeutung wird immer wieder neu konstruiert. Die ästhetische Wirkkraft ist deshalb vielfältig und unterschiedlich, abhängig davon, wie die konkreten Hörer sie in den spezifischen Kontext ihres Gebrauches stellen.
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Moderne Kommunikationsverfahren sind – und dies muss an dieser Stelle unbedingt hervorgehoben werden – durch Brüche und Beiläufigkeiten gekennzeichnet, das heißt, sie werden immer nur in Fragmenten wirksam. Eine ästhetische Analyse ist angesichts dieser offenkundigen Multidimensionalität nur dann möglich, wenn sie die Regeln der Modellierung dieser komplexen Prozesse kenntlich macht und sich des überaus Fragmentarischen der so erhaltenen Ergebnisse von vornherein bewusst ist. Medienästhetik ist – so Ralf Schnell – : »nicht identisch mit dem was gesagt wird, sondern sie besitzt ihr charakteristisches Merkmal in der Art und Weise, wie sie ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten, ihre Techniken, ihre Mittel zur Verarbeitung von vorgegebenen oder hergestellten Inhalten und Gegenständen einsetzt. Das WIE dieser Wahrnehmung steht deshalb im Mittelpunkt der Medienästhetik.« (Schnell 2000: 208)
Dieses WIE dürfte auch von den technischen Parametern der Klanggestaltung abhängen. Zumindest beeinflussen sie das Klangbild, das Verständnis und den Umgang mit populären Musikformen ganz erheblich. Wenn die vielfältigen Aspekte medialer Verfügbarkeit eine Voraussetzung globalisierter Musikformen darstellen, dann kann die Untersuchung konkreter historischer Ereignisse und Tendenzen phonotechnischer Entwicklungen und entsprechender Auswirkungen auf lokale Musikformen dazu beitragen, das Verständnis für diese Musikprozesse zu erhöhen.
3.2 Wachswalzen und Sampler zur Bedeutung phonotechnischer Verfahren bei der Herausbildung globalisierter Musikformen »[J]ede Veränderung der kulturellen Werkzeuge hat in der Menschheitsgeschichte eine tiefgreifende Krise des überkommenen und ›geltenden‹ Kulturmodells ausgelöst […].« (Eco 1984: 38)
Als im Zuge der durchgreifenden Digitalisierung Synthesizer und Sampler Mitte der 1980er Jahre Einzug in die Studios der Musikproduktion hielten, versprachen World Music, New Age und das gewachsene Interesse an handgemachten, »reinen«, nicht elektrisch verstärkten Musikformen eine Art Gegenbewegung zur Technisierung in der Popmusik, wie sie für Synthie-Pop, Disco, und House charakteristisch waren. Elektronische und digitale Produktionstechnologien spielten jedoch auch im Zusammenhang von World Music eine wichtige Rolle. Weite Kreise von Hörern hätten niemals von Lady Smith Black Mambazo – dem Zuluchor aus Südafrika –, Didgeridoo-Klängen aus dem nördlichen Arnhemland Australiens oder dem Wiegenlied von der melanesischen Insel Malaita gehört, hätten nicht die entsprechenden technischen Apparaturen und ökonomischen »Apparate« – Unter187
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nehmensstrukturen der Musikwirtschaft – zur Verfügung gestanden. Sie ermöglichten ganz maßgeblich den Transfer entsprechender Klänge und Musikformen. Paul Simons berühmt gewordenes Album »Graceland« wurde in verschiedenen, für die damaligen Verhältnisse auf höchstem technischen Standard ausgestatteten Studios der Welt aufgenommen und produziert. Seine Welttourneen und die farbenfrohen Events im Umfeld des gestiegenen Interesses an World Music, zum Beispiel das von Peter Gabriel initiierte WOMAD-Festival, wären ohne weltweit agierende Agenturen und Tonträgerunternehmen nicht denkbar gewesen. »›Graceland‹ war zum Synonym für die Rhythmen des Widerstandes geworden und verschaffte dem triumphalen Sound schwarzer südafrikanischer Musik einen Platz auf dem Weltmarkt.« (Erlmann 2001: 229) Symbolisch ging dieses Synonym jedoch weit über den Widerstand und die »Versöhnung« von Schwarz und Weiß hinaus. Louise Meintjes sprach in ihrer Analyse von »Collaboration«. Ob »Graceland« oder Deep Forests »World Mix« – in der Repräsentation von Musik in einer quasi »reineren«, unmittelbareren Form, als dies beispielsweise beim Rock ’n’ Roll in den Traditionslinien von ländlichen und städtischen Bluesformen der Fall gewesen war, wurde nun ein Selbstbild des Westens augenscheinlich, welches das Lokale mehr denn je als eine Funktion des Globalen erkennen lies, und zwar durch die unmittelbare Integration entsprechender musikalischer Formen, Sounds und Rhythmen in die für westliche Hörer produzierte Musik. Gleichzeitig bildeten lokale Musikmärkte im 20. Jahrhundert immer auch Absatzgebiete für die Produkte der global agierenden Musikwirtschaft. Ein erfolgreicher Absatz war zunächst von der Kaufkraft in den jeweiligen Regionen anhängig, ebenso jedoch von konkreten sozialen und kulturellen Zusammenhängen vor Ort. Lokale Musikpraktiken sind ein weltweites Phänomen, auch wenn mit lokalen Musikpraktiken meist solche – auch in dieser Arbeit – gemeint sind, die in den nichtwestlichen Regionen der Welt verortet werden. Die Einteilung der Welt in westliche und nichtwestliche Regionen ist ein Resultat der Kolonial- und Nachkriegsgeschichte, deren Begriffsbildungen – Erste, Zweite, Dritte Welt – sich tief in den Sprachschatz eingeschrieben haben. Eingedenk dieser Problematik sollen im Folgenden Wechselwirkungen von westlicher Mediendominanz und nichtwestlichen Musikformen thematisiert werden. 3.2.1 »RECORDINGS TOO , NOT JUST LIVE« (2) Frühe Tonaufnahmen kamen – grob systematisiert – auf zwei Wegen zustande. Zum einen bereisten in der Tradition sammelnder Gelehrter Ende des 19. Jahrhunderts Völkerkundler die Kolonien der europäischen Imperialreiche. Im Gepäck hatten sie Phonographen und Phonographenwalzen, mit denen sie vor Ort Klänge und Musiken von außereuropäischen Musikkulturen aufnahmen. Zum anderen interessierten sich schon seit Beginn ihrer Existenz – um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – Tonträgerunternehmen nicht nur für Europa und die USA, von
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wo aus sie agierten, sondern für alle potenziellen Absatzmärkte auf der Welt. Dabei konnte es schon damals zu Interessenallianzen kommen. »Die erste kommerzielle Schallplattenausgabe musikethnologischen Inhalts mit zwölf Schellackplatten wurde von Erich Moritz von Hornbostel (vgl. Kapitel 2.1.2) unter der Bezeichnung ›Musik des Orients. Eine Schallplattenfolge orientalischer Musik von Japan bis Tunis‹ (Berlin 1928 und 1931) herausgegeben. Ihr ging eine Phonogrammanthologie voraus, die Hornbostel aus den Beständen des Berliner Phonogrammarchivs zur europäischen Volksmusik und zu den orientalischen Musikkulturen auswählte […]. Zu den Herausgebern, die an europäischer Volksmusik interessiert waren, gehörte auch die französische Grammophongesellschaft Pathé.« (Elschek u. a. 1992: 28)
Die Brüder Pathé hatten 1896 mit dem Verkauf von Phonographenwalzen begonnen und gehörten Anfang des 20. Jahrhunderts zu den weltweit agierenden größten Filmausstattungs- und -produktionsfirmen und führenden Tonträgerunternehmen. Nahezu parallel zum World-Music-Boom der beginnenden 1990er Jahre begannen Spezialvertriebe wie Yazoo und Rounder verstärkt »Reprints« von Aufnahmen ethnologischer als auch kommerziellen Herkunft in Anthologien anzubieten. Der überwiegende Teil von Aufnahmen mit eher kommerziellen Interessen stammte aus den 1920er und 1930er Jahren und knistert heute mit der Patina einer Schellackplatte trotz berührungsfreier optoelektonischer digitaler Abtastsysteme aus modernen Lautsprechersystemen. Das Booklet einer CD aus der Serie »Secret Museum of Mankind« zum Beispiel preist die auf ihr versammelten Aufnahmen als die wichtigsten jemals aufgenommenen Musiken Zentralasiens. Die CD »presents a trip around the world, stopping at each port to sample one of that country’s finest recordings of its indigenous music. Each of these recordings was captures at a period during the golden age of recording when traditional styles were at there peak of power and emotion.« (Secret Museum of Mankind/Central Asia/Yazoo 7007) Frühe Aufnahmen aus den 1930er Jahren gibt es auch von spanischen FlamencoSängern und -Gitarristen sowie von mongolischen Obertongesängen, tadschikischen Perkussion-Ensemblen und griechischem Rebetika. Der Rebetika oder Rembetika ist eine populäre Liedform aus Griechenland, die um die Jahrhundertwende aus der Synthese sehr unterschiedlicher musikalischer Traditionen des Mittelmeerraumes hervorgegangen war und in den Texten die Vielschichtigkeit urbanen Lebens anspricht. Die Liedform des Rebetika geht zurück auf eine städtische Subkultur und Boheme im halbkriminellen Milieu, den Rembetes, die sich aus einem Vielvölkergemisch von Flüchtlingen zusammensetzte, vor allem aus Kleinasien und dem Balkan sowie aus sozialen Verlierern aller Schattierungen. Die Lieder entstanden in Kneipen und wurden zu den wichtigsten Zeugnissen dieser bereits in sich transkulturalisierten Musik. In den 1920er Jahren wurden ihre Lieder von professionellen Musikern aufgegriffen und gerieten damit in weiter reichende Zusammenhänge der Unterhaltungskultur (Wicke/Ziegenrücker 1997: 424f.). Ähnliches könnte man über die frühen Aufnahmen des
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algerischen Raï sagen, auch hierbei handelt es sich um eine städtische Form von Unterhaltungsmusik. Beide Beispiele verweisen auf eher kommerzielle Herkünfte der Aufnahmen. Musikethnologen hingegen interessierten sich kaum für städtische Musikkulturen. Sie legten ihr Hauptaugenmerk auf Aufnahmen ländlicher ritueller Musikformen, meist außereuropäischer »Stämme« bzw. dörflicher Gemeinschaften in Europa. In der Dokumentation und Bewahrung von traditionellen Kulturen spiegelte sich auch deren Wunsch, es mögen Regionen auf der Welt und solche Lebensformen – dörfliche – erhalten bleiben, die sich nicht so schnell wandeln und verändern, wie es die europäischen damals im Zuge der rasanten Industrialisierung und Urbanisierung taten. Auch Aufnahmen aus dem letztgenannten Kontext wurden im Zuge der Digitalisierung im Laufe der späten 1980er und frühen 1990er Jahre als CDs im Kontext von World Music erneut veröffentlicht – »out of the archives and into the World Music« (Fairly 1992: 101). Auf Initiative der Ethnomusikologin und aktiven Feldforscherin Lucy Duran beispielsweise wurden bereits im Jahr 1987 zwei Serien aus dem British Sound Archive mit Feldaufnahmen der gambischen Harfe Kora veröffentlicht, weil sich dieses Instrument Ende der 1980er Jahre außerordentlicher Beliebtheit in Großbritannien erfreute. »In the UK in 1988 this kora music has been enjoying a deserved popularity amongst an increasing, non-specialist, concert-going audience. It has also been heard on daytime radio.« (Fairly 1992: 101) Dabei kam es durchaus auch darauf an, die »Authentizität« früher Aufnahmen zu reproduzieren. Die für heutige Ohren unzulänglichen technischen Möglichkeiten der Aufnahme- und Wiedergabeverfahren werteten diese Produkte auf, indem sie vor allem »Vergangenhaftigkeit« und Fernweh verkauften. Zweifellos waren unter den Käufern immer auch an den betreffenden Musikkulturen wirklich interessierte Spezialisten. Die Grenzen zwischen ethnologischen und kommerziell orientierten Aufnahmen traditioneller lokaler Musikformen sind heute fließend, vor allem was ihre Veröffentlichungspolitik seit den 1990er Jahren anging. Auch einige der zwischen 1933 und 1946 gesammelten Feldaufnahmen, zum Beispiel diejenigen, die aus der Alan-Lomax-Kollektion der Library of Congress New York stammen, wurden als Serien Ende der 1990er Jahre bei Rounder Records veröffentlicht. Sie geben interessante Einblicke in jene musikalische Periode, in der schwarze Sänger aus dem Süden der USA und der Karibik in der Begegnung mit europäischen Einwanderern neue transkulturelle Musikformen auf dem amerikanischen Kontinent hervorbrachten. Den Tondokumenten gemeinsam ist ihr Charakter als musikalische Momentaufnahmen. In ihnen wurde die Einzigartigkeit traditioneller oder/und lokaler urbaner Musikformen – meist vorgetragen von Spezialisten – zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme dokumentiert. Auch das notwendige Aufnahme-Equipment dürfte die Sänger, Musiker oder das Ensemble aus dem Kontext der »normalerweise« existie-
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renden Situation der Darbietung oder des Umgangs mit Musik herausgelöst haben, ungeachtet dessen, dass man derartige Aufnahmeprozeduren nicht in einem Tonstudio, sondern vor Ort durchführte. Insofern begannen mit der Fixierung von Klang durch konvertierendes technisches Equipment und entsprechende Apparaturen die Fragen der »Mediation« (Malm) für traditionelle Musikformen und ihre modernisierten Genres schon damals relevant zu werden. Archivieren Der Einsatz technischer Medien führt in den meisten Fällen zur Dekontextualisierung musikalischer Praktiken, zur Herauslösung von Klängen aus ihren eigentlichen funktionellen Zusammenhängen. In einigen Fällen haben traditionell organisierte dörfliche Kulturen diesen Ablösungsprozess für sich umgedeutet. Auf der im ersten Teil dieser Studie bereits erwähnten südpazifischen Insel Vanuatu hatte man im örtlichen Kulturzentrum in den 1990er Jahren Feste und Rituale aller Art in Wort und Bild dokumentiert (Ammann 2000). Das Ziel bestand nicht darin Material für wissenschaftliche Untersuchungen zu archivieren, sondern – und dies wünschten die Bewohner der Insel ausdrücklich selbst – diese für kultische Handlungen bereitzuhalten. In den Video- und Tonaufzeichnungen sahen bzw. vermuteten sie »Medien« mit mythischer Kraft für die Stärkung ihrer eigenen Identität. Sie sollten als mythische Objekte aufbewahrt und weder wissenschaftlich noch kommerziell »ausgewertet« werden. Ein interessantes Beispiel – so finde ich – zum Medienumgang der anderen Art. Das staatlich finanzierte Kulturzentrum auf Vanuatu stellte seine Räumlichkeiten für die Aufbewahrung dieser Dokumente zur Verfügung und sorgte dafür, dass zum Beispiel die Einflüsse des feuchtwarmen Klimas den Aufnahmen nichts anhaben können. Manchmal liehen sich die betreffenden Familien die Bänder aus, um sie im Kreise der Verwandten anzuschauen und anzuhören, allerdings unter Ausschluss der »Öffentlichkeit«. In Wien, Berlin, London, Paris oder New York hingegen können Wissenschaftler auf berühmte Sammlungsbestände von Phonogrammarchiven zugreifen (vgl. dazu auch Elschek u. a. 1992). Dort befinden sich vor allem Wachswalzen, die Ethnologen aufgenommen und für Forschungszwecke archiviert und zur Verfügung gestellt haben. Im kulturhistorischen Sinne handelt es sich dabei um Kostbarkeiten des musikkulturellen Gedächtnisses der Menschheit. Abgesehen von der Sammlungsperspektive bergen das Völkerkundemuseum in Berlin-Dahlem, die nordamerikanische Library of Congress oder das Phonogrammarchiv des Musikwissenschaftlichen Institutes der Universität Wien ein unwiederbringliches Reservoire historischer Momentaufnahmen traditioneller Musikkulturen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Projekte zur Sicherung dieser Daten sind ähnlich bedeutungsvoll und notwendig wie diejenigen zur Konservierung von Partituren berühmter europäischer Komponisten wie zum Beispiel Johann Sebastian Bach, die wegen des Bleigehaltes der verwendeten Tinte zu zerfallen drohen. Das Phonogrammarchiv in Wien beispielsweise wurde 1899 gegründet und ist heute das älteste Schallarchiv der Welt. 1901 entwickelte man dort einen speziellen 191
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Archivphonographen, der noch im selben Jahr bei Feldforschungsreisen nach Kroatien, auf die Insel Lesbos und nach Brasilien mitgenommen und eingesetzt werden konnte. Die technische Besonderheit bestand darin, dass man das auf der Tiefenschrift basierende Aufnahmeverfahren des Edison-Walzen-Phonographen mit dem Plattenformat des Grammophons kombiniert hatte. Das auf diese Weise entstandene Phonogramm ermöglichte eine leichte Matrizierung, die dafür sorgte, dass die Originalqualität der Aufnahmen weitestgehend erhalten blieb. Anfangs waren die im Feld verwendeten Phonographen außerordentlich schwer. Sie wogen bis zu 45 Kilogramm. Erst 1927 konnte man einen 9,5 Kilogramm leichten Aufnahmeapparat einsetzen, der bis zur Ära der elektrischen Aufnahmeverfahren 1931 verwendet wurde. Zu den berühmten Sammlungen des Wiener Phonogramm-Archivs gehören Aufnahmen aus Neuguinea, die aus den Jahren 1904 bis 1906 stammen, und aus der Wüste Kalahari (1907–1909), Aufnahmen aus Grönland (1906), von keltischen Minoritäten Europas (1907–1909) und von Basken (1913) oder auch Aufnahmen von Gesängen russischer Kriegsgefangener aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Recht berühmt wurden auch die Stimmporträts prominenter Persönlichkeiten wie zum Beispiel Kaiser Franz Joseph oder des Schriftstellers Arthur Schnitzler. Seit 1999 gehören Aufnahmen, die aus den historischen Beständen zwischen 1899 und 1950 stammen, zum Weltkulturerbe der UNESCO. Dass diese und vergleichbare Archive nicht nur von Interesse für Wissenschaftler und Museumsmitarbeiter sein können, sondern deren Aufnahmen sich auch als potenzielle »Sound-Banken« benutzen lassen, hat die kommerziell erfolgreiche Geschichte des Wiegenliedes von der Insel Malaita auf eindrucksvolle Weise gezeigt. Verändern Die Begegnung mit modernen Medien geht in den meisten Fällen mit der Veränderung, Umgestaltung und Umformung entsprechender Musikformen einher, Veränderungen, die sich sowohl in der ästhetischen Gestaltung als auch den Funktionen entsprechender Musikformen nachweisen lassen. Kulturkritisch eingestellte Beobachter würden sagen, sie werden in ihrer Eigenheit zerstört. Der schwedische Musikethnologe Krister Malm hingegen argumentierte, dass viele von ihnen nur so eine Überlebenschance haben. Technologische Einflüsse werden vor allem dort sichtbar, wo traditionelle Musikformen in unmittelbaren Kontakt mit den Möglichkeiten technischer Aufnahme-, Bearbeitungs- und Wiedergabeverfahren geraten. Krister Malm begegnete Anfang der 1990er Jahre einem Musiker vom Stamme der Wagogo aus Zentral Tansania, der Ende der 1980er Jahre zum ersten Mal allein nach Schweden gekommen war. Malm hatte ihn 1973 schon einmal während musikethnologischer Forschungsvorhaben in dessen Heimatdorf getroffen. Damals war er noch recht jung und bereits ein bekannter Musiker in Tansania, der die Traditionen seiner Region ausgezeichnet beherrschte. Mitte der 1970er Jahre begann er sich für Swahili 192
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Pop zu interessieren und lernte E-Gitarre und Keyboard spielen. In kleinen, vergleichsweise schlecht ausgerüsteten Musikstudios von Nairobi hatte er ein paar Schallplatten aufgenommen. In Schweden konnte er mit modernem Studio-Equipment arbeiten. In atemberaubender Zeit, so Malm (Malm 1993), machte er sich mit den Möglichkeiten der Studioarbeit vertraut. Es reichten ihm zwei Tage, fünf Stücke aufzunehmen, wobei er alle notwendigen Teile, Instrumente und Spuren allein aufs Band brachte. Darüber war der Musiker hocherfreut, hätte er doch im traditionellen Kontext eine ganze Gruppe von Musikern zur Realisation dieser Aufnahme gebraucht. Rein strukturell glichen die Aufnahmen jenen der Wagogo-Musik, allerdings hatte er sich für ein völlig neues Klangspektrum entschieden. Er nutzte gesampelte elektronische Drums, einen Synthie-Bass und computergenerierte Glissandi. Es waren insbesondere die Möglichkeiten digitaler Klangverarbeitung mit Rechnern, die seit den 1980er Jahren erhebliche Auswirkungen auf das Klangbild traditioneller Musikformen hatten. Der Sampler kann jeden x-beliebigen Klang speichern, bearbeiten und wiedergeben. Im Gegensatz zum Synthesizer, mit dem die Produktion künstlicher Klangwelten möglich ist, hält der Sampler jeden denkbaren natürlich oder künstlich hergestellten Klang zur musikalischen Bearbeitung bereit. Auch traditionell orientierte Musiker benutzten ihre »ursprünglichen« Instrumente dann vor allem, um deren Sounds im Computer zu speichern, sie von dort aus als Effekte in ihre Musik zu integrieren oder sie zum Ausgangsmaterial beispielsweise für rhythmische Muster oder bestimmte Klang-Plateaus zu machen. Live präsentiert werden solche Instrumente meist nur in Zusammenhängen, die das Fremde als Marketing-Strategie auch visuell auf die Bühne bringen. Beim Grand Prix de Eurovision zum Beispiel, einem europäischen Schlagerwettbewerb, kommen die Klänge ohnehin meist vom Band – es wird Playback gesungen oder gespielt. Das Besondere eines traditionellen Instrumentes, etwa aus dem finnischen Raum, muss dann allerdings auf der Bühne oder in den Choreographien präsent gemacht werden (vgl. Kapitel 3.1.3). In einer Untersuchung zur Auswahl von finnischen Beiträgen zum Grand Prix de Eurovision wurde darauf verwiesen (Pajala 2001), dass die Beiträge wie »Lapponia« aus dem Jahr 1977 von Monica Aspelund und Edea’s Song »Aava« von 1998 Versuche darstellten, das »Nordische« als etwas dem Europäischen gegenüber Differenten zu präsentieren. Die entsprechenden Instrumente erschienen nicht einmal mehr im Klang-Bild der Songs, wurden aber als »Requisiten« mit auf die Bühne genommen (ebd.). Der Vorwurf des Exotismus und die Kritik an der Auflösung und Verfälschung traditioneller Zusammenhänge gingen, so Malm, oftmals einher mit einer Tendenz zur peniblen Konservierung scheinbar unveränderlicher traditioneller Formen. Überall auf der Welt spürten Musiker in den 1980er und 1990er Jahren ihren Wurzeln nach, versuchten Instrumente und Gattungen im »Original« zu hören und entsprechender Instrumente, Aufnahmen und Beschreibungen habhaft zu werden. Dabei stießen sie auf musikalische Formen, die nicht selten über Jahrzehnte nicht mehr gespielt worden waren. Veränderungen wurden nicht zugelassen und es
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regierte eine verbissene Intoleranz gegenüber modernisierten Formen. Malm kommentierte, dass ein solches Herangehen mit der Lebendigkeit musikalischer Traditionen nichts gemein habe, weil gerade traditionelle Musikformen sich durch eine große Vielfalt an Varianten auszeichnen (Malm 1993: 349f.) und sich wegen ihrer oralen Tradierungen ohnehin permanent verändern. Das Festhalten an »historischen« Aufführungspraktiken war verbunden mit der präzisen Rekonstruktion verfügbarer Artefakte, zum Beispiel Instrumenten und davon abgeleiteten Spieltechniken. Puristische Haltungen – es möge so bleiben, wie es (angeblich) schon immer war – bestimmten dann nicht selten den Wertungshorizont gegenüber Musikern aus so genannten indigenen oder traditionellen Zusammenhängen. Sie mögen ihren Traditionen treu bleiben und sich Modernisierungsprozessen verweigern. So wurde zum Beispiel die australische Band Yothu Yindi, von deren Mitgliedern lediglich zwei heller Hautfarbe – also Nachfahren der europäischen Eroberer – sind, sowohl im eigenen Land als auch während ihrer Welttourneen immer wieder mit Authentizitätsvorstellungen derer konfrontiert, die eine Repräsentation reiner und an traditionellen musikalischen Formen orientierter Musik wünschten. Yothu Yindi mischte jedoch Eigenheiten bestimmter aboriginaler Musikformen, -instrumente etc., wie zum Beispiel Didgeridoo-Clapstick-Sounds, mit modernisierten bzw. globalisierten Musikformen, zum Beispiel Reggae. »Den Leuten« gefiel es, vom Feuilleton aber wurden sie zumeist mit schlechten Kritiken – dem Vorwurf der Verwestlichung und »vordergründige[r] Sensationshascherei« – bedacht. Was auf der Bühne und in den Songs und Videos zu hören und zu sehen war, entsprach nicht den verbreiteten westlichen Vorstellungen von Aboriginalität. Ein Didgeridoo solle aus einem Eukalyptusstamm sein und nicht aus einem elektronisch verstärkten Plastikrohr! Die Kritiken bezogen sich auch auf den offensiven Umgang mit den technischen Möglichkeiten der Sound-Verstärkung und -Synthese. Im Verständnis der meisten Westeuropäer ist ein Didgeridoo d a s Instrument des vortechnischen Zeitalters. Tatsächlich ist es eines der ältesten Instrumente der Welt und kommt ursprünglich aus kulturellen Zusammenhängen, in denen man nur in geringem Maße technische Werkzeuge benutzte. Einige Sprachen der Ureinwohner Australiens kennen noch heute zwar den Begriff für den Vorgang des Schneidens, aber nicht den des Messers, also des Werkzeuges selbst. Bis zum Kontakt mit den westlichen Kulturformen handelte es sich also bei den Aborigines um soziale Gemeinschaften, die weit entfernt waren von jeglichen Prozessen der Modernisierung, technischen Apparaturen und begrifflichen Vergegenständlichungen entsprechender Handlungen. Aus technologischer Perspektive ist ein Didgeridoo ein absolutes Lowtech-Instrument. Weil es traditionell aus einem gefundenen und kaum bearbeiteten Stamm des Eukalyptusbaumes besteht, einem australischen Hartlaubgewächs, ist es nicht auf eine gewünschte Tonhöhe stimmbar. Die Obertonreihe kann also immer nur über dem Ton aufgebaut werden, den das Instrument, abhängig von seiner Länge und Materialbeschaffenheit, schon vorgibt.
