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German Pages 226 Year 2014
Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä (Hg.) Das öffentliche Ich
Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä (Hg.)
Das öffentliche Ich Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext
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Inhalt
Einleitung Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä | 7
Ich-Gesicht. Historische Anmerkungen zum Individuellen als Vervielfältigung Valentin Groebner | 11
Vom Ich-Zwang zum Ausreden-Ich Fritz Breithaupt | 25
Zum Ursprung des Lebenslaufs Selbst-Inszenierungen im frühneuzeitlichen Spanien Robert Folger | 39
Strategien des Verschwindens Ikonophobe Autorschaft Bernd Stiegler | 57
Biographie, Autobiographie und Parodie Vladimir Nabokovs Selbsterschaffung und Selbstzerstörung Ulrich Schmid | 79
Die Spektakularisierung der Literatur Vincent Kaufmann | 91
Foucault als Schwellenwesen Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Autobiografie Dieter Thomä | 105
Automedialität und Künstlerschaft Film — Video — Internet: Künstlerische Selbstdarstellung in der Geschichte des Bewegtbildes Nina Gerlach | 135
Image 2.0 oder: SelbstTechnologien in sozio-medialen Netzwerken Beate Ochsner | 161
Express Yourself 3.0! Über die Auswirkungen des transmedialen Digitalen und der Vernetzung auf die gegenwär tige Subjektivität: Kommunikatives Handeln auf zwei Ebenen, entdramatisier te Selbstver textlichung und somatotechnologischesdisjunktives Kontinuum Laurence Allard | 179
Selbst: Erscheinen — Verschwinden »Asoziale« Ästhetiken auf YouTube Birgit Richard | 203
Autorinnen und Autoren | 221
Einleitung Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä
Schon in der Antike galt die Sentenz »Individuum est ineffabile«. Das Ich ist unaussprechbar, gleichzeitig existiert es nur, wenn es sich selbst in der Öffentlichkeit thematisiert und inszeniert. Ein Ich kann sich ohne Anerkennung der Außenwelt gar nicht ausbilden, es produziert sich, um vom Blick anderer wahrgenommen zu werden. Dabei bleibt es eine problematische Größe. Seit jeher bewegt es sich in einer schwierigen Zwischenstellung zwischen der Authentizität (»ich bin ich selbst«) einerseits und der Fiktionalität (»ich spiele eine Rolle«) andererseits, zwischen Stabilitätsanspruch (»ich bleibe mir gleich«) und Dynamik (»ich verändere mich«). Diese Zwischenstellung wird mit den unterschiedlichsten Kategorien gefasst, wobei bald die Konstanz, bald die Varianz betont werden: Hierzu gehören u.a. die Konzepte der Bildung, des Rollenspiels, der Selbsterfindung, aber auch des »Verschwindens« des Ich. Gerade weil die Geistes- und Sozialwissenschaften mit menschlichem Verhalten und Kulturprodukten befasst sind, stellt das Ich in diesem Rahmen eine zentrale Deutungskategorie dar. Klassiker der Sozialtheorie wie George Herbert Mead oder Erving Goffman und Denker des Poststrukturalismus wie Jacques Lacan, Louis Althusser oder der späte Michel Foucault haben sich mit der Konzeptualisierung des Ich befasst. Dabei ist zu vermerken, dass mit diesen Theoretisierungen meistens versucht wird, die Konstruiertheit und Historizität des Ich zu erfassen; es wird als eine spezifische soziale Konfiguration bestimmte Funktion definiert oder auch, im Fall der Psychoanalyse, als Funktion eines komplexen psychischen Apparates. Weitgehend hat sich die Theorie im vergangenen Jahrhundert an Pascals »Le moi est haïssable«, an Rimbauds »Je est un autre« und an Ernst Machs »Das Ich ist unrettbar« angeschlossen. Und wenn es nicht gerade darum ging, das Ich zu hassen (wobei man durchaus etwa Lacan einen solchen Hass zuschreiben kann), so stand zumindest immer seine Entmachtung oder seine Zerlegung in differenzierte Funktionen und Effekte im Zentrum. Damit hat das Ich ziemlich viel von seiner dank Descartes, Kant und Fichte erworbenen Selbständigkeit einbüßen müssen. Diese Entwicklung prägt auch die Ge-
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schichte der Künste (von der Literatur der klassischen Avantgarde bis zu YouTube-Videos), wo parallel zur Theoretisierung der Künstlichkeit des Ich alle Ressourcen der Ironie oder der Parodie eingesetzt werden, um das Ich als Ort der Präsenz und der Authentizität zu hinterfragen oder zu ruinieren. Was hat sich in den vergangenen zwanzig oder dreißig Jahren geändert, so dass die Wiederaufnahme der traditionell wirkenden Frage nach dem »Ich« gerechtfertigt scheint? Kann man hier mehr leisten als einen Nachruf oder eine postume Würdigung? Hier ist vor allem auf die Revolution in der medialen Umwelt hinzuweisen, die grundlegend die Bedingungen der Ichkonstitution und Ichpräsentation verändert hat: Zu beachten ist die neue Dominanz der audiovisuellen Medien, die u.a. neue Formen der (Pseudo-)Authentizität erzeugen und, allgemein gesagt, eine Ökonomie der Aufmerksamkeit und der Sichtbarkeit herausbilden. Damit ist auch eine neue anthropologische Norm entstanden: In jedem Ich verbirgt sich ein (Selbst-)Manager. Darüber hinaus stellen die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien dem Ich neue, stark individualisierte Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung. Gerade die neuesten Entwicklungen der sogenannten »social software« wie Facebook oder Twitter zeigen, wie das Ich bei der Selbstpräsentation als Designer über seine eigene Identität zu verfügen versucht. Reality Shows im Fernsehen sowie die verschiedenen Spielformen der »scripted reality« lassen den ohnehin schmalen Grenzstreifen zwischen Schauspielerei und authentischer Existenz zu einer verschwommenen Grauzone werden. TV und Internet tragen auf diese Weise auch dazu bei, dass die bürgerliche Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum hinfällig wird, was seinerseits auch zu neuen Ich-Konfigurationen führt: es muss nun in der paradoxen Doppelrolle der maximalen Vernetzung und der zunehmenden Vereinzelung leben. Das Ich ist damit zunehmend zur variablen Größe geworden, die medialen Designverfahren unterworfen werden kann. Die Idee eines autonom handelnden Ichs wird entsprechend als problematisch wahrgenommen. In den Vordergrund treten Ich-Konzeptionen, die durch Labilität, Verwerfungen, Brüchen und Impressivität gekennzeichnet sind. Das Ich ist keine Gegebenheit mehr, sondern Resultat einer Narration, Präsentation oder Simulation. Im Kontrast zu dieser Verflüchtigung des Ich steht die Tatsache, dass man sich weiterhin auf das Ich als eine Keimzelle von Handlungsfähigkeit oder Widersetzlichkeit auch im politischen Sinne beruft. In der Literatur tobt ein Streit zwischen denjenigen, die die Stimme des Ich verteidigen und dessen »Reality Hunger« (David Shields) gegen den Selbstverlust in virtuellen Welten verteidigen, und denjenigen, die gerade im Rückzug auf das Ich die Ursache für den Krise des Sozialen und vor allem auch der Sozialkritik erkennen (Juli Zeh). Die vorliegenden Beiträge wollen Formen und Strategien der Ichpräsentation und seiner gesellschaftlichen Resonanz aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen analysieren, wobei sie sich nicht nur auf die sich verändernde
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Gegenwart beziehen. Sie eröffnen im Licht des gegenwärtigen Medienwandels sowohl historische wie systematische Perspektiven. Die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Handlungsmöglichkeiten des modernen Ich lösen sich im 19. Jahrhundert von den traditionellen Mustern der Selbstbestimmung und des »Selbstzwangs« (Norbert Elias) und nutzen neue Spielräume. Gerade die Freigabe der Definition des Ich führt aber gleichzeitig auch zu kulturellem Orientierungsverlust. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts werden Kategorien wie Design, Stil und Geschmackspräferenzen dominant für die Konstitution des Ich. Auch Rückkoppelungseffekte sind in Rechnung zu stellen: Wie wirkt die wahrgenommene Wirklichkeit auf das Selbstbild des Subjekts zurück? Das Ich konstituiert sich mit Rücksicht und im Vorblick auf sein Image, das immer häufiger medial vermittelt wird: Die Abhängigkeit von fremden Meinungen steht nicht mehr im Zusammenhang mit stabilen Rollenerwartungen in der Gesellschaft, sondern ergibt sich mit Bezug auf kontingente, symbolisch verfasste, weitgehend virtualisierte Leitbilder. Schließlich wirkt auch das Meta-Image auf das Ich ein: Wie nehme ich mein Image bei anderen wahr und wie korrigiere ich daraufhin meine eigene Ichpräsentation? Das Ich und sein Image werden durch zahlreiche Parameter bestimmt: durch das soziale Umfeld, Medien Institutionen usw. In diesem Sinne ist es auch als Schnittfläche oder Verhandlungsraum zwischen Subjektivität und kultureller Ordnung zu verorten. In den Ich-Bildern löst sich die Person auf und findet sich – vielleicht – wieder, und nur mittels der kulturellen Konstruktion eines Ich entsteht Kultur als Prozess der Subjektivierung. Diese sowohl ästhetische wie praktische Herausforderung steht im Zentrum der hier gesammelten Beiträge, die sich in diesem Sinne grundsätzlichen Fragen der Kulturwissenschaften widmen: Was wäre Kultur ohne Subjektivität, was geschähe mit der Kultur, wenn sie nicht mehr der Schau- und Spielplatz des Ich wäre? St. Gallen, im Oktober 2013
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Ich-Gesicht. Historische Anmerkungen zum Individuellen als Vervielfältigung 1 Valentin Groebner
Ich weiss ja nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich bin gerade ein bisschen überall, wohin ich auch schaue. Mein Zeug jedenfalls: »Mein Schuh« (eine deutsche Schuhverkaufskette). »Mein Buch« (die Zürcher Buchhandlung Orell-Füssli). Oder auch, in leicht infantilisiertem schweizerischem Englisch: »My Stop«, meine Autobahnraststätte. Mit »Mein Schiff« (ein Kreuzfahrtangebot des Touristik-Konzerns TUI) kann das auch kindlich verspielt-imperiale Züge annehmen. Und zur utopischen Aneignung (oder zum Engagement als Stifter) ruft der Ansteckknopf die Besucher auf, die »MEIN Kunstmuseum« auf Bluse oder Jackett tragen möchten. Ich sind überall, möchte man sagen. Eine logische Fortsetzung sind die Ichgesichter, um die es im folgenden gehen soll: Einem Produkt soll nicht nur dieses schöne Possessivpronomen gegeben werden, das sich auf Plakaten so gut macht, sondern auch ein Gesicht, und zwar explizit zur Identifikation. »Persönlich!« heisst die message. Das gilt für meinen eigenen Arbeitgeber, die Universität Luzern, die auf Werbebannern im Netz und auf Broschüren mit fröhlichen Studentengesichtern wirbt (kenne ich die eigentlich?) ebenso wie jenes vielbenutzte Anzeigenformat, das als »testimonal« bekannt ist. Ein Werbeanliegen bekommt ein Gesicht und einen Namen, der sich dazu bekennt: Ich finde das auch gut, wichtig, unverzichtbar! Eine Schweizer Headhunter-Firma wirbt so mit einer grossformatigen Anzeige im Oktober 2010 in der »Neuen Zürcher Zeitung« mit dem Namen und dem Gesicht der Chefin ihres neu eröffneten Basler Büros. Die sieht ein bisschen müde aus; kein Wunder eigentlich.
1 | Ich habe die sprachliche Form des Vortrags auf der Tagung »Going Public« in St. Gallen so weit wie möglich beibehalten: Vielen Dank für Hinweise an Bernd Stiegler, Ulrich Schmid und Robert Folger. Eine erweiterte und stark überabeitete Fassung ist als »Porträt, Passbild, Werbeplakat: Neue Identitäten aus dem Mittelalter« erschienen in: Merkur 757 (Juni 2012), S. 498-509.
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Die Werbekampagnen des Schweizer Bundesamts für Gesundheit, sich als Organspender registrieren zu lassen, haben schon seit 2008 auf diese magische Erste Person Singular als zentrale Botschaft gesetzt. »ICH weiss, was ICH will« verkünden sie in großen Schreibmaschinenlettern auf Weiss auf Plakaten, Flyern und Zeitungsanzeigen; oder, noch zuversichtlicher: »ICH entscheide selbst.« Seit 2010 hat dieses abstrakte »Ich«, bislang nur als Text im öffentlichen Raum platziert, auch dazu passende Gesichter erhalten. »Ich habe es in der Hand«, erklären eine gutaussehende ältere Dame, ein bärtiger junger Mann und eine blonde Frau im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit, und halten ihren Organspenderausweis vors Auge – aber so, dass man noch genug von ihren Gesichtern erkennen kann.2 Offensichtlich handelt es sich um Zeugenschaft im griechischen Sinn des Begriffs, um martyroi; gerade weil es in dieser Kampagne eben nicht um Individualität geht, sondern um die Übertragbarkeit von menschlichen Körperteilen von einem Körper in einen anderen. Überschreibe uns, so könnte man die Botschaft übersetzen, doch bitte Deine Nieren, deine Leber und Deine Bauchspeicheldrüse, weil Du so sehr Ich bist. Oder? Offenbar kann jeder Inhalt, mag er auch noch so abstrakt sein, auf die Formel eines menschlichen Gesichts gebracht werden, um seine Betrachter dann als visualizer etwas aufdringlich von all den Plakaten und Broschüren und Flyers herunter anzulachen. Aber wer bitte ist das? Wie heißen die Inhaberinnen und Inhaber dieser Ich-Augen, Ich-Nasen, Ich-Lippen? Wie ist das genaue Verhältnis dieser Personen zu den Institutionen, für die Sie werben? Und wie hoch war ihr Honorar? Das »Ich« am Gesicht, wundervolle Zauberformel, lässt alle diese Fragen verschwinden. Das Gesicht ist eine starke Organisation, hat ein cooler Buchtitel vor ein paar Jahren prägnant formuliert. 3 Das Gesicht ist die Bildformel für die Einzigartigkeit und für die Identifizierbarkeit einer Person und gleichzeitig für noch etwas mehr, für die Vervielfältigbarkeit dieser Einzigartigkeit – denn das heißt ja das erstaunliche Wort »Image«. Thomas Macho hat in seinem Buch »Vorbilder« 2011 von einer »facialen Gesellschaft« gesprochen, die gar nicht
2 | Auf der Homepage des Bundesamts für Gesundheit sind die Kampagnen von 2007 bis 2012 dokumentiert. Siehe www.bag.admin.ch/transplantation/07175/07182/ index.html?lang=de vom 1.9.2013. 3 | Löffler, Petra/Scholz, Leander (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln: DuMont Literatur und Kunstverlag 2004. Der Sammelband enthält Essays zu Fotografie, Film, Medien, moderner Kunst (inklusive Popmusik) und Hegels Anthropologie, aber keine explizite Auseinandersetzung mit Phänomenen zeitgenössischer Werbung.
Ich-Gesicht. Historische Anmerkungen zum Individuellen als Ver vielfältigung
anders könne, als allem ein Gesicht zu geben und diese Gesichter medial zu vervielfältigen.4 Ich möchte im Folgenden argumentieren, dass diese Bilder von Ichgesichtern in Werbekampagnen des 21. Jahrhunderts historisch-religiöse Bilder im Wortsinn sind; dass sie mit Wahrnehmungswerkzeugen und Analogien operieren, die aus dem 12. und 13. Jahrhundert stammen, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie fotografische Abbildungen von Gesichtern als vermeintlich authentische und unmittelbare Verdoppelung eines Gesichts verwenden. Mir geht es um die Präsentation von Gesicht und Name in der ersten Person Singular als medienmagische Zeugenschaft, die ein vervielfältigtes Bild eben durch den Bezug auf eine Person – Name, Fleisch und Blut – mit Realität aufladen soll. Wie funktionieren solche Ichgesichter? Und nicht wen, sondern was zeigen sie eigentlich?
1. Wie jede Reise ins Mittelalter fängt auch diese im 21. Jahrhundert an. Zum Beispiel im August 2001. Da wurde in der Süddeutschen Zeitung die Verhaftung des 70-jährigen Betrügers Max E. gemeldet, der sich mit einem gefälschten Polizeiausweis Zutritt zur Wohnung einer Rentnerin verschafft und ihr ihre Handtasche und Bargeld gestohlen hatte. Hergestellt war dieser Ausweis aus dem Muster eines deutschen Personalausweises, ausgestellt auf die einschlägig bekannte Erika Mustermann. Als Passfoto hatte Max E. ein Illustriertenfoto des amerikanischen Schauspielers Tom Hanks eingeklebt, und sich mit diesem Dokument erfolgreich als Polizist ausgegeben. Die Redaktion der Süddeutschen hat diese schöne Geschichte mit dem Bild des beschlagnahmten Ausweises und einer Fotografie des wirklichen Max E. illustriert. Man könnte sich fragen, weshalb. Damit die Leser wissen, dass er nicht Tom Hanks ist? Damit sie erfahren, wie das Gesicht eines Betrügers aussieht? In den selben Wochen, Anfang August 2001, war in deutschen Zeitungen eine ähnliche Meldung zu lesen. In Kanada habe der Fall eines etwa 26 Jahre alten jungen weißen Mannes Aufsehen erregt, der im November 1999 nach einem Raubüberfall am Busbahnhof in Toronto und einer Gehirnerschütte4 | Macho, Thomas: Vorbilder, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 263; zuletzt daran direkt anschliessend Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München: C.H. Beck 2013. Die lebhaften Debatten um den juristischen Schutz des eigenen Gesichts vor unkontrollierter medialer Vervielfältigung legen nahe, dass das kein ganz neues Phänomen ist. »Das Recht am eigenen Bild« wird vom Juristen Hugo Keyssner erstmals 1895 formuliert, vgl.: Dommann, Monika: »Mobile Medien, reguliertes Eigentum«, in: Jean Baptiste Joly u.a. (Hg.): Bildregime des Rechts, Stuttgart: merz&solitude 2007, S. 249-267.
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rung sein Gedächtnis verloren habe und nicht mehr wisse, wer er sei. Sein Papiere und sein Gepäck blieben unauffindbar, die Suche nach seinen Fingerabdrücken in internationalen Polizeicomputern ergebnislos. An seinem Handgelenk wurde ein Armband mit dem Namen »Philipp Staufen« und dem Datum 7. Juli 1957 gefunden, aber beides sage ihm nichts. Er verfüge über höhere Schulbildung – er könne Latein, Italienisch und Französisch – und spreche mit nordenglischen Akzent. Sein Foto war in Nordamerika und in England in Fernsehsendungen erschienen und eben Anfang August auch in deutschen und schweizerischen Zeitungen; aber niemand meldete sich, um ihn zu identifizieren. Beide Fälle handeln von Ichgesichtern; aber auf jeweils entgegengesetzte Weise. Die Münchner Rentnerin hatte offenbar bemerkt, dass sie den Ausweis und das Gesicht darauf von irgendwoher kannte, und den Besitzer (des Ausweises) deshalb in ihre Wohnung gelassen. Im zweiten Fall, jenem des verstummten jungen Mannes in Toronto, war das vervielfältigte Bild so echt wie möglich, aber es lieferte keinen Aufschluss über die abgebildete Person, weil niemand es identifizieren bzw. mit einem Namen und einer Biografie rückkoppeln konnte. Ichgesichter, so scheint mir, beruhen auf einem besonderen Glauben an Bilder, einer Überzeugung zweiter Ordnung: Nämlich auf dem Glauben daran, dass die anderen an die Bilder glauben, weil es fotografische Fixierungen sind. Auf dem Glauben daran, dass das Gesicht (und der Name) die Arbeit einer headhunter-Firma oder einer Stiftung für Organtransplantation verwirkliche und konkretisiere; auf der Überzeugung, dass Zeitungsleser in fernen Ländern einen verwirrten jungen Mann auf einem Bild auf jeden Fall wiedererkennen würden. Das ist vielleicht nicht ganz so modern, wie es auf den ersten Blick aussieht, sondern erst einmal gute mittelalterliche Orthodoxie. Denn dass jeder und jeder Einzelne individuell und einzigartig ist, war seit Augustinus für die mittelalterlichen Theologen selbstverständlich. Der Chronist William von Malmesbury erzählte in seiner in den 1120er Jahren entstandenen »Gesta pontificum Anglorum« die Geschichte vom Erzbischof von Canterbury, der vom englischen König abgesetzt worden war. Der Bischof, so William, habe sich nach Rom begeben; auf der Reise verfolgt von königlichen Agenten, die ihn umbringen sollten und denen er nur mit Mühe entkommen sei. Als der Bischof zwei Jahre später Rom wieder verlassen habe, konnte er nicht den direkten Heimweg nehmen, weil, so der Chronist, seine Verfolger einen Maler nach Rom geschickt hätten, um von ihm heimlich ein Bild malen zu lassen: »Damit er nicht unentdeckt bleibe, in welcher Verkleidung er auch erscheine.«5 5 | Mehr bei Kartschoke, Dieter: »Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter«, in: Johannes Janota (Hg.): Festschrift für Walter Haug und Burkhard Wachinger, Bd. 1, Tübingen: Niemeyer
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Identifikation durch Bilder also? Ein Chronist des 12. Jahrhunderts würde eine solche Geschichte nicht erzählen, wenn er die lebensechte Abbildung einer Person im Bild für völlig unmöglich hielte. Aber illustrierte Steckbriefe hat er sicher nicht gemeint. In der Anekdote geht vielmehr um den veränderten Wahrheitsstatus von Bildern. Denn während in der Spätantike und im Frühmittelalter von Menschen gefertigte Bilder immer unter dem Verdacht standen, Manipulation zu sein und eben nicht das, was sie vorgaben zu zeigen, gab es im Denken des hochmittelalterlichen Europa eine neue Einschätzung, und die war erheblich positiver. Bilder waren nun nicht mehr von vornherein Täuschung, sondern konnten das Authentische abbilden. Populär wurde das in der Legende des »echten Bildes« Christi als acheiropoeita: echt, weil nicht von menschlicher Hand gemalt. Und parallel dazu vermehrten sich die Identifikationsgeschichten, in denen Personen eine Vision, eine Traumerscheinung oder jemanden, der ihnen begegnet war, nachträglich als bestimmten Heiligen oder eines bestimmten Herrschers identifizieren konnten, und zwar mit Hilfe eines Bildes. Aber je intensiver sich das hochmittelalterliche Europa den Bildern zuwandte, desto deutlicher wurden aber auch deren Mängel. Am Beginn des 14. Jahrhunderts erschien die Erzählung vom Künstler, der ein Porträt eines Fürsten für dessen Grabmal anfertigen sollte und damit nicht fertig wurde, weil sich das Gesicht des Porträtierten durch Alter und Krankheit verwandelte. Weil der König immer mehr Alters- und Sorgenfalten bekam, musste der Bildhauer sein Abbild ständig nachbessern. Dargestellte Personen verändern sich eben, ihre Abbildungen aber nicht. Ebenfalls im 14. Jahrhundert war Wilhelm von Ockham aufgefallen, dass ein Bild nicht zur Unterscheidung zweier Gesichter verwendet werden konnte, die sich ähnlich sahen.6 Was es mit der vielgerühmten Naturtreue von Porträts auf sich hatte, war den Zeitgenossen der Renaissance jedenfalls sehr klar. Bedenke man die Fähigkeit des Menschen, sein Äußeres durch Kunstfertigkeit zu verwandeln, schrieb ein gelehrter Florentiner am Beginn der 1440er Jahre, dann sei überhaupt kein Porträt geeignet, zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen Gesicht und Maske zu unterscheiden – so Leon Battisti Alberti in seinem bitterbösen Trak1992, S. 1-24, hier S. 15, mit weiteren Literaturhinweisen. Vgl. auch meine Überlegungen in: Valentin Groebner: Der Schein der Person, München: Beck 2004, S. 24ff. und 70ff. 6 | Büchsel, Martin: »Nur der Tyrann hat sein eigenes Gesicht«, in: Martin Büchsel und Peter Schmidt (Hg.): Das Porträt vor der Erfindung des Porträts, Mainz: von Zabern 2003, S. 123-140, hier S. 123f.; D. Kartschoke: Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter; mehr in dem schönen Sammelband von Agostino Paravicini Bagliani, Jean-Michel Speiser und Jean Wirth: Le portrait. La représentation de l’individu, Firenze: SISMEL Edizioni del Galluzzo 2007, S. 7f.
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tat »Momus«, und der wusste, wovon er redete. Die Masken, von denen Alberti schreibt, waren natürlich nichts anders als andere Bilder. Die Fürstin Isabelle d’Este, ehrgeizige Mäzenin von Mantegna, Raffael und Leonardo da Vinci am Ende des 15. Jahrhunderts, schickte Malern gelungene Porträts ihrer selbst als Vorlage für ein neues al naturale; sie selbst in Person bekam der Maler nicht zu Gesicht.7 Eine früher Ridolfo di Ghirlandaio zugeschriebene, um 1510 entstandene Bildtafel, die heute in den Florentiner Uffizien auf bewahrt wird und ursprünglich als Deckel für ein solches gemaltes Portrait gedient hat, bringt das noch kürzer auf den Punkt. Suum cuique persona lautet ihre Inschrift – »Jedem seine Maske«. 8
2. Also noch einmal, was genau sieht man auf einem vervielfältigten Gesicht? Portraits, so hat es der Kunsthistoriker Jean Wirth prägnant formuliert, sind erst einmal eine Affektstrategie. Sie verweisen nicht auf den Inhaber des Gesichts, sondern auf die Betrachter von dessen Abbild. Das würden unsere kulturwissenschaftlichen Kollegen aus den Werbeagenturen sofort unterschreiben. Porträts als Identitätsbeweis sind keine Praxis, sondern ein Wunsch, und das ist eben nicht dasselbe. »Jeder Bürger muss allenthalben, wo es nöthig ist, sogleich erkannt werden können«, forderte Johann Gottlieb Fichte in einem programmatischen Text 1796. »Keiner muss dem Polizeibeamten unbekannt bleiben können. Dies ist nur auf folgende Weise zu erreichen. Jeder muss immerfort einen Pass bei sich führen, aus gestellt von seiner nächsten Obrigkeit, in welchem seine Person genau beschrieben sey; und dies ohne Unterschied des Standes.« Und weil »die bloss wörtlichen Beschreibungen einer Person immer zweitdeutig bleiben«, solle man »bei wichtigen Personen, die es sonach auch bezahlen können, statt der Beschreibung ein wohlgetroffenes Portrait« in ihre Pässe einfügen. Das war 1796 noch ziemlich wilde Utopie; ein Wunsch eben. Das Porträt als Identitätsnachweis hat seine Karriere erst ein halbes Jahrhundert später begonnen, mit dem ersten Einsatz von Fotografien zur Identifikation von Bett-
7 | Dazu ausführlicher Campbell, Lorne: Renaissance Portraits: European Portrait Painting in the 14th, 15th and 16th centuries, New Haven/London: Yale University Press 1990. 8 | Baader, Hannah: »Sua cuique Persona«, in: Rudolf Preimesberger, Hannah Baader und Nicola Sutter (Hg.): Das Porträt, Berlin: Reimer 1999, S. 239-246; zuletzt dazu ausführlich H. Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts.
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lern, Vagabunden und Verdächtigen in den 1840er und 1850er Jahren.9 Der nächste Schritt war die Einführung standardisierter Polizeifotos in den 1870er Jahren und das Zusammentragen gewaltiger Bestände von Fotos von Toten und Lebendigen in den Polizeiarchiven – samt folgender Ernüchterung. Die Kriminalisten des 19. und 20. Jahrhunderts mussten Wilhelm von Ockhams fünfhundert Jahre alte Einsicht, dass ein Bild nicht zur Unterscheidung zweier ähnlicher Gesichter verwendet werden kann, anhand der Fotografie mühsam ein zweites Mal lernen.10 »Von der allgemeinen Einführung der Fotographie wurde viel erwartet«, resümierte der Trierer Landgerichtsdirektor Barre 1891, »allein, die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.« Denn die Bilder waren alle echt und naturgetreu, aber unzuverlässig, weil sie echt und naturgetreu waren. Fälle von Doppelgängern und zufälligen Ähnlichkeiten, schrieb Barre, seien nie vollständig auszuschließen, Manipulationen des Aussehens durch veränderte Bärte, Frisuren usw. seien zu einfach, und ein und dieselbe Person sähe auf verschiedenen Bildern zu unterschiedlich aus. George Bernard Shaw hat das 1902 in der ironischen Bemerkung verdichtet, dass auch die allerbesten Maler nur jeweils eine Ansicht der Person geben könnten – und die entspreche natürlich nicht der Realität. »Die Kamera dagegen«, setzt er fort, »macht aus einer Person authentische Porträts von mindestens sechs verschiedenen Personen und Charakteren.«11 Die Pointe daran liegt natürlich in dem Wort authentisch – ein Wort, das von den hochmittelalterlichen authenticae abgeleitet ist, jenen kleinen Streifen Pergament, die ein kleines Stückchen Knochen eines fernen Toten qua Benennung zum Körper eines Heiligen machte, zur wirksamen, weil echten Reliquie. Fotografien, so erinnern uns die Fototheoretiker beharrlich, funktionierten in der Moderne über weite Strecken als Berührungsreliquien.12 Das ist er wieder, der Glauben an den Glauben der Betrachter.
9 | Gasser, Martin/Meier, Thomas Dominik/Wolfensberger, Rolf (Hg.): Wider das Leugnen und Verstellen. Carl Durheims Fahndungsfotografien von Heimatlosen 1852/53, Zürich: Offizin Verlag 1998. 10 | Caplan, Jane und Torpey, John (Hg.): Documenting Individual Identity, Princeton/ Oxford: Princeton University Press 2001; darin vor allem die Beiträge von Andreas Fahrmeir, Leo Lucassen und John Torpey; Vec, Milos: Die Spur des Täters. Identifikation in der Kriminalistik (1879-1933), Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2002. 11 | Shaw, George Bernard: »Das Unmechanische der Fotografie«, in: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie, Bd. 1, München: Schirmer Mosel 1980, S. 225. 12 | Massalongo, Milena: »Was von der Gewalt in Bildern übrig bleibt«, und Stiegler, Bernd: »Dem Tod ins Auge schauen«, beide in: Urs Stahel (Hg.): Darkside 2. Fotografische Macht und fotografierte Gewalt, Krankheit und Tod, Göttingen: Steidl 2009, S. 255-258 und S. 263-265.
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Deswegen war es trotz der technischen Mängel die Identifikationstechnik Fotographie, die bei der Wiedereinführung der obligaten Reisepässe am Beginn des Ersten Weltkriegs die Identität sicherstellen sollte – Identität verstanden als Kongruenz zwischen derjenigen Person, für die der Ausweis ausgestellt worden war, und derjenigen, die ihn vorzeigte. Obwohl eine technisch viel zuverlässigere Identifikationstechnik der Berührung im Jahr 1914 überall als exaktes Beweismittel anerkannt und juristisch abgesichert war, nämlich die Daktyloskopie, hat kein einziges europäisches Land bei Beginn des Ersten Weltkriegs Fingerabdrücke in Ausweisdokumente integriert. Sondern eben Fotos. Die Fingerabdrücke kamen erst später, mit der Identitätskarte, von den 1930er Jahren an, in der Schweiz seit 1940.13 Nach Kriegsende ist in Mittelund Westeuropa der Fingerabdruck wegen seiner Assoziationen zur Erfassung Krimineller aber wieder aus den Ausweisen verschwunden. Es ist das alte Foto, das uns heute entgegenlacht, langlebiger Fichtescher Bild-Optimismus. Deswegen sind es bis heute Bilder, mit denen Leute identifiziert werden sollen, und zwar ironischerweise meistens vergrößerte Duplikate ihrer Passfotos. Ist das ein Ich, eine unverwechselbare, einzigartige Individualität, Ausdruck von jemandes Identität, wie das schöne Gummiwort heisst?
3. Und das bringt uns zurück ins Jahr 2001. Angesichts exponentiell steigender Fälle von »identity theft« durch entwendete Kreditkarten – am Beginn des 21. Jahrhunderts waren es zwischendurch zwischen 600.000 und einer Million Fälle pro Jahr – offerierten Kreditkartenfirmen ihren Kunden in großformatigen Anzeigen, die Karte mit ihrer Nummer durch ein ganz besondere, authentische, persönliche Sicherheitsfeatures zu ergänzen, und zwar nicht nur der Rhetorik der jeweiligen eigenen Einzigartigkeit, sondern auch der des heiligen und wahren Bildes. 2004 waren in der Schweiz deshalb überall großformatige Werbungen für eine neue, besonders fälschungssichere Kreditkarte zu sehen. Sie konnte vielleicht gar nicht anders heißen als »Icon Card«: Das einzigartige Wahrheits-Bild, nicht von menschlicher Hand gemalt. Man kriegt die mittelalterlichen Kategorien von Ikonizität aus der Fotografie offenbar nicht mehr ohne weiteres heraus; jedenfalls nicht, wenn es um IchGesichter, Image-imagines geht. Der heute populärste italienische Heilige, der 1968 verstorbene Francesco Forgione alias Padre Pio, hat während seines Auf13 | Cole, Simon: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2001; Schwager, Nicole: »Polizeiliche Identifikationstechniken und Anarchismus in der Schweiz«, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 1 (2009), S. 41-54.
Ich-Gesicht. Historische Anmerkungen zum Individuellen als Ver vielfältigung
stiegs von den 1920er Jahren an nicht nur gezielt von stilisierten Porträtfotos seiner Person Gebrauch gemacht – und das in direkter Anlehnung an die Bilder des stigmatisierten Hl. Franziskus aus dem 13. Jahrhundert, wie die Kunsthistorikerin Urte Krass gezeigt hat.14 Analog zum Turiner Grabtuch, einem der großen fotografischen Kurzschlüsse zwischen den Bildreproduktionstechniken des 14. und des ausgehenden 19. Jahrhunderts, existiert auch von Padre Pio eine sindone, das ein posthumes Abbild seiner Gesichtszüge zeigt. Es hatte sich wunderbarerweise auf dem Taschentuch eines Gläubigen manifestiert, nachdem ihm der Pater im Traum erschienen war und er das Tuch, mit dem er sein eigenes Gesicht im Schlaf bedeckt hatte, in den Brunnen vor Padre Pios Wallfahrtskirche tauchte – ins Entwicklerbad sozusagen.15 Bilder von Padre Pio hatten aber noch viel weiter reichende Wirkungen. Fotos des Heiligen, die in Illustrierten abgebildet waren, konnten durch fromme Gebete zur Heilung von Augenleiden und sogar von völliger Blindheit führen. Sie verströmten einen süßen Geruch, konnten hinter ihrem Glasrahmen Tränen vergießen und kranke Kinder aus dem Koma erwecken. Ein in den 1950er Jahren extra in Padre Pios Kloster im apulischen San Pietro Rotondo gereister Fotojournalist, der ihn fotografierte, um ihn vor der Presse als Schwindler bloßzustellen, habe beim Entwickeln der Fotos in der Dunkelkammer dann plötzlich eine Dornenkrone auf Padre Pios Kopf entdeckt, so einer der Wunderberichte, und Blut, das von der Stirn des Padre heruntergeronnen sei – und sich angesichts dieses Wunders natürlich sofort zum Katholizismus bekehrt. Padre Pio, so seine offizielle Biografie, habe nämlich die Macht besessen, die fotografische Fixierung seines Abbilds dem Fotoapparat aktiv zu verweigern. Wenn er nicht fotografiert werden wollte, dann blieb der Film desjenigen, der glaubte, unbemerkt einen Schnappschuss von ihm gemacht zu haben, leer. Die Logik dieser Geschichten ist nicht die der Identifikation des Dargestellten, sondern der Authentifizierung des Darstellungsmediums: Jedes Bild von Padre Pio ist demnach ein echtes Bild, weil es ihn zeigt. 48 Prozent der Heiligenbilder, die die Italiener heute mit sich herumtragen, so eine Umfrage der Zeitschrift »Famiglia Cristiana« vom November 2006, zeigten Francesco Forgiones Gesicht.16 Mittelalter und acheiropoeita im 21. Jahrhundert, so weit das Auge reicht. Das ist der lange Schatten des Glaubens an den Glauben der Anderen. Im Jahr 2004 hat der polnische Künstlers Rafal Bujnowski für sein Projekt »Visa« sei14 | Krass, Urte: »Kontrollierter Gesichtsverlust. Padre Pio und die Fotografie«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2010), S. 71-95. 15 | Zu den engen Bezügen des Turiner Grabtuchs zur Authentifizierungstechnik Fotografie zuletzt Geimer, Peter: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg: Philo Fine Arts 2010, S. 175-253. 16 | U. Krass: Kontrollierter Gesichtsverlust. Padre Pio und die Fotografie, S. 71.
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nen Visaantrag in die USA statt mit einer echten Fotografie mit dem Schnappschuss eines gemalten Selbstporträts versehen. Der Antrag wurde von der amerikanischen Einwanderungsbehörde problemlos genehmigt. Einmal in den USA angekommen, hat Bujnowski dort das getan, was offensichtlich jeder dort tun möchte: Er hat über New York City Flugstunden genommen.17 Das amtliche Beiblatt zu meinem neuen östereichischen Reisepass, 2006 nach den neuen EU-Sicherheitsrichtlinien ausgestellt, versicherte mir wiederum, ich solle vom veränderten Aussehen meines Fotos, mit neuen fälschungssicheren Merkmalen versehen, nicht irritiert sein. »Der Fälschungssicherheit muss Vorrang vor der Bildqualität gegeben werde.« Ich weiss nicht, ob mich das beruhigt. Wiederkennen mochte ich mich bislang auf den wenigsten meiner Passbilder.
4. Und der arme verstummte junge Mann aus Toronto, der nicht mehr wusste, wer er war, und es mit Hilfe seiner in den Medien verbreiteten Fotos herausfinden wollte? Aufgrund eines beschrifteten Plastikarmbands, das an ihm gefunden wurde und auf »Philipp Staufen« lautete, wurde er in Kanada 2001 unter diesem Namen offiziell registriert. Das war für die Polizei in Toronto kein brauchbarer Hinweis, aber über einen Träger dieses Namens ist relativ viel bekannt. Philipp von Hohenstaufen, geboren 1177 als jüngster Sohn Friedrich Barbarossas, war zuerst Dompropst und Bischof, um dann wieder in den weltlichen Stand zurückzutreten und eine byzantinische Prinzessin zu heiraten. Im Bürgerkrieg 1198 wurde er als Philipp von Schwaben zum König gewählt, im Gegensatz zu seinem ebenfalls gekrönten Widersacher Otto IV. mit den echten Insignien, aber am falschen Ort; er gewann im folgenden Bürgerkrieg 1204 gegen seinen Rivalen, wurde aber bereits 1208 ermordet. Wie auch andere Mitglieder seiner Familie hat ein lebhaftes, ziemlich kompliziertes und wunderbar hysterisches Nachleben gehabt. Es reicht von Verschwörungstheorien, die seinen Namen mit der Eroberung von Konstantinopel im vierten Kreuzzug ebenso in Verbindung bringen wie mit einem angeblichen Staatsstreich päpstlicher und venezianischer Geheimagenten, bis zu den romantischen StauferMythen des 19. und 20. Jahrhunderts.18 17 | Siehe dazu die Bilder in der amerikanischen Kunstzeitschrift Cabinet 22 (2006), S. 63. Das Heft trägt den Titel »Insecurity«. Mehr über den Künstler und sein Projekt unter http://raster.art.pl/gallery/artists/bujnowski/video.htm vom 25.10.2011. 18 | Zotz, Thomas: »Der Thronstreit zwischen Philipp von Schwaben und Otto von Braunschweig 1198-1208«, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 69 (2010), S. 17-36; Schieffer, Rudolf: »Philipp von Schwaben im 19. und 20. Jahrhundert«,
Ich-Gesicht. Historische Anmerkungen zum Individuellen als Ver vielfältigung
Was hat unser Mann in Toronto damit zu tun? Sein wahrer Name und seine Herkunft blieben ungeklärt. In den nächsten zwei Jahren versuchte er mit Hilfe eines Anwalts und verschiedener Unterstützer, die kanadische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Dazu trat er auch in Hungerstreik, den er aber erfolglos abbrach. Schliesslich akzeptierte er eine befristete Aufenthaltsgenehmigung – und heiratete die Tochter seines Rechtsanwalts, in die er sich verliebt hatte. Im Sommer 2001 unterzog er sich einer Gesichtsoperation. Im Oktober 2001 änderte er offiziell seinen Namen in »Keith Ryan«; im Frühjahr 2003 ändert er ihn erneut in »Sywald Skeid«. Und dann geschah etwas, was man die Rückkehr des Bildes nennen könnte. Ein englischer Produzent von Pornofilmen kontaktierte Skeids Rechtsanwalt, seine Frau und die kanadische Polizei. Jemand, bei dem es sich offensichtlich um Staufen/Ryan/Skeid handelt, hatte im Herbst 1998 und Frühjahr 1999 als Modell für verschiedene Produzenten von pornografischen Filmen und Fotografen gearbeitet, und zwar unter dem Namen Georges Lecuit, mit einem französischen Pass. Im Februar 2004 ergaben juristische Nachforschungen allerdings, dass dieser Pass von einem wirklichen Georges Lecuit im August 1998 als gestohlen gemeldet worden war. Staufen/Ryan/Skeid wurde verhaftet, aber nach einer Woche auf Bewährung freigelassen. Dann verschwand er mit seiner Frau; erst 2006 tauchte er erneut auf, in Lissabon, wo er sich um die portugiesische Staatsbürgerschaft bemühte, erfolglos. In einem langen Interview für das amerikanische Magazin »GQ« im Juni 2007 gab er schließlich an, als Ciprian Skeid im rumänischen Timisoara in Rumänien geboren zu sein. »A place I loathe. I’d rather be a fake nobody than a real me.«19 Das wiederum ist selbst ein Zitat. Es stammt aber nicht aus der Geschichte der deutschen Kaiser, sondern aus Patricia Highsmiths Kriminalroman »Der talentierte Mr. Ripley« von 1955. Allerdings nicht aus dem Buch, sondern – leicht abgewandelt – aus der Verfilmung von 1999.
in: Andrea Rizhacek/Renate Spreitzer (Hg.): Philipp von Schwaben, Beiträge der internationalen Tagung anlässlich seines 800. Todestages (= Denkschriften. Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 399/Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 19), Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 2010, S. 1-8. 19 | Bericht in der »Vancouver Sun« vom 20. Mai 2007; der Fall ist auf Wikipedia ausführlich dokumentiert. Auf der Homepage von »GQ« ist der Text des Interviews nicht mehr auffindbar. Das für Herbst 2011 angekündigte Buch über den Fall von Frederic P. Miller, Agnes Vandome und John McBrewster: Sywald Skeid bei Alphaskript Publishing war mir nicht zugänglich. Auf seinem Umschlag verspricht es jedenfalls: »High quality content by Wikipedia articles«.
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5. »Ein Gesicht haben« müsse man nicht von der Seite des Individuums, sondern von dem der Gesichterfabrikation her betrachten, haben Deleuze und Guattari geschrieben. »Man rutscht eher in ein Gesicht hinein als dass man eines besitzt… Nicht ein Subjekt wählt zwischen Gesichtern, sondern die Gesichter wählen ihre Subjekte.« 20 Das ist natürlich der Pariser Jargon von 1980. Heute kann man es auch anders sagen. Durch Fotografien vermittelte Ich-Identität ist etwas, das von anderen kopiert und im Wortsinn wieder-geholt wird: anverwandelte Bilder. »Hinter dem, was man sieht, ist nichts. Das ist nur Image«, hat Brett Ellis Easton 1998 in »Glamourama« verkündet, und der muss es ja wissen. Identität ist etwas, von dem die Anderen immer mehr haben als man selbst, und auch irgendwie echtere. Soweit sich das das Gummiwort Identität überhaupt auf etwas bezieht, dann auf Vervielfältigung und Vergleich, auf Serien. Es ist abgeleitet von »identidem«, ähnlich; und hat eben mit Einzigartigkeit nichts zu tun. Die Wissenschaftsforscherin Donna Haraway meint, jedes Objekt und jede Person könne vernünftigerweise in der Terminologie des Auseinandernehmens und der Wiederzusammensetzung beschrieben werden. Es gäbe keine ›natürlichen‹ Konstruktionsprinzipien, die das Design von Systemen begrenzten. Aber, setzt sie fort: »Design is nonetheless highly constrained.« Das, was jeweils als Einheit, als ein Einzelnes zähle, sei deswegen hoch problematisch. »Individuation is a defence problem.«21 Denn Image ist eben nicht Identität, und Identität nicht Individuation – im Gegenteil. Als ein »Ich« aufzutreten und das eigene Gesicht dafür herhalten zu lassen hat mit Selbstständigkeit und Autonomie (noch so ein Zauberwort der 1980er Jahre, das in den Händen unserer kulturwissenschaftlichen Kollegen in den Werbeagenturen eine ganz erstaunliche Karriere gemacht hat) nichts zu tun. Denn Autonomie bestünde ja darin, das eigene Gezeigt-werden bestimmen zu können. Wer auf Identitätspolitik als Ich-Gesicht setzt und sich von der medialen Verstärkung qua Aufmerksamkeit anderer abhängig macht – und das hat ein ehrgeiziger Heiliger des 20. Jahrhunderts wie Francesco Forgione mit vielen anderen gemeinsam, von Punkbands und Aktionskünstlern bis zu den Protagonisten der Gesichtswerbung und unserem verzweifelten rumänischen Einwanderer –, dann geht das nicht ohne Glauben. Und zwar
20 | Gilles Deleuze und Felix Guattari: Mille Plateaux, Paris: Edition de Minuit 1980, S. 217 und S. 220. Deutsch unter dem Titel: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1997, S. 230-262. 21 | Haraway, Donna: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, London: Routledge 1991, S. 212.
Ich-Gesicht. Historische Anmerkungen zum Individuellen als Ver vielfältigung
den Glauben an den Glauben anderer, an die feste Koppelung von Bildern mit unterscheidbaren und an eine Person geknüpften Inhalten. Als authentisch funktioniert dabei vorzugsweise das, was dem Zielpublikum bereits vertraut ist. Deswegen hat ein Heiliger im 20. Jahrhundert seinen medialen Vorbildern, nämlich den Protagonisten ähnlicher, geglückter Vervielfältigungsprozesse aus dem 13. und 14. Jahrhundert, auch gefälligst zu gleichen, bis in die Details seines einzigartigen Gesichts und seines Umgangs damit. Das macht die Geschichte von Philipp Staufens und Ciprian Skeids Gesichtern auch so interessant. Denn hier wird der etwas unheimliche Wunsch greifbar, dadurch verwandelt zu werden, dass man erkannt wird – und zwar nicht als Nachfolger des Hl. Franziskus, sondern als irgendwer. Das Authentische, so das Motto, muss ein Rätsel sein; und die Wirkung dieser Erzählung beruht natürlich darauf, dass sie dem Publikum bestens vertraut ist. Seit Kaspar Hauser ist sie in einer ganzen Kette literarisch-kriminalistischer Bild-TextKombinationen schon mehrfach aufgeführt worden ist. Anders gesagt: Ein richtig erfolgreiches Ich-Gesicht ist eine Serie. »Image« ist deswegen kein Einzelbild, sondern jenes Flimmern, das von vielen übereinandergelegten Bildern erzeugt wird. Und damit wären wir zurück bei den Werbeanzeigen mit Ich-Gesichtern, mit denen ich begonnen habe. Fotografische Bilder in der Werbung am Beginn des 21. Jahrhundert beruhen offenbar auf religiösen Kategorien von Wahrnehmung und Glauben, die sieben oder acht Jahrhunderte alt sind. Der medienhistorische Befund ist naheliegend. Nicht das Eindeutige und Authentische ist ehrwürdig alt, sondern das Nicht-Authentische, das Trugbild. Ein einmal fixiertes Bild ist mit dem eigenen Gesicht ja eben nicht identisch, sondern nur lose verkoppelt (niemand sieht exakt so aus wie sein eigenes, aufwändig vom Fotografen gefertigtes Porträt), und dieses Bild ist seinem Vorbild umso weniger verbunden, je intensiver es vervielfältigt und je häufiger es von anderen Leuten betrachtet wird. Denn tatsächlich beginnen sich Bilder dadurch zu verändern, dass sie von anderen angeschaut werden. Dann werden sie lebendig und laufen davon. Je länger ich über die lächelnden Gesichter mit ihren unheimlich weißen Zähnen nachdenke, die mich von all den Plakaten, Bildschirmen, Broschüren und Flyers her anlachen, desto mehr drängt sich mir eine Vermutung auf. Je kindlicher und anheimelnd-infantiler die öffentlichen Bilderwelten der Werbung, desto härter und unbarmherziger die Arbeits- und Konfliktverhältnisse dahinter. (Willkommen in Rumänien, würde unser Mann aus Toronto sagen.) Vielleicht beruht die Wirkung auf derartiger Bilder genau darauf, dass Sie infantilisieren – Ja, genau so müssen glückliche Studenten, kompetente Headhunterinnen und vergnügte gesunde Organspender aussehen! – und dadurch ihre eigentliche Wirkung erzielen. Denn das Infantile, so scheint mir, ist eine höchst reale und wirkungsvolle Drohkulisse. Gerade, wenn es um Gesichter geht.
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Fotografie hat deswegen immer etwas von magischer Beschwörung. Wenn man sich ohnehin schon nicht selbst verorten kann, dann wenigstens in der eigenen Vorstellung von der Vorstellung anderer Leute. Aber das Versprechen auf Selbstfixierung durch die Fotografie – ein ordnender Blick von außen auf mich selbst, endlich eine stabilisierte Imago – hat seine dunkle Rückseite: nämlich den eigenen, dringenden, absoluten Wunsch, groteske Fotos von einem selbst sofort verschwinden zu lassen und endgültig zu löschen, samt der leicht beschämten Erleichterung nachher. Vielleicht beruht die Wirkung der öffentlichen Ich-Gesichter also nicht auf Identifikation. Sondern auf ihrem genauen Gegenteil: Auf der klammheimlichen Erleichterung, dass es nicht das Bild von meinem eigenen Gesicht ist, das auf den Plakaten, Broschüren und Werbeinseraten zu sehen ist. Sondern das von jemand anderem.
Vom Ich-Zwang zum Ausreden-Ich Fritz Breithaupt Wo ist das Ich im 21. Jahrhundert geblieben? Gibt es heute eigentlich noch eine starke Konzeption von »Individualität«? Dieser Frage will sich der vorliegende Aufsatz auf historisch-theoretische Art und Weise nähern. Seit Jahrhunderten war der Gedanke der selbstkontrollierten Eigenständigkeit Leitbild der deutschsprachigen Kultur. Zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts entstand im deutschen Sprachraum die begriffliche Neubildung von »dem Ich«1 und wurde begleitet von einer Klimax des Genie-Gedanken.2 In anderen europäischen Ländern gibt es durchaus ähnliche Entwicklungen.3 Gleichzeitig wird der Begriff der Autonomie in der Ästhetik erfunden und zu einem ihr Leitbilder.4 Ein Ich zu haben bedeutet denn auch, autonom und different zu sein. Und seit dem Sturm und Drang beziehungsweise Sentimentalismus orientieren vor allem die jungen Männer ihren Lebenslauf auf eben dieses Ich. Was genau es bedeutet, ein Ich zu sein oder haben, bleibt dabei durchaus unklar. Allerdings werden Kombinationen von Autonomie und Differenz zu 1 | Im deutschen Bereich ist der Druck des Ich wohl derart stark, dass Autoren wie der spätere Goethe bereits an der Limitierung des Ich arbeiten. vgl. Stefan Keppler, Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen, Berlin, New York 2006; Benjamin Bennett, »The Irrelvance of Aesthetics and the De-Theorizing of the Self in ›Classical‹ Weimar«, in: Simon Richter (Hg.), The Literature of Weimar Classicism, Camden House History of German Literature, Vol. 7, Rochester, 295-321. 2 | Vgl. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Darmstadt 1988, 2. Aufl. 3 | Zur Zeitschwelle um 1770, vgl. Deidre Shauna Lynch, The Economy of Character. Novels, Market Culture, and the Business of Inner Meaning, Chicago 1998; und Dror Wahrman, The Making of the Modern Self, New Haven, London 2004; sowie den französischen Raum, siehe Jan Goldstein, »Mutations of the Self in the Old Regime and Postrevolutionary France: From Ame to Moi to Le Moi«, in: Lorraine Daston (Hg.), Biographies of Scientific Objects, Chicago und London 2000, S. 86-117. 4 | Johnathan M. Hess, Reconstituting the Body Politic. Enlightenment, Public Culture and the Invention of Aesthetic Autonomy, Detroit 1999.
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zentralen Elementen, dessen, was »Ich« sein könnte. Der Terminus des Ich wird auf jedem Fall zu einem Reizwort, das in vielen Journalen der späten Aufklärung umgeht und in zahlreichen Diskussionen von der Frühromantik bis zur Philosophie des deutschen Idealismus und von der Pädagogik bis zur Erfahrungsseelenkunde von Karl Philipp Moritz zum zentralen Begriff wird. Das Ich ist die Spinne in einem großen, kaum übersehbaren diskursiven Netz. Für die Einzelnen der Epoche manifestiert sich dieses Ich vor allem als Drohung: Du musst ein Ich, Genie, Held sein oder werden. Artikuliert wird sie etwa vom frühen Goethe: »Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt, und macht große Schritte durch dieses Leben, eine Bereitung für den unendlichen Weg drüben. […] Auf die Reise meine Herren! […]« 5
Am deutlichsten aber zeigt sich dieser Druck in den vielen, die an sich zweifeln. Jakob Michael Reinhold Lenz schreibt: »Wie denn, ich nur ein Ball der Umstände? Ich-? Ich gehe mein Leben durch und finde diese traurige Wahrheit hundertmal bestätigt. Wie kommt es aber, daß wenn ich meine Schicksale erzähle, ich alle meinen Witz aufbiete, meine Schicksale so viel ich nur kann, mir unterzuordnen, meiner Klugheit, meiner Würksamkeit, woher kommt denn die Gewissensangst, die ich zugleich dabei fühle, du hast vielleicht nicht soviel dazu beigetragen als du dir einbildest.« 6
Der Begriff des Ich wird zur Forderung, dem man sich zu stellen hat. Und eben diese von Lenz benannten Ängste, dass man dem Begriff nicht gerecht wird, zeigen die Macht des Ich deutlicher, als die Vielfalt der Verwendungen des Wortes »Ich«. Das Ich besteht in eben dieser Forderung, sein Leben auf diesen Begriff auszurichten; das Füllen des Begriffs mit Inhalt ist sekundär. Wenn man also bedenkt, mit welcher Emphase das Ich seit Ende des achtzehnten Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum propagiert wurde und wie die mit ihm einhergehenden Erwartungen zugleich gefürchtet werden, könnte es scheinen, als würde es das Ich in dieser Form heute nicht mehr geben. Stattdessen, so könnte der erste Eindruck sein, finden wir in den heutigen Medien nur noch eine Konsumenten-Individualität, also multiple Identitäten, in die man identifikatorisch eintauchen kann, die man aber auch wieder verlassen kann. Computerspiele erlauben einem jeden seinen eigenen 5 | Johann Wolfgang von Goethe, »Zum Shakespeares-Tag«, Hamburger Ausgabe, XII, 224. Der Text wurde vermutlich September/Oktober 1771 verfasst. 6 | Jakob Michael Reinhold Lenz, »Über die Natur unseres Geistes« (1771-73), in: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, Leipzig 1987, Bd. 2, 619.
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»Avatar« – für die Zeitspanne eines Spiels. Ein Ich als feste Identität zu haben, scheint nicht mehr bindend zu sein. Wechselnde Rollen scheinen es auch zu tun. Und wer hat heute noch Angst vor dem Ich? Man könnte versucht sein, eine solche Entwicklung vom fordernden Begriff eines Ich im späten achtzehnten Jahrhundert zum flexiblen und frei anmutenden Rollenspiel der Gegenwart in eine Linie mit dem allgemeinen Machtverlust von Begriffen zu setzen, den etwa Hans Blumenberg attestiert hat.7 Das Ich wäre demnach ein Begriff, vielleicht sogar ein Leitbegriff, auf den hin sich das Leben der vielen früher orientierte. Jeder suchte sein Ich. Kunstproduktion und Kunstrezeption, aber auch die Liebe, das abenteuerliche Reisen und das Erwerben von Reichtum stellten Strategien für die Ich-Suche bereit.8 Oder genauer: diese Verhaltensweisen versprachen und versprechen noch Ersatzstrategien, ein Ich zu beweisen, gerade weil unklar war, was es heißt, ein Ich zu haben. Von hierher kommt nun die Frage dieses Beitrags: Besteht dieser Druck ein Ich zu haben oder finden noch? Was ist daraus heute geworden? Zu betonen ist dabei, um einem Missverständnis zuvorzukommen, dass hier keine nostalgische Geschichte erzählt wird, der zufolge es einmal ein Ich gegeben habe, das jetzt in Gefahr ist zu verschwinden. Eine solche Darstellung irrt in zwei Punkten. Zum einen hat es »das Ich« nicht gegeben. Vielmehr haben zahlreiche Individuen sich anscheinend gezwungen gesehen, ihre Andersheit und Differenz unter Beweis zu stellen. Und auch dies war ein paradoxes Unternehmen, das zu der Institutionalisierung zahlreicher Als-ob-Beweise und Erstatz-Narrationen führte. Zum anderen wird eben nicht behauptet, dass diese Obsession verschwunden ist, sondern sich verschoben hat. Während es also auf den ersten Blick scheinen könnte, als bestände dieser Druck der Ich-Findung nicht mehr oder nur noch in deutlich abgeschwächter Form, wird dieser Aufsatz argumentieren, dass das Ich seine Wirksamkeit nicht eingebüsst hat. Auch die Begriffe haben sich vielleicht doch nicht verabschiedet, sondern sind nur abgetaucht und weniger sichtbar als früher. Doch bevor wir zu diesen Thesen kommen, sind einige Definitionen, methodische Überlegungen und historische Orientierungen notwendig.
7 | Etwa Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010. 8 | Laut Niklas Luhmann stellen Eigentum und Kunst dabei die beiden Königswege dar, siehe Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: der. Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 3, Frankfurt a.M. 1989, S. 149-258.
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B egriffskl ärungen Was ist das Ich? In historischer Hinsicht handelt es sich um einen relativ jungen Begriff. Erst zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts findet sich die Nominalform von »das« Ich regelmäßig in den Journalen, Briefen und Veröffentlichungen. Vor 1769 ist es nur als Übersetzung von »alter ego« zu finden. Man könnte natürlich vorschlagen, dass es zwar die Wortbildung »das Ich« nicht gab, dass es aber die prinzipielle Idee einer jedem eigenen Individualität bereits früher gegeben haben muss. Immerhin kann die Idee der »Individualität« mindestens bis zur Reformation zurückgezeichnet werden.9 Um hier eine gewisse Klarheit zu gewinnen und zudem zu verstehen, warum die neue Wortbildung von »das Ich« offenbar notwendig war, schlage ich folgende begriffliche Unterscheidungen vor. Identität: Bei der Identität eines Menschen handelt es sich um auch von anderen feststellbare Kette von Merkmalen, die einen Menschen (oder ein Tier, eine Sache) kennzeichnen. Die Identität setzt sich entsprechend in der Regel aus der Kombination von Eigenschaften zusammen. Der Personalausweis und andere polizeiliche Dokumente etwa sollen die Identität eines Menschen feststellen. Die Identität muss ein Individuum nicht unbedingt allein betreffen. Es gibt auch Gruppen-Identitäten. Jemand kann etwa ein Schuster, Schweizer und Katholik sein, und erhält dadurch seine Identität. Die Identität erlaubt dabei auch Verwechslungen wie der mistaken identity. Selbst: Das Selbst bezeichnet den erlernten Sinn der Zuordnung zu sich selbst, häufig im Zusammenhang der Verursachung und Verantwortung. Dazu gehört zunächst das Selbst-Gefühl und die Körper-Imago beziehungsweise das Körper-Bild, das einem anzeigt, wie weit der eigene Körper sich ausdehnt und was er zu tun in der Lage ist.10 Dazu gehören aber auch erworbene Vorstellun9 | Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1997, sowie Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a.M. 1987, und Charles Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge, Mass. 1989. 10 | Um zu betonen, dass dieses Körper-Bild keine Selbstverständlichkeit ist, sei nur an den Bericht von Oliver Sacks erinnert, der Patienten vorstellt, denen dieses KörperBild verlorgen gegangen ist. Vgl. auch Studien zum zeitweiligem Verlust von adequaten Körpergefühl, siehe etwa X. Paqueron, M. Leguen, D. Rosenthal, P. Coriat, J. C. Willer, und N. Danziger, »The phenomenology of body image distortions induced by regional anaesthesia«, in: Brain 126 (2003): S. 702-712. Wer sich zudem mit Robotern auseinandersetzt, wird auch hier das Problem erkennen, insofern auch Roboter darauf programmiert sein müssen, ein Selbst-Bild zu erlernen.
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gen der Zuschreibung von Effekten, wenn man sich selbst den Erfolg einer Unternehmung gibt, und die Verantwortung, wenn man sich selbst die Schuld für ein Geschehen gibt. Man könnte dieses »Selbst« sicherlich in die beiden Pole von körperlichem Selbst-Gefühl einerseits und verursachender Handlungsverantwortung andererseits aufspalten. In dem vorliegenden Kontext ist dies aber nicht notwendig. Zudem betont diese Bündelung, dass beide Formen (und alle Mischformen) durch die Form der Selbst-Zuschreibung zusammengehalten werden. Ich weiß, dass das mein Körper ist, den ich da fühle, weiß etwa, bis wohin er sich ausdehnt. Und ich weiß, dass ich mir die Ergebnisse bestimmter (körperlicher aber auch sprachlichen) Taten zuschreiben kann oder muss. Sinn vom Selbst: Abgehoben vom Selbst ist der Sinn vom Selbst. Der Sinn vom Selbst umfasst die Vorstellungen, die jemand von sich entwickelt, mit denen er entscheidet, was zu ihm passt und was nicht. Insofern handelt es sich dabei um eine imaginäre Vorstellung von psychischen, aber auch körperlichen Merkmalen. Regelmäßig kommt der Sinn vom Selbst zum Zuge, wenn Entscheidungen anstehen. Welche Kleider soll man kaufen? Soll man die Einladung zu einer Abenteuerreise annehmen? Welches Studium passt zu mir? Dabei bietet der Sinn vom Selbst zum einen Entscheidungshilfe, wirkt sich aber zum anderen auch limitierend aus, da Neues oder Abweichendes eher vermieden wird.11 Die Attribution, was zu einem passt, legt einen auf ein zumindest ansatzweise idealisiertes oder vereinfachtes Selbstbild fest. Die Metapher des optischen Selbstbildes sind für diese Festlegung besonders bezeichnend, insofern sie die Statik des Visuellen betonen. Das Ich: Das Ich bezeichnet einen inneren Kern, der einen Menschen auszeichnet und der ihn besonders machen soll. Wer ein Ich hat, von dem kann gesagt werden, dass er eigenmächtig und aus eigenem Antrieb handelt. Dieser inneren Bestimmtheit haftet dabei stets ein gewisses Je ne sais quoi an, das nicht auf den Punkt gebracht und benannt werden kann. Tatsächlich äußert sich das Ich bei denjenigen, die davon zunächst sprechen, weniger als eine Gewissheit, als vielmehr als etwas, das es zu suchen gilt. Mit diesem Ich ist dabei auch eine Drohung verbunden: Wer kein Ich hat, der handelt also nicht eigenständig und hat eben keine wirkliche innere Identität. Entsprechend verwandelt diese Drohung das Ich zu einer Forderung oder einem Zwang: Man muss ein Ich haben. Insofern ist dieses Ich seinem Wesen nach ein Ich-Zwang. 11 | Diese Doppelfunktion spielte etwa in Jacques Lacans berühmten Text zur Genese von Selbstbildern eine zentrale Rolle, vgl. Jacques Lacan, »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je«, in ders: Écrits I, Paris 1966, S. 89-97. Deutsch: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«.
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Dieter Thomä hat die Paradoxien untersucht, die sich aus dem Projekt der narrativen Selbsterfindung in Antwort auf die Ich-Suche ergeben, indem er das Spagat der Individualitätsrhetorik, etwa von Richard Rorty, kritisch untersucht.12 Ein Ich zu haben, könnte heißen, anders als die anderen und die Konvention zu sein, wie etwa Rorty es will. Also muss eine differente Ich-Erzählung gefunden werden. Doch eine solche Differenz-Erzählung bleibt abhängig von der Rezeption der anderen. Diese anderen reagieren auf eine neue Narration unterschiedlich, könnten sie entweder als schlichte Verirrung abtun oder aber als Geniestreich feiern. Selbst im letzteren Fall aber gerät die scheinbar so individuelle Erzählung in den Strudel der Konvention, wie Thomä nachzeichnet, da sie ja erfolgreich kommuniziert, Gegenstand der Nachahmung wird, so dass selbst der Autor der Erzählung sich am Ende nur von ihr abgrenzen müsste, um sein differentes Ich behaupten zu können. »Das Ich« gibt es vielleicht nicht als referentiellen Gegenstand, aber als Begriff besteht es. Entsprechend ist dieses Ich kulturell geprägt. Viele Kulturen kommen ganz ohne ein solches »Ich« aus, während die vorher genannten Konzeptionen von Selbst, Identität und Sinn des Selbst in ihnen zu finden sind. Zwar ist das Ich wohl kein deutscher Sonderweg, aber dennoch stehen dem Ich etwa im angelsächsischen Kulturraum andere Konzeptionen entgegen, die es mildern. Dort überwiegt die Konzeption des »self-interest«, das anders als der deutsche »Eigennutz« in moralischer Hinsicht neutral ist.13 Ein Begriff bezeichnet nicht neutral einen Verhalt oder ein Objekt, sondern spricht eine Erwartung oder Forderung aus, wie bestimmte Wesen sich zu verhalten haben. Begriffe wie Gott, Vergnügen, Freiheit oder Mutter bezeichnen ihren Gegenstand weniger, als dass sie die Forderung in den Raum setzen, dass man Gottesfurcht zeigt, sich vergnügt, frei handelt oder mütterlich sei. Doch was genau dies heißt und wie genau dies geschehen soll, ist mit dem Begriff nicht ausgesprochen. Gerade die Unbestimmtheit scheint die Kraft der Begriffe zu erhöhen, da die Menschen sich genötigt sehen, mit lebensweltlichen Praktiken und Narrationen auf sie zu antworten. Hier kommt es zu Institutionalisierungszyklen, wenn die Verhaltensweisen und die Begriffe sich gegenseitig stabilisieren.14 Jeder Begriff reguliert bestimmte Verhaltensformen, insofern er Druck ausübt, sich dem Begriff entsprechend zu verhalten. Da der Begriff jedoch nicht klar vorgibt, wie ein solches adäquates Verhalten aussieht, 12 | Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Frankfurt a.M. 2007, S. 122-165. 13 | Vgl. Kelly Rogers, Hg., Self-Interest. An Anthology of Philosophical Perspectives, New York und London 1997. 14 | Siehe ausführlicher: Fritz Breithaupt, Der Ich-Effekt des Geldes. Zur Geschichte einer Legitimationsfigur, Frankfurt a.M. 2008.
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vermitteln Narrationen das Verhalten. Die Narrationen geben dabei vor, dem Begriff zu entsprechen. Umgekehrt aber prägen, erfinden und etablieren die Narrationen zugleich erst die Begriffe. Individualität: Individualität ist ein Mischbegriff von zwei der bereits genannten Konzeptionen, nämlich der Identität und dem Ich. Die Individualität eines Menschen umfasst die Merkmale, die einen Menschen anders machen und von anderen möglichst grundlegend unterscheiden. Hier kommen die Merkmale der Identität zum Zuge. Zugleich stehen diese Merkmale nun aber unter dem Druck zur »inneren« und »äußeren« Unterscheidung und Abgrenzung. In diesem Druck oder Zwang zeigt sich der Anteil des Ich in der Individualität. Um die begriffliche Verwechslung des Wortes »Individualität« zu vermeiden, verzichtet dieser Artikel entsprechend von der weiteren Verwendung des Wortes. Man kann spekulieren, dass das Wort der Individualität vielleicht eben aufgrund seiner Amphibolie eine große Karriere im wissenschaftlichen und alltäglichen Jargon des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht hat.15
These Die These dieses Aufsatzes kann nun einfach benannt werden. Die These ist, dass es in unserer gegenwärtigen Kultur zu einer Verschiebung gekommen ist. Statt eines starken Ich-Begriffs, der den einzelnen als Ich-Zwang regiert, herrscht nun ein schwächeres Ich vor, dass sich in Ausreden entfaltet, warum man kein Ich hat, vielleicht nicht haben kann oder muss. Der starke Ich-Begriff entstand, wie angedeutet, im späten achtzehnten Jahrhundert. Vermutlich hat die Entwurzelung und Ablösung der Individuen von ihren stratifikatorisch bestimmten Identitäten, also der Angehörigkeit zu Familie, Profession, Stand und Konfession, den Druck zur Selbstdefinition erhöht.16 Seine Kraft entfaltete das Ich dabei wohl nicht aufgrund besonderer Spezifikationen, was genau ein Ich sei, sondern aufgrund der Abwesenheit eben solcher Spezifikationen. Gerade weil niemand wusste, was genau ein Ich sein könnte, wuchs der Druck dieses Begriffs ins Maßlose, da jeder ihn individuell mit einer Bedeutung zu füllen suchte. Und da niemand seiner Sache sicher sein konnte, was das Ich sei und ob er dem Begriff genügt, war sich sicher niemand gewiss, ob er ein Ich habe. Entsprechend behielt der Begriff des Ich seinen Stachel, da niemand dem Begriff schlicht genügen konnte. 15 | Zur Kritik des Begriffs siehe auch Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«. 16 | Vgl. Philippe Ariès, Georges Duby, Roger Chartier, Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung, Frankfurt a.M. 1991.
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Vielleicht verdankt die deutsche und europäische Kultur eben diesem Stachel die künstlerische Hochproduktion der Romantik ab 1770. Kunstwerke werden wohl nicht nur aus einem Hochgefühl erzeugt, sondern auch weil die Künstler an sich zweifeln und dies durch Produktion zu kompensieren suchen. Die Versuche, auf diesen Ich-Zwang zu reagieren, können insofern als Ersatz-Beweise gedeutet werden. Eben da es wohl keinen authentischen Ich-Beweis gibt – schlicht, da es das Ich nicht gibt und es eben kein Ding, und sei es auch ein mentales abbildet – kann es nur derartige Ersatz-Beweise geben. Diese bestehen um 1800 in Verhaltensweisen, die irgendwie Ichheit auszudrücken scheinen, also etwa waghalsige Reisen in die Alpen, singuläre künstlerische Ausdrucksweisen, immense oder ungewöhnliche Reichtümer, außerordentliche Erfahrungen, reiche Einsichten oder das Auf bauen großartiger Sammlungen. Was diese Ersatz-Beweise verbindet, ist, dass sie alle dem Anspruch des Ich genüge zu leisten vorgeben. Sicherlich sind sie alle mit (Selbst)Zweifel verbunden, ob es einem gelänge, aber sie alle erheben Anspruch darauf, mehr als reine Identität auszudrücken. Jeder dieser Ich-Beweise stärkt insofern den Begriff des Ich, da er ihm zu entsprechen sucht. Anders die Ausrede. Auch die Ausrede, warum man jetzt kein Ich haben könne, schwächt nicht den Begriff des Ich als ganzes. Immerhin zeigt die Ausrede ja an, dass man die Autorität des Begriffs anerkennt. Aber anders als die vorgeblichen Ich-Beweise beziehungsweise Ersatz-Beweise behauptet die Ausrede nicht, dass man den Erwartungen eines Ich genüge. Vielmehr artikuliert die Ausrede die besonderen Umstände, unter denen die Geltung des Begriffs suspendiert ist oder man Immunität vor dem Begriff hat. Beginnen wir mit ein paar Beispielen. In der Epoche ab etwa 1900 und verstärkt nach dem ersten Weltkrieg konkurrieren die Ausreden geradezu miteinander. Es wird lamentiert, dass die Epoche keine Größe dulde, dass der jüdische Kapitalismus den deutschen Geist verknechte und dass alle künstlerischen Ausdrucksformen bereits erprobt seien und es keine Möglichkeiten echter Originalität mehr gäbe. Alfred Adler baut seine gesamte Psychologie auf das Gefühl der Minderwertigkeit auf (Stichwort: Minderwertigkeitskomplex), das durch Ausreden kompensiert werden müsse. Um sich vor den hohen Ansprüchen zu schützen, muss jeder lernen, sich für sein Versagen zu rechtfertigen. Adler geht davon aus, dass das Kind unter dem Druck steht, sich gegen die Übermacht der Erwachsenen, der Mitmenschen und der Umwelt zu behaupten. Geleitet werden sie von der Formel »Ich will ein ganzer Mann sein!«17
17 | Alfred Adler, Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie, München und Wiesbaden, 1922, 3. Aufl., S. 5.
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Doch dies gelingt selten. Statt also schlicht das Gelingen zu attestieren, muss das Individuum sich dem Druck und Anspruch entziehen. Dies leiste die Ausrede. Wir »beschuldigen«18 diverse Umstände, also etwa falsche Körpergröße, die falschen ökonomischen Umstände oder andere Mängel, denen wir im Vergleich zu anderen ausgesetzt waren oder sind. So kann sich ein jeder als »zurückgesetzte[r] Mensch« betrachten, der nicht zeigen konnte, welches Potential er ja eigentlich doch habe. Die Ausrede ermöglicht es einerseits, den Anspruch auf ein starkes Ich aufrecht zu erhalten (wobei Adler statt des Begriffs des Ich von einer »leitenden Fiktion« spricht), und andererseits eben den Anspruch zumindest temporär zu suspendieren. Die Ausrede wird so zur Bedingung der Möglichkeit des Ich im Zustande seiner Abwesenheit. Bei Adler zeigt sich, wie die Ausrede permanent geschaltet wird. Adler beobachtet eine allgemeine Tendenz, nämlich dass sich der Druck vom Beweis des Ich (also der »leitenden Fiktion«) auf den Beweis der Ausrede verschiebt. Statt also daran zu arbeiten, sich als starker, freier, unabhängiger männlicher oder weiblicher Mensch zu er- und beweisen, arbeiten die Menschen daran, ihre Ausreden zu belegen und zu beweisen. Die Divise lautet: »Handle so, als ob du verloren, als ob du der grösste, der angefeindedste wärest«.19 Eben das Scheitern am Anspruch des Ich wird nun im Zustand der Ausrede zum Ziel. Aus dem Mittel wird ein Zweck.20 Das Ausreden-Ich, welches Adler hier skizziert, besteht also nicht schlicht in einer Kompensation ersten Grades, sondern in einer Kompensation zweiten Grades, die zum Selbstzweck aufsteigt.21 Adler illustriert hier die These dieses Essays. Aus dem Ich-Zwang mit seinen Ersatzbeweisen wird über den Zwischenschritt der Ausrede das permanente, zum Selbstzwecke gewordene Ausreden-Ich. Dieses Ausreden-Ich ist dabei »neurotisch«, insofern es Bestätigung für die Ausreden sucht, warum dieses Ich nicht zum Zuge kommen kann. Eben dieses Ausreden-Ich, so die Diagnose dieses Beitrags, stellt die Ausgangslage des zwanzigsten Jahrhunderts dar.
18 | Alfred Adler, Über den nervösen Charakter, S. 21. 19 | Alfred Adler, Über den nervösen Charakter, S. 23. 20 | Vgl. Alfred Adler, Über den nervösen Charakter, S. 34. Dieses Umkippen von Mittel in Zweck war um und nach 1900 eine prominente Denkfigur, vgl. vor allem Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Leipzig 1900. 21 | Vgl. ausführlicher Fritz Breithaupt, Kultur der Ausrede, Berlin 2012.
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V om I ch -Z wang zur I ch -A usrede : The missing link Wie kommt es also zur Verschiebung von dem starken Begriff des Ich zu dem auf Permanenz geschalteten Ausreden-Ich? Anders als Alfred Adler sehe ich den entscheidenden Zwischenschritt hier in einer Verzeitlichung des Ich. Wenn dem Begriff des Ich ein Aufschub entgegengesetzt werden kann, dann beginnt der Anspruch des Begriffs zu wanken. Wenn jemand also auf die Forderung nach einem starken und unabhängigen Ich sagen darf: »Jetzt noch nicht«, dann setzt eine Verschiebung ein, die den Begriff in Folge vielfach unterhöhlen kann. Eben dies leistet in Bezug auf den Begriff des Ich der Bildungsroman und parallel die Entwicklungspsychologie. In der deutschen Literatur zeichnet sich dieser Schritt bereits in Anton Reiser. Ein psychologischer Roman von Karl Philipp Moritz und Johann von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre ab. Anton und Wilhelm, so verschieden sie und ihre Ausgangsbedingungen auch sein mögen, sind auf dem Weg zu sich selbst.22 Dieses Auf-dem-Weg-Sein hat dabei eine dreifache Funktion. Erstens gewinnt der einzelne einen Aufschub vom Ich-Zwang. Man kann sagen, dass man zwar jetzt noch kein Ich hat, aber durchaus Hoffnung haben kann, künftig eines zu erwerben. Zweitens wird suggeriert, es gäbe eine Schritt-fürSchritt-Entwicklung, die die Pädagogen womöglich formalisieren könnten und die dem Einzelnen Orientierung gewähren könnte (selbst in Goethes Roman gewinnt diese Erwartung in der Turmgesellschaft Gestalt, wenn auch nur in der Form einer fehlgeleiteten Hoffnung auf Steuerung23). Der Prozess des IchErwerbs wird schlicht als die Form von Ichheit gesetzt. Drittens kann dieses Verlegen des Ich in die Zukunft durch den Bildungsroman auch rückwirkend die Gegenwart erhöhen. Denn wer die Hoffnung unterhält, dereinst ein Ich finden oder erlangen zu können, wird zugleich auch annehmen, dass seine Anfänge bereits jetzt, wie bescheiden und unerkennbar auch immer, in der Gegenwart gewesen sein müssen. Der Einzelne kann schon jetzt im Futur II auf sich zugreifen: Mein Ich ist dasjenige, was schon jetzt gewesen sein wird (auch wenn ich das jetzt noch nicht ahnen kann). Es geht hier nicht darum, ob die genannten Romane dieser Hoffnung gerecht werden, sondern schlicht um den strategischen Einsatz der Bildungsidee 22 | Vergleiche zur Verzeitlichung des Ich im Bildungsroman um 1800 etwa Marc Redfield, Phantom Formations: Aesthetic Ideology and the Bildungsroman, Ithaca, NY, 1996. 23 | Vgl. Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, sowie in Bezug auf die Wahlverwandtschaften Joseph Vogl, »Nomos der Ökonomie. Steuerungen in Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Modern Language Notes, Vol. 114 (1999), S. 503-527.
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in der Kunst-Periode. Der Einzelne macht eine Anleihe an die Zukunft, wenn er schon jetzt für sich in Anspruch nimmt, was er erst zu erwerben hat. Das Ich gibt es auf Kredit und als Kredit. Entscheidend ist, dass die Verzeitlichung damit einen Ausnahmezustand vom Begriff generiert, gerade weil der Anspruch im Modus des Noch-Nicht aufrecht erhalten wird. Eben hier finden die Ausreden reiche Nahrung. In den nachfolgenden Romanen des neunzehnten Jahrhunderts wird dies umgesetzt. Es kann in dem Rahmen dieses kurzem Beitrags natürlich kein Überblick auch nur angedeutet werden. Stattdessen soll der Übergang zum postmodernen Ausreden-Ich anhand von einigen Stationen markiert werden. Die Auswahl der Beispiele kann dabei wohl kaum mehr als eklektisch genannt werden. In dem Roman Die Europamüden von Ernst Willkomm (1838) wird der Ausnahmezustand von dem Anspruch auf ein Ich architektonisch manifest. Der geniale Bardeloh, von dem man erwarten kann, er habe ein Ich und werde große Taten vollbringen, beschränkt sich mit der kritischen Beobachtung seiner Mitmenschen. In seinen Räumen gibt es eine geheime Kammer, in der er sich bei sozialen Treffen und Empfängen zurückzieht. Diese geheime Kammer oder »psychologische Warte« gestattet es ihm, selbst unbeobachtet alle andere zu beobachten.24 Dabei entlarvt er typischerweise deren Falschheit. Solange er diesen kritischen Blick auf die Mitmenschen wirft, kann er dem Anspruch gerecht werden, er sei anders, authentischer und könne ein Ich haben. Zugleich aber erlaubt ihm das Verstecken vor anderen und vor sich selbst, dem konkreten Druck zu entgehen, sein Ich jetzt schon zu zeigen, zu leben oder in Taten auszudrücken. Die »psychologische Warte« schafft einen räumlichen und zeitlichen Ausnahmezustand vom Anspruch des Ich, der das Ich zugleich als Begriff aufrecht erhält. Und so emigriert der Held am Ende nach Amerika – dort, vielleicht, könnte ein Ich zu haben und zu leben sein. Vorher bestand es nur im Zustand des Verstecks und des Aufschubs. Die relative Sicherheit der »psychologischen Warte« eines Bardeloh wird in Thomas Manns Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) ad absurdum geführt. Thomas Buddenbrook spielt sein Ich nur noch, wird sich selbst zur Maske. Während Bardeloh der eine war, der der Maskerade entkam, schlicht indem er sich zurückzieht, wird dieses Verstecken in Manns Roman nicht nur ihrrseits als Maskerade lesbar, sondern zur Falle, der Thomas nicht zu entrinnen weiß. Und entsprechend leistet der Rückzug, die Maskerade es dann nicht mehr, das Ich unbeschädigt im Zustand des Aufschubs zu bewahren.
24 | Ernst Willkomm, Die Europamüden, photomechanischer Neudruck Ausgabe Leipzig 1838, Göttingen 1968, siehe etwa: S. 58.
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Thomas wird seine Maske zum Gefängnis: »Wie bis zur Unkenntlichkeit verändert sein Gesicht sich ausnahm, wenn er sich allein befand! […] wie eine Maske fiel die längst nur noch künstlich festgehaltene Miene der Wachheit, Umsicht, Liebenswürdigkeit und Energie von diesem Gesichte ab, um es in dem Zustande einer gequälten Müdigkeit zurückzulassen […].« 25 »Er war so gewöhnt daran, Sorge und Müdigkeit unter einem Ausdruck von überlegener Sicherheit zu verbergen, daß beim Öffnen der Thür diese Maske beinahe von selbst infolge eines ganz kurzen Willensaktes über sein Gesicht geglitten war.« (615) »Wirklich! Thomas Buddenbrooks Dasein war kein anderes mehr, als das eines Schauspielers, eines solchen aber, dessen ganzes Leben bis auf die geringste und alltäglichste Kleinigkeit zu einer einzigen Produktion geworden ist, einer Produktion, die mit Ausnahme einiger weniger und kurzen Stunden des Alleinseins und der Abspannung beständig alle Kräfte in Anspruch nimmt und verzehrt…« (677)
Die Anstrengung des zeitlichen Aufschubs (also die Maskerade) konsumiert die Möglichkeit eines Ich.26 Damit verliert der Aufschub, den das zeitliche Noch-Nicht des Bildungsroman und die »psychologische Warte« eines Bardeloh verhieß, seine kompensatorische Funktion. Die Strategie der Verzeitlichung ist zu einem Ende gekommen. Das heißt aber eben nicht, dass Thomas von der Maskerade abläßt. Vielmehr klammert er sich an der Maske fest, als gewährte sie ihm die Sicherheit, dass er nicht versuchen müsse, ein Ich zu beweisen. Ebenso hatte Alfred Adler das Neurotisch-Werden der Ausrede beschrieben. Behauptet und bewiesen werden soll nicht mehr das freie Wesen unter der Maske, sondern der Grund, warum das freie Wesen nicht zum Zuge kommen kann. Diese Ausreden-Narrationen und ihnen entsprechend angeordnete Verhaltensweisen wie die Maskerade sind insofern Ich-Belege zweiter Ordnung. Bereits in Thomas Manns frühem Roman erlaubt diese Ich-Narration zweiter Ordnung eine ironische Distanz. Thomas kann bemitleidet, aber auch verlacht werden. Das Lachen über das Festhalten am Ich hat dabei durchaus etwas 25 | Thomas Mann, Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, hg. von Eckhard Heftrich, in: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke — Briefe — Tagebücher, hg. von Heinrich Detering u.a., Frankfurt 2002, Band 1.1, S. 512. 26 | Zur Maskerade vergleiche Andreas U. Sommer, »Der Bankrott ›protestantischer‹ Ethik: Thomas Manns Buddenbrooks«, in: Wirkendes Wort 44.1 (1994), 88-110; diese Arbeit hat den Verdienst, die Dynamik von »Scham«, »Maske« und »Entindividualisierung« als Reaktion auf Säkularisierungsprozesse zu beleuchten: »[D]ie Scham wächst proportional zur Abnahme eigentlicher Lebensinhalte«, Sommer, S. 98.
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Befreiendes und Heilsames an sich. Allerdings bricht auch die Lächerlichkeit nicht vollständig mit dem Ich, sondern bleibt innerhalb des Bannkreis von Ich und Begriff. Denn auch die Entblößung des Lächerlichen eines Thomas Buddenbrook bleibt gebunden an dessen Einstellung zum Ich. Eine Vielzahl der Romane des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich an eben dieser Stelle eingenistet und profitieren von den komischen Effekten des Ausreden-Ich. Dazu bedarf es nur eines Charakters, der sich einerseits selbst zu wichtig nimmt, andererseits nie um eine Ausrede verlegen ist, warum sich seine angeblich verborgenen Qualitäten nicht manifestieren können. Derartige Typen gab es bereits in Romanen und Erzählungen des neunzehnten Jahrhunderts wie etwa die Epigonen aus Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe, sowie in Komödien seit der Antike, doch dort figurierten sie als Nebenfiguren oder eben direkt markierten Zielscheiben der Komik. Nun werden sie zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Romane von Daniel Kehlmann oder von Christian Kracht bedienen sich etwa dieser Strategie. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als würde hier lachend von dem Ich Abschied genommen. Doch dieses Lachen über das Ausreden-Ich bleibt gebunden an jemandem, der weiter an dem Ich festhält. Insofern zelebrieren diese Romane eine sonderbare Wartestellung, die einerseits in verdoppelter Distanz zum Ich steht – die Aufschübe des Noch-Nicht des Ich werden in der Ausrede Gegenstand der Lächerlichkeit – andererseits aber darauf lauert, ob jemand das Ich wieder ernst nimmt. Die Luft wird eng für einen jeden Ich-Anspruch. Und dennoch verschwindet das Ich nicht.
K urzer A usblick Verschwindet das Ich damit? Löst es sich auf wie die Wolken und Hirngespinste der Komödienfiguren seit Aristophanes, in denen eitle Tröpfe entblößt werden?27 Hat sich der Begriff des Ich mit der Verabsolutierung der Ausreden und deren Lächerlichkeit erschöpft? Das wäre ja auch vielleicht, wenn man an all die genannten Obsessionen denkt, die mit diesem Ich verbunden sind, durchaus wünschenswert. Ich vermute – und hier kann auch der Autor dieses kleinen Versuches nur spekulieren – dass etwas anderes geschehen ist. Ich vermute also, dass das Ich nicht schlicht verschwunden ist, sondern in einen unausgesprochenen, unein27 | Vgl. zur Selbst-Auflösung der überzogenen Ich-Vorstellungen in der Komödie Werner Hamacher, »(Das Ende der Kunst mit der Maske)«, in Karl-Heinz Bohrer (Hg.), Sprachen der Ironie-Sprachen des Ernstes, Frankfurt a.M. 2000, S. 121-155, und Stephan Kraft, Zum Ende der Komödie: Eine Theoriegeschichte des Happyends, Göttingen 2011.
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gestandenen Raum gerutscht ist. Nicht in einen Raum des »Unbewussten«, zumindest käme es darauf an, was man darunter versteht, sondern vielmehr einen Raum des Tagtraumes. Evidenz hierfür liefern, um im Genre des Romans zu bleiben (statt auf Hollywood, Comic-Strip, Werbung oder Sport zu verweisen), die fantasy-heroes der vermeintlichen Kinder- und Jugend-Literatur eines Lord of the Rings und Harry Potter. Die Helden der erfolgreichen Fantasy-Geschichten der letzten Dekaden sind Auserwählte. Das war vor gut hundert Jahren noch nicht so. Mogli, der kleine Prinz, Emil, Teja und so fort waren Helden, die sich zu bewähren hatten, die allein da standen. Aber auf ihnen lastete nicht der Druck, besonders sein zu müssen. Sie wurden es schlicht. Harry Potter und Frodo Baggins aber müssen es sein. Es wird ihnen dabei aber insofern einfacher gemacht als den Helden des Sturm und Drang, weil sie sich nicht selbst auserwählen müssen. Sie sind eher simple simons. Aber dafür ist der äußere Druck, also die Handlungsnot, des Auserwähltsein unermesslich gesteigert. Diese Phantasie des Auserwähltsein oder die Gabe der Besonderheit ist eines der modernen Verstecke des Ich. In dem Moment, in dem sich ein Ich artikuliert, begrifflich wird, tatsächliches Verhalten bestimmt und also aus der fantasy-Geschichte ausbricht, um in die Lebenswelt einzutauchen, setzt es sich der Lächerlichkeit aus. Also kann es nur in den Reservaten bestehen, deren Vokabular sich nicht zum Begriff verdichtet, aber zugleich im Bereich der Fiktion begriffsartig operiert. Und so besteht das Ich in der Gegenwart fort in der Spaltung zwischen dem zu verlachenden Ausreden-Ich einerseits und dem überhöhten, aber vollständig fantastisch entrückten Helden andererseits. Die Tiefe dieser Spaltung deutet an, dass das Ich als Begriff nicht tot ist. Warum sonst wird jeder tatsächliche Anspruch auf Ichheit geradezu zwanghaft kritisiert und negiert? Eben dies, so die Diagnose dieses Beitrags, also die zwanghafte Obsession, das Ich lächerlich zu machen, ist der Zustand des Ich in der Gegenwart. Denn das Lächerlich-Machen auf der einen Seite spielt nun der fantasy zu, die einen Ich-Helden zu bewahren weiß. So wie das Ausreden-Ich seine Macht eben durch die Beweise der Ausrede (warum sich das Ich nicht manifestieren kann) stärkte, so wird dieses der Gegenwart vollständig entrückte Ich der fantasy gestärkt durch die Lächerlichkeit eines jeden Ich-Anspruchs in der Lebenswelt.
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1. E inleitung Die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die das Private als Ressource vermarktbar macht, hat auch die (mediale) Disponibiliät und Erscheinungsform des Lebenslaufs verändert. Lebensläufe haben eine ungeahnte Konjunktur: Sie sind über private und institutionelle Homepages und »soziale Netzwerke« oder spezifisch für die Stellenvermittlung konzipierte Portale wie monster.com der Öffentlichkeit zugänglich; auch die florierende Ratgeberliteratur zum Thema, die verspricht, selbst »nicht perfekte Lebensläufe«1 wieder in die Zirkulation des Marktes zu bringen, ist ein weiteres Indiz dieser Konjunktur und zeigt zugleich an, dass es wesentlich nicht um die Repräsentation einer Lebensgeschichte, eines Individuums und seiner gelebter Erfahrungen und erworbenen Fähigkeiten und Verdienste geht, sondern um eine Selbstinszenierung, die darauf abzielt, den ökonomischen und sozialen Status eines Individuums zu verbessern, möglicherweise mit der Konsequenz einer radikalen Veränderung der Lebensumstände, wenn die erfolgreiche Bewerbung einen Umzug in einen mehr oder weniger fremden Kulturkreis mit sich bringt. »Producing a brilliant CV is one of the few stages of the job-hunting process in which you have absolute control«2, heißt es in einem im angelsächischen Bereich populären Ratgeber. Der Lebenslauf, das curriculum vitae, hat im heutigen Arbeitsmarkt vor allem die Funktion, das Tor zum weiteren »job-hunting process« aufzustoßen. Dieser Prozess hat nicht zuletzt die Funktion, die notwendigerweise idealisierende und daher suspekte Selbst-Präsentation des 1 | Vgl. Hesse, Jürgen/Schrader, Hans Christian: Die perfekte Bewerbungsmappe für nicht perfekte Lebensläufe, Frankfurt a.M.: Eichborn 2006. 2 | Fagan, Angela: Brilliant Job Hunting: How to Get the Job You Want. Harlow, England et al.: Pearson/Prentice Hall 2008 2, S. 28.
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Individuums auf den Prüfstand zu stellen. So hat sich etwa mit den »psychometrischen« Messungen in assessment centers eine eigene Industrie entwickelt, um die öffentliche Selbstpräsentation in Lebensläufen als Fiktion oder Selbstbetrug zu entlarven – oder aber zu bestätigen. In dieser Perspektive ist das curriculum vitae mithin keine Repräsentation, sondern eine Projektion: Der Lebenslauf ist ein Lebensentwurf, der im Erfolgsfall durch »den Prozess« zu einer Realität wird. So wird die Eigentümlichkeit des Lebenslaufs, die darin besteht, ein vollständiges, ja lückenloses Bild eines Lebens zu entwerfen, das zugleich pragmatisch auf das Wesentliche zu reduzieren ist, von der Eigentümlichkeit überlagert, dass dass das holzschnittartige Selbstbild wiederum mit dem »ganzen« bios rückgekoppelt ist. Im Folgenden geht es mir darum zu zeigen, dass die Spannung von partialem Selbstentwurf und Negierung oder Ratifizierung/Verwirklichung dieses Entwurfs durch die Öffentlichkeit weniger ein Going Public im Sinne einer Selbstpräsentation als eines Becoming (in/through) Public im Sinne einer Selbstkonstitution darstellt. Es handelt sich zugleich um eine fremdbestimmte Selbst-Konstitution, da das Individuum eben nicht, wie der Ratgeber meint, die »absolute Kontrolle« über das Ich-Image verfügt, sondern ganz im Gegenteil den »Vorstellungen« der Öffentlichkeit unterworfen ist – »Vorstellungen« die normativ und konstitutiv für das Selbst sind. Einen Lebenslauf schreiben und diesen der Öffenlichkeit präsentieren heißt immer auch, sich einem Prozess der Interpellation zu unterziehen.3 Ich werde diese Logik des curriculum vitae in den ältesten mir bekannten Lebensläufen aus dem Spanien des 16. Jahrhunderts nachzeichnen, da hier das Zusammenspiel von bürokratischen Prozessen, von kapitalistisch-ökonomischem Kalkül und der Ablösung von mittelalterlichen, nicht auf Identifikationsprozessen beruhenden Formen der Subjektivität durch moderne interpellative Selbst-Konstitution noch nicht »naturalisiert« ist und sich in einem umfangreichen Gesetzeskorpus niedergeschlagen hat.4 3 | Vgl. Althusser, Louis: »Idéologie et appareils idéologiques d’état (notes pour une recherche)«, in: Ders.: Sur la réproduction, Paris: Presses Universitaires de France 1995, S. 269-314. 4 | Der vorliegende Beitrag basiert auf einer Studie über den Zusammenhang von frühneuzeitlicher Bürokratie im spanischen Imperium und der Genese moderner Formen von Literatur (Vgl. Folger, Robert: Writing as Poaching Interpellation and Self-Fashioning in relaciones de méritos y servicios. The Medieval and Early Modern Iberian World, Brill: Leiden. Im Druck.) Vgl. dazu auch Siegert, Bernhard: »Pasajeros a Indias: Biographical Writing between the Old World and the New«, in: Robert Folger/Wulf Oesterreicher (Hg.): Talleres de la memoria - reivindicaciones y autoridad en la historiografía indiana de los siglos XVI y XVII. P & A 5, Münster: LIT Verlag 2005, S. 295-306 und González Echevarría, Roberto: »The Law of the Letter: Garcilaso’s Comentarios«, in: Ders. (Hg.): Myth and Archive:
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2. B ürokr atie und S elbst im 16 . J ahrhundert Im 15. Jahrhundert entwickelte sich in Spanien eine Form der Souveränitätsausübung, die essentiell auf bürokratische Prozesse rekurierte.5An Stelle der vormodernen, auf face-to-face-Situationen und persönliche Vertrautheit begründeten Hierarchie trat allmählich ein System, in dem die Untertanen schriftliche, standartisierte und durch Fachleute (letrados) bearbeitete Eingaben an eine mehr oder weniger enfernte Entscheidungsinstanz machten, und die Herrschaftsakte den selben anonymisierten Weg zurück durchliefen. Letzlich bekamen Untertan und Entscheidungsträger einander nicht mehr zu Gesicht, so dass sich durch einen bürokratischen Apparat vermittelte Repräsentanten und Repräsentationen gegenüberstanden. Dieser Modernisierungschub, der in Europa nicht seinesgleichen hatte,6 war die Grundlage des spanischen Imperiums in Europa und in den amerikanischen Kolonien. Aufgrund der Entfernung, die Spanien von den überseeischen Territorien trennte, und des Grundsatzes, die Ausbildung lokaler Eliten, die die traditionelle Machtausübung nach dem Prinzip der Präsens hätte garantieren können, so weit möglich zu unterbinden, fand diese frühneuzeitliche
A Theory of Latin American Narrative, Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 4392. Zur frühen Herausbildung von modernen, subjektzentrierten Formen der Sinnbildung in Spanien vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Bezüglich mittelalterlicher, nicht auf Identifikation, sondern auf »Einfaltung« basierender Formen von Subjektivität vgl. Folger, Robert: Escape from the Prison of Love. Caloric Identities and Writing Subjects in Fifteenth-Century Spain (= North Carolina Studies in the Romance Languages and Literatures, 292), Chapel Hill, North Carolina: University of North Carolina Press 2009. 5 | Zu den Anfängen der modernen Bürokratie im Kastilien des 15. Jahrhunderts siehe: Phillips, William D.: »The University Graduates in Castilian Royal Service in the Fifteenth Century«, in: Ministerio de Educación y Justicia/Universidad de Buenos Aires, Facultad de Filosofía y Letras (Hg.), Estudios en homenaje a Don Claudio Sánchez de Albornoz en sus 90 años. Vol. 4, Buenos Aires: Instituto de historia de España 1986, S. 475-90. 6 | Zu einem Zeitpunkt als sich in Spanien ein komplexes System von königlichen Räten (consejos), untergeordneten Institutionen und bürokratischen Verfahren herausgebildet hatte, waren ein »gedechtnus sackh« und »Scatl« (Schachtel) das Modell für das Archiv der kaiserlichen Kanzlei, vgl. Müller, Jan-Dirk: »Archiv und Dokument: Die Kultur der Sekretäre um 1500«, in: Bernhard Siegert (Hg.), Die Kultur der Sekretäre, Zürich: Diaphanes 2003, S. 17 und ders.: »Archiv und Inszenierung: Der ›letzte Ritter‹ und das Register der Ehre«, in: Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérrenec (Hg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire littéraire au moyen âge, Sigmaringen: Jan Thorbecke 1998, S. 118f.
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Bürokratie ihre komplexeste Ausprägung in der Kolonialverwaltung.7 Die Neue Welt wurde von einer Flut von Verordnungen und Gesetzen (leyes, cédulas, pragmáticas − in mehrfacher Ausfertigung) überschwemmt, die von den auf Zeit ernannten Repräsentanten des kastilischen Königs umzusetzen waren. Ausdruck dieses frühmodernen Willens zur Bürokratie sind die großformatigen 2400 Seiten der 1681 gedruckte Recopilación de leyes de Indias, eine Zusammenfassung von Gesetzen, die in beinahe 200 Jahren Kolonialgeschichte von der Krone erlassen worden waren. In diesen Gesetzen drückt sich zum einen das Bestreben der Krone als Quelle und Autor retibutiver Gerechtigkeit aus, den Alltag in Amerika in Amerika bis in das kleinste Detail zu regeln. Zum anderen wird aus ihnen deutlich, dass auch distributive Gerechtigkeit wesentlich für den frühneuzeitlichen Souverän wesentlich war. Die Frage nach der gerechten Verteilung des materiellen und symbolischen Kapitals war im kolonialen Kontext die Frage, wer welche Belohnungen und Privilegien aus der Verfügungsmasse der kolonialen Eroberung und Ausbeutung erhalten sollte, und tatsächlich verwendete die Kolonialbürokratie einen beträchtlichen Teil ihrer Tätigkeit auf die Gewährleistung distributiver Gerechtigkeit. Es kann ohne Übertreibung gesagt werden, dass die Jagd nach Titeln und Ämtern, Renten, Land und kostenloser Arbeitskraft (u.a. durch die berüchtigte encomienda), Privilegien, Posten und Pöstchen ein wesentliches Moment der Kohäsion der frühmodernen Gesellschaft und des Fundaments der Souveränität des Herrschers war.8 Das Grundprinzip dieser Privilegienökonomie war, dass das Individuum, das sich durch pflichtbewußten Einsatz (servicios) Verdienste (méritos) um die Krone erworben hatte, königliche Gunsterweise (mercedes) erwarten konnte. 7 | Zur Etablierung und zum Funktionieren der Kolonialverwaltung vgl. Schäfer, Ernst: El consejo real y supremo de las Indias: Su historia, organización y labor adminstrativa hasta el terminación de la Casa de Austria. Vol. 1: Historia y organización del Consejo y de la Casa de Contratación de las Indias, 1935. Reprint, Nendeln (Liechtenstein): Kraus 1975; Sarfatti, Magali: Spanish Bureaucratic Patrimonialism in America. Berkeley, California: Institute of International Studies 1966; Parry, John H: The Audiencia of New Galicia in the Sixteenth Century: A Study in Spanish Colonial Government. 1948. Repr, Cambridge: Cambridge University Press 1968; Robert Folger: Writing as Poaching Interpellation and Self-Fashioning in relaciones de méritos y servicios; Pietschmann, Horst: Die staatliche Organisation des kolonialen Iberoamerika, Stuttgart: KlettCotta 1980; Phelan, John Leddy: »Authority and Flexibility in the Spanish Imperial Bureaucracy«, in: Administrative Science Quarterly 5 (1960), S. 47-65. 8 | Vgl. De Dios, Salustiano: Gracia, merced y patronazgo real, Madrid: Centro de Estudios Políticos y Constitucionales 1993, S. 23. Zur frühmodernen Ökonomie der mercedes (Privilegien) vgl. Folger, Robert: Writing as Poaching Interpellation and SelfFashioning in relaciones de méritos y servicios.
Zum Ursprung des Lebenslaufs: Selbst-Inszenierungen
Aufgrund der im Wesen der entstehenden Bürokratie angelegten Distanzierung von Untertan und Souverän mussten diese méritos und servicios schriftlich dokumentiert und einem eindeutig identifizierten Individuum zugewiesen werden. Diese Dokumentation, die für das vermeintlich verdiente Subjekt einstand, war wiederum die Basis für die Entscheidung der Autoritäten über die Verteilung der mercedes. Die überaus umfangreichen Gesetzessammlungen der Zeit, die den Prozess der Verteilung von Privilegien minutiös regelten, und die Massen der als relaciones de méritos y servicios (»Berichte über Verdienste und Dienste«) bekannten Aktenstücke, die dieser hervorbrachte, zeigen, dass es sich um einen hochgradig regulierten und formalisierten bürokratischen Vorgang handelte.9 Dieser nahm seinen Anfang mit der Vorlage einer Petition bei der höchsten Verwaltungs- und Gerichtsbehörde in den Kolonien, der audiencia. In dieser Petition identifiziert sich der verdiente Untertan durch seinen Namen, Geburtsort und Abstammung, präsentiert seinen Leben (oder das seiner verdienstvollen Vorfahren) als Auflistung der dem Souverän geleisteten Dienste und unterstreicht, falls er eine Belohnung durch ein Amt anstrebt, seine Befähigung dieses auszuüben.10 Der Kern einer relación de méritos y servicios ist somit ein curriculum vitae. Dieser Lebenslauf war wiederum die Basis der Zeugenvernehmung (interrogatorio), die darauf abzielte, die Angaben zur Person zu überprüfen. Wenn die audiencia die Petition akzeptierte, den Lebenslauf also als glaubwürdig betrachtete, bereitete der Antragsteller einen standartisierten Fragebogen vor, der dann von Beamten einer Gruppe von Zeugen zur Beantwortung vorgelegt wurde. Zudem wurden die Angaben des Bittstellers in einer Reihe von Archiven und gegebenfalls in historiographischen Werken überprüft. Diese Überprüfung hatte zum einen die Absicht, die Wahrhaftigkeit der Angaben objektiv zu überprüfen, zum anderen sollte sie sicher stellen, dass die Verdienste nicht bereits abgegolten worden waren. Wenn die audiencia den Antrag unterstützte, schickte sie die Akte, bestehend aus der Petition, dem Lebenslauf und den Protokollen der Zeugenaussagen zusammen mit einer positiven Stellungnahme an den Indienrat (Consejo de Indias), der höchsten Behörde in Kolonialangelegenheiten. Der Indienrat beurteilte die Anträge erneut und legte sie zusammen mit einer Synopse der Akte dem König zur endgültigen Entscheidung 9 | Der Großteil dieser Dokumente befindet sich heute im Indienarchiv (Archivo General de Indias) in Sevilla; vgl. Peña y Cámara, José María de la: Archivo General de Indias de Sevilla: Guía del visitante, Madrid: Direccion General de Archivos y Bibliotecas 1958. Im Gesetzeskorpus der Recopliación ist vor allem der mit »informaciones y pareceres« (Berichte und Gutachten) überschriebene dreiunddreißigste Titel relevant. 10 | Ich beschreibe die Details des Verfahrens im zweiten Kapitel von Writing as Poaching; vgl. auch J. Parry: The Audiencia of New Galicia in the Sixteenth Century.
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vor. Diesem oblag die Entscheidung, ob der Antragsteller eine Belohung in der Form eines Privilegs, Titels oder Amtes verdiente. Dieser bürokratischen Praxis verdanken wir Tausende von frühneuzeitlichen Lebensläufen, die sich zusammen mit den elaborierten Beglaubigungsmitteln erhalten haben. Die offensichtlich so rationale Natur des bürokratischen Vorgehensweise darf nicht den Blick darauf verstellen, das ihr ein wesentliches fiktionales Element eingeschrieben war.11 Die Gesetze legten fest, dass allein diejenigen Anträge zu bearbeiten waren, bei denen eine »Wahrscheinlichkeit« (probablidad)12 bestand, dass der Antragsteller aufgrund seiner »Meriten, Qualität und Verdienste« (méritos, calidad, servicios; ib.) einer Belohnung würdig war. Es handelte sich allem Anschein nach um eine echte Vorentscheidung, da der bürokratische Apparat, wenn er einmal in Bewegung gesetzt war, dazu tendierte, seine eigenen Bemühungen durch einen positiven Bescheid zu rechtfertigen.13 In seinem Lebenlauf listete der Antragsteller lediglich die Dienste auf, die er dem Souverän geleistet hatte und die Mühsal, die er in königlichem Dienst erleiden musste. Damals wie heute gebot der Lebenslauf das Verschweigen oder die kreative Schönung von Verfehlungen und Mängeln und die Konzentration auf »das Wesentliche«. Zudem hatte der an die Zeugen vorgelegte Fragebogen, der die Antworten vorformulierte, lediglich die Funktion, die Behauptungen des Lebenslaufes zu bestätigen. Die Antworten der Zeugen waren somit notwendigerweise immer affirmativ: Oft lässt sich erkennen, dass sie nicht mehr als Paraphrasen des Fragebogens in Antwortform sind. Wenn die audiencia Zweifel an der »Qualität« des Antragstellers hatte oder der Lebenslauf nicht den Erwartungen der Autoritäten entsprach, schlug sich der Behördengang nicht in einer Akte nieder, dann wurde das Verfahren nicht eröffnet. Es ist jedenfalls kein Zeugnis einer relación de méritos y servicios eines von der audiencia nicht für würdig befundenen Bittstellers überliefert. Das bedeutet auch, dass die umfangreiche Akte nicht Zeugnis eines Prozesses der Wahrheitsfindung war, sondern darauf abzielte, das Bild eines perfekten Untertants des Souveräns zu ratifizieren. Dieses Image, das vom Antragsteller entworfen wurde, entsprach somit notwendigerweise den Erwartungen der Autoritäten und schloss alle Aspekte der Biographie aus, die dieses Bild nicht bekräftigten.
11 | Wie Bernhard Siegert anhand der Lizenzierung von Auswandern in die Kolonien zeigt, war die Praxis der Entscheidungsfindung auf der Basis von Lebensläufen so weit verbreitet wie die Zweifel an der Wahrhaftigkeit dieser Selbstpräsentationen. 12 | »De las informaciones y pareceres« Gesetz 8, fol. 292r, in: Estudio preliminar Juan Manzano Manzano (Hg.): Recopilación de las leyes de los Reynos de las Indias. 1681. Ed. facs. Bd. 2, Madrid: Ediciones Cultura Hispánica 1973. 13 | Die Beamten vor Ort arbeiteten mit short lists von potentiellen Empfängern von mercedes.
Zum Ursprung des Lebenslaufs: Selbst-Inszenierungen
Nicht anders als heute waren die ersten Lebensläufe aseptische Skelette von Biographien. Zudem ist zu beachten, dass das Selbstbild des Subjekts, wie es durch den Lebenslauf und die Zeugenbefragungen evoziert wird, der Bestätigung durch die Autoritäten bedurfte. Zunächst war eine positive Beurteilung der audiencia nötig. Danach musste auch der Indienrat den Selbstentwurf gutheißen. Die letztgültige Autorität war natürlich der König. Phillip II. erfüllte seine Rolle als Souverän und Ursprung aller Privilegien vorbildlich, wie zum Beispiel aus einer Zusammenfassung und Bewertung verschiedener Petitionen für Adelstitel, Renten und Ämter hervorgeht, die ihm der Indienrat im Jahr 1588 vorgelegte. Nur würdige Kandidaten wurden dem König präsentiert, allesamt mehrfach beglaubigte vorbildliche Untertanen. Der Text des Rats erscheint rechts auf der Seite. Der linke Teil war für die Entscheidung des Königs reserviert, der mit eigener Hand Anmerkungen einfügte: Muy bien esta lo q en esto parece, y assi se haga, y Mattheo V queda con mem de lo del habito, para q se despache la cedula, q yo lo tengo por bien por las causas q aqui dezis. […] Tambien lo esta esto, y hagase como parece. […] y esto, y hagase assi. […] Hagase como parece. […] Tambien esto. […] y esto. [Es ist gut, wie es hier erscheint, und so möge es geschehen, und Mattheo Váquez soll eine Notiz über die Ernennung machen, damit ein Dokument ausgestellt werden kann, weil ich es aus den Gründen, die Ihr hier nennt, für gut befinde [...]. Das ist auch gut, und es möge geschehen, so wie es hier steht. [...]. Auch das, es möge so geschehen. [...] So sei es. [...] Auch das. [...] Und das.]14
Die jahrelange Arbeit von Bürokraten und Beamten, oft Hunderte Seiten von Unterlagen, mühsam und kostspielig zusammengetragene Evidenz, werden auf einen Absatz und letztlich auf ein lakonisches »und das« reduziert. Das 14 | Das Dokument befindet sich im Archivo General de Indias in Sevilla (Indiferente 740, N. 295). Es handelt sich um ein Blatt ohne Paginierung. Alle Übersetzungen stammen von mir.
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Bild des perfekten Untertans bedarf der Ratifizierung des Souveräns, ein wenig mehr als ein Federstrich. So bestätigt das letzte »und das«, dass ein gewisser Jacme Carlos, der sich seit 23 Jahren im Vizekönigreich Peru aufgehalten hatte, im Dienst des Vizekönigs Francisco de Toledo als »defensor« (vermutlich Verteidiger) der königlichen Finanzverwaltung (hacienda) Verdienste erworben und für die audiencia der Ciudad de la Plata (Charcas, heute Sucre) unentgeltlich nicht weiter definierte Dienste geleistet hatte. Das königliche Placet heißt die Zusammenfassung des Consejo de Indias gut, der wiederum Carlos’ in Charcas verfassten exemplarischen Lebenslauf für glaubwürdig befunden hatte – obwohl allen Beteiligten klar sein musste, dass dieses Leben nicht so geradlinig verlaufen sein konnte, dass manches über Jacme Carlos zu sagen gewesen wäre, das nicht in das Bild des idealen Untertanen und Diener seines Königs passen konnte. Carlos’ Ansinnen war es gewesen, zum königlichen Zahlmeister (»Contador de quentas«) in Potosí ernannt und für seine Dienste für die audiencia entlohnt zu werden. Wenn auch der König dem Ratschlag des Consejo folgte, und ihn stattdessen zum Prokuristen der audiencia macht, so steht am Ende des jahrelangen Verfahrens doch eine Bestätigung eines Selbst-Image, das den Antragsteller de facto zu dem machte, was er in seinem Lebenslauf entworfen hatte. Carlos hatte sein Bittgesuch zunächst an die ihm vertraute audiencia gerichtet, aber erst durch ein Going Public in der Form einer Entäußerung an einen letztlich anonymen bürokratischen Apparat und die Ratifizierung durch den fernen Souverän konnte sein ökonomisch motiviertes, letztlich aber narzisstisches Begehren befriedigt werden und das self-fashioning in einer Promotion gipfeln. Der Antrag und der Lebenslauf des verdienten Untertanen bestätigen also nicht die Wahrheit der Selbstpräsentation, sondern produzieren diese Wahrheit. Die »Wahrheit des Subjekts« ist wesentlich das Produkt von Akten der Fiktion und von standartisierten Schreibpraktiken abhängig. In dem institutionellen Rahmen, den ich hier skizziert habe, ist eine relación de méritos y servicios notwendigerweise ein erfolgreicher Antrag. Er ist erfolgreich, weil der Antragsteller sich entsprechend den durch die Gesetzte etablierten Parametern positioniert. Die Stimme des Antragstellers wird verschriftlicht, und zugleich antizipiert dieser Text die Stimmen der Autoritäten (der Beamten der audiencia und des Consejo de Indias). Dieser Chor verwandelt den »infamen« Untertanen in den Kolonien in ein loyales Subjet des Monarchen, das durch den Lebenslauf in effigie vor dem Indienrat und letztlich vor dem König »erscheinen« kann. Obwohl diese imaginäre »Audienz«, in der das Wohl oder Wehe des Individuum vom Gutdünken des Souveräns abhängt, am Ende des Instanzenwegs steht, ist sie als imaginierte Affirmierung des Selbstentwurfs tatsächlich der Ausgangspunkt. Jacme Carlos weiß, dass er »für« Philipp II. schreibt. Er unterwirft sich dem Bewerbungsprozess und der königlichen Autorität in der Hoffnung, am Ende Bestätigung zu finden. Dies ist im Wesentlichen die Struktur
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der Subjektkonstitution, die die Unterwerfung und Autorisierung eines Individuums voraussetzt. Friedrich Kittler hat eine Verbindung zwischen Bürokratie und Subjektkonstitution im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet. Kittler argumentiert, dass neue Lesepraktiken und die Implementierung autobiographischer Schreibpraktiken in Verband mit staatlich kontrollierter Erziehung »das Subjekt als Beamten« hervorbrachten.15 Drei Jahrhunderte früher waren vergleichbare Parameter, nämlich das Zusammenwirken von diskursiven Praktiken und Institutionen, im spanischen Weltreich bereits gegeben. Die koloniale Bürokratie zwang oder vielmehr forderte Spanier in den Kolonien dazu auf, ihre persönlichen Erinnerungen zu durchforsten und die Aspekte ihres Lebens auszuwählen, die sie als exemplarische Soldaten, Siedler oder Beamten im Dienste des Imperiums auswiesen und diese Erinnerungen in schriftliche Zeugnisse zu transformieren, die dann von der Bürokratie evaluiert und im Erfolgsfall vergolten wurden. Der bürokratisch-administrative Appart stellte die Instrumente und die institutionellen Ressourcen bereit. Das Individuum, das seinen Antrag den Autoritäten vorzulegen wünschte, um seinen Platz in der Hierarchie einzufordern (in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht) musste »freiwillig« Selbstbilder akzeptieren, die Diskursen und anonymen Praktiken inhärent waren. Der unbedeutende defensor in Charcas musste das Bild eines bedingungslos treuen, sich im königlichen Dienst verzehrenden Untertanen erwecken; sein Talent als Dichter Maler oder, was ihm selbst an seiner Person bemerkenswert erscheinen mochte, hatte keinen Platz im Lebenslauf. In diesem Sinn sind relaciones de méritos y servicios ein idealtypisches Beispiel von ideologischer Interpellation in dem Sinn, wie es Louis Althusser in seinem wegweisenden Aufsatz »Idéologie et appareils idéologiques d’état« ausgearbeitet hat.16 »L’idéologie est une »representation« du rapport imaginaire des individus à leurs conditions réelles d’existence« (296; Hervorhebung im Original), so Althusser, eine Repräsentation die zur Reproduktion dieser realen Lebensumstände beiträgt. Die Interpellation ist eine »Anrufung« durch die Autoritäten: »hé, vous, là-bas!« (305). Es ist der Ruf des Polizisten, von dem sich jeder angesprochen fühlt. John Mowitt führt aus, dass Interpellation menschliche Wesen dazu »aufruft« (»incites«),
15 | Vgl. Kittler, Friedrich: »Das Subjekt als Beamter«, in: Manfred Frank/Gérard Raulet/Willem van Reijen (Hg.): Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 401-420. 16 | Der Aufsatz wurde zuerst in der Zeitschrift La pensée im Jahr 1970 veröffentlicht und später überarbeitet. Ich beziehe mich auf die wiederveröffentlichte erweiterterte Version aus dem Jahr 1995.
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In der Interpellation im kolonialen Rekrutierungsprozess entwirft das Subjekt ein Selbstbild, über das es − wie die Schreiber heutiger Lebensläufe − vermeintlich »absolute Kontrolle«18 ausübt. Letzlich aber akzeptiert es ein vorgestanztes Image, indem es die gesetzlichen Vorgaben und die Beurteilungen Beurteilungen, Gutachten (der Schreiber, Zeugen, Anwälte, Auditoren, Räte, Sekretäre, des Monarchen) antizipiert und damit die Selbst-Bilder des ideologischen Staatsapparats akzeptiert.19 Welches sind nun die autoritativen Selbstbilder die durch die Ideologie vermittelt werden? Die offensichtliche Antwort, nämlich, dass das Subjekt dazu aufgerufen wird, sich als Soldat oder Beamter in der Hierarchie zu positionieren, greift zu kurz. Althusser postuliert, dass die Interpellation als Prozess, der das Subjekt zugleich ermächtigt und zur Unterwerfung einlädt, letztlich in einem »assujettissement au Sujet«20 gründet, das heißt, einer reflektiven Beziehung zwischen dem Individuum and dem absoluten singulären Subjekt. Das Individuum identifiziert sich mit einem imaginären Subjekt, das die fundamentellen ideologischen Prinzipien »verkörpert«. Im Kontext des spanischen Kolonialreichs steht für dieses Subjekt der König ein.21 Philipp II., der »Papierkönig« (rey papelero), war die perfekte Inkarnation der Subjektfunktion im Prozess der Interpellation durch relaciones de méritos y servicios: »Nachfah17 | Mowitt, John: »Foreword«, in: Paul Smith: Discerning the Subject (Theory and History of Literature 55), Minneapolis, Minnesota: University of Minnesota Press 1988, S. xiv. 18 | Fagan, Angela: Brilliant Job Hunting, S. 28. 19 | Die königlichen Bestimmungen bezogen sich nicht nur auf den Behördenweg und das Procedere, sondern regelten auch minutiös Formalia: Leserlichkeit, Vermeidung von Abkürzungen, Durchstreichungen, erlaubte Zeilen pro Seite etc.; vgl. J. Parry: Audiencia of New Galicia, S. 159. Zum Zusammenhang von Subjektkonstitution und Schreibpraktiken und -normen vgl. Goldberg, Jonathan: Writing Matter: From the Hands of the English Renaissance, Stanford, California: Stanford University Press 1990. 20 | Althusser, Louis: Idéologie et appareils idéologique d’état, S. 310. 21 | Über das frühneuzeitliche England schreibt Louis Adrian Montrose: »The historical subject, Elizabeth Tudor, was no more than a privileged agent in the production of the royal image. At a fundamental level, all Elizabethan subjects may be said to have participated in a ceaseless and casual process of producing and reproducing ›The Queen‹ in their daily practices – in their prayer, their gossip, their fantasies«. Montrose, Louis Adrian: »The Elizabethan Subject and the Spensarian Text«, in: Patricia Parker/David Quint (Hg.): Literary Theory. Renaissance Texts, Baltimore, Maryland: Johns Hopkins University Press 1986, S. 303-340, hier S. 317.
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re der Goten«, Verteidiger der katholischen Kirche und der Blutreinheit, aber auch erster Diener des Staates und oberster Bürokrat.22 Auch dieses SelbstBild, das dem Antragsteller zur Identifikation angeboten wurde, ist offensichtlich komplex, ja es ist eine Überblendung von Bildern, die verschiedenen Dispositiven entstammen.23 Diese Sicht entspricht Paul Smith’ Auffassung von der Genese und Gestalt von Subjektivität. Smith postuliert ein »interplay of differing subject-positions«24, das es notwendig macht, Subjektpositionen miteinander zu »verrechnen« (»legislate among them«), die im Grunde nicht kompatibel sind (im Falle Philipp II. etwa bürokratische Rationalität und eine sich aus dem Gottesgnadentum speisende Obession, Quelle aller Entscheidungen zu sein): »A person is not simply the actor who follows ideological scripts, but is also an agent who reads them in order to insert him/herself into them–or not.«25 So prägt die Interpellation das Selbstbild nicht etwa einer tabula rasa ein; Subjektivität ist immer im Fluß. Interpellation impliziert somit eine Verschmelzung, Überblendung und Verhandlung von Selbst-Bildern, und gerade deren Unvereinbarkeit birgt die Möglichkeit von Selbstbestimmung gegenüber der Selbst-Bestimmung der Ideologie.
3. »M e , myself and I«: C ervantes Eine Hispanisten bestens vertraute Bewerbung für ein Amt in den überseeischen Kolonien kann diese Komplexität der ideologischen Interpellaton bestens illustrieren. Mein Beispiel ist ein gewisser »Miguel de cerbantes sahabedra«.26 22 | Vgl. José Antonio Escuderos Biographie mit dem bezeichnenden Titel Felipe II: El rey en el despacho (Philipp II.: Der König im Büro). Escudero, José Antonio: Felipe II: El rey en el despacho. Madrid: Editorial Complutense 2002. Vgl. auch Bouza Álvarez, Fernando J.: Del escribano a la biblioteca, Madrid: Síntesis 1989, S. 76-86 und Parker, Geoffrey: Felipe II, Madrid: Alianza 1984, S. 44-59. 23 | Ich verwende den Begriff hier im Sinne Michel Foucaults (Dispositive der Macht 119-125) als heterogenes Netzwerk von diskursiven und nicht-diskursiven (Institutionen, administrative Praktiken etc.) Elementen, die einer »Dringlichkeit« entsprechen. Gilles Deleuze charakterisiert das Dispositiv als Zusammenspiel von Diskursen und »Sichtbarkeiten«. Deleuze, Gilles : Foucault, Paris: Les Éditions de Minuit 1986, S. 56-60. 24 | Smith, Paul: Discerning the Subject. Foreword by John Mowitt (Theory and History of Literature 55), Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 1988, S. xxxiv. 25 | Ebd. S. xxxiv-xxxv. 26 | Das Dokument befindet sich im Archivo General de Indias in Sevilla (Signatur Patronato 258, R. 1). Die Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes stellt online eine Transkription bereit (ohne Paginierung).
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Der Autor des Quijote war bekanntlich ein verdienter Veteran im Dienst Seiner Majestät, der seine linke Hand in der Schlacht von Lepanto verlor, einige Jahre Gefangenschaft in Nordafrika erdulden musste und später in untergeordneten Funktionen in der königlichen Verwaltung arbeitete. Er reichte beim Indienrat eine Reihe von Dokumenten ein, die eine »Zertifizierung« (»certificación«) beinhaltete, das heißt, ein Empfehlungsschreiben des Herzogs von Sesa, das seine méritos y servicios beglaubigte, zudem eine auf Zeugenaussagen basierende Bestätigung seiner Verdienste, die sein Vater während seiner Geiselhaft in Algier vorlegt hatte, um finanzielle Unterstützung zu erlangen, und schließlich eine Petition samt Beglaubigung (información y probanza), die Cervantes noch als Gefangener dem Geistlichen Juan Gil anvertraut hatte. In letzterer geht es auch um eine Darstellung der »vida y costumbres, como de otras cosas tocantes a su persona« (»seines Lebenslaufes und seines ›Charakters‹ sowie anderer seine Person betreffende Dinge«). Ein Teil dieser Dokumente is weithin bekannt und in Übersetzungen zugänglich.27 Bemerkenswerterweise berücksichtigen die vorliegenden Editionen einen mit Representación überschriebenen Text nicht, handelt sich bei dieser eine »Repäsentation« um eine Selbstdarstellung Cervantes’, die, wie wir sehen werden, das interessanteste Dokument des Konvoluts ist. Da Cervantes seine Petition nicht wie üblich als benemérito (verdienter Veteran) in den Kolonien abfasste, weicht sie formal vom Standardverfahren ab, doch enthält sie alle Elemente die für eine derartige Bewerbung notwendig waren: einen Lebenslauf, Nachweise in der Form von Zeugenbefragungen und eine Bestätigung des Selbstbildes, das die Dokumente evozieren. Am Rand lesen wir, geschrieben von einem Schreiber oder dem Sekretär des Präsidenten des Indienrats: »Er ist ein verdienter Untertan, der für jegliches Amt geeignet ist« [»Es benemérito para cualquier oficio, y dará buena cuenta«]. In seinem Gesuch versammelte Cervantes Dokumente aus den 70er und 80er Jahren des 16. Jahrhunderts, die in Zusammenhang mit seiner Geiselhaft in Algier standen. Das Herzstück dieses Antrags ist ein Blatt mit dem Titel »Representación de Miguel de Cervantes Saavedra, exponiendo sus méritos y servicios« (»Repräsentation von Miguel de Cervantes, die seine Verdienste und Dienste belegt«), verfasst am 21. Mai 1590. Diese »Repräsentation« betont, dass Cervantes mehr als zwanzig Jahre seines Lebens dem Dienst für seinen Monarchen widmete und in diesem Dienst Schäden am Körper, eine Geiselhaft und den damit zusammenhängend den Verlust des Familienbesitzes erlitten hatte. Zudem hebt das Dokument hervor, dass er in den Jahren nach seiner Rettung als Beamter in Sevilla mit »den Angelegenheiten« der spanischen Ar-
27 | Vgl. Spadaccini, Nicholas and Taléns, Jenaro (Hg.): Autobiography in Early Modern Spain. Hispanic Issues, Minneapolis, MN: The Prisma Institute 1988.
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mada befasst war. Der Lebenslauf gipfelt in dem demütigen Versprechen, im Dienst des Imperiums leben und sterben zu wollen. Pide y suplica humildemente, cuanto puede a V.M., sea servido de hacerle merced de un oficio en las Indias de los tres o cuatro que al presente están vacos, que es el uno la Contaduría del nuevo Reino de Granada, o la Gobernación de la Provincia de Soconusco en Guatemala, o Contador de las Galeras de Cartagena, o Corregidor de la Ciudad de la Paz; que con cualquiera de estos oficios que V.M. le haga merced, la recibirá, porque es hombre hábil y suficiente y benemérito, para que V.M. le haga merced; porque su deseo es acontinar siempre en el servicio de V.M., y acabar su vida como lo han hecho sus antepasados, que en ello recibirá muy gran bien y merced. [Er bittet und ersucht Seine Majestät so untertänig wie möglich, dass es Ihr genehm sein möge, ihm die Gnade eines Amtes in den Kolonien zu erweisen, eines von den drei oder vier, die vakant sind, nämlich die Zahlmeisterei des Königreichs Neugranada, oder das Amt des Governeurs der Provinz von Soconusco in Guatemala oder des Zahlmeisters der Galeeren von Cartagena oder des königlichen Repräsentanten in der Stadt La Paz. Er wird jegliches dieser Ämter, das ihm Seine Majestät zu verleihen beliebt, akzeptieren, weil er ein würdiger, geschickter und verdienter Mann ist und weil es sein Begehren ist, für immer im Dienst Seiner Majestät zu verbleiben und sein Leben so zu beenden, wie es auch seine Vorfahren getan haben. Darin sähe er einen überaus großen Gunsterweis.]
Die Repräsentation ist eine Synthese einer Vielzahl von Dokumenten, die die zugleich stolze und servile Behauptung belegen sollen, dass der Antragsteller der perfekte Untertan des Souveräns ist. Von Unregelmäßigkeiten in seiner Tätigkeit als Buchhalter in den » negocios de la Armada« (»Angelegenheiten der Armada«), die ihn zwei Jahre nach der Abfassung der Representación für kurze Zeit ins Gefängnis bringen sollten, ist natürlich keine Rede. Seine Selbstdarstellung evoziert das rührend-peinliche Bild eines Veteranen und Bürokraten, dessen Lebeninhalt es gewesen war, seinem Königs und dem Imperium zu dienen. In diesem Selbstbild findet sich keine Spur des Genies des Verfassers des Don Quijote.28 In anderen Worten: Das Leben und die Persönlichkeit Cervantes’, wie es sein curriculum vitae repräsentiert, haben nichts Außergewöhnliches oder Individuelles an sich. Die Abwesenheit von Individualität in unserem heutigen Verständnis ist kein Zufall, sondern vielmehr ein wesentliches Merkmal des Rekrutierungsprozesses auf der Basis von Selbstentwürfen, die im interpella28 | Bezüglich der Bedeutung von Subjektivität im Don Quijote vgl. Mariscal, der eine »deindividuation« des Protagonisten im zweiten Teil des Romans sieht. Vgl. Mariscal, George: Contradictory Subjects: Quevedo, Cervantes, and Seventeenth-Century Spanish Culture, Ithaca, New York: Cornell University Press 1991, S. 153-199.
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tiven Prozeß durch die Autoritäten sanktionierte Identitäten antizipieren oder spiegeln. Es liegt in der Logik des Bewerbungsverfahrens, das Bild eines primus inter pares zu produzieren und zu internalisieren, wobei die pares allesamt Spiegelbilder eines »ideologischen Vorbilds« sind. Insbesondere im frühneuzeilichen Spanien war, wie George Mariscal betont, die Idee eines »radical selfdetermining subject … most often figured by singularity (singularidad) associated with heresy«29 Cervantes’ Selbstbild als Autor des Don Quijote, des Helden der Singularität, war nicht mit den ideologischen Vorgaben der Interpellation von Kolonialbeamten zu vereinbaren. Obwohl er die Autoritäten mit seiner Darstellung überzeugt hatte, wurde Cervantes’ Gesuch letztlich nicht erhört, weil er den ihm zustehenden Anteil an den königlichen mercedes offensichtlich in Zusammenhang mit seiner Befreiung aus der nordafrikanischen Gefangenschaft bereits »aufgebraucht« hatte.30 Es muss Spekulation bleiben, ob er den Don Quijote geschrieben hätte, wäre die Interpellation als Zahlmeister der Galeeren von Cartagena erfolgreich verlaufen, und, falls ja, ob der ingeniöse Ritter des Zahlmeisters eine weniger traurige Gestalt gewesen wäre. Es ist jedoch festzuhalten, dass das Konzept der Interpellation nicht bloß eine »Vorspiegelung« eines Lebensentwurfes und einer Persönlichkeit, sondern tatsächlich eine identifikatorische Spiegelung von Ich-Bildern impliziert. Der Lebenslauf mag in der Absicht geschrieben worden sein, das »wahre Ich« zu verhüllen, aber er der Versuch, es den Autoritäten »recht zu machen«, setzt eine Identifikation mit deren Erwartungen voraus, die das Ich diesen Vorstellungen angleichen. Andererseits ist es erforderlich, die Fallstricke von Althussers Determinismus zu vermeiden. Es ist offensichtlich, dass sich Cervantes als Bewerber für ein öffentliches Amt in den Kolonien mit anderen ideologischen Selbst-Bildern identifizierte als Cervantes als Autor des Don Quijote. Als Subjekt ist er somit das Produkt von widerständigen, gar inkompatiblen Ideologien, dessen was Smith ein »interplay of differing subject-positions«31 nennt. Das Subjekt ist somit das Resultat eines Akts des self-fashioning, das oft eine widersprüchliche Überblendung von interpellativ vermittelten Subjektpositionen bedeutet. Widerstand (»resistance«), so Smith, »is best understood as a specific twist in the
29 | Ebd. S. 91f. 30 | Dem positiven Vermerk »Busque por acá en que se le haga merced« [»Man möge hier [sc. in Spanien] suchen, um ihm eine Gunst zu erweisen«] folgt ein weiterer Zusatz: »ojo a la glosa que va abaxo de la que se le a dado por merced« [»Man beachte den Vermerk, der weiter unten kommt, bezüglich dem, was er bereits als Gnade erhalten hat«]; Vgl. N. Spadaccini/J. Taléns: Autobiography in Early Modern Spain, S. 251. 31 | Smith, Paul: Discerning the Subject, S. xxxiv.
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dialectic between individuation and ideological interpellation«32 . Diese Widerständigkeit begründet das, was Smith den Akteur (»agent«) nennt. The term ›agent‹ […] mark[s] the idea of a form of subjectivity where, by virtue of the contradictions and disturbances in and among subject-positions, the possibility (indeed, the actuality) of resistance to ideological pressure is allowed for (even though that resistance too must be produced in an ideological context). 33
Das komplexe und widersprüchliche Subjekt Miguel de Cervantes kann so als Produkt von multiplen Interpellationen verstanden werden, die er im Laufe seines Leben erlitt oder erfahren durfte: durch eine humanistische Erziehung, den Militärdienst und nicht zuletzt als Leser und Autor von Literatur, die ihn in der Tat zu einem »singulären« Menschen machten.
4. S chluss Der Lebenslauf als Selbstdarstellung entsteht in einer Zeit, da neue Formen von Subjektivität beobachtbar werden.34 Während das Subjekt im Mittelalter wesentlich durch die Genealogie, den vorgebenen Ort in einer Hierachie, einem Stand, einer weitgehend unveränderlichen Gemeinschaft und nicht zuletzt einem stabilen georgraphischen Ort weitgehend determiniert wird, ist das neue Subjekt nomadisch.35 Es ist mobil in physischer und sozialer Hinsicht; neue Technologien und Medien, in der Frühneuzeit der Buchdruck und heute die televisiven Medien, verleihen ihm virtuelle Mobilität, indem sie es dem Ich ermöglichen, sein Image in Öffentlichkeiten zu entäußeren, die noch über kein vorgefasstes auf persönlicher Bekanntschaft oder verlässliche Auskunft basierendes Bild des Individuums verfügen. Die neue Freiheit, die zugleich ein Zwang zur Selbsterfindung ist, bedeutet allerdings nicht, dass das Subjekt, wie es Pico della Mirandola’s in seiner berümten Oratio de hominis dignitate ausdrückt, als »quasi arbitrarius honora-
32 | Ebd. S. 25. 33 | Ebd. S. xxxv. 34 | Vgl. Folger, Robert: Escape from the Prison of Love: Caloric Identities and Writing Subjects in Fifteenth-Century Spain (North Carolina Studies in the Romance Languages and Literatures 292), Chapel Hill, North Carolian: University of North Carolina Press 2009. 35 | Die emblematische Figur dieser neuen Form von Subjektivität ist der pícaro, der »Landstörzer« (Herumtreiber, Vagant); vgl. Folger, Robert: Picaresque and Bureaucracy: Lazarillo de Tormes, Newark, Delaware: Juan de la Cuesta 2009.
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riusque plastes et fictor«36 seiner selbst auftreten könnte. Die Fiktion des Ich und seine öffentliche Repräsentation ist immer schon durch die ideologischen »Vorstellungen« der jeweiligen Kontexte oder Dispositive bestimmt, die den Lebenslauf einfordern. Das ist es, was »Interpellation« meint. Das curriculum vitae als eine Form des »entraînement de soi-même par l’écriture«37, wie Foucault es nennt, hat wenig Beachtung gefunden, was erstaunlich ist, wenn man die überbordende Ratgeberliteratur und Medienpäsenz des Themas Bewerbung als Indikatoren dafür ansieht, dass es sich um ein Symptom einer stetig wachsenden Bedeutung des Lebenslauf und der ökonomisch orientierten Selbstpräsentation handelt. Diesen Ratgebern ist zu entnehmen, dass auch im heutigen Lebenslauf − ähnlich den frühneuzeitlichen gesetzlichen Standardisierungen und Regulierungen − letztlich wenig Raum für Individualität zugestanden wird.38 Die Proliferation und die öffentliche Natur des Lebenslauf lassen sich nirgends deutlicher absehen als an Internetdiensten, die anbieten, ein »Profil zu speichern« und einen Lebenslauf zu »aktivieren«. Auch im universitären Bereich wurde der öffentlich gemachte Lebenslauf schon zu früh als Chance zur self-promotion begriffen und ist mittlerweile zum Standard geworden. Die Allgegenwart von öffentlich zugänglichen Selbstentwürfen in der Form von Lebensläufen lässt sich nicht allein mit der pragmatischen Begründungen erklären, dass der öffentliche Lebenslauf einer »proaktiven« Rekrutierung dienlich sein kann oder einer interessierten Öffentlichkeit praktische Informationen bietet. Wie das früneuzeitliche Beispiel zeigt, impliziert das Verfassen eines Lebenslaufs ein »assujettissement au Sujet«39 und damit eine libidinös besetzte Identifikation. Die Veröffentlichung des Lebenslaufs befriedigt somit auch das narzisstische Begehren einer Bestätigung der gewählten oder widerfahrenen Lebensentwürfe. Diese Bestätigung muss sich nicht unbedingt »real« manifiestieren: Auch eine imaginierte Affirmierung des Lebenslaufs durch nur vorgestellte wohlwollende Leser kann das veröffentliche Ich-Bild für das Individuum ratifizieren. 36 | Pico della Mirandola. Oratio de dignitate hominis. Hg. v. Giovan Francesco Pico, Bologna: Benedetto Faelli 1496, §5,22, fol. 132r. Transcription, notes, trans. and ed. facs Brown University and Unversità di Bologna, in: www.brown.edu/Departments/ Italian_Studies/pico/ (23.6.2008). 37 | Foucault, Michel: »L’écriture de soi«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.): Dits et écrits. Vol. 4. Paris: Gallimard 1994, S. 415-30, hier S. 425. 38 | Das Persönliche erscheint stets lediglich als Funktion der Relevanz: »It is important not to bog down your CV with irrelevant personal details at the beginning because it will take the employer’s eye off the important facts you want to highlight« A. Fagan: Brilliant Job Hunting, S. 45. 39 | Althusser, Louis: Idéologie et appareils idéologique d’état, S. 310.
Zum Ursprung des Lebenslaufs: Selbst-Inszenierungen
Heute werden »Biographien«, lebensweltliche Erfahrungen, in einem nie dagewesenen Ausmaß von Lebensläufen bestimmt: Sie eröffnen Karrieren – oder tun dies nicht. Wichtiger aber noch ist, dass die Beschäftigung mit dem eigenen curriculum vitae ein wesentlicher Aspekt der Subjektkonstituierung ist, weil das Schreiben eines Lebenslaufes eine Vergegenwärtigung von gesellschaftlich akzeptierten Lebensentwürfen notwendig macht und eine Identifikation mit diesen Entwürfen einfordert. Es ist dies ein kontinuierlicher Interpellationsprozess. Auf einer einschlägigen Seite bei about.com wird nicht nur angeraten, das curriculum in einem Prozess des »tailoring« den expliziten oder imaginierten Vorstellungen der potentiellen Arbeitgeber anzupassen,40 sondern bereits in jungen Jahren einen Lebenslauf anzulegen, der gewissenhaft zu aktualisieren ist. Der Lebenslauf kann so zum Drehbuch des eigenen Lebens werden. Es handelt sich letzlich um eine Art ethopoetische Praxis,41 eine Arbeit am Ich und seinem Image als work in progress. Nicht allein der Lebenslauf und der Entwurf eines öffentlichen Ich-Bildes kann oder muss als ein interpellativer Prozess beschrieben werden − heute wie vor einem halben Jahrtausend. Jedes Going Public bedeutet eine Autorisierung eines begehrten Ich-Image und zugleich eine »Unterwerfung«, die eine Bestätigung des Entwurfes durch eine Autorität erfordert: Das Bild des perfekten Kolonialbeamten wird durch einen Federstrich Philips II. affimiert, der akademische Lebenslauf des exemplarischen Professors durch eine Berufungskommission, der Selbstentwurf auf Facebook durch die community und die Zahl der bürokratisch registrierten »Freunde«.