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In seinen Darstellungen zu verschiedenen Aspekten des Gebrauchs des Didgeridoos ging der australische Ethnologe und Kommunikationswissenschaftler Karl Neuenfeldt unter anderem den konkreten Problemen der technischen Integration des Didgeridoos im Studio nach. In seinem Artikel »The Didjeridu and the Overdub – Technologising and Transposing Aural Images of Aboriginality« (Neuenfeldt 1993) zeichnete er nach, wie reizvoll und zugleich auch technisch schwierig es war, ein Instrument wie das Didgeridoo mit dem Instrumentarium einer Rockband zu synthetisieren. Der Toningenieur und Produzent des Albums Mark Moffit erklärte ihm gegenüber, wie kompliziert und langwierig es war, das Didgeridoo so aufzunehmen, dass es mit den anderen Instrumenten der Band in einem harmonischen Verhältnis stehen konnte, und welche immensen technischen Aufwendungen notwendig waren, damit das gewünschte Sound-Bild überhaupt integriert werden konnte: »Technically (what we did) was figure out a way to play along with each yidaki (didjeridu) on a guitar string and tune the guitar to it […] and then look at that note on the tuner and put that noize on the tape machine at concert pitch and then tune (the tape machine) down to where that note read cuz there’s no other way of doing it. And that helped a lot because when it’s not it’s a terrible sound.« (Zitiert ebd.: 65)
Mit der Entwicklung Phonographischer Apparaturen veränderten sich musikkulturelle Zusammenhänge ganz erheblich. Sie verloren ihre Exklusivität und wurden letztlich allgegenwärtig verfügbar. Denn was gespeichert ist, kann beliebig reproduziert, verändert, über weite Strecken transportiert und verarbeitet werden. Ob dies als Verlust oder als Möglichkeit für die Fortexistenz traditioneller Musikformen gesehen wird, hängt immer von der Perspektive des Beobachters und der Kommentatoren ab. Erinnert sei in diesem Zusammenhang abschließend noch einmal an die Erklärungen von Mankuma Yunupingu, dem Didgeridoo-Spieler und Bandleader von Yothy Yindi. Angesicht der komplizierten Wechselwirkungen von traditionellen, aus bestimmten lokalen Kulturen stammenden und mittlerweile ebenso modernisierten Musikformen und den von technologischer und sozialer Modernisierung geprägten westlichen Kulturen legte er Wert auf die Feststellung, dass er sich keinesfalls als ein Museumsstück verstanden wissen will. Ähnlich geht es vielen Musikern mit migrantischem Hintergrund in den Metropolen und Städten Europas. Sie wollen nicht auf ihre so genannten Herkunftskulturen, deren Musik, Instrumente und Klänge reduziert werden, sondern Teil einer modernen globalisierten Kultur sein.
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3.2.2 TONTRÄGERFORMATE UND LOKALE MUSIKPRAKTIKEN Tonträger Tonträger als eine Existenzform populärer Musik Die Geschichte der technischen Speicherung, Übertragung und Wiedergabe von Musik und Klang mittels konvertierender Medien war im 20. Jahrhundert immer auch eine der zeitgeschichtlich konkreten Tonträger, der Systeme und Formate zur Speicherung und Konservierung klingender Musik. Was Ende des 19. Jahrhunderts mit der Phonographenwalze begann, hatte seinen vorläufigen Höhepunkt mit der Entwicklung und Einführung der Compact-Disc Anfang der 1980er Jahre gefunden. Die CD (bespielt oder unbespielt) ist heute immer noch ein weit verbreitetes Daten- bzw. Tonträgerformat, wiewohl die Tage ihrer Existenz angesichts von MP3-Formaten und den Vertriebsmöglichkeiten von Musik im Internet gezählt sind. Inwiefern reine Datenformate zukünftig die physischen Tonträgerformate verdrängen werden, darüber muss man heute kaum mehr spekulieren. Die lautstarken Kontroversen zwischen Musikwirtschaft, Urhebern und Nutzern von Musik zeugen von massiven Veränderungen und Brüchen in der Tektonik der Musikwirtschaft, die im 20. Jahrhundert zurecht als Tonträgerwirtschaft bezeichnet wurde, weil sich all ihre Aktivitäten um die Produktion, den Vertrieb und die Verwertung von Tonträgern gruppierten. Die Musikwirtschaft ist seit Ende der 1990er Jahre damit beschäftigt, sich der umfassenden Digitalisierung der Produktion und Distribution zu erwehren oder aber anzupassen (Stein 1999, Zombik 1999). Zu diesem Thema wurde in den vergangenen Jahren eine Flut von Publikationen aus unterschiedlichen Disziplinen erstellt, die im Kontext dieser Untersuchung nur in Bezug auf ihre Relevanz für die unmittelbare Themenstellung ausgewertet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte der Tonträger in Form der Vinyl-Schallplatte als wichtigstes Produkt der Musikindustrie und der Tonträgerwirtschaft eine zentrale Position in der Musikwirtschaft und wurde zu ihrem Kerngeschäft (Garofalo 2001: 110). Seit dieser Zeit gibt es in den westlichen Gesellschaften kaum mehr ein Stück Musik, das nicht auf einem Tonträger fixiert existieren würde. Tonträger sind historisch konkret – ob nun als Edisonzylinder, als Schellackplatte, als Langspielplatte, Musikkassette oder CD – zu einem eigenständigen, nahezu universellen Gegenstand musikalischer Mitteilung und Aneignung geworden, vor allem aber zum entscheidenden Gegenstand bzw. Produkt der Herstellung und Verbreitung von Musik auf industrieller Grundlage. Im Tonträger erhielt die ökonomisch bestimmte Zirkulation von Waren eine Form, eine Vergegenständlichung, die auf Märkten ausgetauscht, das heißt ver- und gekauft werden konnte. Musik wurde zum Wirtschaftsgut. Simon Frith (Frith 1987) ging so weit zu sagen, dass populäre Musik im 20. Jahrhundert eigentlich die populäre Schallplatte meint, den Tonträger als Medium der Kommunikation. Die erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Schallplatte entschied darüber, was Songs, Sänger und deren Aufführungen sind bzw. waren (ebd.: 54). Der »Point of Sale«, das heißt der Moment, an dem ein Tonträger im Handel bezahlt wird bzw. wurde, gilt als der archimedische Punkt der Musikindustrie (Wi196
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cke 2001a). Auf ihn waren alle Aktivitäten der Musikindustrie gerichtet, von der Auswahl der Künstler über die Promotion bis zum Marketing. Dieser Punkt bildete gleichsam die Schnittstelle zwischen den kommerziell organisierten und den sozial bestimmten Dimensionen des Musikprozesses, weil der Markt ein ökonomischer Ort ist, an dem durch das Zusammentreffen von Angebot und einer notwendigerweise zahlungsfähigen Nachfrage die Preisbildung für die gehandelten Produkte und Dienstleistungen stattfindet (Schulze 1996). Die Durchsetzung der Preise ist jedoch nur vor dem Hintergrund der Herstellung bestimmter Zielgruppen möglich, die ihrerseits stets durch soziale Faktoren (Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Einkommenssituation, Lebensmittelpunkt etc.) gekennzeichnet sind. Über den Tonträger realisierte die Musikindustrie ihre Umsätze, Verluste und Gewinne, strukturierte neue Märkte und schaffte Anreize zur Durchsetzung neuer Formate. Dabei war sie keineswegs in der Lage, diesen Prozess so zu organisieren, dass er gleich bleibend von monetärem Erfolg gekrönt gewesen wäre. Kulturelle Dispositionen, Wettbewerbskräfte allgemeiner und konkreter Art, politische Rahmenbedingungen, Urheberrechtsgestaltungen, lokale Besonderheiten und soziale Veränderungen blieben eine unberechenbare Größe im Umgang mit den jeweils neuen Formaten und stellen heutzutage angesichts der massiven Umsatzprobleme der auf Tonträger fixierten Musikindustrie neben den technischen Möglichkeiten des Vertriebs von Musik über das Internet die eigentlichen Herausforderungen für die Musikwirtschaft dar (vgl. dazu insbesondere Tschmuck 2003 und Renner 2004). Lange Zeit wurden Tonträger von der Musikforschung als bloße Mittler angesehen. Sie galten als technische Medien, die der lebendigen Musik entweder gegenübergestellt oder nachgeordnet wurden, als Möglichkeit, berühmte Interpretationen festzuhalten (Kier 2006) und insbesondere der erweiterten Analyse des Notenmaterials. Die eigentliche Bedeutung, die Tonträger im 20. Jahrhundert für das Musikleben spielen sollten, wurde seitens der Musikforschung ignoriert. Erst als die Wiedergabeverfahren sich im Laufe der Entwicklung der Langspielplatte so enorm verbesserten, besonders mit den High-Fidelity-Standards und der Stereophonie, ließ sich ihre Eigenständigkeit als Medium im Musikprozess kaum mehr verkennen. Für den Wiener Musiksoziologen Kurt Blaukopf jedoch waren Tonträger nicht in erster Linie in klangtechnischer Hinsicht interessant. Im Wissen um gesellschaftliche Komplexität – die sich für das Musikleben unter anderem im Tonträger mit seinen technischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Aspekten manifestierte – forderte Kurt Blaukopf, das Zusammenwirken von Soziologie und Psychologie, von Psychoakustik und Aufnahmepraxis, von Verhaltensforschung ebenso wie von Marktforschung in einer Art Schallplattenwissenschaft zusammenzudenken (Blaukopf 1970: 12). Leider sind musik- und medienwissenschaftlich orientierte Überlegungen dieser Art im Verlauf der jüngeren Geschichte vor allem im deutschsprachigen Raum kaum angestellt worden, mit Ausnahme einiger Arbeiten (Heister 1985, Jungheinrich 1985, Elste 1992, Wicke 1993, Smudits 2002, Tschmuck 2003, Vogt 2004, Hiebler 2005). Ein Grund dafür dürfte die anhaltend kulturkritische Perspektive
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sein, von der die kultur- und vor allem die musikwissenschaftlichen Debatten im deutschsprachigen Zusammenhang geprägt waren und eigentlich auch immer noch sind, wenn sie sich entsprechenden Phänomenen nähern. In musikwissenschaftlichen Diskussionen sind Begriffe wie die der Tonträgerindustrie, und mehr noch der Musikindustrie, mit ästhetischen Implikationen aufgeladen worden, die verhindert haben, der Komplexität entsprechender kultureller und ökonomischer Zusammenhänge – wie Blaukopf sie bereits Ende der 1960er Jahre forderte – wirklich umfassend und unvoreingenommen nachzugehen. Alles, was dem Menschen »gegenübertritt«, zum Beispiel Vergegenständlichungen von Musik auf einem Tonträger, wurde als etwas dem Menschen Fremdes kritisch bewertet und als Ergebnis des so genannten Entfremdungsprozesses be- und verurteilt. »Die bewahrende Fixierung des Werkes« – so Theodor W. Adorno – »bewirkt dessen Zerstörung: denn seine Einheit realisiert sich bloß in eben der Spontaneität, die der Fixierung zum Opfer fällt.« (Adorno 1973: 31) Mit dem Verlust des »Ereignischarakters« bei ihrer unmittelbaren Hervorbringung und der Versachlichung von Musik, eben zum Beispiel auf einem Tonträger, änderte sich folgerichtig der Stellenwert von Musik in der Erfahrungswelt von Menschen. Ihre unmittelbar an menschliche Körper und Instrumente gebundene Hervorbringung im Konzert oder anderen Formen der Darbietung von Musik durch lebendige Musiker im Gegensatz zur technischen Fixierung zu präferieren, spricht in letzter Konsequenz einem Großteil musikalischer Umgangsformen die Bedeutung ab, die sie für viele Menschen seit dem 20. Jahrhundert im Zuge der Medialisierung bekommen hatte. Wenn die Komplexität des Musiklebens bzw. des Kulturprozesses in den Blick kommen soll, dann macht es wenig Sinn, die Wirkkraft ökonomischer Zusammenhänge als eine dem Musikleben bzw. Kulturprozess fremde Sphäre zu begreifen und in den Analysen auszublenden. Es ist der Ware-Geld-Mechanismus, der im Zuge des gesellschaftlichen Wandels hin zur bürgerlichen Gesellschaft allgemein geworden war und die wachsende Bedeutung der Verwertung von Musik zur Folge hatte. Mit der allmählichen Ausdifferenzierung der Akteure und Institutionen des bürgerlichen Musikbetriebes im 18. und 19. Jahrhundert – vor allem in Konzertbetrieb, Verlagswesen, Agenturen und Musikkritik – und mit dem Entstehen der so genannten musikalischen Öffentlichkeit gelangte Musik in kommerzielle, das heißt wirtschaftliche Zusammenhänge. Die sich damals zunehmend manifestierenden Formen einer solchen Infrastruktur sind Ausdruck der Entwicklung von Märkten. Über sie werden die Prozesse des Austausches der kulturellen Güter organisiert. Die entsprechenden Organisationsformen vermitteln die erforderlichen Kontakte für die in diesen Zusammenhängen agierenden Individuen. Ohne entsprechende Kontakte in das System der Organisationsformen und die Aneignung eines spezifischen Fachwissens als Verleger, Agent, Veranstalter, Musikkritiker und auch als Künstler gibt es keine Teilhabe am Musikbetrieb. Im Ergebnis dieser immer wieder neu auszuhandelnden Positionen entstehen zugleich die Diskurse über kulturelle Bedeutungszuweisungen (Ruppert 1998: 74).
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Die Teilnahme an einem musikalischen Ereignis wurde im Zuge der Verbürgerlichung des Musiklebens und der Entstehung des Musikbetriebes über den Kauf von Eintrittskarten oder Noten und über Verzehrgelder geregelt. Mit dem Kauf einer Eintrittskarte erwirbt man den Anspruch auf eine Dienstleistung in Form der Aufführung. In der säkularisierten Welt des Kapitals entsteht also frühzeitig schon ein Musikunternehmertum (Wicke 1998: 20f.), das im Zuge des Erwerbs von Musik auf einem Tonträger nur eine spezifische Form erhalten hat. Kapitallogisch ist die Schallplatte also keineswegs die erste Darstellungsweise eines dem Menschen durch fortschreitende Arbeitsteilung und Rationalisierung gegenübertretendes musikalischen Phänomens. Sie ist nur eine besondere »Darstellungsweise«. Wachswalzen, Schellackplatten, Vinyl-Singles, Musikkassetten, CDs und heute auch die digitalen Formate zur Distribution via Internet haben die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ganz entscheidend geprägt. Im Verlauf der vergangenen einhundert Jahre wurden das Musikleben und der Musikgebrauch immer mehr von den entsprechenden Formaten bestimmt. Im Folgenden sollen deshalb einige Aspekte der Bedeutung bestimmter Tonträgerformate für lokale Musikpraktiken und die Herausbildung globalisierter Musikformen aufgezeigt werden. Entgegen der aus kulturkritischen Perspektiven vorgetragenen Befürchtungen, dass Tonträger und Tonträgerindustrie tendenziell zur Zentralisation der Produktion und weltweiten Homogenisierung des Musikgeschmackes führen würden, gibt es in der Geschichte Phonographischer Entwicklungen Phänomene, die dieser Annahme zuwiderlaufen. VinylVinyl-Singles erobern die RadioRadio-Charts Die Geschichte des Rock ’n’ Roll sollte sich als ein kommerzielles Resultat eines historischen Entwicklungsprozesses erweisen, der stark von verschiedenen Aspekten phonotechnischer Entwicklungen und medienorganisatorischer Veränderungen beeinflusst war, die sich zunächst in konkreten lokalen Zusammenhängen abspielten und später eine globale Dimension erlangen sollten. Noch im Zuge der kriegsbedingten Verknappung – Mitte der 1940er Jahre – von Schellack, die eine materialbedingte Begrenzung der Produktion von Schallplatten aus diesem Material zur Folge hatte, beschlossen die wichtigsten US-Labels, die Veröffentlichung von afroamerikanischer Musik einzustellen (Garofalo 2001: 131). Sie überließen dieses Geschäft den kleinen lokalen Labels. Zeitgleich befanden sich Musikverlage und Rundfunkunternehmen im Streit über Tantiemenerhöhungen. Die Rundfunkunternehmen boykottierten daraufhin die großen Tonträgerunternehmen und deren Verlage und bedurften fortan der Belieferung durch kleine lokale Labels und deren Repertoire-Schwerpunkte: Country ’n’ Western, vor allem aber Rhythm ’n’ Blues. In den lokalen Radiostationen begann man, das Programm zunehmend entlang der Begeisterung für die verschiedenen regionalen Musikstile aus dem Country ’n’ Western- und dem Rhythm ’n’ Blues-Bereich zu gestalten. Der in diesem Zusammenhang bekannt gewordene Radio-DJ Alan Freed, prominent geworden durch die 199
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»Moondog Rock and Roll House Party«, wechselte 1954 mit seinem Programmkonzept in die Musikmetropole New York. Dort erlangte die Show unter dem Namen »Alan Freed’s Rock ’n’ Roll Party« innerhalb kürzestes Zeit enorme Popularität und wurde bald schon USA-weit ausgestrahlt. Die Zuhörer bestanden nun keinesfalls mehr ausschließlich aus schwarzem Publikum. Die regionale Reichweite nahm zu. Schon 1952 konnte der Dolphin Record Store in Los Angeles bekannt geben »dass 40 % des Umsatzes bei Rhythm & Blues-Platten auf weiße Jugendliche zurückgehen« (Wicke 1993: 97). Die Dezentralisierung von Produktentscheidungen und Vertrieb sollte im Laufe der Geschichte populärer Musik an Bedeutung nicht verlieren. Dabei spielten – anders als man vielleicht vermuten würde – insbesondere ökonomische Erwägungen eine wichtige Rolle. Mit der Einführung des Fernsehens 1951 in den USA traten an die Stelle der so genannten Network-Radios (Rundfunksenderketten) »lokale Rundfunkstationen, die sich als das effektivste Medium für die lokalen Werbeanbieter erwiesen – zu einer Zeit, als sich die Zahl der Rundfunksender in den USA von über 1.000 im Jahre 1946 auf mehr als 2.000 im Jahre 1948 verdoppelte« (Garofalo 2001: 132). Die wohl bemerkenswerteste Rolle für Dezentralisierungsprozesse und die Aufwertung lokaler kultureller Zusammenhänge »jenseits« und auch parallel zu den eher zentral organisierten der Musikindustrie spielte die Musikkassette. Auch wenn sie als Tonträgerformat heute nahezu gar keine Rolle mehr spielt – mit Ausnahme von Kassettenproduktionen für Kinder – soll im Folgenden anhand einiger Beispiele aus der Geschichte populärer Musik nachgezeichnet werden, welche Bedeutung dieses Tonträgerformat für lokale Musikprozesse im Globalisierungsprozess hatte. Musikkassetten - ein dezentralisierendes Format Die von Philips Electrical entwickelte Musik-Kassette, ein Magnettonband in einem genormten Plastikgehäuse, wurde 1963 auf den Markt gebracht. Unkompliziert in der Handhabung, wiederbespielbar und im Auto abspielbar, Arbeitsmittel für Demo-Produktionen sowie für den »Hausgebrauch«, und trotzdem behaftet mit Verschleißerscheinungen, die nur eine begrenzte Lebensdauer erlaubte, wurde die Musikkassette zu einem äußerst beliebten und respektablen Tonträgerformat vor allem in den 1970er und 1980er Jahren. Schon 1965 konnte ein durch die Firma Ray Dolby realisiertes Rauschunterdrückungssystem die Klangqualität von Tonbändern und Kassetten erheblich verbessern. Die für die damalige Zeit äußerst robuste Konstruktion und Störunanfälligkeit von Musikkassetten ermöglichte ihre Nutzung jenseits fester Abspielgeräte, der elterlichen Wohnung oder dem Ruhezustand des Körpers – und damit die Entwicklung beweglicher Tonträger, die es zuvor so noch nicht gegeben hatte: tragbare Kassettenrekorder, Abspielgeräte in Kraftfahrzeugen und schließlich den Walkman. Das sollte erhebliche Konsequenzen für den Gebrauch von Musik haben. Die Anziehungskraft der Musikkassette veranlasste viele Tonträgerunterneh200
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men, ihre Produktionen parallel zur Schallplatte auch auf einer Kassette anzubieten. Dennoch waren nur knapp mehr als ein Viertel der 1,15 Millionen weltweit verkauften Kassetten 1978 nach einer Marktuntersuchung des BASF-Konzerns bespielte Kassetten (Wicke/Ziegenrücker 1997: 340). Zum Ende des 20. Jahrhunderts nahm in den westlichen Ländern die CD die Position der Musikkassette ein, insbesondere auch was das Verhältnis von bespielten und unbespielten CDs angehen sollte. Die weltweiten Verkaufszahlen von Musikkassetten unterschieden sich zum Ende der Ära der Musikkassette in Deutschland jedoch regional sehr erheblich. In bestimmten Regionen der Welt nahm die Musikkassette weiterhin eine zentrale Rolle ein. Die von der IFPI für das Jahr 1998, dem Jahr, in dem weltweit mit 3,294 Millionen Einheiten die meisten physischen Tonträger aller Zeiten verkauft wurden (IFPI 2007: 71), kumulierten Zahlen zum Verkauf bestimmter Tonträgerformate wiesen folgende Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Ländern auf: • Der Anteil von verkauften Musikkassetten betrug in Deutschland nur noch 8,8 Prozent und in Frankreich 9,3 Prozent. • Der Anteil von verkauften Musikkassetten lag in Ungarn und Polen hingegen um die 50 Prozent. • In Litauern waren von 100 verkauften Formaten 87 Stück Musikkassetten. • Einen noch höheren Wert vermeldeten Russland und Bulgarien: 93 Prozent bzw. 94 Prozent der dort verkauften Tonträger waren Musikkassetten. • In den USA betrug der Anteil immer noch knapp 15 Prozent, in Spanien 19 Prozent. Noch viel deutlicher fielen die Ergebnisse auf dem asiatischen Kontinent und in Nordafrika aus: • In China lag der Anteil von Musikkassetten bei 89 Prozent, in Indien gar bei 98,8, also fast 100 Prozent. Derselbe Wert, nämlich 99,6 Prozent, wurde auch in Ägypten erreicht, sieht man von ein paar hundertstel Prozent ab. • Betrug der Anteil in Ghana 91,4 Prozent, so wurde er für Südafrika auf 32,4 Prozent beziffert. Schon diese erheblichen Unterschiede verdeutlichen, dass auf Grund bestimmter ökonomischer Rahmenbedingungen und kulturellen Dispositionen die Macht der an die jeweils hoch entwickelten Tonträgerformate gebundenen Unternehmen in den Regionen der Welt auch zu Hochzeiten der Tonträgerwirtschaft begrenzt war. Selbst wenn die von der IFPI ausgewiesenen Zahlen zum internationalen Verkauf von Musikkassetten sich auf bespielte Musikkassetten beziehen, waren diese Tonträger in zweiter Instanz immer auch wiederbespielbar. Den hier nach Ländern differenzierten Anteilen von Musikkassetten aus dem Jahr 1998 lassen sich einige weitere interessante Zahlen hinzufügen. Im Jahr 1989 betrug der Anteil verkaufter Musikkassetten weltweit noch 59 Prozent, im Jahr 2006 nur noch 5,7 Prozent (IFPI 2007: 71).