40 | Vgl. Kuther, Sarah: »Prepare Your Curriculum Vitae«, in: About.com http://grad school.about.com/cs/curriculumvita/a/vitae.htm (23.4.2011). 41 | Mit Ethopoesis meint Foucault eine »transformation de la verité en êthos«. M. Foucault: L’écriture de soi, S. 418.
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1. W er sind und waren ikonophobe A utoren ? »Wenn der Mensch in seinen Werken nicht zu erkennen ist, dann ist entweder der Mensch nichts wert oder seine Werke sind nichts wert.« B. Traven
Lange Zeit waren Autoren bild- und signaturlose Wesen. Auf beides kam es nicht an, wenn es um Kunst ging. Bekanntlich hat sich spätestens seit der Renaissance diese Situation radikal verändert. Die Genese moderner Individualität und Subjektivität ist eng mit dieser besonderen Form des visual turn verknüpft. Heute scheint es, als könne das Bild des Autors nicht vom Werk getrennt werden. Autorschaft ist nicht nur Werkherrschaft1, sondern auch eine mehr oder weniger filigran geplante Bildstrategie, die Öffentlichkeitseffekte zu kalkulieren sucht.2 Es findet Verwendung als visueller Paratext im Sinne Genettes, aber auch in zahlreichen weitgefächerten Verwertungszusammenhängen, die von Verlagen über Homepages bis hin zu regelrechten Merchandisingprodukten wie T-Shirts, Postkarten, Kalendern oder opulenten Bildbänden reichen. Nur wenige Schriftsteller und Künstler der Gegenwart haben sich mehr oder weniger erfolgreich aus dieser Text-Bild-Verwertungskette ausgeklinkt und Strategien des Verschwindens entwickelt, die, da ja ihre Werke gleichwohl möglichst sichtbar sein sollen, mitunter zu höchst eigen1 | Wie Heinrich Bosse überzeugend nachweist: Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn: Ferdinand Schöningh 1981. 2 | Das hat jüngst Matthias Bickenbach umfassend untersucht: Bickenbach, Matthias: Das Autorenfoto in der Medienevolution. Anachronie einer Norm, Padeborn: Wilhelm Fink Verlag 2010.
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tümlichen Inszenierungsstrategien, ja auch Marketingstrategien führen.3 Die bekanntesten Beispiele sind wohl die Schriftsteller Patrick Süskind, Thomas Pynchon, Jerome David Salinger, B. Traven, Maurice Blanchot, der Sänger und Autor Peter Licht und nicht zuletzt die Indipendent-Rockgruppe The Residents und die Formation Daft Punk. Bei den drei letztgenannten führte der Verzicht auf Portraitaufnahmen keineswegs dazu, dass sie auf Konzerte verzichtet und etwa nur Studioalben veröffentlicht hätten. The Residents, die bereits Ende der 1960er Jahre gegründet wurden, touren sogar seit Anfang der 1970er Jahre bis zum heutigen Tag vor allem durch die Vereinigten Staaten und Europa, und Peter Licht hatte als Autor einen Auftritt beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb in Klagenfurt, wo er den Zuschauern zugewandt den Kameras den Rücken zudrehte (und mit dem 3sat- und dem Publikumspreis gleich doppelt ausgezeichnet wurde) und trat sogar in der Harald Schmidt Show auf, um dort, wiederum für das Publikum im Studio sichtbar, aber von den Kameras nur als kopfloser Torso oder aus der Entfernung eingefangen, sein »Lied vom Verschwinden des Kapitalismus« zu singen. Die weiteren angeführten Schriftsteller hingegen haben sich weitgehend öffentlichen Auftritten entzogen: keine Dichterlesungen, keine Portraits auf der Umschlaginnenseite ihrer Bücher und auch keine Photographien in Verlagsvorschauen sind zu verzeichnen. Und wenn, wie bei Pynchon oder Salinger, dann doch vereinzelt Bilder auftauchen, führt das nicht selten zu einem Rauschen im Blätterwald und ihrem raschen Zirkulieren in diversen Medienkontexten. Pynchon hat es bekanntlich sogar bis in drei Folgen der Simpsons gebracht4 und war Vorbild von Don Delillos Roman Mao II, bei dem die Frage der Photographie zentral ist. Ähnliches ist auch von Salinger zu berichten, dessen Vita gleich von mehreren Filmen und Büchern aufgenommen wird, so etwa Forrester – gefunden mit Sean Connery in der Hauptrolle und Feld der Träume mit Kevin Costner. In Fletchers Visionen mit Mel Gibson und Julia Roberts schließlich wird der Protagonist nicht nur mit dem Nebeneffekt von massiven Identitätsstörungen in einen Killer umprogrammiert, sondern kauft obsessiv Salingers Catcher in the Rye, wo auch immer er es finden kann – allerdings ohne es zu lesen. Das ist natürlich auch eine Anspielung auf den Lennon-Attentäter Mark David Chapman, der angeblich diesem Buch die Aufforderung entnommen hatte, eine berühmte Persönlichkeit zu töten. Um Tod und Verschwinden und ein regelrechtes, allerdings nicht medikamentös wie in Flechters Visionen induziertes Umprogrammieren von Identitäten wird es auch bei den folgenden Strategien des Verschwindens gehen. 3 | Vgl. dazu den wunderbaren Roman Bartleby & Co von Enrique Vila-Matas. VilaMatas, Enrique: Bartleby & Co, Zürich: Nagel und Kimche 2001. 4 | Und zwar: Diatribe of a Mad Housewife, All’s Fair in Oven War, Moe’N’a Lisa. Auch zu sehen auf Youtube unter: www.youtube.com/watch?v=jR0588DtHJA vom 5.1.2012.
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Betrachtet man diese wenigen Beispiele, so kann man erst einmal sehr unterschiedliche Varianten ikonophober Autorschaft ausmachen. Ich möchte vier verschiedene Formen unterscheiden und genauer in den Blick nehmen. Wenn man alle Genannten in eine Reihe bringen sollte, so markiert B. Traven, von dem man nahezu nichts Gesichertes weiß, das eine und Peter Licht, mit dem man Interviews führen oder den man in Konzerten oder bei Lesungen face to face betrachten kann, das andere Extrem. Doch diese beiden Extreme berühren sich. Beide stehen für eine kapitalismuskritisch gewendete Ikonophobie [Abb. 1]. Abbildung 1: Lesung von Peter Licht in Klagenfurt 2007. Filmstill aus dem Video: http://www.youtube.com/watch?v=XIltSDCnyGk
Die zweite Gruppe ist jene einer inszenierten Verrätselung, für die in je unterschiedlicher Weise Pynchon, Salinger und auch Süskind stehen. Von allen haben wir verlässliche biographische Informationen, mitunter sogar Adressen und Telefonnummern, nur eben so gut wie keine Portraitphotographien. Die dritte Position nimmt Maurice Blanchot ein, bei dem die auktoriale Ikonophobie eng mit seinem Werk verknüpft ist, das wie kein zweites den Tod und das Verschwinden zum Mittelpunkt des Schreibens macht. Die vierte schließlich steht für ein programmatisches Spiel mit Identitäten, das für eine künstlerische Haltung bestimmend ist. Hier geht es um ein regelrechtes ästhetisches Programm, das auch die musikalische Produktion als Teil eines inszenierten Gesamtkunstwerks in Bild, Text und Musik umfasst.
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2. B ildlosigkeit im und am E nde des K apitalismus : B. Tr aven und P e ter L icht »Ich habe in solchen Fällen auch keine Angst, dass ein falsches Bild von mir gezeichnet wird. Ich möchte einfach nicht auf einer Obduktionstischstahlplatte liegen und jemand macht sich ein Bild davon.« P eter L icht5
B. Traven ist bis heute – und das gilt in etwas abgeschwächter Form für alle anderen auch – mythenumrankt. [Abb. 6] Auch wenn gleich mehrere Biographien oder Ergebnisse teils jahrelanger bio graphischer Recherchen erschienen sind,6 ist bis heute umstritten, um wen es sich überhaupt handelte. Die Hypothesen reichen von der plausibelsten, dass sich hinter dem Pseudonym der linksradikale Journalist und Schauspieler Ret Marut verbirgt, bis hin zu den unplausibelsten, aber fraglos charmanten, dass Traven ein unehelicher Sohn Wilhelm II. oder gar Jack London sei, der seinen ebenfalls umstrittenen Selbstmord nur vorgetäuscht habe, um dann unter neuem Pseudonym weiterzuschreiben. B. Traven jedenfalls schickte die Manuskripte seiner Bücher, die immerhin über einen langen Zeitraum zwischen 1925 bis 1960 erschienen, per Post an die Verlage mit einer Postfachadresse in Mexico und ließ mittels Agenten die Bedingungen aushandeln. Das galt auch für die Verfilmungen, bei denen der von ihm Ausgesandte, der, wie vermutet wird, niemand anders als er selbst war, nur eben mit einer weiteren Deckidentität ausgestattet, manchmal sogar bei den Dreharbeiten zugegen war. Als die Verfilmung von Der Schatz der Sierra Madre 1948 gleich mehrere Oscars erhielt, wurde auch das Buch in den Vereinigten Staaten zu einem Bestseller – einzig sein Autor blieb unsichtbar. Ihn gibt es nur als Pseudonym, das wiederum mitten in einer Kette weiterer selbstgewählter Pseudonyme steht, und eben als mehr oder weniger gesichertes und belegtes Gerücht. 5 | »Ich bin froh um alles, was ich nicht weiß!«, Peter Licht im Interview mit Martina Kellner, in: laut.de: www.laut.de/Peter-Licht vom 5.1.2012. 6 | Vgl. u.a. Recknagel, Rolf: B. Traven. Beiträge zur Biographie, Köln: Röderberg Verlag 1991; Wyatt, Will: B. Traven. Nachforschungen über einen Unsichtbaren, Hamburg: Papyrus Verlag 1982; Guthke, Karl S.: B. Traven. Biografie eines Rätsels, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 1987; Ders.: Das Geheimnis um B. Traven entdeckt – und rätselvoller denn je, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 1984; Heidemann, Gerd: Postlagernd Tampico. Die abenteuerliche Suche nach B. Traven, München: Blanvalet 1977; Hetmann, Frederik: Der Mann, der sich verbarg. Nachforschungen über B. Traven, Stuttgart: Ernst Klett 1983; Schürer, Ernst/Jenkins, Philip (Hg.): B. Traven: Life and Work, University Park/ London: Pennsylvania State University Press 1986.
Strategien des Verschwindens. Ikonophobe Autorschaf t Abbildung 2-5: Filmstills aus dem Youtube-Video zu Peter Lichts »Lied vom Ende des Kapitalismus«: http://www.youtube.com/watch?v=yVb8yNeyBNE
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In den Büchern stand als Copyrightvermerk: »B. Traven, Tamaulipas, Mexiko«. Dass dieses Verschwinden des Autors für den Verkauf der Bücher durchaus förderlich war, steht auf einem anderen Blatt. Ob es jedoch eine bewusste Marketingstrategie Travens war, um den Verkauf der Bücher zu befördern, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Auch hier bleiben uns – wie bei seinem Leben – nur Vermutungen. Abbildung 6: Screenshot von B. Travens Homepage, online: http://www.btraven.com/
Beobachtbar ist immerhin ein thematischer Konnex zwischen inhaltlichen Motiven seiner Werke und seinem eigenen Verschwinden. Travens heute kaum noch bekannten Bücher sind antikapitalistische Abenteuerromane, in denen Ausbeutung und Rassismus angeprangert werden, die sich aber trotzdem wie Unterhaltungsliteratur lesen lassen: ein besonderes Genre, das konsequent aus der Perspektive der Unterdrückten erzählt, dabei auf ein dezidiertes politisches Programm zwar verzichtet, aber dennoch Repression scharf kritisiert. Travens zweiter Roman Das Totenschiff, der nicht zuletzt deshalb auch autobiographisch gedeutet wurde, nimmt so etwa seinen Ausgang von dem Motiv der verschwundenen Identität: Ein Seemann, dem in der Erzählung nur der Familienname Gales geblieben ist,7 verliert seinen Pass und darf daher nur noch auf sogenannten Totenschiffen anheuern, bei denen die Identität keine Rolle mehr spielt, mit dieser aber auch jeder Schutz und jedwede Anerkennung abhanden gekommen ist. Die Matrosen sind »lebende Tote«, Menschenmaterial einer radikalkapitalistischen Profitmaximierung. Das Schiff, auf dem er zuletzt schon nicht mehr anheuert, sondern gleich schanghait wird, soll, weil für andere Nutzung längst untauglich, mitsamt Besatzung versenkt werden, um den vertraglich vereinbarten Versicherungsbetrag einzuheimsen. Gales überlebt und erzählt jenseits seines eigenen Grabes die Geschichte des Verschwindens des Individuums durch die kapitalistische Ausbeutung. Das ist ein Topos 7 | Dieser erscheint auch in anderen Texten – und das mitunter mit Vornamen.
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der linksradikalen Literatur der Zwischenkriegszeit und findet sich in anderer Form u.a. auch bei einem anderen seinerzeit überaus erfolgreichen Autor, Upton Sinclair, dessen Bücher im Malik Verlag mit Umschlägen von John Heartfield erschienen und der wie Traven für die Büchergilde Gutenberg zum Markenzeichen des Verlagsprogramms wurde. Doch während Upton Sinclair regelrechte proletarische Bildungsromane verfasste, an deren Ende als Ziel der proletarischen Lebensreise gern auch einmal die Parteimitgliedschaft und das Singen der Internationale steht,8 ist Traven hier weitaus zurückhaltender: seine Helden sind solche der partiellen Auflehnung oder partikularen Revolte. Sie widersetzen sich in ihrer Mikrogeschichte, verstehen sich aber nicht als Teil der globalen Einheitsfront. Die Homepage der Traven Gesellschaft deutet diese motivisch-narrative Ausrichtung seiner Texte in Kombination mit seinem Spiel mit Identitäten in Anknüpfung einer Analyse Alexander Kluges als antikapitalistische Strategie: »Vieles ist noch dunkel an den so eingängigen, äußerlich leicht verständlichen Geschichten dieses beliebten Autors. Das zentrale Skandalon, um das er kreist, wird solange unaufgelöst und stachelnd bleiben, wie die Menschheit fortfährt, ihre elementarsten wie ihre vertracktesten Befriedigungen nur als Beiprodukt der Selbstvermehrung der Rendite abzugewinnen. Die Zirkulation von Informationen wird dieses Dunkel nicht wesentlich aufhellen können. Wenn die Travenleser/innen dazu übergehen, das, was sie schockiert, frappiert, zu einer ganz neuen Sicht der Welt gebracht hat, miteinander auszutauschen, könnte es schon entscheidend lichter werden. Ob die Quelle der Finsternis je verstopft wird? ›Wer noch lebt, sage nicht niemals!‹« (Gorki/Brecht auf ihrem Weg zu B. Traven) 9
Die Anonymität des Autors wird als metonymisches Verhältnis zwischen Autor, Gegenstand und Publikum beschrieben. B. Traven steht pars pro toto für die namenlosen Unterdrückten, von denen und für die er schreibt, mit seinem Namen und seinem Bild ein. Die kapitalistische Ausbeutung führe seitens der Proletarier, von denen er wie auch der bereits erwähnte Upton Sinclair spricht, zum Verlust des Namens und des öffentlichen Bildes. Sie werden zu einer vielfach beschriebenen namenlosen Masse, ohne Individualität, ohne eigene Geschichte. Die Aufgabe des Namens und des Bildes sei ein Akt des antikapitalistischen Widerstands. Peter Licht teilt durchaus diesen antikapitalistischen Pathos, nicht aber ohne ihm eine ironische Wendung zu geben. [Abb. 3] Wenn er seine »Lieder vom Ende des Kapitalismus« höchst eingängig in Ohrwurmmanier singt, so 8 | So etwa bei dem einschlägigen Roman Der Sumpf. Sinclair, Upton: Der Sumpf, Berlin: Malik Verlag 1928. 9 | Internationale B. Traven Gesellschaft, online: www.btraven.com/deutsch/gesell schaft.html vom 5.1.2012.
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stehen diese in einer Reihe mit dem »Lied gegen die Schwerkraft«10 und den diversen poetischen Gedankenexperimenten, bei denen er sich als letzter Mensch imaginiert. Widerstand ist zwecklos, klingt aber gut, ist letztlich die Botschaft dieser Texte. Und wenn er Lepenies’ Titel »Melancholie und Gesellschaft« als Titel seiner CD aufnimmt, so bleibt er seiner Linie treu: Widerstand ist eine beiläufige Figur, die das Ende besingt und den Horizont postapokalyptisch wie postkapitalistisch verkleidet. Kapitalismus ist eine Art gesellschaftlicher Schwerkraft, deren vermeintliche Nichtexistenz oder passagere Existenz man zwar besingen kann, die dann aber ihr unübersehbares Gewicht in dem Moment wiedergewinnt, wenn das Lied erscheint und gekauft werden kann und soll. »Es ist eine ganz offene Kapitalismuskritik«, gibt Peter Licht zu Protokoll, »Aber ein Wort wie Kapitalismus oder den Kapitalismus zu kritisieren, ist, finde ich, wie das Lied gegen die Schwerkraft. Man kann sagen: ›Ich finde, die Schwerkraft ist überbewertet.‹ Doch das geht nicht. Wo sollst du da ansetzten? Wo soll der archimedische Punkt da sein? Das gibt es nicht. Das ist einfach ein System. Jeder ist drin.«11 Wir haben es also mit einem systemischen Phänomen zu tun, dessen subversives Potential nicht allzu hoch einzuschätzen ist. Peter Licht setzt sich daher auch dezidiert von der Popliteratur und Kultur ab, die aber ohnehin längst die Rebellion als auch ökonomisch nutzbaren kulturellen Mehrwert begriffen hatte: »Pop ist kein Ehrentitel mehr. Es ist vergangen. Wir müssen davon weg. Der Grundgedanke von Pop, das Subversive, ein Begriff wie ›Independent‹ als Anti-Establishment: Das ist vorbei. Kunst ist auch vorbei.«12 »Vorbei« ist eines der Lieblingsworte von Peter Licht. So etwa in dem Sommerhit des letzten Jahres, dessen Titel, wie Harald Schmidt süffisant kommentiert, auch der der Platte und des Buchs zur Platte ist. Hier nun als Text und Bild in Gestalt eines Musikvideos: Während Peter Licht alias Meinrad Jungblut eingängig »vorbei, vorbei, vorbei« trällert, laufen Bilder deutscher Spitzenmanager vorbei – mit eingeblendeten Bonus- und Gehaltszahlungen. Am Ende steht, wie könnte es auch anders sein, Josef Ackermann mit einer längeren Einstellung – um dann auch schließlich ohne nackte Zahlen den Betrachter anzulächeln. Das Video gibt es auch in einer Chemnitzer Variante, die mit »Proletarier aller Länder vereinigt euch!« beginnt und verwackelten Aufnahmen eines steinernen Marx-Denkmals schließt. Und es findet sich ebenfalls auf Youtube, nun vorgestellt als »Mann des Sommers«, als Livepräsentation in
10 | Im Netz unter www.songtexte.com/songtext/Peter Licht/lied-gegen-die-schwer kraft-2bda2cc6.html vom 5.1.2012. 11 | »Ich bin froh um alles, was ich nicht weiß!«, Peter Licht im Interview. 12 | »Pop ist aus«, Peter Licht im Interview mit Maurice Summa, in: jungle world, online: www.jungle-world.com/artikel/2008/36/22566.html vom 5.1.2012.
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der Harald Schmidt Show,13 als Schülervideo14 und schließlich als Interpretation von Klara Karlson, die mit fast 400 Videos im Netz vertreten ist.15 Angesichts einer derart breitgefächerten Medienpräsenz liegt es nahe, die Frage zu stellen, die dann auch Martina Kellner in einem Interview explizit formuliert: »Versteckspiel hin, Namens-Wirrwarr her – handelt es sich hierbei um ein vorab feststehendes, geplantes Marketing-Konzept? Peter Licht: Klar kann man das als Konzept bezeichnen. Aber im Prinzip ist das ganze Leben ein Konzept. Und dann kann man mein Verhalten auch als Marketing-Konzept sehen. Du kannst ja alles als Marketing-Konzept sehen. Du kannst beispielsweise Jesus Christus als ein Brand nehmen – die Marke Jesus und das Kreuz als Icon.«16
Nun findet sich allerdings auch bei Peter Licht ein metonymisches Verhältnis zwischen Ikonophobie und Publikum, das die Brücke zwischen Jesus und B. Traven schlägt: Stellvertretend für die Masse bestimmt sich Peter Licht als ein »Mann ohne Eigenschaften« und sagt von sich in der dritten Person: »Wenn er spricht, spricht er in Slogans und berührt damit kollektive Felder. Unser kollektives Unterbewusstsein. Er spricht aus, was wir kollektiv denken.«17 Er versteht sich, nun in rezeptionsästhetischer Diktion, als »Leerstelle«, als austauschbare und vom Rezipienten zu besetzende Figur: Wir sind Peter Licht.18 Und er assoziiert in diversen Gesprächen Individualität mit einem Ameisenhaufen und erinnert den theorieversierten Popmusikhörer an das RhizomTheorem von Deleuze und Guattari aus den 1960er und 1970er Jahren, das nun in das Metaphernfeld der Fauna übertragen wird:19
13 | Harald Schmidt Show vom 18.5.2006, online: www.youtube.com/watch?v= f YEcMuRhYas vom 5.1.2012. 14 | Schülervideo, online: www.youtube.com/watch?v=UBVI-c0BsUE vom 5.1.2012. 15 | Video von Karla Karlson, online: www.youtube.com/watch?v=hvChhkRHc8g vom 5.1.2012. 16 | »Ich bin froh um alles, was ich nicht weiß!«, Peter Licht im Interview. 17 | »Es könnte sich alles ändern«. Peter Licht im Interview mit Max Dax, in: taz.de vom 20.5.2006, online: www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2006/05/20/a0149 vom 5.1.2012. 18 | Ebd. 19 | Zum Ameisenhaufentheorem vgl. auch: »Wie subversiv kann Pop sein?«, Peter Licht im Interview mit Frank Schäfer, in: Zeit online: www.zeit.de/online/2008/36/peter-lichtinterview?page=2 vom 5.1.2012; sowie der instruktive Ankündigungstext des »Festivals vom unsichtbaren Menschen«, in: kultur online vom 1.3.2009: www.kultur-online.net/?q =node/6538 vom 5.1.2012.
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Diese Unterscheidung ist, das sei etwas beckmesserisch ergänzt, ohnehin hinfällig, da Peter Licht sich ja als die multimediale wie kulturindustriell inszenierte Überblendung von Individuum und Allgemeinen versteht. Daher nimmt es auch nicht wunder, dass seine Ikonophobie von Anfang an Teil seiner Marketingstrategie war. Anlässlich der Veröffentlichung seiner zweiten CD hatte seine Plattenfirma sich einen besonderen Gimmick ausgedacht und der Scheibe eine Kartoffel beigelegt,21 die dann auszustatten sein, frei nach dem Motto: Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht – oder anthropomorpher bzw. medienspezifischer: »Hemd, Hose, Schuhe, Gesicht – fertig ist der Peter Licht«.22 Später operiert er dann mit sorgfältig inszenierten Photos, die seinen Körper, nicht aber sein Gesicht erkennen lassen. In einem Artikel der Zeitschrift findet sich sogar eine regelrechte Bildstrecke, die auf vorgefertigtes Material zurückgreift. [Abb. 7-9] In der durchaus raffinierten Inszenierung seiner eigenen Kunstfigur gibt er eine Antwort auf die rhetorische Leitfrage des von ihm organisierten »Festivals vom unsichtbaren Menschen«: »Gibt es einen individuellen Menschen? Oder ist Individualität ein Marketingtool? Der ideale Teilnehmer am Warenkreislauf«.23
20 | »Warum ist es denn hier so dunkel, Herr Licht?« Peter Licht im Gespräch mit Oliver Jungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.9.2008: www.faz.net/s/Rub79A33397 BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc~E276B98324EF24945B8382794E1B70E92~ATpl ~Ecommon~Scontent.html vom 5.1.2012. 21 | Dazu ein späterer Kommentar: »Ich meide eben bestimmte Verfahrensgänge, die so üblich sind. Aber ich gebe jetzt schon seit Monaten Konzerte, Interviews auch. Und in den Zeiten, in denen ich meine Telefoninterviews gemacht habe, habe ich viel kommuniziert. Das ist einfach eine eigene Form von Kommunikation. Auch die Sache, dass Peter Licht ein Kartoffelmännchen ist, ist schon ein Statement zum Thema Künstler. Was ist ein Künstler? Ein Künstler besteht aus Zuschreibungen und Dingen, die angeheftet werden, aber eigentlich gar nicht zutreffen. Und das ist irgendwie so eine seltsame Blase. Darum geht es.« »Ich bin froh um alles, was ich nicht weiß!«, Peter Licht im Interview. 22 | Becker, Tobias: »Hommage an die Glühbirne«, in: Spiegel online, vom 24.1.2009: www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,603154,00.html vom 5.1.2012. 23 | »Festivals vom unsichtbaren Menschen«. Dazu auch: T. Becker: Hommage an die Glühbirne.
Strategien des Verschwindens. Ikonophobe Autorschaf t Abbildung (von links nach rechts) 7: intro, Nr. 164, September 2008, Cover, S. 2, 24-26 Abbildung 8 und 9: Ebd.
3. V erschwinden als S prachprogramm : M aurice B l anchot »Die Faszination ist wesentlich mit der neutralen, unpersönlichen Anwesenheit verbunden, dem unbestimmten ›Man‹, dem ungeheuren, gesichtslosen ›Jemand‹.« Maurice Blanchot, Die wesentliche Einsamkeit, Berlin 1984, S. 30.
Peter Lichts Anleihen bei der französischen Theorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind unübersehbar. Nun sind allerdings, auch wenn Martin Jay in seinem Buch Downcast Eyes die Ikonophobie der französischen Theorie brandmarkt, die allermeisten ihrer Protagonisten alles andere als medienscheu.24 Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Von Derrida gibt es gleich mehrere Filme,25 Michel Foucault wusste geschickt die Medien einzusetzen und Roland Barthes Inszenierungsstrategien bei der Auswahl seiner Portraitphotos hat Ottmar Ette in seinem Buch klug analysiert.26 Einzig Maurice Blanchot, die graue Eminenz der hier nun im allerweitesten Sinn poststrukturalistischen Theorie, hat sich fast gänzlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen
24 | Jay, Martin: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twntieth-Century French Thought, Berkeley u.a.: University of California Press 1993. 25 | Vgl. Ghost Dance (GB 1984, R: Ken McMullen); D’Ailleurs, Derrida (FR 1999, R: Safaa Fathy); Derrida (USA 2002, R: Kirby Dick und Amy Ziering Kofman). 26 | Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 378-427, bes. S. 388-402.
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und zumindest öffentlich Photographien verweigert.27 1968 war er – zumindest für diejenigen, die ihn erkannten – noch auf den Straßen von Paris zu sehen, danach aber nicht mehr. Die wenigen publizierten Bilder stammen entweder von seinem Jugendfreund Emmanuel Lévinas oder von Theoriepaparazzis.28 Blanchot findet überraschenderweise bei Martin Jay kaum Erwähnung, auch wenn er exemplarisch in Leben und Werk Bildverweigerung oder genauer -festschreibung zum Programm macht. Die Zeitschrift Libération veröffentlichte 1979 in durchaus programmatischer Weise ein »Portrait« von Maurice Blanchot, das aus einem leeren Rahmen bestand, unter dem ein Zitat aus L’Entretien infini zu lesen war: »Un vide d’univers: rien qui fût visible, rien qui fût invisible.«29 Und 1986 verweigerte Blanchot der Zeitschrift Vu ein Portrait für eine Sondernummer, in der 60 Schriftstellerportraits erscheinen sollten, mit der Bemerkung, dass es ihm darauf ankomme »éviter la présence d’un auteur qui prétendrait à une existence propre.«30 Es geht ihm aber nicht um vornehme Zurückhaltung, sondern um ein Prinzip des Schreibens, das Gegenstand nahezu aller seiner Essays, Romane und kritischen Texte ist. In argumentativen Figuren, die fortwährend existentielle Fragen nach dem Tod, der Vernichtung, dem »Desaster«, dem »désœuvrement«, der Einsamkeit, dem Vergessen, der Erfahrung des Schreibens und dem Fragment bewegen und zunehmend zu paradoxen Formulierungen neigen, hat Blanchot Schreiben und Werk konsequent mit der Erfahrung des Verschwindens und der Negativität korreliert, dabei aber einen ethischen Imperativ nie aus den Augen verloren. Ein Buch wie Die Schrift des Desasters etwa versteht sich explizit als Reflexion über die Möglichkeit von Schreiben nach der Shoah. In wenigen Sätzen, das komplexe und zudem zunehmend zum Fragment tendierende Werk Blanchots zu resümieren, wäre ein fruchtloses Unterfangen, das eine massive Komplexitätsreduzierung in Kauf nähme, um jene Art von Evidenz zu erzeugen, die Blanchot seinerseits zu vermeiden suchte.31 Ich 27 | Angeblich existieren zahlreiche private Aufnahmen. So berichtete etwa Philippe Lacoue-Labarthe von Bildern, die ihn zusammen mit Blanchot zeigen. 28 | Lévinas stellte die Aufnahmen für ein Buch zur Verfügung. Allerdings wurde der entsprechende Bildteil bei späteren Auflagen herausgenommen. 29 | Bident, Christophe: Maurice Blanchot: partenaire invisible: essai biographique, Seyssel : Champ Vallon 1998, S. 535. 30 | Ebd. 31 | Daher sei auf die folgenden Darstellungen verwiesen: Poppenberg, Gerhard: Ins Ungebundene. Über Literatur nach Blanchot, Tübingen: Niemeyer 1993, sowie Gelhard, Andreas: Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München: Fink 2005. Den Konnex zwischen Schreiben und Tod stellt auch Felix Philipp Ingold ins Zentrum seines Nachrufs. Ingold, Felix Philipp: »Der Autor im Text. Zum Tod von Maurice Blanchot«, in: NZZ Online vom 25.2.2003: www.nzz.
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nehme daher einen Umweg, um dann einige wenige, meines Erachtens wichtige Punkte zu benennen. Dieser führt uns über die frühen Texte Michel Foucaults wieder zurück zu Blanchot. Dieser steht wiederum metonymisch für eine Neuausrichtung der Theorie, die vielleicht weniger durch Textolatrie und Ikonophobie gekennzeichnet ist, als durch den Verzicht auf klassische Orientierungsmarken der Theorie, die dadurch das gesamte theoretische Feld neu zu organisieren sucht. Die vehement wie breit geführte Diskussion über das Verschwinden des Autors gehört wohl zu den überflüssigsten literaturwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrzehnte, auch wenn sie zu zahlreichen Publikationen geführt hat. Die Frontstellung beruht auf einer Entstellung vor allem der Theorie Michel Foucaults und hier insbesondere seines Vortrags »Was ist ein Autor?«. Die These vom Verschwinden oder gar Tod des Autors ist vor allem einer Lektüre geschuldet, die seine Deutung des Autors als Funktionsstelle, als Variable, der eine jeweils unterschiedliche Bedeutung zukomme, als kulturdiagnostische Prognose versteht. Dass allerdings Foucault mit Becketts Diktum »was liegt daran, wer spricht?«,32 mit dem der Text einsetzt, und mit seinen eigenen Schriften zur Literatur, die er später als romantische Annahmen ansah, einer solchen Deutung Vorschub geleistet hat, sei konzidiert. Die eigentliche Pointe des Textes Foucaults scheint mir jedoch eher in einer perspektivischen Neuorientierung zu liegen, die an die Stelle der Frage des Autors jene nach seiner Funktion setzt. Nicht das Verschwinden des Autors ist das Interessante, sondern die Frage, welche theoretische Neuorientierung erforderlich ist, wenn transzendentalphilosophische Aprioris wie jene des Autors und auch jene des Schreibens, der »écriture«, außer Kraft gesetzt werden. Es geht, mit anderen Worten, in fundamentaler Weise um die Frage nach dem Bild des Autors und dem mit diesem verbundenen überkommenen Strategien. Blanchot kommt hier eine entscheidende Bedeutung zu, ist es doch auffällig, dass Foucault immer dann, wenn es um die Erfahrung der modernen Literatur geht, nur wenige und zudem wiederkehrende Beispiele nennt: Mallarmé, Rimbaud, Artaud, Sade, Bataille, Klossowski und eben Blanchot. In seinem Aufsatz »Das Denken des Außen« macht er Blanchot zu einer emblematischen Figur der modernen Literatur und einer neuen Erfahrung des Schreibens, die Foucault den »neutralen Raum« nennt.33 Er versteht darunter die Erfahrung »einer Sprache, aus der das Subjekt ausgeschlossen ist« und die mit jener des Selbstbewusstseins und ch/2003/02/25/fe/article3OWXQ.htmwww.nzz.ch/2003/02/25/fe/article3OWXQ. html vom 4.1.2012. 32 | Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?« (Vortrag), in: Ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 234-270, hier S. 234. 33 | Ders.: »Das Denken des Außen«, in: Ders.: Schriften zur Literatur, S. 208-233, hier S. 210.
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der Innerlichkeit inkompatibel ist.34 Blanchot setzt dabei in seinem Schreiben bereits um, was Foucault dann theoretisch zu fassen sucht. Dementsprechend hat er allergrößte Mühe, in seiner Arbeit über Blanchot nicht in jene Kategorien zurückzufallen, die dieser vermeintlich bereits aufgegeben hat: »Es ist äußerst schwierig, diesem Denken eine Sprache zu verleihen, die ihm treu bleibt. Denn jeder rein reflexive Diskurs läuft Gefahr, die Erfahrung des Außen in die Dimension der Innerlichkeit zurückzuführen«35 und Kategorien wie den Körper, den Raum, das Begehren, des Anderen etc. als abgeleitete zu begreifen. Das Verschwinden des Autors ist metonymisch mit dem Verschwinden des Subjekts verbunden, das wiederum zu einer Neuperspektivierung geisteswissenschaftlicher Fragen führt. Foucault beschreibt in ähnlichen etwas raunenden und mit Lust an der Paradoxie formulierten Wendungen, wie sie sich auch bei Blanchot finden, dessen Werk als Versuch, solch grundlegende Kategorien wie den Raum, die nunmehr aufgegebene Fiktion, das Gesetz und das Sein der Sprache neu zu denken und zu schreiben. Ich verzichte an dieser Stelle auf längere Zitate, die aus zeitlicher Distanz merkwürdig erratisch, pathetisch und auch mitunter obsolet erscheinen. Entscheidend scheint mir hingegen die Beobachtung zu sein, dass sich hinter solch griffigen Formeln wie »das Subjekt als grammatische Falte«,36 die Foucault in seiner Blanchot-Lektüre prägt, eine radikale Dynamisierung verbirgt, die sämtliche vermeintlichen Konstanten als Variablen begreift: den Raum, die Zeit, das Gesetz, das Subjekt und eben auch das Werk, den Text und den Autor. Dafür steht programmatisch das Werk Maurice Blanchots – und das auch in anderen sehr unterschiedlichen und dennoch in dieser Hinsicht verwandten Lektüren von Theoretikern wie Jacques Derrida oder Jean-Luc Nancy.37 Und geraten nun Werk, Autor oder Text in den Strudel der Dynamisierung, dann kann sich auch die Photographie des Autors diesem nicht entziehen. Man muss nicht gleich die auf die existentielle Kategorie des Todes zurückgreifen, um zu erklären, warum Maurice Blanchot Photographien für unmaßgeblich hielt: gleiches gilt auch für sein Werk, das aber eben gerade aufgrund der konsequenten theoretischen, begrifflichen, sprachlichen wie formalen Umsetzung der Fragmentierung als philosophisches wie poetologisches Programm diese besondere Bedeutung für die französische Nachkriegsphilosophie haben konnte.
34 | Ebd., S. 211. 35 | Ebd., S. 213. 36 | Vgl. ebd., S. 230. 37 | Derrida, Jacques: Parages. Erw. Ausgabe, Paris: Galilée 2003; Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: P. Schwarz 1988 sowie ders.: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich: Diaphanes 2007.
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4. I konophobie , Z eichendeutung und Par anoia : Thomas P ynchon und D on D elillo »Sinnspruch für Paranoiker, 3: Wem es gelingt, dir falsche Fragen einzureden, dem braucht auch vor der Antwort nicht zu bangen.« Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel
Über Maurice Blanchot ist vor einigen Jahren eine umfangreiche Biographie erschienen, die mit dem Mythos aufräumte, er sei eine Art moderner Eremit, der wie Hieronymus im Gehäus in seiner Wohnung hauste und nur von Zeit zu Zeit über ein Buch mit der Welt kommunizierte. Von Pynchon gibt es bisher eine solche Biographie nicht, doch es ist bekannt, dass er offenbar ein »normales« Leben in New York führt, seine Agentin heiratete und Vater eines Sohnes namens Jackson ist, den er wie andere Väter zur Schule bringt. Ein CNN-Reporter stöberte ihn vor einigen Jahren mitten in New York City auf und nahm ihn auf. Pynchon untersagte zwar die Ausstrahlung der Bilder, gab aber ein kurzes Interview.38 Über Pynchons Bildverweigerung wurde sogar ein Film gedreht:39 Donatello und Fosco Dubini befragen und »begleiten Menschen, die Pynchon kennen oder zu kennen glauben, und solche, die ihn nicht kennen, aber alles über ihn erfahren wollen: Datensammler, Webmaster und Verschwörungstheoretiker.«40 Auch bei Pynchon kann man ähnlich wie bei Blanchot eine theoretische Motivierung dieser Bildverweigerung ausmachen. In seinen Romanen wird, wenn man etwa an den programmatischen Roman Die Versteigerung von Nr. 49 denkt, jede Form von identifizierendem Denken ad absurdum geführt. An dessen Stelle tritt ein unabschließbarer Prozess des Zeichendeutens, der höchst unterschiedliche Zeichenordnungen übereinanderblendet und ein nachgerade paranoides Weltverhältnis auf Dauer stellt. Diese paranoide Grundhaltung ist konstitutiv für weite Teile seines Œuvres und verbindet ihn mit Don Delillo, der ihm daher wohl nicht von ungefähr 1991 mit Mao II indirekt ein literarisches Denkmal setzte. Pynchon, der neben Salinger für die Hauptfigur des Romans Pate stand, hat nun seinerseits, wie uns der Klappentext verrät, diesen Roman als ein »Juwel« bezeichnet.41 Und dieses Juwel funkelt in eigentümlich faszinierender, aber auch irritierender Weise. Der Plot des Romans sei in wenigen Strichen skizziert. Er beginnt mit 38 | Dazu: CNN report: www.youtube.com/watch?v=9k_TNk2mtTA&feature=related vom 4.1.2012 und (nachgerade pynchonesk) Thomas Pynchon?: www.youtube.com/wa tch?v=B57rdx15wNs&feature=related vom 4.1.2012. 39 | A Journey Into The Mind Of [P.] (CH 2001, R: Donatello und Fosco Dubini) 40 | Söhler, Maik: »File not Found«, in: Jungle World Nr. 51 vom 12.12.2001. 41 | Klappentext von Delillo, Don: Mao II, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1992.
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einer Massenhochzeit in einem amerikanischen Stadion, bei der die Eltern einer der Nebenfiguren auf der Tribüne sitzen und vergeblich versuchen, ihre Tochter unter den zehntausend gleichgekleideten Paaren auszumachen, die von Meister Mun aufgrund von Portraitphotos ausgewählt und füreinander bestimmt wurden. Er endet in Beirut in der Zeit des Bürgerkriegs. Die Photographin Brita durfte einen Anführer der revolutionären Gruppen photographieren und stellt fest, dass seine Anhänger sich vor allem deshalb vermummen, um ihre Ähnlichkeit mit ihm zu demonstrieren und sich deshalb auch ein Photo ihres Führers an die Jacken, die sie tragen, geheftet haben. Inmitten der Gefechte schaut sie abends auf einen Hochzeitsumzug herunter, der an ihrem Hotel vorbeiführt und blickt dann auf das Panorama der Stadt. Die Lichtblitze der Feuersalven und jene der Magnesiumblitze der Blitzlichter sind ununterscheidbar geworden. Und die Portraits, die noch im Reisepass zur Feststellung der Identität dienten, werden zu Versinnbildlichungen einer austauschbaren Identität oder einer sinnstiftenden kollektiven Identifikation in jenem Zeitalter der Massen, das der Roman konstatiert: »Die Zukunft gehört den Massen«, heißt es am Ende des ersten Kapitels. Zwischen diesen beiden Hochzeiten entspannt sich eine eigentümliche und eindringliche Geschichte, in der es um Literatur und Terrorismus, um das Individuum und die Massen, aber auch um Bilder, Selbst- und Fremdbilder und Portraitaufnahmen geht. Ein langes Kapitel des Romans schildert den Besuch der Photographin Brita, die eine großangelegte Sammlung von Schriftstellerportraits in Angriff genommen hat, bei dem Autor Bill Gray – der zu Lebzeiten zum Mythos geworden war. Erstmals genehmigt er, der seit Jahrzehnten in der Nähe von New York vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen lebt und nicht nur seinen Aufenthaltsort geheim hält, sondern auch seinen Namen abgelegt hat und Photos strikt verweigert, Aufnahmen von ihm anzufertigen. Die Photosession ist ein erster Schritt zurück in die Öffentlichkeit, dem bald weitere – allerdings durchweg von der Öffentlichkeit unbemerkte – folgen, und ein Versuch, den »Monolithen, in den er sich durch den Rückzug aus der Öffentlichkeit und die Mythisierung seitens der Öffentlichkeit verwandelt zu haben meint, zu zerschlagen. Die Wirklichkeit sieht anders aus, das Fremdbild hat mit dem Selbstbild und auch mit der Realität wenig gemein: Gray hat zwanzig Jahre an einem Roman gearbeitet, den seine Freunde als komplett misslungen einschätzen, ist medikamenten- und alkoholabhängig, psychisch und physisch ein Wrack und hat seine Familie und Freunde dem Werk geopfert, das von seiner mythischen Reputation allerdings weit überragt wird. Und der Weg zurück in der Welt erweist sich als schwierig und endet tödlich: Gray willigt ein, in London an einer Lesung aus dem Werk eines in Beirut verschleppten unbekannten Schweizer Lyrikers teilzunehmen, aber die Lesung muss wegen eines Attentats einer konkurrierenden Terroristengruppe ausfallen. Der vermeintliche Vermittler bewegt jedoch Gray zu einer Reise nach Athen und nach Zypern, um von dort aus Kon-
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takt zu den Entführern aufzunehmen. Gray wird von einem Auto angefahren, macht sich gleichwohl auf eigene Faust auf den Weg nach Beirut und stirbt während der Überfahrt mit dem Boot. Seine Ausweispapiere nehmen ihm Mitreisende ab. Der Tod des Autors bleibt unbemerkt. Er stirbt anonym, während sich seine Freunde Gedanken darüber machen, wie sie sein Werk und selbst seinen gescheiterten Roman gewinnbringend vermarkten können. Zugleich wird aber der Tod des Autors zum Strukturprinzip des gesamten Textes, der subtil verschiedene Stimmen inszeniert, die von der Mythisierung des Autors und des Individuums ihren Ausgang nehmen, um dann ihrerseits den Verlust der Identität zu konstatieren und auch zu kompensieren suchen: Sekten und Terrorgruppen, Geschäftsleute und Lektoren, die mit medialen Effekten arbeiten, um ein verkaufsträchtiges Bild zu erzeugen, und nicht zuletzt jene Photographin, die schlicht Bilder sammelt – erst jene von Schriftstellern und dann die Aufnahmen von Terroristen. Auf Bill Grays Frage, was aus all den Bildern werden soll, antwortet sie: »Am Ende, das weiß ich nicht. Man spricht von einer Art Installation in einer Galerie. Tausende von passbildgroßen Fotos. Aber das will mir nicht einleuchten. Für mich ist es ein Nachschlagewerk. Das nur der Aufbewahrung dient.«42 Und das man in ihrer Vorstellung als eine Sammlung von Portraits, als ein Archiv aus den Zeiten des heroischen Individuums in einer verschlossenen Kapsel in den Weltraum schießen soll. Diesem Heroismus hing auch Bill Gray an, der seine Bildverweigerung in der Tradition der göttlichen sieht: »Wenn ein Schriftsteller sein Gesicht nicht zeigt, wird er zu einem irdischen Zeichen für Gottes berühmte Weigerung, in Erscheinung zu treten. […] Der Schriftsteller, der sein Gesicht nicht zeigen will, betritt heiligen Boden. Er wendet den Trick Gottes an.«43 Die vermeintlich politische Geste des Sich-Entziehens vor der Bilderwelt, die sich als Kritik an der massenmedial inszenierten Bilderflut legitimiert, schlägt um in eine ironische und zugleich inszenierte Wiederbelebung eines längst überkommen geglaubten Schöpfermythus im Bilderverbot.
5. U nheimliche B e wohner des fremden R aumes : The R esidents »It was a finger instead of a singer it didn’t stay too long.« The Residents, God’s magic finger
Wenn man auf der Homepage der Residents nach Informationen zu ihrer Identität sucht, findet man einen mit »The Fabulous Bleeps« überschriebenen und 42 | Delillo, D.: Mao II, S. 40. 43 | Ebd., S. 53.
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auf circa 1965 (wohl fiktiv) datierten Text, der in exemplarischer Weise das nun über drei Jahrzehnte dauernde Spiel mit Identitäten in Szene setzt:44 »THE RESIDENTS Kari, Omar, Sierra, and Dr. Dimples wanted to form a band. Each was surprisingly good at playing a musical instrument except for Dr. Dimples. But he was charming and many considered him successful at imitating the vocals of currently popular music. So Dr. Dimples became their singer. They called themselves ›The Fabulous Bleeps‹ and practiced all the time in hopes that someday they would get a record deal and become big stars. Their greatest achievement before breaking up was opening for Rolling Dufflebag at the state fair. The Residents held no band in higher reverence than the Fab Bleeps. To them, Bleeps was a real life example of everything they did not want to be. Jay, Randy, Bob, Carlos, John, Homer, Chuck, Hardy, and Palmer did not want to form a band. The fact that none of them played musical instruments was one of the reasons. The idea that they should all become singers didn’t really fly either. However, they did want to do something that was fantastic. The best job for people with no particular abilities but wish to be fantastic is to be an artist. They realized that they could be the ›artist‹ version of a ›band.‹ Some members would become sound artists, some would become visual artist, some would become marketing artists, some would become writers and some would become religious. All together they would become the non-band named …. hmmm… they had no name and to make one up seemed silly. Who would really want to be a ›Bleep‹ or a Rolling Dufflebag? Certainly not artists. They have no name. Just as your dog is not really named ›Spot‹ even if you call him that. The Residents have no name. Like teeth as you grow old, some people fell out of the group. First to go was Palmer, most recent to depart was Carlos. There were others in between. Such is life. Forty years later, Hardy and Homer still act as the business artists. Randy, Chuck, and Bob are still out there fighting the artistic battle on stage and in other public arenas. The Residents have recorded a lot of albums, produced award-winning films, created two video games, and much much more. Over time, despite serious resistance, The Residents have become a band of sorts. Sometime they think they have become frighteningly similar to The Fabulous Bleeps who they still admire for their failures. But most of the time they know that even with The Residents’ striking lack of popularity, they can never equal The Bleeps’ staggering band-ness or blandness. Artists rule. Such is life.« 45
44 | Zur Einführung sei empfohlen: Giles, Jeff: »The Complete Idiot’s Guide to the Residents«, in: popdose: www.popdose.com/the-complete-idiots-guide-to-the-residents vom 4.1.2012 und natürlich die fabelhafte und überaus materialreiche Homepage der Residents: www.residents.com vom 4.1.2012. 45 | »The Faboulous Bleeps«, in: http://residents.com/noobie/vom 4.1.2012.
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Illustriert ist diese wunderbar selbstreflexive wie ironische Geschichte der eigenen fremden Band mit einem Bild, das zugleich die Brücke zum allerersten Residents-Album schlägt, das 1974 erschien. Das Cover von Meet the Residents war eine offenkundige Persiflage des Beatles-Albums Meet the Beatles!. [Abb. 10/11] Auf ihrer Homepage, auf der sich die über dreißigjährige Geschichte in zahlreichen Bilder, Texten und Songs sedimentiert hat, findet sich dann auch noch ein weiteres Bild, das uns die Residents ziemlich ungeschminkt in einer weiteren Beatles-Variante zeigt. Das Switchen zwischen den Beatles und den Residents, das zwischenzeitlich sogar zur Vermutung führte, dass sich hinter der maskierten Band die berühmten Pilzköpfe verbergen, ist Teil des künstlerischen Programms, das sich Fremdaneignung zum Prinzip gemacht hat. So covern die Residents gleich mal ein ganzes James Brown Live Album und nehmen eine Platte mit kaum wiederzuerkennenden Elvis-Songs auf.46 Bei dieser musikalischen Dekonstruktionsarbeit schrecken sie auch, wie etwa bei ihrem zweiten Album Third Reich Rock & Roll, nicht vor political incorrectness zurück. Das Cover mit den Hakenkreuzen ist bis heute in Deutschland verboten. Auf dem Album finden sich dann zwei Suiten von bizarren, ineinander übergehenden Coverversionen von amerikanischen Bubblegum- und anderen populären Songs der 1960er Jahre, hier vereint unter den Titeln »Swastikas on Parade« und »Hitler was a Vegetarian«. Auch vor Sex mit Siamesischen Zwillingen machen sie nicht halt. Das ist Teil eines späteren Albums, das wie alle vorher eine neue Seite des Entwendungs- und Transformationsspiels einleitet, versuchen doch die Residents auch auf eine klanglich-musikalisch erwart- und kalkulierbare Identität zu verzichten und jede Platte überraschend neu zu gestalten. So verwenden sie mal Tonbänder von anderen, mal aufgezeichnete Geräusche, entwickeln zwischenzeitlich Multimediaprogramme mit beigefügten CD-ROMs (wie auf der Multimedia CD-ROM Freak Show), beginnen einen Film zu drehen (der nach 14 aufgenommenen Stunden dann Fragment bleibt), oder gehen urplötzlich intensiv auf Tour und setzen auf Performanz. Die Identität in der Kette von Transformationen besteht einzig in der Maskerade, der sie treu sind, in der Strategie des Verschwindens der bürgerlichen Künstlerexistenzen, die in der Tat bis heute nicht bekannt sind. Zu ihrem Markenzeichen ist seit vielen Jahren die gigantische Augapfelmaske geworden, die sie sich bei Konzerten überziehen und mit denen sie auch in der Öffentlichkeit erscheinen. Sie findet sich auf nahezu allen Promophotos, aber auch auf Plattencovern. Hier eine kleine Auswahl:
46 | The Residents: The King & Eye, 1989.
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Bernd Stiegler Abbildung 10: Meet the Residents, Cover, Ralph Records 1974. http://mvdb2b.com/i/300dpi/MVD5138A.jpg
Abbildung 11: Meet the Beatles!, Cover, Capitol Records 1964. http://beatlesautographs.com/images/MeetTheBeatles2.jpg
Abbildung 12: Beatlespersiflage von The Residents, online: http://residents. com/RZPhoto/page15/files/page15-1002-full.html, zugegriffen am 4.1.2012.
Strategien des Verschwindens. Ikonophobe Autorschaf t Abbildung 13-20: Plattencover der Residents: http://residents.com/
Die Residents geben keine Interviews – dafür haben sie eigens einen Kommunikationsmanager angestellt, der mitunter höchst bizarre Theorien entwickelt –, verhalten sich meist klamaukhaft, wenn sie in Studios oder Talkshows sitzen und glotzen mit ihrem gigantischen Augapfel den Betrachter an.47 Besser könnte eine okularzentrisch-voyeuristische Erwartungshaltung nicht konterkariert werden. Und konsequenter könnte eine Strategie des Verschwindens nicht umgesetzt werden, die mit den Mitteln der Visualität den Zuschauer und Zuhörer in den Blick nimmt.
47 | Absurd ist etwa die »Theory of obscurity«, in: http://video.google.com/videoplay ?docid=3053107886928586337# vom 4.1.2012.
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Biographie, Autobiographie und Parodie Vladimir Nabokovs Selbsterschaffung und Selbstzerstörung Ulrich Schmid
Vladimir Nabokov war ein erklärter Biographiegegner. In seinen Literaturvorlesungen an der Cornell Universität erklärte er störrisch: »I hate tampering with the precious lives of great writers and I hate Tom-peeping over the fence of those lives –I hate the vulgarity of ›human interest‹, I hate the rustle of skirts and giggles in the corridors of time – and no biographer will ever catch a glimpse of my private life.«1
Mit dieser kategorischen Absage ist die Sache aber noch nicht erledigt. Gerade das laute Rauschen, mit dem Nabokov den Vorhang vor seinem Privatleben zuzieht, muss misstrauisch machen. Es macht einen großen Unterschied, ob man nichts über sein Privatleben sagt oder ob man sagt, dass man nichts darüber sagt. Kaum ein anderer Autor hat Exhibitionismus und Publikumsscheu so eng miteinander verschränkt wie Nabokov. Ein gutes Beispiel bietet eines der raren Fernsehinterviews, das Vladimir Nabokov am 30. Mai 1975 in der Sendung »Apostrophes« gegeben hatte. Das Gespräch gehorchte den üblichen Regeln, die Nabokov bei allen Interviews stellte: Die Fragen mussten vorher eingereicht werden, und Nabokov las seine ebenfalls vorbereiteten Antworten ab. Die Sendung selbst ist ein nabokovianisches Kunstwerk, das offensichtliche und versteckte Täuschungen kombiniert. Die Kameraführung suggeriert zu Beginn, dass Nabokov seine Antworten spontan gibt. Allerdings wird der Zuschauer bald misstrauisch, weil Nabokovs Sätze allzu elaboriert daherkommen. Der Verdacht findet eine visuelle Bestätigung: Am Ende der Sendung nimmt die Kamera eine neue Perspektive ein, in der die Konstruktion der Gesprächssituation offen gelegt wird. Nabokov versteckt sich hinter einer Wand 1 | Nabokov, Vladimir: Lectures on Russian Literature, New York: Harcourt Brace Jovanovich cop. 1981, S. 138.
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seiner Bücher und liest von seinen berühmten Karteikarten ab, auf denen er auch seine Romane konzipierte. Abbildung 1: Nabokov in der Sendung »Apostrophes« 30. Mai 1975
Quelle: http://www.ina.fr/video/CPB75050355
Das ist die offensichtliche Täuschung. Die versteckte Täuschung liegt darin, dass Nabokov während der langen Sendung eine Stärkung brauchte. In seinem letzten Lebensjahrzehnt trank Nabokov relativ viel: Wenn er morgendliche Besucher im Montreux Palace empfing, bestellte er schon mal an der Bar einen Whisky. Im Interview bietet ihm der Moderator Bernard Pivot Tee aus einer Kanne an, in der sich aber Whisky befindet. Nabokov kommentiert das Einschenken mit den Worten: »Il est un peu fort!« Der Moderator lacht über diese Bemerkung, den unwissenden Fernsehzuschauern bleibt dieser Witz hingegen verborgen. Auch der Inhalt dieser Selbstpräsentation ist bemerkenswert. Nabokov, der ja niemandem Einblick in sein Privatleben gewähren wollte, beginnt mit einer Schlafzimmerszene, mithin dem intimsten Raum überhaupt. Allerdings zeigen groteske Details wie die Erwähnung der Schlafmütze, dass Nabokov sich hier über den Voyeurismus der Zuschauer lustig macht. Der satirische Modus wird durch die Hamlet-Verballhornung »Prendre ou ne pas prendre un somnifère?« bestätigt. In diesem Interview sind alle Selbstpräsentationsstrategien von Vladimir Nabokov präsent. Meine These lautet, dass Nabokov eigentlich über gar keine angebbare Biographie verfügt. Er experimentiert mit den Lebensentwür-
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fen seiner literarischen Helden (in diesem Sinne ist die Bücherwand aus dem Fernsehinterview eine realisierte Metapher), dabei sind aber nicht irgendwelche konkreten Episoden, sondern das Experimentieren selbst das Tertium Comparationis zu Nabokovs Leben. Alle Nabokov-Romane verfügen über eine prominente biographische Thematik, die aber nur funktional, nicht inhaltlich auf Nabokovs Biographie bezogen werden kann. In einem durchaus phantastischen Setting hat Nabokov die Problematik der Selbstpräsentation in seinem frühen Roman The Eye (russ. 1930, engl. 1965) gestaltet. Ein Ich-Erzähler, der nicht mit der Last fertig wird, »dauernd sich seiner selbst bewusst zu sein«, jagt sich eine Kugel durch den Kopf. Auf wundersame Weise überlebt das Bewusstsein sogar den körperlichen Tod und existiert als »Auge« weiter – hier kommt die Homophonie zwischen »I« und »Eye« zum Tragen. Das Auge wandert umher und sammelt die verschiedenen Eindrücke, die einzelne Handlungsfiguren von einem geheimnisvollen Smurov haben, der als Homosexueller, Casanova, Hochstapler, Kriegsheld oder Sowjetspion auftritt. Schließlich stellt sich heraus, dass Smurov und der Ich-Erzähler identisch sind. Der Roman endet mit einer philosophischen Überlegung: »I do not exist: there exist but the thousands of mirrors that reflect me. With every acquaintance I make, the population of phantoms resembling me increases. Somewhere they live, somewhere they multiply. I alone do not exist. […] And then will come the day when the last person who remembers me will die. A fetus in reverse, my image, too, will dwindle and die within the last witness of the crime I committed by the mere fact of living.«2
Leben als Verbrechen – diese Metapher wird von Nabokov im Roman Despair realisiert: Der Protagonist ermordet hier einen Landstreicher, um dessen Identität zu stehlen. Das Ende des Romans kann als Umkehrung von The Eye gelesen werden, wo der Ich-Erzähler und sein Spiegelobjekt zusammenfielen. In Despair stellt sich heraus, dass überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen dem Täter und dem Opfer besteht. Bereits 1927 hatte Nabokov in der Kurzgeschichte Horror den Prozess der Ich-Identifikation vor dem Spiegel als höchst problematisch dargestellt: »Und je genauer ich mein eigenes Gesicht untersuchte, die unbekannten, matten Augen, das Schimmern kleiner Haare auf meinem Kiefer, den Schatten entlang meiner Nase, je überzeugter ich zu mir selbst sagte: Das bin ich, und meinen Namen laut aussprach, desto unverständlicher wurde es, warum das ausgerechnet ich sein sollte, und desto schwieriger wurde es für mich, dieses Gesicht mit einem unverständlichen Ich im Spiegel zu identifizieren.« 3 2 | Nabokov, Vladimir: The Eye, New York: Vintage International 1990, S. 103. 3 | Nabokov, Vladimir: Vozvraščenie Čorba. Rasskazy i stichi. Berlin 1930, S. 27.
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Die Kongruenz von Selbstbild und Fremdbild ist bei Nabokov nur als künstliche Operation möglich. In The Eye gibt es eine bemerkenswerte Szene in einem Laden, in das Ich und sein Spiegelbild aufeinander zulaufen: »As I pushed the door, I noticed the reflection in the side mirror: a young man in a derby carrying a bouquet, hurried toward me. That reflection and I merged into one. I walked out into the street.« 4
Nabokov ist also kaum willens, sein Ich mit einer festen Qualität auszustatten. Es kommt ihm vor allem darauf an, das Ich präsentierbar zu machen. Deutlich kann man dieses Bestreben an der Struktur seiner Autobiographie Speak, Memory ablesen. Von der abenteuerlichen Textgeschichte dieses Buchs ist vorerst nur wichtig, dass verschiedene Versionen auf Französisch, Englisch und Russisch geschrieben wurden. Dabei ist die Sprache nicht einfach ein neutrales Medium, sondern füllt einen kulturellen Kontext aus, der jeweils auch Nabokovs Selbstpräsentation determiniert. Am interessantesten ist der Titel der ersten US-amerikanischen Ausgabe: Conclusive Evidence. Nabokov erklärte, dass der biographische Text der »schlüssige Beweis« sei, dass der Autor tatsächlich gelebt habe. Mit anderen Worten: Das Leben an sich stellt die Existenz eines Subjekts noch nicht sicher. Die Autobiographie ist nicht ein sekundärer Effekt des Lebens, sondern eine primäre Ursache. Die Brüchigkeit der Ich-Existenz spiegelt sich auch im Kapitelauf bau der Autobiographie. Nur vordergründig weist Speak, Memory eine chronologische biographische Ordnung auf. Eigentlich ist das Buch viel eher eine Sammlung von Biographien anderer Personen, die mit Nabokov in engen Kontakt getreten sind: Die heimwehkranke Westschweizer Gouvernante, der reiche Onkel, eine Kinder-Urlaubsliebe, der Vater, die Mutter, die Jugendgeliebte. Fast wichtiger als die Anwesenden sind die Abwesenden: Erst in der letzten Fassung von 1966 gibt es einen kurzen Passus über den homosexuellen Bruder Sergej, der in einem Nazi-Camp umgebracht wurde, die Ehefrau Véra taucht nicht mit Namen auf, sondern wird unvermittelt mit »Du« angesprochen, der gemeinsame Sohn Dmitri wird überhaupt nicht erwähnt. Nabokov geht in einer berühmten Stelle sogar so weit, sich selbst in der dritten Person darzustellen – nämlich unter seinem Pseudonym Sirin, das er als junger Autor verwendet hatte, um nicht mit seinem berühmten Vater verwechselt zu werden: »But the writer that interested me most was naturally Sirin. […] Among the young writers produced in exile he was the loneliest and most arrogant one. […] Across the dark sky 4 | Ebd., S. 97.
Biographie, Autobiographie und Parodie of exile, Sirin passed […] like a meteor, and disappeared, leaving nothing much else behind him than a vague sense of uneasiness.« 5
In einer satirischen Selbstrezension aus dem Jahr 1950 bezeichnet Nabokov diesen Kunstgriff als die etwas »ärgerliche Methode, sich selbst in der dritten Person anzusprechen.«6 Seine eigentliche Biographie für das interessierte Publikum schrieb Nabokov deshalb nicht selbst, sondern ließ sie von einem jungen Slavisten verfassen, den er 1964 während eines Gastvortrags in Harvard kennen gelernt hatte. Andrew Field veröffentlichte insgesamt drei Bücher über Nabokov: Vladimir Nabokov. His Life in Art (1967), Vladimir Nabokov. His Life in Part (1973) und VN. The Life and Art of Vladimir Nabokov (1986). Die Geschichte dieser drei Biographien ist eine Geschichte der gegenseitigen Entfremdung der beiden Autoren. Nabokov hatte Field zunächst noch mit zahlreichen Informationen ausgestattet und war auch mit der ersten Biographie durchaus zufrieden. Als Field ihm jedoch 1973 sein 678 Seiten starkes Manuskript des zweiten Buchs ablieferte, mochte sich Nabokov in diesem Porträt nicht mehr wiedererkennen. Besonders erbost hatte ihn die Tatsache, dass Field nicht nur mit Bekannten und Familienangehörigen über Nabokov gesprochen hatte, sondern sogar eine Zeitungsannonce aufgegeben hatte, in der er Zeitzeugen zur Kontaktaufnahme mit ihm ermunterte. In der Tat konnte er aufgrund von Informationen Dritter Nabokovs Liebesleben rekonstruieren, so etwa die fünfmonatige Affäre mit Irina Guadanini in Paris 1937 – seine jüdische Frau Véra war zu dieser Zeit allein mit dem zweijährigen Sohn in Hitlers Berlin. Nabokovs Indignation hat natürlich zunächst den Grund, dass er die Kontrolle über seine Biographie in der Hand behalten wollte. Er konnte allerdings keine richtigstellende Autobiographie publizieren, weil er ja mit Speak, Memory und den zahlreichen Vorgängertexten schon abschließend zu seinem eigenen Leben Stellung genommen hatte. Deshalb entschloss er sich, selbst eine Parodie auf seine eigene Biographie zu schreiben. Look at the Harlequins! (1974) ist Nabokovs letzter Roman, in dem er seine eigene Biographie auf groteske Weise verzerrt. Der Protagonist dieser Autobiographie, wie der Text mehrmals unterstreicht, ist Vadim Vadimych N. Er erinnert sich nur noch an den ersten Buchstaben, er erwägt die Varianten Notorov, Nebesnyy, Nabedrin, Nablidze oder Naborcroft.7 Der an Demenz leidende Ich-Erzähler hat je sechs Romane auf Englisch und Russisch verfasst, die 5 | Nabokov, Vladimir: Speak Memory, New York: Vintage Books 1998, S. 219. 6 | Ebd., S. 244. 7 | Nabokov, Vladimir: Novels 1969-1974. Ada, Transparent Things, Look at the Harlequins! New York: Literary Classicy of the United States 1996, S. 743.
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sich leicht als falsche Versionen von Nabokovs eigenen Werken identifizieren lassen. In Look at the Harlequins! konterkariert Nabokov eine simplifizierende autobiographische Lektüre seiner Werke. Vadim Vadymich hat tatsächlich – wie Humbert Humbert aus Lolita – ein erotisches Verhältnis mit der Tochter seiner Frau und fährt mit ihr von Motel zu Motel durch ganz Amerika. Der biographistische Kurzschluss wird hier zum handlungsstiftenden Motiv. Andrew Field hat noch einmal auf Nabokovs Look at the Harlequins! reagiert, das natürlich auf ihn gemünzt war. In einem furiosen Vorwort zu seinem letzten Nabokov-Buch hat er mit dem Nabokov-Clan abgerechnet, der Informationen nur an genehme Biographen weiterreicht. Bereits nach Nabokovs Tod hat der Australier Brian Boyd den Status eines Hof biographen erreicht, allerdings um den Preis einer weitgehend unkritischen Rezeption von Nabokovs Werk. Boyd findet sogar noch für die beiden letzten, deutlich missratenen Romane lobende Worte. Überdies rechnet auch Boyd ganz im Sinne Nabokovs mit Andrew Field ab und wirft ihm offen Undankbarkeit und Illoyalität gegenüber der Nabokov-Familie vor. Generell schwelgt Boyd in Superlativen, wenn es um Nabokovs künstlerische Fähigkeiten geht, und übernimmt sogar Nabokovs Nichtanerkennung von Freud. Boyd versucht auch angestrengt, allen Fußangeln auszuweichen, die Field in seiner Nabokov-Biographie ausgelegt hatte. So wird die Guadanini-Affäre zwar erwähnt, gleichzeitig soll aber der Leser mit Nabokov Mitleid fühlen, dessen nervös bedingte Psoriasis sich zu dieser Zeit besonders stark bemerkbar machte.8 Die Guadanini-Affäre von 1937 ist nicht nur als biographisches Problem von Bedeutung, sondern markiert auch den Wendepunkt in Nabokovs habitueller Selbstpräsentation. Man kann vier Stadien in Nabokovs Präsentationsstrategien der eigenen Person feststellen, die sich auch in seiner hegelianischen Ausdeutung seiner wichtigsten Lebensetappen spiegeln. Während seiner Berliner Zeit in den dreißiger Jahren wählt Nabokov als biographisches Vorbild den russischen Nationaldichter Alexander Puškin, der exakt ein Jahrhundert vor ihm geboren wurde. Nabokovs Selbststilisierung als Puskin des 20. Jahrhunderts ging bis in den hygienischen Habitus hinein: Er unterstrich gegenüber seinem Biographen Andrew Field, dass Puškin jeden Tag ein Bad nahm.9 Diese aristokratische Gewohnheit strich er des Öfteren gegenüber Gesprächspartnern für seine eigene Person heraus – so auch im Interview mit Bernard Pivot. Dabei versteht es sich fast von selbst, dass Nabokov ein Poesiefragment von Puškin zu Ende dichtete und sich zum einzig kompetenten Kommentator von Puškins Versroman Evgenij Onegin erklärte
8 | Meyer, Priscilla: Review of Brian Boyd: Nabokov. The Russian Years, in: Slavic and East European Journal 35,3 (1991), S. 445-446. 9 | Field, Andrew: Nabokov. His Life in Part, New York: The Viking Press 1977, S. 40.
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und darin sogar biographische Verbindungen zwischen seiner eigenen Familie und Puškin zog. 1940 vollzog Nabokov den Sprachwechsel ins Englische und orientierte sich an William Shakespeare. In einem berühmten Gedicht aus dem Jahr 1941 behauptete Nabokov unbescheiden von sich selbst, bereits ein russischer Shakespeare gewesen zu sein: »To many things I’ve said the word that cheats the lips and leaves them parted (thus: prash-chai which means »good-bye«) -- to furnished flats, to streets, to milk-white letters melting in the sky; […] To all these things I’ve said the fatal word, using a tongue I had so tuned and tamed that -- like some ancient sonneteer -- I heard its echoes by posterity acclaimed.«10
Sein eigenes Lieblingsporträt von sich zeigt Nabokov schreibend an seinem Pult. Vor allem das zur Maske erstarrte ernste Gesicht und die nach hinten gekämmten Haare erinnern an das berühmte Droeshout-Porträt aus der Londoner Folio-Ausgabe von 1623. Nabokov selbst hatte in seinem Roman Bend Sinister dieses Porträt als »unheimliche Komposition von zwei linken Armen und einer Maske« charakterisiert.11 Abbildung 2 und 3: Shakespeare und Nabokov
10 | Nabokov, Vladimir: Softest of Tongues. In: Atlantic Monthly 168/765 (1941), S. 765. 11 | Nabokov, Vladimir: Bend Sinister, New York: Vintage Int. 1990, S. 106.
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Quelle: Stephanie Nobler: Shakespeare‘s face. The Story Behind the Recently Discovered Portrait. London 2002, 206. Ellendea Proffer: Vladimir Nabokov. A Pictorial Biography. Ann Arbor 1991, 73.