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Neben dem statistischen Beweis zum Niedergang der Musikkassette angesichts anderer verfügbarer Tonträger- und Datenformate lassen die aufgeführten Zahlen mindestens zwei Schlussfolgerungen zu: 1. Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem in den Regionen, in denen die Musikkassette Ende der 1990er Jahre eine zentrale Rolle spielte, spezifische Gebrauchsformen im Umgang mit gespeicherten Musikformen existierten. Damit verbunden waren immer auch eigene Märkte, die wegen der ökonomischen Rahmenbedingungen, vor allem dem Fehlen einer industriell organisierten Infrastruktur bei der Herstellung und dem Vertrieb von Musik, der eher unkomplizierten Herstellung und dem Vertrieb von Musikkassetten den Vorrang gaben. 2. Es müssen nicht ausschließlich lokal verankerte Musikformen gewesen sein, die auf Musikkassetten gespeichert wurden. In Bulgarien oder Russland waren es nachweislich vor allem Raubkopien von CDs, die auf Kassetten vertrieben wurden. Diese Vermutung legen zumindest die ebenfalls von der IFPI erstellten Zahlen zum Anteil der so genannten »Domestic Soundcarrier Piracy« nahe. Der Begriff der »Piraterie« bezog sich hier »auf die Vervielfältigung von Tonträgern zur Erzielung kommerziellen Gewinns ohne Zustimmung der rechtmäßigen Eigentümer (in der Regel Künstler, Verleger und Tonträgerunternehmen). Wenn nun eine entsprechende nationale Gesetzgebung nicht existiert, unzulänglich ist oder aus verschiedenen Gründen nicht effektiv exekutiert wird, bedeutet dies, dass unrechtmäßige Vervielfältigungen in diesen Ländern nicht geahndet werden können, oder schlicht de facto nicht geahndet werden.« (Smudits 1998: 28)
Piraterie mittels Musikkassetten stand darum in Konkurrenz zu legal verkauften Tonträgern. Denn illegal hergestellte Tonträger, zumeist im Kassettenformat, wurden in der Regel billiger verkauft als legal verkaufte Schallplatten und CDs. In Europa waren es die Länder Bulgarien, Estland, Litauen, Rumänien, die Ukraine und Russland, in denen Ende der 1990er Jahre über 50 Prozent Tonträgerpiraterie mittels Musikkassetten vermutet wurden, in Zypern, Polen und Slowenien 25 bis 50 Prozent, in Finnland, Griechenland, Ungarn und Italien 10 bis 25 Prozent und in den verbleibenden Ländern unter 10 Prozent. Erst ein Anteil der Tonträgerpiraterie von unter 10 Prozent lässt darauf schließen, dass die entsprechenden Märkte musikwirtschaftlich damals »unter Kontrolle« waren! Bekanntermaßen steht insbesondere seit Beginn des neuen Jahrhunderts die Musikindustrie weltweit und vor allem in den westlichen Ländern vor immensen Ausmaßen der Tonträgerpiraterie sowohl mittels physischer Formate (CD) als auch nichtphysischer (Download). Angesichts des Vorhandenseins unbespielter und wiederbeschreibbarer CDs und der technischen Möglichkeiten digitaler Download- und Streamingverfahren wurden im Jahr 2001 erstmals mehr unbespielte als bespielte CDs verkauft. Nach wie vor ist deshalb der Anteil der so genannten »Domestic Music Piracy« hoch. In Litauen, Rumänien oder Russland lag er auch 2006 bei über 50 Prozent. Länder, die zu Zeiten von Musikkassetten einen eher geringeren Anteil von Tonträgerpira-
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terie aufwiesen (zum Beispiel Griechenland mit 10–25 Prozent), wurden 2006 unter der Gruppe der über 50-prozentigen Tonträgerpiraterie erfasst (IFPI 2007: 18). Doch bleiben wir im Zeitalter der Musikkassette. Für Ägypten wurde die Tonträgerpiraterie 1998 auf einen Wert zwischen 25 und 50 Prozent geschätzt. Das Verhältnis zum exorbitanten Gebrauch von Musikkassetten lässt ungeachtet dessen darauf schließen, dass ein Großteil der auf Kassetten verkauften Musik einheimische Produktionen enthielt. Vergleichbares dürfte für Indien gegolten haben. Auch dort lag der Anteil der so genannten Tonträgerpiraterie unter 50 Prozent, wohingegen die hohen Anteile von Musikkassetten in Indien mit einer Zahl von 50 Prozent Tonträgerpiraterie korrelierte. In Ghana wurde dieser Wert mit 10 bis 25 Prozent veranschlagt. Das ist wiederum ein Verweis darauf, dass sich die Musikkassette dort nicht in erster Linie deshalb so großer Beliebtheit erfreute, weil man mit ihr so günstig und unkompliziert Musik überspielen kann, sondern dass auf Grund der schlechten infrastrukturellen Bedingungen in Ghana keine andere Möglichkeit existierte als die der Produktion und des Vertriebes von Musikkassetten. Mit Raubkopien werden in diesen weniger industrialisierten Ländern noch heute die größten Umsätze erzielt. Also ist es kein Zufall, dass in ihnen die Musikkassette nach wie vor ein wichtiges Tonträgerformat darstellt. Der Musikethnologe Veit Erlmann berichtete Anfang der 1990er Jahre aus Ghana, dass die enorme Verarmung im Land dazu führte, »dass wir ghanaische Musiker hier im Westen als lebende Zeugnisse einer weltumspannenden kulturellen Gemeinschaft zu feiern vermögen. Dahinter steht nichts anderes als die wachsende Verarmung der städtischen Mittelschichten in den Ländern der dritten Welt, sodass […] Musiker [in Ghana – S. B.-P.] einfach nicht mehr überleben [konnten]. […] Konkret sieht das dann so aus, dass Schallplattenaufnahmen dort gar nicht mehr möglich sind, eine funktionierende Musikindustrie nicht existiert. Stattdessen ist in diesem Fall alles nach Hamburg und Toronto verlagert und kommt dann […] wieder nach Ghana zurück […]. Die Musiker bringen ihre eigenen Platten ins Land zurück und verkaufen sie dann an so genannte Recording-Studios, die überall in den Städten existieren und nichts als Anstalten zum Schwarz-Kopieren sind. Jeder Kunde kann sich hier seinen eigenen Mix zusammenstellen, der dann für einen bestimmten Betrag auf Kassette kopiert wird. […] Das Lokale ist damit zwar immer noch irgendwie lokal, auch wenn es sich nach Toronto oder nach Hamburg verlagert hat, aber gleichzeitig ist es auch gnadenlos dieser anonymen Verflechtung ausgeliefert.« (Erlmann/Wicke 1992: 5)
Waren im Falle Ghanas Kassetten die wahrscheinlich einzige noch verbliebene Möglichkeit, eine eigentlich nicht vorhandene Tonträgerproduktion am Leben zu erhalten, konnte in Indien die Kassettentechnik ihre Potenz als »dezentralisierendes Mikromedium« (Manuel 1991) in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen des Musiklebens entfalten. Sie wurde zum Initiator weit reichender musikkultureller Praktiken.
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Der Musikethnologe Peter Manuel hatte in den 1980er Jahren die interessante Geschichte der Musikkassetten in Indien verfolgt und konnte ihren Einflusses auf bestimmte Formen der regional sehr verschiedenartigen musikalischen Traditionen nachweisen. Zusammenfassend stellte er fest: »Cassettes have served to decentralise and democratise both production and consumption, thereby counterbalancing the previous tendency toward oligopolisation of international commercial recording industries.« (Ebd.: 189) Manual bezeichnete die Musikkassette als ein dezentrales Mikromedium im Gegensatz zu den zentralisierenden Makromedien wie Rundfunk, Fernsehen, Schallplatte und Film. Die Zusammenhänge, in denen diese zentralisierenden Makromedien stehen, sind nur mit großem technischen und finanziellen Aufwand zu organisieren. Zudem konnten sie in den so genannten Dritte-Welt-Ländern zumeist lediglich in Gestalt lokaler Dependancen der international agierenden Tonträgerunternehmen Fuß fassen. Vor allem in den ehemaligen Kolonien Großbritanniens und der Niederlande war dies im Laufe des 20. Jahrhunderts der Fall. Peter Wicke recherchierte: »Die 1908 als Tochter der britischen Grammophon Company in Calcutta gegründete Grammophon Company India – heute ebenso wie die Muttergesellschaft Bestandteil der EMI – vermochte durch Exklusivverträge mit dem Einzelhandel bis Ende der 60er Jahre auf dem riesigen indischen Markt ein faktisches Alleinmonopol zu halten. Und selbst danach änderte sich die Situation nur insofern, als mit Polydor ein anderer Großer der Branche erfolgreich auf den indischen Tonträgermarkt drängte.« (Wicke 1995: 150)
Nach Manuels Untersuchungen wurden Mitte der 1980er Jahre in Indien 95 Prozent aller Tonkonserven im Kassettenformat verkauft, wogegen die Schallplatte zu einem exklusiven Luxusartikel geworden war. Bereits Ende der 1970er Jahre gab es kaum noch Musik, die ihre mediale Existenzform nicht auf einer Kassette gefunden hatte. Die massenhafte Anwendung der Kassettentechnik führte zu sehr verschiedenen musikkulturellen Phänomenen: • die Transformation traditioneller Formen indischer Popmusik in moderne Popgenres; • die Wiederbelebung und Wiedererweckung traditioneller Musikformen und • die Entstehung parodistischer Versionen von Film- und Popmusik. Allen gemeinsam war die spezifische mediale Präsenz regionaler Musikformen und damit eine wichtige Funktion im Prozess der Bestätigung und Konstruktion kultureller und sozialer Identität im Vielvölkerstaat Indien. Allerdings bewertete Peter Manual diesen Prozess der reproduzierten Vielgestaltigkeit nicht per se als einen positiven. Diversifikationsprozesse können seiner Meinung nach auch ein hohes Maß an Konfliktpotenzial ent- und erhalten, etwa in Bezug zum in Indien nach wie vor tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankerten Kastensystem. Reproduzierte Vielgestaltigkeit neige tendenziell zu kultu-
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rellen Fundamentalismen, wenn nicht gar regionaler Borniertheit. Die Mediatisierung regional spezifischer traditioneller und modernisierter Musikformen durch Kassettentechnik vollzog sich als ein spannungsreicher und vor allem nicht widerspruchsfreier Prozess. »Tradition« und »Fortschritt«, »Konservierung« und »Öffnung« gingen dabei immer wieder komplizierte Allianzen ein. Die mit dem Kassettenboom der 1980er/90er Jahre in den betreffenden Ländern entstandenen Aufnahmestudios, Überspiel- und Kopiermöglichkeiten, Kassettenrekorder und Kassettenproduktion bildeten in vielen Ländern der so genannten Dritten Welt oftmals die infrastrukturelle Grundlage einer quasi auf vorindustriellem handwerklichen Niveau organisierten Musikproduktion. Nur größere Studios verfügten über 16-Spurgeräte, die meisten konnten sich nur 4-Spurgeräte leisten. Das CD-Cover einer 2001 veröffentlichten Anthologie von Rap aus dem Senegal, Mali und Gambia zeigt einen bis unter die Decke mit Kassetten gefüllten Laden auf dem Sandaga-Markt in Dakar, und der Herausgeber dieser Compilation kommentierte im Booklet: »Die Kids in Gambia verfolgen schon lange im Radio oder Fernsehen, was im knapp 5 Stunden entfernten Dakar los ist. Viele senegalesische HipHop Bands kamen nach Gambia, um dort aufzutreten und ihre neuen Kassetten vorzustellen. Andersherum gingen auch einige Bands aus Gambia nach Dakar, um ihre Kassetten aufzunehmen und zu vervielfältigen […].« (Rutledge 2001)
Der Großteil der Rekorder wurde importiert oder von Gastarbeitern, die im westlichen Ausland arbeiteten, direkt eingeführt. Bespielte und Leerkassetten gelangten ebenfalls zumeist über Importe ins Land oder wurden von transnationalen Firmen und deren Dependancen vor Ort hergestellt und verkauft. In Kenias Hauptstadt Nairobi warb Anfang der 1980er Jahre eine riesige Neonreklame für BASF: »The best tape to use«. Als Krister Malm und Roger Wallis zur gleichen Zeit während einer Forschungsreise Nairobi besuchten, gehörte BASF, eine der weltweit bekanntesten Hersteller von Leerkassetten, als Teil von Siemens zu 50 Prozent der PolyGram. Der Manager von PolyGram Records Kenia beklagte damals den Umstand, dass Hometaping all seine Bemühungen zum Verkauf von Schallplatten und bespielten Musikkassetten untergrabe. Einigermaßen skurril mutet diese Aussage an, wenn man weiß, dass die Büros von PolyGram Records Kenia sich im Seitenflügel einer Fabrik zur Herstellung von Radio-Kassettenrekordern der Marke Philips befanden. Bereits 1962 hatten Siemens und Philips ihre Tonträgerinteressen zusammengefasst und gründeten die DGG-PPI-Gruppe in Hamburg und im holländischen Baarn, aus der 1972 die Holding PolyGram GmbH hervorging (Schulze 1996). Unter dem Motto »copy kills music« starteten die deutsche Musikwirtschaft und ihre Branchenvertreter Anfang der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts eine Kampagne, die die vielen – angeblich vor allem auf Schulhöfen verteilten – Ko-
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pien von Musik-CDs – anprangerte. Was die Hardwareindustrie (z. B. Sony) als Rohlinge massenhaft verkaufen konnte, wurde den Tonträgerunternehmen bzw. Labels (z. B. Sony Music Entertainment) zum Verhängnis. Gleiches galt offenbar genauso für die Zeit der Musikkassetten und hier im konkreten Falle der Produktion von Radio-Kassettenrekordern der Marke Philips unter einem Dach mit den Büros von PolyGram Records Kenia! Was nützt es, die enormen Piraterie-Raten anzuprangern, wenn die dafür notwenigen Geräte quasi nebenan produziert bzw. als Importe und Direktinvestitionen in die entsprechenden Länder gelangen? Allerdings stehen die unterschiedlichen Unternehmenstypen, die unter ein und demselben Kapital in global vernetzten Unternehmensstrukturen agieren, auch untereinander in Konkurrenz. Das ist vor allem dann der Fall, wenn sie nach dem Prinzip von Profit-Centern organisiert sind und die ihnen von den Vorständen zugewiesenen Budgets selbst verantwortlich mehren und folgerichtig in Konkurrenz zueinander treten müssen. In Sri Lanka und Tunesien hatte die Musikkassette in den 1980er Jahren, so Malm, die Schallplatte vollständig vom einheimischen Markt verdrängt. Die Tonträgerunternehmen hörten nicht auf, diesen Fakt unter Hinweis auf die exorbitanten Piraterie-Raten zu beklagen. Die eigentlichen Verlierer dieser Situation waren – vergleiche den Bericht von Veit Erlmann aus Ghana – die Künstler und Komponisten der betreffenden Länder. Während die Konkurrenz von Tonträgerunternehmen und Geräteindustrie offenkundig für Probleme und anhaltendes Lamento auf Seiten der Tonträgerindustrie sorgte, hatte sich ein anderer, quasi unbegrenzter Markt für sie aufgetan: die Verwertung der Urheber- und Verlagsrechte. In den angesprochenen Ländern gab und gibt es kaum funktionierende Gesetzgebungen, die diese Bereiche regeln: »Even there is no functioning publishing system for local artists in Kenya, despite the presence of the PRS for numerous years, local composers who record for Polygram are expected to assign their rights to Chappell, who will look after their songs should they become popular, say, in Europe. Such rights can pick up quite cheaply in the developing world. In Europe such rights are more expensive, but the potential for profitability is clearly present.« (Malm/Wallis 1984: 79)
Die Musikkassette – hier beschrieben vor allem in ihren Möglichkeiten als ein so genanntes dezentralisierendes Medium – bot einerseits lokalen bzw. regionalen Musikpraktiken ein Medium der Existenz jenseits global organisierten und ausgerichteten Musikunternehmertums. Wegen ihrer Robustheit, ihrer unkomplizierten technischen Handhabbarkeit bei der vergleichsweise preiswerten Aufnahme und Wiedergabe von Musik, ihrem Vertrieb und ihrer Lagerung konnte sie in das Musikleben allerorts sehr individuell – man denke an das Phänomen Mixtape – und kulturell spezifisch integriert werden. Andererseits war ihre Existenz immer auch von sehr widersprüchlichen Erscheinungen geprägt. Indem man – wenn auch im Vergleich zum verlustfreien Kopieren digitaler Daten – munter kopierte, entzog
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man Musikern aus Ländern der so genannten Dritten Welt die Möglichkeit, mit fixierter Musik wenigsten einen Anteil ihre Existenz zu sichern. In letzter Konsequenz sind Musikkassetten in diesen Zusammenhängen kein widerständiges Medium – wie oft von ihren Protagonisten erhofft (vgl. auch Binas 1996 und 1999) – sondern die einzige verbleibende Möglichkeit, wenigstens am Rande technologischer Entwicklungen Teil des modernen Musiklebens bzw. Mediengeschehens zu sein, dass so maßgeblich von der Fixierung ihrer Klänge geprägt ist, um sich anderen (z. B. Punkszene in der alten Bundesrepublik, Kassettenszene in der DDR, Hip-Hop-Szene im Senegal und anderswo) mitzuteilen bzw. untereinander ohne die Kontrolle Dritter – ob ökonomisch oder politisch motiviert – zu kommunizieren. 3.2.3 S AMPLING THE »WORLD« KLÄNGE IM ZEITALTER IHRER DIGITALEN R EPRODUZIERBARKEIT Sampling - eine Medientechnik Medienästhetik – so Ralf Schnell – sei vor allem dadurch gekennzeichnet, »wie sie ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten, ihre Techniken, ihre Mittel zur Verarbeitung von vorgegebenen oder hergestellten Inhalten und Gegenständen einsetzt« (Schnell 2000: 208). Auch wenn die vorliegende Untersuchung der Bedeutung technologischer Entwicklungen Aspekte des sozialen Gebrauch, der ökonomischen Vermittlung und der ästhetischen Aneignung populärer Musikformen gleichstellt, soll im Folgenden einmal näher betrachtet werden, wie eine Technologie der Musikproduktion – hier Sound-Sampling – den Zusammenhang von lokalen Musikpraktiken und globalen Kulturprozessen und insbesondere den Fakt der nahezu unbegrenzten medialen Verfügbarkeit von Klängen beeinflusst hat. Dabei will ich mich auf solche Phänomene konzentrieren, die offenkundig die ästhetischen Erfahrungswelten der Aneignung von »Welt« mittels Sound-Sampling beispielhaft und nicht so sehr im übertragenen Sinne aufzeigen. Die eingangs dieser Untersuchung ausführlich geschilderte mediale »Reise« eines melanesischen Wiegenliedes war unter anderem genau dieser Reproduktionstechnologie von Klang geschuldet. Dennoch sind ein paar allgemeine Aussagen zum Thema Sampling nicht zu vermeiden. Weil Sampling kein Begriff ist, der originär aus den Zusammenhängen der Klangproduktion stammt, griffen Wissenschaftler insbesondere in den 1990er Jahren ihn für Erklärungsmodelle auf, die »weit über den Bereich der Kunst auf andere Bereiche der Produktion von Symbolen« hinausragten und als »spezifisches Symbolgewinnungsverfahren in der gesamten symbolischen Kultur« (Reck 1995: 6) verstanden werden konnten. Sound-Sampling umfassend auszuleuchten, stellt ein schier unmögliches Unterfangen dar. Aus musik- und medienwissenschaftlicher Perspektive haben Andrew Goodwin (Goodwin 1990) und Rolf Großmann (insbesondere Großmann 207
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1995) dazu die meines Erachtens wichtigsten Überlegungen veröffentlicht. Für Großmann ist Sampling insbesondere mit dem Zugriff auf schon vorhandenes Medienmaterial – vergleiche die Veröffentlichung ethnologischer Aufnahmen als Ausgangsmaterial für kommerziell erfolgreichen Song »Sweet Lullaby« – verbunden. Großmann beschreibt Sampling als »eine Kulturtechnik des Medienzugriffs, die mit Bruchstücken dieser Strukturen spielt und diese dem gesellschaftlichen und ästhetischen Diskurs zuführt« (Großmann 1995: 38). Zusammen mit technischen Verfahren der Klangsynthese stellt SoundSampling eine maßgebliche Produktionstechnologie populärer Musik dar. Seit den 1980er Jahren kommt es in den unterschiedlichsten Stilistiken und Gattungen populärer Musik vor, manchmal hörbar und explizit verwendet, meist jedoch als effektive Methode der rationellen Produktion und Reproduktion von Klängen mit Mitteln der digitalen Klangverarbeitung. Im Feld der populären Musik wurde Sound-Sampling immer wieder insbesondere vor dem Hintergrund seiner Verwendung in der Hip-Hop-Kultur bzw. im Rap diskutiert. Mit Hilfe von Samplern griffen DJs seit den 1980er Jahren auf die Breaks – solistische Überspielungen von bewusst ausgesparten Takten am Ende eines Refrains bzw. beim Übergang zum Chorus – früher Funk- und Soul-Platten zu und verfeinerten damit die schon vorher angewandte Praktik des direkten Zugriffs auf diese Breaks während des Plattenauflegens. Hinzu kamen in Zeiten des digitalen Samplings Umweltgeräusche wie Polizeisirenen, Fetzen aus Reden von Malcom X oder sehr gezielt ausgewählten Filmen und Fernsehserien. Anders als manch Kunsttheoretiker es sich unter postmodernen Vorzeichen wünschte handelte es sich dabei um Symbole, »deren Bedeutung dem inneren Kreis des afroamerikanischen Zielpublikums durchaus klar war: es handelte sich […] nicht um aus wahrnehmungstheoretischen oder anderweitig nachholend avantgardistischen Gründen vorgenommene Sinnzertrümmerungen, Provokationen oder Irritationen, sondern um Sinnstiftung und -konstruktion« (Diederichsen 1995: 45).