Zwar überwiegt die Puškin-Stilisierung in Nabokovs russischer Phase und die Shakespeare-Stilisierung in der englischen Schaffenszeit. Man darf aber nicht übersehen, dass Nabokov sich selbst als Synthese der beiden Weltautoren sah. Zu diesem Zweck lud er sein Geburtsdatum, den 23. April 1899, symbolisch auf. Der 23. April ist auch der Geburtstag von Shakespeare, 1799 wurde Puškin geboren. In einem Interview aus dem Jahr 1967 wies Nabokov unmissverständlich auf die eminente Position dieser beiden Autoren hin: »Pushkin’s blood runs through the veins of modern Russian literature as inevitably as Shakespeare’s through those of English literature.«12
Nabokov gab diese offensichtliche Selbststilisierung allerdings bald auf, und zwar zugunsten eines anderen Vorbilds, das bereits in seinem großen Roman Die Gabe und in der Autobiographie Speak, Memory einen prominenten Platz einnimmt – seines Vaters.
12 | Appel, Alfred: »An Interview with Vladimir Nabokov«, in: L.S. Dembo: Nabokov. The Man and his Work, Madison: University of Wisconsin Press 1967, S. 19-44, hier S. 20.
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Abbildung 4: Ausweisfotos von Nabokovs Vater und Nabokov
Quelle: Andrew Field: Nabokov. His Life in Part. New York 1977, 208.
Es gibt ein wenig bekanntes Bild aus den späten vierziger Jahren, in denen Nabokov einen Schnurrbart trägt. Ein Vergleich mit einem Porträt seines Vaters macht deutlich, wie stark hier die Anlehnung an den Habitus des Vaters ist. In Speak, Memory erscheint das aristokratische Leben im russischen Elternhaus als direkter Ausdruck des göttlichen Wollens des Vaters. Neben der alles überragenden Gestalt des Vaters wird sogar die Venus von Milo auf dem Treppenabsatz zu einer »armlosen Göttin«.13 Es ist bezeichnend, dass auch Nabokovs erster Biograph Andrew Field sein Vertrauen dadurch gewann, dass er ihm ein seltenes antiquarisches Buch des Vaters als Geschenk überreichte. Spätestens mit dem Welterfolg von Lolita 1955 war aber klar, dass Nabokov die Präsentation seines Ich nicht mehr an tote Vorbilder anlehnen konnte. Gleichzeitig blieb seine eigene Biographie unerzählbar. Nabokov hatte schon in einem Festvortrag zu Puškins 100. Todestag 1937 erklärt, man könne keine fiktionalisierten Biographien schreiben. Jeder auch noch so wohlgemeinte Versuch in dieser Richtung produziere nur einen »monströsen Witz«, indem das Leben des Dichters in ein »Pastiche seiner Kunst« und der Mensch in eine »makabre Puppe« verwandelt werde.14
13 | Nabokov, Vladimir: Speak Memory, S. 146. Vgl. Diment, Galya: »Nabokov’s Biographical Impulse: Art of Writing Lives«, in: Julian W. Connolly (ed.): The Cambrdige Companion to Nabokov, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2005, S. 170-184, hier S. 178. 14 | Nabokov, Vladimir: »Pouchkine ou le vrai et le vraisemblable«, in: La Nouvelle Revue française 25/282 (1937), S. 362-378.
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Genau diesen Mechanismus wandte der späte Nabokov auch auf seine eigene Biographie an. Nicht nur in seinen beiden letzten Romanen, sondern auch in seinen Fotoporträts spielte er den Exzentriker, damit kein Biograph seine Identität verfälschen konnte. Das Groteske kann nicht noch weiter verzerrt werden. Berühmt geworden sind die Fotos, auf denen der alte Nabokov in Bubenmanier mit verbissener Miene einem Schmetterling nachjagt. Abbildung 5: Nabokov auf Schmetterlingjagd
Quelle: Horst Tappe: Nabokov. Basel 2001, 45.
Die Selbstparodie, die ja auch als Subtext in dem »Apostrophes«-Interview von 1975 präsent ist, muss wahrscheinlich letztlich als Ironisierung einer problematischen Selbstwahrnehmung gedeutet werden. Nabokov hielt sich für den bedeutendsten lebenden Prosaautor der Weltliteratur, dem aber in seinen letzten Jahren weder vom Publikum noch von den zuständigen Institutionen (nämlich der Schwedischen Akademie) die ihm gebührende Würdigung dargebracht wurde. Die Option des Habitus des verkannten Genies schied für ihn aus; deshalb wählte er eine Doppelstrategie: Für die Wissenden war er VN (ein hermetisches Konstrukt aus den Initialen seiner Frau Véra Nabokov und sei-
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nen eigenen), für die Unwissenden war er ein sympathischer, aber leicht verrückter Schmetterlingsjäger. Die Bedeutung der Chiffre VN zeigt sich auch daran, dass Nabokov in einem wenig bekannten Interview darauf hingewiesen hat, dass im ersten Titel seiner Autobiographie Conclusive Evidence die Doppelinitialen VN sogar gespiegelt vorkommen: nv-vn. Ganz am Schluss seines Lebens fand Nabokov noch einen letzten Ausweg für die problematische Präsentation seines Ich: die Selbstzerstörung. In seinem letzten Romanfragment, das kürzlich unter großem Getöse veröffentlicht wurde, spielt Nabokov mit dem Experiment, sich selbst wegzudenken. »I hit upon the art of thinking away myself, my body, my being, mind itself. To think away thought – luxurious suicide, delicious dissolution! Dissolution, in fact, is a marvelously apt term here, for as you sit relaxed in this comfortable chair […] and start destroying yourself, the first thing you feel is a mounting melting, from the feet upward.«15
Dass man diese Passage als Orgasmus zu lesen hat, wird auf einer anderen Karte vorbereitet: »My sexual life is virtually over, but –«16 Das ist die letzte Pointe von Nabokovs Selbstpräsentation. Die mentale Selbstvernichtung ruft als Umkehrung des sexuellen Zeugungsakts denselben Lustgewinn hervor und hinterlässt nichts als eine spiegelblanke Fläche, in der sich der Leser wiedererkennen kann.
15 | Nabokov, Vladimir: Das Modell für Laura (Sterben macht Spaß), Reinbek: Rowohlt 2009, S. 270. 16 | Ebd., S. 228.
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I. Was soll man sich unter »Spektakularisierung der Literatur« vorstellen, mit Hinblick auf Guy Debords Begriff der »Gesellschaft des Spektakels«?1 Damit ist nicht allein ihr ökonomischer Kontext gemeint, ihre Marktorientierung oder die Unvermeidlichkeit des Fernsehens, um heutzutage bekannt zu werden. Das audiovisuelle Marketing ist zwar eine Rahmenbedingung der literarischen Praxis, bringt jedoch nicht notwendigerweise neue Praktiken (Schreibweisen) hervor. Balzac, Hugo oder Zola haben das Geld jedenfalls auch nicht verachtet, oder sogar mit ihren Romanen welches verdient. Umgekehrt kann man sich aber nicht sicher sein, ob diese Rahmenbedingungen der Literatur sie nicht eben doch tangieren. Aus dieser Perspektive fängt die Spektakularisierung der Literatur genau in dem Moment an, in dem sie zur Vermarktung genutzt und in Form und Inhalt grundlegend von ihren Rahmenbedingungen bestimmt wird. Es handelt sich hierbei trotz allem um ein relativ neues Phänomen, denn ihm ging eine gewisse Evolution der Machtverhältnisse zwischen den Medien voraus, präziser gesagt eine Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen Printmedien und audiovisuellen Medien, das von Régis Debray als Übergang von der mit Gutenberg beginnenden Graphosphäre zur Videosphäre beschrieben wurde.2 Dieses Umschwenken führt, wie wir wissen, zwar nicht zum Verschwinden des Buches oder des Geschriebenen an sich, aber zu seiner Zurücksetzung auf einer Skala der Macht und Autorität. Offensichtlich verliert das Geschriebene vor allem an Autorität, seit die Videosphäre sich ausbreitet und seit Beginn der 1970er Jahre auf politischer und kultureller Ebene von einer dominanten Position profitiert.
1 | Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels (1967), Berlin: Tiamat 1996. 2 | Debray, Régis: Cours de médiologie générale, Paris: Gallimard 1991 und Debray, Régis: Vie et Mort de l’image. Une histoire du regard en Occident, Paris: Gallimard 1995.
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Die Spektakularisierung der Literatur beginnt mit dieser Verschiebung und dem daraus resultierenden Verlust der Autorität, den man auch als Fremdbestimmung durch eine der Buchkultur fremde Mediasphäre (eben die Videosphäre) beschreiben kann. Für Hugo oder Zola ist die Marktorientierung kein Problem, weil die Autorität des Geschriebenen im 19. Jh. unangetastet bleibt. Sie gerät erst etwa hundert Jahre später ins Schwanken, mit der Übertragung der politischen, kulturellen und intellektuellen Autorität des Geschriebenen auf das Audiovisuelle, mit dem Verschwinden der Autoritätsfigur des Schriftstellers, an dessen Stelle Animateur-Experten treten, deren Begabung vor allem in medialer Präsenz liegt, in ihrer Fähigkeit, in einer Ökonomie der Sichtbarkeit zu bestehen.3 Den Autor gibt es noch, aber hat er noch Autorität? Will er sich durchsetzen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich die Spielregeln der kathodischen Präsenz zum Zweck zu machen. Auf diese Art und Weise wird seine Praktik nach und nach, vielleicht von ihm selbst unbemerkt, von einem der Sache fremden Medium konfiguriert, das aber mittlerweile bezüglich der Machtproduktion und Autorität überlegen ist, so wie das Kino in seinen Anfängen vom Theater oder die Photographie von der Malerei konfiguriert wurde. Ein Autor, der gehört werden will, muss sich vor allem sehen lassen können. Gut schreiben zu können ist jedenfalls kein sicherer Vorteil mehr. Man muss hier gleich dem grundlegenden Einwand vorbeugen, dass die eben zusammenfassend beschriebene Entwicklung nicht die gesamte Literatur betrifft, dass diese sich auch auf alle möglichen Arten ihrer Spektakularisierung entgegensetzt. Das ändert aber nichts daran, dass die Tendenz zur Spekatakulisierung besteht, und das sie etwas Unwiderrufliches hat. Davon kann man sich weiter überzeugen, wenn man sich die Entwicklung von Fernsehsendungen, die der Literatur gewidmet sind, näher anschaut. Zwar stellen diese nur einen Teil des Problems dar, diese Entwicklung zeugt aber symptomatisch von der Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen dem Schreiben und den televisuellen Bildern, wie sie Patrick Tudoret vor kurzem analysiert hat.4 In Zeiten der »Paläo-Television« (von den Anfängen bis Ende der 60er Jahre) stand das Fernsehen noch deutlich im Dienst der (großen) Autoren, kam vornehmlich zu ihnen nach Hause, hielt sich respektvoll an Interviews mit den Meistern und murrte nicht über Lesungen von Texten. Mit dem Aufkommen des Zeitalters der »Neo-Television«, das mit den Anfängen des Farbfernsehens zusammenfällt, also dem Moment, den Debray als Beginn der Videosphäre identifiziert, kehren die Machtverhältnisse sich um. Seitdem ist es Sache des Autors, sich ans Fernsehen zu wenden und in typischen Fernsehformaten à 3 | Heinrich, Nathalie: De la Visibilité. Excellence et singularité en régime médiatique, Paris: Gallimard 2012. 4 | Tudoret, Patrick: L’écrivain sacrifié. Vie et mort de l’émission littéraire, Paris: Ed. Le Bord de l’eau 2009.
Die Spektakularisierung der Literatur
la Talkshow eine gute Figur abzugeben. Das berühmteste Beispiel im französischen Fernsehen bleibt die Sendung Apostrophes, die von 1975 bis 1990 von Bernard Pivot moderiert wurde und das literarische Feld in Frankreich maßgeblich geprägt hat. Mit dem in letzter Zeit zu beobachtenden Übergang zur »Super-Television« (oder »Fernseh-Unterhaltung«) ist die Umkehrung komplett: immer noch Talkshows, über alles außer Literatur, in denen der »Schriftsteller«, der mittlerweile genauso wie die anderen Gäste (Schauspieler, Sportler, Politiker, Sänger usw.) im Dienst des Animateurs steht, aufgefordert ist, eine möglichst unterhaltsame »Show« voll derber Witze und Spötteleien zu liefern, zumindest falls ihm etwas daran gelegen sein sollte, wieder eingeladen zu werden. Eine Sendung wie Literaturclub, bei der wirklich noch die Literatur im Zentrum steht, ist in diesem Sinne als eine absolute Ausnahme zu betrachten, die sich nur durch die besonderen Verhältnissen des Schweizer öffentlichrechtliches Fernsehen erklären lässt. Man wird nun sagen, dass es sich hierbei wieder nur um Rahmenbedingungen handelt, die die Literatur nicht nachhaltig berühren. Ausgangspunkt ist aber hier gerade, dass diese Rahmenbedingungen die Literatur tiefgreifend erschüttern. Es ist nicht zu übersehen, dass das Audiovisuelle im weitesten Sinne eine autobiographische Wende der Literatur eingeläutet hat, inklusive aller möglichen Formen des Schreibens über sich selbst, vom Selbstporträt oder der Autofiktion bis hin zu den zahlreichen mehr oder weniger autobiographischen Romanen. Wieviel hundert Autoren mussten sich in der Sendung Apostrophes fragen lassen, ob ihre Romane autobiographisch inspiriert seien? »Ja, vielleicht ein bisschen, zum Teil, aber ich sage Ihnen nicht genau, worin. Auf jeden Fall sind es meine inneren Wünsche und Fantasien, ich bin hier, um von ihnen zu zeugen, um zu beweisen, dass sie leibhaftig sind, dass sie zu einer präsentablen und präsenten Person gehören.« Sinngemäß lassen sich die meisten Antworten in etwa so zusammenfassen und in ihnen konfiguriert sich ein literarisches Genres auf das ich zurückkommen werde: die Autofiktion. Unabhängig von der eventuellen autobiographischen Dimension ihrer Romane haben die Autoren jedenfalls seitdem die merkwürdige Angewohnheit, von ihren Figuren zu sprechen, als wären sie Bekannte, die sie skrupellos durchs Schlüsselloch beobachtet hätten. Schließlich sind sie mit einem eingeweihten und etwas verloren wirkenden Gesichtsausdruck sogar unschlüssig über die Zukunft ihrer Figuren: werden sie nach dem Ende der Geschichte glücklich, finden sie einen Ausweg, werden sie sich von dem Drama erholen? Die ganze Stärke Bernard Pivots bestand darin, den Anschein zu erwecken, dass er sich wirklich für solche Fragen interessierte. Man kann sie für reine Spekulationen im Nachhinein halten, aber schreibt man einen Roman auf die gleiche Weise, wenn man sich gemäss den Auflagen der medialen Präsenz energisch mit seinen Figuren identifiziert statt sie aus der Distanz eines rhetorischen Bewusstseins zu betrachten, wie es der Literatur eigen ist? Man könnte
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wetten, dass die Literatur hierbei vor allem ihre grundlegende Ironie verliert, ihr schönes reflexives Gewissen. Aus dieser Perspektive markieren das Ende der 70er und der Beginn der 80er Jahre –jedenfalls im französischen Bereich5 – eine Autobiographisierung der Literatur – entschuldigen Sie die Gewichtigkeit dieses Begriffs. Mit Beginn der 80er Jahre entdeckten viele Autoren (wieder), dass auch sie ein Leben hatten, nachdem sie lange genug das Gegenteil behauptet hatten. So erfährt man, dass Alain Robbe-Grillet in seinen Romanen immer nur über sich selbst gesprochen hat.6 Philipp Sollers, der sich seit Femmes in Selbstbespiegelungen versuchte, schreitet in seinem Portrait du joueur7 deutlich zur Tat. Marguerite Duras knackt 1984 mit L’Amant8 den Jackpot, präziser gesagt den Prix Goncourt, eine Premiere in der Geschichte der an Romane vergebenen Preise. Die Wiederauferstehung des Autors ist spektakulär, das lässt sich jedenfalls sagen. Man muss sagen, dass er von weither zurückkam. Der Tod des Autors, durch Barthes und Foucault verbreitet 9, oder vor ihnen von Blanchot10 oder gar Mallarmé, stand zu Beginn der 70er Jahre noch hoch im Kurs. Das Ich war verachtenswert und vor allem sprach es nicht selbst, sondern die Sprache als solche, das Unbewusste, die Struktur, das Andere, die anderen usw.11 Die Autorität des Autors bestand entsprechend in seiner Fähigkeit, hinter diesem merkwürdigen Ding zu verschwinden, das man Text nannte und das, so sagte man, aus Stimmen gewebt war, die nicht seine eigenen waren. Angesichts der beeindruckenden Fähigkeit zur Wiederauferstehung, die einige zu dieser Zeit energisch tote Autoren seither bewiesen haben, kann man schätzen, dass der Slogan vom Tod des Autors Teil einer Widerstandsbewegung, einer Verschwö5 | Im Bereich der deutschen Belletristik ist eine ähnliche Entwicklung festzustellen. In dem angel-sächsischen Raum vermutlich weniger, weil dort einerseits die Autorschaft schon seit viel längerer Zeit »professionalisiert« oder »standardisiert« wurde, andererseits viel weniger von einer durch das Fernsehen eigeleitete Ökonomie der Sichtbarkeit abhängt. 6 | Robbe-Grillet, Alain: »Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi«, in: Le Voyageur, Paris: Seuil 2011, S. 273-285. 7 | Sollers, Philippe: Portrait des Spielers, übers. von Hans Thill, Heidelberg: Wunderhorn 1992. 8 | Duras, Marguerite: Der Liebhaber, übers. von Ilma Rakusa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985. 9 | Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185-193. und Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Ebd., S. 198-229. 10 | Blanchot, Maurice: L’Espace littéraire, Paris: Gallimard 1955. 11 | Kaufmann, Vincent: La Faute à Mallarmé. L’aventure de la théorie littéraire, Paris: Seuil 2011.
Die Spektakularisierung der Literatur
rung – also einer Zurückweisung – war, die sich gegen die künftige Spektakularisierung der Literatur richtete. Dies gilt übrigens auch für die gesamte theoretisch-reflexive Konstellation, in der dieser Diskurs sich etablierte.12 Schließlich opferte man lieber den Autor, als seine Unterordnung in einem televisuellen Regime zu akzeptieren, das auch Banalisierung bedeutete. Und man sieht heute, wie weit sie gehen kann. Ein glorreiches, rentables Opfer ist um so nützlicher, als dass es eine Abwesenheit, eine Ohnmacht beschwört: eben die des Autors, wie er von Hugo bis Sartre existieren konnte, autonom, ausgestattet mit einer angenehmen Autorität und einer sicherlich mehr oder weniger imaginären politischen Schlagkraft, aber so lange man daran glaubt – was soll’s.13 Rückblickend erscheint das Theoretisch-Reflexive als Ehrenrunde. Wie soll man sich tote Autoren in einem Fernsehstudio vorstellen? Der Zuschauer würde sich buchstäblich zu Tode langweilen. Wie könnten Autoren die Studios besetzen und den Moderatoren an den Kopf werfen, dass sie eigentlich gar nicht da sind und dass es die Sprache selbst ist, die spricht? Die mediale Präsenz ist mit dem Tod des Autors inkompatibel und ihre Verführungskraft hat dem Totgesagten, einen Todesstoß versetzt: »Aufgestanden, die Toten, bewegt euch oder verschwindet, erst aus den Studios und dann aus den Verlagsprogrammen.« Die Spektakularisierung etabliert auch eine Kultur der Gerichtssprechung und des Geständnisses, die nicht nur von Ihnen fordert, präsent zu sein, sondern es auch zu beweisen, über Ihre Präsenz Bericht zu erstatten, das heißt, Ihre mediale Präsenz mit Ihrer Person zu bezahlen. Sichtbarkeit ist kostbar, hat also einen Preis: Seien Sie vertraulich, deklinieren Sie Ihre Identität, Ihre Intimität, rechtfertigen Sie Ihre Präsenz. Sie wollen eingeladen werden? Dann erzählen Sie uns Ihre Beziehungskrisen und Ihre intimsten Erfahrungen. Es soll etwas saftiges, autofiktives sein und nicht etwa Das Schloss, Murphy oder gar Madame Bovary, außer Sie können uns überzeugen, besser noch beweisen, dass Sie selbst Das Schloss, Murphy oder Madame Bovary sind. Es ist eine Illusion, sogar ein schwerwiegender Fehler, zu glauben, die mediale Präsenz sei gratis unter dem Vorwand, dass das Betreten der Fernsehstudios keinen Eintritt kostet. Man muss das Recht, sich dort aufzuhalten, sogar sehr teuer bezahlen, sozusagen in Pfund Fleisch, die sich durch das Abgleiten in die Telerealität schnell in Kilo Fleisch verwandeln. Man zahlt in mehr oder weniger kunstvoll zugeschnittenen Scheibchen der preisgegebenen Intimität (bei der französischen Schriftstellerin Christine Angot vielleicht ein bisschen kunstvoller als in Loft Story (in Deutschland: Big Brother), aber letztlich sind das nur noch Nuancen). 12 | Vgl. Ebd. 13 | Debray, Régis: Le Pouvoir intellectuel en France, Paris: Ramsay 1979 und Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.
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II. Konzentrieren wir uns jetzt auf das Beispiel der Autofiktion – eines der wichtigsten Symptome dessen was hier als Spektakularisierung beschrieben wird. Apostrophes startet 1975, zwei Jahre nach der Vorläufersendung Ouvrez les guillemets. Die neuen Philosophen (Les Nouveaux Philosophes: Bernard Henri-Lévy, André Glucksmann usw.) betreten 1976 die Bühne. Somit wird parallel das Zeitalter der Spektakularisierung der Intellektuellen eingeläutet. Die Bewegung des Strukturalismus und dann des Poststrukturalismus veraltet, wie man sagt. Serge Doubrovski erfindet 1977 die Autofiktion, oder zumindest den Begriff. Seine Definition auf der vierten Umschlagseite von Fils spekuliert mit einem Übergangs-Genre: »Autobiographie? Nein, das ist ein Privileg der Wichtigen auf dieser Welt an ihrem Lebensabend und in einem eleganten Stil. Fiktion von streng genommen realen Ereignissen und Fakten, wenn man die Autofiktion versteht als Übertragung der Sprache eines Abenteuers auf das Abenteuer einer befreiten Sprache, außerhalb von Weisheit, außerhalb der Syntax des Romans, alt oder neu. Zusammentreffen, Wortketten, Alliterationen, Assonanzen, Dissonanzen, Schreibweisen vor oder nach der Literatur, konkret, wie man sagt: Musik.«14
Offensichtlich hat Doubrovsky noch einen Fuß in der Tür der textuellen AvantGarde: das freie Spiel mit der Sprache des Abenteuers und dem Abenteuer der Sprache erinnert an die damals unter Schriftstellern weitverbreiteten Theoretisierungen, zum Beispiel im Dunstkreis der Zeitschrift Tel Quel. Gleichzeitig aber kündigt das Cover von Doubroskys Buch einen grundlegenden Bruch mit der theoretisch-reflexiven Bewegung an und mit der Priorität, die diese der Sprache und der Arbeit an der Schreibweise einräumt. Fils ist zwar keine Autobiographie, weil diese ein Genre ist, das »den Wichtigen dieser Welt an ihrem Lebensabend« vorbehalten bleibt. Aber im Gegensatz dazu lässt sich ableiten, dass die Autofiktion allen zugänglich ist, was ihr Schicksal und der seit ihrer Lancierung anhaltende Erfolg zu bestätigen scheinen. Man kann in diesem Sinne sogar noch weiter gehen: die Autofiktion ist allen zugänglich und im gleichen Zug stellt sie die Quintessenz, oder zumindest das Symptom der derzeitigen Demokratisierung der Literatur dar, die untrennbar mit ihrer Spektakularisierung verbunden ist. Um diese Spektakularisierung zu praktizieren, muss man kein VIP sein und auch kein großer Autor, man muss nicht einmal gut schreiben können und erst recht nicht alt sein, im Gegenteil. Eine zwanzig bis dreißigjährige Autorin, die bevorzugt alle ihre intimen Angewohnheiten ausbreitet und sich nichts daraus macht, jeden zweiten Satz zu vermasseln, ist 14 | Doubrovsky, Serge: Fils, Paris: Gallimard 2001, S. 10.
Die Spektakularisierung der Literatur
im Sinne der kathodischen Darbietung in jedem Fall einem zwar renommierten großen Autoren vorzuziehen, der wahrscheinlich zu viele komplizierte Sachen sagt, mit denen er das Publikum einschläfert. Spektakularisierung, Demokratisierung, Autobiographisierung – das ist nicht unbedingt das goldene, sondern vielmehr das Bermuda-Dreieck der zeitgenössischen Literatur, in dem sie zu verschwinden droht. In einem spektakulären System gibt es keinen Platz für große Autoren, die per Definition mit Prestige und Autorität ausgestattet sind, weil die Autorität – mit der Beständigkeit, die sie voraussetzt – auf der Seite des Spektakels liegt. Sie verkörpert sich beispielsweise in den Talk-Show-Moderatoren oder den Animateuren von Fernsehspielen. Die Aufgabe der Autoren im Zeitalter der Videosphäre ist es nicht mehr, groß zu sein, sondern sich in Scharen auf dem Laufsteg zu präsentieren, einer nach dem anderen, für die von Warhol angekündigte Viertelstunde Ruhm – von der ich befürchte, dass sie sich in vielen Fällen auf 5 Minuten reduziert. Wenn jemand für diese 5 Minuten ins Fernsehen vorgedrungen ist, ist es nur logisch und konsequent, dass er versucht, die mediale Präsenz durch einen Diskurs über sich selbst zu verstärken und ununterbrochen zu bestätigen, dass es auf jeden Fall er selbst ist, der sich hier präsentiert. Das ist effizienter und entspricht dem, was von ihm oder ihr erwartet wird; es ist das Gesetz des zu seiner vollen Reife gelangten emanzipierten Fernsehens, das sich seiner Macht sicher ist. Es ist das Gesetz des Bildes, aber auch seiner Demokratisierung. Über was außer sich selbst soll man in dem Moment auch sprechen, wenn große Autoren durch viele kleine ersetzt werden? Die Hoheit des (großen) Autors lässt sich schlecht teilen, welcher Natur sie auch immer ist. Die Demokratisierung der Literatur reduziert die Wirkungskraft der Worte des Schriftstellers erheblich, der früher daran gewöhnt und autorisiert war, im Namen der anderen zu sprechen, auch wenn diese in aller Regel nicht darüber informiert waren. Das literarische Feld ist heutzutage ein wenig eng geworden: Sie haben hier nur noch das Recht auf fünfzehn Minuten Ruhm, anders als ein Victor Hugo, dem nicht nur lebenslanger, sondern quasi ewiger Ruhm beschieden war. Sie werden also Ihre Zeit nicht damit verschwenden, über andere zu sprechen. Die anderen können sich ja selbst anstrengen, um auch gesehen zu werden.
III. Nachdem der Rahmen der Spektakularisierung gesteckt wurde, kommen wir zum Schlimmsten – den Inhalten. Man muss sich fragen: was ist ein gutes Spektakel? Was unterscheidet ein gutes von einem schlechten Spektakel? Mir scheint, dass ein gutes Spektakel das Medium, in dem es übertragen wird, feiert und dessen Prestige und Macht reflexiv bestätigt. Wenn sich das Spektakel gemäß Debord dauernd selber feiert, sich als das einzig Mögliche oder Gute
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inszeniert, heisst das freilich auch, dass es sich in seiner Medialität feiert. Es gibt Klassiker dieses Genres: es ist der life übertragene unendliche Todeskampf eines kleinen Mädchens, das in Südamerika langsam im Schlamm versinkt. Es ist die Direktübertragung der Bombardierung des Irak durch amerikanische Flieger oder der Sender CNN, der alle zehn Minuten die Fehlerlosigkeit eines neuen Satelliten verkündet, der es erlaubt, die Berichterstattung über das Erdbeben in Haiti zufriedenstellend abzudecken. So viele Verherrlichungen der Macht des Fernsehens, so viele gelungene Spektakel. Wie lässt sich das auf das literarische Feld übertragen, d.h. auf das mediale Management von Individuen, die nebenbei Autoren sind? Wohin führt das, wenn sie es eben nur noch nebenbei sind? Das Spektakel ist erfolgreich, wenn die eingeladenen Statisten sich brav in seinen Dienst stellen und damit die Organisation der Vorführung und der Geständnisse unterstützen – die Macht des Spektakels liegt in dieser Rolle als Scharfrichter. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen? Was rechtfertigt Ihre Präsenz, ihre Sichtbarkeit, den Platz, den Sie implizit jemand anderem wegnehmen? Was haben Sie zu beichten? Welchen Preis sind Sie bereit zu zahlen? Wie weit würden Sie in dieser Versteigerung der Intimität gehen? Welche Erniedrigungen lassen Sie über sich ergehen, denn Ihre Geständnisse werden Ihnen in erniedrigenden, erpresserischen Prozeduren abgerungen? Und umgekehrt: welche Erniedrigungen fügen Sie anderen zu, wen zeigen Sie an, wen verklagen Sie, natürlich mit den entsprechenden Pseudonymen versehen, damit Sie keine juristischen Konsequenzen riskieren15? Diese Fragen strukturieren mittlerweile das literarische Feld, haben aber die Besonderheit sich nicht auf dieses zu beschränken. Vielmehr ist das literarische Feld von dieser Ökonomie der Aufmerksamkeit und der Sichtbarkeit bestimmt, die ein Merkmal der Produktion medialer Präsenz ist. In den mehr oder weniger »trashigen« Talkshows werden letztlich dieselben Fragen diskutiert, wie in den Reality-Shows, in denen neben Erniedrigungen und Einblicken in Intimitäten aller Art die Logik der Vorführung durch das rituelle, wöchentliche Opfer eines Teilnehmers selbstreferentiell gespiegelt wird (»Wer darf im Scheinwerferlicht bleiben, wer ist der oder die Auserwählte?«). Leute zu filmen, die bereit sind, sich erniedrigen zu lassen, indem sie gegrillte Spinnen essen, auf allen vieren oder auf dem Kopf laufen, weil ihre 15 | Wobei die Pseudonymität manchmal nicht genügt. Eben ist Christine Angot, eine der führenden Schrifstellerinnen im Bereich der Exhibition des Intimen (mit zwei »Romanen« über den durch sie erlittenen Inzest), zu 40.000 Euro Schadenersatz verurteilt worden, weil sich in ihrem Roman Les Petits eine gewisse Elise Bidoit auf eine (zu) erkennbare Weise inszeniert hat. Auch Marcela Iacub ist mit ihrer Erzählung über ihre Affäre mit Dominique Strauss-Kahn (Iacub, Marcela: Belle et Bête, Paris: Stock 2013) nicht ganz ohne Schaden davongekommen: das sind sozusagen die natürlichen Gefahren der Hinrichtungsliteratur.
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Füsse blutig sind und vor allem, weil sie alles tun würden, um in der Sendung zu bleiben, ist gut, aber noch konsequenter ist es, diesen Effekt der Erniedrigung mit der Inszenierung einer rituellen und symbolischen Hinrichtung der Kandidaten zu verstärken, falls man nicht sogar wahrhaftige KannibalismusSzenen in die Reality-Shows integriert. Allgemeiner gesprochen ist die Kongruenz zwischen den in den Talkshows besprochenen Themen mit der Autofiktion auffallend. In allem, was es zu lesen oder zu sehen gibt, schwankt man einerseits zwischen dem Register des Geständnisses und des Opfers, zwischen der mehr oder weniger schmutzigen Beichte, die denjenigen, der sie ablegt mit einer Aura der linkischen Heiligkeit umgibt (die autofiktiven Autoren sind die zeitgenössische Version des »poète maudit«) und andererseits der symbolischen Hinrichtung, Beleidigung und Anklage von Verwandten, Partnern usw. Mein Vater hat mich sodomisiert16, mein Vater hätte meine Mutter fast getötet17, mein Vater hat meine Mutter getötet und sich dann selbst umgebracht18, ich bin, oder war drogenabhängig, manchmal psychotisch und habe mich prostituiert19, ich habe Aids, aber ich bin nicht der Einzige20, ich habe heimlich abgetrieben21, meine Frau hat sich umgebracht und der Gipfel ist, dass sie nicht mal abgewartet hat, bis ich meine letzte Autofiktion über unsere niemals endende Beziehungskrise fertigstellen konnte22; ich habe meinen Sohn verloren;23 oder, in einem dokumentarischen Stil, der die Zierereien der Autofiktion in ihr Gegenteil verkehrt, die sexuellen Abenteuer der Catherine Millet.24 Im Register des Aufopfernd- Beschämenden ist die deutsche Autorin Charlotte Roche, von Beruf Fernsehmoderatorin, in letzter Zeit vielleicht am weitesten gegangen. Ihre Biographie präzisiert, dass sie sich in jüngeren Jahren aus künstlerischen Gründen selbst verstümmelt hat und ihr Buch Feuchtgebiete25 hat in Deutschland fast ein Jahr lang die Bestsellerlisten angeführt. Es handelt 16 | Angot, Christine: Inzest, übers. von Christian Ruzicska/Colette Demoncey, Köln: Tropen Verlag 2001. 17 | Ernaux, Annie: La Honte, Paris: Gallimard 1997. 18 | Delaume, Chloé: Der Schrei der Sanduhr, übers. von Christiane Sailer, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2004. 19 | Ebd. 20 | Guibert, Hervé: Dem Freund der mir das Leben nicht gerettet hat, Reinbeck: Rowohlt Verlag 1991. 21 | Ernaux, Annie: L’Evénement, Paris: Gallimard 2000. 22 | Doubrovsky, Serge: Le Livre brisé, Paris: Grasset 1989. 23 | Laurens, Camille: Philippe, Paris: Stock 2013. 24 | Millet, Catherine: Das sexuelle Leben der Catherine M., übers. von Gaby Wurster, München: Goldmann Verlag 2001. 25 | Roche, Charlotte: Feuchtgebiete, Köln: Dumont 2008.
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sich hierbei um eine Erzählung, die sich der detaillierten Beschreibung der Körperflüssigkeiten einer jungen Frau widmet, die sich völlig mit den Entleerungen ihrer verschiedenen Körperöffnungen identifiziert: »Ich bin mein eigener Müllschlucker. Körperausscheidungsrecyclerin.« schreibt die Autorin.26 Es würde natürlich niemandem einfallen, das »Ich« eines solchen Romans mit der Autorin Charlotte Roche zu verwechseln, auch wenn ihr rausgerutscht ist, dass es ihr lieber wäre, ihre Mutter würde das Buch nicht lesen. Vielleicht ist das übrigens ein gutes Kriterium, um die Autofiktion von einem Roman zu unterscheiden: Autofiktion ist etwas, das Mama nicht lesen soll oder als proust’sche Variante: das, was ich schreibe, wenn Mama nicht mehr da ist, um mich zu lesen. Was an dem Buch von Charlotte Roche auf jeden Fall fasziniert, ist die fast absolute Konvergenz von Phantasievorstellungen und Handlung. Man hat es hier mit einer Frau zu tun, die zu den heikelsten Phantasien in der Lage ist. Immerhin hat die Psychoanalyse uns gelehrt, dass das Sexualleben praktisch nicht lokalisierbar ist, das es eine ebenso imaginäre wie aktive Angelegenheit ist. Die spektakularisierte Literatur, das sollte dieser kurze Überblick zeigen, ist von vorne bis hinten aufopfernd. Sie besteht aus Geständnissen, die ihre Autoren zu Monstern machen: Serge Doubrovsky mit seinen mörderischen Beziehungskrisen, oder Christine Angot mit den ihrigen, die noch mit dem Sahnehäubchen der abgrundtiefen Schande des Inzest garniert sind: »Ich bin in Wirklichkeit Inderin, aus der Kaste der Unberührbaren. Ich berühre den Abschaum, und normalerweise die Toten. Die Unberührbaren berühren in Indien die Toten. Ich hingegen nur den Abschaum. Niemand will ihn mit mir berühren«27, und ein bisschen weiter hinten in ihrem Buch, um zu zeigen, dass es eine Fortsetzung der Ideen zwischen Charlotte Roche und ihr gibt: »›Inzest‹ ist wahrhaftig das Buch, in dem ich mich als einen großen Haufen Scheiße präsentiere, jeder Schriftsteller muss das einmal machen, danach sieht man weiter. […] Schreiben heißt vielleicht nichts anderes, als die große Scheiße in einem zu zeigen.«28 Hier hätte man eine provisorische Definition der spektakulären Literatur oder zumindest ihrem Lieblingsobjekt: der Scheiße. Andere Beichten, wobei die einen die anderen nicht ausschliessen, funktionieren nach einem quasi-eucharistischen Modell, das genauso aufopfernd ist, nach dem Motto: »Das ist mein Leib – für Euch gegeben.« (Lukas-Evangelium), ein leidender Körper, wohlgemerkt, der nach entsetztem Mitleid ruft. Die Passion der Heiligen Annie Ernaux, wie in L’Evènement beschrieben, eine Erzählung, die ganz einer im Jahr 1964 heimlich vorgenommenen Abtreibung gewidmet ist: »In meinem Zimmer hörte ich die Johannes-Passion von Bach. Als 26 | Ebd. S. 118. 27 | Angot, Christine: Inzest, S. 83. 28 | Ebd. S. 173.
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sich die Solostimme des Evangelisten erhob, der auf deutsch die Leiden Christi rezitierte, schien es mir, als würde meine von Oktober bis Januar durchlittene Prüfung in einer unbekannten Sprache erzählt […]. Ich lief durch die Straßen mit dem Geheimnis der Nacht vom 20. auf den 21. Januar, das wie ein heiliges Objekt in meinem Bauch lag. Ich wusste nicht, ob ich mich am Rande des Horrors oder der Schönheit befand.«29 Und ein bisschen weiter, ganz am Ende ihres Buches: »Ich habe aufgehört, in Worte zu fassen, was mir wie eine absolute menschliche Erfahrung scheint, des Lebens und des Todes, der Zeit, der Moral und des Verbotenen, des Gesetzes, eine Erfahrung, die von Anfang bis Ende durch den Körper gelebt wird […] Und das wahre Ziel meines Lebens ist vielleicht nur, das mein Körper, meine Empfindungen und meine Gedanken zu Schrift werden, das heißt zu etwas allgemein Verständlichen, die völlige Auflösung (ich betone) meiner Existenz in den Köpfen und dem Leben der anderen.«30 Das ist mein Körper, blutend, leidend, der sich entleert, und dessen Opferung durch seine Auflösung in der Schrift im Nachhinein verstärkt wird. Oder die Passion des Heiligen Guibert, der seinen leidenden, sterbenden Körper in A l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie (Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat) über die zentrale und gut benannte Episode Protocole compassionnel (Mitleidsprotokoll) bis zu L’Homme au Chapeau rouge (es liegt keine Übersetzung ins Deutsche vor) zur Schau stellt. Ich meine mich zu erinnern, aber ich konnte es nicht überprüfen, dass Hervé Guibert 1989 mit A l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie in der gleichen Sendung von Apostrophes auftauchte wie Serge Doubrovsky mit Le livre brisé. Die Saison war jedenfalls gut für life gesendete Scheintote. Diese Literatursendung war freilich der Startschuss zu Guiberts zweitem literarischen Leben, einem Leben für das große Publikum, nicht mehr so vertraulich wie das erste, in dem die französische Leserschaft angesichts der erschreckenden Magerkeit des jungen Schriftstellers zu Tränen gerührt war. Muss man daran erinnern, dass die für ihre psychoanalytischen oder erotischen Fernsehshows bekannte Produzentin Pascale Breugnot im Anschluss an diese Sendung und Guiberts Erfolg vorschlug, dass er auf Rechnung des Fernsehens, Videokamera in der Hand, einen Film über sich selbst machen sollte, über seinen sterbenden, im Verschwinden begriffenen Körper? Und dass dieser Film unter dem Titel La pudeur ou l’impudeur (engl./ internationaler Titel: Modesty and Shame) kurz nach Guiberts Tod im Jahr 1991 ausgestrahlt wurde? Diese Episode ist eine emblematisches Konzentrat, eine Allegorie der Spektakularisierung der Literatur, um so mehr, weil sie sich bei Guibert dessen bewusst zu sein scheint, da er die Effekte der Kameraeinstellungen und der Inszenierung multipliziert, die Bildeffekte, könnte man sagen,
29 | Ernaux, Annie: L’Evénement, S. 118-119. 30 | Ebd. S. 124-125.
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in einer Art Hyper-Bewusstsein des spektakulären Charakters der aufopfernden Dimension seiner Geste(n). Abschließend sollte ein Punkt angesprochen werden, der den hier zu kurz angesprochenen Autoren gemeinsam zu sein scheint und für den die zitierten Sätze von Annie Ernaux sehr repräsentativ sind. Die Autofiktion hat nur dann einen Sinn, wenn sie eine erlebte Erfahrung zumindest widerspiegelt und von ihr mit Authentizität beladen wird – das ist das bereits erwähnte Pfund oder Kilo Fleisch. Sie lässt sich im Fall von Annie Ernaux explizit festmachen und legitimieren, im Fall von Guibert ist sie mehrdeutiger, was eine seiner Figuren – Foucault, der das Pseudonym Muzil verpasst bekommt – sagen lässt, dass alles, was Guibert passiert, falsch ist; oder auf verleugnende Weise bei Christine Angot, die unablässig ihre Spuren verwischt (was DocGyneco, seines Zeichens Rapper, jedoch nicht daran hindert, den Eindruck zu haben, dass es sich in Le marché des amants31 um ihn und seine sexuellen Heldentaten handelt, aber zweifellos versteht er nicht viel von Literatur). Wie auch immer, diese obligatorische Referenz an etwas Erlebtes scheint mir essentiell zu sein. Sie stellt die Autofiktion als einen Diskurs dar, der untrennbar an die Authentizität einer erlebten Erfahrung und die Einzigartigkeit eines Subjekts gebunden ist, das bei Gelegenheit ein anderes Subjekt des psychischen Plagiats oder des Raubs der Einzigartigkeit bezichtigt (das ist die Debatte zwischen Camille Laurens und ihrer Kollegin Marie Darrieussecq, die durch die erste des »psychischen Plagiates« angeklagt wurde32). Das Spektakel ist mit diesem Index der Authentizität eng verknüpft, mit der Bezeugung der Einzigartigkeit, die letztlich aus einem religiösen Register zu stammen scheint. Die Authentizität ist der Gegenpart des Anscheins, den sie unaufhörlich erweckt. In diesem Sinne ist das Spektakel nicht nur das komplette Gegenteil der Wahrheit, sondern auch der Fiktion. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass das Spektakel die Fiktion nur toleriert, wenn diese von einem Subjekt stammt, dass allein auf sich selbst zurückverweist, wenn sie Autofiktion ist, authentisch zertifiziert, erlebt, Lite-Realität, wie man Tele-Realität sagen würde. Ich werde das mit der folgenden Formel zusammenfassen und bitte Sie, ihre Banalität zu entschuldigen: das Spektakel muss man gesehen haben, um daran glauben zu können. Eine letzte Bemerkung: man müsste die Analyse sicherlich verfeinern und zwischen Texten unterscheiden, die wirklich die Ausführung eines spektakuläres Programms sind und solchen, die ihm gleichzeitig kritisch gegenüber31 | Angot, Christine: Le marché des amants, Paris: Seuil 2008. 32 | Camille Laurens, Autorin von einer autobiographischen Erzählung über den Tod ihres Sohnes (Philippe) hat Marie Darrieussecq vorgeworfen, sie in einem Roman, der auch den Tod eines Kindes erzählt (Tom est mort), »psychisch« plagiert zu haben. Darrieussecq hat diese Anklagen insbesondere in Rapport de Police (Paris: Ed. POL 2010) zurückgewiesen.
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stehen oder zumindest von einem gewissen Bewusstsein des Spektakulären zeugen. Und wie auch immer diese Unterschiede aussehen, es sind letztlich die Autoren, die ich erwähnt habe und noch viele andere, die es uns erlauben, zu verstehen, oder besser zu verstehen, wie die Mechanismen, die man hier zu beschreiben versucht hat, funktionieren. Sie sind Teil des Spektakels, aber sie schreiben auch darüber. An dieser Stelle also kein moralisches Werturteil: die Autofiktion und die, die sie ausüben gehören zu unserer Zeit. Was kann man also anderes von ihnen erwarten? Übersetzung aus dem Französischen von Sophie Rudolph.
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»Das Werk ist mehr als das Werk: Das Subjekt, das schreibt, ist Teil des Werks.« Michel Foucault (DE IV/343: 744)1
I. E in vergessener Te x t 2 Im Mai 1961 erschien bei der Librairie Plon in Paris das Buch Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique. Es umfasste stattliche 673 Seiten und zeigte auf dem Umschlag das Blatt 26 aus Francisco Goyas Capriccios mit zwei Frauen, die ziemlich verrückt wirkten, weil sie sich Stühle auf den Kopf gerückt hatten, sowie zwei Männern, die sie grinsend betrachteten. Das Vorwort unterschrieb der Autor mit dem Vermerk »Hambourg, le 5 février 1960«,3 und dieser Ort musste in Pariser Ohren so klingen wie Vordersibirien. Zwar war der Autor schon im Sommer 1960 wieder nach Paris zurückgekehrt, doch offenbar zog er es vor, sich als Außenseiter zu zeigen, einen fernen Ort zu nennen – und 1 | Aus Foucaults Dits et Écrits (DE) wird im Folgenden durch Angabe der Bandnummer, der fortlaufenden Nummerierung der Texte und der Seitenzahl der deutschen Ausgabe zitiert. Auf die französische Ausgabe wird nur verwiesen, wenn meine Übersetzung von der dt. Ausg. abweicht; vgl. Foucault, Michel: Dits et Écrits I-IV, Paris: Gallimard 1994; ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001-2005. 2 | Die Abschnitte I, III, IV und V sind eine an vielen Stellen erweiterte Version von Thomä, Dieter: »Das wilde Faktum der Veränderung. Zum Verhältnis von Theorie und Autobiografie bei Michel Foucault«, in: WestEnd 1 (2013), S. 135-150. In den Abschnitten II und VI übernehme ich einige kurze Passagen aus Thomä: »Autorschaft zwischen Spontaneität und Liminalität. Anmerkungen zu Sartre und Foucault«, in: Lendemains 149 (2013), S. 46-63, hier S. 54f. 3 | Foucault, Michel: Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique, Paris: Plon 1961, S. XI.
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auch ein verdächtiges Datum. Der zeitliche Abstand zwischen der Datierung des Vorworts und der Veröffentlichung gab unweigerlich einen Hinweis darauf, dass dieses Werk auf dem Weg ans Licht der Öffentlichkeit Umwege hatte erdulden müssen. Tatsächlich war das Manuskript von Gallimard, dem Verlag, von dem Foucault – wie fast alle anderen Autoren – geträumt hatte, abgelehnt worden. Dem Lektor – und großen Historiker – Philippe Ariès gelang es schließlich, das Buch gegen Widerstände bei Plon durchzusetzen.4 Dem bei Erscheinen des Buches knapp 35-jährigen Michel Foucault, der zuvor nur durch einige phänomenologisch-psychologische Studien hervorgetreten war, gelang damit der Durchbruch; schon knapp zehn Jahre später zog er ins Collège de France ein. Vieles ist ungewöhnlich an diesem Buch, und viel ist darüber geschrieben worden.5 Ein Punkt, der im Wettbewerb des Ungewöhnlichen gute Chancen auf den Sieg hätte, ist allerdings in Vergessenheit geraten. Auf der vorderen Umschlagklappe der ersten Auflage fand sich eine kurze biografische Notiz, die all jenen entging, welche ein Exemplar ohne Umschlag oder aus einer späteren Auflage zur Hand nahmen. Soweit ich sehe, hat nur Didier Eribon sich kurz mit diesem Text befasst – freilich nicht in seiner Foucault-Biografie, sondern in einer späteren Aufsatzsammlung. Darin ist dieser »kleine Text«, von dem Eribon sagt, er sei »in Vergessenheit versunken«, auch abgedruckt – allerdings mit einigen kleinen Übertragungsfehlern.6 Hier folgen nun das Original und eine (eigene) Übersetzung dieses Textes: »Ce livre est de quelqu’un qui s’est étonné. L’auteur est par profession un philosophe passé à la psychologie, et de la psychologie à l’histoire. D’avoir été élève de l’École normale supérieure, agrégé de philosophie, pensionnaire de la Fondation Thiers, d’avoir fréquenté les hôpitaux psychiatriques (du côté où les portes s’ouvrent), d’avoir connu en Suède le bonheur socialisé (du côté où les portes ne s’ouvrent plus), en Pologne la misère socialiste et le courage qu’il lui faut, en Allemagne, pas très loin d’Altona, les nouvelles forteresses de la richesse allemande, d’être redevenu en France un univer4 | Vgl. Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie [1989], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 163-173; Philippe Artières/Jean-François Bert: Un succès philosophique. »L’Histoire de la folie à l’âge classique« de Michel Foucault, Caen: Presses Universitaires de Caen 2011, S. 8. 5 | Vgl. Philippe Artières u.a. (Hg.): »Histoire de la folie à l’âge classique« de Michel Foucault. Regards critiques 1961-2011, Caen: Presses Universitaires de Caen 2011. 6 | Eribon: Michel Foucault et ses contemporains, Paris: Fayard 1994, S. 61; ders.: Foucault und seine Zeitgenossen, München: Boer 1998, S. 74f. In der jüngst erschienenen, sehr instruktiven Darstellung der Publikations- und Rezeptionsgeschichte dieses Buches wird die hier zur Rede stehende Notiz gleichfalls abgedruckt, aber seltsamerweise nicht kommentiert; vgl. Artières/Bert: Un succès philosophique, S. 17.
Foucault als Schwellenwesen sitaire, l’a fait réfléchir, avec un peu de sérieux, sur ce que c’est qu’un asile. Il a voulu savoir, il veut toujours savoir quel est donc ce langage qui à travers tant de murailles et de serrures se noue, se prononce et s’échange au delà de tous les partages.« »Dieses Buch ist von jemandem, der ins Staunen kam. Der Autor ist von Berufs wegen ein Philosoph, der in die Psychologie gewechselt ist – und von der Psychologie in die Geschichte. Er war Schüler an der École normale supérieure, agrégé im Fach Philosophie und Stipendiat der Fondation Thiers; er ist in psychiatrische Krankenhäuser gegangen (von der Seite, wo die Türen sich öffnen), er hat in Schweden das sozialisierte Glück kennengelernt (von der Seite, wo die Türen sich nicht mehr öffnen), in Polen das sozialistische Elend wie auch den Mut, der dort vonnöten ist, in Deutschland, nicht weit von Altona, die neuen Festungen des deutschen Reichtums, und er ist in Frankreich an die Universität zurückgekehrt: All dies hat ihn mit ein wenig Ernst darüber nachdenken lassen, was ein Asyl ist. Er wollte wissen, er will immer noch wissen, um welche Sprache es sich eigentlich handelt, die durch so viele Mauern und Schlösser hindurch sich knüpft, sich ausdrückt und über alle Trennungen hinweg zum Austausch bringt.«
Es war damals in Frankreich nicht üblich, dass Bücher ausführliche biografische Informationen über die Verfasser enthielten. Prominent war – wenn man denn so etwas aufzubieten hatte – allenfalls die Übersicht »Du même auteur«, also die Liste früherer Veröffentlichungen am Beginn oder Ende eines Buches. Noch ungewöhnlicher als der Umfang ist jedoch der Tonfall jener Notiz auf der Umschlagklappe von Folie et déraison. Es gehört kein Wagemut dazu, um zu behaupten, dass es sich hier um die ungewöhnlichste Autorennotiz handelt, die überhaupt in einem wichtigen wissenschaftlichen Buch des 20. Jahrhunderts zu finden ist. Natürlich hat Foucault diese Zeilen, die sein Leben in kunstvoller Verdichtung zusammenraffen, selbst verfasst.7 Sie wirken wie ein Fanal, das Licht nicht nur auf das frühere Leben, sondern auch auf das spätere Werk Foucaults wirft – und dabei irritiert. Ein Autor, der später unter anderem mit der These vom Tod des Autors Furore machen wird, bringt sich in seinem ersten großen Buch in geradezu aufdringlicher Weise als Person in Stellung. Hier stellt sich jemand nicht nur vor, er stellt sich aus. Dieser kurze Text ist weit mehr als ein anekdotischer Anlass, um über das Verhältnis von Leben und Werk bei Foucault nachzudenken und dessen Form der Selbstpräsentation zu analysieren. Er ist ein bisher ungenutzter Schlüssel, mit dem sich sein Werk vielleicht in ein etwas anderes Licht setzen lässt. 7 | Eribon bestätigt dies und schreibt: »Ces lignes sont une forme originale de curriculum vitae plus qu’un exposé précis et rigoureux de ce qu’un ouvrage doit aux expériences personnelles de son auteur. Mais il est tout à fait remarquable que, dès cette date, Foucault ait voulu marquer si nettement l’imbrication profonde de sa recherche et de sa vie.« (Eribon: Michel Foucault et ses contemporains, S. 62)
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Zwei Punkte möchte ich in meinem Beitrag hervorheben. Zum ersten soll deutlich werden, dass Foucault eine Beschreibung und auch eine starke systematische Begründung für eine bestimmte Art zu leben, eine menschliche Lebensweise vorlegt, die von der Idee der Bewegung oder des Übergangs geleitet ist. Kurz gesagt: Foucault beschreibt ein Schwellenwesen.8 Zum zweiten zeigt sich, dass er von einer engen Verschränkung zwischen Leben und Werk – auch zwischen dem eigenen Leben und Werk – ausgeht: Die Philosophie ist systematisch auf die Biografie angewiesen – und umgekehrt. Die Verbindung dieser beiden Punkte liefert einen roten Faden, der sich durch Foucaults ganzes Werk zieht und über ihn hinaus für das Selbstverständnis des Menschen und des Philosophen fruchtbar zu machen ist. Bevor ich aber auf die genannten Punkte eingehe, möchte ich zeigen, wie schon die autobiografische Notiz aus dem Jahre 1961 auf sie anspielt, und einige Anspielungen entschlüsseln, die in verborgen sind. Wenn man diese Notiz liest, kann man sich vor Anspielungen auf Schwellen kaum retten – seien es nun solche, die überschritten werden, oder solche, die unüberwindlich sind. Der Text ist in geradezu kurioser Weise überdeterminiert: Foucault bringt Schwellen in sechs verschiedenen Formen ins Spiel. Er beginnt eher traditionell mit dem »Staunen«, das dem Philosophen zusteht, und versäumt nicht die Gelegenheit, gewisse äußere Erfolge wie die erlangte agrégation zu erwähnen. Jeder Eingeweihte weiß, dass es sich bei dieser Prüfung um einen rite de passage, die Überschreitung einer besonders hohen Schwelle handelt. Inzwischen ist auch bekannt, dass die agrégation als erste Schwelle, auf die angespielt wird, für Foucault mit besonderen Qualen verbunden war, die in jener Notiz verständlicherweise keine Erwähnung finden. Wohl aber werden zweitens die Schwellen erwähnt, die Foucault beim Wechsel der Disziplinen überschreitet: Sein Weg führt von der Philosophie zur Psychologie und weiter zur Geschichte. Drittens überquert er Ländergrenzen – von Frankreich über Schweden, Polen und Deutschland zurück nach Frankreich. Viertens schildert er mit Bezug auf diese Länder jeweils Situationen, bei denen Schwellen im Spiel sind. In Frankreich sind es die Schwellen der Irrenanstalten, die überquert werden.9 In Schweden ist es die Wohlfahrtsgesellschaft, 8 | Ich übernehme diesen Ausdruck von der Ritualtheorie Turners, verzichte aber darauf, den Ähnlichkeiten und Unterschieden, die sich zwischen Turner und Foucault ergeben, im Detail nachzugehen. Turner spricht von »liminal entities«, »liminal personae« sowie »threshold people«, »Schwellenwesen«, »Schwellenpersonen« und »Grenzgängern«; vgl. Victor Turner: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure [1969], New York: Aldine de Gruyter 1982, S. 94; ders.: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur [1969], Frankfurt a.M./New York: Campus 2005, S. 95. 9 | Foucault findet noch im späten Rückblick auf seine Lehrjahre Gefallen an der Figur der Schwelle: »Meine Werke sind Teil meiner Biographie. […] Ich will ein einfaches Bei-
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die keinen Ausgang, keine Ausflucht mehr kennt.10 In Polen geht es um die Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand. In Deutschland schließlich beobachtet Foucault die sich gegen die Armen verschanzenden Reichen und bringt mit dem Hinweis, Hamburg liege nahe bei »Altona«, auch noch eine Anspielung auf Sartres Theaterstück Die Eingeschlossenen von Altona unter. All diese Erfahrungen (oder diese retrospektiven Interpretationen von Erfahrungen) münden fünftens im Hinweis auf das »Asyl«, worunter im Französischen zuallererst – aber natürlich nicht nur – die Irrenanstalt zu verstehen ist, sowie sechstens im Hinweis auf das Medium, das Verbindungen über Grenzen hinweg schafft: die Sprache. Der kurze Text endet also mit einer inhaltlich-methodischen Doppelspitze: Foucault setzt in der Notiz das »Asyl« als Thema, dem sich nicht nur Folie et déraison, sondern auch diverse andere Bücher Foucaults zuordnen lassen. Zugleich verweist der Klappentext auf die Goya-Zeichnung des Umschlags, in der die irren Frauen und ihre Beobachter aufs Engste zusammenrücken und doch durch einen Abgrund getrennt sind. Darüber hinaus bezeichnet Foucault mit der »Sprache« und deren Potential zur Verbindung und Abgrenzung seinen methodischen Ansatzpunkt. Man kann Foucaults Notiz als einen Affront gegen die akademische Maxime auffassen, wonach ein Autor sich im Dienst reiner Sachlichkeit jeder Anspielung auf Persönliches enthalten solle. Hier meldet sich nicht ein reiner Geist, sondern ein Mensch zu Wort, und es reicht kaum aus, zu sagen, dass er sich nur »zu Wort melde«. Er meldet sich mit Haut und Haaren. Er geht mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass das theoretische Problem, das in diesem Buch verhandelt wird, als Pendant oder auch als eine verallgemeinerspiel nennen: In den fünfziger Jahren habe ich in einem psychiatrischen Krankenhaus gearbeitet. Nachdem ich Philosophie studiert hatte, wollte ich sehen, was Irresein ist. Ich war verrückt genug gewesen, die Vernunft zu studieren; ich war vernünftig genug, das Verrücktsein zu studieren.« (DE IV/362: 961) 10 | Übrigens wird Foucault später in einem Interview bemerken, er sei nach Schweden gekommen mit der festen – ihrerseits auf Schwellen erpichten – Absicht, von nun an aus zwei Koffern zu leben, um die Welt zu reisen und nie mehr eine Zeile zu schreiben; Schweden habe ihn von dieser Absicht abgebracht (DE I/54: 832). In diesem Interview bietet Foucault auch eine interessante Lesart des »sozialisierten Glücks« in Schweden: »Die schwedische Wirklichkeit ist von einer Schönheit, Strenge und Notwendigkeit, die zeigen, dass der Mensch in solch einer Wirklichkeit stets nur ein in Bewegung befindlicher Punkt ist, der Gesetzen, Schemata und Verkehrsformen gehorcht, die über ihn hinausgehen und stärker sind als er. In Schweden erkennt man das deutlicher als in Frankreich. In seiner Stille enthüllt Schweden eine nahezu vollkommene Welt, in der man entdeckt, dass der Mensch nicht mehr notwendig ist. […] Und ich frage mich, ob ich nicht in Schweden begonnen habe, diesen schrecklichen Antihumanismus zu entwickeln, den man mir möglicherweise ein wenig übertrieben nachsagt.« (Ebd.)
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te Formulierung persönlicher Erfahrungen aufzufassen ist. Leben und Werk werden eng zusammengerückt. Man kann diesen Punkt noch anders formulieren und sich so ein Problem einhandeln, das sich als produktiv erweisen könnte. Demnach darf man sagen: Foucaults Autorennotiz ist ein Affront gegen die Idee, es komme gar nicht darauf an, wer spricht. Ebendiese Idee macht sich freilich Foucault später selbst zu eigen: Er stellt bekanntlich die rhetorische Frage: »Was liegt daran, wer spricht?« Wie passt nun aber die offensive Selbstpräsentation des jungen Autors mit seiner Invektive gegen den Sprecher zusammen? Man wird hier in eine innere Spannung hineingezogen, die Foucaults Werk und Leben zu durchziehen scheint. Die frühe autobiografische Notiz, die nahe legt, dass Leben und Werk bei Foucault eine enge Verbindung eingehen, steht nur am Beginn einer umwegigen Reise, auf der das Verhältnis von Leben und Werk erkundet wird; diese Reise möchte ich auf den Spuren Foucaults nachvollziehen – und dabei auch über ihn hinausblicken. Meine Reise vollzieht sich in fünf Etappen. Zunächst wende ich mich dem Kontrastprogramm zu, das scheinbar unversöhnlich neben Foucaults starkem autobiografischen Engagement steht. Dieses Kontrastprogramm findet seine schärfste Formulierung eben in der Frage »Was liegt daran, wer spricht?«. Dieser Frage gilt es nachzugehen – mit Bezug auf denjenigen, der sie zuerst gestellt hat, nämlich Samuel Beckett, und Foucault selbst (II.). Nach der Besichtigung dieses Kontrastprogramm sieht man sich zunächst dazu veranlasst, eine Divergenz bei Foucault anzunehmen: Irgendwie scheinen jene zwei Dinge nicht recht zusammenzupassen: die aufdringliche autobiografische Agenda einerseits und die Demontage des Sprechers und des Subjekts andererseits. Ich werde mich dieser Diskrepanz zuwenden, aber die Auffassung verwerfen, wonach man von einem Bruch in Foucaults Denken auszugehen habe. Stattdessen werde ich mich an seine späte Selbstauskunft halten, wonach die Frage nach dem »Subjekt« den roten Faden seines Werkes bilde (III.). Diese Selbstauskunft ebnet den Weg zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Leben und Werk – allerdings nur dann, wenn man zwei Korrekturen oder Klarstellungen vornimmt. Mit ihnen komme ich auf die zwei Gesichtspunkte zurück, die ich an der autobiografischen Notiz von 1961 hervorgehoben habe. Zum einen möchte ich mich näher mit dem berühmt-berüchtigten Subjekt befassen; an dieser Stelle wird auf die Figur des »Schwellenwesens« zurückzukommen sein (IV.). Zum anderen gilt es das Verhältnis zwischen Leben und Werk, Philosophie und Autobiografie zu analysieren (V.). Ich schließe mit einer Coda, die nicht dem Verhältnis von Werk und Leben, sondern dem Verhältnis von Schreiben und Tod gewidmet ist (VI.).
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II. »Q u ’importe qui parle « nach B ecke tt und F oucault »Qu’importe qui parle«, »Was liegt daran, wer spricht«? Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage, die Samuel Beckett in den Texten um Nichts formuliert. Das Fragezeichen fällt bei ihm weg.11 Sprache gibt es und Sprechen. Aber auf den Sprecher kommt es nicht an. Gerade weil es Sprache gibt, stößt man auf die Bedeutungslosigkeit, die Belanglosigkeit dessen, der spricht. In einem elementaren Sinn hat er keine Bedeutung, denn er bleibt sprachlos hinter der Sprache zurück. Diese Erfahrung macht er freilich gerade nur in der Sprache. Als jemand, der der Sprache ausgesetzt ist, empfindet er den Mangel der Sprachlosigkeit oder identifiziert sich als dieser Mangel. So gewinnt die Sprache die Oberhand: »Alles ist letzten Endes auf Worte zurückzuführen«, »ich bin in Worten, ich bin aus Worten gemacht«, »was geschieht, sind Worte«, so heißt es in Becketts Roman Der Namenlose.12 Was jenseits dieser Worte ist, liegt in der »Höhle meiner Inexistenz«. 13 Die Idee, dass ich es sei, der spricht, stammt nicht von mir, sondern ist eine »Falle«, in die mich die Sprache lockt: »Glauben Sie, ich glaubte, ich sei es, der spricht? Auch das ist von ihnen. Um mich glauben zu machen, ich hätte ein Ich für mich«14 – also von jenen Anderen, die mich im Netz der Sprache gefangen halten oder mit mir darin gefangen sind. »Diese Stimme, die spricht, […] ist nicht meine, ich kann sie nicht anhalten«. Ich verfüge nicht über sie, mein Sprechen gehört in eine Sprache, die sich immer weiter fortsetzt: »Der Diskurs soll nämlich nicht aufhören.« Die Sprache verweist auf das Leben als das ihr Fehlende, als dasjenige, dem die Sprache fehlt. »Es gibt nur mich, mich, der nicht ist, da wo ich bin. Punktum.«15 Überbrücken lässt sich diese Differenz zwischen Sprache und Leben nicht, vor allem nicht in der Weise, wie man dies von alters her gehandhabt hat, nämlich durch eine »Geschichte« als Lebensgeschichte, die die Fusion von Sein und Sprache verbürgen könnte. »Daß ich sage, wer ich bin, wo ich bin«, ist un-
11 | Beckett, Samuel: Nouvelles et textes pour rien, Paris: Minuit 1958, S. 129; ders.: »Texte um Nichts«, in: ders.: Werke (hg. v. E. Tophoven/K. Birkenhauer), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, Bd. V, S. 121-172, hier S. 130. (Als Entstehungsdatum der »Textes pour rien« gibt die frz. Ausg. das Jahr 1950 an). 12 | Beckett, Samuel: L’innommable [1953], Paris: Minuit 2004, S. 81, 166, 98; ders.: »Der Namenlose«, in: ders.: Werke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, Bd. III, S. 395-566, hier S. 457, 527, 471. 13 | Beckett, Samuel: Nouvelles et textes pour rien, S. 139; ders.: »Texte um Nichts«, S. 135. 14 | Ders.: L’innommable, S. 98; ders.: »Der Namenlose«, S. 471. 15 | Ders.: L’innommable, S. 34f., 114; ders.: »Der Namenlose«, S. 418f., 484.
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möglich,16 »eine Geschichte ist nicht unerläßlich«, ja, es gilt sogar als »Fehler, eine eigene Geschichte gewollt zu haben, wo das bloße Leben genügt«. 17 Beckett mischt in diesen »Diskurs«, der nicht aufhört, ein – freilich wortreiches – Liebäugeln mit dem Verstummen, eine Geste, in der er sich dem bloßen Leben im Modus des Schweigens nähert. Diese Geste hat er übrigens mit dem frühen Wittgenstein gemeinsam. Daneben gibt es für Beckett ein Leben im Schneegestöber, ein Leben ohne Grund, das ihn übrigens mit dem späten Wittgenstein verbindet, von diesem aber wesentlich gelassener geschildert18 worden ist als von Beckett. Letzterer sagt: »Alles gibt nach, öffnet sich, treibt ab, fließt zurück, wie Flocken, ich bin all diese sich begegnenden, sich vereinigenden, auseinanderfallenden Flocken, wo immer ich gehe, finde ich mich wieder, gebe ich mich auf, gehe ich auf mich zu, komme ich von mir, immer nur ich, ein Teilchen von mir, wiedergefunden, wieder verloren, verfehlt, lauter Worte, ich bin all diese Worte, all diese Fremden, dieser Wortstaub, ohne Boden, um sich darauf zu legen, ohne Himmel.«19
Der Sprache verdanke ich mein Leben, meine Art zu leben. Bei dem Diskurs, der nicht aufhört, bin ich weder »Subjekt« im Sinne eines Sprechers noch »Subjekt« im Sinne eines Protagonisten. »Das Subjekt ist nicht so wichtig, es gibt keins«, sagt Beckett.20 Und doch bin ich in diesem Diskurs, nirgendwo sonst. Ich bin darin – wie alle anderen. Ich gehöre dazu, aber mir gehört nicht, was ich sage. Kurz ist der Weg von Beckett zu Foucault. Becketts »Qu’importe qui parle«, »Was liegt daran, wer spricht«, avanciert zum Schlüssel- und Schlusssatz von zwei wichtigen Texten zur Selbstverständigung, die Foucault in den späten 1960er Jahren verfasst: Es sind dies seine »Antwort auf eine Frage« von 1968, mit der er sich an die Leser der Zeitschrift Esprit wendet, sowie sein Vortrag »Was ist ein Autor?« von 1969 (DE I/58: 886; DE I/69: 1031, vgl. 1007).
16 | Ders.: L’innommable, S. 63; ders.: »Der Namenlose«, S. 442. 17 | Ders.: Nouvelles et textes pour rien, S. 142; ders.: »Texte um Nichts«, S. 137. 18 | Zum »Schweigen« vgl. Wittgenstein, Ludwig: »Tractatus logico-philosophicus«, in: ders.: Werkausgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, Bd. 1, § 7; zur Grundlosigkeit des Lebens vgl. ders.: »Über Gewißheit«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 8, § 248 (»Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen«), § 559 (»Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. […] Es steht da – wie unser Leben«). 19 | Beckett, Samuel: L’innommable, S. 166; ders.: »Der Namenlose«, S. 527. 20 | Ders.: L’innommable, S. 123; ders.: »Der Namenlose«, S. 492.
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Was bei Beckett Züge der Verzweiflung trägt, wirkt bei Foucault nun aber wie ein Befreiungsschlag. Es scheint so, als ergebe sich aus Becketts Ausweglosigkeit ein Ausweg, als münde die Aporie in eine Position. »Man kann sich eine Kultur vorstellen«, so sagt Foucault, »in der Diskurse verbreitet oder rezipiert würden, ohne dass die Funktion Autor jemals erschiene. Ganz gleich welchen Status, welche Form und welchen Wert ein Diskurs hätte und welche Behandlung man ihm angedeihen ließe, alle würden sich in der Namenlosigkeit des Gemurmels entrollen.« Nach dieser versteckten Anspielung auf Becketts Figur des »Namenlosen« sowie auch auf Heideggers Wendung, »im Namenlosen zu existieren«, 21 erklärt Foucault in der Geste der Erledigung, man sei in die neue Lage versetzt, diverse »so lange wiederholte Fragen« nicht mehr hören zu müssen, etwa die Fragen: »Wer hat wirklich gesprochen? Ist das auch er und kein anderer? Mit welcher Glaubwürdigkeit, welcher Originalität? Und was hat er aus seinem tiefsten Inneren in seinem Diskurs ausgedrückt?« (DE I/69: 1029f.) Was hier eher in Form einer Provokation daherkommt, wird von Foucault auch direkt im Diskurs umgesetzt. Wenn es keine Rolle spielt, »wer spricht«, dann heißt dies in letzter Konsequenz: Die Rolle dessen, »der spricht«, kann abgeschafft werden. Deshalb experimentiert Foucault damit, hinter der Sprache zu verschwinden, also als »maskierter Philosoph« aufzutreten und in Le Monde 1980 etwas zu sagen, ohne selbst als Sprecher in Erscheinung zu treten (DE IV/285: 128ff.). Diese Auffassung spiegelt sich auch schon in dem Satz: »Wo ›es‹ spricht, existiert der Mensch nicht mehr« (DE I/39: 702; Übers. geänd., frz. DE I/39: 544). Der Subtext dieses Satzes reicht zurück zu Nietzsches »Es denkt«, welches wiederum ein Einwand oder – mehr noch – ein Grabstein für Descartes’ »cogito ergo sum« sein wollte.22 All diese Hinweise können so gedeutet werden, dass Foucault eine Strategie der Selbstanonymisierung oder gar Selbstabschaffung verfolgt. Sie hat nicht nur eine theoretische, sondern auch eine biografische Spitze, die man vorläufig so formulieren könnte: Die Theorie löst sich vom Autor, vom Sprecher ab, mit ihm versinkt die Person, die diese Rolle übernimmt, ins Dunkle, Bedeutungslose. Theorie und Leben fallen – so scheint es – auseinander, die Theorie grenzt sich – so scheint es – in geradezu aggressiver Weise vom Leben, der Person des Theoretikers ab. Doch dieser Schein trügt. Man muss mit dem Widerspruch zurechtkommen, dass Foucault in dem (in späteren Auflagen fehlenden) Vorwort zu Folie et déraison von 1961 eine 21 | Heidegger, Martin: »Brief über den Humanismus« [1947], in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 9: Wegmarken, Frankfurt a.M.: Klostermann 1976, S. 313-364, hier S. 319. 22 | Vgl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/M. Montinari), München/Berlin/New York: dtv/de Gruyter 1980, Bd. 5, S. 31 (»Jenseits von Gut und Böse«, § 17).
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»Sprache« avisiert, »die von allein spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Gesprächspartner« (DE I/4: 229) – und dass er auf dem Umschlag von Folie et déraison ein (in späteren Auflagen fehlendes) grell leuchtendes autobiografisches Fanal unterbringt. Dieses Fanal ist nicht nur eine Marginalie, die vom eigentlichen Werk zur Bedeutungslosigkeit verurteilt wird, sondern taugt als Auftakt für eine Reflexion über das Verhältnis zwischen Leben und Werk, die Foucault über Jahrzehnte umtreibt.
III. E inheit oder B ruch ? Es ist eine Erwähnung wert, dass die große Sammlung der kleinen Schriften Foucaults den Titel Dits et Écrits trägt. Nicht nur Geschriebenes, auch Gesagtes wird dokumentiert. Damit tragen die Herausgeber schlicht der Tatsache Rechnung, dass unendlich viele Gespräche und mündliche Äußerungen Foucaults vorliegen. Diese Tatsache selbst ist ein Indiz dafür, dass seine Idee, ohne »sprechendes Subjekt« und »Gesprächspartner« auskommen zu wollen (s.o.), keineswegs mit einem Verzicht auf die Sprecherrolle einhergeht. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt neben Sartre wohl keinen anderen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der so häufig Interviews gegeben hat wie Foucault, und wohl auch keinen, der derart häufig auf seine intellektuelle – und nicht nur intellektuelle – Biografie angesprochen worden ist. Diese Tatsache passt nicht recht zu »Was liegt daran, wer spricht?«. Es droht an dieser Stelle ein Widerspruch oder jedenfalls ergibt sich eine Diskrepanz. Sie kann nicht durch die Mutmaßung zum Verschwinden gebracht werden, Foucault habe die Fragen seiner Gesprächspartner nur widerwillig über sich ergehen lassen. In einem kürzlich veröffentlichten, bislang unbekannten Gespräch aus dem Jahr 1968 hat Foucault zwar bekannt, dass er sich mit dem Interview schwer tue, sich bei ihm nicht »wohlfühle« und auch nicht »frei« fühle (G 28; B 26).23 Offenbar hat es ihn aber danach gedrängt, sich gerade dieser Erfahrung auszusetzen. Entsprechend stößt man in Foucaults Äußerungen zum Verhältnis zwischen Theorie und Autobiografie über viele Stationen hinweg auf Spannungen. Auf der einen Seite stehen die eingangs diskutierte Autorennotiz zu Folie et déraison sowie Foucaults bereitwillige Antworten auf die Frage Paolo Carusos »Wer sind Sie, Professor Foucault?« von 1967 (DE I/50) und seine autobiografischen Auskünfte im Gespräch mit Ducio Trombadori 1978 (DE IV/281). In diesen Kontext gehören – last but not least – seine zwischen Theorie und Bio23 | Hier und im Folgenden verweise ich mit G auf Foucault: Das giftige Herz der Dinge. Gespräch mit Claude Bonnefoy, Zürich: Diaphanes 2012; mit B verweise ich auf ders.: Le beau danger, Paris: Édition de l’EHESS 2011.
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grafie schillernden Bemerkungen über die Vorzüge der Homosexualität (vgl. DE IV/293: 204; DE IV/308: 307; DE IV/311: 352) und über S/M-Sex (DE IV/358: 912-920).24 Nicht nur lässt er die Biografie als Hintergrund zu, aus dem die Theorie hervorgeht, sondern sie avanciert auch umgekehrt zu einem Raum, auf den die Theorie zuläuft. So heißt es 1983: »Man muss jeden Augenblick, Schritt für Schritt, das, was man denkt, und das, was man sagt, mit dem konfrontieren, was man tut und was man ist.« (DE IV/341: 717). Auf der anderen Seite stehen Foucaults abweisende Reaktionen auf das wachsende Interesse an seiner Person – oder auf das Interesse an einer Person überhaupt. Das berühmteste Votum dieser Art findet sich in der Archäologie des Wissens: »Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.«25 Als ihn 1974 ein holländischer Journalist fragt: »Worin bestehen […] die objektiven Gründe für Ihre Weigerung, persönliche Fragen zu beantworten? Wenn Sie ein Problem lösen sollen, warum machen Sie eine persönliche Frage zu einem Problem?« lautet seine wunderbar pointierte Antwort: »Ich mache kein Problem aus einer persönlichen Frage; ich mache aus einer persönlichen Frage vielmehr die Abwesenheit eines Problems« (DE II/132: 609). Er sieht in der Personalisierung also eine Strategie, das Denken zu blockieren. Fast in die gleiche Kerbe schlägt er noch 1983: »Wie es auch damit bestellt sein mag, mein persönliches Leben ist nicht von Interesse. Wenn jemand denkt, dass meine Arbeit ohne einen Bezug auf diesen oder jenen Aspekt meines Lebens nicht begriffen werden kann, akzeptiere ich es, über diese Frage nachzudenken. Ich bin bereit zu antworten, wenn ich sie gerechtfertigt finde. In dem Maße, wie mein persönliches Leben ohne Interesse ist, ist es nicht der Mühe wert, daraus ein Geheimnis zu machen. Und aus dem selben Grunde ist es nicht der Mühe wert, es öffentlich zu machen.« (DE IV/336: 657).
24 | Die intimsten Äußerungen zu »fist-fucking«, zu den »Badehäusern« in San Francisco etc. finden sich in einem Interview, dem Foucault freilich die Autorisierung verweigert hat; es wurde von Jean Le Bitoux 1978 geführt. Für die engl. Übers. vgl. Foucault, Michel: »The Gay Science«, in: Critical Inquiry 37 (2011), S. 385-403. Miller stützt sich in seiner Darstellung der kalifornischen Jahre Foucaults ausgiebig auf dieses Interview; vgl. James Miller: Die Leidenschaft des Michel Foucault. Eine Biographie [1993], Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995, S. 381-412. Millers Buch betreibt ebenden Reduktionismus des Werks auf das Leben, vor dem Foucault vorsorglich gewarnt hat. 25 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 30.
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Wenn ich auf diese Diskrepanz in Foucaults Auskünften hinweise, so verfolge ich dabei nicht die Absicht, ihm eine Unstimmigkeit oder einen Widerspruch vorzuhalten – im Gegenteil. Ich glaube vielmehr, dass man all die genannten – und noch weitere einschlägige – Äußerungen Foucaults in einen konsistenten Zusammenhang bringen kann, auf den sich seine Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Autobiografie, Werk und Leben zurückführen lassen. Die Tatsache, dass dieser Zusammenhang bei Foucault selbst verdeckt bleibt, hat zu diversen Missverständnissen geführt, die das Verständnis seines Werkes, aber auch die systematische Klärung des Verhältnisses von Theorie und Autobiografie verstellt haben; sie gilt es zu beseitigen. Es gibt eine eingängige Lesart, mit der die Divergenzen zwischen den verschiedenen Voten Foucaults erklärt werden können. Konstatiert wird demnach in einem ersten Schritt ein Widerspruch. Er besteht zwischen Foucaults früher rhetorischer Frage »Was liegt daran, wer spricht?« und seiner späten Hinwendung zu einem Selbst, das sich um sich kümmert oder »sorgt« (DE IV/363: 970), oder zwischen Foucaults früher These, dass »das Subjekt, das spricht, […] sich unter jedem Wort auf seinen eigenen Tod verwiesen findet« (DE I/13: 341), und seinem späten Interesse am »sprechenden Subjekt«, das sagt: »Ich bin derjenige, der dieses und jenes denkt«.26 In einem zweiten Schritt versucht man dann nicht, diesen Widerspruch aufzulösen oder aufzuheben, sondern man führt ihn darauf zurück, dass es beim späten Foucault zu einem Sinneswandel, nämlich zu einer Wiederkehr des vormals geächteten Subjekts komme. Diese Wiederkehr wird als Bruch mit der früheren Position gewertet und dann entweder willkommen geheißen oder verworfen. Nach dieser Lesart rehabilitiert der späte Foucault das Subjekt – und mit ihm den Sprecher und gewissermaßen auch die Person hinter der Stimme. So zeigt er sich schließlich bereit, nicht nur als Intellektueller, sondern auch als Individuum mit seinen privaten Vorlieben und Leidenschaften die öffentliche Bühne zu betreten. Kurz gesagt: Während Foucault in der Archäologie des Wissens noch wütend gefordert hat, man möge ihn nicht fragen, »wer ich bin«, gibt er am Ende ziemlich bereitwillig Auskunft. All dies klingt suggestiv, und doch führt diese Erklärung zu der geschilderten Divergenz in Foucaults Auskünften in die Irre. Wie nicht zuletzt die frühe autobiografische Notiz zeigt, die ich eingangs diskutiert habe, findet man in allen Lebens- und Werkphasen Stellungnahmen, die die eigene Stimme, die eigene Person ins Spiel bringen – aber immer auch solche, die die Sprecherposition des Subjekts untergraben. Die Selbstpräsentation ist aus Foucaults Werk nicht
26 | Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit: Die Problematisierung der Parrhesia. 6 Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität Berkeley/Kalifornien, Berlin: Merve 1996, S. 11.
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wegzudenken, sie ist freilich von besonderer Art.27 Um sie zu verstehen, muss man weit auseinanderstrebende Auskünfte unter einen Hut bringen. Deshalb führt es auch nicht weiter, sein Werk in einen frühen Antisubjektivismus und eine späte Wendung zum Subjekt zu unterteilen. Man muss seine Wandlungen respektieren und ihm eine sich durchhaltende Fragestellung zubilligen. Hält man sich an Foucaults Selbstauskunft, so liest man etwa Folgendes: »Mir ist durchaus bewusst, dass ich […] meine Position verschiebe. Ich denke niemals völlig das Gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind. […] Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht. […] Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. […] Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, dass ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.« (DE IV/281: 52)
Dieses emphatische Bekenntnis zur Veränderung – es stammt aus dem Jahr 1978 – tut der Tatsache keinen Abbruch, dass Foucault im Jahre 1982 ein einziges »Ziel […] meiner Arbeit« meint angeben zu können, das er während der »letzten 20 Jahre« verfolgt habe: Seine Absicht sei es gewesen, »eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur« zu entwickeln. »Das umfassende Thema meiner Arbeit ist also nicht die Macht, sondern das Subjekt.« (DE IV/306: 269f.) Diese retrospektive Selbstdeutung Foucaults ist aus meiner Sicht plausibel – aber nur dann, wenn man zwei Klarstellungen oder Korrekturen anbringt. Erstens gehört zu der von Foucault unternommenen »Infragestellung der Theorie des Subjekts« (DE IV/281: 66) nicht nur die Analyse der »verschiedenen Formen«, in denen Menschen zu Subjekten »[ge]mach[t]« werden (DE IV/306: 269), sondern auch ein »Unternehmen«, in dem man sich von dem Subjekt entfernt, in dem man in Prozesse der »Ent-Subjektivierung« hineingerät (DE IV/281: 54) und dabei an die Grenze der Subjekthaftigkeit gelangt. Soll 27 | Hans Sluga hat seine ähnlich gelagerten Überlegungen mit dem Satz eingeleitet: »Es sei mir also gestattet, die Frage nach dem Autor zu stellen, nach seiner Rolle und der Art, wie Foucault ihn auffaßt«; vgl. Sluga, Hans: »Foucault in Berkeley. Der Autor und der Diskurs«, in: Wilhelm Schmid (Hg.): Denken und Existenz bei Michel Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 260-277, hier S. 263. Meinem Beitrag liegt eine ähnliche Leitfrage zugrunde. Sluga konzentriert sich allerdings auf Foucaults Demontage der Autorschaft; er schreibt abschließend: »Die Macht des individuellen Sprechers hängt von seiner Fähigkeit ab, einen Diskurs zu transformieren, die Grenzen zu überschreiten, auf die er trifft« (ebd., S. 276). Einen anderen, gleichfalls einschlägigen Zugang wählt Eva Erdmann, die versucht, Foucaults Überlegungen zur »écriture de soi« für die moderne Literatur fruchtbar zu machen; vgl. Erdmann, Eva: »Die Literatur und das Schreiben. ›L’écriture de soi‹ bei Michel Foucault«, in: dies.u.a. (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M./New York: Campus 1990, S. 260-279.
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Foucaults Projekt über die »20 Jahre« hinweg, auf die er Anfang der achtziger Jahre zurückblickt, verstanden werden, so muss dieser Punkt beachtet werden. Zweitens kann das Subjekt nicht nur Foucaults »Thema« sein. Es ist sowohl Gegenstand wie auch ausführendes Organ seiner Forschung. Die distanzierte Position, von der aus die Wandlungen des Subjekts mit kaltem Blick analysiert werden könnten, ist weder Foucault noch sonst jemandem zugänglich. (Viele Foucault-Anhänger haben zu Unrecht angenommen, sie könnten zur Entlastung vom eigenen Leben eine solche theoretische Selbstdistanz einnehmen.) Es handelt sich nicht um ein Überschwappen persönlicher Befindlichkeiten, wenn Foucault sich – vor allem, aber nicht nur in späten Jahren – als Subjekt zu Wort meldet, wenn er sich also doch darum kümmert, wer spricht. Die Geschichte des Subjekts wird nicht von einem Hochsitz aus geschrieben, der außerhalb dieser Geschichte läge, sie ist vielmehr immer auch eine Selbsterfahrung oder – mit Hegel gesprochen – eine Erfahrung des Bewusstseins. Das heißt aber auch: Die Verbindung zwischen Theorie und Autobiografie ist eine strikt theoretische Notwendigkeit. »Ich [habe] stets darauf Wert gelegt […], dass meine Bücher in einem gewissen Sinne Bruchstücke einer Autobiografie sind. Meine Bücher sind stets meine persönlichen Probleme mit dem Wahnsinn, dem Gefängnis und der Sexualität gewesen.« (DE IV/359: 925) Foucaults theoretisches Projekt ist – gemäß der These, die hier vertreten wird – immer auch und zugleich ein autobiografisches Projekt. – Den oben genannten zwei Klarstellungen oder Korrekturen sind nun die folgenden beiden Abschnitte gewidmet.
IV. A n der G renze des S ubjek ts In die Schublade der Subjektkritik gehören zahllose Aussagen Foucaults, mit denen er den positiven Bezug auf das Personalpronomen der ersten Person Singular unter Acht und Bann stellt. Deren geballter Wucht gilt es zu widerstehen. Es muss deutlich werden, wie Foucaults Projekt entgegen der prominent vorgetragenen Kritik am Subjekt – oder an einem bestimmten Subjekt – von Anfang bis Ende doch an zentraler Stelle auf das Subjekt rekurriert. Dieses Subjekt muss sich abheben von demjenigen, auf das Foucault in seiner Kritik zielt, und deshalb muss man zunächst darum bemüht sein, den Gegenstand seiner Kritik genauer einzugrenzen. An dem von Foucault kritisierten Subjekt lässt sich eine epistemische, politische und psychologische Dimension zu unterscheiden. Foucault kritisiert zum ersten die epistemische Position eines Subjekts, das einen vollständigen Überblick über die Welt als seinen Gegenstandsbereich beansprucht. Dies kann es nur unter der Voraussetzung tun, dass es dabei nicht schwankt, in keiner Weise der Anfechtung oder Entmachtung ausgesetzt ist.
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Dagegen setzt Foucault die Einsicht des »Philosoph[en], dass ›wir nicht alles sind‹. Er begreift, dass der Philosoph nicht wie ein geheimer und all-sprechender Gott die Totalität seiner Sprache bewohnt. Er entdeckt, dass es daneben eine Sprache gibt, die spricht und deren Herr und Meister er nicht ist.« (DE I/13: 331). In einem Aufwasch werden sowohl die »kontinuierliche Geschichte« wie auch deren »Korrelat«, nämlich das »ursprüngliche Subjekt« als Fiktionen zurückgewiesen.28 Auf der Ebene des Gegenstands, den es zu erkennen gilt, wie auch auf der Ebene der Instanz, die erkennt, ist »Identität« hinfällig.29 Der »transzendentale Narzißmus« des erkennenden Subjektes lässt sich theoretisch nicht rechtfertigen.30 An die Stelle des »Transzendenz des Ego« rückt, wie Foucault gegen Sartre sagt, die »Immanenz des Subjekts«.31 Zum zweiten widersetzt sich Foucault der politischen Zumutung, die vom Menschen erwartet, dass er sich Regeln unterwirft, der Disziplinierung zugänglich ist, sein Verhalten kontrolliert und sich für sein Tun verantwortet. In einer solchen »Normalisierungsgesellschaft«32 erzwingt die Gleichheit und Gleichförmigkeit äußerer Anforderungen Subjekte, die sich selbst gleich bleiben und gleich bleiben müssen. Zum dritten verwirft Foucault die psychologische Strategie, wonach sich der Mensch als »ursprüngliches Subjekt« (s.o.) etablieren will, indem er immer noch »innerlicher zu werden« sucht (DE I/13: 335) und auf sein »echtes Herz« (DE I/7: 255) zurückgeht. Der Anspruch auf »Wahrhaftigkeit des Ausdrucks« (DE I/7: 259) oder Authentizität, zu dem auch die Kultur des »Geständnisses«33 gehört, basiert auf der Unterstellung eines irgendwie zugänglichen inneren Kerns der Person, einer »nicht entstellten Form des Selbst«,34 mit dem man der Entfremdung entrinnt und ganz bei sich ist: nach Foucault eine eitle Hoffnung. Es wäre eine eigene Aufgabe, dem inneren Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Strategien nachzugehen. Ich will hier nur auf einen Grundzug hinweisen, den all diese Diskurse, die das Subjekt der Kritik unterziehen, gemeinsam haben. Sie betreiben, um ein Wort Foucaults zu gebrauchen, die 28 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, S. 23. 29 | Ebd., S. 190. 30 | Ebd., S. 289. 31 | Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France 1981/82, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 640; ders.: L’herméneutique du sujet, Paris: Gallimard/Seuil 2001, S. 508 (Übers. geänd.). 32 | Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1975/76, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 49. 33 | Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen [1976], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, Kap. 3. 34 | Ders.: Archäologie des Wissens, S. 199.
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»Wiederbelebung des Bewegungslosen«35 – egal ob es um das epistemische Fundament, die politische Stabilisierung oder die psychologische Selbstfindung geht. Wenn man diesen kritischen Befund umkehrt, wird deutlich, was Foucault all jenen Formen des Subjekts entgegenhält: es ist nichts anderes als die Bewegung. Foucault macht sogleich deutlich, dass es ihm nicht darum geht, diese Bewegung der Stabilität abstrakt entgegenzuhalten, also »das ›Werden‹ dem ›System‹ […] oder, wie man in leichtfertiger Unüberlegtheit sagt, die ›Geschichte‹ der ›Struktur‹ gegenüberzustellen«.36 (Man darf an dieser Stelle als Subtext mitdenken, dass er sich hier sowohl von Bergson wie von Sartre absetzt.) Die Bewegung ist nach Foucault nirgendwo anders anzutreffen als am Rand oder an der Grenze jener Festlegungen, in denen der Mensch epistemisch, politisch und psychologisch befangen ist. Es gibt ein reiches Vokabular, das Foucault für die Umschreibung dieser Bewegung einsetzt. Zu ihm gehören »Diskontinuität«, »Schwelle, Bruch, Einschnitt, Wechsel, Transformation«,37 »Grenze« und »Grenzerfahrung« (DE I/4: 226), »Grenzhaltung« (DE IV/339: 702), »Überschreitung« (DE I,/13: 324, 334), »Exzess« (DE I/13: 323), »Differenz«, »Verschiebung«, »das wilde Faktum der Veränderung« (DE I/58: 864f.) etc. Von den frühesten bis zu den spätesten Texten zieht sich dieses Motiv der Bewegung durch, von dem seine theoretische Arbeit bestimmt ist. Zu ihm gehört eine bestimmte Form von Subjektivität, weshalb der dogmatische Streit um Foucaults Kritik am Subjekt und deren Widerruf meines Erachtens fruchtlos ist: Er verstellt die Tatsache, dass sich Foucault durchweg von einer bestimmten Version des Subjekts absetzt und einer anderen Version zuneigt, die sich durch das Motiv der Bewegung auszeichnet. Ich möchte nur zwei Auskünfte Foucaults anführen, mit denen sich der Bogen von den frühen 1960er bis zu den 1980er Jahren schlagen lässt. »Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben«, so schreibt Foucault im (in späteren Auflagen fehlenden) Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft von 1961 (DE I/4: 226) – und ebendiese Geschichte hat er tatsächlich geschrieben: »Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen.« (Ebd.). Und wie er sich 1968 »die Analyse unterschiedlicher Transformationstypen« vornimmt (DE I/58: 864), so heißt es dann in den Entwürfen zu seiner Vorlesung über die Hermeneutik des Subjekts: »Im großen und ganzen geht es darum, sich auf die Suche nach einer anderen kritischen Philosophie zu machen: einer Philosophie, die nicht die Bedingungen 35 | Ders.: Die Ordnung der Dinge [1966], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 395. 36 | Ders.: Archäologie des Wissens, S. 25. 37 | Ebd., S. 13, 33.
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und Grenzen der Objekterkenntnis definiert, sondern die Bedingungen und die unbegrenzten Verwandlungsmöglichkeiten des Subjekts.«38 Philosophiegeschichtlich kann man sagen, dass dieses Motiv der Bewegung oder Transformation Foucault in den Stand versetzt, sich von dem »verschleppten Hegelianismus« zu kurieren, den er an sich selbst diagnostiziert.39 Er spielt hier an auf die von ihm mehrfach bezeugte Tatsache, dass er sich als Student im Banne Hegels, in einem »dialektischen Universum« befunden hatte (DE I/50: 785). Natürlich ist es gerade Hegel, der das »Werden« und die »Bewegung« mit aller Macht in die Philosophie selbst eingeführt hat.40 Wenn Foucault nun bei diesem »Werden« anknüpft, so verweigert er ihm jedoch die Rückkehr zum »Sein«, die bei Hegel vorgesehen war, also die Ankunft in einer »erneut rekomponierten Einheit«. 41 Das Gegenbild zu Foucaults »mobilem« Menschen42 ist der »Homo dialecticus«, jenes »Wesen des Auf bruchs, der Rückkehr und der Zeit, […] das seine Wahrheit verliert und sie erleuchtet wiederfindet, das sich selbst Fremde, das mit sich wieder vertraut wird« (DE I/25: 541). Wenn Foucault später bei Hegel – und auch bei Marx – anknüpft, so liest er sie beide nietzscheanisch, das heißt im Lichte von Nietzsches Theorie der Selbstüberwindung,43 welche bei seiner eigenen Theorie der Transformation Pate gestanden hat. Besonders deutlich wird dies an einer Stelle aus seinem Gespräch mit Trombadori: »Wir umkreisen da einen Satz von Marx: Der Mensch erzeugt den Menschen. Wie ist das zu verstehen? Meiner Ansicht nach ist das, was erzeugt werden soll, nicht der Mensch, so wie ihn die Natur vorgezeichnet hat oder wie sein Wesen es vorschreibt; wir haben
38 | Ders.: Hermeneutik des Subjekts, S. 642. 39 | Foucault, Michel: »Funktionen der Literatur. Ein Interview« [1975], in: Eva Erdmann u.a. (Hg.): Ethos der Moderne, S. 229-234 (dieser unautorisierte Text findet sich nicht in den Dits et Écrits). Vgl. die eindrucksvollen Überlegungen zur Schwierigkeit, Hegel »zu entrinnen«, in Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, München: Hanser 1974, S. 50. 40 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke, Bd. 3: Phänomenologie des Geistes [1807], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 138: »Es ist als Selbstbewußtsein Bewegung«; vgl. Robert B. Pippin: Hegel on Self-consciousness, Princeton: Princeton UP 2011, S. 60. 41 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, S. 23. 42 | Schürmann, Rainer: »Se constituer soi-même comme sujet anarchique«, in: Études philosophiques 4 (1986), S. 451-471, hier S. 459. 43 | Vgl. Thomä, Dieter: »›Jeder ist sich selbst der Fernste‹. Zum Zusammenhang zwischen personaler Identität und Moral bei Nietzsche und Emerson«, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 316-343.
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Wie ist nun Foucaults Theorie der Bewegung zu beziehen auf seine changierenden Auskünfte zum Tod oder zum Fortleben des Subjekts? In der Archäologie des Wissens scheint er nahezulegen, dass die von ihm avisierte Transformation ohne das Subjekt auskommt, ja geradewegs gegen es gerichtet ist. Er sagt: »Ich habe nicht verneint – ja ganz im Gegenteil –, daß die Möglichkeit der Veränderung des Diskurses besteht: ich habe das ausschließliche und augenblickliche Recht dazu der Souveränität des Subjekts entrissen«. 44 Diese Gegenstellung zwischen Bewegung und Subjekt verschärft sich noch zu der These, die Überschreitung sei an den »Verlust« oder das »Verschwinden« des Subjekts gebunden (DE I/13: 333; DE I/38: 674). Manches von dem, was in seinem »negativen Diskurs über das Subjekt« (DE I/50: 787) vorgebracht wird, muss aus meiner Sicht tatsächlich als ein Selbstmissverständnis Foucaults verstanden werden – in dem Sinne, wie er dies selbst im kritischen Rückblick auf Die Ordnung der Dinge markiert, wenn er sagt, »dass die Menschen im Laufe ihrer Geschichte niemals aufgehört haben, sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität beständig zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie unterschiedlicher Subjektivitäten zu konstituieren. […] Das war es, was ich sagen wollte, als ich undeutlich und vereinfachend vom Tod des Menschen sprach.« (DE IV/281: 94) Man kann aber, wie ich meine, auch an den Texten der 1960er Jahre deutlich machen, dass Foucault nicht von einer schlichten Opposition zwischen Überschreitung und Subjekt ausgeht. An der soeben zitierten Stelle aus der Archäologie des Wissens richtet sich der Einwand, genau besehen, nicht prinzipiell gegen das Subjekt, sondern gegen dessen »Souveränität«. Auch in seinem frühen Text über Bataille, der »Vorrede zur Überschreitung«, ist beachtenswert, dass der Überschreitung als »Geste, die die Grenze betrifft«, keine »wahrhafte Existenz« unabhängig von dieser Grenze zugebilligt wird, dass beide sich einander »verdanken« (DE I/13: 325; Übers. geänd., frz. DE I/13: 236f.). Die Geste kann nicht einfach abgelöst werden von den Umständen, auf die sie sich bezieht. Es geht also nicht um einen anderen Zustand, in den man hineingeriete und bei dem das Subjekt vollkommen vergessen werden könnte, sondern um den Moment der Überschreitung selbst. Die Schwelle, an die man in diesem Moment gelangt, ist aber undenkbar, unerfahrbar ohne den Raum, an dessen Rand sie sich befindet. Später wird Foucault sagen: »Man muss der Alternative des Draußen und des Drinnen entkommen; man muss an den Grenzen sein.« (DE IV/339: 702). Er bringt das Subjekt an diese Grenze, er verwandelt es, aber er lässt es nicht beiseite – und zwar deshalb nicht, weil 44 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, S. 298.
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sonst die Grenze und die Bewegung in den Räumen an dieser Grenze gar nicht mehr erfahrbar wären. Man macht sich keiner falschen Harmonisierung und keiner Glättung von Widersprüchen schuldig, wenn man sagt, dass Foucault mit den Auskünften über »Bewegung«, »Grenze« und »Transformation«, die sich in allen Werkund Lebensphasen finden, immer wieder in die gleiche Kerbe schlägt. Dabei handelt es sich nicht um eine Übung, die etwa der Vorliebe oder dem Gutdünken Foucaults entsprungen wäre, sondern um die Ausarbeitung eines philosophischen Programms, das grob folgendermaßen umrissen werden kann. Die Menschen sind in dem Maße, wie sie in die Sprache eingelassen oder der Sprache ausgeliefert sind, des Ursprung beraubt, welcher ihnen zu einer souveränen Position verhelfen könnte: »Vor jeder menschlichen Existenz und jeglichem menschlichen Denken gibt es demnach ein Wissen, ein System, das wir wiederentdecken«, so sagt Foucault und fügt in Anspielung auf Heidegger hinzu: »Es gibt ein ›man‹.« (DE I/37: 666) Doch das Wissen, das System, der Diskurs, die Sprache, in denen man sich bewegt, sind selbst kein geschlossenes Gebilde, sondern Räume mit offenen Rändern. An ihnen macht man eine »Erfahrung, die es einem verwehrt, derselbe zu bleiben wie bisher« (DE IV/281: 59). Wenn man sich – so etwa der Einwand Foucaults gegen Lévi-Strauss (DE I/50: 786)45 – in diesem Raum bewegt, als gäbe es gar keine Offenheit, würde man von diesem Raum und der eigenen Position darin eine schlechte Beschreibung liefern. Mit seiner Theorie der Bewegung versucht Foucault, eine gute Beschreibung vom Menschen als Schwellenwesen zu liefern. Es sind philosophische Gründe, die Foucault dazu führen, diese Theorie der Bewegung auch auf die eigene Sprecherposition – und letztlich auch auf das eigene Leben – zu beziehen. Damit wird die Verbindung zwischen Theorie und Autobiografie hergestellt. Er beschreibt nicht nur ein Schwellenwesen, er schreibt auch als Schwellenwesen – und lebt als solches.
V. L eben und W erk Der Wahnsinn, so lautet Foucaults frühe pointierte Auskunft, ist die »Abwesenheit des Werks« (DE I/25: 539). Umgekehrt muss dann gelten, dass das Werk die Abwesenheit des Wahnsinns ist. Anders gesagt: Im abgeschlossenen, sich abschließenden Werk ist abwesend oder unsichtbar, was ihm – frei nach Nietzsche46 – als »bewegliches Heer« der Bedeutungen vorausliegt. Foucault nennt den Wahnsinn deshalb auch eine »Sinn-Reserve«: »Freilich muss man 45 | Vgl. Ders.: Hermeneutik des Subjekts, S. 640. 46 | Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 880 (»Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn« I).
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das Wort ›Reserve‹ richtig verstehen: Weit mehr als um einen Vorrat handelt es sich um eine Figur, die den Sinn zurück- und in der Schwebe hält« (DE I/25: 547; Übers. geänd., frz. DE I/25: 418). Der Wahnsinn steht für die Momente, in denen etwas durcheinandergerät oder etwas nicht gehörig geordnet ist. Auch deshalb hat in Wahnsinn und Gesellschaft eine Figur einen prominenten Auftritt, die zu den seltsamsten Helden der Weltliteratur zu zählen ist, nämlich der von Diderot erfundene Neffe Rameaus, welcher für jene dem Werk vorgelagerte Sinnreserve, jene Lockerung der Bedeutungen steht wie kaum ein anderer.47 Der Wahnsinn ist zu verstehen als eine besondere Erscheinungsform dessen, was jenseits der »Gesetze« liegt, »die den sprachlichen Code betreffen« (DE I/25: 544). Er steht demnach – allgemein gesagt – für ebenjene »Diskontinuität«, die im Zentrum von Foucaults Theorie der Bewegung steht. Diese Diskontinuität liegt nicht nur auf der Seite des Gegenstands, also auf der Seite der historischen Entwicklungen, die zu beschreiben sind. Sie ist vielmehr eine Erfahrung, die man selbst macht, wenn man am »Werk« ist. Wer ein Werk verfasst, steht mit seiner Tätigkeit gewissermaßen am Rand desselben. Die Philosophie selbst muss diesen Rand, der Bedingung ihrer Hervorbringung ist, anerkennen, wenn sie nicht einem Selbstmissverständnis erliegen will. Hier passt das Zitat, das als Motto meines Beitrags dient: »Das Werk ist mehr als das Werk: Das Subjekt, das schreibt, ist Teil des Werks.« (DE IV/343: 744) Das heißt nichts anderes, als dass die Philosophie zuallererst selbst als »Bewegung« aufgefasst werden muss, als »Philosophie in Aktion«: »Die Bewegung, in der wir uns nicht ohne tastende Versuche, Träume und Illusionen von dem lösen, was als wahr gilt, und nach anderen Spielregeln suchen – diese Bewegung ist Philosophie. Die Verschiebung und Transformation des Denkrahmens, die Veränderung der überkommenen Werte, die ganzen Bemühungen, anders zu denken, zu handeln und zu sein – all das ist Philosophie« (DE IV/285: 136).
Neben diese Passage aus »Der maskierte Philosoph« lassen sich weitere ähnlich lautende Auskünfte stellen. Ich erlaube mir, einige von ihnen in chronologischer Folge anzuführen. »Die Philosophie […] [kann] nur an ihren äußersten Grenzen das Wort ergreifen und sich in ihm wieder in Besitz nehmen […]. Eine […] Sprache der Grenze [entfaltet] […] sich 47 | Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 349-357; vgl. Thomä, Dieter: »Hegel – Diderot – Hobbes. Überschneidungen zwischen Ästhetik, Politik und Ökonomie«, in: Axel Honneth/Gunnar Hindrichs (Hg.): Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt a.M.: Klostermann 2013, S. 167-194.
Foucault als Schwellenwesen erst in der Überschreitung dessen, der spricht. Das Spiel von Überschreitung und Sein ist konstitutiv für die philosophische Sprache, die es reproduziert und zweifellos auch produziert.« (DE I/13: 331, 334 [1963]) »Was heißt denn heute Philosophieren? Es heißt nicht, einen Diskurs über die Totalität zu schaffen, einen Diskurs, der die Welt in ihrer Totalität aufnimmt, sondern ganz real eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. […] Zu dieser diagnostischen Tätigkeit gehörte für ihn [Nietzsche; D. Th.] auch, unter seinen Füßen Ausgrabungen vorzunehmen, um zu klären, wie dieses ganze Universum des Denkens, des Diskurses und der Kultur […] entstanden war.« (DE I/50, 783f. [1967]) »[Es] geht […] in dieser historisch-philosophischen Praktik darum, sich seine eigene Geschichte zu machen: gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren, die von der Frage nach den Beziehungen zwischen den Rationalitätsstrukturen des wahren Diskurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen durchzogen ist.« (1978) 48 »Ich halte es nicht für erforderlich, genau zu wissen, was ich bin. Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, was man am Anfang nicht war. Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben? Was für das Schreiben gilt und für eine Liebesbeziehung, das gilt für das Leben überhaupt. Das Spiel ist deshalb lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommen wird.« (DE IV/362: 960 [1982]) »Ich werde folglich das […] philosophische ethos […] als eine historisch-praktische Erprobung [épreuve] der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst insofern wir freie Wesen sind, charakterisieren.« (DE IV/339: 703f. [1982]) »Was kann die Ethik eines Intellektuellen sein […] wenn nicht dies: sich permanent fähig zu machen, sich von sich selbst loszulösen (was das Gegenteil zu der Haltung eines Konvertiten ist)? […]. Diese Arbeit an der Veränderung des eigenen Denkens und dem der anderen scheint mir die Daseinsberechtigung der Intellektuellen zu sein.« (DE IV/350: 832 [1984])
Foucault spricht auch von einem »philosophische[n] Leben […], bei dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich historische Analyse der uns gesetzten Grenzen ist und Probe [épreuve] auf ihre mögliche Überschreitung ist« (DE IV/339: 707). Ich habe hier und auch in einem der obigen Zitate das Wort »épreuve« nicht ohne Grund hervorgehoben. Hinter ihm steckt ein Bezug auf
48 | Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin: Merve 1992, S. 26.
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das »Experiment«, wie Foucault an anderer Stelle49 bestätigt (zur »experimentelle[n] Haltung« vgl. auch DE IV/342: 727). Damit schließt sich der Kreis zu seinem Selbstporträt als »Experimentator«, der versucht, sich »selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor« (s.o.; DE IV/281: 52) – und von dort führt ein Weg zurück zu seinem übermächtigen Vorbild, nämlich zu Nietzsche: »Wir sind Experimente; wollen wir es auch sein«.50 Mir scheint übrigens, dass Foucault eine unnötige, fragwürdige Einengung vornimmt, wenn er die geschilderte Bewegung oder Verwandlung in seinen späten Texten auf die spezielle Aufgabe reduziert, das eigene Leben zu einem »Kunstwerk« zu machen (DE IV/326: 473). Diese Idee hat bekanntlich viel Anklang gefunden. Doch damit werden ästhetische Vorgaben zur Art der Tätigkeit und vor allem zu dem herzustellenden Kunstprodukt gemacht,51 die die leitende Idee der »Bewegung« eher verdunkeln als verdeutlichen. So wie Foucault an Paul Klee hervorhebt, dass es ihm gelinge, die »Gesten« und »Akte« des Malens selbst im Werk sichtbar werden zu lassen (DE I/39: 702; Übers. geänd., frz. DE I/39: 544), so drängt er darauf, das Philosophieren als Akt, Bewegung, Vollzug oder Performanz im Werk selbst in Erinnerung zu halten. Es kommt damit nicht nur zu einer weitgehenden Koinzidenz zwischen dem Leben als »Bewegung« und der Philosophie, die – wie gesehen – explizit als »Bewegung« charakterisiert wird. Es wird auch deutlich, dass Foucault als Philosophierender in seinen Werken gegenwärtig bleiben will. Diese Absicht tritt in seinem Interesse am »performativen« Sprechakt oder an der »Illoku-
49 | Ders.: Hermeneutik des Subjekts, S. 593f. Zu Foucaults Favorisierung von »expérience« gegenüber »utopie«, die im Deutschen als »Experiment« und »Utopie« wiedergegeben werden, vgl. DE II/98: 286; frz. DE II/98: 234. Foucault verweist überdies auf den inneren Zusammenhang zwischen »épreuve« und »essai«: »L‘›essai‹ – qu’il faut entendre comme épreuve modificatrice de soi-même […] – est le corps vivant de la philosophie« – »Der ›Versuch‹ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber […] – ist der lebende Körper der Philosophie«; vgl. Foucault, Michel: L’histoire de la sexualité II. L’usage des plaisirs, Paris: Gallimard 1984, S. 15; ders.: Sexualität und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 16. 50 | Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 274 (»Morgenröthe« § 453). Es sei angemerkt, dass Nietzsche hier seinerseits ein eigenes Vorbild zitiert, nämlich Ralph Waldo Emersons »I am an experimenter«; Emerson: Essays and Lectures, New York: Library of America 1983, S. 412; vgl. D. Thomä: »›Jeder ist sich selbst der Fernste‹. Zum Zusammenhang zwischen personaler Identität und Moral bei Nietzsche und Emerson«, S. 335. 51 | Vgl. zur Kritik Thomä, Dieter: »Lebenskunst zwischen Könnerschaft und Ästhetik«, in: Wolfgang Kersting/Claus Langbehn (Hg.): Kritik der Lebenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 237-260.
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tion« heraus, die auf den Behauptungscharakter von Sätzen zielen.52 Zu der »épreuve« oder zum Experiment gehört die Bereitschaft zur Rechtfertigung des Aktes, den man vollzieht, die Verantwortung für das, was man zu einer gegebenen Zeit sagt. Vor allem aber erklärt sich daraus die ebenso zwiespältige wie aufdringliche Präsenz des Autors Foucault in seinen Schriften. Man sollte sich von dem Hin und Her, der Offenlegung privater Informationen und der Zurückweisung indiskreter Fragen nicht täuschen lassen. Wenn Foucault sich der Neugier seiner Gesprächspartner widersetzt, so tut er dies nicht, weil ihm jene Präsenz prinzipiell fremd wäre, sondern deshalb, weil er mit der Art der Präsenz, die ihm zugemutet wird, nicht einverstanden ist. Daher rührt auch seine Zurückweisung eines »Ich«, das sich gewissermaßen in dieser Präsenz festsetzt und sie auf Dauer stellt. In wunderbarer Zuspitzung tritt diese Abwehr des Gefühls, »der Gefangene […] der eigenen Identität«53 zu sein, in einem Ausspruch aus dem Jahr 1975 heraus: »Ich bin mit meinem Leben glücklich, nicht so sehr mit mir selbst.«54 Wenn man in der beschriebenen Weise eine falsche Präsenz unterstellt, so zeichnet man das Bild einer Person, die sich gewissermaßen eine Theorie auf den Leib schneidert und in ihr ihre Eigenheiten auslebt. Nicht nur führt dieser Psychologismus – wie Foucault sagt – zur unproduktiven Ablenkung von theoretischen Problemen (s.o.; DE II/132: 609). Er basiert überdies auf dem Denkfehler, das Seelenleben des Autors würde sich zunächst in einem Bereich diesseits aller Diskurse entwickeln und dann erst auf sie durchschlagen oder sich in ihnen ausdrücken. Man kann an dieser Stelle auf eine Bemerkung Foucaults verweisen, die sich bereits in Maladie mentale et personnalité, also in der ersten, 1954 veröffentlichten Fassung von Maladie mentale et psychologie findet. Hier wendet er sich dagegen, dass das Subjekt gezwungen werde, »in seinen Konflikten das entregelte Gesetz seines Herzens zu erkennen, um es daran zu hindern, daraus die Widersprüche der Ordnung der Welt herauszulesen«.55 Doch nicht nur gegen diese Art von Präsenz wehrt sich Foucault, sondern auch gegen das Bild von einem Autor, welcher sich auf einen »Sockel« stellt, ein Machtwort spricht und sich in seinem »Prestige« sonnt (G 67; B 60). Der Beitrag »Was ist ein Autor?« darf als Zurückweisung einer solchen 52 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, S. 120; vgl. ders.: Diskurs und Wahrheit, S. 11; vgl. Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik [1982], Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 70, 313f. 53 | Foucault, Michel: »The Gay Science«, S. 399; vgl. J. Miller: Die Leidenschaft des Michel Foucault, S. 388. 54 | Zit. nach ebd. S. 416. 55 | Foucault, Michel: Maladie mentale et personnalité, Paris: Presses universitaires de France 1954, S. 109.
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Art von Präsenz, welche den Autor unter den falschen »Schutz des Apriori« stellt (DE I/69: 1011), aufgefasst werden. Entsprechend lässt sich das Interview »Der maskierte Philosoph«, in dem Foucault anonym bleibt, als eine paradoxe Intervention verstehen, die im Dienst einer anderen Präsenz steht. Diese steht im Zeichen der Bewegung, des Übergangs, des Experiments und deckt sich mit Foucaults Verständnis der Moderne als einer »Haltung«, welche sich – im etymologisch strengen Sinne von modernus – als Derzeitigkeit, Aktualität oder auch Geistesgegenwart verstehen lässt: »Modern-sein […] heißt […], eine bestimmte Haltung gegenüber dieser Bewegung einzunehmen […]; sie ist die Haltung, die es ermöglicht, das ›Heroische‹ am gegenwärtigen Moment zu erfassen« (DE IV/339: 695f.; Übers. geänd., frz. DE I/339: 569). Bislang bin ich dem Verhältnis zwischen Leben und Werk nur in einer bestimmten, eng begrenzten Hinsicht nachgegangen: nämlich im Rückgang von der Sprache auf den Sprecher, vom Werk auf den Autor. Es wäre aber eine falsche Abstraktion, diesen Autor gewissermaßen des eigenen Lebens zu berauben, ihn also nur als Textgenerator zur Kenntnis zu nehmen. Es geht immer auch um die »Philosophie als Leben«, um das »philosophische Leben« (DE IV/341: 717). An einer knappen Bemerkung wird deutlich, dass Foucault die Theorie des Subjekts als Schwellenwesen nicht nur an den Akt, die Aktualität des Schreibens bindet, sondern in drastischer Weise auf seine eigene Person bezieht. Sie lautet: »Schwul sein heißt im Werden sein« (DE IV/311: 352; Übers. geänd., frz. DE I/311: 295). Auf der Basis seiner allgemeinen Überlegungen zu Struktur und Überschreitung, zur Codierung von Verhaltensweisen und deren Verwandlung, gelangt er hier zu der These, dass die Homosexualität gerade deshalb, weil sie der gesellschaftlichen Normalität (und auch der darwinistischen Programmierung) nicht entspricht, in besonderer Weise zu Umgestaltungen oder Neuerfindungen einlädt. In der zitierten lapidaren Auskunft wird die These vom Menschen als Schwellenwesen, die ich Foucault zuschreibe, nicht nur auf das Schreiben, sondern auf das Leben zugespitzt. Diese Zuspitzung basiert auf einer ganz allgemeinen Voraussetzung: »Wir alle sind lebende und denkende Wesen« (DE IV/362: 964; Übers. geänd., frz. DE IV/362: 781). Unweigerlich fragt man sich, ob Foucault die These vom Schwellenwesen nur deshalb verficht, weil sie in besonderer Weise seiner sexuellen Disposition zuträglich ist; man gerät also in die Versuchung, jenen Reduktionismus zu pflegen, der in radikaler Weise von seinem Biografen James Miller verfochten worden ist.56 Ich habe bereits angedeutet, dass ich diesen Reduktionismus für eine Sackgasse halte. An dieser Stelle möchte ich ein einfaches Gegenargument an56 | S. o. Anm. 24. Es ist wohl die Abwehr dieses Reduktionismus, die Foucault dazu bringt, einerseits – wie in der Formel vom »schwulen« Werden – Bezüge zwischen Werk und Leben herzustellen, und andererseits auf Abgrenzung zu setzen. James Miller selbst
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führen, das just an der zitierten Stelle vom schwulen »Werden« anknüpft. Die Pointe von Foucaults Theorie des »Werdens« oder des Schwellenwesens liegt gerade nicht darin, dass er damit für seine partikulare Lebensweise Partei ergreift. Zum ersten existiert diese Lebensweise nicht vor aller Artikulation, also als quasi-natürliches Schwulsein, das dann nur noch »zur Sprache gebracht« werden müsste. Zum zweiten wäre es abwegig, würde man das »Werden«, von dem hier die Rede ist, als Sonderfall deklarieren, also die vielfältigen Erfahrungen des »Werdens«, die im Leben zugänglich sind, allesamt ignorieren, ausgrenzen oder gar als klammheimlich »schwule« Ambitionen vereinnahmen. Meines Erachtens ist es hilfreich, hier verschiedene Tonlagen57 oder Register des Diskurses zu unterscheiden. (Man muss allerdings zugeben, dass Foucault bei der Unterscheidung dieser Tonlagen nicht besonders hilfreich ist.) Von der Bewegung, vom Werden oder vom Leben auf der Schwelle kann er mit verschiedenen Geltungsansprüchen reden – auf der Ebene der individuellen Lebensführung oder der gesellschaftlichen Entwicklung. Wenn jemand diese verschiedenen Ebenen nutzt – und Foucault tut dies offensichtlich –, so heißt dies nicht, dass er den Unterschied zwischen ihnen kollabieren lassen würde – also etwa die theoretische Erörterung auf eine private Erfahrung reduzieren oder umgekehrt eine private Erfahrung zur globalen Diagnose auf blasen würde. Wenn Foucault einerseits von der Philosophie als »Bewegung« spricht und andererseits von der Homosexualität als »Werden«, so ist daraus nicht zu folgern, dass jeder Philosoph schwul werden oder umgekehrt jeder Schwule philosophieren müsse. Hält man die Unterscheidung zwischen jenen verschiedenen Ebenen aufrecht, dann ist es freilich nicht nur plausibel, sondern geradezu unvermeidlich, dass es zu Korrespondenzen zwischen ihnen, also auch zwischen den ihnen zugeordneten Sprecher- und Akteursrollen kommt. Man kann zusammenfassend sagen, dass Foucault eine bestimmte Lebensweise exponiert und exploriert – eine Lebensweise, die ich als Leben auf der Schwelle beschrieben habe. Diese Beschreibung ergänzt er durch eine Theorie des Autors, der sich seinerseits nicht anders denn auf einer Schwelle bewegen kann, und durch eine Rückbindung seiner allgemeinen Überlegungen auf die eigene individuelle Lebensführung. Es ergibt sich ein geschlossenes Bild, in dem Philosophie und Autobiografie mit ihren eigenen Geltungsansprüchen aufs Engste miteinander verbunden werden.
überliefert Foucaults Auskunft, dass »meine Arbeit eigentlich gar nichts mit schwuler Befreiung zu tun« habe; vgl. J. Miller: Die Leidenschaft des Michel Foucault, S. 372. 57 | Dieser Gedanke der »Tonlage« ist von Cavell in den Titel eines seiner Bücher gerückt worden, in dem er sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Autobiografie befasst; vgl. Stanley Cavell: A Pitch of Philosophy: Autobiographical Exercises, Cambridge [MA]: Harvard UP 1994.
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VI. S chreiben und Tod Ich habe mich bislang damit aufgehalten, Foucaults Konzeption des Schwellenwesens in ihre stärkste Form zu bringen, und dabei auch Lesarten seines Werkes verworfen, die diese Konzeption nicht ausreichend beachten. Zum Schluss möchte ich die von mir beschriebene – und verteidigte – Konzeption nochmals auf den Prüfstand stellen. Die Frage ist, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit das Schreiben und Leben im Übergang, als Werden oder auf der Schwelle gelingen. Bei diesem Werden kann es sich jedenfalls nicht um die isolierte Unternehmung eines Individuums handeln. Würde man sich etwa damit begnügen, es an dessen Kreativität zu binden, würde man nur in eine Falle laufen, vor der Foucault selbst mehrfach gewarnt hat: die Falle der Verselbständigung des Subjekts und dessen Einrichtung in einer »Privatwelt«.58 Weil das Material, mit dem das werdende Selbst umgeht oder das es selbst ist, nicht seiner Verfügung entspringt, ist es angewiesen auf eine Welt, die das Werden zulässt oder selbst im Werden ist. Diese Voraussetzung ist nicht selbstverständlich erfüllt, und das Einzige, was Foucault überhaupt zu den Möglichkeiten solcher Erfüllung sagt, läuft auf sein Plädoyer für eine Pluralisierung von Machtspielen zu. Was dies praktisch, politisch heißen soll, ob und wie unter diesen Voraussetzungen überhaupt Institutionen zulässig sind, bleibt bei ihm eine bedenklich offene Frage. Beschränkt man sich auf den Bereich des Schreibens, so erhält man von Foucault präzisere Auskünfte, die eine kritische, auch selbstkritische Qualität haben. Die reichste Quelle für diese Auskünfte ist ein Text, der – wie erwähnt – erst seit kurzer Zeit öffentlich zugänglich ist: ein Gespräch mit Claude Bonnefoy aus dem Jahr 1968, das seit 2011 auf Französisch und seit 2012 auf Deutsch vorliegt. Dieses Gespräch ist ausdrücklich und ausschließlich dem Vorgang des Schreibens gewidmet, und Foucault zeigt sich bereit, sein eigenes Schreiben – explizit im Gegensatz zu seinem vielfach erklärten Desinteresse an der Biografie des Autors – auf den »Lauf [s]eines Lebens«, den »fil de [s]a vie« zu beziehen (G 31; B 29). Man kann aus diesem Interview eine Argumentation in fünf Schritten herausarbeiten. Foucault grenzt sich erstens ab von der in der modernen Literatur seit Mallarmé59 verbreiteten Vorstellung einer Absolutsetzung der Sprache als Schreiben: »In gewisser Weise ist dieses Schreiben derzeit das Monument des Seins der Sprache. In Hinblick auf mein eigenes Erleben muss ich gestehen, dass 58 | Zur Pathologie des »monde privé« vgl. schon M. Foucault: Maladie mentale et personnalité, S. 88. 59 | Vgl. zur enormen theoretischen Wirkung dieses Motivs Kaufmann, Vincent: La faute à Mallarmé. L’aventure de la théorie littéraire, Paris: Seuil 2011.
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sich das Schreiben für mich ganz und gar nicht so dargestellt hat. Gegenüber der Schrift habe ich immer ein fast moralisches Misstrauen empfunden.« (G 30; B 28) Foucault führt seinen Vorbehalt gegen diese Absolutsetzung der Sprache auf die Verachtung der weltfernen, unernsten Sprache, der rhetorischen »Windmacherei« (G 34; B 31; Übers. geänd.), zurück, die ihm von seinem Vater – »schließlich bin ich Sohn eines Chirurgen« (G 35; B 32) – vorgelebt worden ist. Vorgelebt wurde ihm – wie er meint – die Geistfeindschaft desjenigen, der sich an die Wirklichkeit hält, der kühl diagnostiziert, schnell handelt, schneidet, sägt, näht etc. Das Schreiben war in dieser Umgebung nicht gut angesehen, und noch in seinen mangelhaften Leistungen im »Schönschreiben im Sinne des Grundschulunterrichts« erkennt Foucault die Wirkung der Sprachverachtung seines Vaters, der nicht »spricht«, sondern »[ein]greift«, »intervient« (G 36; B 33). Einerseits macht dies Foucaults lebenslangen Drang nach praktischer, politischer Intervention plausibel. Andererseits beharrt er darauf, dass auch das Schreiben selbst als Tätigkeit gelten darf, in der es tatsächlich um etwas gehen, in der etwas auf dem Spiel stehen soll: »Mein Projekt ist es, Sachen zu sagen.« (G 68; B 60; Übers. geänd.) Damit betreibt Foucault zweitens eine Rehabilitierung der Sprache; er wendet sich gegen die Geringschätzung, welche ihr in seinem Elternhaus entgegengebracht worden war. »Die Diskurse sind nicht nur eine Art transparenter Film, durch den hindurch man die Dinge sieht […]. Der Diskurs hat eine eigene Konsistenz, seine Stärke, seine Dichte, sein Funktionieren.« (G 37; B 34) Weil im Diskurs eine Lebensweise (oder im Sprachspiel eine Lebensform) bestimmt wird, ist es legitim, sich mit ihm als einem eigenen Ausdruck des Lebens zu befassen. Dieser Diskurs ist nun aber nichts, dem man sich im eigenen Schreiben einfach überlässt oder in dem man gefangen wäre. Drittens betont Foucault im Gespräch mit Bonnefoy – wie auch sonst häufig (s.o. Abschnitt V) – den Akt, die Aktualität des Schreibens. »Schreiben heißt im Wesentlichen, eine Arbeit anzugehen, dank derer und an deren Ende ich für mich selbst womöglich etwas finden kann, was ich zunächst nicht gesehen hatte. […] Was ich zeigen will, entdecke ich erst in der Bewegung des Schreibens, als ob Schreiben eben darin bestünde, zu diagnostizieren, was ich in dem Augenblick habe sagen wollen, in dem ich zu schreiben begann.« (G 45; B 41)
In dieser Aktualität des Schreibens realisiert sich Foucaults werdendes Selbst. – Nun erfolgt aber viertens eine Wendung, die als Deromantisierung oder Entzauberung dieser Figur des Werdens bezeichnet werden kann. Schließlich ist auch in der Sprache nicht alles im Fluss, es ist nicht so, dass man die Trägheit der Sprache, die Festgelegtheit oder das Vorgeschriebensein der Sprache in einem kreativen Akt einfach abschütteln könnte. Foucault beschreibt die Be-
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wegung des eigenen Schreibens als eine Erfahrung der Freiheit, in der die Sprache – wie er mit einer schönen Metapher sagt – »samtig« wird und in der es ihm erlaubt ist, »in jedem Augenblick die Ausdrücke zu wählen, die ich verwenden möchte« (G 39; B 35). Diese Erfahrung ist aber erkauft durch eine Voraussetzung, die Foucault drastisch kenntlich macht: Ihm muss sich nämlich das Material, mit dem er arbeitet, unterwerfen. Es wäre abwegig, so zu tun, als würde man im Schreiben lebendig machen, worüber man schreibt. Vielmehr ist man auf dessen Fügsamkeit oder Widerstandslosigkeit angewiesen. Foucault erkennt darin eine Form der Leblosigkeit oder des Todes.60 »Das Schreiben [ist] für mich mit dem Tod verbunden […], und zwar vielleicht sogar in erster Linie mit dem Tod der anderen […]. Ich spreche in gewisser Weise über den Leichnam der anderen. Ich muss zugeben, dass ich ihren Tod ein wenig postuliere. Wenn ich über sie spreche, befinde ich mich in der Position eines Anatoms, der eine Autopsie vornimmt. Mit meinem Schreiben durchlaufe ich den Körper der anderen, ich schneide ihn auf, ich hebe die Häute und Schichten ab, ich versuche die Organe bloßzulegen, und indem ich die Organe freilege, versuche ich schließlich, den Herd der Verletzung, den Herd des Übels, dieses Etwas, das ihr Leben und Denken ausgezeichnet hat und das in seiner Negativität letztlich alles organisiert hat, was sie gewesen sind, zum Vorschein zu bringen. Dieses giftige Herz der Dinge und der Menschen – im Grunde war es genau das, was ich immer offenzulegen versucht habe.« (G 40f.; B 36f.) 61
Das eigene Schreibens, die eigene Mobilisierung gelingt nur unter der Voraussetzung einer Immobilisierung dessen, worüber geschrieben wird. Foucault führt dieses Verhältnis zu seinem Gegenstand wiederum auf seine Kindheit und Jugend zurück. (Weite Teile des hier verhandelten Interviews mit Bonnefoy gleichen überraschenderweise einer klassisch-freudianischen Selbstanalyse.) Wenn Foucaults Hinwendung zum Schreiben, die ihm – wie er meint – erst als Dreißigjährigem gelang, eine Wendung gegen seine Herkunft, also auch eine erste Selbstüberwindung darstellt, so wählt die spezielle Art seines Schreibens doch jene Herkunft als Modell. Abweichung und Nachfolge greifen ineinander. Dies wird von Foucault messer- oder skalpellscharf herausgearbeitet.
60 | Er erkennt einen zutiefst »antichristlichen« Grundzug seines Denkens in der Ablehnung der Idee, dass die Sprache der Weg zum Ursprung des Lebens sei; vgl. G 43; B 39. 61 | Es liegt nahe – und Foucault bestätigt dies auch (G 36; B 40) –, dass mit Blick auf die Verwandtschaft zwischen Schrift und Tod auf Maurice Blanchot Bezug genommen wird. Mir scheint aber, dass Foucault sich keineswegs an Blanchots Vorgabe hält, sondern eigenständige Überlegungen vorträgt.
Foucault als Schwellenwesen »Vermutlich liegt in meinem Federhalter die alte Erbschaft des Skalpells. […] Ich habe das Skalpell zum Federhalter gemacht […]; ich habe die Narbe auf dem Körper durch das Gekritzel [graffiti] auf dem Papier ersetzt. […] Ich glaube, da bin ich meinem Erbe absolut treu, da ich wie mein Vater und meine Großeltern Diagnosen stellen will. Nur dass im Unterschied zu ihnen – und hierin trenne ich mich von ihnen und wende ich mich gegen sie – ich diese Diagnose ausgehend vom Schreiben stellen will, ich will sie in diesem Element des Diskurses stellen, das die Ärzte normalerweise zum Schweigen bringen.« (G 39, 45f.; B 35f., 41)
Foucaults Geschichte ähnelt auf erstaunliche Weise jener Geschichte, die sein Lieblingsgegner Jean-Paul Sartre über einen anderen Chirurgensohn und dessen Weg zum Schreiben erzählt hat: Gustave Flaubert.62 Auf einen Schlag wird überdies nachvollziehbar, warum so viele Bücher Foucaults im »medizinischen Milieu« angesiedelt sind: »Womöglich ließ mir die Weise medizinischer Erkenntnis deswegen keine Ruhe, weil sie der Geste meines Schreibens innewohnte.« (G 47, 52; B 42, 46) Heißt dies nun, dass man in der Konfrontation zwischen der Lebendigkeit des eigenen Schreibens und dem Totsein dessen, worüber man schreibt, stehen bliebe? Nein, es gilt vielmehr auch eine Entzauberung jener Form der Bewegung, des Agierens, des Werdens hinzunehmen, die sich im Schreiben vollzieht. Es ist eben nur ein Schreiben, das hier ›wird‹ – nicht mehr als das. So wird fünftens auch der Akt, die Aktualität des Schreibens von der Erfahrung des Todes ereilt. »Man schreibt auch, um kein Gesicht mehr zu haben, um sich selbst unter seinem eigenen Schreiben zu vergraben. Man schreibt, damit das Leben, das man um das Blatt herum hat, neben, außerhalb, fern von ihm, dieses Leben, das überhaupt nicht lustig ist, sondern eher langweilig und voller Sorgen, das den anderen ausgesetzt ist, von diesem kleinen papiernen Rechteck aufgesogen wird, das man vor Augen hat und dessen Herr man ist. […] Aber dazu, dass das wimmelnde Leben in dem unbeweglichen Gewimmel der Buchstaben aufgesaugt wird, gelangt man niemals. Immer wieder beginnt das Leben außerhalb des Papiers […]. So lässt man nicht ab, es immer wieder aufs Neue zu versuchen, sich zusammenzunehmen, sich selbst zu konfiszieren, in den Trichter der Feder und der Schrift zu gleiten, eine unendliche Aufgabe, eine Aufgabe, zu der man bestimmt ist.« (G 64f.; BD 57f.)
Foucault spricht von einer »Art der Tilgung, der Abtötung seiner selbst im Übergang zu den Zeichen« (G 65; B 58). Diese Selbststilllegung oder Selbsttötung im Schreiben ist in gleichem Maße Quell des Genusses und der Qual, der 62 | Sartre, Jean-Paul: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821-1857. I. Die Konstitution [1971], Reinbek 1977.
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Freisetzung und der Einschränkung. Ich kenne kaum eine Beschreibung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Schreiben und Leben, die ähnlich eindrucksvoll ist wie diese Unterscheidung Foucaults zwischen einem Leben, das vom Papier »aufgesogen« wird, und einem »Leben außerhalb des Papiers«. Das Werden, das sich auf das Schreiben verlegt, weist seine eigene Begrenztheit auf, enthüllt seine Fragilität und Vergeblichkeit (zur »zerbrechliche[n] und ungewisse[n] Existenz« vgl. auch DE I/58: 886). Eine Koinzidenz oder Fusion von Leben und Werk bleibt aus. Man muss auch Foucaults späte Überlegungen zum Leben als Kunstwerk – zum Teil gegen die von ihm selbst gesetzten Anreize und Anspielungen – davor bewahren, als Plädoyer für eine solche Fusion gelesen zu werden. Foucault liefert starke Argumente gegen den Vorschlag, etwa im »Leben als Literatur« – nach Alexander Nehamas’63 Nietzsche-Interpretation – eine harmonische Zusammenführung von Sprache und Sein zu sehen. Die Selbstpräsentation ist nicht verlustfrei. Vom Beginn seines theoretischen Schaffens an bringt sich Foucault als Stimme – und als Körper dieser Stimme – ins Spiel. Dieser Einsatz ist das (kaum beachtete) autobiografische Pendant zu seinem (stark beachteten) Doppelschlag von Diskurs und Dispositiv. Indem er auf die Stimme und den Schreibakt setzt, gelingt ihm dreierlei: Foucault entwirft erstens eine Konzeption der Lebensführung, die der Spannung von Struktur und Überschreitung Rechnung trägt und in deren Zentrum, meiner Rekonstruktion zufolge, die Idee des Schwellenwesens steht. Er hält zweitens den Philosophen in der Philosophie präsent, protestiert also – um diesen Punkt ohne Foucaults Vokabular zu kennzeichnen – gegen die Eliminierung des Sprechakts im System, gegen die Vernachlässigung der Stimme in der Ordnung. Drittens wahrt er die Balance im Bezug zwischen Autobiografie und Theorie und verhindert, dass erstere zum konstruktivistischen Artefakt oder letztere zum privaten Bekenntnis verkommt. Es sind nicht die schrillen Töne – die Parolen vom »Tod des Autors« einerseits, vom »Leben als Kunstwerk« andererseits –, sondern die leisen Töne, mit denen Foucault fasziniert und überzeugt. Ich habe versucht, mir auf diese leisen Töne einen Reim zu machen.
63 | Nehamas, Alexander: Nietzsche: Life as Literature, Cambridge [MA]/London: Harvard UP 1985; vgl. zur Kritik Thomä: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, München: Beck 1998, S. 140-156.
Automedialität und Künstlerschaft Film — Video — Internet: Künstlerische Selbstdarstellung in der Geschichte des Bewegtbildes Nina Gerlach
Nach dem Auftritt der Künstlerin/des Künstlers1 in der Videokunst oder in den Celluloid-basierten Bewegtbildern des Kunst- und Experimentalfilms zu fragen, erscheint kaum außergewöhnlich, da unweigerlich einige Namen ins Gedächtnis treten: Joan Jonas, Vito Acconci, Andy Warhol, William Kentridge ebenso wie Derek Jarman oder Salvador Dalí. Ganz anders verhält es sich, wenn Videoplattformen des Internets auf künstlerische Selbstdarstellungspraxen hin untersucht werden sollen. Dies hieße die Autorschaft von Online-Videos mit der sozialen Position des Künstlers zu verbinden und damit einige Videos als Artefakte eines neuen Mediums im Reigen kunsthistorischer Gattungen zu begreifen. Es ginge darum, dem medienwissenschaftlichen Verständnis von Selbstinszenierung auf Videoplattformen als eine vornehmlich von Jugendlichen praktizierte Laienkultur eine kunsthistorische Perspektive beizustellen.2 Denn obgleich – wie im Fall von Medienumbrüchen üblich – einige Vertreter des sozialen Feldes der Kunst die Anwesenheit von Künstlern auf Videoplattformen verneinen, nutzen diese ebenso wie international führende Museen und Galerien das webbasierte Distributionsmedium als Aus1 | Nur aus Gründen einer verbesserten Lesbarkeit wird im Folgenden einzig die männliche Form verwendet. 2 | Einen Überblick zur film- und medienwissenschaftlichen Forschung bieten: Lovink, Geert/Niederer, Sabine (Hg.): Video Vortex Reader. Responses to YouTube. Amsterdam 2008; Snickars, Pelle/Vonderau, Patrick (Hg.): The YouTube Reader. Stockholm 2009; Burgess, Jean/Green, Joshua: YouTube. Online Video and Participatory Culture. Cambridge [u.a.] 2009; Strangelove, Michael: Watching YouTube. Extraordninary Videos by Ordinary People. Toronto 2010; Lovink, Geert/Somers Miles, Rachel: Video Vortex Reader II. Moving Images Beyond YouTube. Amsterdam 2011. Hierzu auch in diesem Band der Beitrag »Image 2.0 oder: Selbsttechnologien in sozio-medialen Netzwerken« von Beate Ochsner.