Freilich lies die Möglichkeit einer korrekten Kodierung der mittels Sampling implantierten Bedeutungen je weiter sich Hip-Hop vom erwähnten Zielpublikum entfernte nach. Gesampelte Klänge beziehen sich – in welchen Kontexten auch immer erzeugt – auf ästhetische und mentale Repräsentationen, die – weil sie im Rahmen populärer Kulturen angeeignet werden – vor allem »wegen des Gefühls der Intensivierung, Bereicherung und Reflexion des Lebensgefühls und der Beziehungen zur Umwelt und zu uns selbst [gesucht werden]« (Kaspar Maase 2008: 290f.). Als Ende der 1980er Jahre und insbesondere in den 1990er Jahren SoundSampling auf Grund der stetig gewachsenen Speicherkapazitäten der entsprechenden Geräte jegliche Klänge in der Lage war zu reproduzieren, gehörten aus afrikanischen Gesängen gewonnene Drumloops (z. B. Deep Forrest), Didgeridoo-Sample (z. B. Jamiroquai) oder imitierte Obertongesänge (z. B. Massiv Attack) zum
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Klangrepertoire damals maßgeblicher Formen populärer Musik. Dies betraf keineswegs nur die einschlägig auf Klänge der Welt ausgerichteten Stilisten und Genres, sondern auch die unterschiedlichen Varianten elektronischer Musik wie TripHop (zum Beispiel Portishead und Massiv Attack) oder Techno-Trance. Das aus Musikern der zweiten und dritten Einwanderergeneration bestehende Band-Projekt Asian Dub Foundation kombinierte den Klang indischer Tablas mit dem britischen Club-Sound. Klangkosmopoliten – wie Youssef Adel alias »DJ U-CEF« – sampelten die Gesänge der Gnawa-Orden des Maghreb, der Berberstämme aus der Sahara und den Straßenlärm einer Kasbah – Burganlagen nordafrikanischer Altstädte – und remixten sie in Londoner Garagenstudios digital mit Hip-Hop- und Raga-Beats: »Eine andere Art, Tradition und Technik in Einklang zu bringen, demonstriert U-CEF auf seinem Debüt-Album ›Halalium‹ – der Titel ist ein Wortspiel mit dem muslimischen Terminus ›Halal‹, was dem jüdischen ›koscher‹ entspricht. U-CEF hat den Straßenlärm der Kasbah, die Gesänge der Gnawa-Orden und der Berberstämme, die er auf Reisen aufgenommen hat, in seiner Londoner Garage mit HipHop- und Raga-Beats verschweißt und mit Samples und Loops verlötet. Beeinflusst zeigte er sich dabei vom Himmel über der Küste von Bristol, wo Bands wie Portishead und Massiv Attack den Ruf der Hafenstadt geprägt haben, aber auch von den DJs des ›Asian Underground‹, welche die indische Musik ihrer Eltern mit britischen Club-Sounds verschmelzen.« (Döring 2000: 14)
Trance-Techno oder Tribal-Dance bedienten sich indigener Stimmen, und eine als Mangroove-Sound bekannt gewordene Spielart populärer südamerikanischer Musik speiste sich aus Datenkompressionen des traditionellen Samba-Bahias. Hier ein Trompeten-Sound von Miles Davis, die Stimme von James Brown und dort ein melanesisches Wiegenlied. Björk lies Eis knistern oder simulierte die akustische Eruption eines isländischen Geysirs: Klänge im Zeitalter ihrer digitalen Produzierbarkeit und Reproduzierbarkeit. Auf eigenwillige und unterschiedliche Weise kehrte dabei auch das Lokale, der Verweis auf regionale Naturereignisse oder die akustischen Signaturen historisch und räumlich entfernter Gegenden und Architekturen, Plätze bzw. ihre Imagination als ein paradoxer Effekt der technischen Überwindung materieller Grenzen im »Hier und Jetzt« der Klanggewinnung und –verarbeitung wieder auf. Die Klänge selbst waren dabei – abgesehen vom Ort ihrer konkreten technischen Herstellung, Bearbeitung und Rezeption – nicht mehr an einen realen Ort gebunden und hatten folgerichtig ihre »Echtheit« im Sinne des vom Ursprung her Tradierbaren (Benjamin 1984/1936) verloren. Neben der unmittelbaren Integration von Klängen, die aus bestimmten lokalen Zusammenhängen kamen, fällt auf, dass insbesondere in den elektronischen Tanzmusikkulturen von Techno und House lokale Differenzen in Stilbezeichnungen wie Detroit-Techno, Köln-Minimal, Berlin-Dub und Wiener Electronica verstärkt geographische Rückbindungen markiert und kommuniziert wurden (Höller 2001). Verantwortlich dafür waren und sind in der Popmusik vor allem Journalisten und
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Redakteure, vergleiche Hamburger Schule etc. (Binas-Preisendörfer 2007), weil Ortsbezeichnungen ähnlich wie ethnische Repräsentation sich offensichtlich hervorragend als Orientierungshilfen und auch als Verkaufsanreiz eignen. Infolge der den Zustand der Globalität (Beck 1997a) kennzeichnenden informations- und kommunikationstechnischen Entwicklungsdynamik kam es seit den 1980er Jahren zu einer fast vollkommenen Umstellung der Musikproduktion und Distribution auf digitale technische Verfahren. Für Musiker und Hörer faszinierend, bot sich damit eine schier unerschöpfliche Vielheit und auch Vielfalt an Klängen aus unterschiedlichen historischen und lokalen Zusammenhängen der Musikproduktion, die angesichts ihrer Umwandlung in digitale Daten quasi universell zur Verfügung standen. Neue »Materialien« konnten verwendet werden, und die Bindung der Zeichen an bestimmte Funktionszusammenhänge geriet aus den Fugen, vor allem die Exklusivität ihrer Herkunft. Stilistiken, Klangmaterialien und Zeichen wurden jenseits ihres »ursprünglichen« Kontextes immer wieder neu aufeinander bezogen. Dies führte zu einer explosionsartigen Vervielfältigung von Stilistiken und Repertoire-Bezeichnungen, die ihre soziale und kulturelle Basis in einer Vielzahl von Suchbewegungen und Experimenten in der Kreation von Lebensstilen und -entwürfen in westlichen Gesellschaften hatte. Identitäten – so Gabriele Klein – galten »nicht mehr als fixiert und einheitlich, sondern als plural und veränderlich: [Identitätsarbeit – S. B.-P.] als beständiger Prozess des Bastelns oder des Samples« (Klein 1999: 51). Technologische Unzulänglichkeiten und respektable Sounds Technisch gesehen ist das Sound-Sampling ein digitales Verfahren zur Speicherung und Wiedergabe von Klängen (Ruschkowski 1998). Dazu entnimmt eine Baugruppe eines datenverarbeitenden Systems (Computer) – genannt Analog/Digital-Wandler – dem analogen kontinuierlichen Eingangssignal in regelmäßigen und definierten Zeitabständen Samples: »Proben«. Als Ergebnis dieser Probenentnahmen entsteht eine fortlaufende Reihe von Zahlenwerten, die den Amplituden des Ausgangsklanges jeweils zum Zeitpunkt ihrer Messung entsprechen (zeit- und wertediskrete Signale). Die Abtastung des Eingangssignals kann mit verschiedenen Frequenzen – die man Abtastfrequenzen oder Abtastraten (engl. sample rate) nennt – erfolgen. Je höher die Abtastrate, desto genauer die Reproduktion des Eingangssignals. Ist die Abtastrate mindestens doppelt so hoch wie die höchste vorkommende Frequenz des umzuwandelnden Klanges – bei einer Abtastrate von 48 kHz bedeutet dies zum Beispiel eine maximal abtastbare Frequenz von 24 kHz –, wird eine fehlerfreie Aufzeichnung der in den Klängen enthaltenen und vom Menschen hörbaren Frequenzen von Klängen erreicht. Bei niedrigen Abtastfrequenzen (z. B. 8 kHz, ISDN Telefon) fehlen die höheren Frequenzen, das hat insbesondere Auswirkungen bei der Abbildung der Obertöne und Formanten, die für die Klangfarbengestaltung bzw. den Klangeindruck im Raum besonders wichtig sind. Das Ergebnis ist dann ein dumpfer und »muffiger« Klang, wie er von der ersten Generation der Sampler (Anfang der 1980er Jahre) 210
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erzeugt wurde. Des Weiteren hängt die Genauigkeit der Wandlung – und damit eine möglichst klanggetreue Wiedergabe – von der Anzahl der diskreten Werte ab, die der A/D-Wandler unterscheiden kann, der Quantisierung der Amplitudenwerte bzw. der Größe des so genannten sample word (Datenwert in Bit). Der Bit-Wert gibt an, wie genau der Amplitudenwert erfasst und damit auch wiedergegeben werden kann. Eine Quantisierung von 8 Bit (2 hoch 8) ergibt eine Auflösung von 256 möglichen Datenwerten, die heute üblichen 16-Bit-Systeme (2 hoch 16) ermöglichen eine Auflösung von 256 x 256, also 65.536 Werten. Je höher die Abtastrate und die Quantisierung der Amplitudenwerte, desto genauer die Reproduktion bzw. Rekonstruktion des Eingangssignals. Beides ist die Voraussetzung für eine hochwertige Signalaufzeichnung. Theoretisch ist das verlustfreie Kopieren einer akustischen Information möglich. Ausgangsmaterial und Sample werden jedoch auch bei annähernd exakter technisch-mathematischer Beschreibung durch das menschliche Ohr kaum mehr voneinander unterschieden. Sie werden als identisch wahrgenommen. Neben dem enormen Kaufpreis waren Anfang der 1980er Jahre insbesondere die den technischen Unzulänglichkeiten geschuldete und aus heutiger Sicht fast unerträgliche Klangqualität das wichtigste Merkmal der frühen Sampler. Selbst bei »hinlänglicher Taktfrequenz standen dem Anwender lediglich acht Aufzeichnungen zu je einer Sekunde zur Verfügung; längere Aufzeichnungen waren ausschließlich durch proportionalen Verzicht auf Höhenanteile [Obertonspektrum – S. B.-P.] zu erzielen. Kurzum: Das Trumm klang dumpf und muffig. […] Erwartete man seinerzeit [Anfang der 1980er Jahre – S. B.-P.], der Sampler könne alle hörbaren Klänge zur Verfügung stellen, so musste man nach Erstkontakt ernüchtert fest stellen, dass statt dessen überhaupt kein Klang befriedigend zu reproduzieren war.« (Samolak 1994: 50)
In den Studios der Popmusik verabschiedete man sich deshalb zunächst vom Wunsch nach Klangtreue und machte die Unzulänglichkeiten der Technik zum stilbildenden ästhetischen Prinzip. In diesem Zusammenhang war vor allem die von Trevor Horn produzierte Band The Art of Noise bekannt geworden: »Eine ehemalige Mitarbeiterin von Trevor Horn, Anne Dudley, gab beredte Auskunft über das Entsetzen, das im Studio ausbrach, als man sich die Klangqualität der soeben erworbenen angeblichen Wundermaschine zu Gemüte führte. […] Laut Dudley wäre der Apparat auch sofort wieder rausgeflogen, hätte sich nicht der Toningenieur Gary Langan seiner erbarmt. […] Langan, der Klangprogrammierer und Tastenspieler Jonathan Jeczalik sowie Anne Dudley verabschiedeten sich schnellstens vom Verlangen nach Klangtreue, erhoben die Defizite des Geräts kurzerhand zum künstlerischen Prinzip, gründeten eben jene Band (The Art of Noise) und schufen das stilbildende Debütalbum »Who’s Afraid Of The Art Of Noise?« (Ebd.)
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Das genannte Album galt damals, Anfang der 1980er Jahre, mit seinen gesampelten Geräuschen und Stimmen, Beat-Box-Rhythmen und Pianoklängen als ein Album mit einem »ultramodernen« Sound. Die Zeit der unzulänglichen Klänge sollte in den großen Tonstudios jedoch schon bald wieder Geschichte sein. Im Zuge der technischen Vervollkommnung der Sampler begann das lukrative Geschäft mit dem Verkauf von Sounds. Dabei entstand ein völlig neuer Dienstleistungszweig im Kernbereich der Musikherstellung: das Soundprogramming – und damit der Beruf des Sounddesigners. Denn die meisten Keyboarder waren nicht in der Lage, Sounds selbst zu programmieren. Erst Ende der 1980er Jahre, so Paul Théberge (Théberge 1997), waren die SoundMärkte annähernd gesättigt. Die Mehrzahl der Anwender wünschte sich damals vorzugsweise authentische Reproduktionen luxuriöser Klänge, um möglichst komplexe Klangspektren als Ausgangsmaterial neuer Klänge zu erhalten. Schließlich beendete das 16-Bit-Sampling endgültig die Ära der frühen Klangästhetik des Samplers und eröffnete gleichsam ein neues Einsatzfeld dieses multiple einsetzbaren Instrumentes als Produktionsmaschine: eine weitere kommerzielle Dimension des Samplers im Kontext der unmittelbaren Herstellung von Musik. Reduziert auf einfachste Aufnahme- und Abspielfunktionen gleich einer Bandmaschine konnten mithilfe von Samplern ganze Chöre verwendet und die reellen Chöre mit vielen Sängern eingespart werden. Indisponierte Musiker und zu beanstandende Passagen konnten neu gesetzt oder auch auf andere Tonhöhen gestimmt werden. Parallel zur Entwicklung der Sampler sorgte zwischen 1982 und 1983 die Erfindung und Markteinführung des so genannten MIDI-Standards für eine rasante Expansion digital erzeugter Sounds. MIDI – die Abkürzung steht für Musical Instrument Digital Interface – ist eine Bezeichnung für jene serielle, digitale Schnittstelle, die dem Austausch von Daten und der Steuerung von vornehmlich elektronischen Instrumenten und audio- sowie videotechnischen Geräten dient. Sie ermöglicht nicht nur die Kopplung verschiedener elektronischer Musikinstrumente, die dann von nur einer Klaviatur aus, nämlich dem Masterkeyboard, gespielt werden können. Sie schafft auch die Voraussetzung zur Steuerung jeglicher angeschlossener Geräte, zum Beispiel bühnentechnischem Equipment, Licht und Verstärkern (Enders 1997). Der MIDI-Standard führte im Zuge der umfassenden Digitalisierung der Musikproduktion schließlich zur Marktstabilität. Man einigte sich auf ein einheitliches technisches Format, obwohl diese Vereinheitlichung ökonomisch zunächst unprofitabel schien. Zeitgleich sanken im Laufe der 1980er Jahre die Preise für Sampler wie den »Prophet 2000« um ein Vielfaches und rutschten in Deutschland schließlich unter die für damalige Zeiten magische Schwelle von 10.000 DM. Nun setzten sich neue Klangstandards durch – vor allem solche, die von Samples konventioneller oder auch exotischer Instrumente dominiert wurden. Sehr populär wurde zum Beispiel ein Sample mit dem rauchigen Klang einer angeblasenen Flasche, das Jan Hammer und den Soundtrack »Crockett’s Theme«
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zur Fernsehserie »Miami Vice« 1987 in die internationalen Hitparaden katapultierte. Gekoppelt mit einem DX7-Werksharfen-Sound verbreitete es ein anheimelnd wohliges Gefühl. Einen vergleichbaren Klang hört man im Mittelteil von Mauro Picottos »Komodo«. Ähnlich bekannt wurde 1990 der Werk-Sound eines Shakuhachi-Samples des Samplers »Emulators II«. In Enigmas »Sadness Part I« bildete er die klangliche Grundlage des gesamten Songs, der damals fordere Plätze in allen internationalen Charts belegte und seinen Produzenten Michael Cretu zu einem der kommerziell erfolgreichsten seines Berufsstandes machte. In der offenkundig gelungenen Suche nach starken, »beseelten«, ja emotional intensiv aufgeladenen und den Körper stimulierenden Sounds hatten die »kalten Maschinen« des digitalen Zeitalters die Vermutungen vieler Medientheoretiker und -kritiker nicht bestätigt. Bits und Bytes ermöglichten trotz ihrer hochgradigen Abstraktion und Elementarisierung von Signalen auch »gefühlsechte« Audio-KörperVisionen. Ihre sinnliche Präsenz verdanken technisch fixierte und produzierte Klänge technischen Möglichkeiten (z. B. Mikrophonierung, Effekte, Digitalisierung). Freilich traten Klang und Klangerzeugung, Klang und Körper dabei im Laufe der vergangenen 100 Jahre immer weiter auseinander. Die damit einhergehende Ent-Referentialisierung der Klänge – zum Beispiel ihre Loslösung vom Ort der »eigentlichen« Entstehung bzw. Hervorbringung – öffnete Klänge andererseits für je subjektive Bedeutungszuordnungen, ein Phänomen, welches ohnehin die Aneignungspraktiken populärer Musikformen so maßgeblich charakterisiert. Wenn Peter Wicke schlussfolgert, dass »[i]m digitalen Universum auditiver Echtzeit-Simulationen […] nur noch der Ort des Hörens real und authentisch« (Wicke 2004, ohne Seitenangabe) ist, dann bestätigt sich in diesem – von Wicke als zunehmende technische Formatierung bezeichneten – Vorgang das von ihm als theoretische und methodische Grundlage der Erforschung populärer Musikformen ausgearbeitete und vertretene Konzept vom Klang als Medium von Musik, dessen Bedeutung man nicht einem Abdruck gleich weder im Klang selbst noch in den Songs, Tracks oder Ähnlichem ablesen kann, sondern sich erst in den kulturellen Praktiken des Umgang bzw. der Aneignung populärer Musik realisiert (Wicke 1993). Vor diesem Hintergrund bleibt sein 2004 formuliertes Bedauern, dass »kulturelle Kommunikation im Medienzeitalter […] keine Zuschauer mehr, sondern nur noch Mitwirkende kennt« (Wicke 2004: ohne Seitenangabe) eigentlich unverständlich, zumal er einige Seiten zuvor im gleichen Aufsatz betont, dass der durch digitale Medien veränderte Zugang zu Musik die »Konstruktion privater Eigentumsrechte in einer definitiv sozialen, weil unhintergehbar interaktiven Form kultureller Kommunikation« (Wicke 2004, ohne Seitenangabe) endgültig prekär gemacht habe! »Echte Kopien« oder die Krise der Autorschaft Die technologischen Veränderungen sollten sich nicht nur auf das Spektrum und die Quantität präsenter Klänge auswirken, sondern vor allem auch auf die Organisation der Musikproduktion, vor allem auf die Position des so genannten Autors 213
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bzw. Urhebens von Musik bzw. Klängen. Waren beispielsweise Musikproduzenten zuvor oft auf das Abmischen von Titeln beschränkt, waren sie nunmehr so maßgeblich an der Kreation des Soundbildes beteiligt, dass ohne ihren Anteil an der betreffenden Produktion ein ganz anderes Resultat – ein anderer Song – »erschaffen« worden wäre. Sie schlugen vor, welche Sounds man verwenden könnte, entschieden, welches Drumsample am besten als Beat funktioniert und aus welchem Sample die entscheidenden Loops gebaut werden. Zur Studioausstattung gehörten diverse Sample-CDs, die die Betreiber oft für sehr viel Geld angeschafft hatten. Jeder nur vorstellbare Klang wurde so abrufbar, ob Streichersätze, Steinwayflügel oder »Regen aufgenommen in Singapur«. Man konnte mit Hilfe technischen Equipments an Klängen »feilen«, bis das Ergebnis den Vorstellungen und Wünschen aller Beteiligten entsprach. Von nun an bestimmten – mehr noch als es ohnehin schon seit den 1960er Jahren mit Phil Spector, Produzent diverser Girlgroups (vgl. Smudits 2003), der Fall war – Produzenten das, was an populärer Musik bekannt wurde, weil populäre Musikformen so entscheidend durch den verwendeten Sound charakterisiert werden. Der erste »richtige« Sampler, der »Fairlight CMI« – »CMI« steht für Computer Musical Instrument – wurde Ende der 1970er Jahre auf der Ars Electronica im österreichischen Linz präsentiert. Wegen seines zunächst ungeheuerlich hohen Anschaffungspreises stand er anfangs ausschließlich in den großen Studios der akademischen elektroakustischen Musik – oder, wie ein Autor der Branchenzeitschrift Keys schrieb: in den »Produktionstempeln des englischen Popmusikadels«. Peter Gabriel soll schon Mitte der 1980er Jahre Didgeridoo-Klänge in die »Sound-Bank« seines Real-World-Studios gestellt haben und hatte damit jegliche natürliche Dimension von Raum und Zeit, was die »Herkunft« der Sounds betraf, zumindest symbolisch und digital gesprengt. Für Aufsehen unter den Popmusikforschern sorgte der 1987 vom britischen DJ-Team M/A/R/R/S veröffentlichte Track »Pump Up The Volume« und seine verschiedenen Bearbeitungen bzw. Remixes: »Wie aus heiterem Himmel landete die für den damaligen Musikgeschmack ungewöhnlich avantgardistische Soundcollage (aus mehr als 30 Samples) auf den vordersten Plätzen der britischen Charts und wurde zur bestverkauften Maxisingle des Jahres 1987 in England. […] Die umfangreiche Plattensammlung des DJ-Teams sorgte dafür, dass genügend Material zum Plündern bereit stand […] Soul und Funk als ›klassisches‹ Samplematerial, diverse technoide Geräusche oder Predigten von Ayatollah Khomenei. […] [I]n einer programmatisch künstlichen Form – der ›Montage‹ – betrat man als reines Kunstprodukt die Welt der Musik. […] [N]ichts [war] bei dieser Musik noch auf eine außermusikalische Wirklichkeit mehr bezogen. Es fand keine direkte Beeinflussung durch Subkulturen und deren jeweilige Referenzkultur statt. Hier spielte sich lediglich der Versuch ab, favorisierte Platten und Stilarten in einem Song [klangästhetisch und rhythmisch sinnvoll – S. B.-P.] unterzubringen.« (Krei 1998: 9)
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Auch der Musikethnologe und Popmusikforscher Peter Manuel nahm Bezug auf diesen Track und interpretierte ihn als eine Art Meilenstein im Gebrauch des Sound-Samplings in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In »Pump Up The Volume« manifestierte sich laut Manuel ein ästhetisches Verständnis, das er beispielhaft anhand der Verwendung eines aus einer arabisch singenden Stimme generierten Samples wie folgt beschrieb: »The song employed more than thirty samples, set over a steady disco rhythm, interspersed with a vocal refrain. Toward the end of the song, a passage of synthetically altered Arab singing is heard over the steady beat, matching the tonality and rhythm of the song. This Arabic singing is clearly not meant to evoke images of Arabia. The Arab passage is not woven seamlessly into the stylistic fabric of the piece, except insofar as the entire song itself can be regarded as a pastiche. Rather then the expressive meaning of the passage’s incorporation derives precisely from the audible difference, it’s clearly foreign origin, and the synthetic artificiality of acceleration. The excerpt’s texture and generating ›embodied‹ meaning. […] [T]he aesthetic here is quintessentially postmodern, involving neither embodied nor referential meaning, but instead revelling in a certain sort of meaninglessness.« (Manuel 1995: 232 – Hervorhebung im Original)
Scratching, DJing, Sampling, Remix – diese Verfahren standen Pate bei einer Entwicklung von stilistischen Formen populärer Musik, die man zusammenfassend als elektronische Tanzmusik bezeichnet. Die Organisation der Sound-Texturen erhielt neue Begriffe: Remix, Loop und Plateau wurden zum gängigen Sprachvokabular und verwiesen gleichsam auf ihre Herkunft: ihre technische Generierbarkeit. Die diesen Verfahren zu Grunde liegenden Auffassungen von Engagement und Authentizität wurden mit anderen als den aus der Rockmusik bekannten Bedeutungen aufgeladen (vgl. Kapitel 2.1.1). In elektronischer Musik wurden spezielle Montagetechniken und Programmierungsprozesse zum kulturellen Kriterium von Authentizität und Einzigartigkeit. Betont wurden das konstruktive respektive dekonstruktive Moment der Klangerzeugung und Imagebildung und die damit einhergehenden Verneinungen eines expressiven, auf die Subjektivität des Autors zielenden Ideals. Nichtsdestotrotz wurden diese Techniken zu Parametern der Gestaltung und negierten eben doch nur scheinbar die Proklamation von Echtheit (Kriese 1994). Versehen mit einer quasi haptischen Oberfläche zeugten auch diese Sounds vom anhaltenden Widerspruch aus Einzigartigkeit und Gleichheit, der nicht nur eine gestaltwirksame, sondern vor allem auch eine ökonomische Dimension enthalten sollte. »Die Proklamation von Echtheit liegt im Interesse der industriellen Produzenten, solange sich Waren durch Konkurrenz auf dem Markt behaupten müssen.« (Kriese 1994: 102) Allerdings spielte in den hier angesprochenen Stilistiken und Repertoire-Segmenten der Bezug auf das vom Ursprung her Tradierbare, die »historische Zeugenschaft« (Benjamin 1984/1936) immer weniger eine Rolle. Denn »[e]ntgegen den
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Vermutungen Benjamins konnte sich die Echtheit innerhalb der modernen Industrieproduktion längst vom Verständnis des Originalen lösen« (Kriese 1994: 102). Diese Einsicht erhielt angesichts der umfassenden Digitalisierung der Musikproduktion zusätzliche Nahrung. Technologische Veränderungen der Musikproduktion, Bearbeitung, Vertrieb, Wiedergabe – hier insbesondere Digitalisierung und Internet – ließen bestehende Kräfteverhältnisse innerhalb der Musikbranche ins Wanken geraten. Das betraf nicht nur bestimmte Professionen – wie beispielsweise den Bedeutungszuwachs von Produzenten oder die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit technologischen Entwicklungen seitens der Musiker –, sondern insbesondere auch Fragen von Autorschaft, Authentizität und Originalität. Tatsächlich waren Verfahren wie das Sound-Sampling in der Lage, Pluralität zu radikalisieren (Welsch 1992). Für einige Autoren (Helga de la Motte 1998, Ulf Poschardt 1997, Heiner Goebbels 1989) wurde Sound-Sampling zum Ausdruck einer sich von reglementierenden Normen, den traditionellen Kompositionsprinzipien zum Beispiel, abwendenden ästhetischen und kulturellen Strategie. Es griff unverfroren nach allen nur denkbaren klanglichen Angeboten, egal ob sie aus dem Fundus eher »traditioneller« oder »moderner« Zeichenwelten stammten. Sehr bewusst tat dies beispielsweise der New Yorker Pop-Avantgardist John Oswald mit seinem Projekt »Plunderphonics« (Cutler 1995), in dem er bekannte Titel bzw. Songs von Michael Jackson, Bing Crosby, Elvis Presley, James Brown, Public Enemy oder Dolly Partons »Great Pretender« »nach allen Regeln der Kunst« verfremdete. Oswald hatte die »Plunderphonics« als Kunstprojekt geplant (finanziert vom Canadian Art Council), musste die Veröffentlichung der CD auf Betreiben von Michael Jackson jedoch stoppen. Freies Zitieren, Collagen, ironische Brechungen, Mehrfachbedeutungen oder die Verweigerung von Referenz gehörten gleichermaßen zum »Handwerk« und den Intentionen des Samplings aus Sicht der oben genannten Autoren und auch aus Sicht vieler Protagonisten des Sound-Samplings. Für Ulf Poschardt förderte Sound-Sampling jede Art von Experimenten, weil der Abstand von Tradition und Authentizität »eine enthemmte Feier der Signifikantenkette« ermöglichte (Poschardt 1997: 282f.). Diese eher akademische Perspektive hatte – wie Diedrich Diederichsen im bereits erwähnten Beitrag über Sampling in der Popmusik betonte (Diederichsen 1995) – mit den musikalischen Praktiken im Rahmen von Popmusik eher wenig zu tun, auch wenn diese immer wieder mit den Augen dekonstruktivistisch orientierter Theorien versucht wurden zu erklären. Ebenfalls aus akademischer Perspektive bedauerten eher technikkritische Argumentationen, dass nun alles von den Maschinen »aufgefressen« und seiner Authentizität, Originalität und Echtheit beraubt werde, weil Sampling keine menschlich geleitete Kompositionsmethode, sondern eine Konstruktionstechnik sei »With one push of the button, black heart becomes white noise, detached from its original context, a piercing bleep on your cranium, an abstraction.« (Reynolds 1990: 171) Weil mit der Digitalisierung der Klangproduktion das menschliche Maß verschwinde (vgl. Adorno 1973), sei insbesondere auch Sound-Sampling mit einer
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weitgehenden Reduzierung von Körperlichkeit und dem Verlust von räumlicher und semantischer Tiefe, persönlicher, empirischer und kausaler Referenz verbunden. Das Subjekt bzw. der Autor verschwinden!? Kulturkritik und Musikwirtschaft, insbesondere die Verleger und Tonträgerunternehmen, sahen angesichts dieser Entwicklungen eine Krise der »Autorschaft« bzw. der Urheberschaft über die Musik einbrechen. Nichts dominiert die brancheninterne und auch die öffentliche Diskussion heute so sehr, wie die Folgen des digitalen Wandels für das Urheberrecht. In die Krise gerieten dabei vor allem die am bürgerlichen Subjektbegriff orientierten Kreativitäts- und Eigentumsvorstellungen, Schöpfermythen und Individualitätskonstruktionen. Das aus sich selbst schöpfende Genie, vor allem der Komponist, erleide einen erheblichen Statusverlust, weil das Prinzip von Originalität und Authentizität durch die Entwicklung solcher Verfahren wie des Samplings massiv unter Druck gerate. Als Resultat der Veränderung kultureller Werkzeuge hatte die Sampling-Technologie wie so manche ihr vorangegangene technologische Veränderung der vergangenen Jahrhunderte tatsächlich eine tief greifende Krise des geltenden Kulturmodels (vgl. Umberto Eco 1984) ausgelöst. Aura, Einmaligkeit, Autorschaft und die Ware-Geld-Beziehung stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang und erhalten im Industrie- und Informationszeitalter ihre spezifische Bedeutung für die Organisation von Kaufverhalten und Märkten (Kriese 1994). Autorschaft, Subjektivität, Kreativität, Authentizität und Originalität verschwinden jedoch keinesfalls von der historischen Bühne. Sie werden nur zunehmend mit neuen Inhalten und Perspektiven aufgeladen (Goodwin 1998). Neben Peter Manuel betonte auch Andrew Goodwin, dass der Sampler d a s »postmoderne« Musikinstrument schlechthin sei. Er zeigte jedoch gleichzeitig auf, dass sein Gebrauch und seine Bedeutung keineswegs mit den ästhetischen Schulen der Vergangenheit, der Produktion von Aura und Authentizität als Instanzen der klassischen Moderne, vollständig brechen: »Zunächst erscheint das alles wie ein perfektes Beispiel postmoderner Ästhetik. Ein Zeitalter, in dem Original und Kopie [technisch] verschmelzen [und ihre Unterscheidung keinen Sinn mehr macht – S. B.-P.] und man Mensch und Maschine nicht auseinander halten kann, ist es nicht gerade ideal für Autor und Aura. Trotz des scheinbar postmodernen Charakters der zeitgenössischen Popmusik bleibt die Frage von Kreativität und Originalität dennoch von zentraler Bedeutung. […] [Musiker oder Produzenten – S. B.-P.] haben z. B. einfach nur eine Note Wah-Wah-Gitarre abgespeichert und sie dann digital rekonstruiert. […] diese Gitarre wird man auf keiner anderen Platte der Welt finden.« (Goodwin 1998: 111f.)