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stellungsfläche zeitgenössischer Videokunst.3 Doch inwiefern unterscheidet 3 | 2010 präsentierte etwa das Solomon R. Guggenheim Museum New York 25 ausgewählte Online-Videos im Rahmen von YouTube Play. A Biennial of Creative Video auf einem eigenen Kanal der Videoplattform, www.youtube.com/user/playbiennial, 14.05.2014. Eine der international einflussreichsten Galerien im Feld der zeitgenössischen Kunst, die Gagosian Gallery, pflegt auf der Website ebenfalls einen eigenen Kanal und stellt hier unter anderen das Werk des zeitgenössischen Videokünstlers Richard Phillips aus, https:// www.youtube.com/user/GagosianGallery, 20.10.2012. Des weiteren nutzen neben jungen, kaum etablierten Künstlern auch Pioniere der Videokunst Videoplattformen, um ihre Werke als digitale Kopien einem breiten Publikum anzubieten. In diesem Sinne stellt etwa der deutsche Videokünstler Klaus vom Bruch einige seiner Arbeiten auf einem Kanal der Videoplattform Vimeo aus, http://vimeo.com/user8759686, 14.15.2014. Zudem haben umgekehrt zahlreiche Videos, deren ursprünglicher Veröffentlichungsort das Internet ist, den Einzug in die White Cubes der Museen gefunden. So stellte der amerikanische Photo- und Videokünstler Noah Kalina das Video Everyday am 08.06.2006 auf Vimeo und am 27.8.2006 auf YouTube online, http://vimeo.com/99392, 20.10.2012. Bereits 2007 war das Werk Bestandteil der Ausstellung We are All Photographers Now (2.2.-20.5.2007) des Musée de l’Elysée in Lausanne. Ebenso präsentierte das Solomon R. Guggenheim Museum die Werke ihrer 2010 ausgerufenen – jedoch bislang lediglich einmal ausgetragenen – Biennale vom 21. bis zum 24. Oktober 2010 in den Räumen ihrer Niederlassung in New York und 2012 war das Medium Bestandteil der Ausstellung Déjà-vu? – Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube der Staatlichen Kunsthalle/Karlsruhe. Zur Ausstellung in Karlsruhe wurde ein Katalog herausgebracht: Mensger, Ariane/Staatliche Kunsthalle Karlsruhe/Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (Hg.): Déjàvu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube [Ausst.-Kat.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 21.4.2012-5.8.2012]. Bielefeld 2012. Obwohl sich diese Liste weiter fortsetzen ließe bezweifeln einige Kuratoren, Kunstkritiker und -wissenschaftler die Existenz von videokünstlerischen Arbeiten auf Videoplattformen des Internets oder setzen die ausgestellten Werke mit Trivialitätskultur gleich. Der Leiter des Kunstvereins Bielefeld, Thomas Thiel, konstatiert etwa für das Jahr 2008: »artists donʼt occupy YouTube.« Thomas Thiel: »Curator as Filter/User as Curator«. In: Lovink, Geert/Niederer, Sabine (Hg.): Video Vortex Reader. Responses to YouTube. Amsterdam 2008, S. 181-187, hier S. 182. Terry Smith, Professor für Kunstgeschichte an der University of Pittsburgh, bezeichnet Kalinas Werk als »a profile in puzzlement for its own sake«, Smith, Terry: What is Contemporary Art? Chicago [u.a.] 2009, S. 209. Und die Kunstkritikerin Roberta Smith kommentiert die 2010 im Guggenheim Museum ausgestellten Werke mit »They seem to occupy a third sphere of slick and pointless professionalism, where too much technique serves relatively skimpy, generic ideas.« Smith, Roberta: »The Home Video Rises to Museum Grade«. In: New York Times. 21.10.2010, www.nytimes.com/2010/10/22/arts/design/22youtube.html?_r=0, 14.05.2014. Hierzu: Nina Gerlach: »Post-Medium Condition and Intericonic Art Theory. On the Self-Infvention of Online Video Art.« In: Journal of Art History/Kunsthistorik Tidskrift
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sich die dabei praktizierte künstlerische von der nicht-künstlerischen Selbstdarstellungspraxis? Geht man zudem davon aus, dass jede Gestaltungsweise in Abhängigkeit zu ihrer medialen Basis steht, dann stellt sich außerdem die Frage, welche formalen und ikonographischen Spezifika die Genreaktualisierung der visuellen Selbstdarstellung des Künstlers auf Online-Videoplattformen hervorbringt?4 Diese Frage nach zeitgenössischen Spezifika setzt immer eine diachrone Perspektive voraus, die gleichzeitig die Chance darauf eröffnet, dasjenige zur Kenntnisnahme zu bringen, was im Blick auf das spezifisch Neue der Gegenwart so oft verborgen bleibt: das Konstante. Denn: »Was sich verändert, drängt sich der Aufmerksamkeit unvergleichlich viel mehr auf, als was beim Alten bleibt. Das ist ein allgemeines Gesetz unseres geistigen Lebens. Die Perspektiv en, die sich von der Einführung des geschichtlichen Wandels her ergeben, sind daher immer in der Gefahr, Verzerrungen zu sein, weil sie die Verborgenh eit des Beharrenden vergessen.« 5
Der Analyse von künstlerischen Selbstdarstellungen im Bewegtbild des Internets muss demnach an dieser Stelle zunächst ein Blick auf die Geschichte die83/1, 2014a, S. 24-39; Nina Gerlach: »Online-Videoplattformen als hybride Ausstellungsräume des postmedialen Zeitalters und das kunstwissenschaftliche Instrument der kognitiven Metapher.« In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 77/1, 2014b, S. 117-130. Daneben wurden zahlreiche Interviews mit Künstlern, die ihre Videos auf Online-Videoplattformen ausstellen oder deren Werke auf netzwerkbasierte Bewegtbild-Archive Bezug nehmen, veröffentlicht u.a.: Bard, Perry: »When Film and Database Collide«. In: Lovink, Geert/Somers Miles, Rachel: Video Vortex Reader II. Moving Images Beyond YouTube. Amsterdam 2011, S. 322-329; Guida, Cecilia: »YouTube as a Subject. Interview with Constant Dullart«. In: Lovink, Geert/Somers Miles, Rachel: Video Vortex Reader II. Moving Images Beyond YouTube. Amsterdam 2011, S. 330-335. Der Videokünstler Constant Dullaart legte eine ausführliche Beschreibung seiner Videokunst-Serie YouTube as a Subject (2007-2008) vor: Dullaart, Constant: »YouTube as a Subject«. In: Burrough, Xtine (Hg.): Net Works. Case Studies in Web Art and Design. New York/London 2012, S. 16-24. 4 | »Was schließlich die Ästhetik betrifft, so ist der Kunst mit den [neuen] medialen Techniken ein höchst wandelbares Material zugewachsen, an dem einmal mehr deutlich wird, dass es in der Kunst nie auf das Material allein, sondern auf Operationen mit den Materialien ankommt – und dass es der weite Spielraum dieser Operationen ist, der das eigentliche Medium der jeweiligen Künste bildet.« Seel, Martin: »Eine vorübergehende Sache«. In: Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sanbothe, Mike (Hg.): Medienphilosophie – Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a.M. 2003, S. 10-15, hier S. 11. 5 | Gadamer, Hans. G.: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990 [11960], S. 3-4.
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ser künstlerischen Praxis und ihrem heterogenen medialen Feld, das den Film ebenso wie die historische Videokunst umfasst, vorausgehen.6
V on der A utomedialität zur S elbstkonstitution des K ünstlers im B e wegtbild Theoretisch wird die Verflechtung von subjektbezogener Autoreferentialität und ihrer medialen Basis unter dem Begriff der Automedialität gefasst. In Abgrenzung zum Autobiographiebegriff entwickelt verweist Automedialität nach Christian Moser und Jörg Dünne auf die grundsätzliche mediale Heterogenität selbstbezüglicher Praxen.7 Den Autoren liegt jedoch nicht einzig daran, den Forschungsgegenstand ausgehend von der Schrift um Formen der Mündlichkeit und derjenigen der klassischen und neueren Bildmedien zu erweitern, sondern vor dem Hintergrund zentraler Erkenntnisse der poststrukturalistischen Wende innerhalb der Geisteswissenschaft die theoretischen Grundlagen der Autobiographieforschung unter dem Terminus der Automedialität zu reformulieren. Dies bedeutet letztlich, die Konstruktivität des Subjektes in den 6 | Eine systematische medienübergreifende Studie zur künstlerischen Selbstdarstellung im Bewegtbild, die Beispiele aus Film, Videokunst und ihrer digitalen netzwerkbasierten Form umfassen würde liegt gegenwärtig nicht vor. Kunsthistorische Arbeiten konzentrieren sich zumeist auf die Frühphase der Videokunstgeschichte. So etwa: Engelbach, Barbara: Zwischen Body Art und Videokunst. Körper und Video in der Aktionskunst um 1970. München 2001; Osswald, Anja: »Sexy lies in videotapes«: künstlerische Selbstinszenierung im Video um 1970 bei Bruce Nauman, Vito Acconci, Joan Jonas. Berlin 2003; Schubiger, Irene: Selbstdarstellung in der Videokunst. Zwischen Performance und »Self-edeting«. Berlin 2004. Zudem inkludieren auch die zentralen diachron ausgerichteten kunsthistorischen Überblickswerke zum Selbstportrait – obwohl ihr Forschungsgegenstand bis in die Gegenwart reicht – keine Beispiele aus den Bewegtbildmedien Film und Video: Calabrese, Omar: Die Geschichte des Selbstportraits. München [u.a.] 2006; Pfisterer, Ulrich/von Rosen, Valeska von: Der Künstler als Kunstwerk. Selbstportraits vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 2005. Ansätze zu einer transmedialen Forschungsperspektive finden sich etwa bei: Kraus Karola (Hg.): »Jeder Künstler ist ein Mensch!« Positionen des Selbstportraits [Ausst.-Kat.: Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 11.9.2010-21.11.2010]. Köln 2010; Von Bismarck, Beatrice: Auftritt als Künstler – Funktionen eines Mythos. Köln 2010; Ruelfs, Esther/Stoss, Tino (Hg.): Rollenbilder – Rollenspiele [Ausst.-Kat.: Museum der Moderne Salzburg Mönchsberg, 23.7.-30.10.2011]. München 2011. 7 | Für das Folgende: Moser, Christian/Dünne, Jörg: »Allgemeine Einleitung. Automedialität«. In: Dies. (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien. München 2008, S. 7-16.
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Formen seiner Entäußerung zu akzentuieren. Zum einen ereignet sich Subjektkonstitution immer in Abhängigkeit zum verwendeten Medium: »Das Ziel [der Begriffsetablierung] besteht […] darin, ein traditionelles Verständnis von ›Autobiographie‹, bei der die Schrift ein bloßes Werkzeug für die Darstellung des eigenen bios ist, aufzulösen zugunsten einer ›Autographie‹, eines sich medial im Schreiben konstituierenden Selbstbezugs bzw. – wenn man den Untersuchungsgegenstand von hier aus auf andere Medien und die durch sie ermöglichten Formen des Selbstbezugs öffnet – einer generalisierten ›Automedialität‹. […] Das Konzept will […] dem apparativen Charakter der Medien Rechnung tragen – ihrer Bestimmtheit durch konkrete Technologien der Informationsübertragung.« 8
Jede Technologie bringt dabei einzigartige Formen des Selbstbezuges hervor, die in anderen Medien so nicht realisierbar sind. Ein Blick auf die historischen Anfänge des Bewegtbildes verdeutlicht dies. Abbildung 1: George Méliès: Le Portrait Mystérieux. FRA 1899. Stummfilm, Schwarz-Weiß. 01:00 min.
Quelle: http://www.dailymotion.com/video/xhavzw_le-portraitmysterieux-1899-georges-melies_shortfilms, 01.03.2014.
Als Georges Méliès 1899 seinen Kurzfilm Le portrait mystérieux drehte lieferte er damit eine der ersten Selbstdarstellungen im Bewegtbild (Abb. 1).9 Der französische Filmpionier zeigt sich in seinem Werk auf einem Hocker sitzend neben einer übermannsgroßen gerahmten Leinwand als vor der dort abgebil8 | Ebd., S. 11. 9 | Ich bedanke mich an dieser Stelle bei Markus Klammer, der mich auf dieses Beispiel aufmerksam machte.
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deten Landschaft langsam sein Ebenbild erscheint. Dieses erweist sich dabei allerdings nicht als eine in ein statisches Bildmedium überführte Reproduktion der außerhalb des Bildrahmens sich befindenden Figur, sondern als ein ebenfalls sich bewegender Akteur der Handlung. Aufgrund dieses gerahmten Bewegungsmoments stellt sich beim Betrachter unmittelbar die Assoziation eines Spiegelbildes ein.10 Doch auch mit dessen medialen Spezifika wird im weiteren Verlauf des Films gebrochen. Hinsichtlich Physiognomie und Kleidung zwar identisch entzieht sich das rege Pendant seinem scheinbaren Vorbild immer wieder durch unabhängige Bewegungsabläufe. Steht etwa die Figur außerhalb des Bildrahmens, so bleibt die Figur innerhalb des Rahmens sitzen. Abbildung 2: Norman Rockwell: Triple SelfPortrait. 1959. Öl auf Leinwand. 113 x 88.3 cm. Cover-Illustration für »The Saturday Evening Post,« 13.02.1960. Stockbridge, Mass., Norman Rockwell Museum.
Quelle: Calabrese, Omar: Die Geschichte des Selbstportraits. München [u.a.] 2006, S. 166.
10 | »Der […] Unterschied zwischen Bild und Spiegel liegt darin, dass die Spiegelreflexion Bewegungsabläufe ›registriert‹.« Kacunko, Slavko: Spiegel – Medium – Kunst. Zur Geschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes. München 2010, S. 16. Dort ausführlich zur Unterscheidung von Bild und Spiegel: Ebd., S. 15-16.
Automedialität und Künstlerschaf t Abbildung 3: René Magritte: La Reproduction Interdite. 1937. Öl auf Leinwand. 81,5 x 65,5 x 2 cm. Rotterdam, Museum Boijmans van Beuningen.
Quelle: Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film. München 2006, S. 114.
Der französische Regisseur stellt sich mit diesem Werk in die kunsthistorische Tradition derjenigen Portraits, die mit der Konzeption des Genres als ein möglichst exaktes Abbild des Portraitierten brechen. Solche Werke hinterfragen die abbildungsrealistische Position zumeist dadurch, dass sie den Herstellungsprozeß des Portraits offenlegen und/oder die zu portraitierende »Wirklichkeit« und das darauf referierende Bild als eigene mediale Realitäten kennzeichnen. Die Markierung erfolgt in statischen Bildmedien zumeist über Abweichungen hinsichtlich Mimik, Gestik, Haltung oder Accessoires des Portraitierten. In diesem Sinne zeigt Norman Rockwells 1960 angefertigtes Triple Autoportrait (Abb. 2) sich selbst nicht nur in der Rückenansicht bei der Anfertigung eines Selbstportraits nach seinem Spiegelbild, sondern verzichtet für die Darstellung seines Antlitzes auf der Leinwand auf die sowohl im Spiegel als auch bei der davor sitzenden Figur deutlich sichtbare Brille.11 In René Margittes La Reproduction Interdite (1937/Abb. 3) ist es der Spiegel selbst der als eigene Reali-
11 | Hierzu: Calabrese (2006) S. 166-167.
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tätsebene ausgewiesen ist.12 Das Werk erweist sich dabei in doppelter Hinsicht als »verhindertes Portrait«. Es zeigt einen Mann in Rückenansicht vor einem Spiegel, wobei die dort erscheinende Figur erneut seine Rückenansicht zeigt und somit als mise en abyme das Nicht-Portrait, die Makrostruktur des Bildes, in seiner Mikrostruktur wiederholt.13 Da dem Rezipienten der Blick auf das Konterfei des Mannes verwehrt bleibt, gibt die »Reflektion« im Spiegel nicht den Blick des Dargestellten wieder sondern der Blick des Rezipienten wird im Bild verdoppelt, um denselben auf die Betrachtung medial vermittelter Realität aufmerksam zu machen.14 Diese mit dem Verfahren des Bildes im Bild verknüpfte Möglichkeit zur Aufspaltung bildimmanenter Realitätsebenen, die sich aufeinander beziehen und sich dabei zugleich einander entziehen ist durch die Entwicklung des Films im ausgehenden 19. Jahrhundert maßgeblich bereichert worden.15 Aufgrund der Prozeßhaftigkeit dieses Mediums ergibt sich die Gelegenheit, die einzelnen bildimmanenten Realitätsebenen des metamedialen Portraits auch hinsichtlich ihrer Abweichung wieder in Verbindung zu setzen. Die von Méliès vorgeführten zunächst scheinbar unabhängigen Bewegungsabläufe der Figur innerhalb des Bilderrahmens erweisen sich im Verlauf des Films als direkte Reaktionen auf die Handlungen des außerhalb agierenden Mannes. Das Bewegtbild des Films ermöglicht durch die Verzeitlichung der Abweichung Interaktion und damit den Typus des Selbstportraits als Kommunikation mit dem eigenen Doppelgänger. Zum anderen wenden sich Moser und Dünne gegen jene reduktionistische Traditionen der Autobiographieforschung, die das Subjekt entweder als gegebene 12 | Zur Rolle des Spiegels im Selbstportrait der Malerei: Ebd., S. 161-182; Kacunko (2010), besonders S. 233-259. Zum Einsatz des Mediums in der Performance- und Videokunst sowie zur dortigen metaphorischen Verwendung des »Spiegels« im Rahmen der Theoriegeschichte von Closed-Circuit-Installationen: Ebd., S. 661-759. 13 | Zum Phänomen des sich seiner Funktion der Darstellung eines identifizierbaren Konterfeis entziehenden »Nicht-Portraits« wird gegenwärtig von Charlotte Klonk ein Forschungsprojekt an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt. 14 | Dass der Rezipient von Magrittes Werk trotz der Verdopplung der Rückenansicht immer noch meint im Werk Magrittes ein Spiegelbild und nicht ein zweites gemaltes Bild zu sehen, liegt daran, dass das vor dem Spiegel auf einem Sims liegende Buch vom diesem erwartungsgemäß reflektiert wird. Das »[…] Buch[es] liegt vor allem deshalb auf dem Kaminsims, weil erst durch die perfekte Darstellung des Buches und seiner Spiegelreflexion (einschließlich der dort leicht zu erkennenden ›Spiegelschrift‹) kognitiv klar und deutlich wird, dass hinter dem Kaminsims kein Double des Mannes vor dem Kaminsims steht – eine Lösung also, bei der Magritte in einer langen Tradition seiner flämischen Vorgänger des 15. Jahrhunderts steht.« Kacunko (2010) S. 562-563. 15 | Zur Figur des Bildes im Bild in der Kunstgeschichte vor allem: Victor I. Stoichita: The Self-Aware Image – An Insight into Early Modern Meta-Painting. Cambridge 1997 [11993].
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causa fassen, das den Formen der Entäußerung bedingend vorausgeht, oder »zum ohnmächtigen, sekundären Effekt einer medialen Apparatur« herabwürdigen: »Der Begriff der Automedialität, […], knüpft vielmehr an solche Forschungsansätze zur Genealogie von Subjektivität an, die den historischen, kulturellen und medialen Konstruktcharakter individueller und kollektiver Identitäten herausarbeiten, dem Individuum im Rahmen dieser Konstruktionsarbeit aber auch einen gewissen Spielraum des ›selffashioning‹ zugestehen.«16
Im Rückgriff auf Michel Foucaults Konzept der »technique de soi« wird das Medium dabei zur Vorraussetzung dieses vielschichtigen Prozesses in dem sich das Subjekt konstituiert: »Den gesellschaftlichen ›technique de domination‹ ist mit den ›technique de soi‹ eine zweite Kategorie von Techniken an die Seite gestellt, die der selbstverantwortlichen Gestaltung des eigenen Lebens im Rahmen institutioneller und diskursiver Zwänge dienen sollen. Der Umgang mit Medien zum Zwecke der Selbsterkenntnis wie auch der Selbstformung ist ein wesentlicher Bestandteil dieser ›Technologie des Selbst‹. Mehr noch: Das Selbstverhältnis (›rapport à soi‹), welches das Individuum in der praktischen Bearbeitung seiner ›ethischen Substanz‹ etabliert, beinhaltet notwendigerweise den Rekurs auf ein äußerliches Medium. […] Es gibt kein Selbst ohne einen reflexiven Selbstbezug, es gibt keinen Selbstbezug ohne den Rekurs auf die Äußerlichkeit eines technischen Mediums, das dem Individuum einen Spielraum der ›Selbstpraxis‹ eröffnet. In diesem Sinne postuliert das Konzept der Automedialität ein konstitutives Zusammenspiel von medialem Dispositiv, subjektiver Reflexion und praktischer Selbstbearbeitung.«17
Der hier gewählte Untersuchungsgegenstand einer künstlerischen Automedialität erweitert das Konzept um die Frage nach der medialen Konstitution des Subjekts hinsichtlich der Konstitution einer spezifischen sozialen Rolle. Die Frage ist dann nicht mehr inwiefern bringt jedes Medium generell neue Möglichkeiten der Selbstkonstitution hervor, sondern inwiefern beeinflusst Technologie künstlerische Selbsttechnologien? Wenn Künstler seit den 1960er Jahren das Star- und Markenprinzip auf ihre eigene soziale Rolle anwenden, dann lässt sich diese Entwicklung ohne die Berücksichtigung des elektronischen Bewegtbildes und seines Distributionsapparats, dem Fernsehen, nicht hinreichend fassen. In diesem Sinne pro16 | Moser/Dünne (2008) S. 10. 17 | Ebd., S. 12-13. Bezugnehmend auf: Foucault, Michel: »Sexualité et solitude«. In: Ders.: Dits et écrits. Bd. 4: 1980-1988. Paris 1994, S. 168-178, hier S. 170f; Ders.: »Technologies of the Self«. In: Martin, Luther H./Hutton, Patrick H./Gutman, Huck (Hg.): Technologies of the Self. A Seminar with Michel Foucault. Amherst 1988, S. 16-49, hier S. 18.
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duzierte etwa Andy Warhol in den 1980er Jahren mehrere personality shows auf MTV und konsolidierte durch seine eigenen Auftritte mit der typisch weißblonden Perücke in Analogie mit dem Starsystem seinen öffentlichen Ruhm als Künstler durch die mit der gewonnen Reichweite des Mediums verbundene Aufmerksamkeitserregung.18 Der Konzept- und Performancekünstler Chris Burden reflektierte bereits in den 70er Jahren dieses durch das Fernsehen mitbeeinflusste Selbstverständnis von Künstlerschaft als popularisierte Marke als er von amerikanischen Fernsehsendern Werbezeit kaufte und zu verschiedenen Sendezeiten seine eigenen videokünstlerischen Arbeiten zeigte. In seinem Spot Chris Burden Promo lässt der amerikanische Künstler 1976 nacheinander Namen berühmter Künstler in gelber Schrift auf blauem Grund erscheinen, darunter auch seinen eigenen Namen.19 Als im letzten Bild des »Spots« zu lesen ist »paid for by Chris Burden-artist © 1976« wird deutlich, dass Burden hier auf eine gewandelte Vorraussetzung der historischen Verflechtung von Popularität und Künstlerschaft in einer kommerzialisierten Medienlandschaft aufmerksam machen möchte. Wenn wir uns hinsichtlich der Frage nach der medialen Bedingung künstlerischer Selbsttechnologien noch einmal Méliès’ Werk zuwenden wird zudem erkennbar, dass diese nicht nur von den medialspezifischen Operationsmöglichkeiten, sondern auch von den popularisierten Gebrauchsformen des jeweilig verwendeten Mediums indirekt abhängig sind. Méliès präsentiert sich in seinem Le portrait mystérieux – wie in unzähligen anderen seiner Werke auch – als Zauberer, der mit den für diesen Berufsstand 18 | »Für ihn [Warhol] musste ein Künstler nicht nur anerkannt, verehrt, begehrt und teuer sein, sondern auch einen Bekanntheitsgrad aufweisen, der weit über die Grenzen der Kunstwelt hinausgehen und die Zugehörigkeit zum Jetset garantieren sollte.« Butin, Hubertus: »Andy Warhol. Selbstportraits und Selbstdarstellungen«. In: Freybourg, Anne M. (Hg.): Die Inszenierung des Künstlers. Berlin 2008, S. 12-18, hier S. 16. Zur Zusammenarbeit des Künstlers mit dem Fernsehen in den 1980er Jahren ausführlich: Höller, Christian: »Popkunstfernsehen. MTV als kreativer künstlerischer Rahmen in den 1980er-Jahren«. In: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien/Michalka, Matthias (Hg.): Changing Channels. Kunst und Fernsehen 1963-1987 [Ausst.-Kat.: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 5.3.-6.6.2010]. Köln 2010, S. 261-269. 19 | Die genannten Künstler Leonardo Da Vinci, Michelangelo, Pablo Picasso, Rembrandt und Vincent van Gogh wurden zur Folge Burdens ausgewählt, da sie gemäß einer Umfrage die bekanntesten Künstler in den USA darstellten. Das Video wurde vom 1.21.5.1976 auf Channel 4 und 9, New York und vom 17.-24.9.1976 auf Channel 5, 11 und 13, Los Angeles ausgestrahlt. Noever, Peter/MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst Wien (Hg.): Chris Burden. Beyond the Limits = jenseits der Grenzen [Ausst.-Kat.: MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst Wien 28.02.-0408.1996]. Ostfildern 1996, S. 126.
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typisch beschwörenden Gesten ein lebendiges Double von sich erschafft (Abb. 4).20 Gleichzeitig gilt der französische Filmpionier, dessen Vater eine Ausbildung an der École des Beaux Arts untersagt hatte, als wegweisender Wortführer, wenn es darum ging, den künstlerischen Wert des jungen Mediums herauszustellen: »I am only an artist, so be it … I say that cinema is an art, for it is the product of all the arts.«21 Für Méliès ergab sich aus der Verflechtung des technologisch bedingten Realismuseffekts des Films mit magischen Wirkmechanismen gerade die Möglichkeit dem Medium seinen Weg in die Künste zu ebenen. Abbildung 4: George Méliès: Le Portrait Mystérieux. FRA 1899. Stummfilm, Schwarz-Weiß. 01:00 min.
Quelle: http://www.dailymotion.com/video/xhavzw_le-portrait -mysterieux-1899-georges-melies_shortfilms, 01.03.2014.
Im Gegensatz zu den dokumentarisch anmutenden zeitgenössischen Bewegtbildern der Gebrüder Lumière deren Filmvorführungen der cineastische Zauberkünstler 1895 in Paris besucht hatte, zeugen seine Werke von der Lust am Illusionismus und von einem dem ausgehenden viktorianischen Zeitalter entsprechenden Dreiklang von technischem Wissen, Magie und Kunst: »[…] there was a powerful synergy of magic, art and technology in this period. […] The conceptual bond that brought these elements together was the theme of metarmorphosis – the possibility of visual transformation, of the transmutation of inanimate objects 20 | Zum Künstler als Zauberer in der Geschichte der Kunst: Kris, Ernst/Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt a.M. 1995 [1980], S. 89-120. 21 | Hierzu: Nead, Lynda: The Haunted Gallery. Painting, Photography, Film c. 1900. New Haven/London 2007, S. 101-102. Zitat: Méliès, Georges: Mes mémoires, 1938, zitiert nach einer Übersetzung von: Ebd., S. 101.
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Nina Gerlach into living flesh. To a degree this had always been the ambition of representational art, but each new medium took up the challenge and tried to surpass its rivals in the power to create the illusion of life.« 22
Inwiefern stehen also die historische Variabilität künstlerischer Selbstdarstellung und die dabei veranschlagten topoi, die neben dem Zauberer und dem Star etwa auch den artiste maudit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genauso wie den Gesellschaftskritiker und -reformer der 1960er und 1970er Jahre umfassten, immer auch in Abhängigkeit zu den technologischen Entwicklungen und ihren populären Gebrauchsformen der jeweiligen Zeit?23 Ein Blick in die Kunstgeschichte des elektronischen Bildes zeigt, dass mediale Neuerungen auf dem Feld der künstlerischen Selbsttechnologien neben Varietät zudem immer auch Redundanz hervorbringen und im Falle metakünstlerischer Werke beides sogar kritisch vereinen.24 Mit Metakunst um22 | Ebd., S. 88. Méliès hatte in der Egyptian Hall in London die Shows des berühmten britischen Zauberkünstlers John N. Maskelyne besucht. Dieser hatte zusammen mit seinem Partner David Devant 1911 in einem Buch mit dem Titel Our Magic die Zauberkunst mit der Malerei verglichen und dabei künstlerische Praxis in drei Stufen eingeteilt. Nead fasst diese wie folgt zusammen: »False Art/Magic – which is simply an imitation of the mediocre work of others; Normal Art/Magic – which imitates things that exist in Nature but which creates nothing original; and High Art/Magic – which is an original conception and the highest of the imagination.« Ebd., S. 84. Zum Einfluss des dokumentarischen Stils der Gebrüder Lumiere auf Méliès: Dalle Vacche, Angela: »Cézanne and the Lumière Brothers«. In: Dies (Hg.): Film, Art, New Media: Museum without Walls? New York 2012, S. 39-56, hier S. 45-46. 23 | Es versteht sich dabei von selbst, dass der »identitäre Prozeß« von Künstlerschaft neben eigenproduzierten immer auch auf »fremdproduzierte Bilder« zurückreicht: »Für das jeweilige Bild des Künstlers können entsprechend nicht vorrangig Künstlerinnen und Künstler verantwortlich gemacht werden, sondern sie tragen gleichberechtigt mit allen anderen im Feld Handelnden zu ihm bei, Betrachter/innen, Kurator/innen, Wissenschaftler/innen, Galerist/innen, künstlerisch Ausbildende und Auszubildende, Sammelnde und Betrachtende sowie die mit ihnen jeweils affilierten Einrichtungen.« Von Bismarck (2010) S. 7-8. Zur historischen Variabilität von Selbst- und Fremdkonstitution von Künstlerschaft außerdem: Kris/Kurz (1995/11980); Krieger, Verena: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen. Köln 2007; Hellmold, Martin/Kampmann, Sabine/Lindner, Ralph/Sykora, Katharina (Hg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst. München 2003. 24 | »Für jede Konstitution von Künstlerschaft spielen bereits bestehende Vorstellungen davon, was ein Künstler in Verhältnis zu wem oder was ist oder macht hinein – lang jährig tradierte und bewährte daraus abgeleitete und neu zusammen gestellte, veränderte oder verschobene. Der Auftritt als Künstler vollzieht sich als identitärer Prozess, der eigen- und fremdproduzierte Bilder gegeneinander abgleicht, sie in die jeweils
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schreibt Christoph Zuschlag diejenigen Werke, die sich auf andere Werke oder topoi der Kunstgeschichte beziehen und somit auch Künstlermythen und ihre Darstellungstraditionen aufgreifen und reflektieren.25 In diesem Sinne hinterfragt etwa Peter Weibel in seinem Video Das Theorem der Identität: Tritität (1974) die traditionelle Selbstdarstellungspraxis des Künstlers als gottähnlicher Schöpfer, wenn er in einem Überblendungseffekt sein eigenes Portrait mit einer Christusdarstellung von Pierro della Francesca eint, um diese produktionsinterikonisch hergestellte Analogie dann im weiteren Verlauf seines Werkes durch das Schneiden von Grimassen wieder zu unterlaufen.26 Wie in den statischen Künsten des 20. Jahrhunderts verstärkt nachweisbar hat sich demnach auch die Videokunst vom Verständnis des Selbstportraits als Abbild einer semantisch festgelegten künstlerischen Identität verabschiedet und wendet sich seit ihren Anfängen in den 1960er Jahren experimentellen Rollen- und Subjektkonstitutionen zu. Der Künstler im elektronischen Bewegtbild wirkte dabei an der gegenwärtigen Polisemie von Künstlerschaft mit, indem er sich zum Stellvertreter divergierender Identitätskonzepte machte.27 So kennt die Videokunst neben dem Metakünstler auch die Gesellschaftskritikerin, wenn Ulrike Rosenbach in ihren Werken die Performativität der Geschlechterrollen expliziert. In der Videoperformance28 Glauben Sie nicht, prägenden historischen Kontexte verwebt und deren Anforderungen anpasst.« Von Bismarck (2010) S. 8. 25 | »Unter Metakunst verstehe ich Kunst über Kunst im doppelten Sinne: zum einen Kunst, die sich explizit auf ein bestimmtes Werk, einen Topos oder das institutionelle Umfeld der Kunstgeschichte bezieht und die zum anderen auf einer Metaebene, in einem bildnerischen Diskurs, Kunst thematisiert, sich also reflektiert.« Christoph Zuschlag: »Vom Kunstzitat zur Metakunst – Kunst über Kunst im 20. Jahrhundert«. In: Mai, Ekkehard/Wettengl, Kurt (Hg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier [Ausst.-Kat.: Haus der Kunst München 1.2.-5.5.2002/Wallraf-RichartzMuseum – Fondation Corboud Köln 25.5.-25.8.2002]. Wolfratshausen 2002, S. 171189, hier S. 176-177, zum Künstlermythos in der Metakunst S. 182-183. 26 | Weibel greift hier auf die Tradition der imitatio Christi im Selbstportrait des Künstlers zurück wie sie prominent in Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock (1500) vertreten ist. Zum Mythos des Künstler als divino artista u.a.: Ebd., S. 183; Kris/Kurz (1995) S. 64-86. 27 | »[…] geschlossene Konzepte von künstlerischer Autorschaft [sind] heute weitgehend aufgesprengt. […] ›Was ist ein Künstler?‹ fragt vielmehr nach seiner historischen, medialen rhetorischen und sozialen Polisemie und geht der Vervielfältigung seiner Funktionen nach.« Hellmold, Martin/Kampmann, Sabine/Lindner, Ralph/Sykora, Katharina: »Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst. München 2003, S. 9-15, S. 12. 28 | »Seit dem Ende der 1960er Jahre entstehen vermehrt Videotapes, denen nicht unbedingt eine Live-Aufführung vor Publikum zugrunde liegt, sondern die im Studio
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daß ich eine Amazone bin (1975) schießt die Künstlerin mit Pfeil und Bogen auf eine Reproduktion von Stephan Lochners Madonna im Rosenhag (1451). Ihr eigenes Gesicht beim Abschuß der Pfeile und das Antlitz der Madonna werden in der Performance auf einem Monitor ineinander geblendet, so dass auch die persönliche Verinnerlichung traditioneller Frauenbilder hier zur Disposition steht.29 Bruce Naumann hingegen führt den Künstler ab Mitte der 1960er Jahre als Medium sinnlicher Erfahrung der Welt vor, wenn er in unzähligen Videoperformances etwa durch mechanisierte Bewegungsabläufe den eigenen Körper in die personale Abstraktion zu überführen sucht.30 Bei Gottfried Bechthold wird der Künstler zum Stellvertreter der Medienund Konsumkritik. In Fernsehen (1971/1972) schießt Bechthold mit einem Revolver auf die Kamera, in diesem Moment wechselt die Szenerie. Hatte der Videokünstler kurz zuvor noch in einer Schottergrube gestanden so zeigt ihn seine Arbeit nun vor einem Fernsehgerät sitzend in einem Privatraum. Das des Künstlers entstanden sind und Aktionen zeigen, die ausdrücklich für die Kamera konzipiert und realisiert wurden. Wie bei der Performance tritt der Künstler in diesen Arbeiten als Protagonist in Erscheinung. Er ist Akteur der Inszenierung, ihr Medium und Gegenstand gleichermaßen. […] Gegenüber der Live-Aufführung impliziert der Einsatz der Videotechnologie eine Entwicklung, die als eine Rückkehr des Künstlers ins Bild beschreibar ist. […] Im Vergleich zur Performance findet eine stärkere Konzentration auf die Figur des Künstlers statt. Verantwortlich hierfür ist eine den Künstler fokussierende Kameraperspektive, die, verstärkt durch die Kleinformatigkeit des Bildschirms, eine Intimisierung des Dargestellten zur Folge hat.« Osswald (2003) S. 10-11. 29 | Hierzu Rosenbach: »Meine Arbeit ist die Auseinandersetzung mit meiner eigenen Identität als Frau. Die Arbeit ist kritisch und experimentell, und sie befindet sich permanent in der Phase der Diskussion. Über eine Selbstdarstellung hinaus sind die Aktionen Beschreibungen von psychischen Zuständen, entstanden durch die Rückwirkungen gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie sind die Aufdeckung meiner eigenen Beschaffenheit. Untersuchung meiner eigenen Möglichkeit. Zu dieser Thematik gehört die künstlerische Auseinandersetzung mit dem historischen Kulturbild der Frau. Der Frau als Mutter in der Familie, als Hausfrau, als Prostituierte des Mannes, als Heilige, als Jungfrau oder als Amazone.« Werkeintrag zu »Ulrike Rosenbach ›Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin‹«. In: Medien Kunst Netz, www.medienkunstnetz.de/werke/glauben-sie-nicht/, 14.05.2014. 30 | Osswald spricht von Entsemantisierungspraktiken des künstlerischen Selbst in den Werken Naumanns: »In der bewussten Elemenierung all derjenigen Faktoren, die ihn [den eigenen Körper] im Rahmen semantischer Codes als Träger von Ausdruck, Expression, Narration etc. lesbar machen würden, wird die Absicht verfolgt den Körper gleichsam in einen Zustand des Nicht-Bedeutens zu versetzen, um ihn, solchermaßen ›entleert‹, für ein augenblicksbezogenes Erleben empfindsam zu machen.« Osswald (2003) S. 255.
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Bildschirmbild des Apparats wiederholt die Szene aus der Schrottgrube, wobei durch die Konzeption eines Bildes im Bild nun der Revolver auf den Zuschauer Bechthold gerichtet ist. Dieser schaltet das Fernsehgerät ab und schießt dann erneut in die Kamera und damit auf uns als Zuschauer. Forderten Wolf Vostells rituelle »Begräbnisse« des Fernsehgerätes und seine »Tötung« durch Schußwaffen Anfang der 60er Jahre die Vernichtung des Apparats,31 so wendet sich Bechthold gegen die Konsolidierung des massenmedialen Systems durch das Konsumverhalten des Zuschauers. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, diesen historischen Abriss zur Vielfalt künstlerischer Rollen- und Subjektkonstitution im Bewegtbild weiterzuführen. Es sei jedoch vermerkt, dass sich neben dem Medien- und Psychoanalytiker in der Geschichte dieser Bildgattung natürlich auch Formen des Entzugs bildlicher Darstellung des Künstlers finden lassen.32 Das künstlerische Subjekt repräsentiert sich dann aber nicht indirekt über eine symbolische Stellvertretung des Werks, wie Omar Calabrese dem hier veranschlagten Automedialitätskonzept widersprechend meint, sondern es wird indirekt innerhalb der medialspezifischen Operationsmöglichkeiten des gewählten Mediums konstituiert: »Die ›Repräsentation‹, das heißt die ›Darstellung‹ oder ›Vergegenwärtigung‹, entspricht der bildhaften, figürlichen Dimension der Kunst: Das Bild verweist auf das dargestellte Objekt oder imitiert es. Mit ›Repräsentanz‹ ist hingegen der symbolische Aspekt der Stellvertretung gemeint, […]. […] In erster Linie ergibt sich daraus, daß die zeitgenössischen Selbstportraits Werke sind, die eher den Autor als dessen Bildnis repräsentieren. Sie sind folglich als rhetorische Figuren zu verstehen, die auf die Persönlichkeit des Künstlers im allgemeinen verweisen, letztere ist nicht als individuelle Persönlichkeit darstellbar. Zweitens sind die Selbstbildnisse dieser Zeit meist keine Portraits, sondern vor allem Symbole, die für das Werk, die Ideen, die Gefühle und die theoretischen Prinzipien ihres Autors stehen. Jener spiegelt sich in seinem Werk wider, aber nicht etwa, weil dieses ihn wie ein Spiegel ganz konkret reflektiert, sondern weil sich in dem Objekt, das stellvertretend für den Künstler steht, automatisch die Identität des Künstlers manifestiert.« 33 31 | Ebd. S. 9. 32 | Zur ikonophoben Autorschaft als Bildstrategie siehe den Beitrag »Strategien des Verschwindens. Ikonophobe Autorschaft« von Bernd Stiegler in diesem Band. Zur kunsthistorischen Rezeption der literaturwissenschaftlichen Debatte um »das Verschwinden/ den Tod des Autors«: Krieger, Verena: »Sieben Arten, an der Überwindung des Künstlersubjeks zu scheitern. Kritische Anmerkungen zum Mythos vom verschwundenen Autor«. In: Hellmold, Martin/Kampmann, Sabine/Lindner, Ralph/Sykora, Katharina (Hg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst. München 2003, S. 116-148. 33 | Calabrese (2006) S. 377.
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Doch welchen Einfluss hat das Internet auf bewegtbildliche Formen künstlerischer Selbstdarstellung? Und welches Geflecht aus Varietät und Redundanz bringt diese medienspezifische Genreaktualisierung der Gegenwart dabei für künstlerische Rollen- und Subjektkonstitutionen hervor?
K ünstlerischer S elbstdarstellung und B e wegtbilder des I nterne ts Mit der Verbreitung des Personal Computers und des Internets haben sich in den 1990er Jahren erneut die Parameter künstlerischer Subjektkonstitution verschoben. Das heterogene formale Feld scheinbarer leiblicher Duplikate im Bild nimmt im Kanon der Internet Art keine zentrale Position ein. Zu den Ausnahmen zählt etwa die amerikanische Künstlerin Prema Murthy, die als Medien- und Gesellschaftskritikerin die Verbreitung der Pornoindustrie im World Wide Web hinterfragt. In ihrer Arbeit Bindigirl (1999) setzt sie die künstlerische Praxis experimenteller Rollen- und Subjektkonstitutionen in der Perspektive des Feminismus weiter fort, wenn Murthy als indisches Pin-upGirl auf einer Website posiert und damit die im Netz fortgesetzte Verflechtung aus Orientalismus und Pornographie kritisiert.34 Auch andere Faktoren tragen im Zusammenhang mit der netzwerkbasierten Kommunikationstechnologie dazu bei, dass die Subjektkonstitution individueller Künstlerschaft in den Hintergrund gerät. Gemeint sind damit nicht nur die Nutzungen von Avataren durch Künstler, die die prinzipielle »Unbestimmtheit [und Ungewißheit] der Online-Identität«35 hinsichtlich identifikatorischer Angaben von Alter, Geschlecht, Profession usw. akzentuieren soll und Künstlerschaft dabei immer wieder in die Anonymität überführt, sondern auch Projekte, in denen sich nicht die Identität eines Künstlerindividuums, sondern dasjenige einer Künstlergruppe manifestiert. Alternativ zum seit der Renaissance in vielfachen Spielarten gefeierten Künstlersubjekts setzt diese Gattung im Anschluß an das Open-Source-Prinzip verstärkt auf Formen kollektiver Kreativität: »Wie in der New Media Art geht es auch bei Open-Source-Software um Zusammenarbeit; sie ist auf das Internet angewiesen und hängt von einer so genannten Gift Economy ab, einer Ökonomie des Gebens und Nehmens, in der Altruismus und Anerkennung durch Gleichgestellte, die Programmierer wie Künstler motivieren, die stärksten Triebfedern sind. New-Media-Künstler, die Open-Source-Prinzipien übernehmen, eignen sich 34 | Zu dieser Arbeit u.a.: Tribe, Mark/Jana, Reena/Grosenick, Uta: New Media Art. Köln 2006, S. 19; Greene, Rachel: Internet Art. London 2004, S. 112-115. 35 | Tribe/Jana/Grosenick (2006) S. 19.
Automedialität und Künstlerschaf t meist vorhandenes Material an, um mit anderen Künstlern zusammenzuarbeiten und ihre eigene Arbeit auf der Basis einer gerechten Verteilung anderen zur Verfügung zu stellen.« 36
Auch auf Videoplattformen, die Bewegtbildmaterial einem breiten Publikum zur Verfügung stellen erfährt das Moment kollektiver Kreativität eine herausragende Position. Die Online-Video-Forschung fasst darunter jedoch weniger eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit von Künstlern als die Gesamtheit der durch das plug-in der Videoantwort provozierten Aneignungspraxen eines auf einer Videoplattform veröffentlichten Videos, welches im Recycling-Prozess zahlreiche miteinander verlinkte Variationen erfährt: »The digitalisation of video material allows endless data edeting, and the internet maximises accessibility. The combination of these characteristics leads to a phenomenon that has been unknown in the field of visual media until now: the appearence of different video versions composed of the same material, i.e. recycled-, remix- or mash-up-videos.« 37
In unzähligen Fällen beziehen sich diese Aneignungspraxen auch auf kanonisierte Werke der Kunstgeschichte. Im Gegensatz zu weiten Teilen der historischen Internet Art verzichtet diese Form der appropriation dabei jedoch in mehrfacher Hinsicht auf eine Verunklärung bzw. Infragestellung des Künstlersubjekts und kann auch kaum unter dem kunsthistorischen Verständnis einer kollektiven Kreativität subsumierbar sein. Zum einen sind dabei Kooperationsarbeiten selten und die Videos werden zumeist mit dem im Titel enthaltenen Namen des Künstlers oder auf einem unter diesem eingerichteten User-Kanal veröffentlicht. Zum anderen holen die Aneignungspraxen dabei den Künstler selbst wieder in das Bild zurück, denn im Vordergrund stehen sogenannte Reenactments historischer Videoperformances, die den Körper des Künstlers zum Erfahrungsort von Fremderlebnissen machen. Künstlerische Reenactments unterscheiden sich maßgeblich von traditionellen Wiederaufführungen historischer Ereignisse, die eine detailgetreue Rekonstruktion anstreben und vor allem durch Projekte des living history populär wurden:
36 | Ebd., S. 14. Zur Infragestellung des Künstlersubjekts in der Geschichte des Kunst u.a.: Krieger (2003). 37 | Marek, Roman: »Creativity Meets Circulation: Internet Videos, Amateurs and the Process of Evolution«. In: Fischer, Gerhard/Vassen, Florian (Hg.): Collective Creativity. Collaborative Work in the Sciences, Literature and the Arts. Amsterdam/New York 2011, S. 205-225, hier S. 205.
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Nina Gerlach »[…] die Bezeichnung hat sich in den letzten Jahren zu einem Genrebegriff für die möglichst authentische detailgetreue Darstellung historischer Ereignisse durch Laiendarsteller/innen etabliert. Im engeren Sinne zeichnen sich Reenactments dadurch aus, dass historische Ereignisse, Tathergänge (Kriminologie) oder Lebensform (»living history«) reinszeniert werden: als theatrale Ereignisse, an denen unterschiedliche Akteure teilnehmen, und die in vielen Fällen medial vermittelt werden, zumeist mit filmischen Mitteln.« 38
Im Reenactment der Kunst werden nicht so sehr die Möglichkeiten zur detailgetreuen Wiederholung, sondern vielmehr die dabei unweigerlich entstehenden Differenzen als operative Momente eines kritischen Kommentars zum vergangenen Ereignis bzw. des zeitgenössischen Blicks auf dasselbe auszuloten gesucht. Hinsichtlich dieses Ziels können Differenzen sowohl auf der Ebene der Wiederaufführung des Referenzereignisses als auch auf der der Remediatisierung im selben oder in einem anderen Medium als der ursprünglichen Aufzeichnung gebildet werden.39 Ein solches künstlerisches Reenactment stellt das in der Ausstellung Déja vu. Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (21.4.-5.8.2012) gezeigte Video Untitled (after Marina Abramović) von Inés Bragas aus dem Jahre 2005 dar, das die Performance Light/Dark (1978) der Künstlerkooperation Ulay und Abramović wiederholt (Abb. 5).40
38 | Ilka Becker: »Das Bild als Wiedergänger. Retroaktivität und ›Remediation‹ in den Arbeiten von T.J. Wilcox«. In: Texte zur Kunst 19/76, 2009, S. 83-95, hier S. 86-89. 39 | Zur Rolle der Remediatisierung in einer Theorie des Reenactments: Ebd., S. 85-86. 40 | Die Arbeit von Bragas entstand im Jahre 2005 und wurde 10.4.2008 im Rahmen der Online-Ausstellung ccomotion auf dem gleichnamigen Kanal der Videoplattform YouTube ausgestellt. Hierzu: Wagner, Antonia: »Videoplattform YouTube«. In: Mensger, Ariane/Staatliche Kunsthalle Karlsruhe/Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (Hg.): Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube [Ausst.-Kat.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 21.4.2012-5.8.2012]. Bielefeld 2012, S. 306-307, hier S. 306. Ulays und Abramovićs Arbeit gehört zu einer Reihe von Werken, die unter dem Titel Relation Works (1976-1980) die intimen Charakteristika einer Liebesbeziehung zu veranschaulichen suchten. Die Performance war ursprünglich ca. 20 Minuten lang und wurde im Oktober 1977 auf der Internationalen Kunstmesse in Köln präsentiert und 1978 in einem Studio in Amsterdam zur Aufzeichnung wiederholt. Die Aufzeichnung verkürzte die ursprüngliche Performance und dauerte 6.38 Min.
Automedialität und Künstlerschaf t Abbildung 5: Inés Bragas: Untitled (after Marina Abramović). 2005. Online-Video. 02:58 min.
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=sbE5vCfx2lY, 28.02.2014.
Beide Videos zeigen in einem medium shot die Künstlerin selbst wie sie ihrem Filmpartner gegenüber sitzt und sich mit diesem abwechselnd ohrfeigt. Beide Paare tragen dabei weiße Oberbekleidung und knien in einem abgedunkelten Raum, wobei das auf die Protagonisten gerichtete grelle Scheinwerferlicht die Figuren aus dem dunklen Hintergrund herauszustanzen scheint. Ähnelt Bragas’ Werk der Referenzarbeit Ulays und Abramovićs somit zwar hinsichtlich mise-en-scène und mise-en-image41, so nutzt sie doch letztlich die mediale Reinszenierung für eine eigene künstlerische Reevaluierung des kanonisierten Werkes. Steigert das Referenzvideo den Eindruck von Brutalität durch die routinierte und in der Frequenz zunehmend gesteigerte Iteration der abwechselnden Schläge und die dabei von dem Künstlerduo geübte Affektkontrolle 41 | Der Begriff entstand im Zuge der bildtheoretischen Ausrichtung der Filmwissenschaft: »Der Vorgang, den dieser Begriff bezeichnet, ist auf das Materielle des Bildes konzentriert, auf seine Technizität, auf die Bildformen, die Bildstrukturen, die Bildsegmente, auf die Differenzierungen des Lichtes, auf die Farbabstufungen und Farbkontraste. Damit ist ein anderer Blick etabliert, der auf die Dynamik des Bildes ausgerichtet ist, auf die Bewegung und Zusammenhänge über Mediengrenzen hinweg. Auf die Genealogien der Bilder, auf ihre ikonographischen Traditionen. Das ist ein ganz anderer Blick, der die Bildfindung und Bildherstellung, der das Gemachte, die Techniken und Ordnungen des Bildes erfasst, der die lange eingeübten Betrachtungsweisen transzendiert, ein Blick der erst gelernt werden muß.« Prümm, Karl: »Von der Mise en scène zur Mise en images. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Filmtheorie und Filmanalyse«. In: Koebner, Thomas/Meder, Thomas (Hg.): Bildtheorie und Film. München 2006, S. 15-35, hier S. 17.
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im Verlauf der Performance, so entzieht sich Bargas’ Video immer wieder diesem Darstellungsmoment von Gewalt.42 An zahlreichen stellen unterbricht die portugiesische Künstlerin den filmischen Kontinuitätseindruck der Handlung und lässt die zuvor gezeigte Geste noch einmal rückwärts ablaufen. Gleich zu Beginn ihres Werkes entsteht daher der Eindruck, dass sich die Protagonisten dem ersten Schlag verweigern. Ihre Hände setzen immer wieder zum Schlag an weichen jedoch auf halber Strecke zum Gesicht zurück. Der Eindruck dieser verhinderten Schläge wandelt sich im weiteren Verlauf des Videos sogar in scheinbar innige Gesten, insofern der zuvor ausgeführte Schlag in der Rückwärtsbewegung sanft über das Gesicht des Gegenübers zu gleiten scheint. In der Verzögerung angewendeter Gewalt und ihrer letztlichen Inversion in eine milde Bewegung artikuliert sich Bargas’ Verunsicherung gegenüber einer möglichen Komplizenschaft an der in Light/Dark vorgeführten physischen Gewalt, die sich nicht nur in den Rezeptionsakt irritierend einschleicht, sondern gerade auch mit einer ungebrochenen Wiederaufführung einhergeht.43 Im Reenactment der Videoperformance fungiert der Künstler somit nicht wie in anderen gegenwartskünstlerischen Bezugnahmen auf die Geschichte als poststrukturalistischer Wissenschaftstheoretiker der Historiographie, der ihre Theorien und Methoden ebenso wie die daraus resultierenden »ideologische[n] Gewissheiten der Gegenwart über die ›Vergangenheit‹ zu dekonstruieren«44 sucht, sondern strebt danach im Sinne einer kritischen Einfühlung 42 | »Entscheidend ist, dass die Wiederholung die gewöhnliche Bedeutung, die die Berührung des anderen verursacht, völlig verändert. Wiederholung und Affektkontrolle verleugnen den Schmerz und die Demütigung, die mit dem Schlag ins Gesicht gewöhnlich verbunden sind. Diese Entleerung, gepaart mit der physischen Anstrengung, steigert die Präsenz der beiden Künstler, betont das objekthafte der Handlung sowie der Körper, aber auch deren Brutalität.« Vahrson, Viola: »Verausgabung und Souveränität. Die Performance Light/Dark von Marina Abramović und Ulay«. In: Bähr, Christine/ Bauschmid, Suse/Lenz, Thomas/Ruf, Oliver (Hg.): Überfluss und Überschreitung. Die kulturelle Praxis des Verausgabens. Bielefeld 2009, S. 159-170, hier S. 161. 43 | »Gewöhnlich ist der Schmerz ein Signal, seine Ursache zu erkennen und ihn nach Möglichkeit abzuwenden. Im Kontext der Performance wird das Publikum allerdings an dieser natürlichen Reaktion gehindert. […] Ungewollt wird der Betrachter zum Komplizen von Gewalt. In der Folge stellt sich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht ein, das durch die spezifische Situation, in der sich der Betrachter weiß, wiederum relativiert wird. Betroffenheit oder gar Mitleid erweisen sich vor diesem komplexen Hintergrund als inadäquate Empfindungen.« Ebd., S. 162. 44 | Zuckermann, Moshe: »Das Bewusstsein von den Abgründen des Nichts – Gespräch über das Verhältnis von Kunst und Geschichte zwischen Moshe Zuckermann und Roee Rosen«. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte. Bd. XXXXIV, 2006, S. 1536, S. 27.
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der vergangenen künstlerischen Erfahrung qua »Inkorporation« nachzuspüren, um diese dann in der medialen Reinszenierung zu kommentieren. Im dabei eröffneten Spannungsfeld von Immitationen (auf der Ebene der Wiederaufführung) und kritischer Distanz zum (auf der Ebene der Reinszenierung) anderen Künstlersubjekt(s) wird das Reeanactment zum performativen Kommentar eines Metakünstlers. Haben sich metakünstlerischer Videoarbeiten immer wieder auf historische Werke der Malerei, des Films und seltener auch auf andere Videokunst45 bezogen, so multipliziert die legale und illegale Veröffentlichung historischer Videokunst seit der Gründung von Videoportalen Mitte 2000er Jahre die Chance auf eine verstärkte künstlerische Auseinandersetzung mit den kanonisierten Arbeiten dieses Mediums und damit auch mit den darin veranschlagten künstlerischen Selbstpraktiken. Denn es war immer schon »die Ubiquität der Registratur der Aufzeichnung und eine damit erhöhte Verfügbarkeit von Bildern und Archivalien«, die »dazu geführt« hat, »das ›Geschichte‹ zu einem produktiven Aktions- und Interventionsfeld für Künstler/innen geworden ist.«46 Künstlerische Selbstdarstellung im Bewegtbild des Web 2.0 lässt sich jedoch nicht einzig durch eine virulente metakünstlerische Bezugnahme auf Werke der historischen Videokunst beschreiben, sie zeichnet sich auch durch distinktive Differenzleistungen zu den populären massenmedialen Formen der Selbsttechnologie auf Videoportalen aus. Hierzu zählen vor allem die als typisch geltenden Performances von Medienamateuren, die, wie im Falle von Video Blogs oder musikalischen Aufführungen in Privaträumen, im »Self-made-Dispositiv vor der Rechnerkamera« entstehen.47 Besonders die Net.Art-Pionierin Natalie Bookchin konstituiert in einem ihrer videokünstlerischen Werke Autorschaft als Künstlerschaft, indem sie Beispiele dieser Selbstdarstellungspraxen von Amateuren einerseits in ihre Arbeit integriert, andererseits diese populäre Form der Mediennutzung als massenmediale Praxis künstlerisch zurückweist. So besteht ihr Werk Mass Ornament (30.6.2009, Vimeo/27.5.2009 unter dem Titel Me Dancing, YouTube/Abb. 6) aus auf Videoplattformen gefundenem found-footage-Material. 45 | Ein Beispiel hierfür bietet etwa Fresh Acconci (1995) von Mike Kelley und Paul McCarthy. Die Arbeit bezieht sich auf zahlreiche Werke Vito Acconcis. Hierzu: Von Bismarck, Beatrice: »Regisseur, Verführer und Werbefachmann in eigener Sache – Vito Acconci in Alter und in neuer Frische«. In: Hellmold, Martin/Kampmann, Sabine/Lindner, Ralph/Sykora, Katharina (Hg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst. München 2003, S. 17-41. 46 | Leeb, Susanne: »Flucht nach nicht ganz vorn. Geschichte in der Kunst der Gegenwart«. In: Texte zur Kunst 19/76, 2009, S. 29-45, hier S. 33. 47 | Ochsner in ihrem Beitrag »Image 2.0 oder: Selbsttechnologien in sozio-medialen Netzwerken« in diesem Band.
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Nina Gerlach Abbildung 6: Natalie Bookchin: Mass Ornament/Me Dancing. 2009. Online-Video. 07:12 min.
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=CAIjpUATAWg, 28.02.2014.
Die Amateurvideos zeigen private Innenräume, in denen Personen aufgenommen von der Webcam ihres Rechners tanzen. Mehrmals reiht Bookchin diese Videos vor schwarzem Grund nebeneinander auf, so dass zwischen den einzelnen Performances ästhetische und dramaturgische Analogien erkennbar werden. In diesem Sinne verzichten etwa die in Privaträumen aufgenommenen Videos auf eine Postproduktion, zeichnen sich häufig durch eine low key-Ästhetik aus und beginnen mit einer Art establishing shot, der den Privatraum als Bühne ausweisen soll, bevor die tanzende Person den Bildkader betritt. Der im Mass Ornament dargebotene synoptische Blick auf die Selbstdarstellungspraxen von Amateuren macht jedoch die Performances der Einzelvideos nicht nur zum Bestandteil eines scheinbar synchronen Geschehens, sondern es wertet diese auch ab. Unzweideutig weist sich das Video als Kulturkritik aus, insofern sein Titel auf denjenigen Begriff verweist, den Siegfried Krakauer wählte, um die geistlose Zerstreuungskultur seiner Zeit zu definieren. Die synchronen Bewegungsabläufen des zu Beginn des 20. Jahrhunderts populären Tanzensembles Tillergirls würden zur Folge des Geschichtsphilosophen und Filmkritikers als Massenornament die rationalisierten Arbeitsprozesse des Taylorismus reflektieren: »Der Produktionsprozeß läuft öffentlich im Verborgenen ab. Jeder erledigt seinen Griff am rollenden Band, übt eine Teilfunktion aus, ohne das Ganze zu kennen. Gleich dem Stadionmuster steht die Organisation über den Massen, eine monströse Figur, die von ihrem Urheber den Augen ihrer Träger entzogen wird und kaum ihn selbst zum Betrach-
Automedialität und Künstlerschaf t ter hat. – Sie ist nach rationalen Grundsätzen entworfen, aus denen das Taylor-System nur die letzte Folgerung zieht. Den Beinen der Tillergirls entsprechen die Hände in der Fabrik. […] Das Massenornament ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität.« 48
Im aus Einzelvideos bestehenden Massenornament verläuft die Konstitution von Künstlerschaft durch die Abwertung des in der Bildkumulation augenscheinlich werdenden massenmedialen Stereotyps.49 Neben dem Aufruf des Künstlers als metakünstlerische Reflektionsfigur historischer Videoperformance und als Kultur und Medienkritiker verknüpfen metamediale Online-Videos den Künstler auch wieder mit den scheinbar magischen Qualitäten eines Zauberers. Ein Beispiel hierfür liefert das 2010 im Rahmen der bislang einzigen Ausstellung der Biennale YouTube Play. A Biennial of Creative Video des Solomon R. Guggenheim Museums in New York gezeigte Video Experiment no 006 : Seaweed (1.7.2010, YouTube/19.9.2010, Vimeo, Abb. 7) von Luke White und Remi Weekes, einem britischen Künstlerduo namens Tell no one.50 Abbildung 7: Tell No One: Experiment No. 006: Seewead. 2010. 00:25 min.
Quelle: http://vimeo.com/12825278, 28.02.2014.
48 | Kracauer, Siegfried: »Das Ornament des Masse«. In: Ders. (Hg.): Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a.M. 1977 [11927], S. 54. 49 | Hierzu ausführlich: Gerlach (2012), under review. 50 | Hierzu auch: Nina Gerlach: »Online-Videokunst und Interpiktorialität – Kunsttheorie zwischen Bildern«. In: Isekenmeier, Guido (Hg.): Interpiktorialität. Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge. Bielefeld 2013, S. 252-254.
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Das Video zeigt White vor hellem Grund. Stehend im Bildzentrum bewegt er lediglich den Oberkörper und streckt immer wieder Arme und Hände in den Raum. Dabei bleibt gleichsam eines freischwebenden Abdrucks jeder Bewegungsvorgang als Spur seiner selbst im Raum zurück. Zunächst ist es der Rumpf mit empor gestreckten Armen, dann wieder nur die Extremitäten, die sich im Verlauf des Videos im Bildvordergrund verdichten und dabei nach und nach eine aus Körperteilen bestehende zweite Figur im Raum entstehen lassen. Beim ersten Anblick von Experiment no 006 : Seaweed fühlt man sich, neben unzähligen anderen Assoziationen, an die Arbeiten Eadweard Muybridges und Étienne-Jules Mareys erinnert, die in chronophotographischen Studien Bewegungsfolgen von Mensch und Tier in Phasen zerlegten und damit Haltungsabweichung um Haltungsabweichung vor Augen stellten. Muybridge fügte diese Aufnahmen in dem von ihm entwickelten Projektionsgerät Zoopraxiskop zusammen und lieferte damit den Schritt von der Serienphotographie zum Bewegtbild. Tell No Ones Video nimmt scheinbar den umgekehrten Weg und spaltet das Bewegtbild in Momentaufnahmen auf, wobei die Faszination des Videos dadurch entsteht, das der Augenblick als Bestandteil des bildlichen Prozesses und der statischen Momentaufnahme gleichwohl ephemer wie unvergänglich erscheint; als ob hier die Ansichten photographischer Serialität und das Bewegtbild aufeinandertreffen. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die Figur im Vordergrund das dem kinematographischen Bewegungseindruck zugrunde liegende Prinzip photographischer Serialität nur aufgreift, um letztlich die multiplizierten ästhetischen Möglichkeiten zur Bewegungsdarstellung im digitalen Bewegtbild vorzuführen. Die aus der abge»filmten« Bewegung herausgelösten Körperfragmente reproduzieren nämlich gar nicht den Bewegungsablauf der Grundfigur. Sie sind keine reine Verdopplung, sondern – jeweils einzeln mit einem zunächst kaum wahrnehmbaren Wave-Effekt unterlegt – vollziehen sie von der Grundfigur unabhängige Bewegungen. Die im Raum schwebenden Extremitäten werden gedehnt und wieder zusammengezogen und brechen somit mit dem von der Grundfigur festgelegten raumzeitlichen Kontinuum des Videos. Die Momentaufnahmen einzelner Körperbewegungen erscheinen einer Determination entrissen. Entscheidend ist, dass sie damit auf den Entwicklungsschritt von dem auf photographischen Einzelaufnahmen beruhenden Bewegtbild der Kinematographie zum digitalbasierten Bewegtbild verweisen, denn nur letzteres besteht aus stetig weiter wandelbaren Fragmenten, den Pixeln. Die fragmentarische Wiederholung der Makrostruktur in der Mikrostruktur des Videos und die dabei gleichzeitig vor Augen gestellte Loslösung beider Ebenen voneinander führt aber nicht nur die Variabilität des Fragments als mediale Spezifik des digitalen Bewegtbildes vor, sie feiert es auch als Medium der Kreativität. Die für die digitale Ästhetik fundamentale Fragmentierung des
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Bildes wird hier nicht als ein Auflösen und Endgleiten bildlicher Sinneinheit in Bildpunkten vorgeführt, sondern als Mittel schöpferischer Ambition, Neuartiges zu schaffen. Skulptural verdichtet gleiten die Fragmente in sich bewegt, wie die Halme von Seegräsern (engl. Seaweed) sanft und nahezu schwerelos im Raum. Das Prinzip der Fragmentierung erlaubt durch Rekombination, wie es Petra Missomelius im Allgemeinen für die digitale Medienkultur konstatiert, »das Erproben unterschiedlicher (Bedeutungs-)Zusammenhänge.«51 Um dieses kreative Potential des digitalen Bildes zur Anschauung zu bringen muss sich die Wiederholung eines Bildelements, hier die Bewegung des Künstlers, im Bild von der exakten zur variierten Reproduktion hin wandelnd und damit das Selbstähnliche des Bildes sich selbst unähnlich werden lassen. Bilder, die auf diesem Prinzip beruhen, nennt John Briggs Reflektaphern: »Nicht nur Formen spiegeln sich selbstähnlich darin wider, sondern, wie in der Metapher, auch eine Spannung von ähnlichen und unterschiedlichen Ausdrucksformen. Diese reflektaphorische Spannung ist hochgradig dynamisch und erschüttert unseren Verstand mit einer Mischung aus Verwunderung, Ehrfurcht, Verblüffung und der Empfindung unerwarteter […] Schönheit.« 52
Aufgrund der Ubiquität kanonisierter videokünstlerischer Arbeiten auf Videoplattformen stellt sich der Künstler gegenwärtig im Bewegtbild des Netzes verstärkt als kritischer Metakünstler historischer Videoperformances dar. In videokünstlerischen found-footage-Arbeiten, die auf Amateurvideos von Videoplattformen zurückgreifen, wiederholt sich hingegen gegenwärtig die Rolle des Künstlers als Medien- und Kulturkritiker, insofern die in diesen Werken aufgerufene Bildkumulation Ästhetik und Dramaturgie einzelner selbstdarstellerischer Laienpraxen als Bestanteile eines massenmedialen Stereotyps entlarvt. Im videokünstlerischen Experiment mit dem digitalen Bildfragment erfährt letztlich das Selbstverständnis des künstlerischen Subjekts als Magier phantastischer Transmutationen eine Renaissance, wobei nicht zuletzt der im Bildzauber offenkundig werdende technische Professionalismus die künstlerische von der nicht-künstlerischen Selbstdarstellungspraxis auf Videoplattformen unterscheidet.
51 | Missomelius, Petra: Digitale Medienkultur. Wahrnehmung, Konfiguration, Transformation. Bielefeld 2006, S. 51. 52 | Briggs, John: Chaos. Neue Expeditionen in fraktale Welten. München/Wien 1993 [engl. Orginal: Fractals. The Patterns of Chaos, New York 1992], S. 174.
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Image 2.0 oder: SelbstTechnologien in sozio-medialen Netzwerken Beate Ochsner
»Broadcast yourself!« – mit dieser Aufforderung zur Selbstdarstellung verweist YouTube auf das sozialen Plattformen grundlegende Prinzip nutzergenerierter Inhalte, um es auf die profilierte oder profilspezifische Selbstdarstellung in Bewegtbildern auszuweiten. Tatsächlich scheint der Aufruf für viele user Programm geworden zu sein, und die Lust an der eigenen Zurschaustellung manifestiert sich in einer beachtlichen Anzahl von YouTube-Selbstdarstellungsvideos.1 Der zum fünften Geburtstag der Plattform gestarteten Aufforderung »Erzähl Deine YouTube-Story« folgten unzählige Community-Mitglieder mit eigens produzierten YouTube-Videostories,2 in denen – unter dem Motto »Du bist YouTube«3 – die eigene mit der Darstellung des Mediums verschmolzen wird. So auch Patricks Geschichte, die von der Produktion des im typischen Self-made-Dispositiv vor der Rechnerkamera und mit Hilfe entsprechender Bildbearbeitungssoftware sowie unterlegter Musik entstehenden, sich noch in der Herstellung sepiafarben einfärbenden Videos handelt, das der Zuschauer im gleichen Moment vor Augen hat.4
1 | Zum Phänomen der Selbstdarstellung, vgl. u.a. Slavoj Zizek: »Das Selbst als das Andere des Subjekts«, in: Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, hg. von Zweite, Armin/Krystof, Doris/Spieler Reinhard. Dumont Köln 2000 S. 73-79. 2 | Livevideo.com spornt zu Live-Darstellungen an, diese können aber erst angeschaut werden, wenn man eingeloggt ist: livevideo.com/liveshow/, letzter Zugriff am 9.9.2010. 3 | Dieser Aufruf findet sich unter: www.youtube.com/watch?v=YAm6stNXf2o&feature =related, letzter Zugriff am 24.4.2011. 4 | Patricks Story: www.youtube.com/watch?v=KJCudQCLZRs, letzter Zugriff am 24.4. 2011.
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Abbildung 1-2: Patricks YouTube-Story.
Nun muten freilich nicht alle Selbstdarstellungsvideos auf YouTube gleich an, und die Definition reduziert sich letztlich, wie Christoph Grieser weiß, auf die »autorisierte Freigabe von [wahren oder erfundenen, B.O.] Informationen, die mit der eigenen Person verknüpft sind«.5 Aus der Masse an Videos kristallisieren sich jedoch vier große Gruppen heraus: 1) Die erste Gruppe umfasst Cover-Versionen von Pop- und Rocksongs in den Varianten mit oder ohne eigenen Gesang, mit oder ohne Musikbegleitung, mit oder ohne Unterstützung durch Freunde und mehr oder weniger in Szene gesetzt bzw. einem existierenden Musikvideo nachempfunden. 2) Ebenfalls sehr häufig vertreten sind Tanzvideos, in denen in der Regel Choreographien verschiedener Popstars nachgetanzt werden, darunter vorzugsweise Mary J Blige, Beyoncé oder Lady Gaga. 3) Einer großen Beliebtheit erfreuen sich die ernsthaften bis parodistisch-ironischen Einzel- oder Gruppenpräsentationen in eigener oder fremder Umgebung, die individuelle Vorlieben oder Hobbys der Dargestellten thematisieren. 4) Die hier letzte Gruppe stellen Schul- oder Ausbildungs-, Kunst- oder Werbeprojekte dar, die – im Unterschied zu den zuerst genannten Gruppen – durchaus unterschiedlich ausfallen.
5 | Christoph Grieser: »Selbstdarstellung im Internet. Der unterschätzte Faktor,«, in: Netzwertig.com, 27.9.2010, http://netzwertig.com/2010/09/27/selbstdarstellungim-internet-der-unterschaetzte-faktor/, letzter Zugriff am 29.4.2011.
Image 2.0 oder: SelbstTechnologien in sozio-medialen Net zwerken
Im Folgenden werde ich mich auf ausgewählte »Artefakte«6 aus den ersten beiden Gruppen fokussieren, d.h. auf user-Coverversionen verschiedener Songs sowie auf eine Reihe sog. »Shake-Your-Booty«-Tanzvideos, die die zu thematisierende Selbstreferentialität in aller Deutlichkeit vor- und immer wieder aufführen. *** Als erstes Beispiel dienen eine Reihe musikalischer Re-Interpretationen des Songs In the waiting line der Gruppe Zero 7. Die user haben sich hier mehrheitlich für eine einfache Inszenierung im eigenen Zimmer und mit Gitarrenunterstützung entschieden, die in dieser Variante nicht vom Musikvideo zum Song stammt,7 sondern auf der Basis verschiedener Life-Auftritte des Sängers mit Gitarre von einem der user nachempfunden und von zahlreichen anderen imitiert, parodiert oder, wie bei user ockstarray im Jahr 2007, mittels technischer Entfremdung einer Cover-Version der Cover-Version des users missthai erstellt wurde.8 Natürlich entsteht der Eindruck von Ähnlichkeit auch aufgrund des technischen Dispositivs, das eine bestimmte Platzierung des Users vor der Webcam seines Rechners verlangt. Untenstehend einzelne Snapshots aus den Videos, die Analogien in der Haltung und – dies ist freilich auf den Stills nicht zu erkennen – im Gesang erkennen lassen:9
6 | Zum Artefakt-Begriff vgl. weiter unten bzw. Axel Bruns: »Vom Prosumenten zum Produtzer«, in: Birgit Blättel-Mink; Kai-Uwe Hellmann (Hg.): Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010; ders.: »Anyone Can Edit‹: Vom Nutzer zum Produtzer«, in: kommunikation@gesellschaft 10 (2009); zur Laienkultur vgl. Ramón Reichert: Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0, Bielefeld: transcript, 2008. Auf die Bedeutung der Laienkultur im Kontext von Selbstdarstellungsvideos hat mich dankenswerterweise Roberto Simanowski aufmerksam gemacht. 7 | Das Musikvideo hat Wiz im Jahr 2001 gedreht und kann unter www.youtube.com/ watch?v=Jj6yXxVc21Y, letzter Zugriff am 29.4.2011, eingesehen werden. 8 | Dieses Video ist leider nicht mehr in YouTube verfügbar. 9 | Die Suchergebnisse sind unter www.youtube.com/results?search_query=in+the +waiting+line+cover&suggested_categories=10&page=2, letzter Zugriff am 29.4. 2011, einzusehen.
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Abbildung 3-1510: Coverversionen des Songs In the waiting line der Gruppe Zero 7.
10 | Die Videos finden sich in der Reihenfolge der Abbildung www.youtube.com/ watch?v=hVDIY Yl81Bs&feature=related, misstai, 22.11.2007; das Video von ockstarray 2007, ist leider nicht mehr im Netz verfügbar; www.youtube.com/watch?v=_ rABmM9LBYA&feature=related, lauriamariasongs, 5.12.2009; www.youtube.com/watch ?v=5DGypKSLDCE&feature=related, haizymaidens, 20.11.2009; www.youtube.com/ watch?v=-bI-WfnYi3U&feature=related, jacksonharris33, 12.5.2008; www.youtube. com/watch?v=BbT_UE49Ksk&feature=related, ruelgalinato, 7.11.2007; www.youtube. com/watch?v=v-dImLf3Hq4&feature=related, sidewalkwarrior, 15.7.2009; www.you tube.com/watch?v=T4GAecS_U4k&feature=related, guitargirl2482, 31.10.2009; www.youtube.com/watch?v=Si1d_6HrB4M, sarababy189, 29.11.2010; www.youtube. com/watch?v=v39sJaAdKKs, treaox2012, 11.4.2011; www.youtube.com/watch? v=rLMxb0SLR7E&feature=related, yourguitarhero999, 30.7.2009; www.youtube.com/ watch?v=edP1IfxET08&feature=related, davek905, 2.3.2008; www.youtube.com/watch ?v=6vx6irDHQCg, xJuanjox3, 29.09.2010; letzter Zugriff auf alle Videos 29.4.2011.
Image 2.0 oder: SelbstTechnologien in sozio-medialen Net zwerken
Ein weiterer Beispielreigen aus der ersten Gruppe bilden ausgewählte user-Parodien auf den von Chris Cunningham produzierten Clip zum Song Sheena is a parasite der Gruppe The Horrors.11 In dem nur 1:40 dauernden Life Video blitzen immer wieder kurz Bilder auf, die zeigen, wie ein junges Mädchen im weißen Kleid sich verwandelt, ihre Gedärme entblößt und sie dem Zuschauer entgegen schleudert. (Abb. 16-17) Obgleich der englische Videokünstler als einer der wichtigsten Regisseure im Bereich des Musikvideos gilt, wurde dieses Video doch nie von einem Fernsehsender gezeigt, es kursiert lediglich im Internet…
11 | Das 2006 produzierte und veröffentliche Video ist auf YouTube unter www.youtube.com/watch?v=Cor3wjbS4Gg, letzter Zugriff am 29.4.2011, einzusehen.
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Abbildung 16-17: Stills aus Chris Cunninghams Musikvideo zum Song Sheena is a parasite von The Horrors.
Dort fand und findet er reichlich Anhänger, die sich rezensierend oder parodistisch betätigen. Dabei präsentieren die verschiedenen Versionen zumeist – wie im Originalclip – eine in allen Varianten gleich im Bild platzierte singende und eine tanzende Person, deren Geschlechter je nach Clipbesetzung wechseln. In einem leider mittlerweile aus rechtlichen Gründen nicht mehr im Netz verfügbaren Clip lupft der junge Mann nach wildem Headbanging sein weißes Kleid, und in den nun in rascher Folge auf blitzenden Bildern lassen sich in den überblendeten Bildern rosa Würste erkennen. (Vgl. aherdofwrens, 2007, Abb. 18-1912) In einer zweiten, sehr ähnlichen Version, taucht aus dem geöffneten weißen Umhang eine weitere, wild gestikulierende Person auf. (Vgl. arockstardead, 200813, Abb. 20-21) Eine offensichtliche low-budget-Parodie zeigt zwei junge Frauen, die in einem Zimmer bei geöffnetem Kleiderschrank performieren. Anstelle der Gedärme respektive Würste werden hier nur die heftig in Richtung Kamera fuchtelnden Hände gezeigt (whatawish, 200714, Abb. 22-23), während die No-Budget-Version mit dem über den Kopf gezogenen T-Shirt nur noch auf den Ort der Gedärme verweist. (StuVonCrypt, 200615, Abb. 24-25)
12 | Das Video ist unter: www.youtube.com/watch?v=pjx3DB5NOo4&feature=related einsehbar, letzer Zugriff am 29.4.2011. 13 | Das Video ist unter: www.youtube.com/watch?v=grr47JbEEp0 einsehbar, letzter Zugriff am 29.4.2011. 14 | Das Video ist unter: www.youtube.com/watch?v=jV0mwK9-X2w&feature=related einsehbar, letzter Zugriff am 29.4.2011. 15 | Das Video ist unter: www.youtube.com/watch?v=pIY YpWmR2z8&feature=related einsehbar, letzter Zugriff am 29.4.2011.
Image 2.0 oder: SelbstTechnologien in sozio-medialen Net zwerken
Abbildung 18-19: Stills aus einer Parodie des Users aherdofwrens auf Cunninghams Musikvideo zu Sheena is a parasite.
Abbildung 20-21: Stills aus einer Parodie des Users arockstardead auf Cunninghams Musikvideo zu Sheena is a parasite bzw. auf die Kopie desselben des Users aherdofwrens.
Abbildung 22-23: Stills aus einer Parodie des Users whatawish auf Cunninghams Musikvideo zu Sheena is a parasite.
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Abbildung 24-25: Stills aus einer Parodie des Users StuVonCrypt auf Cunninghams Musikvideo zu Sheena is a parasite.
Abbildung 26-3316: Stills aus verschiedenen »Shake-Your-Booty«-Variationen.
Die letzten Beispiele können als »Shake-Your-Booty«-Variationen bezeichnet werden und differieren trotz unterschiedlicher Musikstücke, Darbietungsorte, Höschen- oder Rockfarbe sowie Anzahl der Tänzerinnen im Hinblick auf die gewählte Perspektive sowie die Einstellungsgröße nur unwesentlich.
16 | Die Videos finden sich in der Reihenfolge der Abbildungen unter: www.youtube.com/ watch?v=nSFYnHCt4oYtwerk itty-bitty, 2010; www.youtube.com/watch?v=eb4lk8lPKA&feature=related 2011; www.youtube.com/watch?v=2i74qAWG8Tk, 2008; www.you tube.com/watch?v=Qju6eCtBXVE, 2008; www.youtube.com/watch?v=I9H4SHt-kSQ& playnext=1&list=PL792772F5B1C156BFwww.youtube.com/watch?v=eb4lk8lPK-A, 2011; www.youtube.com/watch?v=vKp2w_8ffAg&feature=related, 2011; www.youtube. com/watch?v=rkBuL-m1xTM, 2010; www.youtube.com/watch?v=sy_v-32KN2E&featu re=related, 2008, letzter Zugriff am 29.4.2011.
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*** Anhand dieser Beispiele lässt sich eine Art zirkuläres System erkennen, das die Konstituierung der performierenden Selbste und die den Performances zugrundeliegenden kulturellen und medialen Techniken mit Hilfe von Loops, d.h. variable oder Variablen produzierende Rückkopplungen auf medialer, kultureller und ökonomischer Ebene, rekalibriert, stabilisiert und gleichzeitig der beständigen Selbst-Reproduktion sozialer Netzwerke und ihrer user (respektive deren Images) Vorschub leistet. So lautet meine These, dass die YouTube-Selbstdarstellungsvideos sich im wesentlichen durch die Verschränkung (auto-)medialer17 und kultureller Performativität auszeichnen, um – im 17 | Zum Stichwort der Automedialität vgl. Jörg Dünne; Christian Moser (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, München: Fink 2008.
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besten Fall – auf YouTube selbst sowie anderen Videoplattformen, in der Werbebranche oder in aggregierten sozialen Netzwerkketten – massenmedial reproduziert, distribuiert, rezipiert, kommentiert und (wieder-)verwertet zu werden. In dieser durch beständige Zirkulation der Artefakte oder Ich-Images ausgezeichneten produsage-Kultur entsteht ein Archiv ästhetischer, medialer (dispositiver) und ökonomischer Formen, Formate und Genres,18 die – so Andrea Seier und Kathrin Peters19 – eine neue Art von Kanonisierung erzeugen. Für diese »specific form of circular reference and activities within the user community, the structure of the YouTube page is important. It pools the activities of the prosumer and makes rapid links between videos possible. Without the portal function of YouTube, the circular activity of receiving, producing and commenting would be theoretically possible, but much more complicated […].« 20
Dies – so die Autorinnen weiter – zeige sich am YouTube-eigenen Starsystem, das im Rahmen komplexer Rückkopplungsschleifen von medienerzeugter Mikroprominenz,21 Handlung und Kommunikation, Netzwerkknotenpunkte 18 | Eine neuere Studie zur Selbstdarstellung Jugendlicher im Web 2.0 unterscheidet dabei zwischen Eigen- und Fremdmaterial, worunter Fotos, Videos oder Musik fallen. Der Aspekt der Nachahmung bestimmter Präsentations- und Bewegungsstile, kultureller Verhaltensmuster sowie das mediale Aufnahmedispositiv fand hingegen keinen Eingang in die Untersuchung. Diese Einschränkung erscheint mir insofern unzulässig, als die soeben gezeigten Beispiele darauf verweisen, wie nicht nur mediale, sondern ebenso kulturelle Praktiken, Formen und Konventionen konvergieren und reproduziert werden. Die Videos erzeugen eine bestimmte Aufmerksamkeit, führen unter Umständen zur Generierung eines »Stars«, dessen Praktiken (wieder-)erkannt und (wieder-)verwertet werden können, was erneut zur Produktion weiterer Stars führt, deren Bilder und Verhaltensweisen zirkulieren, recycled werden usw. usf. 19 | Vgl. Kathrin Peters; Andrea Seier: »Home Dance. Mediacy and Aesthetics of the Self on YouTube«, in: Pelle Snickars; Patrick Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, Lithuania 2009, S. 187-203, hier: S. 191. Aus solchen und anderen Beispielen entwickelt sich – so Peters und Seier weiter – ein Archiv von Posen und Formaten, das in den verschiedenen Selfmade-Performances oder auch professsionellen Videos (Werbung, Marketing etc.) aufgegriffen, wiederholt und gleichzeitig stets variiert werde. 20 | Ebd., S. 196. 21 | von Randow: »Leben im Netz. Viele reden von Web 2.0. Aber noch haben nicht alle bemerkt, wie ein neues Medium die Welt verändert«, in: Zeit online, 19. Januar 2007, www.zeit.de/2007/04/01-Leben-im-Netz, letzter Zugriff 29.4.2011. Desweiteren: »Der grassierende Narzissmus und seine Ausbeutung müssen Gegenstand der Kritik werden. Eine schöne Aufgabe für aufklärerische Geister, sich online einzumischen.« (Ebd.)
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mit mehr oder weniger hohem Aufmerksamkeitsgrad (Relevanz) erzeugte, die sich an der Anzahl der (bewussten wie auch unbewussten!) Zugriffe und Verlinkungen, mithin des Sich-in-Beziehung-Setzens als Identitätsmanagement, messen lassen. Während die medialen und ästhetischen Dimensionen vor allem die Darstellungsformen (Präsentation des Ichs in und gegenüber der Kamera, choreographische Elemente und Formen, Ton- und Bildebene, Fremd- und Eigenmaterial etc.) betreffen, so möchte ich die häufig vernachlässigte ökonomische Ebene im Rahmen als Realisierung einer Theorie kulturellen produsage beschreiben. Unter diesem Neologismus, der sich als Weiterentwicklung des Toffler’schen prosumer-Begriffes versteht, begreift Axel Bruns »[t]he collaborative, iterative, and user-led production of content by participants in a hybrid userproducer, or produser role«22 verstehen möchte. Dabei sei zu beachten, dass »the processes of produsage are often massively distributed, and not all participants are even aware of their contribution to produsage projects; their motivations may be mainly social or individual, and still their acts of participation can be harnessed as contributions to produsage.« 23
In ihrem Artikel über Tanzvideos auf YouTube konstatieren Peters und Seier weiterhin, dass YouTube potentielle medienbasierte Selbstreferentialität herstelle. Die Lebensaufzeichnungen profitierten vom Medium als Distanznahmemöglichkeit, mittels derer die Beziehung zu sich selbst reflektierbar gemacht werde.24 Im Kontext einer Ökonomisierung des Sozialen beschreiben die Autorinnen subjektivitätsbildende Mediationsprozesse, »that turn[…] the self into an infinite project involving strategies of optimization and revision,
22 | Axel Bruns: »Towards produsage: Future for user-led content production«, in: Fay Sudweeks, Fay Hrachovec; Charles Ess (Hg.): Cultural Attitudes towards Technology and Communication, Murdoch 2006, S. 275-284, hier: S. 275. Vgl. ebenso A. Bruns: »Anyone can edit. Vom Nutzer zum Produtzer«, in: Kommunikationsgesellschaft@Gesellschaft. Journal für alte und neue Medien aus soziologischer, kulturanthropologischer und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive 10/2009, www.kommunikationgesellschaft.de/, letzter Zugriff am 30.12.2009. 23 | Axel Bruns im Interview mit Henry Jenkins, http://henryjenkins.org/2008/05/ interview_ with_axel_bruns.html, letzter Zugriff am 1.1.2010. 24 | »Various technical apparatuses – from the quill to the webcam – place the self at a distance and at the same time bridge that distance to the extent that make it accessible and accessible for alteration.« (Kathrin Peters; Andrea Seier: »Home Dance. Mediacy and Aesthetics of the Self on YouTube«, S. 187)
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thus motivating comparisons of achievement and constant self-observation.«25 Die Relationen zwischen Selbstpraktiken und Medienapparaten konstituieren Subjektivität in Form von Automedialitätsprozessen, wie Jörg Dünne und Christian Moser die Intersektion von Subjektivierungs- und Mediatisierungsprozessen bezeichnet haben.26 Dabei spielen Verfahren wie re-use, reenactment, remediation und, darüber hinausgehend, die allgemeine Konvergenz medialer, sozialer und ökonomischer Strategien eine wesentliche Rolle: Während nun Peters und Seier noch vom Toffler’schen prosumer ausgehen, so schlage ich vor, diesen Begriff durch den Bruns’schen produser zu ersetzen, was den Übergang von den soziomedialen und ökonomischen Bedingungen der Massenmediengesellschaft zu den aktuellen Konditionen der social media überleitet. So trifft z.B. die Dreiteilung von Produktion, Distribution und Konsum (resp. Rezeption) nicht mehr zu, wenn es um die Beschreibung jenes aktiven und kreativen Produzenten und Bearbeiters neuer Inhalte geht, wie er im Zeitalter dezentralisierter Mediennetzwerke in Projekten auf der Basis von open-source-Software zu finden ist. Letztlich gibt Bruns auch die Idee des Produkts im traditionellen Sinne auf und spricht stattdessen von stets weiter zu bearbeitenden Artefakten, deren Grenzen ähnlich aufgeweicht werden bzw. sind wie die vormals feststehenden Rollen und Funktionen von Produzent, Distribuent oder Rezipient. Nun bezieht Bruns sich freilich nicht auf kulturelle Produkte respektive Artefakte, doch sind die sozialen Plattformen kommerzieller Art und finanzieren sich im wesentlichen aus Werbeeinnahmen. Nicht nur YouTube, auch z.B. studiVZ betreiben offen Werbung und weit mehr als 80 Prozent der Nutzer hat dem im Rahmen von online-Befragungen zugestimmt.27 Aus diesem Grund befürchtet z.B. Patrick Bernau, dass die »Gegenseitigkeit […] die Form der Selbstvermarktung [annehme, B.O.]. Die Kultur soll sich in Werbung und nichts anderes verwandeln.«28 Tatsächlich ermöglichen einheitliche technische Standards und offene Schnittstellen die aktive Beteiligung der Nutzer und die problemlose Integration unterschiedlichster Dienste, letztlich aber 25 | Vgl. hierzu Ulrich Bröckling u.a. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2000. 26 | Zum Stichwort der Automedialität vgl. Jörg Dünne, Christian Moser (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, München: Fink 2008. 27 | Patrick Bernau: »Selbstdarstellung im Netz. Ich zeige alles von mir«, in: faz.net 14.01.2008, www.faz.net/s/RubE2C6E0BCC2F04DD787CDC274993E94C1/Doc~E4 E72785EFC3F49BB9A057B6C59252635~ATpl~Ecommon~Scontent.html, letzter Zugriff am 29.4.2011. 28 | Jaron Lanier: »Netzkultur. Warum die Zukunft uns noch braucht«, in: faz.net, 17.01.2010, www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~E1 2F3D72CF9EF4D4E8D7CF187C735D881~ATpl~Ecommon~Scontent.html, letzter Zugriff 29.4.2011.
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sind sie durch die Interessen der Anbieter kontrolliert, da die Strukturierung bestimmter sozialer Medien z.B. die Positionierung des jeweiligen users als im Zentrum oder am Rande einer community stehend erlaubt und damit relevante ökonomische Daten offenlegt.29 Doch, wie verschiedene Umfragen bestätigen, scheint die Weitergabe persönlicher Daten nur ein geringer Preis für die zu Mikroprominenz gereichende Selbstdarstellung und gegenseitige Aufmerksamkeit zu sein.30 Also letztlich doch wieder der schon in den 60er Jahren von Günther Anders beschriebene Heimarbeiter31 mit der bloßen, aufgrund vermeintlicher Interaktivität und Kreativität vermittelten Illusion von Selbstund Mitbestimmung? Handelt es sich, mit anderen Worten, bei den mit neuen Medienformaten verbundenen Nutzungspraktiken und Konstruktionstools von Subjektivität um gouvernementale und gleichzeitig marketingrelevante Selbst(ver)führungs- (und mithin Disziplinierungs-)praktiken oder aber produzieren die sich in diesem Rahmen erweisenden medialen Eigensinnigkeiten jene widerständige »Kunst des Handelns«, von der der französische Historiker Michel de Certeau gesprochen hat?32 Doch existiert diese Unterscheidung noch innerhalb eines, wie beschrieben, zirkulär angelegten produsage-Systems, in dem jeder user gleichzeitig Produzent, Distribuent und Rezipient sein kann? Wie – so die nächste Frage – muss ein solches System überhaupt aussehen, welche Eckpunkte müssen beachtet werden, bevor man online public geht? Junge Web-user entscheiden sich laut verschiedenen Untersuchungsergebnissen im Normalfall und je nach Interessensgebieten für einige wenige Plattformen respektive communities. Die Hürden, von einer Gemeinschaft in die nächste zu wechseln, liegen zwar niedrig, aber je öfter der Nutzer seine Wahl zugunsten einer Gemeinschaft trifft und je mehr er zu ihr beiträgt, desto stärker identifiziert er sich mit ihr, die ihm freilich auch stets die »Gelegenheit zur Selbstdarstellung« sowie Möglichkeiten für die »Herstellung von Zugehörigkeit [… und zum] Durchspielen von möglichen Selbsten«33 liefert. Diese Bindung muss als wirtschaftliches Gut verstanden werden, denn sie lässt sich in Verbindlichkeit, sprich in Kaufverträge und damit in klingende Münze um29 | Interview mit Nicholas Christakis: »Selbstentblößung im Internet: Tiefes menschliches Bedürfnis«, in: spiegel online v. 14.5.2008, www.spiegel.de/unispiegel/wunder bar/0,1518,547445,00.html, letzter Zugriff am 9.9.2010. 30 | Bernau: »Selbstdarstellung im Netz. Ich zeige alles von mir«, a.a.O. 31 | In seiner pessimistischen Medienkritik Die Antiquiertheit des Menschen bezeichnete Günther Anders den Fernsehzuschauer als »Heimarbeiter« (Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, München: Beck 71987, S. 103. 32 | Vgl. Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. 33 | Angela Tillmann: »Doing identity: Selbsterzählung in virtuellen Räumen«, in: dies.; R. Vollbrecht (Hg.): Abenteuer Cyberspace. Jugendliche in virtuellen Welten, Frankfurt a.M. 2006, S. 33-49, hier: S. 47.
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setzen. Dies vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Entanonymisierung der user im Netz.34 Die Nähe des users zum Objekt, sein Spiel mit der Applikation gilt als richtungsweisend für das Design der Social Media, denn dem weichen Programmieren gilt das »Ausprobieren […] als Form der Arbeitsorganisation.35 Gleichwohl folgen die meisten Entwürfe zumindest im Kontext der Selbstdarstellungsvideos« auf YouTube einer Art Schema F, was die eigene Kreativität und das innovative Potential deutlich limitiert. Die produktiv angelegte Plattform YouTube fördert die ›Kundenbindung‹ u.a. mit Hilfe einer sehr genauen (wenn auch nur in englischer Sprache verfassten) Anleitung,36 entsprechender Videoeditoren37 sowie der Möglichkeit, via cloud-computing Filme zu erstellen, ohne die eigene Festplatte über Gebühr belasten zu müssen. Selbstverständlich können sich die user eigene Profile einrichten, sich mit Freunden und Gleichgesinnten verbinden, Kommentare und Bewertungen abgeben, Playlisten erstellen, an verschiedenen Blogs partizipieren (YouTubeBlog, Biz Blog, Creator’s Corner, CitizenTube oder API Blog) und sich mit anderen Sozialen Plattformen wie Twitter oder Facebook direkt verlinken. Derartige Möglichkeiten und Objekte binden aber nicht nur an die Plattformen, sondern ver-binden auch die user aneinander, formieren neue Bezie34 | Das Ausprobieren hat sich jedoch zumindest im Bereich der Identitätsentwürfe seit den 1990er Jahren deutlich geändert, denn während die Cyberspace-Identitäten der 1990er Jahre bewusst auf reales Aussehen, Namen oder Geschlechtszuordnung verzichtet bzw. damit experimentiert haben, will der moderne user zumeist identifiziert und gefunden werden, hinterlässt er Spuren und managed sein Profil aktiv. Häufig lädt er unter seinem echten Namen Filme auf YouTube hoch, stellt seine Fotos in Flickr ein, knüpft Geschäftskontakte auf Xing, verwaltet seine Lesezeichen auf Mister Wong, bleibt mit Studienfreunden über Facebook in Verbindung und/oder sondert permanent Botschaften auf Twitter ab. Die Entanonymisierung in sozialen Netzen erhöht zwar zum einen die Garantierfähigkeit der Kommunikation, kommt aber gleichzeitig den kommerziellen Interessen der Betreiber zupass, die stets gerne wissen wollen, mit wem sie es zu tun haben. David Kirkpatrick, Autor des Buches The Facebook Effect (2010) betrachtet die öffentliche Identität als Marke mit dem gewissem Risiko der Hinterlassenschaft digitaler Artefakte. 35 | Vgl. Sherry Turkle: Leben im Netze. Identität in Zeiten des Internet, Hamburg: Rowohlt Verlag 1999. 36 | Vgl. Best Tools To Create Your Own Live Web TV – A Mini-Guide; Link: www.masternewmedia.org/video_internet _television/live-video-streaming/broadcast-yourselflive-with-video-streaming-20070424.htm#ixzz0yvNUAbLD 37 | JFF Institut für Medienpädagogik (Hg.): Web 2.0 als Rahmen für die Selbstdarstellung und Vernetzung Jugendlicher, Veröffentlichung der Ergebnisse des ersten Teils der Studie Das Internet als Rezeptions- und Präsentationsfläche, 04.02.2010, www.jff. de/?BEITRAG_ID=5808, Zugriff am 10.9.2010.
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hungen und Bezugsetzungen etc. So entsteht ein Netz aus Objekten und Personen, aus Relationen zwischen Objekten, zwischen Personen und Objekten und Personen untereinander. Die systemzentriert produzierten Sozialitätstypen bestehen – so Bouman38 u.a. – aus den folgenden verschiedenen Aspekten: • Praxis ermöglichen, d.h. es soll nicht nur um bloßes Konsumieren, sondern um aktives Mitgestalten gehen, • Nachahmung der Realität: »People actually are more inclined to use software systems that resemble their daily routines, language and practices than to adopt whole new concepts, interfaces and methods« (ebd.), • Identitätsbildung: »A large part of this realm is concerned with the ability to show others a desired picture of self, a version of one-self that is goal-relevant« (ebd.), d.h. jede Aktion soll identitätsbildende Spuren hinterlassen und • Selbstaktivierung, die das charakteristische Zeigen-was-ich-gemacht-habe, das sich In-Szene-Setzen im Spannungsfeld von Vernetzung und Datenschutz, von Kontrolle der Selbstdarstellung durch Regulierungsmechanismen (wer darf wen wie wann bewerten, welche Grenzen gibt es in Bezug auf Einstellungsmöglichkeiten in beschreibenden Texten etc.) ermöglicht. Diese Aspekte sollen – so die grundlegende Idee – ein ständiges Feedback erzeugen und garantieren, das mit seinen verschiedenen Rückkopplungsmechanismen (w. z.B. steter Kontakt zu Freunden, zum Provider, open source-Software-Produkte, Vernetzungsmöglichkeiten mit anderen sozialen Medien) den Kreislauf oder Loop stabilisiert und am Leben erhält. Dabei müssen gleichzeitig eine größtmögliche Identität wie auch Abweichungsmöglichkeiten z.B. im Sinne von Weiterentwicklungen gewährleistet werden. Im Falle der Selbstdarstellungsvideos zeigt sich dieses Spiel mit Identität resp. Nicht-Identität und der damit zusammenhängenden Stabilisierung des Loops z.B. in den (von Provider- wie auch von user-Seite eingestellten) Verweisen auf andere, ähnliche Inhalte, die von unterschiedlichen usern eingestellt und/oder kommentiert wurden. Diese Feedback- und Rückkopplungsmöglichkeiten auf Artefakt- wie auch auf persönlicher Profilebene sind fundamentaler Bestandteil des Systems; in wechselseitig ineinandergreifenden, sich gegenseitig beobachtenden und (re-) kalibrierenden Subjektivierungs- und Mediatisierungs- respektive Automedialisierungsprozessen entstehen auf diese Weise die in Heimarbeit reproduzierten, einander alle bis zu einem gewissen Grad ähnelnden Online-Images des oder der Selbste. 38 | Bouman, W., Hoogenboom, T., Jansen, R., Schoondorp, M., Bruin, B. de, Huizing, A. (2007), »The Realm of Sociality: Notes on the Design of Social Software«, das Paper ist http://sprouts.aisnet.org/38/2/2008-01a.pdf, Zugriff am 9.9.2010, erhältlich.
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*** Wollte man nun einwenden, dass reines Reenactment oder Wiederholung kultureller Handlungen und Akte noch keine produsage darstelle, so wäre dem womöglich prima vista zuzustimmen. Gleichwohl sollte man nicht vergessen, dass im Rahmen der social media letztlich jede Art der Kommunikation, jeder Klick immer schon Inter-aktion und damit Handlung (und womöglich auch Handel!) ist, die den Systemerhalt (aus welcher Sicht auch immer) garantiert und mithin als kollaborativ zu bezeichnen ist. Tatsächlich schafft die Summe der letztlich unüberschaubaren Menge an Einzelhandlungen, ohne von den Handelnden immer intendiert zu sein, private Öffentlichkeiten, im Kontext derer Medienexperten vom sog. long tail des Öffentlichkeitsspektrums sprechen, in welchem Blogger, Podcaster und YouTuber auf ihr durchaus spezialisiertes Publikum treffen. Aufgrund komplexer Selektionsprinzipien können Inhalte im Web 2.0 eine kaum kontrollierbare Eigendynamik entwickeln mit dem grundlegenden Ziel des Sich-in-Beziehung-Setzens und der Lust an medialen wie auch automedialen Performativität, an der Wiederholung kultureller Akte und Handlungen im Spannungsfeld von Selbstkontrolle und –vergessen, von Selbstentfremdung und –bestätigung. Können wir uns da ›raushalten‹? Wohl kaum, und wie Jana Herwig kürzlich zu Recht konstatierte, beteiligen sich freilich auch die Forscher, die sich mit dem Web 2.0 auseinandersetzen »in ihrer Auseinandersetzung mit dem Gegenstand – der ihnen wie anderen auch z.B. nur über die Interaktion und in über Logfiles nachvollziehbarer Weise zugänglich wird – an der Produktion des jeweils generierten Artefakts. Die Logik der webinterfacebasierten Interaktion unterscheidet hier nicht zwischen der emphatischen oder der innerlich distanzierten oder der ›teilnehmend beobachtenden‹ Userin. […] Tatsächlich kann auch der Akt der Nutzung selbst [auch ungewollt, B.O.] einen aktiven Beitrag zum laufenden Produtzungsprojekt machen – zum Beispiel dann, wenn Zugangsstatistiken gesammelt und bewertet werden, um so automatische Verbindungen zwischen ähnlichen Inhalten zu schaffen.«39 So ist letztlich nicht, wie Bruns bereits vermutete, von einer »disruption 2.0: Broadcast vs. Social Media«40 auszugehen, die Botschaft – auch wenn sich dabei nicht immer alle Beteiligten ihrer Rolle(n) und vielfältigen Funktionen
39 | Vgl. Jana Herwig, unter: http://digiom.wordpress.com/2010/08/16/the-gameprodusage-und-das-umfassende-system-der-creative-industries, Zugriff am 15.9. 2010. 40 | Dieser Vortrag Bruns kann http://produsage.org/, eingesehen werden, letzter Zugriff am 10.9.2010.
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und Positionen bewusst sind41 – lautet vielmehr: »Broadcast Your Social Media Message« oder eben in Kurzform: »Broadcast Yourself«.
41 | Axel Bruns im Interview mit Henry Jenkins http://henryjenkins.org/2008/05/ interview_ with_axel_bruns.html, letzter Zugriff am 1.1.2010.
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Express Yourself 3.0! Über die Auswirkungen des transmedialen Digitalen und der Vernetzung auf die gegenwärtige Subjektivität: Kommunikatives Handeln auf zwei Ebenen, entdramatisierte Selbstvertextlichung und somato-technologischesdisjunktives Kontinuum Laurence Allard
Ausgehend von der allgemeinen Annahme, dass Subjektivität durch Technologien des Schreibens und Lesens konfiguriert wird, die die Geschichte durchziehen, werden wir uns mit der Frage befassen, inwiefern die digitale Vernetzung als Technologie des Selbst in einem Kontext der Inkorporierung von Geräten angesehen werden kann, was die Frage nach einer symmetrischen Anthropologie zwischen Mensch/Nicht-Mensch und Körper/Geist aufwirft. Unsere Überlegungen stützen sich auf Erzählungen über Praktiken und Beobachtungen der Nutzung eines wahren Arsenals von Geräten, Diensten und Inhalten, von Handy und Touchscreen über Chat und Facebook bis hin zu Fotografie und SMS.1 Aus ihnen geht hervor, wie sehr digitale Geräte und das Internet ein selbstverständlich gewordenes transmediales Umfeld bilden und auf ganz unspektakuläre Weise zu Technologien des Selbst geworden sind, verstanden als Ausdrucksmittel von Subjektivität, aber auch als Austragungsort von Innerlichkeit in all ihren Facetten. Somit werden sie als Technologien des Selbst praktiziert, durch die Emotion, Aktion und Repräsentation entsprechend eines kommunikativen Handelns auf zwei Ebenen gedacht werden müssen. Ebenfalls ist zu beobachten, dass sowohl digitale Ausdrucksformen eines in Beziehung zu anderen stehenden Ichs als auch die Kommunikation eines 1 | Die Daten wurden im Rahmen einer Untersuchung unter der Leitung von Joëlle Menrath erhoben, der Gründerin von Discours et Pratiques, ohne die diese Ausführungen undenkbar gewesen wären. Die Untersuchung bestand zum einen aus sorgfältigen Leitfadeninterviews und zum anderen aus Beobachtungen im öffentlichen Raum, die zwischen November 2011 und Februar 2012 im Großraum Paris durchgeführt wurden.
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Selbst mit sich selbst inzwischen eine multimodale Materialität angenommen haben, die keinen Unterschied mehr macht zwischen Text und Bild und den Akte des Schreibens an sich entdramatisiert. Schließlich führt die Aneignung dieser »neuen« Kommunikationstechnologien zu einer Art paradoxer Inkorporierung dieser Artefakte unter dem Aspekt eines somato-technologischen Kontinuums, das in der Diskontinuität eingelöst wird. Die Erfahrung der Vernetzung erweist sich letztendlich als disjunktiv, wenn sie mit Blick auf ein kommunikatives Wohlbefinden auf reflexive Weise erlebt wird.
Technologien des S elbst/Technologien für das S elbst : A uf teilung und e xpressive K oe x tensivität der I nnerlichkeit Ohne näher auf frühere Arbeiten einzugehen,2 sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die digitalen und mobilen Technologien als »Technologien des Selbst« thematisiert wurden, entsprechend den Überlegungen Michel Foucaults, demzufolge wir es mit »einer Geschichte der Selbstbeziehungen« zu tun haben, »das heisst der Formen, in denen man sich selbst zum Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich nehmen soll, um sich umzubilden, zu verbessern, zu erläutern [...].«3 Voraussetzung dafür ist, was der Philosoph als »Technologien des Selbst« bezeichnet, »also die in allen Kulturen anzutreffenden Verfahren zur Beherrschung oder Erkenntnis seiner selbst, mit denen der Einzelne seine Identität festlegen, aufrechterhalten oder im Blick auf bestimmte Ziele verändern kann oder soll.«4 Im Altertum war Selbstwissen eine Tugend. Im heutigen gesellschaftlichen Kontext, der durch eine Enttraditionalisierung der identitätsstiftenden Institutionen gekennzeichnet ist, sind die Individuen gewissermassen dazu gezwungen, darüber nachzudenken, was sie sein wollen, und zwar ohne auf die Möglichkeit einer unhinterfragten Reproduktion sozialer Identitäten zurückgreifen zu können. Das Internet dürfte hier als Raum für Reflexivität fungieren, das Handy als Werkzeug für Identitätserkundungen. Die sogenannten Hypomnêmata der Antike, jene Notizhefte, Zitat- und Gedankensammlungen, stellten in der Geschichte des reflexiven Verhältnisses 2 | Vgl. Allard, Laurence: »ExpressYourself: blogs, pages perso., fansubbing: de quelques agrégats technoculturels ordinaires«, in: Eric Maigret/Eric Macé (Hg.): Penser les médiascultures, Paris : Armand Colin 2005, S. 170-188. Und Allard, Laurence: Mythologie du portable, Paris: Le Cavalier Bleu 2010. 3 | Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Die Sorge um sich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 59. 4 | Foucault, Michel: »Subjektivität und Wahrheit«, in: Schriften in vier Bänden, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 259.
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der Individuen zu sich selbst wichtige Träger dar, vor allem indem sie den Menschen im Heterogenen, in einem – um es in Begriffen Michel Foucaults zu sagen – Netz aus eigenen Gedanken oder Zitaten anderer, aus Zahlen und Worten, konstituierten.5 Heutzutage scheint es so, als könne man Handy und Internet als Medium und Träger einer reflexiven Individuation betrachten, die beispielsweise im Schreiben und in der Fotografie vielfältige Substanzen findet, um sich auszudrücken und stets im Gestus eines reflexiven Verhältnisses zu sich selbst ihr Innerstes nach außen zu kehren. Zahlreiche digitale und mobile Ausdrucksweisen von Individuen in Gestalt von Mails, SMS, MMS, Statuseinträgen in sozialen Netzwerken oder Videochats führen zu einer multimodalen Abgrenzung persönlicher Identitäten, was wir später noch genauer ausführen werden. Doch darf dieser heterogene Charakter nicht mit einer pathogenen Zerrissenheit verwechselt werden. Mehrere EMail-Konten zu haben, bedeutet beispielsweise nicht, dass man zu Schizophrenie neigt, sondern zeugt von einem pluralen Selbstverständnis – so als würden unterschiedliche Facetten des Selbst in unterschiedlichen Posteingängen eine konkrete Materialisierung erfahren. Das legt auch die hier verwendete »Verteilungs«-Metapher nahe: »Ich habe 6 Posteingänge: Meine Infos werden auf eine total persönliche, auf eine persönliche und auf spezielle Job-Mailadressen verteilt.« (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris) Die digitale Aufteilung der Identitätsfacetten mit psychischer Zerrissenheit zu verwechseln, würde die Tatsache übergehen, dass Identität schon immer kombinatorisch war und die Einheit eines Lebens narrativ konstruiert wird. Digitale Geräte machen es möglich, im größeren Stil als das Tagebuch des 18. Jahrhunderts oder die Hypomnêmata der Antike den Ausdruck einer Selbstdarstellung wie auf einem kubistischen Porträt zu dokumentieren. Ohne diesen digital vernetzten Moment reflexiver Modernität zu hypostasieren oder dessen Besonderheiten außer Acht zu lassen, ist es möglich, hieraus eine soziologische Lektion zu ziehen. Der Soziologe Danilo Martuccelli drückt das so aus: »Das Individuum ist heute mit einer weitgehenden Pluralität konfrontiert, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als Ordnungs- und Einheitsprinzipien einzuführen… Modern sein oder ars combinatoria [...] Jede Identität konstituiert sich nach und nach über eine diskursive Leistung, mithilfe derer das Individuum sich mit einer einheitlichen und kohärenten Repräsentation seiner selbst ausstattet… Durch diese Leistung hört das Individuum auf, aus Fragmenten zu bestehen und wird zum Autor [...] seines eigenen Lebens.« 6
5 | Foucault, Michel: »Über sich selbst schreiben«, in: Schriften in vier Bänden, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 503-521. 6 | Martucelli, Danilo: Grammaires de l’individu, Paris: Gallimard 2002.
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Technologien des Selbst oder: Wie lässt sich mit sich selbst kommunizieren? Eine aktuelle Studie weist jedoch darauf hin, dass Internet und Mobiltelefon, also die geläufigsten Elemente des transmedialen Repertoires vernetzter Individuen von heute 7, nicht nur verwendet werden, um mit anderen zu kommunizieren und einem Selbst Ausdruck zu verleihen, das in Beziehung zu anderen steht und auf der Suche nach neuen Verbindungen ist – also um das zu tun, wozu uns die neusten Innovationen auf diesem Gebiet mit ihren beziehungsorientierten Technologien in Gestalt der Internetseiten sozialer Netzwerke anregen. Nur wenige Studien haben ihr Augenmerk auf die Entwicklung von Praktiken der Kommunikation mit sich selbst gerichtet, die diese digitalen Technologien möglich gemacht haben. Dabei erschienen uns gerade diese als besonders signifikant für die Rolle der »neuen« Kommunikationstechnologien bei der Konfigurierung der heutigen vernetzten Subjektivität. Das Kino, das unsere Gesellschaften mit visuellen Repräsentationen versorgt, hat uns den Weg aufgezeigt. In dem Film Der Aufsteiger von Pierre Schoeller (2011) fällt auf, dass die Subjektivität der Hauptfigur bildlich über die Benutzeroberfläche eines berühmten Smartphones umgesetzt wird, mit der die Aufnahmen, die den Schauspieler zeigen, überblendet werden – beispielsweise mit dem Menüpunkt »Kontakte« oder den Optionen »Anruf annehmen/ablehnen« etc. Der Aufsteiger, Pierre Schoeller, 2011
7 | Ein Beispiel für die Praktiken dieses transmedialen Arsenals, das Computer, Mobiltelefon, Internet, Fernsehen und Radio miteinander kombiniert, findet man in der Echtzeit-Ethnografie alter und neue Kommunikationstechnologien, die anlässlich des Präsidentschaftswahlkampfs 2012 erstellt wurde. Vgl. Allard, Laurence und Menrath, Joëlle: »Etre un citoyen connecté pendant la campagne présidentielle 2012«, Mai 2012: www.mobactu.fr/?p=598 vom 31. Juli 2012.
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Solche Praktiken des Vollzugs von Innerlichkeit durch Kommunikationstechnologien lassen sich nicht nur im Bereich der filmischen Darstellung beobachten. Internet und Handy sowie alle mit dem Web assoziierten Contents, Handyfotografien oder SMS-Nachrichten scheinen sich heute in einem Koextensivitätsverhältnis zur Innerlichkeit zu befinden. So wird ein Nachaußen-Tragen oder Ablassen von Gedankenflüssen mit Hilfe von Technologien geschildert, beispielsweise in Form der schriftlichen Formulierung von Handynotizen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit verfasst werden: »Wenn mit nachts etwas einfällt, notier’ ich es sofort in mein Telefon. Dadurch kann ich besser schlafen.« (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris) So können Texte, die auf digitalen Online-Tools verfasst werden – oft werden dafür Verben wie »notieren« verwendet –, den Status einer Erinnerungshilfe haben, entweder als »Texte für sich« oder als Wegbereiter einer künftige Handlung. »Das Interessante am iPad ist, dass ich da alles draufpacke, auch meine Notizen. Jetzt gerade benutze ich dafür mein iPhone, weil ich es in meiner Handtasche habe. Ich kopiere wichtige Mails in meine Notizen, zum Beispiel mit Informationen wie der Kleidergröße meiner Schwester, die im Ausland lebt.« (J., 62 Jahre, Rentnerin, Paris)
Den digital vernetzten Kommunikationstechnologien werden von den Usern also Eigenschaften zugesprochen, die ihnen eine echte psychologische Rolle zukommen lassen – wie im Beispiel des folgenden, etwas verklärten Austausches zwischen einem Chef und seiner Sekretärin: »G. [seine Sekretärin, die anwesend ist und in dem Moment an der Unterhaltung teilnimmt] und ich, wir schicken uns sogar um drei Uhr morgens SMS.« G. bestätigt: »Wenn mir etwas Sorgen macht, teile ich ihm das mit, und schon schlafe ich besser.« J. weiter: »Zum Beispiel schreibt mir G.: ›Es sind 3000 Euro Bankgebühren fällig‹. Wenn ich noch nicht schlafe, antworte ich ihr: ›Darum kümmern wir uns morgen. Und ich weiß, dass G. nun besser schläft. Das ist eine Art Ventil«. (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris)
Manche bringen mit den Worten »da ist mein ganzes Leben drin« zum Ausdruck, dass sie ein total vernetztes Innenleben haben. »Als ich 1991 meinen Laden eröffnete [Optikergeschäft], wollte ich keine EDV. Ich hatte Akten und kleine Schachteln. Dann brauchte es lange, bevor ich wieder auf die Papiere zurückgriff, ich fand es toll, dass da [im Telefon]mein ganzes Leben drin war. Ein Beispiel. Wenn ich auf einen Termin warte, bestelle ich von meinem Telefon aus bei Monoprix. In meinen Augen hat uns all das das Telefon gebracht.« (C., 52 Jahre, Optikerin, Paris)
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Diese Entwicklung, die von einem Gerät wie beispielsweise dem Handy ausgeht, »mit« dem man handeln kann, führt zu einer Repräsentation der Technologie als Teil der Innerlichkeit, als zum »Inneren« gehörend. Das zeigt uns, wie eine Kommunikationsmaschine zu einem »Lebensbegleiter« geworden ist. Donna Haraway entwirft in ihrem Werk eine symmetrische Anthropologie zwischen Mensch und Nicht-Mensch, die die menschliche Spezies ebenso wie das Tier und das Artefakt miteinbezieht. Ausgehend von dieser Vorstellung könnte man sagen, dass der Gefährte aus der »Spezies Telefon« einer Verbindung mit einem Artefakt zuzurechnen ist, mit dem man einen Teil seiner selbst, seines Inneren teilt. In dieser symmetrischen Anthropologie, innerhalb derer eine Verbindung keine Verpflichtung ist, besteht ein Bündnis aus Materialität, Inkorporierung und Verantwortung.8
Kommunikatives Handeln auf zwei Ebenen, Double Screening Handyfotos sind bezüglich der Doppelfunktion von Technologien – Technologien des Selbst und Technologien fürs Selbst – besonders aufschlussreich. Sie scheinen als Medium benutzt zu werden, um Emotionen, Gemütszustände oder Verhaltensweisen in bestimmten Situationen hervorzurufen, zu verbessern oder zu reproduzieren. So, wie der Tanz die Musik in unser physisches Leben hineinversetzt – berücksichtigt man andere Modi als das kontemplative Zuhören –, schaffen Handyfotos ein Kontinuum zwischen Aktion und Emotion. Wie beim Verhältnis zwischen Tanz und Musik, bei dem eine Kontinuität zwischen Aktion und Emotion entsteht, setzt die Handyfotografie den Gedanke eines pluralistischen Handelns voraus, indem sie Sehen, Fühlen, Ausdruck und Kommunikation miteinander vernetzt – durch ein Handyfoto, das (nicht immer nur) an jemanden geschickt wird, der einem nahe steht. Diese fotografischen Praktiken für das Selbst sind Formen des Vollzugs einer inneren Verfassung, die im Zuge ein- und derselben psychischen Regung mithilfe einer Technologie zum Ausdruck gebracht werden kann. »Wenn ich zu Fuss von der Arbeit nach Hause durch die Tuilerien gehe, kann ich es nicht lassen, mit dem iPhone Fotos zu machen.« (S., 62 Jahre, Dokumentalist, Paris) »In Paris sehe ich of t wit zige Dinge. Ich schicke sie meiner Tochter mit dem Hinweis ›an jenem Or t, zu jener Zeit gesehen‹. Einmal habe ich ein Foto von Miles Davis gesehen, das ich wunderschön fand und fotografier t habe. Das mache ich zum Spaß, man kann damit machen, was man will.« (C., 52 Jahre, Optikerin, Paris)
8 | Vgl. Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness, Chicago: The University of Chicago Press 2003.
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Die Pariser »mobilen Ansichten« von S. und C. sind es durchaus wert, im Modus des im 19. Jahrhundert erfundenen Pittoresken mit einem Handy fotografiert zu werden, das in diesem Zusammenhang als Technologie des Sinnlichen bezeichnet werden kann. Meistens werden diese Handybilder für sich selbst als Träger eines Gefühls aufgenommen, manchmal werden sie, wie im Fall von C. und ihrer Tochter, an eine andere Person geschickt. In einem solchen Fall kommen sie einer Postkarte nahe, deren Funktion laut dem Philosophen Jacques Derrida erschöpft ist, wenn sie am Ziel ankommt, und die nur auf ihrem Weg dorthin lebendig ist. Handyfotografie stellt in Frankreich die häufigste Anwendung nach dem Gespräch und der SMS dar.9 Dass sie gleichzeitig dazu verwendet wird, eine Emotion auszudrücken und diese an andere zu kommunizieren (oder auch nicht), zeugt von einer generellen Kontinuität zwischen der Aktion und deren Repräsentation. Man kann von einem kommunikativen Handeln auf zwei Ebenen sprechen, das auch im Double Screening – dem gleichzeitigen Anschauen einer Fernsehsendung und deren live-Kommentierung auf Twitter – veranschaulicht wird. Es sollte klar sein, dass diese Praktiken des kommunikativen Handelns auf zwei Ebenen – Sehen/Schreiben – inzwischen einen wichtigen Pfeiler innerhalb der Innovationsstrategie des Fernsehens bilden, das seinerseits durch das Angebot des vernetzten Fernsehens eine soziale Wende vollzieht. Beim vernetzten Fernsehen wird der Bildschirm mit dem Internet verbunden, was eine Art Kontinuum zwischen dem Web, dem Fernsehprogramm und anderen Diensten, wie VOD oder Spielen, herstellt.10 Aus einer eher anthropologischen Sicht verweist das Double Screening auf ein doppeltes Handlungsregister, das nicht nur die vermeintlich Multitasking-fähigen Digital Natives betrifft, sondern alle Generationen, die ihr Handy täglich verwenden, um beiläufig Dinge zu notieren oder Fotos zusammen mit ein paar Worten an ihnen nahestehende Personen schicken. Übrigens erlauben inzwi9 | Bestandsaufnahme zum Mobiltelefon in Frankreich: www.slideshare.net/agenced agobert/etat-des-lieux-du-mobile-en-france-mai-2012-13015076 10 | Es bleibt anzumerken, dass die Nutzung dem Angebot vorausgeht, wie es in der Geschichte der digitalen Praktiken häufig der Fall war. So ist es in den letzten Jahren üblich geworden, Fernsehsendungen auf Twitter oder Facebook zu kommentieren. Auf der Grundlage dieser existierenden Praktiken, die Fernsehprogramme und soziale Netzwerke auf informelle Weise miteinander verbinden, wurde anlässlich der Amtseinführung Obamas am 20.1.2009 eine kommentierte Übertragung durch eine Kooperation von CNN und Facebook ermöglicht. Bis dahin waren Fernsehen und Internet noch nicht in einem kompletten und vereinheitlichten Angebot miteinander vernetzt, doch wurden beide Medien von den betroffenen Akteuren absichtlich »connected«. Eine Studie von Juli 2012 weist darauf hin, dass 42% der amerikanischen Zuschauer Fernsehen und Internet gleichzeitig konsumieren. http://socialmediatoday.com/socialmktgfella/649311/infographic-68-tweet-keep-shows-they-love-air vom 31. Juli 2012.
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schen einige Opernhäuser in den USA dank der »Twitter Seats«11 bestimmten Zuschauern, während der Aufführungen zu twittern. Beim Thema Double Screening, das in den Bereich des kommunikativen Handelns auf zwei Ebenen fällt, geht es darum, im Verständnis der subjektiven Erfahrung Handlung und Denken, Emotion und Geste nicht mehr voneinander zu trennen.
A usdrucksmodalitäten des digitalen S elbst und E ntdr amatisierung des S chreibens Die Zahlen sprechen für sich: Videos sind im Internet allgegenwärtig. Auf dem größten Videoportal YouTube werden stetig Rekorde gebrochen – mit 72 heruntergeladenen Stunden pro Minute und vier Milliarden Videostreams am Tag allein im Mai 2012. Doch befinden sich unter den beobachteten Praktiken paradoxerweise Schreiben und Lesen im Aufwind, was mobilen Geräten zugute kommt. Es lässt sich von einer Entdramatisierung des Schreibens sprechen, die zugunsten einer allgemeinen Vertextlichung der Subjektivität vonstatten geht. Dabei lassen sich mehrere Merkmale dieser Vertextlichung des Selbst aufzeigen.
Die Multimodalität des digitalen Schreibens Der multimodale Charakter des Schreibens verdeutlicht die Pluralität der Ausdruckssubstanz des vernetzten Innenlebens. Schreiben wird mittels eines bildhaften oder verbalen Zeichens zu einer Tätigkeit, die in ein Handlungskontinuum eingebunden ist. Wie bereits erwähnt, ist dies der Fall bei Handyfotografien, die einer anderen Person oder manchmal auch an sich selbst geschickt werden. Somit verliert der Schreibakt insofern seinen sakralen Charakter, als Haltungen und Tätigkeiten, Eindrücke und Ausdrücke, Bilder und Texte heute das Handeln des vernetzten Individuums bilden.
Ein Amalgam aus Bildhaftem und Schriftlichem Sehen, Gerührt sein und Schreiben werden zu Elementen eines einzigen Kontinuums, das seine Entsprechung in der Amalgamierung von bildlichen und schriftlichen Ausdrucksformen findet. Viele User berichten davon, dass sie Zug- und Flugtickets, Pässe oder Gepäcketiketten, Wohnungsanzeigen, Einkaufslisten etc. fotografieren. »Da ich keine Zeit habe, mir den Stundenplan
11 | »Merci de ne pas éteindre vos mobiles!«, in: Le Devoir vom 12.12.2011, www.lede voir.com/societe/medias/338149/merci-de-ne-pas-eteindre-vos-cellulaires
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meiner Tochter aufzuschreiben, die aufs Collège geht, habe ich ihn fotografiert und ins Notizbuch getan.« (V., 46 Jahre, Friseurin, Paris) So wird der Fotoapparat der Handys als Fotokopierer benutzt und die Fotos werden im Anschluss daran als Notiz oder für das Adressverzeichnis verwendet, sprich als Text: So schreibt F., 38 Jahre, Schauspielerin, wenn sie auf ein entscheidendes Casting wartet, zur »Erinnerung« die Porträts ihrer Ansprechpartner in die Kontaktliste ihres Handys. Es lässt sich von einer mobilen Textualität sprechen, die unterschiedslos aus Bildhaftem und Schriftlichem besteht und deren weitere Besonderheit es ist, als aktivierbarer Text, als unter der Hand verfügbare Reserve, wahrgenommen zu werden. »Einmal war mein Mann auf Reisen und hatte keine Visitenkarten mehr. Da habe ich seine Visitenkarte fotografiert und ihm als MMS geschickt.« (F., Schauspielerin, 38 Jahre, Paris) »Wenn ich eine Mail bekomme, in der es um ein Casting geht, so in der Art ›Ruf mich sofort an‹, schicke ich, da ich ein wenig schüchtern bin, eine kurze SMS mit meinem Foto und meinen Kontaktdaten.« (F., 38 Jahre, Schauspielerin, Paris)
Kreative Konversation oder: der manipulierbare Text Im Internet tauschen sich Individuen in Kommunikationsnetzen über geteilte Inhalten aus. Auf der Website des mit mehr als 25 Millionen Nutzern in Frankreich größten sozialen Netzwerks Facebook werden 4 Milliarden Inhalte jeglicher Art miteinander geteilt12 . Die Internetnutzer interagieren dort meistens, indem sie mittels eines mehr oder weniger standardisierten Prozederes, das sich vom like bis zum retweet erstreckt, Inhalte mit anderen teilen. Diese Inhalte können, wie im Fall von Handyfotos oder tweets, von den Usern selbst generiert, aber auch über Informationsseiten oder Videoportale veröffentlicht worden sein. Dann werden diese Inhalte, die auch durch EMail-Weiterleitung oder die Auto-Share-Funktion bei Videos mit anderen geteilt werden können, mit Kommentaren und neuen Titeln versehen. Diese Praktiken, Inhalte zu teilen, setzen eine kulturelle Logik des Sich-Aneignen- oder sogar Manipulierenkönnens voraus, und zwar mit Bildbearbeitungssoftware oder den immer zahlreicher werdenden Filtern in den Anwendungen für Handyfotografie. Konversation kann also in der Form ablaufen, dass mit dem Handy ein Foto gemacht wird und dieses dann auf die Website eines sozialen Netzwerks gestellt wird; der Kommentar und das liken übernehmen die Funktion einer Empfangsbestätigung des Inhalts, der im nachfolgenden Beispiel als »beauté partagée« (»geteilte Schönheit«) bezeichnet wird.
12 | www.pewinternet.org/Reports/2012/Facebook-users.aspx vom 31.7.2012.
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(von der Urheberin autorisierter Nachdruck)
Vom Schreiben zur Notiz, vom Text zu Elementen einer Copy-and-Paste-Sprache Wir erleben derzeit einen Übergang von DEM Schreiben zu einer transversalen Schriftgestik ohne sakralen Charakter, die sich durch andere Tätigkeiten wie Sehen, Gehen oder – leider auch – Autofahren hindurchzieht. Die Entwicklung geht von DEM Geschriebenen hin zu einem multimodalen Text, der als teilbarer und manipulierbarer Inhalt definiert ist. Die verfügbaren digitalen Geräte sind insofern auch diskursive Geräte, als sie dazu beitragen, manipulierbare Copy-and-paste-Texte zu produzieren. Somit gleichen diese manipulierbaren Textfragmenten eher einer Notiz als einem geschlossenen Text. Und im Laufe dieser Manipulationen kann eine Mail zu einer Notiz werden. Die Notiz scheint innerhalb der Praktiken digitalen Schreibens zu dem vorherrschenden Textgenre geworden zu sein – zu einem Genre, das sich im Verhältnis zu anderen Schriftformen wie dem »Brief« definiert: »Meine 85-jährige Mutter hat vor 15 Jahren mit dem EMailen begonnen. Sie schreibt ihre Nachrichten nicht in einer Linie. Sie schreibt einen Brief in traditioneller Aufmachung. Aber sie schreibt. Sie hat Schwierigkeiten, per Hand zu schreiben, mit der Tastatur ist es angenehmer. So kommunizieren wir.« (J., 62 Jahre, Rentnerin, Paris)
Die Möglichkeit, mithilfe digitaler Tools verbale Erzeugnisse hervorzubringen, die den hybriden Textformen wie Bild-SMS oder Fragmenten von Copy-andPaste-Texten zuzurechnen sind, bringt die User dazu, generell alles zu vertextlichen. Emotionen und Gedanken, Objekte und Landschaften, Unterhaltungen und Begegnungen – alles wird zu einem potenziellen Gegenstand von Text, Notizen, SMS-Nachrichten. Sobald diese Texte über das Notizbuch eines Smartphones laufen, sind sie nicht nur Wegbereiter für neue Texte, sondern
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auch für Handlungen oder Situationen. »Neulich erzählt mir meine Frau von den Macarons von Pierre Hermé. Ich notiere also: ›Macarons bei Pierre Hermé kaufen‹. So etwas bringt mich auf Ideen, macht mich auf Dinge aufmerksam. So kann ich vorausdenken.« (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris)
M ehr oder weniger lesen , in z wei E tappen schauen : D iskontinuität der R ezep tion Angesichts dieser Formen digitaler Verschriftlichung, im Rahmen derer das Schreiben seinen sakralen Charakter verliert zugunsten einer ständig wachsenden Zahl von Gelegenheiten zur Vertextlichung oder Umsetzung in allerlei Arten von Notizen, scheint es angemessen, neue Rezeptionsmodi jenseits von stiller und andächtiger Lektüre zu entwickeln. Überall zu schreiben, bringt es mit sich, immer zu lesen, was nicht bedeutet, etwas zu Ende zu lesen. So sind wir auf erstaunliche Formulierungen gestoßen, die die Art und Weise des Lesens beschreiben, etwa von Romanen auf Tablet-PCs: »Ich lade kostenlose Bücher aufs iPad, die ich mehr oder weniger lese. Außer es sind Thriller. Ich habe bis jetzt erst einen gelesen, als ich meine Tochter in Washington besucht habe.« (J., 62 Jahre, Rentnerin, Paris) Dank digitaler Tablets oder Festplatten sind Filme zu transportablen Objekten gewordenen, die sich in zwei Etappen und innerhalb von zwei unterschiedlichen Rezeptionsrahmen schauen lassen. »Meine Tochter hat keine Zeit, ins Kino zu gehen. Also lade ich ihr Filme bei iTunes herunter und leihe ihr das iPad. Sie nimmt schließlich auch Bücher mit – warum also nicht auch das iPad? Gleiches gilt für meine Enkelin: Wenn sie ihren Zeichentrickfilm nicht zu Ende geschaut hat, schaut sie ihn eben zu Hause zuende. Sie wohnt nebenan.« (J., 62 Jahre, Rentnerin, Paris)
Das SMS-Delirium oder: wenn ein Video Anlass gibt zu einem textlichen »Cadavre E xquis« Im Zeitalter des Internets scheint das überall praktizierte entdramatisierte Schreiben auf einer sozialen Ebene also wichtiger zu sein als das Video. Eine weitere Beobachtung stützt die Annahme des allgegenwärtigen Schreibens: Videos regen ihrerseits zu »SMS-Delirien« unter Jugendlichen an – im Modus eines »Cadavre Exquis«. So werden etwa einem Video Sätze oder Wörter entnommen, die sich für Sprachspiele eignen.
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(vom Urheber autorisierter Nachdruck) »Ich habe auf YouTube das Video gesehen, auf dem Jacques Chirac die Nationalversammlung auflösen will. Wir haben uns mit Freunden einen Spaß gemacht, indem wir uns ausgehend von ›Ich will die Nationalversammlung auflösen‹ absurde SMSe mit vielen kleinen Sätzen zugeschickt, die wir mit Zitaten aus einer anderen Fernsehsendung über die Gefahren des Internets gemixt haben.« (C., 15 Jahre, Gymnasiast, Paris)
Die digitale Selbstvertextlichung in der vorgegebenen Öffentlichkeit. Monologismus oder: verstehe, wer kann Vor allem Jugendlichen wird eine radikale Selbstdarstellung und ein mangelndes Bewusstsein für vermeintliche Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Leben vorgeworfen. Angesichts wachsender Nutzerzahlen in sozialen Netzwerken hat die Frage nach dem Privatleben im Internet an Sichtbarkeit gewonnen. Die Überlegungen von Jeff Jarvis über die Gelegenheiten, die sich aus dem Zustand der publicness ergeben, sprich die Möglichkeit, unsere Leben mit anderen öffentlich zu teilen, haben zu neuen Erkenntnissen geführt.13 Ohne sich auch nur im Mindesten gegen den Respekt der privacy auszusprechen, sollten seines Erachtens privates und öffentliches Leben am besten beide 13 | Vgl. Jarvis, Jeff: Tout nu sur le web: plaidoyer pour une transparence maîtrisée, Paris: Pearson 2011.
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auf eine bewusste und reflexive Beziehung der Internetnutzer zur Veröffentlichung ausgerichtet sein. Jugendlichen ist diese vorgegebene Öffentlichkeit absolut bewusst, und sie entwickeln diskursive Strategien wie das »Sagen, ohne etwas zu sagen«.
Eine diskursive Strategie, die von Jugendlichen entwickelt wurde, die sich dieser Öffentlichkeit der digitalen Selbstvertextlichung bewusst sind, ist der Monologismus. Die Kommunikation eines Selbst mit sich selbst erfährt zwar wenig Beachtung, doch findet man diesen Monologismus in den sozialen Netzwerken immer häufiger. An sich selbst geschickte SMSe, Tweets für sich selbst, an die eigene Adresse geschickte Mails – es mangelt nicht an Beispielen. Zeitliche Umstände wie Langeweile oder eine Pause scheinen solche Monologismus-Momente zu begünstigen.
Studien haben gezeigt, dass diese nicht-dialogischen Ausdrucksformen als diskursive Strategien betrachtet werden können, die manche User, allen voran Jugendliche, bewusst einsetzen. Die Freude an kurzen, aphoristischen Sätzen auf den Seiten sozialer Netzwerke wie Facebook oder Twitter ist ein Beispiel für diese Strategien, die es im Kontext des vorgegebenen öffentlichen Charakters der Ausdrucksweisen des Selbst ermöglichen, etwas aufzubauen, was ihnen als privacy erscheint. Die Grenze verläuft nicht mehr zwischen privatem und öffentlichem Leben, sondern wird durch die Kontrolle des Zugangs zum Sinn dessen gezogen, was öffentlich gesagt wird. Die amerikanischen Soziologen Danah Boyd und Alice Marwick drücken das so aus: »Die meisten Teenager haben begriffen, dass die Beschränkung des Zugangs zum Sinn ein weit effizienteres Mittel sein kann als zu versuchen, den Zugang zum Inhalt selbst zu beschränken.«14 Anders als der innere Dialog stellt der Monologismus als Form des Ausdrucks für sich selbst und für wenige andere in Gestalt kurzer 14 | Boyd, Danah/Marwick, Alice: »Social Privacy in Networked Publics: Teens’ Attitudes, Practices, and Strategies«, 2011, in: www.danah.org/papers/2011/SocialPrivacyPLSC-Draft.pdf
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aphoristischer Sätze, die es erst zu dekodieren gilt, ein Beispiel für die Strategie der Kontrolle des Zugangs zum Sinn der Äußerungen dar.
I nkorporierung und A uslogg -H ygiene : ein disjunk tives somato - technologisches K ontinuum An diesem Punkt unserer Erläuterungen ist es interessant, darauf hinzuweisen, dass nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch psychische Funktionen auf die Geräte übertragen werden, was sogar bis in den emotionalen Bereich hineinreicht, wenn beispielsweise eine gefühlsmäßige Erfahrung beim Betrachten einer Landschaft oder auch eines Plakats über das Handy fotografisch festgehalten wird. Was der Anthropologe Leroi-Gourhan in den 60er Jahren in Bezug auf Werkzeuge als Verlängerungen der Hand beschrieben hat, wissen wir. In der Geschichte der Sozialisationsprozesse neuer Kommunikationstechnologien kann man die Tendenz zum Austausch von Eigenschaften zwischen Mensch und Maschine feststellen. Auf diese Weise werden die »Nicht-Menschen«, wie Bruno Latour sie nennt, in der Welt der Menschen sozialisiert. Die Kommunikationstechnologien werden so zu gesellschaftlichen Hybriden, die jedoch die Besonderheit aufweisen, die sozialen Interaktionen zu naturalisieren. Auf diese Weise erlangen sie eine existenzielle Autonomie, denn de facto überdauern sie die sozialen Interaktionen, die ihre Produktion überhaupt erst ermöglicht haben und für die sie zugleich der Anlass sind, wie die Technikhistorikerin Delphine Gardey ausführt.15
Die den vernetzten digitalen Geräten zugeschriebene Fähigkeit, emanzipatorische Laufbahnen abzubilden Die Kommunikationstechnologien werden zu Dingen, die mit eigenen Kompetenzen, Fähigkeiten und Eigenschaften ausgestattet sind. Manchmal werden sie, sofern eine entsprechende technologische Ausstattung vorliegt, in Erzählungen von identitären Lauf bahnen als wichtige Elemente genannt. In gewisser Weise werden Lebensentscheidungen teilweise an Technologien delegiert, über die sich im Alltag das Verhältnis zu sich selbst vollzieht. Diese Entscheidungen können als Emanzipation erlebt und erzählt werden, die durch Technologien möglich gemacht wurde, und es wird berichtet, die Befreiung von zwischenmenschlichen und physischen Zwängen bestehe darin,
15 | Gardey, Delphine: »Humains et objets en action«, in: Danielle Chabaud-Rychter/ Delphine Gardey (Hg.): L’engendrement des choses. Des hommes, des femmes et des techniques, Paris: Archives Contemporaines 2002, S. 239-267.
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dass man nun nur noch mit seinem Gehirn – also einem Handy und einem Computer – lebe: »Die Computer, das Handy – sie erlauben mir, frei zu sein. Gestern habe ich um 1.30h morgens eine wichtige Mail geschrieben. Es hat mich niemand dabei gestört und hinterher konnte ich besser schlafen. Jetzt bin ich frei – kein Mann mehr, keine Kinder mehr, kein Laden mehr. Ich habe mein Geschäft verkauft, weil ich keine Lust mehr hatte, mich wie eine Gefangene zu fühlen. Jetzt lebe ich mit meinem Gehirn, ich habe kein Lager mehr. Auf meiner neuen Visitenkarte werden nur noch meine Mailadresse und meine Handynummer stehen. Ich sage meinen Kindern immer: ›Macht, was ihr wollt, aber lebt mit eurem Gehirn.‹ Und ein Stück weit sind das die Computer. In meinem Schlafzimmer habe ich einen alten Computer zum Lesen von DVDs. Fernseher lehne ich ganz bewusst ab. Ich möchte frei sein.« (M., 38 Jahre, Geschäftsfrau, Paris).
Die den digitalen Technologien zugesprochene Fähigkeit, Familienbeziehungen neu zu definieren Der Austausch von Eigenschaften zwischen Kommunikationstechnologien und Personen tangiert auch die sozialen Beziehungen, die darin eine gewisse Stabilisierung erfahren. So wird die generationenübergreifende Benutzung von Handy, Internet und Tablet als eine Fähigkeit des digitalen Ökosystems wahrgenommen, die Familienbeziehungen an Punkten zu stabilisieren, an denen sie zuvor problematisch erschienen. »Mein Vater, der freiberuflich tätig war, ging mit 60 Jahren in Rente. Er hat an dem Punkt aufgehört, an dem er sich mit EDV hätte beschäftigen müssen. Und dann hat er an Weihnachten plötzlich ein iPad und meint zu mir: ›Das macht mir Spaß!‹ Ich hatte eine schwierige Beziehung zu meinem Vater. Hier [mit seinem iPad] braucht er mich: ›C., du kennst dich doch mit Computern aus!‹ Ich habe mich mit Computern beschäftigt, um vor meinen Kindern nicht blöd dazustehen. Als ich mit meinem Sohn Boxen kaufen gegangen bin, hat er zu dem Verkäufer gesagt: ›Meine Mutter ist total begeistert von neuen Technologie.‹ Meine Mutter was allergisch gegen all das. Sie wusste nicht einmal, wie man eine Kassette einlegt. Das war mir ein wenig peinlich.« (C., 52 Jahre, Optikerin, Paris)
Die Inkorporierung oder: sich die digitalen Geräte zu eigen machen Es soll hier keineswegs Zukunftsvisionen das Wort geredet werden, die hinter der Beziehung zwischen Mensch und Technik eine maschinelle Evolution vermuten. Nach dem Vorbild des Capacitive-coupling-Experiments, das darauf abzielt, aus dem menschlichen Körper ein Kommunikationsnetz zu machen, durch das man Daten hindurchfließen lassen kann, indem man die schwache
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elektrische Spannung nutzt, die an der Oberfläche der Haut eines jeden Individuums herrscht,16 ziehen wir es vor, uns in einer Perspektive zu positionieren, in der die Nutzer die Kommunikationstechnologien und -netze auf ganz natürliche Weise als ein eng verwobenes Objekt-Körper-Psyche-Kontinuum darstellen. In diesem Rahmen kann die Beziehung zu Kommunikationsgeräten auch als etwas eher Körperliches beschrieben werden, was uns zum Thema Embodiment – dem angelsächsische Begriff für Inkorporierung – führt. Dabei ist es nicht die Materialität der Praktiken, die es zu verstehen gilt, sondern ihr körperlicher Charakter, der dieses oder jenes Organ ins Spiel bringt. So ist in den Interviews von Gesten, Tönen und Körperteile die Rede, und wir sind in den Erzählungen auf recht überraschende Symbiosen zwischen technischen Objekten und menschlichen Körpern gestoßen.