Sie ist einzigartig, auch wenn – wie später erläutert wird – ein einzelner Sound urheberrechtlich nicht geschützt ist. »So viel auch zitiert, gesampelt und gestohlen wird – letztendlich sind es die alten Subjekte, die ihre eigene Modernisierung vornehmen. Auch der Blick auf Technik und Produktionsbedingungen rettet die Ästhetik nicht davor, letztendlich doch an den Autor glauben zu müssen. Er sieht ein-
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fach nur anders aus […]« (Poschardt 1997: 291) bzw. muss eine Strategie verfolgen, die ihm die Existenzsicherung und eine authentische Position im Zeitalter des »digitalen Kapitalismus« (Glotz 2001) ermöglichen. Die einen bestehen auf der Freilegung der Quellcodes, die anderen klären im Vorfeld einer Veröffentlichung die Rechte an bestimmten Samples. Im Umfeld elektronischer Musik gilt es als angemessen, anonym zu bleiben und zugleich einzigartig zu sein. Sampling und Recht Sound-Sampling führte nicht selten zu millionenschweren gerichtlichen Auseinandersetzungen um Urheberschaft und Autorenrechte. Beispielhaft in der Geschichte populärer Musik wurde der Rückruf sämtlicher Exemplare der »Bittersweet Symphony« von The Verve, deren Management es im Vorfeld der Produktion verabsäumt hatte, die erforderlichen Genehmigungen bzw. Nutzungsrechte beim Inhaber der Originalrechte einzuholen (vgl. dazu Berndorff 1998). Die entwickelte Soft- und Hardware der modernen Medieninstrumente mögen Bilder und Klänge potenziell unbegrenzt verfügbar machen, in der Realität ihrer ökonomischen »Wertschöpfung« jedoch sind Diskursgewalten wie Autorschaft und Originalität noch immer mächtig und elementar. In den Urheber- und Leistungsschutzregelungen werden sie gesellschaftlich wirksam. Vertreter der Branche argumentieren deshalb folgendermaßen: »Ohne den Urheber […] und seine angemessene Beteiligung an der wirtschaftlichen Nutzung […] ist das, was einen wichtigen Teil des europäischen Kulturverständnisses ausmacht, gefährdet. Der von gegensätzlichen Interessen bestimmte Prozeß von Kreation und Nutzung kann in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft freilich nur marktwirtschaftlich bewältigt werden, indem das […] Kunstwerk ohne jegliche ideologische Verdächtigung zum Wirtschaftsgut wird, das seinen Wert und bei der Vielgestaltigkeit der Nutzungsformen seinen Preis hat.« (Kröber 1997: 702)
Die ökonomische Verfasstheit – zum Beispiel die Herstellung und der Vertrieb von Musik auf Tonträgern – kennt kaum ein größeres Interesse als die Sicherung und Verwertung von Rechten. Sie sind die wichtigsten Produkte, die auf dem Musikmarkt gehandelt werden. Dabei geht es vor allem um die Verwertung subjektiver, an den Autoren gebundener Rechte durch die Tonträgerwirtschaft bzw. die Ansprüche derjenigen, die die Rechte der Autoren verwalten, die Verlage und Inkassogesellschaften (z. B. GEMA – Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) auf der Basis des Rechtes an geistigem Eigentum. Deutlicher als es der Präsident des Deutschen Bundesverbandes Musikindustrie auf einem Branchenhearing Musikwirtschaft im Jahr 2009 forderte, kann die Abhängigkeit von Musikwirtschaft und Gesetzgebung wohl nicht auf den Punkt gebracht werden: »Ohne IP-Protection (Schutz von geistigem Eigentum – S. B.-P.) keine Kreativwirtschaft und keine Musikwirtschaft.« (Gorny 2009: 11) Branchenvertreter versuchen – so die beiden Beispiele – unter Androhung kultu218
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reller und wirtschaftspolitischer »Niedergangsszenarien« die gesetzgebende Politik für ihre Interessen aufzuschließen. Das Sound-Sampling, bei dem in technischer Hinsicht die Unterscheidung von Original und Kopie keinen Sinn mehr macht, führte nun jedoch, lange vor den Diskussionen um Downloading, File-Sharing oder Peer-to-Peer-Netzwerke, vor allem dazu, dass »die Kreativität und Originalität, die in den ursprünglichen Materialien […], sowie jene, die im verwendeten Programm steckt […] immer schwerer zu trennen [war] von der Kreativität der Kulturschaffenden, die diese Ausgangsmaterialien mit entsprechenden Programmen bearbeiten« (Smudits 2002: 188).
Ohnehin kann man davon ausgehen, dass populäre Musik meistenteils im Tonstudio entsteht oder erspielt wird – also eine eher kollektive Leistung darstellt, als eine ausschließlich individuelle Komposition im traditionellen Sinne. Kollektive Urheber führen deshalb heutzutage sehr genau Protokoll, welchen Beitrag der Einzelne für das Ganze geleistet hat, um späteren Rechtstreitigkeiten vorzubeugen. Schwierig gestaltete sich in Bezug auf Sound-Sampling insbesondere die juristische und musikalische Beweisführung einer »eigenständigen« Leistung, bzw. des so genannten geistigen Eigentums. Rechtlich umstritten und schwierig in der Beweisführung ist vor allem die Verwendung von Kurzsequenzen, einzelnen Schlägen, Grooves oder bestimmten Instrumental-Sounds. Denn in diesem Falle wird kein künstlerisches Werk, sondern »nur« ein Fragment verwendet. Hartnäckig hielt sich lange Zeit das Gerücht, die freie Benutzung eines Samples sei abhängig von der Länge des verwendeten Samples. Für Juristen stellt sich das Problem jedoch nicht auf dieser Ebene, es ist vielmehr dort angesiedelt, wo entweder Rechte des Komponisten, des Musikers, der Tonträgerfirma oder aller drei verletzt werden. Das Urheberrecht eines Komponisten ist dann verletzt, »wenn die gesamplete Sequenz bereits eine eigene Schöpfungshöhe aufweist. […] Es kommt darauf an, ob der gesamplete Melodiebogen für sich schützenswert ist oder nicht. Vorsicht ist immer dann geboten, wenn das verwendete Sample einem bestimmten Song zuzuordnen ist. […] Dies ist häufig bei Stücken aus dem Hip-Hop-Genre [Breaks] der Fall.« (Jünger/Berndorff 1996: 116)
Rechte können aber auch von ausübenden Musikern geltend gemacht und eingeklagt werden. Dann handelt es sich um so genannte Leistungsschutzrechte, die in Deutschland von der GVL (Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten) wahrgenommen werden. »Eine Genehmigung ist […] immer dann erforderlich, wenn das verwendete Sample deutlich einem bestimmten Musiker [z. B. Janis Joplins unverkennbarer Stimme – S. B.-P.] oder Pro-
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Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit duzenten zuzuordnen ist und damit als Teil seines allgemeinen Persönlichkeitsrechtes anzusehen ist.« (Ebd.)
Musikalische Formen, für die nicht Melodien, sondern Sounds als zentrale Gestaltungskategorie eine Rolle spielen, lassen sich jedoch schwerlich mit einem Modell bewerten, das die Kategorie Sound eigentlich nicht kennt. Noch immer geht man beispielsweise im deutschen Urheberrecht davon aus, »dass Sounds regelmäßig nicht geschützt sind und ansonsten ein musikalisches ›Werk‹ vom Urheberschutz dann erfasst wird, wenn eine ausreichend eigenständige Individualität zu erkennen ist. Das eigentliche Problem besteht dann in der Beweisführung.« (Döhl 1999: 7)
Klänge gelten vor dem Urheberrecht als ähnlich elementar wie rhythmische Einheiten, Takt- oder Tonarten. Diese Einschätzung basiert allerdings auf einem Klangverständnis, das über die Klangspektren mechanischer Musikinstrumente – wie Geigen und Flöten – nicht hinausgeht. Interpreten oder Musikproduzenten – die maßgeblich und auch eigenschöpferisch an der Klanggestaltung eines Musikstückes oder eines Albums beteiligt sind, können deshalb keine Urheber-, sondern nur Leistungsschutzrechte für sich geltend machen. Überschreitet ein Stückchen Musik bzw. ein Sound mittels Sampling, wie es beim melanesischen Wiegenlied der Fall war, den Zuständigkeitsbereich der zu Grunde zu legenden nationalen Rechtsprechung, wird die Beweisführung und Klärung noch komplizierter: »International unterliegt das Urheberrecht dem Territorialgrundsatz. Dies bedeutet; dass der Schutz des Urheberrechtes, obwohl es im Gegensatz z. B. zu Patent oder Warenzeichen nicht auf einem individuellen Verleihungsakt beruht, nur bis an die Grenzen des Staates reicht, der es anerkennt. Anders als ein Sachenrecht besteht das Urheberrecht international nicht als ein einheitliches Recht, sondern als ein Bündel von territorial begrenzt anerkannten Rechten.« (Döhl 1999: 11) »[Schon] im 19. Jahrhundert begannen sich die Musikverleger für ein internationales Urheberrecht zu engagieren […]. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden auf dem europäischen Kontinent mehrere multilaterale Konferenzen statt, die in der Berner Konvention von 1886 gipfelten, mit der sich die unterzeichnenden Staaten zur gegenseitigen Anerkennung von Urheberrechten verpflichteten […]. Seit 1886 ist die Berner Konvention sechs Mal verändert worden, um mit der Entwicklung neuer Technologien Schritt zu halten.« (Garofalo 2001: 112)
Durch internationale Abkommen wie die Berner Konvention sind die so genannten nationalen Anerkennungstatbestände wesentlich erweitert worden. Nach dem Rom-Abkommen von 1961 gilt das Recht des Staates, in dem die Klage erhoben wird.
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Dennoch konnte der Schweizer Musikethnologe Hugo Zemp weder für sich selbst noch für die junge Sängerin vom Stamm der ’Are’are Rechte am Titel »Sweet Lullaby« einklagen, denn für traditionelle Musikformen kann weder ein Urheber- noch ein Leistungsschutzrecht im oben beschriebenen Sinne geltend gemacht werden. Nur in Gesellschaften, die ein menschliches Individuum als Subjekt und damit als eigenständigen Autoren kennen oder einen Begriff von Individualität, Komposition oder Schöpfungshöhe haben, greifen Urheberrechtsregelungen. Und sie können auch nur dann geltend gemacht werden, wenn es eine schriftliche Niederlegung – heute auch einen technischen Mitschnitt bzw. einen Tonträger – des Originals als Beweis für Autorschaft gibt. »So wie der technologische Fortschritt insgesamt, etwa der Buchdruck mit beweglichen Lettern, immer schon vor allem den Industrienationen zugute gekommen war, bevorzugte auch das Urheberrecht die europäischen Traditionen notierter Musik, da der Anspruch auf Tantiemen eine Registrierung von Melodie und Liedtext voraussetzte, jener beiden Aspekte der Musik also, die sich zur Notation am besten eigneten. Künstlern aus Musikkulturen, die eher um den Rhythmus als die Melodie zentriert waren oder in denen die Improvisation vor der Notation rangierte, war damit von vornherein der urheberrechtliche Schutz verwehrt. Darüber hinaus folgte das musikalische Urheberrecht als eine De-facto-Erweiterung des literarischen Urheberrechtes einer Konzeption von Autorenschaft, die Gesellschaften benachteiligte, in denen das Komponieren eine kollektive Beschäftigung darstellte.« (Garofalo 2001: 116)
Dort wo »Kreationen« über Generationen mündlich weitergegeben werden und also nur temporär zum Beispiel von so genannten »song keepern« »besessen« werden, macht das Konzept »Geistiges Eigentum« keinen Sinn. Für Gesellschaften, deren Subjektverständnis durch magisches Bewusstsein geleitet wird, gelten die Geister und Vorfahren als Kreatoren, derer man sich in konkreten Ritualen mimetisch vergewissert. Selbst wenn ein zur Klärung der Rechtssituation notwendiges bilaterales Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Urheberrechten zwischen Frankreich und den Solomon-Inseln bestanden hätte, wäre Hugo Zemp erfolglos geblieben. Die junge Sängerin vom Stamm der ’Are’are hatte den Aufnahmen zugestimmt. Jedem, der an den Aufnahmen beteiligten Musiker und Sänger ließ Hugo Zemp eine – gemessen an einem durch die Regierung der Solomon-Inseln festgesetzten Verdienst pro Tag vergleichbare – Entlohnung zukommen, als Kompensation für die ausfallende Arbeitskraft in den Gärten und auf den Kokosnussplantagen. Die Konzeption und die Konstruktion eines Rechtssubjektes, das individuelle Autorschaft und Originalität ins Zentrum stellt – ein Konzept, das gleichsam die Basis sowohl für Urheberrechtsregelungen als auch für diverse Künstlermythen bildet –, gründet auf einem Subjektverständnis, das erst in frühmodernen und modernen Gesellschaften westlichen Zuschnittes entwickelt wurde. Mit der Signatur von Bildern (wie Albrecht Dürer *1471 – †1528, selbständig seit 1497) oder dem
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Ende anonymer Kompositionen, machten Künstler ihr persönliches Recht – »Urheberrecht« – an den von ihnen geschaffenen Werken zumindest symbolisch geltend. Dieses Subjektverständnis basierte auf der Idee, den Möglichkeiten und den Herausforderungen der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung als Lebensziel (Dülmen 1997), nachdem man aus der Gunst und Abhängigkeit von Kirche und Hof getreten war. Nicht zuletzt die Entwicklung technischer Kommunikationsmittel hat die Fragen nach konkreten Subjektpositionen immer auch problematisiert und grundsätzlich in Frage gestellt. Das Sound-Sampling steht dabei in einer ganzen Reihe von historischen Phänomenen. An Sound-Sampling als ästhetisches Gestaltungskonzept und auch als kulturelle Strategie (vgl. Bradby 1955, Klein 1999, Wicke 2004), lässt sich darüber hinaus die schwierige Balance zwischen vorhandenen und synthetischen Materialien, ihren »Schöpfern«, »Eigentümern«, »Texten«, deren Kontexten, ihrer Aneignung und damit Neu- bzw. Umbewertung aufzeigen. 3.2.4 »VERFÜGBARKEIT « UND »KONVERGENZ« ZUSAMMENFASSENDE Ü BERLEGUNGEN ZUR BEDEUTUNG PHONOTECHNISCHER VERFAHREN IM MUSIKPROZESS Klang, Bewegung, Körper und Bild standen in der Kulturgeschichte der Menschheit zumindest so lange in einem unmittelbaren Verhältnis, bis technische Möglichkeiten deren Separierung forcierten. Zuvor war die Kommunikation über akustische Medien nur angesichts der unmittelbaren Hervorbringung im »Hier und Jetzt« möglich. Der reine Klang – der kontemplativ rezipierte Klang – war stets nur eine ideologische Fiktion, selbst wenn die visuellen Sinne im Konzertsaal des 19. Jahrhunderts eher nach innen denn auf ein komplexes Außen gerichtet waren und die Körper des Auditoriums möglichst in Bewegungslosigkeit zu verharren hatten und stillgestellt wurden. Dennoch, erst die Apparaturen zur technischen Fixierbarkeit von Klang erzeugten tatsächlich »a voice without a face« (Laing 1991) – eine Metapher, die die weit reichenden Konsequenzen der Speicherung, Übertragung, Verarbeitung und Generierung von Klang durch konvertierende Medien plausibel ins Bild bringt. Erst diese phonotechnischen Entwicklungen, die frühen mechanisch analogen, akustischen Aufzeichnungs- und Übertragungstechnologien ermöglichten es, Klänge auch jenseits der Flüchtigkeit ihrer unmittelbaren Hervorbringung durch menschliche Körper und deren Bewegungs- und Stimmbildungsorgane wahrzunehmen. Nun hörten Menschen Musik, die sie in einer Form erreichte, die sie meistens zuvor nie aufgeführt gesehen hatten. Dazu bedurfte es erheblicher Abstraktionsleistungen, vor allem auch von den »anderen« Sinnen. Lautsprecher und Mikrophone stellen technische Verlängerungen bestimmter Körperfunktionen jenseits des unmittelbaren Körpers dar. Diese förderten auch die Spezialisierung und Separierung der entsprechenden Sinnesfunktionen. Doch nicht in erster Linie, weil diese Trennung gewollt war, sondern weil es technisch noch 222
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unmöglich war, Bild und Ton synchron aufzunehmen und wiederzugeben, also technisch zeitgleich verfügbar zu machen. Schon 1888 hatte man in den edisonschen Laboratorien versucht, eine Kombination aus einem Phonographen und einem Kinematographen zu entwickeln. Gelungen war damals »nur« eine wenig synchrone Guckkastenapparatur mit Hörschläuchen, die eine Asynchronität von bis zu neun Sekunden erzeugte, ein Ergebnis, was nicht im Geringsten den Wünschen und Erwartungen ihrer Erfinder entsprach und zunächst nicht weiter verfolgt wurde. Stummfilm und Phonograph bzw. Grammophon standen sowohl in technischer als auch in künstlerischer Hinsicht nebeneinander. Erst 1927 konnte mit dem Movietone-Verfahren die Fox Case Corporation den Transatlantikflug von Charles Lindberg in Ton und Bild dokumentieren. Zeitgleich präsentierte Warner Brothers die Spielfilme »Jazz Singer« und »The singing fool«, die als erste Tonfilme in die Geschichte eingingen. Mit Walter Ruttmanns Tonfilm »Tönende Welle« wurde 1927 die Funkausstellung in Berlin eröffnet. Nahezu bruchlos könnte man von da an die technischen Innovationen aufzählen, die geradewegs hin zu den konsequenten Klang-Bild-Vernetzungen der Gegenwart führen. Die analogen wertekontinuierlichen, auf proportionalen Wiedergabeverhältnissen und Spiegelrelationen basierenden Verfahren wurden durch digitale, wertediskrete Verfahren abgelöst. Allerdings ermöglichte diese Ablösung, dass nun jegliches akustische, optische, sprachliche und arithmetische Signal in eine elektrische oder elektronische Stromstoß-»Sprache« gewandelt und somit maschinell verarbeitet werden konnte. Das »0-1-Alphabet«, der Binärcode, stellte nun die technische Basis der Konvertierbarkeit sämtlicher nur denkbarer Daten dar und sorgte für die Durchsetzung heutiger Medienkonvergenzen. Ein knappes Jahrhundert, nachdem es möglich geworden war, Klänge und Bilder zu fixieren und damit von ihrer multisensualen Wirklichkeit abzukoppeln, ist diese Trennung technisch wieder aufgehoben. Denn digitale Synthese-, Speicherund Wiedergabetechniken ermöglichen jegliche Kombinationen werte- und zeitdiskreter Momentaufnahmen im binären Code. Im binären Code steckt die Potenz der Synthese sämtlicher Material- und Gestaltebenen, ob sie nun akustisch, visuell, motorisch oder haptisch die Sinne »ansprechen«. Wiederum sind es vor allem informationstechnische Operationen außerhalb des menschlichen Körpers, nämlich Rechner in jeglicher Gestalt, die die synästhetische Existenz akustischer und visueller Medien reaktivieren bzw. simulieren. Auch wenn sie sich tendenziell wieder auf den Körper hinbewegen, weil sie klein und immer kleiner, geradezu winzig werden – Implantate von Minisamplern können Schwerhörigen helfen, wieder akustische Signale wahrzunehmen – bleiben es technische Medien mit allen Vorund Nachteilen der Verfügbarmachung natürlicher und synthetisch erzeugter audiovisueller Signale. Die für das »common digit« charakteristische Elementarisierung jeglicher Informationen in unendlichen Kombinationen von Zahlenketten aus 0 und 1 ermöglicht auch deren universelle Verknüpfung und Konvertierbarkeit.
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Bernhard Vief betonte Ende der 1980er Jahre in seinem Aufsatz zum Thema »Vom Bild zum Bit« (Vief 1989), dass ein Bit die kleinste Einheit der Zeichen, ein Elementar- und Universalzeichen sei: »Hier endet die Verkleinerung und wird in synthetische Kraft umgesetzt. In Bits lassen sich ebenso Zahlen, Buchstaben, logische Operationen, Töne und – im Roboterarm – Bewegungen darstellen. […] Hat die Elektronik die Bilder beschleunigt, so überträgt der Binärcode sie von einem Medium ins andere und macht sie beliebig kombinierbar.« (Ebd.: 267f.)
Die einst durch technologische Verfahren voneinander getrennten Sinne werden mit den Bits wieder eingesammelt. Allerdings war die Externalisierung und Herauslösung des Klanges aus seiner unmittelbaren Hervorbringung für viele Genres der Musik – insbesondere die populären – eigentlich nie ein Problem, einmal abgesehen von den Irritationen, die diese Ablösung anfangs sicherlich ausgelöst hatte. Klang ist ein definitiv physisches Phänomen – trotz aller Vermitteltheit durch Peripheriegeräte. Klang kann immer nur mithilfe der an bestimmte körperliche Funktionen gebundenen Sinnesorgane wahrgenommen werden. Insofern zielt ein Großteil kulturkritischer Argumente, die angesichts technischer Entwicklungen das Überflüssigwerden des Menschen diagnostizieren und den Gebrauch von Technologien und Technik als ein Zurüsten und Entfremden deuten, an den Phänomenen klanglich vermittelter Kommunikation eigentlich vorbei. Im Kontext von Sampling bzw. digitaler Musikproduktion kann man in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Pet Shop Boys nennen. Sie verwischten in Bezug auf Timbre und Rhythmus die Unterschiede zwischen menschlich hervorgebrachter und maschinell erzeugter Musik. Sie konnten nicht mehr live spielen und waren stolz darauf. Tanzen konnte man zu »ihrer« Musik, egal ob die Stimmen »echt« oder aber synthetisiert die Ohren und Körper der Zuhörenden erreichten. Die Ängste gegenüber technischen Entwicklungen beziehen sich deshalb eher auf die den meisten Menschen nicht mehr zugänglichen und nachvollziehbaren Algorithmen im »Inneren« der Maschinen. Bezogen auf Technologien der Klangerzeugung betrifft dies die komplexen mechanischen Klangmaschinen – zum Beispiel Klaviere – allerdings ebenso wie einen Sampler. Mensch und Werkzeuge stellen sich im Laufe der Geschichte in immer wieder neue Zusammenhänge. Die jeweils herrschenden Technologien der Klangerzeugung bestimmen dabei auch, was Menschen als Musik verstehen und akzeptieren und wie sie akustisch miteinander kommunizieren. Als Werkzeug, Maschine und Instrument des Informationszeitalters nimmt der Computer, zum Beispiel ein Sampler, letztlich eine der Knochenflöte aus den frühen Zeiten der Menschheit vergleichbare Position ein: Er ist Teil und Resultat einer zeitgeschichtlich bestimmten Kommunikationstechnologie. Beispiele aus der jüngeren Geschichte der populären Musik markieren das spannungsreiche Verhältnis von Mensch und Maschine auf eindrucksvolle Weise. Offensichtlich gerade weil in den diversen Spielarten elektronischer Musik ein
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unmittelbares und positives Verhältnis von Mensch und Maschine und den Technologien ihrer Sound-Produktion auf den Begriff gebracht wurde, nimmt der Körper in den entsprechenden Diskursen einen so bedeutenden Platz ein. In dieser Ordnung bilden Mensch und Maschine, Körper und Künstlichkeit keinen Gegensatz (Klein 1999), obwohl das »Berührt-Werden« und die »Sinnesaffektion« (Alkemeyer 2008) ausschließlich auf der Basis elektronischer Spannungssteuerung erzeugt werden. Ohne die entsprechenden Module zur elektronischen Klang- und Geräuscherzeugung, Klangverstärkung, zur Klangverarbeitung und zur Klangsteuerung sind sie nicht existent. Die Klanggestaltung allein würde aber das Besondere dieser Kulturform nicht beschreibbar machen. Erst im multisensualen Ereignis entfaltet sie ihre mediale Qualität, ihre Anziehungskraft für sozial organisierte Körper und kommerziell organisierte Ökonomien. Hinzuzufügen wäre, dass in der Geschichte der populären Musik stets sehr verschiedene Gattungen und Stilistiken nebeneinander existieren. Mit der Digitalisierung verschwand eine unplugged – elektrisch nicht verstärkte – gespielte Gitarre deshalb nicht von den Bühnen oder aus den Probenräumen. In pluralen und multiperspektivisch organisierten Gesellschaften existieren diese Formen, auch die diversen Technologien der Klangerzeugung, neben- und miteinander. Ihre Koexistenz charakterisiert auch die aktuelle Musikszenerie (zum Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts): DJs und Kongaspieler oder Rapper und Didgeridoos gemeinsam auf einer Bühne stellen nichts Außergewöhnliches dar. Die verbreitete Skepsis gegenüber technischen Entwicklungen rührt auch aus den unmittelbaren Interdependenzen von Technologieentwicklung und ihrer ökonomischen Verwertung bzw. den kommerziellen Interessen an technologischen Innovationen. Insbesondere die aktuellen Tendenzen beinhalten dabei ein Spannungsfeld von totaler Beherrschung durch kommerzielle Interessen einerseits und die Hoffnung auf allgemeinen Zugang, Verfügbarkeit und die Demokratisierung von Produktionsmitteln andererseits. Auf der ökonomisch-kommerziellen Ebene vollzog sich mit der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert die Reintegration technologischer Verfahren mit den ohnehin hochgradig vertikal und horizontal integrierten Medienunternehmen. In immer wieder neuen Konstellationen ist die Musikwirtschaft daran interessiert, solche Lizenzmodelle insbesondere mit Telekommunikationsunternehmen, Hard- und Softwareunternehmen und allgemeinen Serviceprovidern zu entwickeln, die den Verkauf der Rechte an Musik sichern. Digitales Rechtemanagement spielt dabei eine zentrale Rolle und stellt nach wie vor eine Herausforderung dar. »Die globale Konvergenz der Kommunikationsindustrie und die wachsende Bedeutung des elektronischen Medienhandels führt zu einer neuen Wettbewerbskonstellation. Durch die Fusion des Internetproviders AOL mit dem weltgrößten Medienkonzern Time Warner entstand eine Marktkapitalisierung, die mit 248 Mrd. US $ einen einsamen Record schreibt und Blueship-Standards wie DaimlerChrysler um Längen überholt.« (Stein 1999: 14)
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Heutzutage werden Medienkonglomerate in strategischen Allianzen organisiert, die nicht nur die aktuellen technologischen Ressourcen für den Produktionsprozess von Musik erschließen, sondern in denen vor allem – um das eben zitierte Beispiel aus dem Jahr 1999 aufzugreifen – die Unternehmen der Kommunikationsindustrie versuchen, sich einen umfassenden Zugang zu den Inhalten von Musik- und Medienwirtschaft zu schaffen: »Online-Konzerne [wie zum Beispiel AOL – S. B.-P.] wiederum füllen so ihre Datennetze mit Inhalt. Die Vermarktung des ›Content‹ sichert ihnen Gewinnmargen, die mit dem reinen Datentransport und der Bereitstellung der Infrastruktur in Zukunft nicht mehr zu erzielen wären.« (Mortsiefer 2000: 7)
Das Engagement von AOL Time Warner für AOL Europe stellte bereits im Jahr 2001 einen Versuch dar, ein Unternehmen zu einem vollständig integrierten und global agierenden Internet- und Medienkonzern auszubauen. Die Auswirkungen der so genannten Dotcom-Blase im März 2000, File-Sharing und ein verändertes Kaufverhalten in Bezug auf Medienprodukte bescherten den Majors der Tonträgerwirtschaft seit Beginn des neuen Jahrtausends jedoch eine anhaltende Umsatzkrise. Sie entließen massenhaft Mitarbeiter und verabschiedeten sich von Unternehmenskonzepten der 1990er Jahre. Dies betraf auch die Aufmerksamkeit für lokale Märkte und das so genannte Domestic oder Local Repertoire. In diesen Bereichen engagierten sich nun verstärkt wieder kleinere und flexibler ausgerichtete Unternehmensstrukturen vor Ort, die andererseits um kommerziell zu überleben auch global agieren. Das Internet eröffnete ihnen dabei Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen und vor allem Anforderungen, die man für den Vertrieb von Musik in den Aufbruchsjahren der Independents – den 1980er Jahren – nicht gekannt hatte. Diese auf technologischen Entwicklungen basierenden ökonomischen Veränderungen führten zusammen mit den in den Kapiteln 2.1 (Historische Voraussetzungen und Strategien kultureller Durchdringung und Transformation) beschriebenen sozial-kulturellen Prozessen zu einer Situation, die der österreichische Musiksoziologe Andreas Gebesmaier als »globale Homogenisierung von Vielfalt und die regionale Ausdifferenzierung eines mehr oder weniger homogenen Massenmarktes« (Gebesmair 2006: 247) beschrieben hat, mit anderen Worten: »Während sich die globalen Nischenkulturen immer ähnlicher werden, differenziert sich der Mainstream regional aus.« (Gebesmair 2006: 243) Im folgenden Kapitel soll deshalb der Frage nachgegangen werden, welche Rolle regionale bzw. lokale Märkte für die so genannten Majors und die heute global agierenden Kleineren – die so genannten Independents – im globalen Wettbewerb spielen.