Die Inkorporierung, die angesichts des Objekts Widerstand leistet: »die Touchscreen ist nichts für mich« Die Inkorporierung von Kommunikationsgeräten über verschiedene alltägliche Handlungen ist zuallererst in der Erfahrung des Scheiterns wahrnehmbar, also wenn sich das Interface widersetzt und das Objekt ein Ding bleibt, das man sich nicht nutzbar machen kann. Die Entwicklung von Gesten-Interfaces, mit denen die meisten Smartphones ausgestattet sind, kann zum Teil erklären, warum die Inkorporierungshypothese gerade heute auf den Plan tritt. Das Scheitern beim Umschalten von einer Geste zur nächsten bringt die körperliche Dimension der Beziehung zu dem Objekt zu Tage, das man zuvor als funktionales und funktionierendes Werkzeug wahrgenommen hatte. Der Körpereinsatz der User wird zum Gegenstand von Überlegungen und Erklärungsversuchen. Es ist fast eine Art physischer Beweis, um den es hier geht. »Ich fühle mich mit der Touchscreen nicht so wohl, weil ich nicht daran gewöhnt bin. Meine Frau hat ein total vergammeltes Nokia aus den 90er Jahren. Sie braucht ein zuverlässiges Telefon, keine SMS, keine Fotos. Eine Touchscreen ist ja schön und gut, aber…« (Arm., Anstreicher, 38 Jahre, Paris) »Eine Touchscreen sollte eigentlich intuitiv sein, aber für mich ist sie das nicht.« (Ar., 36 Jahre, Marketingleiterin, Paris)
Der Zauberstab-Effekt Die Interviews, in denen es um die materielle Nutzung der Geräte geht, sind in der Regel von zahlreichen Gesten und Lautmalereien begleitet. In den meisten 16 | www.01net.com/editorial/553064/ericsson-invente-le-transfert-de-donneespar-le-corps-humain vom 31.7.2012.
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Fällen kommt es zu solchen Untermalungen, wenn von Handlungen erzählt wird, die mit dem Handy durchgeführt wurden. In solchen Erzählungen kann der vernetzte Computer oder das Smartphone zu einer Art Zauberstab werden: »Ich habe die G7-App. Neulich hab ich das gemacht: paff, paff, paff [C. stellt pantomimisch das Herumtippen auf ihrem iPhone dar] und 7 Minuten später war das Taxi da, der Chauffeur stieg aus und fragte nach ›Frau Da.‹. Sie können mich ruhig C. nennen, habe ich ihm geantwortet. Und zu meiner Freundin habe ich gesagt: ›Respekt‹.« (C., 52 Jahre, Optikerin, Paris)
In diesem Stadium hat die Sozialisierung des technischen Objekts Mobiltelefon einen so hohen Grad erreicht, dass sie als abgeschlossen betrachtet werden kann: Das Handy ist buchstäblich in die Handlungen des täglichen Lebens inkorporiert und wird schließlich zur Ursache des Handelns.
Einen Termin auf später verschieben? Es genügt, die Kalender-App zu starten In die alltäglichen Handlungen inkorporiert oder auch die Handlungen inkorporierend – das ist das Los der vernetzten digitalen Geräte. Der Zwang zur Geste, der manchen Interfaces innewohnt und dem manche User noch Skepsis entgegenbringen, wird zum materiellen Anker für Gelegenheiten zum Handeln. So etwa bei der Terminplanung. Das Verschieben eines Termins auf den nächsten Tag wird auf dem Handy-Kalender mit einer Geste vollzogen, die darin besteht, sich entsprechend dem Design des Interfaces durch die Tage auf dem Kalender zu scrollen. »Frauen machen sich ständig Listen. Oft hat man tausend Dinge zu tun. Mein Terminkalender ist voller Notizen und voller Dinge, die zu tun sind. Ist etwas erledigt, lösche ich es. Ist es nicht erledigt, verschiebe ich es auf den nächsten Tag« [und C. startet vor meinen Augen auf der Benutzeroberfläche die Drehradauswahl des Kalenders].
Von der Körperlichkeit des digitalen Lebens: eher Organ als Prothese Indem die User den Kommunikationsobjekten bestimmte Fähigkeiten zusprechen – wie etwa diejenige, vor den Augen einer Freundin innerhalb von 7 Minuten ein Taxi kommen zu lassen – oder indem sie sich von technischen Features angeregte Handlungen ausdenken, bilden sie eine vollständige Integration der Kommunikationstechnologien in ihre Wirklichkeiten ab. Eine Integration, bei der die Technik eine Einheit mit dem Körper des Users zu bilden scheint – nicht wie eine Prothese, die ein fehlendes Organ ersetzt, sondern wie ein Organ, das das technische Artefakt auf reflexive Weise wahrzunehmen erlaubt. Bei der Schilderung ihrer eigenen inkarnierten Gebrauchsweisen be-
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nennen die befragten Personen Organe ihres Körpers, die vom Handy, Tablet oder der Computertastatur in Anspruch genommen werden, und zwar im Rahmen einer zugleich gefühlsmäßigen wie technischen Erfahrung. Auf diese Weise kann eine symbiotische Anordnung von Körpern und Handlungen beschrieben werden. Bei A. (Marketingleiterin, 36 Jahre, Paris) liegt das Tablet auf dem Kaminsims oberhalb des Sofas. Was seine körperliche Situierung angeht, kann es somit als zwischen zwei Organen liegend beschrieben werden: zwischen einer linken Brust und einer rechten Hand. »Ich benutze das Tablet, wenn ich mein Baby stille.«
Eine Einheit bilden mit dem vertrauten Objekt Die User fühlen sich inkorporiert in unproblematische Mensch-Objekt-Zusammenhänge, die für sie eine existenzielle Einheit bilden. Eine bestimmte Phase kann dann als erfolgreiche Inkorporierung des Objekts, mittels dessen kommuniziert wird, beschrieben werden, wenn sie zu einer virtuosen Praxis führt – wie bei einem Musiker und seinem Instrument, nur dass dieser seine Tasten nicht in der Hand hält. »Ich kann sogar auf dem Motorroller schreiben und eine Email beantworten: Mit der einen Hand lenke ich und mit der anderen schreibe ich die Antwort. Ich benutze das GPS meines Handys. Ich stecke das Handy in meinen Helm und es sagt mir, wo ich rechts fahren muss und wo nach links.« (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris)
Ein der Technik eigener Körper: Vibrationsalarm und andere kleine Ritornelle Diese technologische Textur des heutigen Lebens, in der sich menschliche Körper und technische Objekte vermischen, kann auch unter dem Gesichtspunkt der Natürlichkeit, die den Dingen zugesprochen wird, betrachtet werden. So kann das Handy anhand seines eigenen Tons, etwa des Vibrationsalarms, identifiziert werden, den es zum Schweigen zu bringen gilt: »Nachts mache ich den Vibrationsalarm aus, das macht mich sonst wahnsinnig. Es hört um 2h auf zu vibrieren und fängt um 7h wieder an. Und wenn ich richtig ausschlafen möchte, mache ich den Vibrationsalarm auch aus.« Manchmal kann die kleine Musik der Technik auch für sich genommen ein Kommunikationsziel darstellen, etwa der Ton, der mit einem Tweet auf dem Twitter-Client des iPhones verknüpft ist.
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Die Wahrnehmung einer Autonomie der technischen Objekte Wenn die Beziehung zu den digitalen Kommunikationsartefakten nicht ganz eng gezurrt ist, wenn die Inkorporierung keine Selbstverständlichkeit hat, dann werden die technischen Objekte als etwas wahrgenommen, das quasi ein Eigenleben hat. Denn was sollte es schließlich anderes sein als ein »Autonomie-Problem« des Handys, wenn man auf etwas verweist, das wie ein nicht gehaltenes technisches Versprechen empfunden wird: das Wiederaufladen des Handys und den Kabelsalat, der dadurch verursacht wird. A. (36 Jahre, Marketingleiterin), die sich von Beginn des Interviews an als »Dinosaurier« präsentiert hat – »Das Digitale, das Internet, das Handy – das ist erst mal alles nicht so mein Ding.« –, hat ihr Blackberry vor sich liegen und das iPhone, ein Geschenk ihres Mannes, liegt nebenan im Esszimmer. Mehrmals hört man das iPhone ganz alleine im Nebenzimmer klingeln. A. macht keine Anstalten, es auszuschalten, denn »gestern habe ich schon wieder einen Anruf vermasselt«. Aber sie beruhigt mich (sich), indem sie erklärt: »Keine Sorge, es hört von ganz alleine auf.«
Die Technik als Fremdsprache Den vernetzten digitalen Geräten ein Eigenleben zuzusprechen, bedeutet auch, sie als Objekte wahrzunehmen, dir ihre eigene Sprache haben, eine Fremdsprache, die es zu erlernen gilt, bis hin zur Aussprache. »Ich bringe ihm [meinem Vater] die Aussprache des iPad bei, denn das ist alles auf Englisch. Und mein Mann, ist der jetzt ein ›jeek‹ oder eher ein ›geek‹ [C. korrigiert ihre Aussprache].« (C., 52 Jahre, Optikerin, Paris)
S tatt einer S chlussfolgerung : A uslogg -H ygiene oder die S uche nach kommunik ativem W ohlbefinden An der Inkorporierung zeigt sich ein hoher Grad von Verbindung mit den vernetzten digitalen Geräten, die zu besonderen, haustierartigen Begleitern geworden sind und eingeschrieben sind in ein als selbstverständlich erlebtes somato-technologisches Kontinuum. Statt jedoch von Verbindung zu sprechen, äußern sich die User spontan eher in Begriffen von Abhängigkeit und beschreiben sich oder die anderen als »süchtig«. Wenn die Abhängigkeit im journalistischen Diskurs – einem wichtigen Akteur bei der Sozialisation technischer Innovationen und beim Austausch von Zeichen zwischen Techniken und Personen – zu einem rekurrenten Topos wird, wird dieser journalistische Allgemeinplatz auch zu einem Bestandteil der Diskurse, die für die Handyund Internetpraktiker gedanklich bereitstehen. An dieser Stelle sei daran er-
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innert, dass etymologisch gesehen der Anglizismus »addiction«, den man mit »Abhängigkeit« übersetzen kann, insbesondere bei Shakespeares Heinrich V. auftaucht, und zwar im Sinne einer starken Neigung zu diesem oder jenem Bereich. Dann wird der Begriff zu einem Synonym für »an etwas gewöhnt sein«. Im 20. Jahrhundert schließlich wird der Begriff stärker von der Bedeutung der »Drogenabhängigkeit« geprägt, wobei damit sowohl die Abhängigkeit von Substanzen als auch von Handlungen gemeint sein kann. Um die Verbindung A mit technischen Artefakten noch besser zu verstehen, kann es nützlich sein, auf den heuristischen Vergleich von Musikbegeisterung und Drogenabhängigkeit zurückzugreifen, wie ihn Antoine Hennion und Emilie Gomart vorgenommen haben. Die beiden Forscher haben hier ein gemeinsames Feld neu definiert, das sich durch »Assoziationen« und ein »reflexives, an ein Werkzeug geknüpftes Bewährungsdispositiv für unsere Empfindungen« bestimmt.17 Die Leidenschaft eines Subjekts für ein Objekt, eine Praxis oder eine Substanz wird hier als eine kollektive, an ein Werkzeug geknüpfte und reflexive Handlung beschrieben, die uns an Dispositive, Dinge, Körper und Kollektive bindet, die alle deren »Vermittler« sind. Dass sich die Aufmerksamkeit hier auf die Vermittler richtet, die einen »etwas tun lassen«, ermöglicht es, aus normativen Dualismen wie Subjekt/Objekt oder aktiv/passiv oder Substanz herauszukommen und vor allem zu verstehen, dass jenseits des Abhängigkeit-Topos ambivalente reflexive Praktiken »der Kontrolle und des Selbstverlustes«, bei denen Techniken, Situationen und Gesten gleichermaßen ins Spiel kommen, sehr viel subtiler dokumentiert werden können. Anstelle der psychopathologischen Etikettierung, die die User in Begriffen von Abhängigkeit zu fassen versucht, bietet dieser Ansatz eine pragmatische Beschreibung, die die User selbst von ihrer Verbindung mit dem Handy oder einem Webservice und deren Vermittlern geben.
Von der Bedeutung der Situation im Dispositiv der Verbindung Zu den Elementen, die Vermittler des reflexiven Vollzugs einer Verbindung sind, gehört auch die Situation. Was die Handynutzung betrifft, so wird beispielsweise das »Es-überall-Machen« als Abhängigkeit stigmatisiert. So setzt eine bestimmte Generation einer Abhängigkeit in Gestalt ständiger Erreichbarkeit ein Telefonieren in aller Ruhe entgegen. Das Telefonieren auf der Straße etwa geht auf Kosten eines solchen Telefonierens in aller Ruhe.
17 | Gomart, Emilie/Hennion, Antoine: »Sociology of attachment, music amateurs, drug users«, in: John Law/John Hassard (Hg.): Actor network theory and After: Blackwell 1999.
Express Yourself 3.0! »Ich bin Rentner, aber ich bin nicht abhängig. Abhängig zu sein bedeutet, es überall zu machen. Ständig zu schauen, ob man nicht auf Skype angerufen wurde oder eine Mail bekommen hat. Auf der Straße schaue ich keine Mails an und all das. Neulich rief mich beispielsweise meine Tochter an, als ich gerade auf der Straße war, bei einem Händler, mit einer Tasche in der einen und meiner Enkelin an der anderen Hand. Da hab ich zu ihr gesagt: ›Ruf mich doch noch mal an, wenn ich zu Hause bin.‹ Erreichbar zu sein, ist etwas ganz anderes als in aller Ruhe zu telefonieren.« (J., 62 Jahre, Rentner, Paris)
Gesten und Körperpraktiken Ein weiteres Element, das sich im Rahmen einer Praxis der Verbindung ausmachen lässt, sind Gesten und Körperpraktiken, die von den Usern als ein Switchen von »ich handhabe« zu »ich werde gehandhabt« beschrieben werden. Das ist typisch dafür, wie Verbindung eine reflexive Handlung eines Subjekts darstellt, welches selbst Objekt einer Leidenschaft ist. »Wenn es nach mir ginge, würde ich mein Telefon keine Sekunde aus der Hand legen. Aber wenn ich mit meinem Vater zusammen bin, stecke ich es ein, denn er erträgt das nicht. Danach habe ich dann 15 Anrufe, BBM, SMS. Es ist die Hölle. Eine selbstgewählte Hölle. In einem Wartesaal muss man Zeit totschlagen. Dann versendet man SMS/BBM. Während des Treffens kommen dann die ganzen Antworten. Und am Ende hat man massenhaft SMS und BBM und jetzt kann man nicht mehr antworten. Es ist eine gepflegte Hölle. (lacht)« (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris).
Ein Subjekt, das zum Objekt einer Leidenschaft wird, läuft Gefahr, selbst zu diesem Objekt zu werden, im Fall des Handys also zur Maschine. »Man ist schon irgendwie abhängig [wenn man nachts auf das Telefon schaut], es ist ein wenig mechanisch, irgendwie maschinell.« (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris)
Verbindungsgesten und physisches/psychisches Leiden in einer Kultur der Immaterialität Eine Geste, die integraler Bestandteil einer Verbindung ist, hat einen so zwingenden Charakter, dass sie dort, wo doch eigentlich die Immaterialität regiert, von einem physischen Leiden sprechen lässt: »Das Telefon abnehmen ist wie atmen. Es klingelt, man nimmt ab – es nicht zu tun, ist stressig. Das ist, als würde man gegen einen Automatismus kämpfen, an den unsere Körper so sehr gewöhnt ist – abnehmen ohne nachzudenken. Dagegen zu kämpfen, ist stressig.« (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris)
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Von der Abhängigkeit zur Auslogg-Hygiene und Strategien des kommunikativen Wohlfühlens Dass die Verbindung der User mit einem Objekt – wie etwa ihrem Handy oder einem Onlinedienst wie Facebook – von außen als etwas beschrieben wird, das generisch der Abhängigkeit zuzurechnen ist, scheint bestimmte Diskurse über die Kommunikationstechnologien im Gesundheitsbereich polarisiert zu haben. So finden sich unter den regelmäßig praktizierten Handlungen, über die sich die reflexive und ambivalente Verbindungsbeziehung vollzieht, eine ganze Reihe von kommunikativen Strategien, die als Wohlfühl-Modus beschrieben werden. »Freitagabends schaue ich nicht auf mein Handy. Die Leute wissen, dass ich nicht antworte, also schreiben sie mir auch nicht. Das tut gut.« (J., 30 Jahre, Geschäftsführer, Paris)
Online-müde: Deroutinisierung der Gebrauchsweisen und das Recht, sich auszuklinken Eine andere Art und Weise, das vernetzte digitale Leben positiv zu erleben, besteht darin, die eigenen Gebrauchsweisen zu deroutinisieren. Die verschiedenen Modalitäten des Sich-Ausloggens haben manchmal mit Lebensphasen zu tun, die sich durch eine besondere Intensität auszeichnen. Die Kommunikationszeit, also die Zeit, die für kommunikativen Austausch verwendet wird, wird dann als zu umfangreich empfunden und als etwas, das einschneidende Ereignisse und Notfallsituationen künstlich zusätzlich intensiviert. »Im Moment, mit dieser Krankheit in der Familie, klingelt das Telefon ständig. Man fragt mich, ob es etwas Neues gibt. Diese Kommunikationsmittel sind schon etwas Außergewöhnliches. Sie ermöglichen es, in Echtzeit dabei zu sein. In schwierigen Momenten ist es noch schlimmer. Jeder erwartet Nachricht über die geringste Befindlichkeitsänderung. Dieses Bedürfnis, Bescheid zu wissen, ist der Grund dafür, dass man so intensiv im Gespräch ist.« (J., 60 Jahre, Rentnerin, Paris)
Eine Strategie kann darin bestehen, die gewohnten Kommunikationskanäle und routinemäßigen Netzwerke zu wechseln. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass man die kommunikative Szenerie des Skypens verlässt, um sich wieder einer dialogischen Kommunikation zuzuwenden, oder auch dass man die Zwänge der Begrenzung der Zeichenzahl bei SMS-Nachrichten für sich nutzt. »Heute habe ich nicht geskypt, denn es ging mir nicht gut. Für sie [ihre Tochter] und mich ist das wie eine Verabredung. Am liebsten morgens. Im Moment gibt es da etwas ziemlich Dringendes. Ein Termin mit der ganzen Familie, den Kindern und Enkeln, ist wichtig, sie brauchen das. Aber im Moment nervt mich das Skypen. Immer sind die Kinder drum-
Express Yourself 3.0! herum. Ich muss in Ruhe mit meiner Tochter reden, ohne die Kinder. Ich finde Skype total anstrengend, die ganze Zeit dieser Krach. Jeder will was sagen. Deshalb habe ich das iPhone genommen und Viber, um allein mit meiner Tochter reden zu können: Ich musste ihr einige wichtige Dinge sagen.« (J., 60 Jahre, Rentnerin, Paris) »Wir haben beschlossen, dass die Erste, die etwas Neues erfährt, diese Info direkt per SMS an die anderen weitergibt. In einer SMS beschränkt man sich auf das Wesentliche.« (J., 60 Jahre, Rentnerin, Paris)
Dass die Zeit durch diese Kommunikationsmedien als beschleunigt erlebt wird, kann Anlass geben zu Gefühlen der »Ermüdung durch permanentes Online-Sein« und führt dazu, dass Strategien der Beschränkung des Austausches, wenn nicht gar des vollständigen Abschaltens angewendet werden. »Wenn es einem nicht gut geht, hat man keine Lust zu reden. Man schaltet ab, denn schließlich hat man ja noch diese Möglichkeit des Abschaltens. Zum Glück. Manchmal hat man einfach das Bedürfnis, sich zurückzuziehen, von allem abzuschneiden, abzuschalten, obwohl man spürt, dass man das – ginge es nach den anderen – gar nicht mehr könnte.« (J., 60 Jahre, Rentnerin, Paris)
Schlussfolgernd kann man sagen, dass die Formen der Kommunikation mit sich selbst, die wir herausgearbeitet haben, in gewisser Weise die Logiken der Unmittelbarkeit und Erreichbarkeit in Frage stellen, die häufig als den Kommunikationstechnologien inhärent beschrieben werden. Stattdessen haben wir eher Momente des Abstandnehmens des Selbst von den digitalen Kommunikationsgeräten, Strategien der Neugestaltung von Situationen oder Routinen sowie Dynamiken der Reflexivität in Bezug auf Elemente der Verbindung, wie sie das Online-Sein hervorbringt, beobachtet. Man könnte die Hypothese formulieren, dass die Entwicklung von Praktiken der Selbstkommunikation als etwas gedacht werden kann, das in einer disjunktiven Beziehung zu einer weiteren Entwicklung in diesem Bereich steht, der Inkorporierung und Verinnerlichung von Kommunikationstechnologien. Die hier analysierten empirischen Elemente deuten in der Tat auf das Vorliegen eines Kontinuums zwischen Geräten, Anwendungssituationen, Körperhaltungen sowie digitalen Diensten und Contents hin. Man könnte von einer somatotechnologischen Textur sprechen, die die existenzielle Einheit des vernetzten Individuums bildet. Ein Kontinuum, dem man sich jederzeit und meist problemlos entziehen kann, da es sich um eine reflexive Verbindung mit einem technologischen Artefakt handelt, das einem so vertraut geworden ist wie ein besonderer Gefährte. Das Kontinuum entfaltet sich also in der Diskontinuität, das Verbundensein mit einem Gerät setzt immer Verbindungstrennungen mit anderen Diensten und Kontakten voraus. Man könnte von der Dialektik eines
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zugleich eingeloggten und ausgeloggten Lebens sprechen. Dieser praktische Vollzug in einem disjunktiven Modus stellt eine Art der Antwort auf die digitalen Herausforderungen dar. Für die Aufrechterhaltung eines kommunikativen Wohlbefindens erscheint dabei der Verzicht auf die Geräte manchmal weniger problematisch als die notwendige Reflexivität. (aus dem Französischen von Daniela Böhmler und Carsten Främke)
Selbst: Erscheinen — Verschwinden »Asoziale« Ästhetiken auf YouTube Birgit Richard
»Irgendwann gab es die Möglichkeit, seine Musik anonym im Netz zu verbreiten. Dann springen die Leute darauf an oder eben nicht … Sonst würde ich wahrscheinlich gar keine Musik machen. Ich bin sehr schüchtern und hätte mich nicht getraut, aller Welt mein Gesicht zu zeigen. Bis dahin haben sich immer nur starke Persönlichkeiten, Leute, die gerne ihr Gesicht und ihr Ego vor der ganzen Welt ausbreiten, in der Musikwelt durchgesetzt.«1
Das Internet ist ein besonderes Experimentierfeld, weil es trotz aller Einschränkungen bislang einen weitgehend freien Bildraum darstellt. Da es sich bei digitalen Medien nicht um eine weitere Textsorte handelt, fokussiert der vorliegende Aufsatz über den Aspekt der Asozialität in digitalen Netzwerken des Web 2.0 ausschließlich auf die visuelle Ebene bzw. die Vermittlung visuellen Wissens, nach Möglichkeit weitgehend unverklärt durch Text und sprachliche Vorannahmen. Eine intentionale Sinnhaftigkeit der Bilder wird hierbei nicht vorausgesetzt, da das Ziel von vielen Bildern eher in ihrer momentanen Präsenz besteht, die eine temporär relevante Wahrnehmung durch Andere ermöglicht. Nachfolgend werden zwei Aspekte eines von mir angenommenen »asozialen« Netzes beleuchtet: Im positiven Sinne ist das Internet in Form des Web 2.0 das Medium der sinnlosen visuellen Selbstentäußerung bzw. des Verschwindens auf der Grundlage einer speziellen technologischen Struktur, die einen Freiraum eröffnet. Im negativen Sinne dient das Netz der sprachlichen Bevormundung durch (meist männliche) Erwachsene (z.B. Wikipedia) und fördert asoziale Verhaltensweisen wie Cyberbullying und pornographische Ausbeu-
1 | arte.tv: »Witch House – Die Sound-Hexenmeister. Eine Reportage von Justine Gourichon«, in: arte.tv vom 03.05.2012: www.arte.tv/de/6615902,CmC=6615928.html vom 15.8.2012.
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tung.2 Insbesondere die negativen, im wortwörtlichen Sinne »asozialen« Aspekte des Contents sollten von MediensoziologInnen weder bagatellisiert noch dramatisiert werden. Phänomene wie Datenhandel, Verletzung der Privatsphäre, illegale Downloads, sexuelle Ausbeutung von jungen Frauen – durch ihre »freiwillige« Selbstfetischisierung als hübsche Ware für den male gaze – sowie die kommerzielle Konditionierung der NutzerInnen sind Tatsachen, die nicht vergessen werden dürfen. Das Netz übt auf die UserInnen zudem massiven Zwang aus: Als DatenlieferantInnen dürfen sie niemals verschwinden und stehen somit momentan unter dem vampiresken Fluch, immer präsent und transparent sein zu müssen. Verdeutlicht wird diese Tendenz beispielsweise durch das das Klarnamen-Gebot in Facebook, das die UserInnen dazu zwingt, ihr eigenes Selbst ins Bild zu setzen. »Gerade da, wo das Vertrauen schwindet, wird der Ruf nach mehr Transparenz laut. Da aber kein Vertrauen mehr da ist, wird sie allein durch Kontrolle erreicht.« 3
Han zeichnet für die gegenwärtige Gesellschaft einen Weg von Foucaults Disziplinargesellschaft mit ihren Spitälern, Irrenhäusern, Gefängnissen, Kasernen und Fabriken zu den heutigen Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Shopping Malls und Genlabors, in denen die Foucaultschen »Gehorsamssubjekte« durch »Leistungssubjekte« ersetzt wurden. Diese Subjekte der Netzwerkgesellschaften »sind Unternehmer ihrer selbst«4, die sich ergo selbst dazu zwingen, permanent an ihrem Stil und folglich an ihren »images« im Netz zu arbeiten.5 Diesem permanenten Imperativ der virtuellen Selbsterschaffung und Individualisierungsbemühungen sind nicht alle gewachsen: »Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.«6 Bei den ästhetischen InnovateurInnen der immer noch primär musikalisch angestoßenen Subkulturen treten diese pathologischen Formen nicht 2 | Blech, Jörg u.a. (2009): »Nackt unter Freunden«, in: Der Spiegel 10/2009, S. 118-131, abrufbar im Internet unter: http://wissen.spiegel.de/wissen/image/show.html?did=643 85862&aref=image040/2009/02/28/ROSP200901001180131.PDF&thumb=false vom 15.8.2012 und Kutter, Inge (2008): Ausziehen 2.0, in: Zeit Campus 3/2008, S. 98-107, abrufbar im Internet unter www.zeit.de/campus/2008/03/online-netzwerke vom 15.8.2012. 3 | Han, Byung-Chul: »Nur eine Maschine ist transparent«, in: BRANDEINS 07 (2011), S. 44-49, www.brandeins.de/uploads/tx_brandeinsmagazine/044_b1_07_11_inter view_han.pdf vom 15.8.2012. 4 | Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin: Matthes und Seitz 2010, S. 19. 5 | Vgl. hierzu beispielsweise das Phänomen des Styleblogs (z.B. Satorialist) sowie die Figur des rastlos nach Individualismus gierenden, aber uniformen Hipster. 6 | Alain Ehrenberg zitiert nach B.-Ch. Han: Müdigkeitsgesellschaft, S. 21f.
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auf, da sie dem Druck der Selbstvisualisierung wie -ökonomisierung gekonnt ausweichen. Vielmehr kreieren sie neue stilistische Formen, genuine Bilder und mediale Strategien, welche in der Lage sind, die gesamte Bildwelt bzw. visuellen Landschaften einer Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Diesen UserInnen (ca. 3-5%) gelingt der reflektierte Umgang mit den gegenwärtigen medialen Komposit-Bildern im Netz. Visuelle MitläuferInnen, die restlichen circa 95 Prozent, sind sich dagegen keiner Übernahme bewusst und naturalisieren die unbewusst inkorporierten Vorbilder. Durch die permanente SelbstÜberarbeitung bzw. visuelle Selbstverausgabung steuern sie auf einen medialen Burnout zu. Han formuliert dies folgendermaßen: »BS [Burnout-Syndrom; Anm. d. Verf.] ist ein Durchbrennen des Ich bei Überhitzung, die auf ein Zuviel des Gleichen zurückgeht.«7 Relativ starre mediale Posen sind für die junge Generation heutzutage selbstverständlich und alltäglich. Ihr Verhalten vor der Kamera ist professionell und antrainiert. Hierbei entwickeln sich bestimmte Bildtypen auf der Grundlage medienstruktureller Vorgaben. Typische Posen visueller Inszenierung auf Party-Portalen sind beispielsweise couple- oder friends shots, für das Selbstportrait im Internet hat sich der one arm’s length shot etabliert.8 Das Zuviel an ewig gleichen Bildern und Posen wird von den StatistInnen und optischen MitläuferInnen verursacht, die immer wieder von medienwissenschaftlichen Studien mit relativ geringem Erkenntniswert statistisch untersucht werden. Generell ist es nicht notwendig, sich mit diesem visuell eintönigen Mainstream zu beschäftigen, weil er keinen Einfluss auf die Genese innovativer medialer Ästhetiken hat. Exemplarisch hierfür ist beispielsweise die zeitgenössische globale Figur des Hipster, die – ungeachtet ihrer visuellen Uniformität – auf der Illusion von stilistischer Einmaligkeit des Individuums basiert: »Today this means giving mass man what he most needs and desires: an illusion of individuation.«9
D as S elbst im O nline -V ideo : E goclips auf YouTube An dieser Stelle erscheint es fruchtbar, die Theorie von George Herbert Mead für die Analyse von Online-Bildern einzuführen und medienadäquat zu trans7 | Ebd. S. 18. 8 | Vgl. Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Ruhl, Alexander: »Me, Myself, I: Schönheit des Gewöhnlichen. Eine Studie zu den fluiden ikonischen Kommunikationswelten bei flickr. com«, in: Kaspar Maase (Hg.): Die Schönheit des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2008, S. 114-132. 9 | Walden zitiert nach Gray, John: Heresies. Against Progress and other Illusions, London: Granta Books 2004, S. 207.
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formieren. Speziell das reziproke Begriffspaar me und I10 liefert hilfreiche Ansatzpunkte zur Identifikation von Bildinnovationen. Als Austragungsort visueller Darstellungen des Selbst bieten Online-Videos eine Projektionsfläche für die Inszenierung der Identität aus der angenommenen Sicht des verallgemeinerten Anderen (me), welche der Selbstpräsentation wiederum als Richtlinie dient. Die individuelle, ganz eigene und unberechenbare Selbstinszenierung (I) wird somit beispielsweise durch die Gesellschaft und deren kulturelle Praktiken sowie durch das konkrete soziale Umfeld und dessen Wertekanon geprägt, jedoch keineswegs hierdurch determiniert. Das Selbst ergibt sich folglich aus dem Wechselspiel zwischen me und I. Individuelle künstlerische Ansätze lassen sich dem Bereich des I (individuelles, persönliches Selbst – Ich) zuordnen und sind somit charakterisiert durch die eigenen, unberechenbaren Reaktionen auf das, was seitens der Gesellschaft, der Kultur und den Anderen (me) an das Selbst (I) herangetragen wird. Im Bereich der visuellen Identitätskonstruktion (I) lassen sich trotz dieser Beeinflussung durch die antizipierten Anderen (me) durchaus eigenständige Bild-Äußerungen aufzeigen. So finden sich bei YouTube und Flickr raffinierte Hybride aus Vor-Bildern und individuellen Anteilen.11 In diesen typischen Bildformen des Web 2.0 zeigt sich eine friedliche Koexistenz von real und fake Formaten, die nur mit entsprechender Medienkompetenz auseinander zu halten sind. Die Ausdehnung des Privaten im Netz bringt es mit sich, dass Selbstpräsentationen ganz selbstverständlich zu Kostümierungen oder ernsthaften Maskeraden werden, hinter denen sich kein »Kernselbst« oder eine fassbare Identität verbirgt. Die nur scheinbar privaten visuellen Selbstdarstellungen verweisen somit auch auf das soziale Konstrukt von Privatheit des 19. Jahrhunderts.12 Im Anschluss an die eigene Bild-Sozialisation schlägt sich Selbstdarstellung in einem Medien-Ego nieder, das sich – wie beispielsweise im weiter unten beschriebenen Phänomen des Witchhouse – auch unsichtbar machen kann, insofern dies erforderlich sein sollte. Hierdurch entstehen Bilderzeugnisse, welche die Erfordernisse medialer Formate bedienen und gleichzeitig innerhalb dieses Rahmens einen individuellen Zugang suchen. Das MedienIch im Bild bewegt sich in vorgegebenen Kategorien. Für das Verständnis des Mediums Online-Video bei YouTube sind folgende Grundannahmen zum Bild 10 | Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 216. 11 | Bezügl. relationaler Bildnachbarschaften bzw. Bildclustern vgl. Richard, Birgit/ Zaremba, Jutta: Hülle und Container. Medizinische Weiblichkeitsbilder im Internet, Padeborn: Fink 2007. 12 | Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1983.
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essentiell: Es handelt sich bei Bildern generell nicht um »Abbildungen«13 einer »authentischen« sozialen Realität oder gar um eine Dokumentation, die direkte Rückschlüsse auf individuelle Lebensrealitäten erlauben würde bzw. sich irgendwie in Zusammenhang mit individuellen Biografien bringen ließe: »Das Imaginäre ist das Bildmedium. In dieser Dimension, die Lacan etwa in seinem berühmten Text über das Spiegelstadium beschrieben hat, ordnet sich die Wirklichkeit für das Subjekt über die Bilder bzw. Gestalten, die es wahrnimmt. Die Welt, die hier für das Subjekt entsteht, ist eine Bilderwelt. Subjektivierung bedeutet im Imaginären, ein Bild von sich zu haben. Das Bild ist immer eine Überzeichnung, eine Überhöhung oder Idealisierung, etwas Großartiges.«14
Bilder sprechen grundsätzlich nicht, sondern erzeugen einen optischen Überschuss, der nicht in der Sprache aufgeht – außerdem bilden sie nicht ab. Bilder sind folglich keine anthropomorphen Erscheinungen, sondern begleiten – analog zu ihrer medienstrukturellen Beschaffenheit – den Status von technischen Bildern,15 die sich vor allem im digitalen Zeitalter durch den dazwischen geschalteten Produktions- und Bildverarbeitungsapparat auszeichnen. In den Bilduniversen des Shifting Image16 ist die Genese von Bild-Nachbarschaften obligatorisch. Die digitalen Online-Bilder sind stets seriell17 und erzeugen daher permanent Bildzuordnungen, -verschiebungen und -verwerfungen. Da die gleichgültige Verschiebung von Bildern innerhalb von Bildsystemen 13 | Vgl. Boehm, Gottfried: »Die ikonische Differenz ist eine Grundüberlegung zu der Frage, wie Bilder Sinn erzeugen. Ein Gespräch mit Birgit Richard«, in: Birgit Richard/ Sven Drühl (Hg.): Kunstforum International – Denken 3000, Bd. 190 (2008), S. 134 und Bredekamp, Horst/Schneider, Pablo: »Visuelle Argumentationen – Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt«, in: Horst Bredekamp (Hg.): Visuelle Argumentationen – Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt. Padeborn: Fink 2006, S. 7-10. 14 | Bonz, Jochen: »Die Subjektposition King Girl. Über ein nicht nur von Mädchen eingenommenes Verhältnis zu Pop«, in: Ders. (Hg.): Popkulturtheorie, Mainz: Ventil 2002, S. 94-118, hier S. 97f, siehe auch: www.jochenbonz.de/wp-content/bonz_king-girl. pdf vom 15.8.2012. 15 | Vgl. Vilem Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography 1990 (3. Auflage). 16 | Zur Terminologie vgl. Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Recht, Marcus u.a.: Flickernde Jugend – rauschende Bilder. Netzkulturen im Web 2.0, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2010. 17 | Zum Seriellen generell vgl. Sykora, Katharina: Das Phänomen des Seriellen in der Kunst. Aspekte einer künstlerischen Methode von Monet bis zur amerikanischen Pop Art, Würzburg: Königshausen und Neumann 1983.
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und -rhizomen, strukturell auf der technisch-medialen Ebene angesiedelt ist, weist sie per se »asoziale« Qualitäten auf. Trotz möglicher Kommunikationsfunktionen ist daher immer von »asozialen« Netzwerken auszugehen: Die Bilder in ihnen sind selbstreferentielle mediale loops. Da sie auf bereits vorhandene visuelle Inhalte zurückgreifen, könnten sie beinahe ohne das aktive Zutun einer NutzerIn voll automatisiert funktionieren und sich endlos selbst reproduzieren. Somit wird zunehmend intransparent, ob ein Mensch, eine Maschine oder ein Softwarebot agiert. Joseph Weizenbaums ELIZA-Experiment von 1966 hat folglich bis heute in keiner Weise an Aktualität verloren.18
E go _ B ilder : S elbstliebe und E igenliebe Als repräsentatives Beispiel für die verschiedenen Formen der Selbstdarstellung im virtuellen Raum dienen die Videos auf der größten und bedeutendsten Video-Plattform YouTube. Die überwiegende Anzahl der auffindbaren Clips ist der inhaltlichen Kategorie des egoclips zuzuordnen, der im Dienste der exzessiven narzisstischen Selbstdarstellung steht.19 In dieser Kategorie lässt sich eine große Bandbreite an verschiedenen Clip-Sorten beobachten, von schüchternen Talks bis hin zur visuellen Prostitution. Durch die Vielfältigkeit der visuellen Selbstinszenierungen bilden sich ständig neue Unterkategorien wie beispielsweise Dance, Karaoke, Sports, Vlog (Videoweblog bzw. Videotagebuch) oder auch Egotrip (das berauschte Selbst). Diese Mainstream-Formen der Selbstdarstellung haben ihren Ursprung in medialen TV-Formaten (z.B. Casting Shows) und deren spezifischen Ausdrucksformen (bspw. Singen und Tanzen). Eine Sonderform ist die Clipsorte animal ego, in der Tiere als Extension des medialen »Selbst« Kunststückchen vorführen. Die Unterkategorie sports zeichnet sich vor allem durch die visuelle Inszenierung von Moves und Performances (bspw. Fixies, Bike Trial, Ninja-Moves) im öffentlichen Raum aus, der Typus des freakout visualisiert den inszenierten oder unkontrolliert-spontanen Wutausbruch. Die Kategorie dance erfasst alle Videos, die inhaltlich auf Tanz und rhythmische Bewegung fokussieren. Hierbei reicht das Spektrum von homedance, dem Tanzen vor der Webcam in den eigenen vier Wänden, indoor – Tanz in Interieurs oder auf einer Bühne im geschlossenen Innenraum – bis hin zu Tänzen im öffentlichen Raum, im Garten (z.B. Jumpstyle-Videos) oder im 18 | Weizenbaum, Joseph: »ELIZA – A Computer Program For the Study of Natural Language Communication Between Man And Machine«, in: Communications of the ACM 9/1 (Januar 1966), S. 35-36, siehe auch: www.cse.buffalo.edu/~rapaport/572/S02/ weizenbaum.eliza.1966.pdf vom 15.8.2012. 19 | Vgl. B. Richard/J. Grünwald/M. Recht u.a. (Hg.): Flickernde Jugend – rauschende Bilder.
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Wald (outdoor). Des Weiteren existiert der Typus des institutional dance. Dieser hat mehrere Dimensionen: Ganz allgemein geht es um das Tanzen in Institutionen und Firmen, speziell aber um das Tanzen in Banken als politischer Kommentar oder tänzerische Choreografie als Repräsentation von Institutionen wie z.B. AIESECs Tänze zu TunakTunak.20 Bei me and my friends wird die Selbstdarstellung eingebunden in den Freundeskreis. Das Verhältnis zu den FreundInnen wird hierbei insbesondere durch die Relation der Körper zueinander bzw. die Körperhaltungen verdeutlicht: Body touch bezeichnet hierbei die Berührung bzw. das Aneinander-lehnen der Körper, die manchmal der Beschränkung des Bildausschnittes geschuldet, manchmal jedoch durchaus beabsichtigte, liebevoll umfassende Berührungen sind. Dazu gehört die Umarmung bzw. das Umfangen mit beiden Armen im sogenannten hug. Mit kiss sind alle Varianten des Kusses gemeint: Über die Hand hingehauchte Küsse, Küsse auf den Mund oder aber endlose french kisses (z.B. bei den Emokisses). Als digitale Form des Blindfotos mit Selbstauslöser gibt die one arm length cam hierbei das Arrangement vor, da sich die Freunde aneinander kuscheln und formieren müssen, um alle auf der Aufnahme Platz zu finden. Die Unterkategorie confession kann Beichte und/oder Anklage beinhalten: Dieser Cliptypus enthält ein eigenes Genre von Videos, in den eine Tat zugegeben bzw. gebeichtet und gleichzeitig eine Anklage Anderer erhoben wird. Eine besondere Stellung nimmt bei den egoclips das Außer-sich-sein des Selbst ein: Die Katagorie egotrip zeigt das Ich im berauschten Zustand. Diese – als egoclips klassifizierten – Online-Videos enthalten die Unterscheidung zwischen Selbstliebe und Eigenliebe, die Slavoj Žižek – unter Rekurs auf eine Rousseausche Denkfigur – reformuliert auf die Gegenwart überträgt.21 Im Netz finden sich sowohl verträgliche Formen der »natürlichen« Selbstliebe, die im Positiven auf das Selbst zentrieren, und die wiederum asoziale, »böse« Form der Eigenliebe. Diese sieht nur sich und räumt ohne Rücksicht auf Verluste gnadenlos alle Hindernisse aus dem Weg. Dabei versagt sie sich selbst asketisch jeglichen Genuss und verbietet gleichzeitig auch allen anderen Menschen das Genießen. Als Beispiel für diese schädliche Form der Eigenliebe führt Žižek die Islamisten an: Sie sprengen gigantische Hindernisse, rauben anderen das Leben und jegliche Lebensfreude und streben dennoch nicht nach einem alternativen religiösen Lebensentwurf für alle. Die antagonistischen Kapitalisten der Finanzwirtschaft dienen ihm als weiteres Beispiel, da sie durch
20 | Vgl. bspw. das Video Tunak Tunak AIESEC Concepion, in: www.youtube.com/ watch?v=15zQBnudRxk vom 15.8.2012. 21 | Žižek, Slavoj: »Der wahre Egoist. Rousseaus natürliche »Selbstliebe« ist besser als jede Moral«, in: Die Zeit 26 (21.6.2012), S. 47, siehe auch: http://pdf.zeit.de/2012/26/ Rousseau-Zizek.pdf vom 15.8.2012.
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ihre asketische Lebensführung ebenfalls ihr Selbst riskieren.22 Die beschriebene Eigenliebe gehört wiederum zu den »asozialen« Zügen des Internets, daher eignet sich die Trennung von Eigen- und Selbstliebe sehr gut, um die schädlichen wie die medienadäquaten Formen der Selbstliebe bzw. Eigenliebe zu unterscheiden. Für das gegenwärtige – fälschlicherweise mit Social Web bezeichnete – Internet zeigt sich also immer deutlicher der zunehmend dominierende Aspekt der Asozialität von digitalen Netzwerken. Grundlegend gehören hierzu Phänomene der exzessiven visuellen Selbstbespiegelungen sowie alle Praktiken, die seitens der Presse unter den Begriffen Mobbing und Cyberbullying23 subsumiert werden. Obgleich Kommunikation stattfindet, steht das eigene Ego, die soziale Anerkennung auf Kosten Anderer und somit sie oben benannte Eigenliebe häufig im Vordergrund. Nicht-soziale Strategien werden von der Medienstruktur gefördert, da diese von der Tendenz her neutral – sprich »asozial« – ist. Die Bilder im Netz sind technische Bilder, d.h. apparatisch erzeugte digitale Formate, und daher keine »Absonderungen von Realitäten«, auch wenn sie eine besondere Fülle und Dichte von Bildern in Echtzeit erzeugen. Bilder sind also grundsätzlich keine Abbildungen und auch keine Dokumente des wahren Lebens oder visueller Ausweis von Identität.24 Aufgrund ihrer Eingebundenheit in den Alltag erschöpfen sich Abbildungen darin, »existierende Dinge oder Sachverhalte nochmals zu zeigen«25 : »Gewollte Tränen sind ebenso wenig echt, wie gewollte Authentizität.«26 »Damit wird jedoch nicht eine be22 | Vgl. ebd. 23 | Vgl. bspw. JIM: Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, hg. vom medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs), Stuttgart: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2009, siehe auch: www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf09/JIM-Studie2009.pdf vom 15.8.2012; JIM: Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, hg. vom medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs), Stuttgart: Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest 2010, siehe auch: www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf10/JIM2010.pdf vom 15.8.2012; JIM: Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19Jähriger in Deutschland, hg. vom medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs), Stuttgart: Medienpädagogischen Forschungs-verbund Südwest 2011, siehe auch www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf11/JIM2011.pdf vom 15.8.2012. 24 | Vgl. J. Gray: Heresies, S. 206. 25 | Boehm, Gottfried: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München: Fink 1994, S. 11-38, hier S. 12 (Anm. 4) und S. 16. 26 | Mecke, Jochen: »Der Prozeß der Authentizität. Strukturen, Paradoxien und Funktion einer zentralen Kategorie moderner Literatur«, in: Susanne Knaller (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Fink 2006, S. 82-114, hier S. 99.
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stimmte Form des Authentischen durch eine neue abgelöst, sondern vielmehr die Kategorie der Authentizitä selbst ein für allemal verabschiedet.«27 Die Selbstbespiegelung in der mimetischen Selbstdarstellung kann dabei wichtiger werden als die Kommunikation. Das visuelle Ego und seine Objekte befinden sich in permanenter Spiegelung und Vervielfältigung. Die Wiederholungen des Selbst erschöpfen sich nicht in der Starrheit eines sinngeladenen Handlungsmusters, sondern enthalten vor allem das essentielle Moment der unverständlichen Sinnlosigkeit, das sich jeglicher Hermeneutik entzieht. Trotz maximaler visueller Künstlichkeit bleiben die UserInnen immer real, selbst als Avatar und in bestimmten Posen im Netz. Sobald ein apparatives Aufnahmemedium dazwischengeschaltet ist, kann es daher keine Echtheit (mehr) geben. Vor allem die Online-Bilder im Netz sind ein »Lob der Oberflächlichkeit«28, ohne verborgene Wahrheit und Sinn dahinter. Aus der spezifischen Beschaffenheit der Medienstruktur »asozialer« Netzwerke resultieren folgerichtig massenhafte Bilderscheinungen, die sich nur für Sekunden im Stream bewegen und dann wieder verschwinden. Darüber hinaus sind sie expliziter Ausdruck der Verweigerung einer sprachlichen Mitteilung. Gerade die jugendliche Generation liebt Sinnlosigkeit und Zeitverschwendung im endlosen »Zocken«, sinnliche Bild-Exzesse in Nicht-Privatheit, Existenz und Ekstase im Datenstrom der technischen Bilder. Sie bevorzugen das visuelle Stottern der Bilder, einzig ihre medienadäquate trueness zählt. Hierbei kommt ihnen entgegen, dass fluide Bild-Netze vorsprachliche Erscheinungen sind und daher im Netz keine klare »Grammatik« existiert. Die neue Netzästhetik ist somit gekennzeichnet durch die mediale Störung, das Verkürzen und Strecken sowie das Stottern-lassen der Motorik des Bildflusses.29 Folglich muss die These von Bildern als Mittel zum ausschließlichen Zwecke der Kommunikation mit Anderen revidiert bzw. erweitert werden: Hinreichende Motivation für den Einstieg in den Bildstrom ist die Spiegelung und die Rückkopplung von Selbstbildern. Das entscheidende Prinzip bei den Netz-Bildern ist daher ihre »asoziale« Selbstreferenz. Im Web 2.0 lässt sich die junge Generation nicht mehr ausschließlich sprachlich konditionieren, d.h. über Texte vorprägen, die sprichwörtlich vorschreiben wie Bilder zu lesen sind, vielmehr beschäftigt sie sich selbst intensiv
27 | Ebd. S. 114. 28 | Flusser, Vilém: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Bensheim: Bollmann 1993. 29 | Vgl. hierzu das audiovisuelle Phänomen des Witchhouse sowie Positionen zeitgenössischer Videokunst wie glitch, beispielsweise die Arbeiten von JK Keller in der Ausstellung Megacool 4.0 (vgl. Richard/Krüger/Bogner 2012).
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mit dem Visuellen30 und erstellt aktiv neue Bilderordnungen und Sortierungen. Das Novum dieser selbstbestimmten Bilder liegt gerade in ihrer »Sprachlosigkeit« und stellt daher geradezu eine Provokation für die logo- und phonozentrische Gesellschaft dar. »Was sagt uns ein Bild?« ist daher grundsätzlich die falsche Fragestellung. Da es ein Bild ist, sagt es nichts, sondern zeigt etwas. Nur mithilfe visueller Strategien ist eine Befreiung aus dem Korsett der Sprache möglich. Dieser Abgesang auf das Primat der Sprache ist erforderlich, um einem bewussten wie reflektierten Umgang mit Bildern den Weg zu ebnen. Negative asoziale Strategien werden vor allem von textlastigen »Eliten« des Web 2.0 vorgelebt, so zum Beispiel vom harten Kern der Wikipedianer (ca. 100 UserInnen), die sich beinahe zu einer sektenartigen Gruppierung formiert und in zwei ideologische Lager aufgespalten haben. Asozial sind hierunter die sogenannten Exklusionisten, welche Artikel von NutzerInnen als nicht relevant oder zu kurz ablehnen und unerfahrene UserInnen mitunter zudem verbal herabwürdigen: »Die Wikipedia ist kein Projekt vieler, sondern ein Projekt weniger. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass alle Nutzer gemeinsam und demokratisch zu ihr beitragen.«31 Somit bleibt die demokratische Toleranzgeste des angeblichen »Mitmachnetzes« ein uneingelöstes Versprechen. Von den spezifischen Strukturen des Web 2.0 wird dagegen der asoziale Umgang des Beleidigens und Belehrens besonders gefördert: Mithilfe von shitstorms werden beispielsweise Personen bedroht und zum Schweigen gebracht. Entgegen vielfacher Behauptungen ist somit nicht das Bild das eigentlich problematische Medium in Internet, asozial werden die Netze im negativen Sinne vielmehr durch diskriminierende Texte bzw. verbale Praktiken (z.B. flamewars oder shitstorms). Da Jugendliche im Alltag bereits genügend schulmeisterlicher Belehrung ausgesetzt sind, schreiben sie deshalb bei Wikipedia meist nicht mit.32 Erwachsene inszenieren sich häufig als Souveräne der Sprache und halten Bilder für eine zu vernachlässigende Größe. Aus diesem Grund stellt der Umgang mit Bildern eine Nische dar, welche die jugendlichen UserInnen gerne besetzen33
30 | Vgl. Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Inter-cool 3.0. Jugend-BildMedien. Ein Kompendium zur aktuellen Jugendkulturforschung, München: Fink 2010; Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann/Bogner, Peter (Hg.): Megacool 4.0 – Jugend und Kunst, Bielefeld: Kerber 2012. 31 | Rohr, Mathieu von: »Im Innern des Weltwissens«, in: Spiegel online vom 19.1.2010, www.spiegel.de/spiegel/0,1518,druck-689588,00.html vom 15.8.2012. 32 | Laut JIM-Studie von 2009 sind es nur 1%; vgl. JIM: Jugend, Information, (Multi-) Media, S. 35. 33 | Zu jugendlichen Todesbildern auf Flickr vgl. Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Ruhl, Alexander: »Play Dead – Jung, schön, tot. Von »fashion« zum »victim«. Jugendliche
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und sich dadurch beinahe unbemerkt einen erheblichen visuellen Wissensvorsprung gegenüber der älteren Generation erarbeitet haben: »Die zentrale Hoffnung McLuhans ist mit einer anderen Formel besser auf den Punkt gebracht: ›We return to the inclusive form of the icon‹. Eine Kultur der Benutzeroberflächen, so die Hoffnung, wird weniger elitär sein als die Kultur der Schriftgelehrten.« 34
D as S elbst verschwinde t aus dem B ild : U nsichtbare E gos im W itchhouse! »›Drag‹ has caught on, which makes sense insofar as it describes a characteristic sludgy pace, but the word’s other connotations bring to mind boredom, car racing and transvestism.« 35
Gegen das von den kommerziellen Strukturen im Netz immer wieder eingeforderte »Gib uns dein Leben in Bildern« wird seit einigen Jahren von einer musikalischen Avantgarde eine neue visuelle Strategie praktiziert, deren Konzept auf das undeutliche, verschwommene und opake Bild setzt. Die adoleszente Verweigerung gegenüber der Hegemonie von Sprache und Schrift wird überdeutlich im musikalischen Phänomen des Witchhouse – alternativ auch Haunted House, Crunk Drone, Screwgaze oder Drag genannt – und seinen neuen visuellen Formen.36 Die Subversion der Sprache wird hier teilweise bis zur Verweigerung des Eigennamens getrieben: So bestehen bereits die Bandnamen aus nicht mehr aussprechbaren – und daher schwer »google-suchbaren« – Zeichen (bspw. dreieckige Symbole), welche an die eingerastete Symbolschrift Zapf Dingbats erinnern und Vokale als überflüssiges Beiwerk suspendieren (vgl. z.B. GR†LLGR†LL,///▲▲▲\\\, †EENWVFF by BL/\CK CEILING, †‡† (RRRITUALZZZ) oder GL▲SS †33†H). Diese Praktik bezieht ganz klar Position gegen
Todesbilder bei Flickr.com«, in: Oliver Zybok/Birgit Richard (Hg.): DEAD_lines. Der Tod in Kunst – Medien – Alltag, Ostfildern: Hatje Cantz 2011. 34 | Hartmann, Frank (2001): »McLuhan – Magier des Medienzeitalters«, in: heise.de vom 21.7.2001: www.heise.de/tp/artikel/9/9133/1.html vom 15.8.2012. 35 | Expatriarch.com (2010): »Trying to define »witch house« can be a real drag«, in: expatriarch.com vom 24.5.2010: www.expatriarch.com/2010/05/trying-to-definewitch-house-can-be-a-real-drag/ vom 15.8.2012. 36 | Vgl. bspw. BLDRM: »Aktuelles Genre – Witch House«, in: bildraum.wordpress.com vom 11.11.2010: http://bildraum.wordpress.com/tag/screw-gaze/ vom 15.8.2012.
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die Politik von maximaler Transparenz, wie sie den Klarnamen bei Facebook zugrunde liegt.37 Ebenso entziehen sich die Sounds, die Witchhouse bestimmen, einer auch nur annähernd adäquaten verbalen Beschreibung; man ist gezwungen sie zu hören und die dazugehörigen Videobilder zu sehen. Die nicht mehr artikulierbaren bildhaften Namen im Witchhouse finden ihre Korrespondenz somit auch auf der akustischen Ebene der Zwischentöne und ergänzend dazu in Bildern aus einer jenseitigen Zwischenwelt. »Muß man also die Abwesenheit oder die Leere retten? Gilt es, dieses Nichts im Herzen des Bildes zu retten? Den Sinn abzuziehen bedeutet jedenfalls, das Wesentliche in Erscheinung treten zu lassen, nämlich die Tatsache, daß das Bild wichtiger ist als das, wovon es spricht – ganz so, wie die Sprache wichtiger ist als das, was sie bedeutet.« 38
Im Witchhouse ist sowohl in der Musik als auch in den Bildern das Grenzwertige, Verschwommene, nicht Fassbare im Nicht-Raum präsent bzw. absent. Aus dem Zusammenhang der Musik herausgelöste, visuelle Zeichen sind mittlerweile eine Mainstream-Erscheinung, wie etwa die Verwendung des Dreiecks im Logo des Musiksenders VIVA oder in Lady Gagas Musikvideo Born this way. Der symbolische bzw. bildhafte Ausdruck ist kein Nischenprodukt mehr, aber die interessantesten Ästhetiken finden sich nach wie vor auf Medien- und Kunstfestivals und vor allem bei YouTube bzw. auf anderen audiovisuellen Plattformen, wie beispielsweise dem eher unabhängigen und künstlerisch motivierten Vimeo. In die adoleszenten Bildwelten bewusst als Kontrapunkt gesetzt, zeigen sich im Witchhouse Bewusstlosigkeit in Langsamkeit, graduelles Verschwinden bis zur völligen Absenz, aber auch das partielle Wiedererscheinen. Mittelbar haben diese visuellen Inszenierungsstrategien auch etwas mit Drogen zu tun, die für jede Musikkultur eine Bedeutung besitzen. Dennoch ist die spezifische Ästhetik nicht monokausal durch den Drogenkonsum von Kodein bzw. Ketamin des Witchhouse-Begründers DJ Screw Mitte der 90er Jahre zu erklären: Das langsame und schleppende Moment des Sounds ist nur ein Teil des audiovisuellen Konzepts. Die von DJ Screw geprägte Bezeichung »chopped and screwed« impliziert einen gänzlich anderen Umgang mit dem musikalischen Rohmaterial, welcher sich auch auf die visuellen Derivate des Witchhouse übertragen lässt. Auch wenn KritikerInnen Witchhouse häufig auf die Verlangsa37 | Vgl. Trotier, Lilian: »Familienfest. Der Börsengang zwingt Facebook zu Denunziation und Zensur«, in: DIE ZEIT 30 (19.7.2012), siehe auch : http://pdf.zeit.de/2012/30/ Social-Network-Facebook.pdf vom 15.8.2012. 38 | Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden? Berlin: Matthes und Seitz 2008, S. 35f.
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mung der Musik reduzieren, geht es hier nicht lediglich um die Veränderung der Abspielgeschwindigkeit: Charakteristisch ist ebenso ein waberndes, echolastiges bzw. hallendes Stocken und Stottern von extrem zerhackter Musik, die trotz ihrer Versehrtheit hypnotischen Charakter entwickelt.39 Es handelt sich hierbei um eine deutliche Absage an die permanent verlangte Präsenz und Transparenz in sozialen Netzwerken wie Facebook, die UserInnen zwingen wollen, ihr ganzes Leben sichtbar zu machen, um ihnen hierdurch personalisierte Anzeigen verkaufen zu können. Derartige Marketingstrategien werden auch durch den anti-ökonomischen Impetus der Witchhouse-KünstlerInnen unterlaufen: Bei der Vermarktung ihrer Musik setzen sie beispielsweise weniger auf den digitalen Downloade, sondern auf schwer erhältliches Vinyl (z.B. 7inch Singles). »Die Transparenz erhöht womöglich die Effizienz. Sie ist vielleicht kein ethischer oder politischer, sondern letzten Endes ein ökonomischer Imperativ. Sie vernichtet deshalb Rückzugsräume, weil dadurch mehr Effizienz, mehr Leistung erwartet wird.« 40
Als audiovisuelles Phänomen präsentiert Witchhouse vor allem den Prozess des (Sich-)Entziehens. Der Schleier einer geisterhaften Herrschaft einer neuen Jugendbewegung, die auf die Strategie des Verschwindens setzt, legt sich über das Internet. Diese stellt sich damit beispielsweise in einen deutlichen Gegensatz zu den (meist männlichen) Nerds der Piratenpartei, die Transparenz kultivieren, wobei jene – wie Byung-Chul Han bemerkt – als »Instrument der Kontrolle und Überwachung«41 momentan zunehmend einen Zwangscharakter entwickelt: »Eine total transparente Kommunikation wäre eine rein maschinelle oder funktionale. Eine menschliche Kommunikation und die totale Offenlegung schließen einander aus. Gerade der Mangel an Transparenz macht die menschliche Kommunikation erst spannend und interessant, aber natürlich auch gefährlich. […] Es gehört auch zur Verführung, durch die absolute Offenlegung wird diese ebenfalls zerstört. Die totale Transparenz macht uns selbst zur Maschine.«42 Witchhouse visualisiert eine gegenläufige Bildwelt der Nicht-Orte im Internet, fernab der Googlesuche und jeglicher Kartierung. Aus dem Nebel abstrakter Räume tauchen Symbole wie Dreiecke (ganz prominent im wichtigsten Musiklabel, das bezeichnenderweise Triangle heißt), 39 | Dieses Phänomen der audiovisuellen Störung lässt sich mit Konzepten der Synthese und Hybridisierung im 90er-Techno und im Bastard-Pop parallelisieren, selbige zeichnen sich jedoch eher durch den Versuch nahtloser Montagen aus. 40 | Han, Byung-Chul: Nur eine Maschine ist transparent, S. 47. 41 | Ebd. S. 46 sowie Han, Byung-Chul: »Transparent ist nur das Tote«, in: DIE ZEIT online vom 12.01.2012: http://pdf.zeit.de/2012/03/Transparenzgesellschaft.pdf vom 15.8.2012. 42 | Han, Byung-Chul: Nur eine Maschine ist transparent, S. 46.
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Pyramiden und esoterisch-okkulte Zeichen auf. Aber selbst diese, einst relativ eindeutigen jugendkulturellen Symbole werden in einem Prozess der Transformation aufgelöst: Klassische subkulturell besetzte Zeichen – wie Kreuz und Pentagramm – werden sowohl im Bild, als auch in der Bekleidung miteinander kombiniert (siehe Label NVRMND). Die Musikvideos weisen die körnige Bildqualität von VHS-Kassetten und Handkamerafilmen im Blair-Witch-Stil auf. Auf allen Ebenen ist das Mysteriöse, Zwischenweltliche und Geisterhafte zugegen; häufig werden Anleihen aus historischen Mystery-Serien – wie Blair Witch oder Twin Peaks (bspw. bei Mater Suspiria Vision) – verwendet, aber auch aus dem 80er Jahre Gothic oder von Industrial-Bands wie Psychic TV. Bezüglich des sukzessiven Verschwindens lassen sich weitere ästhetische Bezüge zu B-Movies bzw. Horrorfilmen der Siebziger, aber auch zur Hochglanzästhetik – speziell der 90er Jahre Mode – herstellen. Die ganze Bewegung ist künstlerisch motiviert: Aussagen wie von Cosmotropia de Xam, VideokünstlerIn von Mater Suspiria Vision, – »Es geht hier nicht um Spaß. Es geht um Kontextmorphing und Bewusstseinsveränderung. Die Pforten der Wahrnehmung sind offen – wenn du es zulässt«43 – sind eine ironische Weiterverarbeitung von esoterischen Zitaten aus Hippiezeiten. Eine musikalisch-ästhetische Bewegung inszeniert sich als Mysterium, verschleiert sich selbst (vgl. bspw. die bei Live-Auftritten verhüllten ProtagonistInnen von Holy Other und Mater Suspiria Vision) und kultiviert diese Art der Performance ausgerechnet im virtuellen Raum des Internets, der mittlerweile durch das Diktum der Transparenz charakterisiert ist. Die Witchhouse-Ästhetik ist nicht für die öffentliche Darbietung gemacht, die asketischen Tüftler am Rechner bevorzugen das Refugium der eigenen vier Wände. Damit sind sie typische VertreterInnen einer Internetgeneration von meist männlichen Nerds, die alleine und somit wiederum »asozial«, aber doch für andere Ohren durchaus Club taugliche Musik produzieren. Vor diesem Hintergrund des allein am Sound bastelnden Nerd ist bemerkenswert, dass in Musik und Videos hauptsächlich Sängerinnen auftreten (bspw. Zola Jesus, Emica, oOoOOo), die optisch eine traditionelle Weiblichkeit repräsentieren. Es scheint als müsse sich Weiblichkeit im Witchhouse deutlicher zeigen als Männlichkeit. Letzte kann sich den Raum allein durch nebelige Spuren von Präsenz aneignen. Ähnlich wie in der Musik hinterlässt Witchhouse rätselhaften Spuren von Präsenz auch in der (vor allem männlichen Absenz im Bild, ohne dabei jedoch vollkommen zu verschwinden – im Gegenteil: »Jedenfalls wird nichts schlicht und einfach getilgt, und von allem, was verschwindet, bleiben Spu-
43 | Lehnhof, Roman: »Witch House. Die neue dunkle Welle. Psychedelischer Dub & zerhackter HipHop aus den Tiefen des Internets«, in: DE:BUG 146 (23.11.2010), S. 3637, siehe auch: www.de-bug.de/share/debug146.pdf vom 15.8.2012.
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ren.«44 Witchhouse ist das Würgen bzw. Aufstoßen von Sound und Bildresten, das Erbrechen von audiovisuellen Partikeln, die Wiederkehr des Nicht-Verdauten und damit ein Pendant zu dem, was Han mit »digestiv-neuronale Abreaktion«45 bezeichnet – die Erschöpfung, Ermüdung und Erstickung am Zuviel. Witchhouse ist eine ästhetische Erscheinung des »Nicht-Ich«. Ähnlich wie es keine flüssige Demokratie (»liquid democracy« als Forderung der Piraten) geben kann, kann auch das Selbst niemals ganz flüssig werden, vielmehr löst es sich in einen gasförmigen Zustand auf und beherrscht dadurch den gesamten Raum. »Zurück zum Selbst, gegen den Leistungsimperativ und für die Entschleunigung. Verlangsamte Beats aus dem Untergrund als Retter einer sich immer schneller drehenden digitalisierten Welt, so könnte man es deuten. Ein durchaus subversiv romantischer Ansatz.«46 Das Verschwinden ist ein Privileg dieser audiovisuellen Subkultur, da die gesamte mediale Netzwerkstruktur der Datenbank – beherrscht durch die vier großen Internetkonzerne Google, Facebook, Amazon und Apple – darauf angelegt ist, das Selbst einzufrieden bzw. an einem Ort im Netz festzunageln und die übrige Netzwelt für das Selbst unsichtbar zu machen. Die scheinbare Benutzerfreundlichkeit gibt nur ein bestimmtes Terrain des Netzes für den Blick der UserIn frei und lässt sich somit als Bevormundung enttarnen. Kompensation der eingeschränkten Beweglichkeit des Selbst im virtuellen Raum sowie die Illusion endloser Weiten ermöglichen die entsprechenden Endgeräte, die nicht von ungefähr mit dem Präfix I beginnen: Ipod, Iphone. In ihrer Funktion als mobile device suggerieren sie einerseits grenzenlose Beweglichkeit im Raum, durch die implementierte Möglichkeit der Personalisierung verschleiern sie andererseits ihre Warenförmigkeit und erwecken den Anschein ganz für ihre NutzerIn da zu sein. Damit ist das Selbst jedoch gefangen in einem Ich-Universum von personalisierten Empfehlungen. Bei naiver Duldung dieser infantilen Versorgtheit lässt dies nur einen Tunnelblick auf vorgegebene Kommerzpfade und -kanäle zu. Dagegen ist die Negativität des »nicht-zu«-Sehenden47 und schlecht zu Hörenden im Witchhouse dem Zustand einer meditativen Entleerung nahe. Ein Selbst ohne Bildnis ist die kontemplative Haltung einer privilegierten Schicht von KünstlerInnen, die sich nicht mehr zeigen müssen, sondern verschwinden dürfen, um zu einem selbst gewählten Zeitpunkt wieder in Erscheinung zu treten. 44 | Beaudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden? S. 16. 45 | Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, S. 14. 46 | Jung, Simone: »Witch House. Tanzen war gestern«, in: taz.de vom 02.12.2010: www.taz.de/!62178/vom 15.8.2012. 47 | Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, S. 47.
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Abbildung 1: Tabellarische Auflistung von YouTube-Kategorien (Richard: Stand August 2012) egoclips = selfdesign
mediaremix found footage
doku/ eventclip
artclip medienadäquate
konforme selbstwerbung – bastard ego medien ego
inmedium
eigene aufnahmen
KunstformenSubversionWiderständigkeit JugendKunst online – Essenz
karaoke
sports
zufall/ surprise
arty/artresponse
tv
dance film home outdoor indoor - 5second institutional movies – …in 60secs sweded films-
real life Youtubeenvironment favoritesmedley
artistik
slash vlog
me+ my friends: body touch, hug, kiss, one arm length cam
glitch
game – ingame zuschauershooterarthuman scanning videoart games- visual me watching teamspeakgamesounds – gameobjekte – lets play (tutorial)
cover hommage
animal ego
confession-beichte/ anklage freakout
egotrip berauschtes ich (selbstrauschdrogen: pilotentest/ alcohol rausch)
freakshow
musikalische bilder (u.a musikvideo)
Liliput
stickmen
Fotofilm
ausstellung/ perform doku
Selbst: Erscheinen — Verschwinden werbung
skillzclips
Drama-pathos
fan/hater
battleclip
experiment/ transform
funclips
fanart
haterdissflamewar
hacks
musik-kultur
brutal
freakout
lowtech/mininal software
mockumentary fake spoof
misheard lyrics
Literal Video
Tutorials
Idiots of the world- fail
mash-up/bastard
videosong
how to
pranks
shred(overdubclip)
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Autorinnen und Autoren Allard, Laurence, Dr., Innovationssoziologin, Dozentin für Kommunikationswissenschaften, lehrt an der Université Lille 3/und forscht an der Université Paris 3-IRCAV. Breithaupt, Fritz, Prof. PhD, Germanist, Professor für Germanistik an der Indiana University Bloomington (USA). Folger, Robert, Prof. Dr., Kunstwissenschaftlerin, Vertretungsprofessur für Kunstgeschichte/Kunstwissenschaften an der Kunstakademie Münster (D). Gerlach, Nina, Prof. Dr., Kunstwissenschaftlerin, Vertretungsprofessur für Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft an der Kunstakademie Münster (D) Groebner, Valentin, Prof. Dr., Historiker, Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern (CH). Kaufmann, Vincent, Prof. Dr., Kultur- und Medienwissenschaftler, Direktor am MCM Institut (Lehrstuhl MCM 3 – Medien und Kultur) und Professor für Französische Sprache und Literatur an der Universität St.Gallen (CH). Ochsner, Beate, Prof. Dr., Kultur- und Medienwissenschaftlerin, Professorin für Medienwissenschaft und Gleichstellungsbeauftragte an der Universität Konstanz (D). Richard, Birgit, Prof. Dr., Kulturwissenschaftlerin, Professorin für den Bereich Neue Medien am Institut für Kunstpädagogik/Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. (D). Schmid, Ulrich, Prof. Dr., Slavist, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen (CH).
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Das öffentliche Ich
Stiegler, Bernd, Prof. Dr., Literaturwissenschaftler, Professor für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz (D). Thomä, Dieter, Prof. Dr., Philosoph, Professor für Philosophie und Leiter des Masterprogramms »Management-Organisation-Kultur« an der Universität St.Gallen (CH).
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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