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3.3 MTVMTV- Mandarin - zur Bedeutung regionaler bzw. lokaler Märkte für die global agierende Musikwirtschaft Die Kulturindustriedebatte (Adorno/Horkheimer 1994) sollte in der Musikwissenschaft dazu beitragen, dass eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit den offenkundig auch durch ökonomische Aspekte gekennzeichneten Formen populärer Musik sich zunächst schwierig gestaltete. Einen Gesichtspunkt der von der Frankfurter Schule angestoßenen Auseinandersetzung bildete die Kritik an der Konzentration von Macht und Einfluss durch global organisierte und agierende Kultur-, Medien- bzw. Musikindustrien und die daraus abgeleiteten Folgen für die weltweiten kulturellen Entwicklungen. Ohne den geschichtsphilosophischen Voraussetzungen dieser Debatte und den entsprechenden Ausführungen hier auch nur ansatzweise nachgehen zu können, sei ihre These in Bezug auf populäre Musik kurz zusammengefasst: Die Musikindustrie sorge weltweit auf Grund ihres beträchtlichen Zentralisierungsgrades dafür, das an immer mehr Menschen die immer gleiche Musik verkauft werde (Homogenisierung), und dass diese Menschen auch auf Grund ihres mangelnden Verständnisses für »gute Musik« dem Profitinteresse und Konsumterror der Musikindustrie schutzlos ausgeliefert seien (Manipulation). Beide Thesen, die der Homogenisierung und die der Manipulation, konnten nicht bestätigt werden. Und auch die scheinbar grenzenlose Macht global organisierter und agierender Unternehmen geriet angesichts technologischer Entwicklungen an ihre Grenzen. Die jüngsten Entwicklungen im Internet und die zunehmende Abkopplung der Einnahmen der Musikwirtschaft vom Tonträgerverkauf sind ein deutliches Indiz dessen. Zweifellos hatte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts und ausgehend von den USA und Westeuropa die Musikindustrie zu einer hochgradig integrierten und global organisierten, äußerst umsatzstarken Wirtschaftsbranche entwickelt. In mehreren Fusionswellen war es ihr gelungen, ihre Marktmacht sowohl auszudehnen als auch zu konzentrieren. Heute stehen die Strukturen der Medien- und Musikwirtschaft quasi prototypisch für jenen Zustand, den Ulrich Beck in seinen Darlegungen zum Thema »Was ist Globalisierung?« als Globalität bezeichnete (Beck 1997b: 29). Die derzeit existierenden vier großen Unternehmenskonglomerate der Musikwirtschaft – Universal Music Group, Sony BMG, Warner Music Group und die EMI Group – sind gekennzeichnet durch eine weltweite geographische Ausdehnung und zunehmende Interaktionsdichte von Organisationsformen und entsprechenden unternehmerischen Strategien. Sie sind als börsenorientierte Unternehmen entweder Bestandteile großer transnationaler Medienkonzerne oder gehören zu Investmentbanken. (Wicke 2009) Als Organisationsformen eines konkreten ökonomischen Wirkungszusammenhangs sind sie Motoren und gleichsam Resultate der »informations- und kommunikationstechnologischen Dauerrevolution«. Sie generieren einen wesentlichen Anteil der Klang- und Bilderströme der globalen Kulturindustrien. Durchschnittlich produzierten die genannten Unternehmen zu-
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sammen 90 Prozent der in den Top-100-Longplay-Charts gelisteten Titel (vgl. z. B. Universal Music Marktforschung 2002). Die ökonomischen Interessen der Branche haben seit ihrer Existenz nicht nur die Möglichkeiten kommunikationstechnologischer Entwicklungen zum Unternehmenskonzept gemacht, angefangen beim Verkauf von Phonographen, sondern forcierten in ganz erheblichem Maße selbst die Geschwindigkeit der tief greifenden technologischen und strategischen Modernisierungsschübe im Kommunikationsbereich. Die marktbestimmende Kraft der Musikindustrie innerhalb der Musikwirtschaft war im 20. Jahrhundert vor allem deshalb enorm, weil sie, zusammen mit den Unternehmen der Medien- und Kommunikationsbranche wie Printmedien, Radiostationen, Fernsehsender, zur unmittelbaren Existenzbedingung der im 20. Jahrhundert produzierten und verbreiteten Musikformen wurde. Das schließt nicht nur die vielfältigen Formen populärer Musik mit ein, sondern mehr oder weniger alle existierenden Musikformen. Die Produktion und Verbreitung von Musik unter wirtschaftlichen Aspekten gestaltet sich auch auf Seiten der so genannten Majors dennoch komplex und risikoreich. Dies hängt nicht nur mit ökonomischen Faktoren zusammen, sondern auch mit den Rahmenbedingungen, die die historisch konkreten medialen und institutionellen Infrastrukturen des Musikprozesses und die in diesen Prozessen vermittelten kulturellen und ästhetischen Dimensionen bilden. Weil man mit den traditionellen Methoden musik- und kulturwissenschaftlicher Analysen diese Komplexität nicht beschreiben kann, wurden im Umkehrschluss »auf die industrielle Kulturproduktion […] alle nur denkbaren Übel projiziert, die deren Produkten unterlegt werden und den Hintergrund für entsprechende Wertungen abgeben« (Wicke 2001a, ohne Seitenzahl). Peter Wicke hat in seinen umfangreichen und für den deutschsprachigen Raum nahezu einzigartigen Studien zur Geschichte, den Organisationsformen und Wettbewerbsstrategien der Musikindustrie und Musikwirtschaft nachweisen können, dass die Vorwürfe von Zentralisierung, Homogenisierung und Manipulation immer nur sehr begrenzt wirksam werden konnten. Die Musikindustrie bzw. Musikwirtschaft ist nachweislich vor allem dann erfolgreich, wenn sie genau das Gegenteil von dem praktiziert, was ihr von ihren Kritikern vorgeworfen wird: Dezentralisierung, Segmentierung und sehr präzises, kleinteiliges Marketing gelten neben Marktkonzentration im horizontalen wie im vertikalen Sinne als Möglichkeiten der Gewinnerwirtschaftung. Im Laufe ihrer Existenz, seit mehr als 100 Jahren, haben es die Musikwirtschaft bzw. die Tonträgerindustrie im 20. Jahrhundert immer wieder geschafft, Strategien zu entwickeln, auf technologische und kulturelle Wandlungsprozesse zu reagieren und diese für sich zu operationalisieren. Dabei kam es mehrfach zu bemerkenswerten Brüchen. Einige Unternehmen verschwanden vollständig vom Markt, neue kamen hinzu, die Unternehmensstrukturen veränderten sich. Aufmerksame Beobachter dieser Prozesse konnten einen deterministischen Zusammenhang zwischen Marktkonzentration und musikalischer Vielfalt bzw. Homogenisierung nicht nachweisen (neben Wicke im deutschsprachigen Raum vor
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allem Tschmuck 2003, Gebesmair 2008). Die Macht und der Einfluss der industriell organisierten Prozesse der Herstellung und Verbreitung von Musik bleiben begrenzt bzw. folgen keinem einfachen Schema. Auf dem Musikmarkt agieren Künstler, Produzenten, Manager, Veranstalter, Tonträgerfirmen, Verlage, PR-Firmen, Groß- und Einzelhändler, Medien im Sinne von Rundfunk, Print und Fernsehstationen, Internetplattformen und schließlich das Publikum. Dazwischen zirkulieren Kreativität und künstlerische Beiträge, technisches Knowhow, Hard- und Software und andere Produktionsinstrumente, Investitionen, Eigentums- und Finanzierungsmodelle, Preisbildung und Konsumtion. Der Musikmarkt selbst ist also weder von einheitlichen Interessen noch von einer alles bestimmenden Organisationsform dominiert. Historisch konkret und meist sehr maßgeblich sowohl durch technologische Entwicklungen wie auch kulturelle Paradigmen bestimmt, verändern sich die Akteurstypen der Musikwirtschaft. Galten die großen Musikkonzerne in den 1920er, 1960er und 1980er Jahre als die wichtigsten Akteure der globalen Musikwirtschaft, wuchs ihnen in den 1930ern, 1970ern und seit Ende der 1990er Jahre Konkurrenz von Seiten der so genannten Independents. Das betraf nicht unbedingt deren quantitativen Einfluss auf die Musikmärkte, mindestens jedoch deren strukturellen. Wenn heutzutage von kleinen Unternehmensformen nahezu alle Bereiche der so genannten Wertschöpfung (Produktion, Weiterverarbeitung, Vertrieb, Absatz) abgedeckt werden – man spricht dann von einem »360°-Modell« – dann zeugt dies sowohl von den Möglichkeiten wie auch den Herausforderungen, denen sich die Akteure der Musikwirtschaft inklusive der Musiker stellen müssen. Die Bewertung dieser Prozesse fällt logischerweise seitens der betreffenden Akteure und ihrer konkreten Handlungsfelder innerhalb der Musikwirtschaft sehr unterschiedlich aus (Renner 2004, Gorny 2009), das soll hier jedoch nicht Gegenstand der Erläuterung sein. Den komplizierten Zusammenhängen von Musik und Industrie, und den Strukturen und Wettbewerbsstrategien der Musikwirtschaft ist seitens der Forschung populärer Musikformen in den vergangenen Jahrzehnten weltweit zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt worden. Hervorzuheben sind dabei die Arbeiten von Steve Chapple und Reebee Garofalo (Chapple/Garofalo 1977), Roger Wallis und Krister Malm (Malm/Wallis 1984), Simon Frith (Frith 1987 und 1989), Keith Negus (Negus 1994 und 2001), Ralf Schulze (1996), Robert Burnett (Burnett 1996 und 2001), Alfred Smudits (Smudits 1998) und die Arbeiten der schon erwähnten Autoren Peter Wicke, Peter Tschmuck und Andreas Gebesmair. Der Verdienst der genannten Forscher und Autoren liegt vor allem darin, dass sie die entsprechenden Prozesse einer genaueren empirischen Analyse unterzogen haben und Material und Argumentationen liefern konnten, die den pauschalen Bewertungen des Zusammenhanges von Musik und Wirtschaft als einem der Musik Fremden bzw. Äußerlichen die Grundlage entziehen konnten. Diesen Arbeiten gemeinsam ist die für kultur- und musikwissenschaftliche Perspektiven eher ungewöhnliche Hinwendung zu den ökonomischen Dimensionen und wirtschaftlich agierenden Subjekten des Musikprozesses, nicht weil sie diese angesichts der insbesondere im deutschspra-
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chigen Raum wirkmächtigen Kulturindustriedebatte zu legitimieren wünschen, sondern weil ohne deren Untersuchung moderne Musikprozesse in ihrer Bindung an mediale Veränderungen unverstanden bleiben. Der Globalisierungsprozess hat in seinen technologischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen jeweils eine eigene Logik entfaltet. Die ökonomische Logik setzt zunächst einmal auf die umfassende globale Integration aller potenziellen Märkte und Kommunikationsformen. Und sie lässt vermuten, dass Kraft entsprechender ökonomischer Potenzen der Globalisierungsprozess sich Bedingungen schafft, die weltweit den Absatz der immer wieder gleichen Produkte verursacht. Auf den ersten Blick scheint sich diese Annahme zu bestätigen: McDonald, Coca Cola, das so genannte International Product, das vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zum Beispiel durch Whitney Houston, Madonna und Michael Jackson verkörpert wurde, und der alte Slogan von MTV »One Planet – One Music« – das waren und sind die allenthalben präsenten Phänomene einer Argumentation, die das Ende der Vielfalt kultureller Formen und Traditionen prognostizierten. Doch schon der eigentlich aus den Wirtschaftswissenschaften bzw. dem Wirtschaftsleben stammende Begriff der »Glokalisierung« deutet auf ein Phänomen, das offenkundig insbesondere ökonomisch orientierte Prozesse betrifft. Dieser in der allgemeinen und vor allem von der kulturellen Globalisierungsdebatte aufgegriffene Begriff meint ursprünglich »das Zuschneiden von und Werben für Güter und Dienstleistungen auf globaler oder fast-globaler Ebene für zunehmend differenzierte lokale und partikulare Märkte« (Robertson 1998: 198, so zitiert bei Gebesmair 2008: 85). Diese ökonomische Praxis verweist darauf, dass rein quantitative Strategien der Organisation von Märkten auf globalen bzw. fast-globalen Ebenen nicht erfolgreich sind. Ökonomische Wertschöpfung macht an den Grenzen lokaler Märkte und deren regionalen Besonderheiten Halt, weil Unterschiede wie Sprache, kulturelle Erfahrungen, Klima, gebaute Lebenswelt und viele andere mehr den Rahmen für die Wertschätzung der Produkte und damit eine potenzielle Nachfrage nach ihnen setzen. Selbst wenn ein Produkt – zum Beispiel Michael Jackson – global nicht zugeschnitten oder spezifisch beworben werden muss, Michael Jackson also überall Michael Jackson bleibt, heißt das noch lange nicht, dass er überall identisch angeeignet wird. Sicherlich gibt es Aspekte seines Images und seiner Person, und dazu gab sein Tod im Sommer 2009 allenthalben Anlass zur Analyse und Interpretation, die weltweit gleichermaßen von Interesse waren. Es sind jedoch die regional, lokal und sozial differenzierten kulturellen Erfahrungen und Aktivitäten, die dazu führen, dass auch Michael Jackson bzw. sein Image mit unterschiedlichen Bedeutungen seitens der Hörer und Fans aufgeladen wird. Die Identifikation mit einem Künstler, einer Band, einem konkreten Spielort, Musizierpraktiken, den Medien etc. – also der Umgang mit den diversen Musikformen – findet im Rahmen und Kontext spezieller kultureller Erfahrungen und Handlungen statt, nicht in einem global undefinierten bzw. abstrakten Raum, sondern in konkreten lokalen Zusam-
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menhängen: in Gemeinschaften, die durch Geographie und Geschichte bestimmt werden, ebenso wie durch deren soziokulturelle Dynamik. Selbstverständlich sind auch diese Kontexte nicht statisch und dauerhaft. Das lokale Moment trägt keine wesenhaften Züge, sondern befindet sich im permanenten Austausch mit globalen Prozessen. Es bezieht sich auf globale Entwicklungen und umgekehrt, sowohl in ökonomischer als auch in kultureller Hinsicht. Im Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz, Öffnung und Erstarrung entwickeln und verändern sich die jeweils aktuellen Formen kultureller Selbstvergewisserung und damit auch die kulturellen Dispositionen, die den Aktionsradius all derer ausmachen, die in den entsprechenden Zusammenhängen erfolgreich agieren wollen, sei es sozial, kulturell, politisch oder wirtschaftlich. Es betrifft die Akteure der Musikwirtschaft, ganz egal, ob sie vor dem Hintergrund globaler Trends »unmittelbar« aus den entsprechenden lokalen Zusammenhängen hervorgegangen sind, zum Beispiel lokale Clubkulturen und die stark lokal geprägten Szenen des Hip-Hop, oder ob sie als so genannte Global Player kommerziell einträgliche lokale Trends aufspüren und für größere Absatzmärkte verwerten wollen. Die Geschichte der Musikwirtschaft ist deshalb auch geprägt von der Suche nach anpassungsfähigen Unternehmensformen und solchen Marketingstrategien, die die Unwägbarkeiten bestimmter kultureller, inklusive lokaler Dispositionen überschaubar, kalkulierbar und funktionalisierbar machen. Bezogen auf die lokale Diversifikation entwickelte sie dafür spezielle Instrumente im Bereich der Unternehmensorganisation, der Repertoire-Gestaltung und des weltweiten bzw. lokalen Marketings. 3.3.1 »THINK GLOBALLY, ACT LOCALLY« (SONY) »GLOBALIZE LOCAL REPERTOIRE« (BMG) Ein leitender Manager von Sony-Deutschland äußerte Mitte der 1990er Jahre, dass es in den hochgradig vertikal und horizontal integrierten Unternehmensstrukturen der Musikwirtschaft darauf ankäme, global koordinierte Marketing-Pläne aufzustellen, die so auszuarbeiten und zu modifizieren sind, dass sie den globalen und damit den lokalen Gegebenheiten Rechnung tragen. Auch wenn seit den frühen 1980er Jahren alle nur erdenklichen wirtschaftlichen Aspekte von Musik jeweils unter einem Kapital vereinigt wurden – vor allem im Finanzkapital, das im Elektro-, Elektronik-, Kommunikations- und Bankenbereich angelegt wurde – muss sich »die grenzenlose Selbstverwirklichung des Kapitals […] binden; erstens an Orte, zweitens an Produkte. […] Auch flüchtiges Kapital muss sesshaft werden, sich in lokale Kulturen […] einfügen.« (Beck 1997a: 233) Insbesondere in den 1990er Jahren ließen sich die führenden global agierenden Tonträgerunternehmen von dieser Maxime leiten. Bis hinein in die so genannten Mission-Statements – siehe Überschrift des Kapitels –, die in diesem Falle Robert Burnett für seine Untersuchungen zur international agierenden Musikindustrie recherchiert hatte (Burnett 1996), galt lokale Diversifikation als ein zentrales Unter231
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nehmensziel. Zehn Jahre später sollte diese Perspektive zu Gunsten des Produktes bzw. der Marke eher in den Hintergrund treten. Ein Marketingmitarbeiter der Universal Music Group Deutschland erklärte in einem Gastvortrag an der Universität Oldenburg im Wintersemester 2007/2008 für das von ihm vertretene Unternehmen die Unternehmensstrategie »one brand – all media – all over the world« und betonte, dass es Mitte der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts vor allem darauf ankäme, sich seitens der Tonträgerunternehmen den Herausforderungen und Unwägbarkeiten der medialen Konvergenz (Internet – Handy – Fernsehen) zu stellen. Seit ihrer Existenz vor reichlichen einhundert Jahren ist die Geschäftstätigkeit der Tonträgerindustrie auf mediale Präsenz im globalen Wettbewerb gerichtet. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten die sich etablierenden Unternehmen der Tonträgerindustrie in allen wichtigen Regionen der Welt Fuß zu fassen, indem sie ein Netz von Tochterunternehmen gründeten. Dabei ging es zunächst um das Erschließen von lukrativen Absatzmärkten für den Verkauf von Abspielgeräten, damals vor allem Grammophone. Die Victor Talking Machine Company zum Beispiel agierte in Nord- und Südamerika sowie in jenen Regionen der Welt, die damals als der Ferne Osten bezeichnet wurden. Die britische Gramophon Company hingegen operierte in Europa, Russland und Indien. Dabei hatte man schnell erkannt, dass es nicht einerlei war, welche Musik aus den Trichtern der frühen Abspielgeräte tönte, die man dort verkaufen wollte. Allein die Faszination der technischen Wiedergabe oder das Design bewog kaum jemanden, ein Grammophon und ein paar Schellackplatten zu kaufen. Also musste man Strategien entwickeln, die es den damals jungen Unternehmen ermöglichten, Erfahrungen im Spannungsfeld von kulturell sozialen Dispositionen, speziellen musikalischen Ressourcen und zahlungsfähiger Nachfrage vor Ort in ein wirtschaftlich effizientes Verhältnis zu bringen. Wollte man hohe Exportraten an Grammophonen und Phonographen erzielen, dann musste man ein Bewusstsein davon entwickeln, in welchem konkreten kulturellen Rahmen man sich an den Orten bewegte, die man als Märkte erschließen wollte. Diese Strategie verfolgte auch das damals noch junge Tonträgerunternehmen Odeon. Es ließ vor Ort Repräsentanten seines Unternehmens entscheiden, welche zumeist lokal bekannten Musikformen sich am besten für die Speicherung auf Tonträgern eigneten (vgl. Kapitel 2.3.1.3). Orientiert an den Strategien des effizienten Einsatzes von Personal und Kapital kalkulierte man die aufwendigen und kostenintensiven Aufnahmeprozeduren, ehe man ein Recordingteam aus Berlin nach Schanghai oder Kalkutta schickte. Der finnische Ethnologe Pekka Gronow recherchierte, dass schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts »alle führenden Unternehmen […] ihre eigenen Produkte nicht nur ins Ausland [exportierten], sondern […] in den Ländern, in denen sie agierten, lokale Künstler unter Vertrag [nahmen] und […] diese vor Ort [vermarkteten], sodass zu Beginn der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts sowohl isländische, estnische, walisische und bretonische Plattenkäufer, ethnische Minderheiten im russischen Reich, die 20 größten Immigrantengruppen in den verei-
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Mediale Verfügbarkeit nigten Staaten und die wichtigsten Gruppen auf dem indischen Subkontinent gleichermaßen mit Aufnahmen ihrer eigenen musikalischen Traditionen versorgt wurden« (Gronow 1983: 60).
Die Vertreter der Tonträgerunternehmen wandten sich dabei insbesondere den musikalischen Traditionen der Städte in den betreffenden Regionen der Welt zu, dem lokalen Geschmack einer potenziell am Kauf von Grammophonen interessierten Gruppe von Menschen. Dieser Aspekt sollte auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts die Repertoire-Politik der Tonträgerunternehmen und großer Teile der Musikwirtschaft bestimmen. Anreiz und Marktkapazitäten werden dabei maßgeblich von den jeweiligen Dispositionen kultureller und ökonomischer Gegebenheiten vor Ort beeinflusst. Verständlicherweise wird ein Unternehmen der Musikwirtschaft sich vor allem dort engagieren, wo überhaupt Gewinne zu erzielen bzw. zu erwarten sind. Kapitalschwache Regionen waren demzufolge keine potenziellen Absatzmärkte, wohingegen die Tonträgerunternehmen Anfang des 20. Jahrhunderts in den großen Städten – die International Talking Machine GmbH zum Beispiel London, Rio de Janeiro, Buenos Aires, Santiago de Chile – und ökonomisch entwickelten Regionen der Welt präsent waren. Das Unternehmensgeflecht der britischen Gramophon Company unterhielt 1910 Standorte in Südostasien, Afghanistan, Persien oder Syrien, damals ökonomisch und kulturell blühende Regionen der Welt. Umgekehrt fehlen Hinweise auf Städte und Regionen, die zu arm waren, um das Interesse der frühen Tonträgerunternehmen zu wecken. In den Katalogen aus den 1920er und 1930er Jahren findet man kaum Musik vom afrikanischen Kontinent, sieht man von der sich im südlichen Afrika zaghaft entwickelnden Tonträgerwirtschaft und einer Repräsentation in Kapstadt ab. Noch heute werden ganze Regionen der Welt von den regionalen Dependancen der großen Tonträgerunternehmen ignoriert, weil sie als Absatzmärkte uninteressant sind. Manche Regionen verschwanden im Laufe des 20. Jahrhunderts wieder von der Karte der Tonträgerunternehmen – wie Syrien, Persien oder Afghanistan. Dort herrschen instabile politische Verhältnisse oder religiöser Fundamentalismus, schlechte Voraussetzungen für eine zahlungskräftige Nachfrage. Im Zuge des Weltmusik-Booms der 1980er und 1990er Jahre war es hingegen vor allem Musik vom afrikanischen Kontinent, die in das westeuropäische Muster vom vitalen, nichtenglischsprachigen bunten Pop passte und für europäische Tonträgermärkte produziert wurde (vgl. Kapitel 2.3), ein deutliches Indiz dafür, welche immense Rolle Absatzmärkte in der Unternehmenspolitik der Musikwirtschaft spielen. Was Anfang des 20. Jahrhunderts weltweit an Musik aufgenommen und vor allem in den betreffenden Regionen auf Schellackplatten verkauft wurde, darf keinesfalls mit dem Interesse an Weltmusik bzw. World Music des ausgehenden 20. Jahrhunderts gleichgesetzt werden. Hierbei handelt es sich um strategisch nahezu diametrale Konzepte der Verwertung lokaler Musikpraktiken. World Music als Marketingstrategie war geleitet von Differenzausbeutung und WiderstandsMarketing (Höller 2001) auf zunehmend angebotsorientierten, das heißt eigentlich
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gesättigten Märkten. Dabei stand die »Poesie des Lokalen« (Lipsitz 1994/1999) angesichts globaler Unübersichtlichkeiten und Zumutungen hoch im Kurs ihrer Anhänger aus der westlichen Welt. Wo sich die Musikindustrie aus wirtschaftlichem Eigeninteresse engagiert, leistet sie durchaus auch einen Beitrag zur Entwicklung kreativer Szenen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Die Einschätzung von Peter Zombik, der in den 1990er Jahren als Vorsitzender des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft und der deutschen Landesgruppe der International Federation of the Phonographic Industries behauptete, dass sie »die wichtigste Triebfeder zur Sicherung kultureller, ethnischer und sprachlicher Vielfalt« sei (Zombik 1999: 37), müsste konkret überprüft werden. Wahrscheinlich würde sich diese Aussage ebenso wenig in Gänze bestätigen, wie ihr Gegenteil, dass die Unternehmen der Kultur-, Medienund Musikindustrie zum totalen Verlust von kultureller, ethnischer und sprachlicher Vielfalt führen würden. Im Kern waren in den Unternehmensgeflechten der frühen Tonträgerunternehmen die Strukturprinzipien der Gegenwart, was die Repräsentanz in verschiedenen Regionen der Welt und die Strategien der Bearbeitung regionaler Märkte angeht, bereits angelegt. Mittels Fusionen oder Übernahmen kauften die frühen Tonträgerunternehmen zunächst solche Unternehmen auf, die in anderen Regionen der Welt agierten (vgl. Tschmuck 2003: 42), um anschließend über weltweite Produktions- und Vertriebsnetze zu verfügen (ebd.: 46). Im Zuge der expandierenden und sich nach dem Zweiten Weltkrieg komplexer gestaltenden Unternehmensstrukturen führten die Firmenkonglomerate solche unternehmerischen Handlungsweisen ein bzw. verstärkten schon vorhandene, die ihnen das ungehinderte Wirtschaften im globalen Raum ermöglichten. Wie andere global agierende Unternehmensformen auch (z. B. Automobilwirtschaft) konnten die Majors der Musikwirtschaft weltweit eine oligopolistische Struktur durchsetzen, das heißt die Beherrschung des Marktes von einigen wenigen Großunternehmen. Als für diesen Unternehmenstyp vorteilhafte Wettbewerbsstrategie haben sie in produktionstechnischer und –organisatorischer Hinsicht die Prinzipien der »economy of scale« – der Massenproduktion – perfektioniert und damit die Kostenführerschaft in der Branche erzielt. Dennoch setzte sich auch bei den Majors notwendigerweise ein Bewusstsein durch, auf lokale Nachfragen spezifisch – »economy of scope« – zu reagieren. Nur so konnten sie ihre oligopolistische Vormachtstellung beibehalten (Smudits 1998). Dazu teilte man die Welt, wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in eine Reihe abgrenzbarer Regionen auf: Nordamerika, Südamerika, Europa, Südostasien und den pazifische Raum. In den großen Städten dieser Regionen richtete man Zentralen ein und entwickelte von dort aus Produktlinien, die in den einzelnen Regionen kommerzielle Potenziale versprachen (Negus 1994). Heutzutage sind alle vier derzeit existierenden Unternehmenskonglomerate weltweit vertreten und verwerten in ihren regionalen Dependancen so genanntes »International« und so genanntes »Domestic Repertoire«.
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Laut Aussagen der IFPI lag Ende der 1990er Jahre der Anteil des Domestic Repertoire, des einheimischen Produkts, im Verhältnis zum International Product, das heißt den global vermarkteten Stars, in vielen europäischen Ländern – zum Beispiel Tschechien, Finnland, Deutschland und Spanien – bei über 40 Prozent, in Griechenland und Bulgarien bei nahe 60 Prozent, und im asiatischen Raum, zu dem Japan, Taiwan und Thailand zählen, aber auch im südamerikanischen Raum mit Brasilien und Venezuela bei über 70 Prozent (vgl. Laing 1999). Der Aussagewert dieser statistischen Erhebungen ist allerdings begrenzt. Als Weltverband der Tonträgerunternehmen dokumentiert die IFPI nur solche Zahlen, die ihr von den eigenen nationalen Mitgliedern zur Verfügung gestellt werden. Da viele Länder aus den unterschiedlichsten Gründen nicht Mitglied der IFPI sind – zumeist aus finanziellen, zum Beispiel der Nichtkonvertierbarkeit ihrer Währung – fehlen Zahlenangaben aus ganzen Regionen der Welt. In den einzelnen Ländern existieren in zunehmendem Maße Anbieter, die von keiner Statistik erfasst werden. Vergleichbar der Automobilindustrie, dem Maschinenbau, der chemischen Industrie und der Kommunikationswirtschaft intensivierten die global agierenden Tonträgerunternehmen Ende der 1980er Jahre Strategien globalen Wirtschaftens (Lamprecht 1998), wie sie in den genannten anderen Branchen auch praktiziert wurden. Neben der Verstärkung des traditionellen Außenhandels (Export) beschaffte man Rohstoffe und Halbfertigprodukte, auch »Global Sourcing« genannt (World Music, »Sweet Lullaby«!) und tätigte dort Direktinvestitionen, wo sich unter Ausnutzung geringerer Lohn- und Produktionskosten günstig Dependancen einrichten ließen, etwa die Übernahme von Tonträgerunternehmen des ehemaligen Ostblocks durch BMG als Joint-Venture-Unternehmen in Ungarn (Hungaroton), der einstigen Tschecheslowakei (Supraphon), Sowjetunion (Melodia) und der DDR (VEB-Deutsche Schallplatte). Schließlich forcierte man die Schaffung »strategischer Allianzen« mit für die Musikbranche interessanten Telekommunikationsunternehmen (AOL Time Warner und Vivendi/Universal Music Group). Die Geschichte der Tonträgerwirtschaft im 20. Jahrhundert steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklungen, insbesondere denen der strukturelltechnischen und finanziellen Verdichtung von Handelsbeziehungen und internationalem Güterverkehr. Neben der unternehmensinternen Integration von lokalen bzw. regionalen Märkten durch die so genannten Majors der Musikindustrie wurden dabei auch kleinere Marktsegmente der Musikproduktion interessant. Als Nischen wurden sie vor allem von den Independents bearbeitet. Dabei kam es sowohl zwischen den Independents als auch zeitlich begrenzt zwischen Majors und Independents oder in Form der Integration von Independents in Majorunternehmen zur Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Strukturebenen der Musikwirtschaft und deren gegenseitiger Abhängigkeit. Auf diesem Wege konnte das spezifische Know How der unterschiedlichen Wettbewerbsstrategien (vgl. Schulze 1996: 30f.) von Majors und Indies im Tonträgergeschäft kombiniert werden: Kostenführerschaft, wie sie insbesondere durch ausgebaute Distributionswege, Produktionsanlagen und einen weiten Abnehmerkreis auf Seiten der Majors
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vorhanden war, Differenzierung im Sinne von Exklusivität der Produkte, des Produktdesigns und der Kundendienste auf Seiten der Independents und schließlich Fokussierung auf bestimmte Schwerpunkte und Marktnischen bzw. einzelne Abnehmergruppen und geographisch eingegrenzte Märkte, ebenso eher eine Stärke der Independents. Ein bemerkenswertes Beispiel dieser strukturellen Verflechtungen und Kombination verschiedener Wettbewerbsstrategien stellt zum Beispiel auch das in dieser Untersuchung thematisierte Album »Komodo« von Mauro Picotto dar. Bis in die Gegenwart ließen sich viele ähnliche Beispiele finden. Der DJ Mauro Picotto hatte den Track auf und mit seinem Home-Label Media Records GmbH produziert, das gleichzeitig als Studio und Produktionsfirma für verschiedene DJ-Teams zur Verfügung stand. Unter Vertrag genommen wurde diese Firmenstruktur von Zeitgeist, einem exklusiven Label von Polydor Zeitgeist, das wiederum Teil von Polydor war, beides Unternehmen, die seit Ende der 1990er Jahre zur Universal Music Group gehören. Universal hatte in den 1990er Jahren ein mehrstufiges System von Substrukturen ausgebildet. »Die Major-Companies der Kulturmärkte haben ein offenes System der Repertoire-Entwicklung und Musikproduktion erarbeitet, das sich sowohl auf die kreativen Prozesse, als auch die Prozesse der Produktdifferenzierung erstreckt. Diese effiziente Strategie hat es ihnen ermöglicht, die Kontrolle über weite Teile des Marktprozesses wiederzugewinnen und zu erhalten, die sie Ende der 50er Jahre und Anfang der 60er Jahre verloren hatten als Folge der Tatsache, das (sub)kulturelle Bereiche sich ihrer Einflusssphäre entzogen.« (Schulze 1996: 125)
In dieser als »Loosely Coupled System« bezeichneten Struktur ließen sich Strategien des Marketings, der Lizenzierung und des Vertriebs realisieren, die von dem verhältnismäßig kleinen Label Media Records GmbH niemals hätten geleistet werden können – vor allem, was den Einsatz für ein entsprechend aufwendig gestaltetes Vertriebssystem und die Kosten für Marketing angeht. Das Vertriebssystem und die Marketing-Aktivitäten wurden von der Polydor/Universal Music Group organisiert, die dafür die Rechte an Mauro Picottos »Komodo« lizenzierte. In entsprechenden Repertoire- und Bandübernahme-Verträgen handelte sie die Gewinnanteile mit der Media Records GmbH und den anderen Partnern aus. Das kreative Risiko konnte auf diese Weise aus- bzw. dem Vertriebsprozess vorgelagert werden. Die im Laufe der 1990er Jahre entwickelten Strukturen und Strategien des Tonträgermarktes sind auch ein Ergebnis der Reaktion auf zunehmende Produktvielfalt, -differenzierung und ein latentes Überangebot an Tonträgern. Noch heute existieren vergleichbare Modelle der Zusammenarbeit zwischen Majors und Indies. Die Experimentierfreude und Investitionsbereitschaft habe nach Auskunft vieler Insider (Renner 2004) stark nachgelassen. Einen Grund dafür sieht Tim Renner – der 2004 seiner Entlassung als CEO Deutschland der Universal Music Group mit
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der Aufkündigung seines Vertrages zuvorgekommen war – in der Verantwortungslosigkeit fördernden Trennung von kreativen und administrativen Aufgaben in den großen industriell organisierten Tonträgerunternehmen (ebd.). Während seiner Amtszeit bei Universal hatte Renner beide Bereiche »Tür an Tür« untergebracht. Derartige Wagnisse scheinen angesichts des immensen Kostendrucks in den großen Unternehmen jedoch obsolet. Gleiches betrifft heutzutage auch Fragen der Produktvielfalt. Insbesondere die Bedrohung durch Substitutionsprodukte (z. B. Games-Industrie) und die Verhandlungsstärke der Abnehmer (File-Sharing, Services im Internet) üben seit einigen Jahren einen erheblichen Druck auf die klassischen Tonträgermärkte aus und lassen die Majors im Verbund mit unternehmenseigenen Medien (Sony BMG – RTL) immer häufiger alles auf eine Karte setzen: »one brand – all media – all over the world«. Um der Bedeutung lokaler Musikpraktiken und Musikmärkte auch in ihrer Tragweite für den Handlungsspielraum global agierender Unternehmen der Musikund Medienbranche aus noch einer anderen Perspektive nachzugehen, sei abschließend die Aufmerksamkeit auf einen Akteur der Musikwirtschaft gerichtet, von dem seine Initiatoren glaubten, er sei grenzenlos global platzierbar (MTV). Zugleich wird anhand des japanischen Musikmarktes in groben Zügen erläutert, welche Bedeutung lokale Musikpraktiken für den Verkauf bestimmter Tonträgerformate (Singles) und den Umgang mit globalem Repertoire (Karaoke) haben können und welche Wirkungen dies umgekehrt auf Musikpraktiken andernorts haben kann. 3.3.2 »ONE PLANET – ONE MUSIC «? (MTV) Am 1. August 1981 ging MTV mit dem Buggle-Song »Video killed the Radio Star« auf Sendung (Produzent: Trevor Horn, vgl. Kapitel 3.2.3). Einer der ältesten und global aufgestellten Akteure der US-amerikanischen Entertainment-Industrie Warner Communication und das Finanzunternehmen American Express hatten der Schaffung eines gemeinsamen Videokanals zugestimmt. Dass der Kanal damals mit einem Song startete, der nicht zuletzt verbal das Ende des wichtigsten Promotion-Kanals der Musikindustrie seit den 1950er Jahren proklamierte, nämlich des Radios, war offensichtlich mehr als nur ein Zufall. Ein ähnliches Schicksal sollte 30 Jahre später auch das Musikfernsehen treffen. Mit den medialen Angeboten im Internet – hier vor allem YouTube – und einem völlig veränderten Mediennutzungsverhalten der Hauptzielgruppe der Tonträgerindustrie verlor MTV nicht nur seine Bedeutung, sondern auch sein Gesicht. Im folgenden Kapitel soll es jedoch nicht um die mehr oder minder abgeschlossene Geschichte des Musikfernsehens gehen, sondern kann nur darauf eingegangen werden, warum sich MTV in seiner Blütezeit als global agierendes Unternehmen der Medienindustrie auf ein regional differenziertes Publikum einstellen musste und ob dies überhaupt für ein solches Medienunternehmen möglich war.
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Seit dem Ende der 1970er Jahre sanken die Umsatzzahlen der Musikwirtschaft vor allem in ihrem Kerngeschäft der Tonträgerwirtschaft. Man sprach von einer ernsthaften Rezession auf den Tonträgermärkten. Namentlich die traditionellen Promotion- und Marketing-Instrumente – vor allem die in den 1950er und 1960er Jahren entwickelten Radioformate – verloren ihre Hörer, denn die seit Ende der 1950er Jahre als Hauptzielgruppe der Musikindustrie umworbene Generation der 14- bis 29-Jährigen versagte den Radiostationen und den Fernsehproduzenten von Live- und Playback-Performances die Einschaltquoten und damit deren Werbeeinnahmen. In den westlichen Ländern hatten sich seit Mitte der 1970er Jahre tief greifende soziodemographische Veränderungen vollzogen. Die Generation der so genannten Baby-Boomer stand der Tonträgerwirtschaft immer weniger zur Verfügung, denn deren Interesse am Kauf von Tonträgern und der Nutzung entsprechender Promotion-Instrumente ließ ab etwa ihrem dreißigsten Lebensjahr statistisch nachweisbar nach. Ihr Konsumverhalten bekam eine andere Ausrichtung. Entlang der bislang bevorzugten Aktivitäten in der Beschäftigung mit populärer Musik, wie dem Sammeln von Schallplatten oder dem Hören von Formatradiosendungen, dem Besuch von Live-Konzerten oder der Verehrung eines Rockstars, hatte die Musikwirtschaft der Nachkriegszeit ihre Promotion- und Marketing-Strategien entwickelt und professionalisiert. Zum Ende der 1970er Jahre allerdings bevorzugten 14- bis 29-Jährige andere Freizeitaktivitäten (vgl. Kapitel 2.1.1.2). Im Zentrum des Mediennutzungsverhaltens der betreffenden Generation stand nun vor allem das Fernsehgerät im eigenen Kinder- bzw. Jugendzimmer. Diese Geräte waren im Laufe der 1980er Jahre zunehmend mit den Ergebnissen der damals neuesten Produktions- und Distributionstechnologien ausgestattet: mit Kabel- und Satellitenfernsehen und mit Digitaltechnik. Spartenkanäle traten in Konkurrenz zu den bis dato vor allem in Europa verbreiteten Vollprogrammen, die im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sendestationen mit einem breiten Programmangebot eine möglichst große Zuhörerschaft erreichen sollten. Musikkanäle sind privat finanzierte Spartenkanäle. Neben den sozialen Verschiebungen sollte die technisch mögliche Diversifikation und die Anfang der 1980er Jahre einsetzende Welle der zunehmenden Privatisierung von Medienunternehmen weit reichende Folgen für die Existenz globalisierter Musikformen haben. Händeringend suchte die Musikindustrie nach effektiveren Formen der Produktwerbung. Konzerttourneen und traditionelle Radioformate waren zu kostenintensiv geworden, schwerfällig und vor allem in ihrer Reichweite begrenzt. Inszeniert als ein unkonventionelles, eigentlich fernsehfeindliches und widerständiges Medium erreichte MTV im Jahr seiner Gründung 2,1 Millionen Haushalte in den USA (Neumann-Braun 1999). 1985 ging das Gesamtunternehmen an den Fernsehprogrammdienst VIACOM International, der das Programm 1987 an die Mirror-Gruppe des Londoner Verlegers Robert Maxwell lizenzierte, um von London aus gemeinsam mit der British Telecom seit 1987 als MTV-Europe in die
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Kabelnetze Westeuropas und Skandinaviens eingespeist zu werden (Schmidt 1999). Noch im gleichen Jahr wagte MTV den Schritt nach Lateinamerika, Asien, Japan und Australien, um sich als alleiniger Anbieter einen exklusiven Zugang zu einem globalen Jugendmarkt zu erschließen. MTV wurde damit zugleich zu einem wesentlichen Instrument der Marketing-Abteilungen der global agierenden Tonträgerunternehmen. Wer in diesem Medium in den 1980er und 1990er Jahren nicht präsent war, war global nicht präsent, nicht prominent. Heute betreibt MTV private Fernsehstationen an ca. 50 Standorten weltweit. Meistenteils wurde die unmittelbare Zusammenarbeit mit den Tonträgermajors inzwischen aufgekündigt. Die Produktion eines Musikvideos überschreitet für viele Labels und ihre Künstler heute die schmaler gewordenen Marketingbudgets. Die Sendeprofile werden deshalb vor allem durch Shows, Doku-Soaps, Star-Magazine und Musikvideos bestimmt. Hinter dem Konzept »One Planet – One Music« verbarg sich in den 1980er Jahren zunächst ein vordergründiger Bezug auf kulturelle Globalisierungstendenzen. Es machte den Anschein, als könnte man mit dem Konzept der Vermarktung internationaler Stars und der Werbung für globale Lifestyle-Produkte wie CDs, PC-Spiele, Kosmetika, Filme, Freizeit- und Sportbekleidung grenzenlos global erfolgreich sein. Die wirtschaftlichen Risiken international verwertbaren Repertoires schienen niedriger als diejenigen für das so genannte nationale, regionale und lokale Repertoire. Spätestens mit der Gründung von MTV-Asia (1991), MTV-Latino (1993) und von MTV-Mandarin, das seit 1995 von Taiwan aus in chinesischer Sprache sendete, wurde jedoch deutlich, dass zumindest die sprachlichen Besonderheiten in den einzelnen Regionen offensichtlich einen ernst zu nehmenden Risikofaktor darstellten und als solche ernstgenommen und in die Unternehmensstrategien integriert werden mussten. Wenn seit Mitte der 1990er Jahre ein Drittel der Firmenumsätze von MTV in den internationalen Schwesterunternehmen erwirtschaftet wurde, dann war die Neuorientierung der Unternehmensstrategie mittels Direktinvestitionen in regional verankerte Unternehmensstrukturen offensichtlich dringend notwendig geworden. MTV-Network passte sich im Rahmen seiner unternehmerischen Prioritäten den Bedingungen lokaler Märkte an. Bevor dies näher am europäischen Markt erläutert wird, verbleibe ich kurz auf dem asiatischen Kontinent, in Japan. Denn die kulturelle Bedeutung eines lokalen Marktes lässt sich recht eindrucksvoll auch am japanischen Musikmarkt aufzeigen. Neben den USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich gehört der japanische Musikmarkt zu den umsatzstärksten der Welt. Seit Jahrzehnten belegt Japan Platz 2 in der Statistik der Umsatzanteile der wichtigsten Tonträgermärkte der Welt, der 1998 konkret bei 16,9 Prozent und 2007 bei 16,4 Prozent lag (Bundesverband Musikindustrie 2009: 56). Doch war es dort nicht etwa wie in Großbritannien oder Deutschland das International Product, sondern der Marktanteil des Domestic Products bzw. Repertoires, der 1997 laut Statistik der International Federation of Phonographic Industries mit 78 Prozent außerordentlich hoch zu Buche schlug (vgl. Laing 1999). Bis 1967 hatte aus historischen Gründen das Interna-
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tional Product auch auf dem japanischen Markt die höchsten Umsatzanteile zu verzeichnen. In den 1970er Jahren begann die Zeit des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs, der Boom der japanischen Elektro- und Elektronikindustrie und die Konzentration von Finanzkapital an der Tokioter Börse. Mit der Erfindung des Sony-Walkmans im Jahre 1979 und mit der 1982/83 gemeinsam von Philips und Sony entwickelten digitalen Compact-Disc gingen Meilensteine der Phonographischen Entwicklung der Nachkriegszeit von Japan aus. Auch die Erfindung und Markteinführung des Digital-Audio-Tapes (DAT) erfolgte im Jahr 1986 durch Sony, das als Unternehmen global aufgestellt war. Besonders erfolgreich waren in den 1990er Jahren in Japan so genannte SingleCDs, das heißt entweder die Auskopplungen von Alben oder speziell für dieses Format zusammengestellte Produktionen. Von 446.400 Millionen verkauften Tonträgern waren im Jahr 1998 nach Angaben der IFPI 144.000 Millionen Single-CDs. Das entsprach einem Anteil von 32 Prozent. Im Vergleichszeitraum lag der Anteil von verkauften Single-CDs in Deutschland bei knapp 19 Prozent. Das verhaltene Interesse an Alben hatte in Japan – so der japanische Musikwissenschaftler Shuhei Hosokawa (Hosokawa 1997) – mehrerlei Ursachen. So spielte beispielsweise das Radiohören eine nur nachgeordnete Rolle. Es gab vor allem sehr wenige Autoradios, doch die waren für die betreffenden Zusammenhänge ein wesentliches Verbreitungsmittel. Autofahren ist für die meisten Japaner wegen der vergleichsweise hohen Benzinpreise und dem latenten Mangel an Parkplätzen in den Metropolen ein exklusives Vergnügen. Einen noch bedeutsameren Platz im Umgang mit populären Musikformen nahm bis zur Einführung des Internets hingegen das Fernsehen ein. Deshalb sind im modernen Japan kurze Songs wichtig: Lieder, die als Erkennungsmelodien vor allem in der Fernsehwerbung eine große Rolle spielen, so genannte »Tie-upSongs«. Das Interesse an derlei Songs folgt einer kulturellen Erfahrungs- und Handlungswelt, die der Singstimme, ihrer technischen Perfektionierung und den Texten der Lieder eine Schlüsselposition innerhalb der musikalischen Praxis einräumt. Das weit über die Grenzen mittlerweile bekannte Phänomen des Karaoke steht in der Tradition dörflicher Singwettstreite, die angesichts rasanter technologischer, urbaner und sozialer Modernisierungen auf eindrucksvolle Weise Altes und Neues zu vereinbaren in der Lage ist. Die Kopie eines Beatles-Songs, eines Reggae oder Rap, war vom Original kaum zu unterscheiden und funktioniert in Japan dennoch als eine authentische Konstruktion von Originalität und Identität (Hosokawa 1997), sicherlich auch, weil in asiatischen Kulturen die Reproduktionstechniken – vergleiche Kalligraphie – einen sehr viel höheren Stellenwert als in westlichen Kulturen einnehmen. Diese Stilistiken reihen sich neben die traditionellen Schlager und populären Lieder, auf japanisch »Enka«, »Meinungslieder« mit einem ursprünglich politischen und sozialkritischen Charakter. Sie begleiteten den widersprüchlichen Prozess der sozialen, ökonomischen und kulturellen Verwestlichung Japans seit dem Ende des 19. Jahrhunderts:
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Mediale Verfügbarkeit »Bebendes Vibrato in der Stimme und emotionale Überzeugungskraft blieben die herausragendsten Kennzeichen dieser Form des japanischen populären Liedes, dessen Assimilationsfähigkeit für die unterschiedlichsten und zeitbedingt wechselnden musikalischen Einflüsse ihr wohl auch eine ungebrochene Überlebensfähigkeit sicherte.« (Wicke/Ziegenrücker 1997: 158)
Alle Musikarten und -stile sind seit dem 20. Jahrhundert in Japans Millionenstädten präsent. Ihr Nebeneinander sorgte dafür, dass der Hit »Big in Japan« von der deutschen Gruppe Alphaville (1984) als Slogan eher eine hoffnungslose Projektion denn Realität für die global agierende Musikindustrie war. In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts hat sich umgekehrt eine weitere Besonderheit japanischer Popmusikkultur auf globalen Märkten durchgesetzt: Visual Key, eine durch starke visuelle Zeichen (Frisuren, Make-up) an japanische Manga-Figuren (Comic-Figuren) erinnernde jugendkulturelle Szene. MTV-Europe wurde seit seiner Gründung mit einer immensen sprachlichen und kulturellen Mannigfaltigkeit im Ausstrahlungsgebiet konfrontiert. Dieses Phänomen hatte das Unternehmen in den 1990er Jahren einem heftigen Konkurrenzkampf mit »einheimischen Anbietern« ausgesetzt, zum Beispiel mit VIVA im deutschsprachigen Raum und The Music Factory in den Niederlanden. Zwar stiegen Mitte der 1990er Jahre laut Branchenaussagen die Zahlen der europäischen Haushalte, in denen MTV eingeschaltet wurde, sie erwirtschafteten aber keinen ausreichenden Erfolg im Vergleich zur Mutterfirma in den USA. Der europäische Markt aber war zu interessant, als dass man ihn hätte vernachlässigen können. Zunächst sendete MTV-Europe ausschließlich in englischer Sprache und überschätzte damit die Sprachkenntnisse junger Europäer. Eine belgische Studie (Roe/de Meyer 1999) befragte Zuschauer von MTV-Europe und errechnete, dass 20 Prozent der Zuschauer behaupteten, alles zu verstehen, 52 Prozent es egal war, ob sie etwas verstanden oder nicht, und 24 Prozent mehr MTV gucken würden, wenn man dort ihre Muttersprache sprechen würde. Auch die Musikauswahl konzentrierte sich stark an US-amerikanischer und britischer Popmusik, und die Behauptung, man wolle zukünftig mehr Aufmerksamkeit den verschiedenen europäischen Musikszenen schenken, blieb zunächst uneingelöst. Das aber praktizierten die Konkurrenten von MTV-Europe. Sie nutzten die Synergieeffekte lokaler Standortpolitik, zum Beispiel VIVA in Nordrhein-Westfalen, stellten regionale Bezüge auf der kulturell-sprachlichen Ebene her, indem die VJs deutsch sprachen, und entwickelten ein zielgruppengenaues Sendedesign als optischen Gegenpol zu MTV. In den Niederlanden erhielt MTV-Europe durch TMF (The Music Factory) Konkurrenz. Dieser Kanal, der 1995 auf Sendung ging, präsentierte vergleichsweise viele lokale Künstler in seinem Programm, hielt einen speziellen flämischen Service bereit und engagierte holländisch sprechende VJs (Roe/de Meyer 1999). Wenn man den statistischen Erhebungen der Kanäle Glauben schenken darf, standen sie Ende der 1990er Jahre gleichermaßen in der Gunst der Zuschauer. Im Zuge
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der Gründung einer Fernsehstation MTV-Niederlande verlor TMF etliche VJs an den globalen Branchenführer. 2002 wurde der bis dahin eigenständige Musiksender TMF von Viacom übernommen, zu dem auch die internationale MTV Group gehört. Ein ähnliches Schicksal ereilte den deutschen Musikfernsehsender VIVA. MTV-Europe reformierte im Laufe der zweiten Hälfte der 1990er Jahre sein Programm: Man richtete vier Zonen regionaler Programme ein, veränderte strukturell das Sendekonzept und versuchte, auf sprachliche und musikkulturelle Besonderheiten in den Regionen einzugehen. In vier regionalen Zonen errichtete man MTV-Europe Dependancen: »UK/Irland«, »Central« mit Deutschland, Österreich, der Schweiz und den osteuropäischen Staaten, »Northern«, zudem paradoxerweise nicht nur Nordeuropa, sondern auch Ägypten, Israel und Südafrika gerechnet wurde und »Southern« mit Italien, Frankreich und Spanien. Diese Form einer sehr groben Regionalisierung konnte kaum kulturelle Besonderheiten repräsentieren und war dennoch in der Lage, die vor Ort entstandenen Musiksender nach einer kurzen Phase ihres Erfolges aufzukaufen. Als Werbeeinnahmenabhängige private Fernsehstationen reichte deren Kapital offenbar nicht aus, regionale Standortvorteile langfristig geltend zu machen. Reichweite und Ressourcenknappheit setzen kommerziell organisierten lokalen Angeboten deutliche Grenzen. Mit allen nur erdenklichen Mitteln versuchen Musikfernsehstationen heutzutage dem veränderten Mediennutzungsverhalten ihrer Hauptzielgruppe entgegenzukommen. Doch die medialen Entwicklungen scheinen auch diesem Format die Nutzer und Einnahmen endgültig zu entziehen. Ein wirklich globales Format stellt nun das Internet dar. Anders als die bisher bekannten Organisationsformen der global agierenden Musikwirtschaft muss es dezentrale Vertriebswege nicht als komplementäre Wettbewerbsstrategien implantieren, sie sind im Format bzw. seinen Organisationsformen bereits angelegt. Der Begriff des lokalen Marktes macht in diesem Medium dann allerdings wenig Sinn. Lokal bedeutsam werden jedoch die Existenzbedingungen der unterschiedlichen Akteure des Musikprozesses, angefangen bei Musikern, Konzertstätten und dem Publikum, das heißt diejenigen Orte, an denen neben den Treffpunkten im Netz (MySpace etc.) reelle Begegnungen vermittelt über Musik soziale und kulturelle Erfahrungen ermöglichen. 3.3.3 W ETTBEWERBSVORTEILE - ZUSAMMENFASSENDE ÜBERLEGUNGEN ZUR BEDEUTUNG LOKALER MÄRKTE Märkte verändern sich. Die Musikwirtschaft verändert sich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheinen vor allem die strategischen Allianzen der hochgradig integrierten und global organisierten Medienkonglomerate einerseits und die nahezu unüberschaubare Vielzahl von Anbietern, vom Kleinstunternehmen bis zu solchen Akteuren, die nur kurzfristig unternehmerisch tätig werden, das Verhältnis der verschiedenen Akteure am Markt zu bestimmen. Inwiefern dabei Entwick242
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lungspotenziale aus lokalen Zusammenhängen kommerziell für die großen Unternehmen und die unzähligen Kleinstunternehmen eine Rolle spielen, kann derzeit nur vage eingeschätzt werden. In offiziellen Verlautbarungen der Branche spielen Bezüge auf lokale Märkte im Gegensatz zu den fortwährenden Ängsten bezüglich eines erodierenden Urheberrechtes (Bundesverband Musikindustrie 2009) keine Rolle mehr (vgl. Zombik 1999). Lokale Bezüge und die Bedeutung lokaler Märkte werden gegenwärtig fast ausschließlich in standortpolitischen Kategorien (Kulturund Kreativwirtschaftspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Tourismuswirtschaft) reflektiert und verhandelt (Deutscher Bundestag 2008: 529ff.). Der Rückgang von Umsatzzahlen auf den Tonträgermärkten ist gewiss nicht allein auf das Brennen von CDs und die mangelnde Kreativität in den Artist-andRepertoire-Abteilungen der Unternehmen selbst zurückzuführen, sondern in erster Linie auf die Auswirkungen des sozialen und ökonomischen Wandels der Gesellschaften ganz allgemein und im Speziellen auf das Mediennutzungsverhalten der Hauptzielgruppen weltweit. Mediale Verfügbarkeit ist offenbar ein unumkehrbares Phänomen, das technisch möglich, aus kultureller und ökonomischer Perspektive aber ambivalent gehandhabt und bewertet wird. Was entweder in jugendlichem Leichtsinn oder aus widerständigem Kalkül medial verfügbar gemacht wird (FileSharing) stößt verständlicherweise bei vielen Musikern und insbesondere den Verwertern von Musik (Labels, Verlage) auf heftige Ablehnung. Wenn gegenwärtig öffentlich häufig über den Wert von Musik gestritten wird, dann sollten sich die Diskutanten bewusst machen, dass der Wert seitens der verschiedenen Akteure jeweils auch ein anderer ist bzw. unterschiedliche Aspekte bei der Bewertung von Musik eine Rolle spielen: Selbstverwirklichung, Sozialisationsmedium, Gewinnerwartungen. Nur wenn Musik für diejenigen, die mit ihr umgehen, eine kulturelle Bedeutung in bestimmten Kontexten besitzt, wird das Interesse an ihr nicht versiegen. Für die kommerziellen, erwerbsmäßig orientierten Anbieter von Tonträgern, Dateien oder Konzerten ist sie ein Produkt, für den Käufer ist sie eine Dienstleistung, mittels derer er vor allem Identität, Emotionen und kommunikative Situationen erwirbt. Die verschiedenen Formen populärer Musik fungieren als Medium der kulturellen Selbstvergewisserung u n d als mediale Garanten ihrer kommerziell organisierten Absatzpolitik für bestimmte Märkte. Noch in ihren hochgradig globalisierten Existenzformen (MTV-Mandarin oder MTV-Europe, Recordingteams in China, Landes-Divisionen der Universal Music Group oder die authentischen Kopien aus japanischen Karaokeboxen) lassen sich die Akteure der Musikwirtschaft auf kulturelle Differenzen ein. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war die Matrix kultureller Differenzen insbesondere auch durch lokale Parameter und eine deutliche Regionalisierung des Repertoires populärer Musik gekennzeichnet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts tauchen lokale und ethnische Repräsentationen in immer wieder neuen Kombinationen eher als Versatzstücke im Repertoire populärer Musikformen auf. Gleichzeitig werden wir Zeugen, wie 100 Prozent durchkalkulierte globale Medienproduktio-
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nen, zum Beispiel die diversen Star-Search-Projekte, von jungen Leuten weltweit vor Ort kulturell spezifisch angeeignet, das heißt in ihre Erfahrungswelten integriert und Wertvorstellungen dabei auch gebrochen werden. Es ist nahezu unmöglich, die unterschiedlichsten Tendenzen auf den verschiedenen Musikmärkten der Welt zu überschauen. Für die westlichen Märkte gilt wohl nach wie vor, dass insbesondere diejenigen, die eine geschickte Balance aus Bekanntem, Abseitigem und Überraschendem produzieren, einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen haben. Inwiefern sich angesichts dieser nahezu unüberschaubaren Vielfalt und ihrer medialen Verfügbarkeit noch kulturelle Bindekräfte lokaler Märkte herstellen lassen, wird die Zukunft zeigen.
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»P OPULÄRE M USIK , MEDIALE V ERFÜGBARKEIT UND
G LOBALISIERUNG« - WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE WISSENSCHAFTSTHEORE TISCHE UND MUSIKPOLITISCHE
PE R SPEKTIVEN
NACHWORT Fast täglich erreichen uns Nachrichten zum Thema »Mediale Verfügbarkeit«. Google schickt sich an, eine Welt-Bibliothek der Wissensgesellschaft zu »errichten«. Die Back-Kataloge der Tonträgerunternehmen liegen längst in digitalisierter Form vor. Es existiert kaum mehr ein Klang, der nicht digital produziert, bearbeitet oder fixiert wurde. Dies betrifft nicht allein Klänge, die in entsprechenden Datenformaten vorliegen, sondern ebenso einen beachtlichen Anteil instrumentalen Equipments inklusive Software für solche Zusammenhänge, in denen Klänge »unmittelbar« zum Beispiel auf Bühnen produziert und kommuniziert werden. Man mag diese Entwicklung euphorisch begrüßen oder gekränkt bedauern, unreflektiert sollte sie aus musik- und medienwissenschaftlichen, musikpädagogischen oder musikpolitischen Gründen auf gar keinen Fall bleiben. Medialität wurde zu einer weit reichenden Voraussetzung des Umgangs mit Klängen und entsprechenden musikalischen Praktiken. Was im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit den Erfindungen der Phonographie begann, begegnet uns heute in sämtlichen Produktions-, Verbreitungs- und Aneignungsprozessen von Musik, die Anfang des 21. Jahrhunderts zunehmend durch interaktive und mobile audiovisuelle Medien bestimmt werden. Medien sind längst von einer peripheren zu einer primären Sozialisationsinstanz geworden und populäre Musikformen spielen in diesen Zusammenhängen eine dominante Rolle. Dabei machen Laptop, Handy oder MP3-Player Musik nicht nur jederzeit und überall verfügbar, moderne Medientechnologien und Medienunternehmen machen vor allem auch Klänge und Musik aus jeder Zeit und von Überall – wenn sie denn technisch fixiert oder rekonstruiert wurden – verfügbar. Medialität stellt also zugleich einen bedeutenden strukturellen Aspekt moderner Globalisierungsprozesse dar. Die Entwicklung technologischer Apparaturen gilt als Voraussetzung kommunikativen Austausches über weite Strecken. Techni-
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sche Kommunikationsmittel und die Organisationsformen ihrer Verbreitung helfen Distanzen in Raum und Zeit zu überwinden. Dies betrifft in der Konsequenz jedes kulturelle Artefakt. Die vorliegende Untersuchung hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Zusammenhang von Mediatisierungs- und Globalisierungsprozessen vor dem Hintergrund der Analyse populärer Musik als ästhetischem Phänomen, kultureller Praxis und kommerziellem Produkt nachzugehen. Den Ausgangspunkt bildeten konkrete lokale Musikpraktiken, die im Zuge ihrer Mediatisierung sowohl zu Produkten des globalen Musikmarktes als auch zu andernorts jeweils spezifisch angeeigneten ästhetischen Phänomenen kultureller Praktiken wurden. Allgemeine Regeln eines Kulturtransfers ließen sich dabei nicht extrahieren. In der konkreten Begegnung von aus unterschiedlichen Regionen der Welt stammenden, durch Migration transferierten oder – was in dieser Arbeit im Zentrum stand – durch Medien fixierten und verbreiteten Klängen und populären Musikformen werden unterschiedliche Aspekte kultureller Praktiken verstärkt. Die jeweilige Komplexität der genannten gesellschaftlichen Phänomene greift punktuell ineinander. Das erschwert es logischerweise zusätzlich, eindeutige und verallgemeinerbare Erklärungsmuster vorzuschlagen. Man könnte dies als erkenntnistheoretisches und erkenntnispraktisches Dilemma missverstehen. Nichts als Komplexität!? In der Tat erzeugt das Maß an ersichtlicher Komplexität als auch die Fülle potenzieller Primär- und Sekundärquellen zum Gegenstand dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung vor allem Suchbewegungen. Das betrifft sowohl die disziplinäre Verortung im weiten Feld der Kultur- und Sozialwissenschaften, als auch den Versuch, das gewählte Thema so auszuloten, einzugrenzen und gedanklich zu systematisieren, dass Erkenntnisse und Nachvollziehbarkeit möglich bleiben. Zweifellos konnte dabei der eine und andere Aspekt weniger gründlich beleuchtet werden als manch anderer. Dies hatte mit den Ausgangsfragen, der Materiallage, dem methodischen Ansatz, der historischen Dynamik des hier angesprochenen Zusammenhangs von Medialisierungs- und Globalisierungsprozessen und nicht zuletzt mit meinen eigenen Interessen und Erfahrungen im Forschungsfeld populäre Musik und Globalisierung zu tun. Insbesondere im Kontext der Erforschungen von populären Musikformen sind Entscheidungen für eine adäquate Methodologie nicht nur abhängig von der Fragerichtung, sondern vor allem von der Konzeptionalisierung des Gegenstandes populäre Musik selbst. Eine nach wie vor in überwiegendem Maße am notierten Gehalt und der Biographik von Komponisten orientierte Musikwissenschaft ist hierbei wenig hilfreich, denn sie kollidiert immer dort, wo nicht der intendierte und rezipierte Gehalt, sondern die Medialität von Musik und die Interessen der am diskursiven Aushandlungsprozess dessen, was als Musik verstanden wird, den Schlüssel zum Verständnis von Musikpraktiken und Musikleben darstellt. Auch aus diesem Grunde haben mich vor allem die Begriffe, Methoden und Erkenntnisse der Cultural Studies und das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändernde Selbstverständnis der Musikethnologie interessiert und inspiriert. Beide gehen nicht nor-
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mativ vor, sondern geben Begriffe und Methoden an die Hand, die es ermöglichen Verstehenssysteme und die ihnen eigenen Regeln, Normen und Strukturen zu ergründen und zu erkennen und sie ihnen vor allem auch zuzubilligen. Kulturelle Diversität kann nicht mit einem normativen oder universellen, sondern nur mit einem sich selbst auch in Frage stellenden, also relativen Kulturbegriff abgebildet werden. In den Cultural Studies als auch den hier fokussierten Herangehensweisen musikethnologischer Forschung standen zunächst sehr konkrete Vergemeinschaftungsformen und deren kulturelle Praktiken vor Ort bzw. an bestimmten Orten im Zentrum. Selbstverständlich reicht es heutzutage nicht mehr aus, Untersuchungen von Kultur und Gesellschaft auf einzelne Orte und deren »typische« kulturelle Praktiken und Artefakte zu beschränken. Das Thema dieser Arbeit wäre geradezu verfehlt, wenn es nicht globale Phänomene wie zum Beispiel über Medien vernetzte oder auch imaginierte Vergemeinschaftungsformen einbeziehen würde. Schlussendlich bleibt deren raum-zeitliche Konkretisierung aber doch relevant. Das betrifft Fragen der medialen Infrastruktur vor Ort, des Mediengebrauchs, sozio-demographische Faktoren oder spezifische Formen von Migration und unterschiedliche aufeinandertreffende kulturelle Erfahrungen, Traditionen und Brüche konkreter, aber doch auch immer in Veränderung befindlicher Gemeinschaften. Weiterführende Untersuchungen hätten meines Erachtens insbesondere an diesen Koordinaten anzusetzen. Blieben in dieser Untersuchung die betreffenden Vergemeinschaftungsformen noch relativ abstrakt, so sollten sie in künftigen Studien stärkere Beachtung finden. In dieser Hinsicht äußerst interessante Arbeiten haben in letzter Zeit die Ethnologen Martin Greve – »Die Musik der imaginierten Türkei: Musik und Musikleben im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland« (Greve 2003) und Thomas Burkhalter – »Challenging the Concept of Cultural Difference: ›Locality‹ and ›Place‹ in the Music of Contemporary Beirut« (Burkhalter 2009) – vorgelegt. Beide haben sich in ihren musikethnologischen Feldforschungen auf moderne, komplexe Gesellschaften in Großstädten eingelassen. Schwierig blieb dabei die Begrenzung der zu untersuchenden Koordinaten (Generationen, Ethnien, Berufsbilder, Städte, mediale Infrastruktur) einerseits und die Fokussierung auf bestimmte Aspekte des Globalisierungsprozesses (kommunikationstechnische, ästhetische, kommerzielle) andererseits. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den musikalischen Phänomenen einer modernen globalisierten und mediatisierten Welt verlangt sowohl reflexive theoretische Konzepte als auch sehr konkrete, kleinteilige Studien. Die in der hier vorliegenden Arbeit immer wieder angesprochenen postkolonialen Entwicklungen erfordern dabei einen konzeptionellen Perspektivenwechsel, das heißt das durch Geschichte und Wirkungsgeschichte notwendige Infragestellen und Überschreiten von Kategorien. Trotz postkolonialer Entwicklungen und deren beachtlicher Auswirkungen auf Europa und die westliche Welt als »Weltdeutungszentrum« (Kaschuba 2009) ist insbesondere in den deutschsprachigen Geistes- und Kulturwissenschaften das Denken in den Kategorien von ethnischen und exotischen
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Repräsentationen noch nicht überwunden. Die Trennung in europäische und außereuropäische Musik beispielsweise, deren Behandlung disziplinär im deutschen Wissenschaftssystem fest institutionalisiert ist (Musikhistoriographie, Musikethnologie) und im Schulmusikunterricht streng getrennt bleibt, zeugt von einer eigentlich längst in Verruf geratenen (Said 1978), latent spät-kolonialen und paternalistischen Haltung. Die mediale Verfügbarkeit von Klängen verdeutlicht manche dieser überkommenen Positionen und macht sie hörbar. Dabei konfrontiert sie die Welt der Musik mit Strategien – Homogenisierung globaler Nischenkulturen, regionale Ausdifferenzierung des Mainstreams (Gebesmair 2006/08) –, die den europäisch-westlichen Konzeptionalisierungen von kultureller Vielfalt durchaus zuwiderlaufen. Wer die Vielfalt »außereuropäischer« Musik in erster Linie aus deren vormodernen Traditionen begründet und so erhalten wissen will, verlangt von ihr und ihren Akteuren, sich möglichst nicht zu verändern, so zu bleiben, wie es immer schon war, obwohl es dieses »schon immer« gar nicht gibt bzw. gab. Er wünscht sich historisch mehr oder weniger stabile, prinzipiell in sich geschlossene Systeme, auf die er seine durch eigene Erfahrungen, Lern- und Deutungsprozesse geprägten Vorstellungen von Authentizität projizieren kann. Die Mediatisierung beschädige ihre Echtheit. Freilich vollziehen sich angesichts der medialen Verfügbarkeit von Klängen höchst widersprüchliche Prozesse. So wie die Folgen von Globalisierungsprozessen je nach Perspektive der handelnden oder betroffenen Akteure sehr unterschiedlich bewertet werden, so auch die Folgen der Mediatisierung. Was für die einen den Zugang zu vorher Unzugänglichem auf unkomplizierte Weise ermöglicht, stellt sich für andere als Ausverkauf von Einzigartigkeit und Vielfalt dar. Mediale Verfügbarkeit kann – sehr verallgemeinert – das Ende der Exklusivität von Klängen bzw. Musik bedeuten, sie kann aber auch die Monopolisierung medialer Macht zur Konsequenz haben. Machterhalt, -kontrolle und die Unterwanderung von Macht durch Medien bzw. Mediatisierung oszillieren je nach Perspektive und Position. Die Ereignisse während der Präsidentschaftswahlen im »Mittleren Osten« (Iran 2009) sind nur ein Beispiel in der endlosen Kette entsprechender Ereignisse. Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Telekommunikationsmedien enthalten mehrerlei Optionen, wobei diese von den jeweiligen Protagonisten mit Vehemenz gegeneinander im ökonomischen und politischen Raum ausgefochten werden. Wie kann eine mediale Kultur entstehen, die sowohl den Urhebern als auch den Aneignenden, den Nutzern gerecht wird? Wer wird die globalen audiovisuellen Medienarchive der Gegenwart und Zukunft technisch verwalten, ökonomisch verwerten, für die Öffentlichkeit zugänglich machen und ihre Inhalte vor Missbrauch schützen? In der Tat stehen wir derzeit vor einer Fülle unbeantworteter Fragen, wie wir mit den Veränderungen der von Menschen geschaffenen technischen und kulturellen Werkzeuge in Zukunft umgehen werden. Sie stehen nicht allein auf der Agenda von Justiz und Politik, sondern müssen auch das Erkenntnis-
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interesse und Methodenspektrum von Geistes- und Kulturwissenschaften provozieren.
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Silke Borgstedt Der Musik-Star Vergleichende Imageanalysen von Alfred Brendel, Stefanie Hertel und Robbie Williams 2007, 314 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-772-1
Immanuel Brockhaus, Bernhard Weber (Hg.) Inside The Cut Digitale Schnitttechniken und Populäre Musik. Entwicklung – Wahrnehmung – Ästhetik Juni 2010, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1388-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Studien zur Popularmusik Fernand Hörner, Oliver Kautny (Hg.) Die Stimme im HipHop Untersuchungen eines intermedialen Phänomens 2009, 204 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-998-5
Kai Lothwesen Klang – Struktur – Konzept Die Bedeutung der Neuen Musik für Free Jazz und Improvisationsmusik 2009, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-930-5
Julio Mendívil Ein musikalisches Stück Heimat Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager 2008, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-864-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Studien zur Popularmusik Michael Custodis Klassische Musik heute Eine Spurensuche in der Rockmusik 2009, 274 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1249-3
Annemarie Firme, Ramona Hocker (Hg.) Von Schlachthymnen und Protestsongs Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg 2006, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-561-1
Heinrich Klingmann Groove – Kultur – Unterricht Studien zur pädagogischen Erschließung einer musikkulturellen Praktik Januar 2010, 440 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1354-4
Thomas Krettenauer, Michael Ahlers (Hg.) Pop Insights Bestandsaufnahmen aktueller Pop- und Medienkultur 2007, 152 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-730-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de